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Geschichte der russischen Revolution.lwp - Internationale Sozialisten

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Leo Trotzki<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong><br />

<strong>Revolution</strong><br />

Februar- und Oktoberrevolution<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 2


1. Teil: Februarrevolution - Seite 3<br />

Inhalt:<br />

Vorwort<br />

Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands<br />

Das zaristische Rußland im Kriege<br />

Proletariat und Bauernschaft<br />

Der Zar und die Zarin<br />

Die Idee <strong>der</strong> Palastrevolution<br />

Die Agonie <strong>der</strong> Monarchie<br />

Fünf Tage (23.-27. Februar 1917)<br />

Wer leitet den Februaraufstand?<br />

Das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

Die neue Macht<br />

Doppelherrschaft<br />

Das Exekutivkomitee<br />

Armee und Krieg<br />

Die Regierenden und <strong>der</strong> Krieg<br />

Die Bolschewiki und Lenin<br />

Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei<br />

"Apriltage"<br />

Erste Koalition<br />

Die Offensive<br />

Die Bauernschaft<br />

Verschiebungen in den Massen<br />

Sowjetkongreß und Junidemonstration<br />

Schlußfolgerungen<br />

2. Teil: Oktoberrevolution Seite - 297<br />

Anhang zu Teil 1<br />

Zum Kapitel "Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands"<br />

Zum Kapitel "Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei"<br />

Zum Kapitel "Sowjetkongreß und Junidemonstrarion"<br />

Anhang zu Teil 2<br />

Legenden <strong>der</strong> Bürokratie<br />

Sozialismus in einem Lande?<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 3


Vorwort<br />

In den ersten zwei Monaten des Jahres 1917 war Rußland noch Romanowsche Monarchie.<br />

Acht Monate später standen bereits die Bolschewiki am Ru<strong>der</strong>, über die zu Beginn<br />

des Jahres nur wenige etwas gewußt hatten und <strong>der</strong>en Führer im Augenblick <strong>der</strong> Machtübernahme<br />

noch unter Anklage des Landesverrats standen. In <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> ist keine<br />

zweite ähnlich schroffe Wendung zu finden, beson<strong>der</strong>s wenn man bedenkt, daß es sich<br />

um eine Nation von hun<strong>der</strong>tundfünfzig Millionen Seelen handelt. Es ist klar, daß die<br />

Ereignisse des Jahres 1917, wie man sich zu ihnen auch stellen mag, verdienen, erforscht<br />

zu werden.<br />

Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> muß, wie jede <strong>Geschichte</strong>, vor allem berichten, was<br />

geschah und wie es geschah. Das allein jedoch genügt nicht. Aus dem Bericht selbst muß<br />

klarwerden, weshalb es so und nicht an<strong>der</strong>s geschah. Die Geschehnisse können we<strong>der</strong> als<br />

Kette von Abenteuern betrachtet noch auf den Faden einer vorgefaßten Moral aufgezogen<br />

werden. Sie müssen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit gehorchen. In <strong>der</strong> Aufdeckung<br />

dieser Gesetzmäßigkeit sieht <strong>der</strong> Autor seine Aufgabe.<br />

Der unbestreitbarste Charakterzug <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist die direkte Einmischung <strong>der</strong><br />

Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich <strong>der</strong> Staat,<br />

<strong>der</strong> monarchistische wie <strong>der</strong> demokratische, über die Nation; <strong>Geschichte</strong> vollziehen die<br />

Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier,<br />

Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich<br />

wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen,<br />

überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die<br />

Ausgangsposition für ein neues Regime. Ob dies gut o<strong>der</strong> schlecht, wollen wir dem<br />

Urteil <strong>der</strong> Moralisten überlassen. Wir selbst nehmen die Tatsachen, wie sie durch den<br />

objektiven Gang <strong>der</strong> Entwicklung gegeben sind. Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist für<br />

uns vor allem die <strong>Geschichte</strong> des gewaltsamen Einbruchs <strong>der</strong> Massen in das Gebiet <strong>der</strong><br />

Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.<br />

In <strong>der</strong> von einer <strong>Revolution</strong> erfaßten Gesellschaft kämpfen Klassen gegeneinan<strong>der</strong>. Es<br />

ist indes völlig offenkundig, daß die zwischen Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Ende<br />

vor sich gehenden Verän<strong>der</strong>ungen in den ökonomischen Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

und in <strong>der</strong>en Klassensubstrat absolut nicht ausreichen zur Erklärung des Verlaufes <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> selbst, die in kurzer Zeitspanne jahrhun<strong>der</strong>tealte Einrichtungen stürzt, neue<br />

schafft und wie<strong>der</strong> stürzt. Die Dynamik <strong>der</strong> revolutionären Ereignisse wird unmittelbar<br />

von den schnellen, gespannten und stürmischen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> vor<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> herausgebildeten Klassen bestimmt.<br />

Die Gesellschaft än<strong>der</strong>t nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs,<br />

wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert. Im Gegenteil, sie nimmt die über ihr<br />

hängenden Institutionen praktisch als etwas ein für allemal Gegebenes. Jahrzehntelang<br />

bildet die oppositionelle Kritik nur das Sicherheitsventil für die Massenunzufriedenheit<br />

und eine Bedingung für die Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaftsordnung: eine solche<br />

prinzipielle Bedeutung hat zum Beispiel die Kritik <strong>der</strong> Sozialdemokratie gewonnen. Es<br />

sind ganz beson<strong>der</strong>e, vom Willen <strong>der</strong> Einzelnen und <strong>der</strong> Parteien unabhängige Bedingungen<br />

notwendig, die <strong>der</strong> Unzufriedenheit die Ketten des Konservativismus herunterreißen<br />

und die Massen zum Aufstand bringen.<br />

Schnelle Verän<strong>der</strong>ungen von Ansichten und Stimmungen <strong>der</strong> Massen in <strong>der</strong> revolutio-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 4


nären Epoche ergeben sich folglich nicht aus <strong>der</strong> Elastizität und Beweglichkeit <strong>der</strong><br />

menschlichen Psyche, son<strong>der</strong>n im Gegenteil aus <strong>der</strong>en tiefem Konservativismus. Das<br />

chronische Zurückbleiben <strong>der</strong> Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven<br />

Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die<br />

Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>speriode die sprunghafte<br />

Bewegung <strong>der</strong> Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge <strong>der</strong><br />

Tätigkeit von "Demagogen" erscheint.<br />

Die Massen gehen in die <strong>Revolution</strong> nicht mit einem fertigen Plan <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Neuordnung hinein, son<strong>der</strong>n mit dem scharfen Gefühl <strong>der</strong> Unmöglichkeit, die alte<br />

Gesellschaft länger zu dulden. Nur die führende Schicht <strong>der</strong> Klasse hat ein politisches<br />

Programm, das jedoch noch <strong>der</strong> Nachprüfung durch die Ereignisse und <strong>der</strong> Billigung<br />

durch die Massen bedarf Der grundlegende politische Prozeß <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht<br />

eben in <strong>der</strong> Erfassung <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> sozialen Krise ergebenden Aufgaben durch die<br />

Klasse und <strong>der</strong> aktiven Orientierung <strong>der</strong> Masse nach <strong>der</strong> Methode sukzessiver Annäherungen.<br />

Die einzelnen Etappen des revolutionären Prozesses, gefestigt durch die<br />

Ablösung <strong>der</strong> einen Parteien durch an<strong>der</strong>e, immer extremere, drücken das anwachsende<br />

Drängen <strong>der</strong> Massen nach links aus, bis <strong>der</strong> Schwung <strong>der</strong> Bewegung auf objektive<br />

Hin<strong>der</strong>nisse prallt. Dann beginnt die Reaktion: Enttäuschung einzelner Schichten <strong>der</strong><br />

revolutionären Klasse, Wachsen <strong>der</strong> Gleichgültigkeit und damit Festigung <strong>der</strong> Positionen<br />

<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte. Dies ist wenigstens das Schema <strong>der</strong> alten <strong>Revolution</strong>en.<br />

Nur auf Grund des Studiums <strong>der</strong> politischen Prozesse in den Massen selbst kann man<br />

die Rolle <strong>der</strong> Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten<br />

geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges<br />

Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie <strong>der</strong> Massen<br />

verfliegen wie Dampf, <strong>der</strong> nicht in einem Kolbenzylin<strong>der</strong> eingeschlossen ist. Die<br />

Bewegung erzeugt indes we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zylin<strong>der</strong> noch <strong>der</strong> Kolben, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Dampf.<br />

Die Schwierigkeiten, die sich dem Studium <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen des Massenbewußtseins<br />

in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sepoche hin<strong>der</strong>nd in den Weg stellen, sind ganz offensichtlich.<br />

Die unterdrückten Klassen machen <strong>Geschichte</strong> in Fabriken, Kasernen, in Dörfern, in den<br />

Straßen <strong>der</strong> Städte. Dabei sind sie am allerwenigsten gewohnt, sie nie<strong>der</strong>zuschreiben.<br />

Perioden höchster Spannung sozialer Leidenschaften lassen überhaupt wenig Raum für<br />

Beschaulichkeit und Schil<strong>der</strong>ung. Alle Musen - selbst die plebejische Muse des Journalismus,<br />

trotz ihrer <strong>der</strong>ben Flanken - haben es während einer <strong>Revolution</strong> schwer. Und<br />

dennoch ist die Lage des Historikers keinesfalls hoffnungslos. Die Aufzeichnungen sind<br />

unvollständig, verstreut, zufällig. Doch im Lichte <strong>der</strong> Ereignisse selbst erlauben diese<br />

Bruchstücke nicht selten, Richtung und Rhythmus <strong>der</strong> unterirdischen Prozesse zu erraten.<br />

Ob recht o<strong>der</strong> schlecht, aber auf <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen des Massenbewußtseins<br />

begründet die revolutionäre Partei ihre Taktik. Der historische Weg des Bolschewismus<br />

zeigt, daß eine solche Berechnung, wenigstens in ihren gröbsten Zügen, möglich<br />

ist. Warum soll, was einem revolutionären Politiker im Strudel des Kampfes gelingt,<br />

nicht auch dem Historiker rückblickend gelingen?<br />

Die im Bewußtsein <strong>der</strong> Massen sich vollziehenden Prozesse Sind jedoch we<strong>der</strong><br />

ursprünglich noch unabhängig. So sehr Idealisten und Eklektiker auch ungehalten sein<br />

mögen das Bewußtsein wird doch durch das Sein bestimmt. In den historischen Bedingungen<br />

<strong>der</strong> Formierung Rußlands, seiner Wirtschaft, seiner seines Staates und <strong>der</strong> Beeinflussung<br />

durch an<strong>der</strong>e Staaten mußten die Voraussetzungen für die Februarrevolution<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 5


und ihre Ablösung durch die Oktoberrevolution enthalten gewesen sein. Insofern die<br />

Tatsache, daß das Proletariat zuerst in einem rückständigen Lande an die Macht gelangte,<br />

immer wie<strong>der</strong> als beson<strong>der</strong>s rätselhaft erscheint, muß man von vornherein die Erklärung<br />

dieser Tatsache in <strong>der</strong> Eigenart dieses rückständigen Landes, das heißt in den<br />

Merkmalen, durch die es sich von an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n unterscheidet, suchen.<br />

Die historischen Eigenarten Rußlands und ihr spezifisches Gewicht sind in den ersten<br />

Kapiteln dieses Buches charakterisiert, die einen kurzen Abriß <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong> Gesellschaft und ihrer inneren Kräfte enthalten. Wir möchten hoffen, daß <strong>der</strong><br />

unvermeidliche Schematismus dieser Kapitel den Leser nicht abschrecken wird. Im<br />

weiteren Verlauf des Buches soll er den gleichen sozialen Kräften in lebendiger<br />

Handlung begegnen.<br />

Diese Arbeit stützt sich in keiner Weise auf persönliche Erinnerungen. Der Umstand,<br />

daß <strong>der</strong> Autor Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse war, enthob ihn nicht <strong>der</strong> Pflicht, seine Darstellung<br />

auf streng nachgeprüften Dokumenten aufzubauen. Der Autor dieses Buches spricht<br />

von sich, insofern er durch den Lauf <strong>der</strong> Ereignisse dazu gezwungen wird, in dritter<br />

Person. Und dies ist nicht einfach eine literarische Form: <strong>der</strong> in einer Autobiographie<br />

o<strong>der</strong> in Memoiren unvermeidliche subjektive Ton wäre bei einer historischen Arbeit<br />

unzulässig.<br />

Der Umstand jedoch, daß <strong>der</strong> Autor Teilnehmer des Kampfes war, erleichtert ihm<br />

natürlich das Verständnis nicht nur für die Psychologie <strong>der</strong> handelnden Kräfte, <strong>der</strong><br />

individuellen und kollektiven, son<strong>der</strong>n auch für den inneren Zusammenhang <strong>der</strong> Ereignisse.<br />

Dieser Vorzug kann positive Resultate nur unter Beachtung einer Bedingung<br />

ergeben: sich nicht auf die Angaben des eigenen Gedächtnisses verlassen, nicht nur im<br />

kleinen, son<strong>der</strong>n auch im großen, nicht nur in bezug aufTatsachen, son<strong>der</strong>n auch in<br />

bezug auf Motive und Stimmungen. Der Autor ist <strong>der</strong>Ansicht, daß er, insofern es von<br />

ihm abhing, diese Bedingungen beachtet hat.<br />

Bleibt die Frage <strong>der</strong> politischen Stellung des Autors, <strong>der</strong> als Historiker auf dem selben<br />

Standpunkt steht, den er als Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse inne hatte. Der Leser ist selbstverständlich<br />

nicht verpflichtet, die politischen Ansichten des Autors zu teilen, <strong>der</strong> seinerseits<br />

keine Veranlassung hat, sie zu verheimlichen. Aber <strong>der</strong> Leser hat das Recht, von einer<br />

historischen Arbeit zu for<strong>der</strong>n, daß sie nicht die Apologie einer politischen Position,<br />

son<strong>der</strong>n die innerlich. begründete Darstellung des realen Prozesses <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sei.<br />

Eine historische Arbeit entspricht nur dann vollkommen ihrer Bestimmung, wenn auf den<br />

Buchseiten die Ereignisse in ihrer ganzen natürlichen Zwangsläufigkeit abrollen.<br />

Ist hierfür eine sogenannte historische "Unvoreingenommenheit" erfor<strong>der</strong>lich?<br />

Niemand hat noch klar gesagt, worin sie zu bestehen habe. Die oft angeführten Worte<br />

Clemenceaus, daß man die <strong>Revolution</strong> en bloc, als Ganzes nehmen müsse, sind im besten<br />

Falle eine geistreiche Ausflucht: wie kann man sich als Anhänger einer Gesamtheit erklären,<br />

<strong>der</strong>en Wesen in Zwiespältigkeit besteht? Clemenceaus Aphorismus ist teils von <strong>der</strong><br />

Betretenheit über die allzu entschiedenen Vorfahren, teils von <strong>der</strong> Verlegenheit des<br />

Nachfahren vor <strong>der</strong>en Schatten diktiert.<br />

Einer <strong>der</strong> reaktionären und darum Mode-Historiker des gegen-wärtigen Frankreich, L.<br />

Madelein, <strong>der</strong> so salonfähig die Große <strong>Revolution</strong>, das heißt die Geburt <strong>der</strong> französischen<br />

Nation verleumdet hat, behauptet: »Der Historiker muß sich auf die Mauer <strong>der</strong><br />

bedrohten Stadt stellen und gleichzeitig Belagerer und Belagerte überblicken«; nur so<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 6


könne man angeblich die »ausgleichende Gerechtigkeit« erreichen. Die Arbeiten<br />

Madeleins beweisen jedoch, daß, wenn er auch auf die die zwei Lager trennende Mauer<br />

klettert, so nur in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Zaunspähers <strong>der</strong> Reaktion. Es ist gut, daß es sich<br />

in diesem Falle um Lager <strong>der</strong> Vergangenheit handelt. Währen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist <strong>der</strong><br />

Aufenthalt auf <strong>der</strong> Mauer mit großen Gefahren verbunden. Im übrigen pflegen in unruhigen<br />

Augenblicken die Priester <strong>der</strong> »ausgleichenden Gerechtigkeit« gewöhnlich in ihren<br />

vier Wänden zu hocken und abzuwarten, auf wessen Seite <strong>der</strong> Sieg sein wird.<br />

Der ernste und kritische Leser bedarf keiner verlogenen Unvforeingenommenheit, die<br />

ihm den Kelch <strong>der</strong> Versöhnung, mit gut abgestandenem Gift reaktionären Hasses auf<br />

dem Boden, darbietet, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> methodischen Gewissenhaftigkeit, die für ihre<br />

offenen, unverschleierten Sympathien und Antipathien eine Stütze in ehrlicher Erforschung<br />

<strong>der</strong> Tatsachen sucht, in <strong>der</strong> Feststellung ihres wirklichen Zusammenhanges, in<br />

<strong>der</strong> Aufdeckung <strong>der</strong> Gesetzmäßigkeit ihrer Folge. Dies ist die einzig mögliche historische<br />

Objektivität und dabei eine vollkommen ausreichende, denn sie wird überprüft und<br />

bestätigt nicht durch die guten Absichten des Historikers, für die obendrein er selbst<br />

einsteht, son<strong>der</strong>n durch die von ihm aufgedeckte Gesetzmäßigkeit des historischen<br />

Prozesses selbst.<br />

Als Quellen dieses Buches dienten zahlreiche periodische Publikationen, Zeitungen<br />

und Zeitschriften, Memoiren, Protokolle und an<strong>der</strong>es, teilweise handschriftliches Material,<br />

in <strong>der</strong> Hauptsache aber vom Institut für die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Moskau und<br />

Leningrad bereits veröffentlicht. Wir haben es für überflüssig erachtet, im Text auf die<br />

einzelnen Quellen zu verweisen, da dies den Leser nur belasten würde. Von Büchern, die<br />

den Charakter eines Sammelwerkes historischer Arbeiten darstellen, haben wir insbeson<strong>der</strong>e<br />

das zweibändige Werk "Abrisse zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Oktoberrevolution" (Moskau-<br />

Leningrad 1927) benutzt. Von verschiedenen Autoren stammend, sind die einzelnen<br />

Teile dieser "Abrisse" nicht gleichwertig, doch enthalten sie jedenfalls reichliches Tatsachenmaterial.<br />

Die chronologischen Daten unseres Buches sind durchweg nach dem alten Stil angegeben,<br />

das heißt sie bleiben hinter dem Welt- und auch dem heutigen Sowjetkalen<strong>der</strong> um<br />

dreizehn Tage zurück. Der Autor war gezwungen, jenen Kalen<strong>der</strong> anzuwenden, <strong>der</strong> zur<br />

Zeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Kraft war. Es würde allerdings keine Mühe machen, die Daten auf<br />

den neuen Stil zu bringen. Aber diese Operation müßte, während sie die einen Schwierigkeiten<br />

behebt, unvermeidlich neue, wesentlichere erzeugen. Der Sturz <strong>der</strong> Monarchie ist<br />

unter dem Namen "Februarrevolution" in die <strong>Geschichte</strong> eingegangen. Nach dem westlichen<br />

Kalen<strong>der</strong> vollzog er sich jedoch im März. Die bewaffnete Demonstration gegen die<br />

imperialistische Politik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung kam unter dem Namen "Apriltage"<br />

in die <strong>Geschichte</strong>, nach dem westlichen Kalen<strong>der</strong> fand sie jedoch im Mai statt. Ohne bei<br />

an<strong>der</strong>en Zwischenereignissen und Daten zu verweilen, wollen wir noch bemerken, daß<br />

sich die Oktoberumwälzung nach <strong>der</strong> europäischen Zeitrechnung im November<br />

abgespielt hat. Also sogar <strong>der</strong> Kalen<strong>der</strong> ist, wie wir sehen, von den Ereignissen gefärbt,<br />

und <strong>der</strong> Historiker kann die revolutionäre Zeitrechnung nicht mit Hilfe einfacher arithmetischer<br />

Regeln zurechtmachen. Der Leser möge bedenken, daß, bevor sie den byzantinischen<br />

Kalen<strong>der</strong> stürzte, die <strong>Revolution</strong> die Institutionen stürzen mußte, die sich an ihn<br />

klammerten.<br />

Prinkipo L. Trotzki<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 7


Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands<br />

Der grundlegende, beständigste Charakterzug <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> Rußlands ist dessen<br />

verspätete Entwicklung mit <strong>der</strong> sich daraus ergebenden ökonomischen Rückständigkeit,<br />

Primitivität <strong>der</strong> Gesellschaftsformen und dem tiefen Kulturniveau.<br />

Die Bevölkerung <strong>der</strong> gigantischen, rauhen, den östlichen Winden und asiatischen<br />

Eindringlingen geöffneten Ebene war von Natur aus zu weitem Zurückbleiben verurteilt.<br />

Der Kampf mit den Nomaden wähnte fast bis zum Ende des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Der Kampf mit den Winden, die im Winter Frost, im Sommer Dürre bringen, ist auch<br />

heute noch nicht beendet. Die Landwirtschaft - die Grundlage <strong>der</strong> gesamten Entwicklung<br />

- schritt auf extensiven Wegen vorwärts: im Norden wurden die Wäl<strong>der</strong> abgeholzt und<br />

nie<strong>der</strong>gebrannt, im Süden die Ursteppen aufgerissen; das Besitzergreifen von Natur ging<br />

in die Breite, nicht indieTiefe.<br />

Während die westlichen Barbaren sich auf den Ruinen <strong>der</strong> römischen Kultur ansiedelten,<br />

wo viele alte Steine ihnen als Baumaterial dienten, fanden die Slawen des Ostens in<br />

<strong>der</strong> trostlosen Ebene keinerlei Erbe vor: ihre Vorgänger hatten auf einer noch tieferen<br />

Stufe als sie selbst gestanden. Die westeuropäischen Völker, die bald an ihre natürlichen<br />

Grenzen stoßen mußten, schufen die ökonomische und kulturelle Zusammenballungen:<br />

die gewerbetreibenden Städte. Die Bevölkerung <strong>der</strong> Ostebene zog sich beim ersten<br />

Anzeichen von Enge in die Wäl<strong>der</strong> zurück o<strong>der</strong> wan<strong>der</strong>te an die Peripherie ab, in die<br />

Steppe. Die initiativ- und unternehmungslustigen Elemente <strong>der</strong> Bauernschaft wurden im<br />

Westen Städter, Handwerker, Kaufleute. Die aktiven und kühnen Elemente des Ostens<br />

wurden einesteils Händler, größtenteils jedoch Kosaken, Grenzsiedler, Kolonisatoren.<br />

Der im Westen intensive Prozeß <strong>der</strong> sozialen Differenzierung wurde im Osten aufgehalten<br />

und durch den Expansionsprozeß verwischt. »Der Zar <strong>der</strong> Moskowiter, obwohl<br />

christlich, herrscht über Menschen von faulem Geist«, schrieb Vico, <strong>der</strong> Zeitgenosse<br />

Peters 1. Der »faule Geist« <strong>der</strong> Moskowiter war ein Abbild des langsamen Tempos <strong>der</strong><br />

wirtschaftlichen Entwicklung, <strong>der</strong> Ungeformtheit <strong>der</strong> Klassenbeziehungen, <strong>der</strong> Armut <strong>der</strong><br />

inneren <strong>Geschichte</strong>.<br />

Die alten Zivilisationen Ägyptens, Indiens und Chinas besaßen einen ausreichend<br />

selbstgenügsamen Charakter und verfügten über ausreichende Zeit, um trotz tiefstehen<strong>der</strong><br />

Produktionskräfte ihre sozialen Beziehungen fast zur gleichen, bis ins einzelne<br />

gehenden Vollendung zu bringen, zu <strong>der</strong> die Handwerker dieser Län<strong>der</strong> ihre Erzeugnisse<br />

brachten. Rußland lag nicht nur geographisch zwischen Europa und Asien, son<strong>der</strong>n auch<br />

sozial und historisch. Es unterschied sich vom europäischen Westen, aber auch vom<br />

asiatischen Osten und näherte sich während verschiedener Perioden in verschiedener<br />

Hinsicht bald dem einen, bald dem an<strong>der</strong>en. Der Osten brachte das tatarische Joch das als<br />

wichtiges Element in den Aufbau des <strong>russischen</strong> Staates einging. Der Westen war ein<br />

noch gefährlicherer Feind, aber gleichzeitig Lehrer. Rußland hatte keine Möglichkeit,<br />

sich in den Formen des Ostens herauszubilden, weil es gezwungen war, sich stets dem<br />

militärischen und ökonomischen Druck des Westens anzupassen.<br />

Das Bestehen feudaler Beziehungen in Rußland, von den alten Historikern verneint,<br />

kann man auf Grund neuer Forschungen als unbedingt nachgewiesen betrachten. Mehr<br />

noch: die Grundelemente des <strong>russischen</strong> Feudalismus waren die gleichen wie im Westen.<br />

Aber schon allein die Tatsache, daß die feudale Epoche erst durch lange wissenschaftliche<br />

Streitigkeiten festgestellt werden mußte, ist ein genügendes Zeugnis für die Unreife<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 8


des <strong>russischen</strong> Feudalismus, seine Ungeformtheit und die Dürftigkeit seiner Kulturdenkmäler.<br />

Ein rückständiges Land eignet sich die materiellen und geistigen Eroberungen fortgeschrittener<br />

Län<strong>der</strong> an. Das heißt aber nicht, daß es ihnen sklavisch folgt und alle Etappen<br />

ihrer Vergangenheit reproduziert. Die Theorie von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung historischer Zyklen<br />

- Vico und dessen spätere Anhänger - stützt sich auf Beobachtungen des Kreislaufs alter,<br />

vorkapitalistischer Kulturen, zum Teil auch auf die ersten Erfahrungen <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Entwicklung. Eine gewisse Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> Kulturstadien an immer neuen<br />

Herden war tatsächlich mit dem provinziellen und episodischen Charakter des gesamten<br />

Prozesses verbunden. Der Kapitalismus bedeutet jedoch die Überwindung dieser Bedingungen.<br />

Er bereitete vor und verwirklichte in gewissem Sinne die Universalität und<br />

Permanenz <strong>der</strong> Mensehbeitsentwicklung. Das allein schließt die Wie<strong>der</strong>holungsmöglichkeit<br />

<strong>der</strong> Entwicklungsformen einzelner Nationen aus. Gezwungen, den fortgeschrittenen<br />

Län<strong>der</strong>n nachzueifern, hält das rückständige Land die Reihenfolge nicht ein: das Privileg<br />

<strong>der</strong> historischen Verspätung - und ein solches Privileg besteht - erlaubt, o<strong>der</strong> richtiger<br />

gesagt, zwingt, sich das Fertige vor <strong>der</strong> bestimmten Zeit anzueignen, eine Reihe<br />

Zwischenetappen zu überspringen. Die Wilden vertauschen den Bogen gleich mit dem<br />

Gewehr, ohne erst den Weg durchzumachen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Vergangenheit zwischen diesen<br />

Waffengattungen lag. Die europäischen Kolonisten in Amerika begannen die <strong>Geschichte</strong><br />

nicht von neuem. Der Umstand, daß Deutschland o<strong>der</strong> die Vereinigten Staaten England<br />

ökonomisch überholt haben, war gerade durch die Verspätung ihrer kapitalistischen<br />

Entwicklung bedingt. Umgekehrt ist die konservative Anarchie in <strong>der</strong> britischen<br />

Kohlenindustrie, wie auch in den Köpfen Macdonalds und seiner Freunde, eine Quittung<br />

für die Vergangenheit, in <strong>der</strong> England zu lange die Rolle des kapitalistischen Hegemonen<br />

gespielt hat. Die Entwicklung einer historisch verspäteten Nation führe notgedrungen zu<br />

eigenartiger Verquickung verschiedener Stadien des historischen Prozesses. In seiner<br />

Gesamtheit bekommt <strong>der</strong> Kreislauf einen nicht planmäßigen, verwickelten, kombinierten<br />

Charakter.<br />

Die Möglichkeit, Zwischenstufen zu überspringen, ist selbstverständlich keine<br />

absolute; ihr Ausmaß wird letzten Endes von <strong>der</strong> wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Aufnahmefähigkeit des Landes bestimmt. Eine rückständige Nation drückt außerdem die<br />

Errungenschaften, die sie fertig von außen übemimmt, durch Anpassung an ihre primitivere<br />

Kultur hinab. Der Assimilationsprozeß selbst bekommt dabei einen wi<strong>der</strong>spruchsvollen<br />

Charakter. So brachte die Einführung <strong>der</strong> Elemente westlicher Technik und<br />

Ausbildung, vor allein aufdem Gebiete des Militär- und Manufakturwesens unter Peter<br />

1., die Verschärfung des Leibeigenschaftsrechtes als Grundform <strong>der</strong> Arbeitsorganisation<br />

mit sich. Europäische Rüstung und europäische Anleihen - das eine wie das an<strong>der</strong>e<br />

zweifellos Produkte einer höheren Kultur - führten zur Befestigung des Zarismus, <strong>der</strong><br />

seinerseits die Entwicklung des Landes hemmte.<br />

Die geschichtliche Gesetzmäßigkeit hat nichts gemein mit pedantischem<br />

Schematismus. Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses,<br />

enthüllt sich am krassesten und am verwickeltsten am Schicksal verspäteter Län<strong>der</strong>.<br />

Unter <strong>der</strong> Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu<br />

machen. Aus dem universellen Gesetz <strong>der</strong> Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein an<strong>der</strong>es<br />

Gesetz, das man mangels passen<strong>der</strong>er Bezeichnung das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 9


Entwicklung nennen kann im Sinne <strong>der</strong> Annäherung verschiedener Wegetappen,<br />

Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen.<br />

Ohne dieses Gesetz, selbstverständlich in seinem gesamten materiellen Inhalt genommen,<br />

vermag man die <strong>Geschichte</strong> Rußlands wie überhaupt aller Län<strong>der</strong> zweiten, dritten und<br />

zehnten Kulturaufgebots nicht zu erfassen.<br />

Unter dem Druck des reicheren Europa verschlang <strong>der</strong> Staat in Rußland einen verhältnismäßig<br />

viel größeren Teil des Volksvermögens als die Staaten im Westen und verurteilte<br />

damit nicht nur die Volksmassen zu doppelter Armut, son<strong>der</strong>n schwächte auch die<br />

Grundlagen <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Da er gleichzeitig die Hilfe <strong>der</strong> letzteren benötigte,<br />

forcierte und reglementierte <strong>der</strong> Staat <strong>der</strong>en Bildung. Infolgedessen konnten sich die<br />

bürokratisierten privilegierten Klassen niemals in ganzer Höhe aufrichten, und um so<br />

mehr näherte sich <strong>der</strong> Staat in Rußland <strong>der</strong> asiatischen Despotie.<br />

Das byzantinische Selbstherrschertum, das die Moskauer Zaren sich offiziell zu Beginn<br />

des sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts angeeignet hatten, zähmte mit Hilfe des Adels das feudale<br />

Bojarentum und unterwarf sich den Adel, ihm gleichzeitig die Bauern versklavend, um<br />

sich auf dieser Grundlage in den Petersburger Imperatorenabsolutismus zu verwandeln.<br />

Die Verspätung dieses Prozesses wird dadurch zur Genüge charakterisiert, daß das<br />

Leibeigenschaftsrecht, das im sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t entstanden war, sich im siebzehnten<br />

ausgebildet und seine Blüte im achtzehnten erreicht hatte, rechtlich erst 1861<br />

abgeschafft wurde.<br />

Die Geistlichkeit hat nach dem Adel bei <strong>der</strong> Herausbildung des zaristischen Selbstherrschertums<br />

keine geringe, aber eine völlig dienende Rolle gespielt. Die Kirche erhob sich<br />

in Rußland niemals zu jener Kommandohöhe wie im katholischen Westen: sie begnügte<br />

sich mit <strong>der</strong> SteHung eines geistlichen Knechtes beim Selbstherrschertum und rechnete<br />

sich dies als Verdienst ilrrer Demut an. Bischöfe und Metropoliten besaßen Macht nur als<br />

Bevollmächtigte <strong>der</strong> weltlichen Gewalt. Die Patriarchen wechselten zusammen mit den<br />

Zaren. In <strong>der</strong> Petersburger Periode wurde die Abhängigkeit <strong>der</strong> Kirche vom Staate noch<br />

sklavischer. Zweihun<strong>der</strong>ttausend Priester und Mönche bildeten im wesentlichen einen<br />

Teil <strong>der</strong> Bürokratie, eine Art Glaubenspolizei. Als Gegenleistung wurden das Monopol<br />

<strong>der</strong> orthodoxen Geistlichkeit in Glaubensangelegenheiten, ihre Län<strong>der</strong> und Einkünfte von<br />

<strong>der</strong> allgemeinen Ordnungspolizei beschirmt.<br />

Das Slawophilentum, dieser Messianismus <strong>der</strong> Rückständigkeit, begründete seine<br />

Philosophie damit, daß das russische Volk und dessen Kirche durch und durch demokratisch,<br />

das offizielle Russland aber eine von Peter angepflanzte deutsche Bürokratie sei.<br />

Marx sagte dazu: »Ganz wie die teutonischen Esel den Despotismus Friedrichs II. usw.<br />

auf die Franzosen wälzen, als wenn zurückgebliebene Knechte nicht immer zivilisierte<br />

Knechte brauchten, um dressiert zu werden.« Diese kurze Bemerkung erschöpft restlos<br />

nicht nur die alte Philosophie <strong>der</strong> Slawophilen, son<strong>der</strong>n auch die neuesten Offenbarungen<br />

<strong>der</strong> "Rassentümler".<br />

Die Kargheit nicht nur des <strong>russischen</strong> Feudalismus, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> ganzen alt<strong>russischen</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> fand ihren traurigsten Ausdruck im Mangel echt mittelalterlicher Städte<br />

als Handwerks- und Handelszentren. Das Handwerk hatte in Rußland keine Zeit gehabt,<br />

sich vom Ackerbau zu trennen, bewahrte vielmehr den Charakter <strong>der</strong> Heimarbeit, Die<br />

alti<strong>russischen</strong> Städte waren Handels-, Verwaltungs-, Heeres- und Adels-Zentren, folglich<br />

konsumierend, nicht produzierend. Sogar die <strong>der</strong> Mama verwandte Stadt Nowgorod, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 10


das tatarische Joch nicht gekannt hatte, war nur eine Handels-, keine Gewerbestadt.<br />

Allerdings schuf die Verstreutheit <strong>der</strong> bäuerlichen Gewerbe in verschiedenen Bezirken<br />

das Bedürfnis nach einer Handelsvermittlung breiten Maßstabes. Doch vermochten die<br />

nomadischen Händler im öffentlichen Leben in keinem Falle jenen Platz einzunehmen,<br />

<strong>der</strong> im Westen <strong>der</strong> handwerklich-zünftigen und handelsgewerblichen Klein- und Mittelbourgeoisie<br />

zukam, die mit ihrer bäuerlichen Peripherie unzertrennlich verbunden waren.<br />

Die Hauptwege des <strong>russischen</strong> Handels führten überdies ins Ausland, sicherten die<br />

leitende Stellung seit alters her dem ausländischen Handelskapital und verliehen dem<br />

ganzen Umsatz, bei dem <strong>der</strong> russische Händler Mittler zwischen <strong>der</strong> westlichen Stadt und<br />

dem <strong>russischen</strong> Dorfe war, einen halb kolonialen Charakter. Diese Art ökonomischer<br />

Beziehung erfuhr eine weitere Entwicklung in <strong>der</strong> Epoche des <strong>russischen</strong> Kapitalismus<br />

und erreichte ihren höchsten Ausdruck im imperialistischen Kriege.<br />

Die Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Städte, die zur Entstehung des asiatischen<br />

Staatstypus am meisten beigetragen hat, schloß insbeson<strong>der</strong>e die Möglichkeit <strong>der</strong> Reformation<br />

aus, das heißt <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong> feudal-bürokratischen Orthodoxie durch irgendeine<br />

mo<strong>der</strong>nisierte Abart eines den Bedürfnissen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft angepaßten<br />

Christentums. Der Kampf gegen die Staatskirche ging nicht über die bäuerlichen<br />

Sekten, einschließlich <strong>der</strong> mächtigsten von ihnen, das altgläubige Schisma, hinaus.<br />

An<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte vor <strong>der</strong> großen Französischen <strong>Revolution</strong> entbrannte in Rußland<br />

die Bewegung <strong>der</strong> Kosaken, Bauern und leibeigenen Uraler Arbeiter, die nach dem<br />

Namen ihres Führers Pugarschow benannt wurde. Was hatte diesem grimmigen Volksaufstande<br />

gefehlt, um sich in eine <strong>Revolution</strong> zu verwandeln? Der dritte Stand. Ohne die<br />

Handwerkerdemokratie <strong>der</strong> Städte vermochte sich <strong>der</strong> Bauernkrieg ebensowenig zu einer<br />

<strong>Revolution</strong> entwickeln, wie sich die Bauernsekten zu einer Reformation erheben<br />

konnten. Im Gegenteil, die Folge <strong>der</strong> Pugatschowschtschina war die Befestigung des<br />

bürokratischen Absolutismus, als des in schwierigen Stunden wie<strong>der</strong> bewährten Hüters<br />

<strong>der</strong> Adelsinteressen.<br />

Die unter Peter formell begonnene Europäisierung des Landes wurde im Verlaufe des<br />

nächsten Jahrhun<strong>der</strong>ts immer mehr zum Bedürfnis <strong>der</strong> herrschenden Klasse selbst, das<br />

heißt des Adels. Im Jahre 1825 griff die Adelsintelligenz, dieses Bedürfnis politisch<br />

verallgemeinernd, zur Militärverschwörung, mit dem Ziel <strong>der</strong> Einschränkung des Selbstherrschertums.<br />

Unter dem Druck <strong>der</strong> europäisch-bürgerlichen Entwicklung versuchte<br />

somit <strong>der</strong> fortschrittliche Adel, den fehlenden dritten Stand zu ersetzen. Doch wollte er<br />

das liberale Regime auf jeden Fall mit den Grundlagen seiner Standesherrschaft verquikken<br />

und fürchtete deshalb über alles, die Bauern aufzuwiegeln. Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich,<br />

daß die Verschwörung ein Unternehmen des glanzvollen, aber isolierten Offiziersstandes<br />

blieb, <strong>der</strong> sich dabei fast kampflos den Schädel einrannte. Dies war <strong>der</strong> Sinn des<br />

Dekabristenaufstandes.<br />

Gutsherren, die Fabriken besaßen, waren die ersten ihres Standes, die sich <strong>der</strong><br />

Ablösung <strong>der</strong> leibeigenen durch freie Arbeit geneigt zeigten. In die gleiche Richtung<br />

drückte <strong>der</strong> anwachsende Auslandsexport <strong>russischen</strong> Getreides. Im Jahre 1861 führte die<br />

adlige Bürokratie, gestützt auf die liberalen Gutsbesitzer, ihre Bauernreform durch. Der<br />

ohnmächtige bürgerliche Liberalismus bildete bei dieser Operation den gehorsamen<br />

Chor. Es ist überflüssig, zu sagen, daß <strong>der</strong> Zarismus Rußlands grundlegendes Problem,<br />

das heißt die Agrarfrage, noch engherziger und diebischer löste, als die preußische<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 11


Monarchie im Laufe des nächsten Jahrzehnts Deutschlands grundlegendes Problem, das<br />

heißt dessen nationale Einigung. Die Lösung <strong>der</strong> Aufgabe einer Klasse durch die Hände<br />

einer an<strong>der</strong>en ist eben eine <strong>der</strong> kombinierten Methoden, die den rückständigen Län<strong>der</strong>n<br />

eigentümlich sind.<br />

Am unbestrittensten jedoch enthüllt sich das Gesetz <strong>der</strong> kombi-nierten Entwicklung an<br />

<strong>Geschichte</strong> und Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Industrie. Spät entstanden, wie<strong>der</strong>holte sie die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong> nicht, son<strong>der</strong>n reihte sich in diese ein, indem<br />

sie <strong>der</strong>en neueste Errungenschaften <strong>der</strong> eigenen Rückständigkeit anpaßte. War Rußlands<br />

wirtschaftliche Evolution in ihrer Gesamtheit über die Epochen des Zunfthandwerks und<br />

<strong>der</strong> Manufaktur hinweggeschritten, so übersprangen einzelne Industriezweige eine Reihe<br />

von technisch-industriellen Etappen, die im Westen nach Jahrzehnten maßen. Infolgedessen<br />

entwickelte sich die russische Industrie zu gewissen Perioden in äußerst schnellem<br />

Tempo. Zwischen <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> und dem Kriege stieg die russische Industrieproduktion<br />

annähernd um das Doppelte. Das erschien einigen <strong>russischen</strong> Historikern ein<br />

hinlänglicher Grund zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung, daß man »von <strong>der</strong> Legende über Rückständigkeit<br />

und langsames Wachstum abkommen muße« 1 . InWirklichkeit wurde die Möglichkeit<br />

eines so schnellen Wachstums gerade durch die Rückständigkeit bestimmt, die sich -<br />

lei<strong>der</strong> - nicht nur bis zum Augenblick <strong>der</strong> Liquidierung des alten Russlands, son<strong>der</strong>n, als<br />

dessen Erbe, bis auf den heutigen Tag erhalten hat.<br />

Der grundlegende Gradmesser des ökonomischen Niveaus einer Nation ist die Produktivität<br />

<strong>der</strong> Arbeit, die ihrerseits vom spezifischen Gewicht <strong>der</strong> Industrie in <strong>der</strong> Gesamtwirtschaft<br />

des Landes abhängt. Am Vorabend des Krieges, als das zaristische Russland<br />

den Höhepunkt seines Wohlstandes erreicht hatte, war das Volkseinkommen pro Kopf<br />

acht- bis zehnmal geringer als in den Vereinigten Staaten, was nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich<br />

ist, berücksichtigt man, daß vier Fünftel <strong>der</strong> selbständig werktätigen Bevölkerung<br />

Rußlands in <strong>der</strong> Landwirtschaft beschäftigt waren, während in den Vereinigten Staaten<br />

auf einen in <strong>der</strong> Landwirtschaft Beschäftigten 2,5 in <strong>der</strong> Industrie Beschäftigte gezählt<br />

wurden. Hinzugefügt sei noch, daß am Vorabend des Krieges in Russland auf hun<strong>der</strong>t<br />

Quadratkilometer 0,4 Kilometer Eisenbahn, in Deutschland 11,7, in Österreich-Ungarn 7<br />

kamen. Die an<strong>der</strong>en vergleichenden Koeffizienten sind nämlicher Art.<br />

Aber gerade auf dem Gebiete <strong>der</strong> Wirtschaft tritt, wie bereits gesagt, das Gesetz <strong>der</strong><br />

kombinierten Entwicklung am stärksten hervor. Während die bäuerliche Landwirtschaft<br />

in ihrer Hauptmasse bis zur <strong>Revolution</strong> fast auf dem Niveau des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

verblieben war, stand Rußlands Industrie in bezug auf Technik und kapitalistische<br />

Struktur auf <strong>der</strong> Stufe <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong> und eilte diesen in mancher Beziehung<br />

sogar voraus. Kleine Betriebe mit einer Arbeiterzahl bis 100 Mann umfaßten im<br />

Jahre 1914 in den Vereinigten Staaten 35% <strong>der</strong> gesamten Industriearbeiter, in Rußland<br />

nur 17,8%. Bei einem ungefähr gleichen spezifischen Gewicht <strong>der</strong> mittleren und größeren<br />

Unternehmen mit 100 bis 1.000 Arbeitern betrugen in den Veremigten Staaten<br />

Riesenunternehmen mit über 1.000 Arbeitern 17,8% <strong>der</strong> gesamten Arbeiterzahl, in<br />

Rußland 41,4%. Für die wichtigsten Industriebezirke war dieser Prozentsatz noch höher:<br />

für den Petrogra<strong>der</strong> 44,4%, für den Moskauer sogar 57,3%. Ähnliche Resultate ergeben<br />

sich, vergleicht man die russische Industrie mit <strong>der</strong> britischen o<strong>der</strong> deutschen. Diese<br />

Tatsache, die wir zum ersten Male im Jahre 1908 festgestellt haben, verträgt sich schlecht<br />

1 Die Behauptung stammt von Prof. M. N. Pokrowski. S. Anhang Nr. 1.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 12


mit <strong>der</strong> Vorstellung von <strong>der</strong> ökonomischen Rückständigkeit Rußlands. Indes wi<strong>der</strong>legt<br />

sie die Rückständigkeit nicht, son<strong>der</strong>n ist <strong>der</strong>en dialektische Ergänzung.<br />

Die Verschmelzung des Industriekapitals mit dem Bankkapital wurde in Rußland<br />

wie<strong>der</strong>um so vollständig durchgeführt wie wohl kaum in einem an<strong>der</strong>en Lande. Doch<br />

bedeutete die Abhängigkeit <strong>der</strong> Industrie von den Banken gleichzeitig ihre Abhängigkeit<br />

vom westeuropäischen Geldmarkt. Die Schwerindustrie (Metall, Kohle, Naphtha) befand<br />

sich fast restlos unter <strong>der</strong> Kontrolle des ausländischen Finanzkapitals, das sich ein Hilfsund<br />

Vermittlungssystem von Banken in Rußland geschaffen hatte. Die Leichtindustrie<br />

ging denselben Weg. Gehörten im ganzen rund 40% des gesamten Aktienkapitals in<br />

Rußland Auslän<strong>der</strong>n, so war für die führenden Industriezweige dieser Prozentsatz noch<br />

bedeutend höher. Man kann ohne jede Übertreibung behaupten, daß sich die Kontrollpakete<br />

<strong>der</strong> Aktien <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Banken, Werke und Fabriken im Auslande befanden,<br />

wobei <strong>der</strong> Kapitalanteil Englands, Frankreichs und Belgiens fast doppelt so groß als <strong>der</strong><br />

Deutschlands war.<br />

Die Entstehungsbedingungen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Industrie und <strong>der</strong>en Struktur bestimmten<br />

den sozialen Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie und <strong>der</strong>en politisches Gesicht. Die<br />

außerordentliche Konzentration <strong>der</strong> Industrie bedeutete schon an sich, daß zwischen den<br />

kapitalistischen Spitzen und den Volksmassen keine Hierarchie von Übergangsschichten<br />

bestand. Dazu kommt, daß die Besitzer <strong>der</strong> wichtigsten Industrie-, Bank- und Transportunternehmen<br />

Auslän<strong>der</strong> waren, die nicht nur die aus Rußland herausgeholten Gewinne,<br />

son<strong>der</strong>n auch ihren politischen Einfluß in ausländischen Parlamenten realisierten und den<br />

Kampf um den <strong>russischen</strong> Parlamentarismus nicht nur nicht för<strong>der</strong>ten, son<strong>der</strong>n ihm<br />

häufig sogar entgegenwirkten: es genügt, an die schändliche Rolle des offiziellen Frankreich<br />

zu denken. Dies waren die elementaren und unabwendbaren Ursachen <strong>der</strong> politischen<br />

Isoliertheit und des volksfeindlichen Charakters <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. War<br />

sie in <strong>der</strong> Morgenröte ihrer <strong>Geschichte</strong> zu unreif, die Reformation durchzusetzen, so<br />

erwies sie sich als überreif, als die Zeit für die Führung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gekommen war.<br />

Entsprechend dem gesamten Entwicklungsgang des Landes wurde nicht das Zunfthandwerk,<br />

son<strong>der</strong>n die Landwirtschaft, nicht die Stadt, sondem das Dorf zum Reservoir,<br />

aus dem die russische Arbeiterklasse hervorging. Dabei entstand das russische Proletariat<br />

nicht allmählich, in Jahrhun<strong>der</strong>ten, beschwert mit <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Vergangenheit wie in<br />

England, son<strong>der</strong>n sprunghaft, durch schroffe Wendung <strong>der</strong> Lage, <strong>der</strong> Verbindungen, <strong>der</strong><br />

Beziehungen und durch jähen Bruch mit dem Gestern. Gerade dies in Verbindung mit<br />

dem konzentrierten Joch des Zarismus machte die <strong>russischen</strong> Arbeiter für die kühnsten<br />

Schlußfolgerungen des revolutionären Gedankens empfänglich, ähnlich wie die verspätete<br />

russische Industrie sich für das letzte Wort kapitalistischer Organisation empfänglich<br />

zeigte.<br />

Die kurze <strong>Geschichte</strong> seiner Abstammung machte das russische Proletariat jedesmal<br />

aufs neue durch. Während sich in <strong>der</strong> metallverarbeitenden Industrie, beson<strong>der</strong>s in<br />

Petersburg, eine Schicht erblicher Proletarier, die mit dem Dorfe endgültig gebrochen<br />

hatten, herauskristallisierte, überwog am Ural noch <strong>der</strong> Typus des Halbproletariers-Halbbauern.<br />

Der alijährliche Zustrom frischer Arbeitskraft aus den Dörfern in alle Industriebezirke<br />

erneuerte die Bindung des Proletariats mit seinem sozialen Reservoir.<br />

Die politische Tatunfähigkeit <strong>der</strong> Bourgeoisie war unmittelbar bestimmt durch den<br />

Charakter ihrer Beziehungen zu Proletariat und Bauernschaft. Sie vermochte nicht das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 13


Proletariat zu führen, das ihr im Alltag feindlich gegenüberstand und sehr bald seine<br />

Aufgaben zu verallgemeinern lernte. Im gleichen Maße erwies sie sich aber zur Führung<br />

<strong>der</strong> Bauernschaft unfähig, da sie durch ein Netz gemeinsamer Interessen mit den Gutsbesitzern<br />

verbunden war und die Erschütterung des Eigentums in welcher Form auch<br />

immer fürchtete. Das Verspäten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> war folglich nicht nur eine<br />

Frage <strong>der</strong> Chronologie, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> sozialen Struktur <strong>der</strong> Nation.<br />

England vollzog seine puritanische <strong>Revolution</strong>, als seine Gesamtbevölkerung 5¼<br />

Millionen nicht überstieg, wovon ½ Million auf London kam. In seiner <strong>Revolution</strong>sepoche<br />

hatte Frankreich in Paris auch bloß ½ Million Einwohner bei 25 Millionen Gesamtbevölkerung.<br />

Rußlands Bevölkerung betrug zu Beginn des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

etwa 150 Millionen, von denen mehr als 3 Millionen auf Moskau und Petrograd<br />

enifielen. Hinter diesen vergleichenden Zahlen verbergen sich große soziale Unterschiede.<br />

We<strong>der</strong> das England des siebzehnten noch das Frankreich des achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

haben das neuzeitige Proletariat gekannt. Indes zählte im Jahre 1905 die Arbeiterklasse<br />

Rußlands auf allen Arbeitsgebieten, in Stadt und Land, nicht weniger als 10<br />

Millionen Seelen, was zusammen mit den Familien über 25 Millionen ausmachte, das<br />

heißt mehr als die Gesamtbevölkerung Frankreichs in <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Großen<br />

<strong>Revolution</strong>. Von den gesicherten Handwerkern und unabhängigen Bauern <strong>der</strong> Cromwellschen<br />

Armee - über die Sansculotten von Paris - bis zu den Industrieproletariern Petersburgs<br />

hatte die <strong>Revolution</strong> ihre soziale Mechanik, ihre Methoden und damit auch ihre<br />

Ziele tiefgehend verän<strong>der</strong>t.<br />

Die Ereignisse des Jahres 1905 waren ein Prolog <strong>der</strong> beiden <strong>Revolution</strong>en von 1917:<br />

<strong>der</strong> Februar- und <strong>der</strong> Oktoberrevolution. Der Prolog enthielt alle Elemente des Dramas,<br />

nur nicht bis ans Ende geführt. Der Russisch-Japanische Krieg hatte den Zarismus gelokkert.<br />

Auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Massenbewegung jagte die liberale Bourgeoisie durch<br />

ihre Opposition <strong>der</strong> Monarchie Angst ein. Die Arbeiter organisierten sich unabhängig<br />

von <strong>der</strong> Bourgeoisie und im Gegensatz zu ihr in den Sowjets, die damals zum ersten<br />

Male ins Leben gerufen wurden. Unter <strong>der</strong> Parole: Boden! erhob sich die Bauernschaft<br />

<strong>der</strong> ganzen riesigen Fläche des Landes. Wie die Bauern, neigten auch die revolutionären<br />

Truppenteile zu den Sowjets, die im Augenblick des höchsten Aufstieges <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

<strong>der</strong> Monarchie die Macht offen streitig machten. Das war das erste Auftreten sämtlicher<br />

revolutionärer Kräfte; sie besaßen noch keine Erfahrung, und es mangelte ihnen an<br />

Zuversicht. Die Liberalen prallten demonstrativ gerade in dem Augenblick vor <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> zurück, als sich herausstellte, daß es nicht genügte, den Zarismus zu lockern,<br />

daß man ihn außerdem noch umwerfen müsse. Der jähe Bruch <strong>der</strong> Bourgeoisie mit dem<br />

Volke, wobei sie schon damals bedeutende Kreise <strong>der</strong> demokratischen Intelligenz mit<br />

sich riß, erleichterte <strong>der</strong> Monarchie, die Armee zu spalten, treue Truppenteile auszuson<strong>der</strong>n<br />

und über Arbeiter und Bauern blutiges Gericht zu halten. Wenn er auch manche<br />

Rippe einbüßte, ging <strong>der</strong> Zarismus aus <strong>der</strong> Prüfung von 1905 doch lebend und kräftig<br />

genug hervor.<br />

Welche Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kräfteverhälmisse brachte die historische Entwicklung in den<br />

elf Jahren, die den Prolog vom Drama trennen? Der Zarismus geriet während dieser<br />

Periode in einen noch größeren Gegensatz zu den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> historischen Entwicklung.<br />

Die Bourgeoisie wurde ökonomisch mächtiger, doch stützte sich diese Macht, wie<br />

wir gesehen haben, auf die höhere Konzentration <strong>der</strong> Industrie und die gesteigerte Rolle<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 14


des Auslandskapitals. Unter <strong>der</strong> Wirkung <strong>der</strong> Lehren von 1905 war die Bourgeoisie noch<br />

konservativer und mißtrauischer geworden. Das spezifische Gewicht <strong>der</strong> Klein- und<br />

Mittelbourgeoisie, schon früher unbeträchtlich, sank noch tiefer. Die demokratische<br />

Intelligenz besaß überhaupt keine irgendwie wi<strong>der</strong>standsfähige soziale Stütze. Sie konnte<br />

vorübergehend politischen Einfluß gewinnen, aber keine selbständige Rolle spielen. Ihre<br />

Abhängigkeit vom bürgerlichen Liberalismus war ungemein gewachsen. Programm,<br />

Banner und Führung konnte <strong>der</strong> Bauernschaft unter diesen Umständen nur das junge<br />

Proletariat bieten. Die vor ihr auf diese Weise erstandenen grandiosen Aufgaben erzeugten<br />

ein unaufschiebbares Bedürfnis nach einer beson<strong>der</strong>en revolutionären Organisation,<br />

die die Volksmassen auf einmal erfassen und unter Führung <strong>der</strong> Arbeiterschaft zu revolutionärer<br />

Tat zu befähigen vermochte. So erhielten die Sowjets von 1905 gigantische<br />

Entfaltung im Jahre 1917. Daß die Sowjets - wir wollen es hier gleich sagen - nicht<br />

einfach eine Ausgeburt <strong>der</strong> historischen Verspätung Rußlands, son<strong>der</strong>n vielmehr ein<br />

Produkt <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung darstellen, beweist allein schon die Tatsache, daß<br />

das Proletariat des industriellsten Landes, Deutschlands, während des revolutionären<br />

Aufstieges von 1918/19 keine an<strong>der</strong>e Organisationsform gefunden hat als die <strong>der</strong> Räte.<br />

Unmittelbare Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1917 war noch immer <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong><br />

bürokratischen Monarchie. Doch zum Unterschiede von den alten bürgerlichen <strong>Revolution</strong>en<br />

trat jetzt als entscheidende Kraft die neue Klasse hervor, entstanden auf Grundlage<br />

<strong>der</strong> konzentrierten Industrie, ausgerüstet mit einer neuen Organisation und neuen Kampfmethoden.<br />

Das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung enthüllt sich uns hier in seinem<br />

weitestgehenden Ausdruck: beginnend mit <strong>der</strong> Hinwegräumung <strong>der</strong> mittelalterlichen<br />

Fäulnis, bringt die <strong>Revolution</strong> nach einigen Monaten das Proletariat mit <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

Partei an <strong>der</strong> Spitze zur Herrschaft.<br />

Nach ihren ursprünglichen Aufgaben war die russische <strong>Revolution</strong> mithin eine<br />

demokratische <strong>Revolution</strong>. Doch stellte sie das Problem <strong>der</strong> politischen Demokratie auf<br />

neue Art. Während die Arbeiter unter Einbeziehung <strong>der</strong> Soldaten und zum Teil auch <strong>der</strong><br />

Bauern das ganze Land mit Sowjets überzogen, feilschte die Bourgeoisie noch immer um<br />

die Frage <strong>der</strong> Einberufung o<strong>der</strong> Nichteinberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung.<br />

Im Verlaufe <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Ereignisse wird diese Frage in ihrer ganzen Konkretheit<br />

vor uns erstehen. Hier wollen wir nur den Platz bezeichnen, den die Sowjets in <strong>der</strong> historischen<br />

Reihenfolge revolutionärer Ideen und Formen einnehmen.<br />

Mitte des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts entfaltete sich die bürgerliche <strong>Revolution</strong> in<br />

England im Gewande <strong>der</strong> religiösen Reformation. Der Kampf um das Recht, nach einem<br />

eigenen Gebetbuch zu beten, identifizierte sich mit dem Kampf gegen König, Aristokratie,<br />

Kirchenfürsten und Rom. Die Presbyterianer und Puritaner waren tief davon<br />

überzeugt, daß sie ihre irdischen Interessen unter den unerschütterlichen Schutz <strong>der</strong><br />

göttlichen Vorsehung gestellt hatten. Die Aufgaben, für die die neuen Klassen kämpften,<br />

verwuchsen in <strong>der</strong>en Bewußtsein mit dem Bibeltext und den Formen kirchlicher Gebräuche.<br />

Die Emigranten nahmen diese durch Blut gefestigte Tradition über den Ozean mit.<br />

Daher die seltene Zähigkeit <strong>der</strong> angelsächsischen Interpretation des Christentums Wir<br />

sehen, wie die Minister-"<strong>Sozialisten</strong>" Großbritanniens auch heute noch ihre Feigheit mit<br />

den gleichen magischen Texten begründen, aus denen die Männer des siebzehnten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts Rechtfertigung für ihren Mut gesucht hatten.<br />

In Frankreich, das die Reformation übergangen hatte, erlebte die Katholische Kirche<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 15


als Staatskirche die <strong>Revolution</strong>, die nicht tn Bibeltexten, son<strong>der</strong>n in Abstraktionen <strong>der</strong><br />

Demokratie Ausdruck und Rechtfertigung für die Aufgaben <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft<br />

fand. Wie groß <strong>der</strong> Haß <strong>der</strong> heutigen Lenker Frankreichs gegen das Jakobinertum<br />

auch sein mag, Tatsache bleibt, daß gerade dank <strong>der</strong> rauhen Arbeit Robespierres sie alle<br />

Möglichkeiten behalten haben, ihre konservative Herrschaft mit jenen Formeln zu<br />

verhüllen, durch die einst die alte Gesellschaft gesprengt wurde.<br />

Jede große <strong>Revolution</strong> hat neue Etappen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft und neue<br />

Bewußtseinsformen ihrer Klassen zu verzeichnen Wie Frankreich über die Reformation<br />

hinwegschritt, so hat Rußland die formale Demokratie übergangen. Die russische revolunonare<br />

Partei, <strong>der</strong> es bevorstand, ihren Stempel einer ganzen Epoche aufzupressen,<br />

suchte den Ausdruck für die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht in <strong>der</strong> Bibel, nicht im säkularisierten<br />

Christentum <strong>der</strong> "reinen" Demokratie, son<strong>der</strong>n in den materiellen Verhältmssen<br />

<strong>der</strong> Gesellschaftsklassen. Das Sowjetsystem gab diesen Verhältussen den einfachsten,<br />

unverhülltesten, klarsten Ausdruck. Die Herrschaft <strong>der</strong> Werktätigen fand zum ersten<br />

Male ihre Verwirklichung in diesem System, das, wie auch seine nächsten historischen<br />

Schicksalswendungen sein mögen, ebenso unaustilgbarem das Bewußtsein <strong>der</strong> Massen<br />

eingedrungen ist wie seinerzeit das System <strong>der</strong> Reformation o<strong>der</strong> <strong>der</strong> reinen Demokratie.<br />

Das zaristische Rußland im Kriege<br />

Die Beteiligung Rußlands am Kriege war den Motiven und Zielennach wi<strong>der</strong>spruchsvoll.<br />

Der blutige Kampf ging im wesentlichen um die Weltherrschaft. In diesem Sinne<br />

überstieg er Rußlands Kraft. Rußlands sogenannte Kriegsziele (die türkischen Meerengen,<br />

Galizien, Armenien) hatten provinziellen Charakter und konnten nur nebenbei<br />

gelöst werden, je nachdem sie mit den Interessen <strong>der</strong> entscheidenden Kriegsteilnehmer<br />

im Einklang standen.<br />

Gleichzeitig aber konnte Russland als Großmacht <strong>der</strong> Rauferei <strong>der</strong> fortgeschrittenen<br />

kapitalistischen Län<strong>der</strong> nicht fernbleiben, wie es sich in <strong>der</strong> vorangegangenen Epoche<br />

auch <strong>der</strong> Einführung von Fabriken, Eisenbahnen, Schnellfeuergeschützen und Flugzeugen<br />

nicht hatte verschließen können. Der unter den <strong>russischen</strong> Historikern <strong>der</strong> neuesten<br />

Schule nicht seltene Streit, in welchem Maße das zaristische Rußland für die mo<strong>der</strong>ne<br />

imperialistische Politik reif gewesen wäre, verfällt häufig in Scholastik, denn sie betrachten<br />

Rußland in <strong>der</strong> Weltarena isoliert, als selbständigen Faktor. Indes war es nur das<br />

Glied eines Systems.<br />

Indien beteiligte sich am Kriege dem Wesen und <strong>der</strong> Form nach als Kolonie Englands.<br />

Die Einmischung Chinas, formell eine "freiwillige", war tatsächlich die Einmischung<br />

eines Sklaven in die Balgerei <strong>der</strong> Herren. Die Beteiligung Rußlands lag irgendwo in <strong>der</strong><br />

Mitte zwischen <strong>der</strong> Beteiligung Frankreichs und <strong>der</strong> Chinas. Rußland bezahlte damit das<br />

Recht, mit fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n im Bunde zu sein, Kapital einzuführen und<br />

Prozente dafür zu zahlen, das heißt im wesentlichen das Recht, eine privilegierte Kolonie<br />

seiner Verbündeten zu sein; aber gleichzeitig auch das Recht, die Türkei, Persien, Galizien,<br />

überhaupt alle Län<strong>der</strong>, die schwächer und rückständiger waren als es selbst, zu<br />

knebeln und zu plün<strong>der</strong>n. Der zwiespältige Imperialismus <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie<br />

trug in seinem Kern den Charakter einer Agentur an<strong>der</strong>er, gewaltigerer Weltmächte.<br />

Das chinesische Kompradorentum ist das klassische Vorbild einer nationalen<br />

Bourgeoisie, gebildet nach dem Typus einer Vermittlungsagentur zwischen ausländi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 16


schem Finanzkapital und einheimischer Wirtschaft. In <strong>der</strong> Welthierarchie <strong>der</strong> Staaten<br />

nahm Rußland bis zum Kriege einen bedeutend höheren Platz als China ein. Welchen<br />

Platz es, ohne die <strong>Revolution</strong>, nach dem Kriege eingenommen haben würde, ist eine<br />

an<strong>der</strong>e Frage. Doch zeigten das russische Selbstherrschertum einerseits und die russische<br />

Bourgeoisie an<strong>der</strong>erseits die krassesten Züge des Kompradorentums: sie lebten und<br />

nährten sich von <strong>der</strong> Verbindung mit dem ausländischen Imperialismus, dienten ihm und<br />

konnten sich, ohne sich auf ihn zu stützen, nicht halten. Allerdings haben sie sich letzten<br />

Endes auch mit seiner Unterstützung nicht zu behaupten vermocht. Die halbkompradorenhafte<br />

russische Bourgeoisie hatte imperialistische Weltinteressen im gleichen Sinne,<br />

wie ein prozentual beteiligter Agent die Interessen seines Herrn teilt.<br />

Das Werkzeug des Krieges ist die Armee. Da jede Armee in <strong>der</strong> nationalen Mythologie<br />

für unbesiegbar gilt, sahen die herrschenden Klassen Rußlands keinen Grund, für die<br />

zaristische Armee eine Ausnahme zu machen. In Wirklichkeit stellte sie nur gegen die<br />

halbbarbarischen Völker, die kleinen Nachbarn und Staaten, die sich in Auflösung befanden,<br />

eine ernstliche Macht dar; auf <strong>der</strong> europäischen Arena war sie lediglich innerhalb<br />

von Koalitionen wirksam; in <strong>der</strong> Verteidigung erfüllte sie ihre Aufgabe nur in Verbindung<br />

mit <strong>der</strong> unermeßlichen Ausdehnung, <strong>der</strong> Bevölkerungsdünne und <strong>der</strong> Unpassierbarkeit<br />

<strong>der</strong> Wege. Ein Virtuose <strong>der</strong> Armee <strong>der</strong> leibeigenen Muschiks war Suworow. Die<br />

Französische <strong>Revolution</strong>, die einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kriegskunst die<br />

Türen öffnete, sprach gleichzeitig das Todesurteil über die Suworowsche Armee.<br />

Die halbe Abschaffüng <strong>der</strong> Leibeigenschaft und die Einführung <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Militärpflicht mo<strong>der</strong>nisierten die Armee in den gleichen Grenzen wie das Land, das heißt<br />

sie trugen in die Armee alle Gegensätze <strong>der</strong> Nation, <strong>der</strong> noch erst bevorstand, ihre<br />

bürgerliche <strong>Revolution</strong> durchzumachen. Zwar wurde die zaristische Armee nach westlichen<br />

Mustern aufgebaut und ausgerüstet, doch betraf es mehr die Form als das Wesen.<br />

Das Kulturniveau des Bauern-Soldaten stand zu dem Niveau <strong>der</strong> Kriegsteehnik in<br />

keinem Verhältnis. Im Kommandobestand fanden Kulturlosigkeit, Faulheit und Diebeswesen<br />

<strong>der</strong> herrschenden Klassen Russlands ihren Ausdruck. Industrie und Transportverhältuisse<br />

enthüllten fortgestzt ihre Unzulänglichkeit angesichts <strong>der</strong> konzentrierten<br />

Bedürfnisse <strong>der</strong> Kriegszeit. Die am ersten Kriegstage scheinbar sachgemäß ausgerüsteten<br />

Truppen erwiesen sieh alsbald nicht nur ohne Waffen, son<strong>der</strong>n auch ohne Stiefel. Im<br />

RussischJapanischen Kriege hatte die zaristische Armee gezeigt, was sie wert war. In <strong>der</strong><br />

Epoche <strong>der</strong> Konterrevolution hatte die Monarchie mit Hilfe <strong>der</strong> Duma die Militärlager<br />

aufgefüllt und die Armee an vielen Stellen ausgeflickt, darunter auch die Reputation ihrer<br />

Unbesiegbarkeit. Im Jahre 1914 kam die neue, viel schwerere Prüfung.<br />

In bezug auf Ausrüstung und Finanzen zeigt sich Rußland im Kriege sogleich in<br />

sklavischer Abhängigkeit von seinen Verbündeten. Das ist nur <strong>der</strong> militärische Ausdruck<br />

seiner allgemeinen Abhängigkeit von den fortgeschrittenen kapitalistischen Län<strong>der</strong>n.<br />

Doch die Hilfe <strong>der</strong> Verbündeten rettet die Lage nicht. Der Mangel an Kampfvorräten, das<br />

Fehlen von Fabriken für <strong>der</strong>en Herstellung, das dünne Eisenbahnnetz für <strong>der</strong>en Zufuhr,<br />

übersetzen die Rückständigkeit Rußlands in die allgemein verständliche Sprache <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>lagen, die die <strong>russischen</strong> Nationalliberalen daran erinnern, daß ihre Ahnen die<br />

bürgerliche <strong>Revolution</strong> nicht vollendet hatten und die Nachkommen vor <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

deshalb schuldig seien.<br />

Die ersten Tage des Krieges waren auch die ersten Tage <strong>der</strong> Schmach. Nach einer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 17


Reihe von Teilkatastrophen brach im Frühling 1915 <strong>der</strong> allgemeine Rückzug herein. Ihre<br />

verbrecherische Unfähigkeit ließen die Generale an <strong>der</strong> friedlichen Bevölkerung aus.<br />

Riesenflächen wurden gewaltsam verwüstet. Die menschliche Heuschrecke mit Nagajkas<br />

ins Hinterland getrieben. Die äußere Zerstörung durch die innere vervollständigt.<br />

Auf besorgte Fragen seiner Kollegen über die Lage an <strong>der</strong> Front antwortete <strong>der</strong> Kriegsminister,<br />

General Poliwanow, wörtlich: »Ich vertraue auf die unwegsamen Flächen, auf<br />

die uferlosen Sümpfe und auf die Gnade des heiligen Nikolaus Mirlikijski, des Schutzpatrons<br />

des heiligen Russland« (Sitzung vom 4. August 1915). Eine Woche später gestand<br />

General Russki den gleichen Ministern: »Die mo<strong>der</strong>nen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Kriegstechnik<br />

gehen über unsere Kraft. Jedenfalls können wir es mit Deutschland nicht aufnehmen.«<br />

Das war keine Augenblicksstimmung. Der Offizier Stankewitsch gibt die Worte eines<br />

Korpsingenieurs so wie<strong>der</strong>: »Mit den Deutschen Krieg zu führen ist hoffnungslos, denn<br />

wir sind nicht imstande, etwas zu tun. Sogar die neuen Kampfmethoden verwandeln sich<br />

in Ursachen unserer Mißerfolge.« Solche Urteile gibt es ohne Zahl.<br />

Das einzige, was die <strong>russischen</strong> Generale mit Schwung taten, war das Herausholen von<br />

Menschenfleisch aus dem Lande. Mit Rind- und Schweinefleisch ging man unvergleichlich<br />

sparsamer um. Die grauen Generalstabsnullen, Januschkewitsch unter Nikolai<br />

Nikolajewitsch, wie Alexejew unter dem Zaren, verstopften die Löcher mit neuen Aushebungen,<br />

trösteten sich und die Alliierten mit Zahlenkolonnen, wo man Kämpferkolonnen<br />

brauchte. Annähernd 15 Millionen Menschen wurden mobilisiert, die die Depots, Kasernen,<br />

Etappen füllten, herumlungerten, herumstampften, einan<strong>der</strong> auf die Füßte traten,<br />

verbitterten, fluchten. Waren diese menschlichen Massen für die Front eine vermeintliche<br />

Größe, so waren sie ein wirklicher Faktor des Zerfalls im Hinterlande. Etwa 5½ Millionen<br />

wurden als tot, verwundet und gefangen registriert. Die Zahl <strong>der</strong> Deserteure wuchs.<br />

Schon im Juli 1915 jammerten die Minister: »Armes Rußland. Sogar seine Armee, die in<br />

vergangenen Zeiten die Welt mit Siegesdonner erfüllt hatte ... auch sie besteht nur, wie<br />

sich herausstellt, aus Feiglingen und Deserteuren.«<br />

Die gleichen Minister, die mit Galgenhumor über den "Generalsrückzugmut" witzelten,<br />

verbrachten Stunden und Stunden über dem Problem: soll man die Reliquien aus Kiew<br />

wegbringen o<strong>der</strong> nicht? Der Zar war <strong>der</strong> Meinung, man brauche es nicht, denn »die<br />

Deutschen werden nicht wagen, sie anzurühren, und wenn sie sie anrühren, desto<br />

schlimmer für die Deutschen.« Die Synode jedoch begann bereits mit <strong>der</strong> Ausfur: »Wenn<br />

wir die Stadt verlassen, nehmen wir unser Teuerstes mit.« Das geschah nicht zur Zeit <strong>der</strong><br />

Kreuzzüge, son<strong>der</strong>n im zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t, als die Berichte über die <strong>russischen</strong><br />

Nie<strong>der</strong>lagen radiotelegraphisch weitergegeben wurden.<br />

Rulflands Erfolge gegen Österreich-Ungarn wurzelten mehr in Österreich-Ungarn als<br />

in Rußland. Die auseinan<strong>der</strong>fallende habsburgische Monarchie hatte schon längst Bedarf<br />

an einem Totengräber, ohne dabei von ihm hohe Qualifikationen zu verlangen. Rußland<br />

hatte auch in <strong>der</strong> Vergangenheit Erfolg gegen innerlich in Auflösung befindliche Staaten<br />

wie die Türkei, Polen und Persien gehabt. Die Südwestfront <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee, gegen<br />

Österreich-Ungarn gewandt, kannte bedeutende Siege, was sie von den an<strong>der</strong>en Fronten<br />

unterschied. Hier taten sich einige Generale hervor, die zwar ihre militärische Begabung<br />

durch nichts bewiesen hatten, aber zumindest nicht vom Fatalismus unentwegt geschlagener<br />

Kriegsführer gezeichnet waren. Aus diesem Milieu gingen später einige weiße<br />

"Helden" des Bürgerkrieges hervor.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 18


Alle suchten, wem die Schuld aufgebürdet werden könnte. Man beschuldigte kurzweg<br />

die Juden <strong>der</strong> Spionage. Man plün<strong>der</strong>te Menschen mit deutschen Namen aus. Der<br />

Generalstab des Großfürsten Nikolai Nikolajewitseh ließ den Gendarmerieoberst Mjassojedow<br />

als deutschen Spion, <strong>der</strong> er allem Anscheine nach nicht war, erschießen. Man<br />

verhaftete den Kriegsminister Suchomlinow, einen hohlen und unsauberen Menschen,<br />

unter <strong>der</strong> vielleicht nicht unbegründeten Anschuldigung des Verrates. Der britische<br />

Außenminister Grey sagte dem Vorsitzenden <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> parlamentarischen Delegation:<br />

»Ihre Regierung ist sehr kühn, wenn sie sich entschließen kann, im Kriege den<br />

Kriegsminister des Verrates zu beschuldigen.« Die Stäbe und die Duma bezichtigten den<br />

Hof des Germanophilentums. Alle zusammen beneideten und haßten die Alliierten. Das<br />

französische Kommando schonte seine Armeen, indem es russische Soldaten vorschob.<br />

England kam nur langsam in Schwung. In Petrogra<strong>der</strong> Salons und in den Frontstäben<br />

scherzte man lieblich: »England hat geschworen, standhaft durchzuhalten bis zum letzten<br />

Blutstropfen ... des <strong>russischen</strong> Soldaten.« Diese Späßchen sickerten nach unten und bis<br />

an die Front durch. »Alles für den Krieg!« sagten Minister, Deputierte, Generale, Journalisten.<br />

»Ja«, begann <strong>der</strong> Soldat im Schützengraben zu grübeln, »alle sind bereit bis zum<br />

letzten Tropfen ... meines Blutes zu kämpfen.«<br />

Die russische Armee verlor im Kriege mehr Menschen als irgendein an<strong>der</strong>es am<br />

Völkerschlachten beteiligtes Heer, nämlich 2½ Millionen Seelen, etwa 40% <strong>der</strong> Verluste<br />

aller Ententearmeen. In den ersten Monaten starben die Soldaten unter den Geschossen<br />

ohne nachzudenken, o<strong>der</strong> ohne viel nachzudenken. Doch sammelten sie täglich mehr<br />

Erfahrung, die bittere Erfahrung <strong>der</strong> "Gemeinen", die man nicht zu führen versteht. Sie<br />

ermaßen den Wirrwarr <strong>der</strong> zwecklosen Verschiebungen seitens <strong>der</strong> Generale an den<br />

abgerissenen Sohlen und <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> versäumten Mittagessen. Vom blutigen Brei <strong>der</strong><br />

Menschen und Dinge ging das verallgemeinernde Wort aus: Wahnsinn, das in <strong>der</strong> Soldatensprache<br />

durch ein saftigeres Wort ersetzt wurde.<br />

Am schnellsten löste sich die bäuerliche Infanterie auf. Die Artillerie, mit ihrem hohen<br />

Prozentsatz Industriearbeiter, zeichnet sich im allgemeinen durch größere Aufnahmefähigkeit<br />

für revolutionäre Ideen aus: das hatte sich im Jahre 1905 kraß gezeigt. Wenn sich<br />

dagegen die Artillerie im Jahre 1917 konservativer als die Infanterie erwies, lag <strong>der</strong><br />

Grund darin, daß durch die Infanterietruppenteile, wie durch ein Sieb, immer neue und<br />

immer weniger bearbeitete Menschenmassen gingen; die Artillerie aber, die unendlich<br />

geringere Verluste zu tragen hatte, behielt ihre alten Ka<strong>der</strong>. Das gleiche konnte man bei<br />

den an<strong>der</strong>en Spezialtruppen beobachten. Aber letzten Endes hielt auch die Artillerie nicht<br />

stand.<br />

Während des Rückzuges aus Galizien wurde ein Geheimhefehl des Höchstkommandierenden<br />

erlassen: wegen Desertion und an<strong>der</strong>er Verbrechen die Soldaten mit Ruten zu<br />

peitschen. Der Soldat Pirejko erzählt: »Man begann die Soldaten wegen <strong>der</strong> nichtigsten<br />

Vergehen auszupeitschen, wie zum Beispiel wegen eigenmächtiger Entfernung von <strong>der</strong><br />

Truppe für einige Stunden; mitunter peitschte man nur zu dem Zwecke, den Kriegsgeist<br />

zu heben.« Bereits am 17. September 1915 schrieb Kuropatkin, sich auf Gutschkow<br />

berufend: »Die Soldaten gingen mit Begeisterung in den Krieg. Jetzt sind sie müde und<br />

haben durch den ständigen Rückzug den Glauben an den Sieg verloren.« Ungefähr zur<br />

gleichen Zeit charakterisierte <strong>der</strong> Innenminister die in Moskau in den Lazaretten befindlichen<br />

30.000 genesenden Soldaten: »Das ist eine gewalttätige Bande, die keine Disziplin<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 19


anerkennt, randaliert, sich mit den Schutzleuten in Schlägereien einläßt (kurz vorher war<br />

einer von Soldaten erschlagen worden), Verhaftete befreit und so weiter. Es unterliegt<br />

keinem Zweifel, daß im Falle von Unruhen diese Horde sich <strong>der</strong> Menge anschließen<br />

wird.« Der gleiche Soldat Pirejko schreibt: »Alle, ohne Ausnahme, interessierten sich nur<br />

für den Frieden ... Wer siegen wird, und wie <strong>der</strong> Sieg sein wird - das interessierte die<br />

Armee am wenigsten sie brauchte Frieden um jeden Preis, denn sie war des Krieges<br />

müde.«<br />

Eine Frau mit Beobachtungsgabe, S. Fedortschenko, hat als Krankenschwester die<br />

Gespräche, ja fast schon die Gedanken <strong>der</strong> Soldaten belauscht und kunstvoll auf losen<br />

Blättern nie<strong>der</strong>geschrieben. Das auf diese Weise entstandene Büchlein "Volk im Kriege"<br />

ermöglicht einen Blick in jenes Laboratorium zu werfen, wo Bomben, Stacheldraht,<br />

Giftgase und Nie<strong>der</strong>tracht <strong>der</strong> Behörden während vieler Monate das Bewußtsein einiger<br />

Millionen russischer Bauern bearbeiteten und wo neben menschlichen Knochen<br />

jahrhun<strong>der</strong>tealte Vorurteile auseinan<strong>der</strong>krachten. In vielen dieser urwüchsigen<br />

Soldatenaphorismen sind bereits Losungen des späteren Bürgerkrieges enthalten.<br />

General Russki klagt im Dezember 1916, Riga sei das Unglück <strong>der</strong> Nordfront. Das sei,<br />

wie Dwinsk, ein »von Propaganda durchsetztes Nest«. General Brussilow bestätigte: aus<br />

dem Rigaer Bezirk kämen die Truppenteile demoralisiert an, die Soldaten weigerten sich,<br />

zur Attacke vorzugehen, einen Kompanieführer habe man mit den Bajonetten<br />

aufgespießt, man hätte einige Mann erschießen müssen, und so weiter. »Der Boden für<br />

die endgültige Zersetzung <strong>der</strong> Armee war lange vor <strong>der</strong> Umwälzung vorhanden«, gesteht<br />

Rodsjanko, <strong>der</strong> mit Offizieren in Verbindung war und die Front wie<strong>der</strong>holt besucht hatte.<br />

Die anfänglich zersplitterten revolutionären Elemente waren in <strong>der</strong> Armee fast spurlos<br />

untergetaucht. Doch mit dem Wachstum <strong>der</strong> allgemeinen Unzufriedenheit kamen sie an<br />

die Oberfläche. Das strafweise Verschicken streiken<strong>der</strong> Arbeiter an die Front füllte die<br />

Reihen <strong>der</strong> Agitatoren auf, und die Rückzüge schufen ihnen ein geneigtes Auditorium.<br />

»Die Armee im Hinterland und ganz beson<strong>der</strong>s an <strong>der</strong> Front«, meldet die Ochrana, »ist<br />

voll von Elementen, die zum Teil fähig sind, eine aktive Kraft des Aufstandes zu werden,<br />

während die an<strong>der</strong>en nur imstande wären, die Unterdrückungsarbeit zu verweigern ...«<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Gouvernementsgendarmerieverwaltung meldet im Oktober 1916 auf<br />

Grund des Berichtes eines Bevollmächtigten des Semstwoverbandes, daß die Stimmung<br />

in <strong>der</strong> Armee besorgniserregend, das Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten<br />

äußerst gespannt sei, sogar blutige Zusammenstöße vorkämen und man überall zu<br />

Tausenden Deserteuren begegne. »Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> in die Nähe <strong>der</strong> Armee kommt, muß den<br />

vollen und überzeugenden Eindruck von <strong>der</strong> unbedingten moralischen Zersetzung <strong>der</strong><br />

Truppen gewinnen.« Ans Vorsicht fügt <strong>der</strong> Bericht hinzu, daß man, obwohl vieles in<br />

diesen Äußerungen wenig glaubhaft erscheine, doch gezwungen sei, daran zu glauben,<br />

da viele von <strong>der</strong> aktiven Armee zurückgekehrte Ärzte Meldungen in gleichem Sinne<br />

erstattet hätten.<br />

Die Stimmungen des Hinterlandes entsprachen den Stimmungen <strong>der</strong> Front. Auf einer<br />

Konferenz <strong>der</strong> Kadettenpartei im Oktober 1916 hob die Mehrzahl <strong>der</strong> Delegierten die<br />

Apathie und den Unglauben an einen siegreichen Kriegsausgang hervor - »in allen<br />

Bevölkerungsschichten, beson<strong>der</strong>s jedoch im Dorfe und unter <strong>der</strong> städtischen Armut«.<br />

Am 30. Oktober 1916 schrieb <strong>der</strong> Direktor des Polizeidepartements in seiner Berichterstattung<br />

von <strong>der</strong> »überall und in allen Bevölkerungsschichten zu beobachtenden gewis-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 20


sen Kriegsmüdigkeit und <strong>der</strong> Sehnsucht nach baldigem Frieden, unter welchen Bedingungen<br />

immer er auch geschlossen werden würde ...«<br />

Nach einigen Monaten werden alle diese Herrschaften, Deputierte und Polizisten,<br />

Generale und Semstwobevollmächtigte, Ärzte und frühere Gendarmen, einstimmig<br />

behaupten, die <strong>Revolution</strong> habe den Patriotismus in <strong>der</strong> Armee getötet, und <strong>der</strong> sichere<br />

Sieg sei ihren Händen durch die Bolschewiki entrissen worden.<br />

Als Chorführer des kriegerischen Patriotismus wirkten ohne Zweifel die konstitutionellen<br />

Demokraten (Kadetten). Nachdem er seine problematischen Bande mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

schon Ende 1905 zerrissen hatte, erhob <strong>der</strong> Liberalismus mit Einsetzen <strong>der</strong><br />

Konterrevolution das Banner des Imperialismus. Das eine ergab sich aus dem an<strong>der</strong>en.<br />

Fehlt die Möglichkeit, das Land vom feudalen Gerümpel zu säubern, um <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

den herrschenden Platz zu sichern, bleibt nur ein Bündnis mit Monarchie und Adel, um<br />

dem Kapital einen besseren Platz in <strong>der</strong> Weltarena zu sichern. Wenn es wahr ist, daß die<br />

Weltkatastrophe von verschiedenen Seiten vorbereitet worden und für ihre verantwortlichen<br />

Organisatoren bis zu einem gewissen Grade überraschend gekommen war, so ist<br />

ebenso unzweifelhaft, daß bei ihrer Vorbereitung <strong>der</strong> russische Liberalismus, als Inspirator<br />

<strong>der</strong> Außenpolitik <strong>der</strong> Monarchie, nicht die letzte Stelle eingenommen hatte. Den<br />

Krieg von 1914 begrüßten die Führer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie mit vollem Recht als<br />

ihren Krieg. In <strong>der</strong> feierlichen Sitzung <strong>der</strong> Reichsduma vom 26. Juli 1914 verkündete <strong>der</strong><br />

Vertreter <strong>der</strong> Kadettenfraktion: »Wir stellen keine Bedingungen und For<strong>der</strong>ungen, wir<br />

legen einfach auf die Waage den festen Willen, den Gegner zu überwinden.« Die nationale<br />

Einigkeit wurde auch in Rußland zur offiziellen Doktrin. Während <strong>der</strong> patriotischen<br />

Kundgebungen in Moskau erklärte <strong>der</strong> Oberzeremonienmeister, Graf Benkendorf, den<br />

Diplomaten: »Hier haben Sie die <strong>Revolution</strong>, die man uns in Berlin vorausgesagt hat!«<br />

»Dieser Gedanke«, erklärt <strong>der</strong> französische Gesandte Paléologue, »beherrscht offensichtlich<br />

alle.« Diese Menschen betrachten es als ihre Pflicht, Illusionen zu nähren und auszustreuen<br />

in einer Situation, die, wie es scheinen sollte, Illusionen absolut ausschloß.<br />

Auf ernüchternde Lehren sollte man nicht lange warten. Schon gleich nach Kriegsbeginn<br />

rief einer <strong>der</strong> expansivsten Kadetten, <strong>der</strong> Advokat und Gutsbesitzer Roditschew, in<br />

<strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees seiner Partei aus: »Ja glaubt ihr wirklich, daß man mit<br />

diesen Dummköpfen siegen kann!« Die Ereignisse zeigten, daß man mit Dummköpfen<br />

nicht siegen konnte. Nach, dem er bereits zur guten Hälfte den Glauben an den Sieg<br />

verloren hatte, versuchte <strong>der</strong> Liberalismus das Beharrungsvermögen des Krieges zu einer<br />

Säuberung <strong>der</strong> Kamarilla auszunutzen und die Monarchie zu einem Pakt zu zwingen. Als<br />

Hauptmittel zu diesem Zweck dienten die gegen die Hofpartei gerichteten Beschuldigungen<br />

des Germanophilentums und <strong>der</strong> Vorbereitung eines Separatfriedens.<br />

Im Frühling 1915, als die waffenlosen Truppen auf <strong>der</strong> ganzen Front sich im Rückzuge<br />

befanden, wurde in den Regierungssphären, nicht ohne Druck seitens <strong>der</strong> Alliierten,<br />

beschlossen, die lnitiative <strong>der</strong> Privatindustrie für die Armee nutzbar zu machen. Die zu<br />

diesem Zweck geschaffene "Beson<strong>der</strong>e Beratung" umfaßte neben den Bürokraten die<br />

einflußreichsten Industrieführer. Die bei Kriegsbeginn entstandenen Semstwo und<br />

Städteverbände und die im Frühling 1915 gegründeten Kriegsindustriekomitees wurden<br />

Stützpunkte <strong>der</strong> Bourgeoisie im Kampfe um Sieg und Macht. Die Reichsduma sollte,<br />

indem sie sich auf diese Organisationen stützte, desto sicherer als Mittlerin zwischen<br />

Bourgeoisie und Monarchie auftreten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 21


Die breiten politischen Perspektiven lenkten jedoch die Blicke nicht ab von den folgenschweren<br />

Tagesaufgaben. Wie aus einem Hauptreservoir wurden aus <strong>der</strong> "Beson<strong>der</strong>en<br />

Beratung" Dutzende und Hun<strong>der</strong>te von Millionen, die zu Milliarden anwuchsen, durch<br />

weitverzweigte Kanäle geleitet, berieselten reichlich die Industrie und stillten unterwegs<br />

noch eine Menge Appetit. In <strong>der</strong> Reichsduma und in <strong>der</strong> Presse wurden einige Kriegsgewinne<br />

für das Jahr 1915-1916 bekanntgegeben: Die Gesellschaft des Moskauer liberalen<br />

Textilfabrikanten Rjabuschinski wies 75% Reingewinn aus; die Twerer Manufaktur<br />

sogar 111%; das Kupferwalrwerk Koljtschugin warf bei einem Grundkapital von 10<br />

Millionen 12 Millionen Gewinn ab. Die Tugend des Patriotismus wurde in diesem Sektor<br />

im Überfluß und dabei unverzüglich belohnt.<br />

Spekulationen aller Art und Börsenspiel erreichten den Paroxysmus. Riesenvermögen<br />

entstanden aus dem Blutschaum. Der Mangel an Brot und Heizstoff in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

hin<strong>der</strong>te den Hofjuwelier Faberget nicht, zu prahlen, er habe noch niemals so vorzügliche<br />

Geschäfte gemacht. Das Hoffräulein Wyrubowa erzählt, daß in keiner Saison so teure<br />

Klei<strong>der</strong> bestellt und so viele Brillanten gekauft wurden wie im Winter 1915/16. Die<br />

Nachtlokale waren überfüllt von Hinterlandshelden, legalen Deserteuren und sonstigen<br />

ehrenwerten Herrschaften, für die Front zu alt, aber noch jung genug für die Freuden des<br />

Lebens. Die Großfürsten waren nicht die Letzten unter den Teilnehmern am Pestgelage<br />

während <strong>der</strong> Pest. Keiner hatte Angst, zuviel auszugeben. Von oben strömte ein ununterbrochener<br />

goldener Regen. Die "Gesellschaft" hielt Hände und Taschen hin, die aristokratischen<br />

Damen schürzten die Röcke, alle patschten durch den Blutschlamm -<br />

Bankiers, Intendanten, Industrielle, Zaren- und Großfürstenballerinen, orthodoxe Hierarchen,<br />

Hoffräuleins, liberale Deputierte, Front- und Etappengenerale, radikale Advokaten,<br />

erlauchte Mucker bei<strong>der</strong>lei Geschlechts, zahlreiche Neffen und beson<strong>der</strong>s Nichten. Alle<br />

beeilten sich mit dem Raffen und Prassen, vor Angst, <strong>der</strong> segensreiche Regen könnte<br />

aufhören, und alle wiesen den schmachvollen Gedanken an vorzeitigen Frieden mit<br />

Etrüstung zurück.<br />

Gemeinsame Gewinne, äußere Nie<strong>der</strong>lagen und innere Gefahren brachten die besitzenden<br />

Klassen einan<strong>der</strong> näher. Die noch am Vorabend des Krieges uneinige Duma erhielt<br />

im Jahre 1915 ihre patriotisch-oppositionelle Mehrheit, die den Namen "progressiver<br />

Block" annahm. Als sein offizielles Ziel wurde selbstverständlich »die Befriedigung <strong>der</strong><br />

durch den Krieg hervorgerufenen Bedürfnisse« proklamiert. Von linker Seite hielten sich<br />

dem Block fern die Sozialdemokraten und die Trudowiki (Bauernvertreter), von rechter<br />

die offenen Schwarzhun<strong>der</strong>tgruppierungen. Alle übrigen Fraktionen <strong>der</strong> Duma: Kadetten,<br />

Progressisten, drei Gruppen Oktobristen, Zentrum und ein Teil <strong>der</strong> Nationalisten gehörten<br />

zum Block o<strong>der</strong> lehnten sich an ihn an, auch die nationalen Gruppen, wie Polen,<br />

Litauer, Muselmanen, Juden und so weiter. Um den Zaren nicht durch die Formel des<br />

verantwortlichen Ministeriums abzuschrecken, for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Block »eine vereinigte Regierung<br />

aus Personen, die das Vertrauen des Landes genießen«. Der Innenminister, Fürst<br />

Schtscherbatow, bezeichnete den progressiven Block schon damals als eine zeitweilige<br />

»Vereinigung, hervorgerufen durch die Gefahren <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong>«. Um dies zu<br />

begreifen, war übrigens nicht viel Scharfsinn notwendig. Miljukow, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />

Kadetten und damit auch des oppositionellen Blocks stand, sagte auf <strong>der</strong> Konferenz<br />

seiner Partei: »Wir schreiten über einen Vulkan ... Die Spannung hat die letzte Grenze<br />

erreicht ... es genügt ein unvorsichtig hingeworfenes Zündholz, um einen schrecklichen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 22


Brand zu entfachen ... Wie die Macht auch sein mag - gut o<strong>der</strong> schlecht -, aber mehr<br />

denn je ist jetzt eine feste Macht nötig.«<br />

Die Hoffnung, <strong>der</strong> Zar werde unter <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen zu Konzessionen bereit<br />

sein, war so groß, daß die liberale Presse im August eine fertige Liste des geplanten<br />

"Kabinetts des Vertrauens" veröffentlichte, mit dem Dumavorsitzenden Rodsjanko als<br />

Premierminister (nach einer an<strong>der</strong>en Version war für diese Rolle <strong>der</strong> Vorsitzende des<br />

Semstwoverbandes, Fürst Lwow, auserkoren), Gutschkow als Innenminister, Miljukow<br />

als Außenminister, und so weiter. Die Mehrzahl dieser Personen, die für ein Bündnis mit<br />

dem Zaren gegen die <strong>Revolution</strong> vorgesehen waren, wurden an<strong>der</strong>thalb Jahre später<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> "revolutionären" Regierung. Solche Späße erlaubte sich die <strong>Geschichte</strong><br />

mehr als einmal. Diesmal war <strong>der</strong> Scherz zumindest kurz.<br />

Durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse nicht weniger erschrocken als die Kadetten, neigte die<br />

Mehrzahl <strong>der</strong> Minister des Kabinetts Goremykin zu einer Verständigung mit dem<br />

progressiven Block. »Eine Regierung, hinter <strong>der</strong> we<strong>der</strong> das Vertrauen des Trägers <strong>der</strong><br />

obersten Macht steht, noch <strong>der</strong> Armee, <strong>der</strong> Städte, <strong>der</strong> Semstwos, des Adels, <strong>der</strong><br />

Kaufleute o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter, kann nicht nur nicht arbeiten, son<strong>der</strong>n auch nicht existieren.<br />

Das ist eine offensichtliche Absurdität.« Mit solchen Worten schätzte Färst Schtscherbatow<br />

im August 1915 jene Regierung ein, <strong>der</strong>en Innenminister er selbst war. »Man muß<br />

nur alles anständig einrichten und ein Schlupfloch offenlassen«, sagte <strong>der</strong> Außenminister<br />

Sasonow, »und die Kadetten werden als erste auf eine Verständigung eingehen: Miljukow<br />

ist <strong>der</strong> größte Bourgeois und fürchtet nichts mehr als die soziale <strong>Revolution</strong>. Wie<br />

überhaupt die Mehrzahl <strong>der</strong> Kadetten um ihr Kapital zittert.« Auch Miljukow seinerseits<br />

war <strong>der</strong> Meinung, <strong>der</strong> progressive Block werde in »manchem nachgeben« müssen. Beide<br />

Parteien waren somit bereit, mit sich handeln zu lassen, und alles schien wie geölt. Aber<br />

am 29. August reiste <strong>der</strong> Premier Goremykin - ein von Jahren und Würden beschwerter<br />

Bürokrat, ein alter Zyniker, <strong>der</strong> Politik zwischen zwei Grandes Patiencen machte und für<br />

alle Klagen die Ausrede hatte, daß <strong>der</strong> Krieg ihn »nichts angeht« - mit einem Bericht für<br />

den Zaren ins Hauptquartier und kehrte mit <strong>der</strong> Nachricht zurück, alles und alle müßten<br />

auf den Plätzen verbleiben, außer <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>spenstigen Duma, die am 3. September aufzulösen<br />

sei. Das Verlesen des Zarenukases über die Dumaauflösung wurde ohne ein Wort<br />

des Protestes angehört: die Deputierten brachten ein "Hurra" auf den Zaren aus und<br />

gingen auseinan<strong>der</strong>.<br />

Wie aber konnte die Zarenregierung, die nach ihrem eigenen Geständnis nirgends eine<br />

Stütze hatte, sich danach noch über an<strong>der</strong>thalb Jahre halten? Vorübergehende Erfolge <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong> Truppen übten zweifellos ihre Wirkung, verstärkt durch die des segenspendenden<br />

goldenen Regens. Die Erfolge an <strong>der</strong> Front hörten zwar bald auf, aber die<br />

Gewinne im Hinterlande hielten an. Jedoch die Hauptursache für die Festigung <strong>der</strong><br />

Monarchie zwölf Monate vor ihrem Sturze wurzelte in <strong>der</strong> scharfen Differenzierung <strong>der</strong><br />

Volksunzufriedenheit. Der Chef <strong>der</strong> Moskauer Ochrana berichtete im Juli über die<br />

Zunahme rechter Stimmungen bei <strong>der</strong> Bourgeoisie unter dem Einfluß »<strong>der</strong> Angst vor <strong>der</strong><br />

Möglichkeit revolutionärer Exzesse nach dem Kriege«. Eine <strong>Revolution</strong> während des<br />

Krieges hielt man, wie wir sehen, noch immer für ausgeschlossen. Obendrein waren die<br />

Industriellen »über das Anbändeln einiger Führer <strong>der</strong> Kriegsindustriekomitees mit dem<br />

Proletariat« besorgt. Die allgemeine Schlußfolgerung des Gendarmerieobersten<br />

Martynow, an dem die berufliche Lektüre <strong>der</strong> marxistischen Literatur nicht spurlos<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 23


vorbeigegangen war, lautete, daß die Ursache einer gewissen Besserung <strong>der</strong> politischen<br />

Lage zu suchen sei »in <strong>der</strong> mehr und mehr fortschreitenden Differenzierung <strong>der</strong> Gesellschaftsklassen,<br />

welche die in <strong>der</strong> gegenwärtigen Zeit beson<strong>der</strong>s fühlbaren scharfen Interessengegensätze<br />

aufdeckt«.<br />

Die Dumaauflösung im September 1915 war eine direkte Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie und nicht <strong>der</strong> Arbeiter. Aber während die Liberalen unter allerdings nicht<br />

sehr begeisterten Hurrarufen auseinan<strong>der</strong>gingen, antworteten die Arbeiter Petrograds und<br />

Moskaus mit Proteststreiks. Das kühlte die Liberalen noch mehr ab: sie hatten am<br />

meisten Furcht vor <strong>der</strong> Einmischung des unerbetenen Dritten in ihren Familiendialog mit<br />

<strong>der</strong> Monarchie. Aber was blieb zu tun? Unter leisem Murren seines linken Flügeis traf<br />

<strong>der</strong> Liberalismus die Wahl nach erprobtem Rezept: ausschließlich auf legalem Boden<br />

stehen und durch Erfüllung <strong>der</strong> patriotischen Funktionen die Bürokratie »gleichsam<br />

überflüssig« machen. Die Liste eines liberalen Ministeriums mußte man jedenfalls<br />

zurücklegen.<br />

Die Lage verschlechterte sich inzwischen automatisch. Im Mai 1916 trat die Duma<br />

wie<strong>der</strong> zusammen, aber niemand wußte eigentlich wozu. Zur <strong>Revolution</strong> aufzurufen, das<br />

lag am allerwenigsten in ihrer Absicht. Sonst aber hatte sie nichts zu sagen. »In dieser<br />

Session«, erinnerte sich später Rodsjanko, »ging die Arbeit lau vonstatten, die Deputierten<br />

besuchten die Sitzungen unpünktlich ... Der ewige Kampf schien fruchtlos, die Regierung<br />

wollte von nichts hören, die Mißwirtschaft nahm zu, und das Land ging dem Untergange<br />

entgegen.« Aus <strong>der</strong> Angst <strong>der</strong> Bourgeoisie vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und aus <strong>der</strong><br />

Ohnmacht <strong>der</strong> Bourgeoisie ohne <strong>Revolution</strong> schöpfte die Monarchie während des Jahres<br />

1916 eine Art gesellschaftlicher Unterstützung.<br />

Zum Herbst verschärfte sich die Lage noch mehr. Die Hoffnungslosigkeit des Krieges<br />

wurde für alle offenbar, die Entrüstung <strong>der</strong> Volksmassen drohte jeden Augenblick<br />

überzulaufen. Die Hofpartei weiter wegen "Germanophilentums" attackierend, erachteten<br />

es die Liberalen gleichzeitig als notwendig, die Friedenschancen abzutasten, ihren morgigen<br />

Tag vorzubereiten. Nur so lassen sich auch die Verhandlungen eines Führers des<br />

progressiven Blocks, des Deputierten Protopopow, mit dem deutschen Diplomaten<br />

Warburg im Herbst 1916 in Stockholm erklären. Eine Dumadelegation, die den Franzosen<br />

und Englän<strong>der</strong>n Freundschaftsbesuche abstattete, hatte sich in Paris und London<br />

mühelos davon überzeugen können, daß die teuren Verbündeten die Absicht hegten,<br />

während des Krieges alle Lebenssäfte aus Rußland auszupressen, um nach dem Siege das<br />

rückständige Land zum wichtigsten Feld ökonomischer Ausbeutung zu machen. Das<br />

geschlagene Rußland im Schlepptau <strong>der</strong> siegreichen Entente hätte ein Kolonialrußland<br />

bedeutet. Es blieb den <strong>russischen</strong> besitzenden Klassen kein an<strong>der</strong>er Ausweg, als zu<br />

versuchen, sich aus den zu engen Umarmungen <strong>der</strong> Entente zu befreien und, den Antagonismus<br />

<strong>der</strong> zwei mächtigen Lager ausnutzend, einen eigenen Weg zum Frieden zu<br />

finden. Die Zusammenkunft des Vorsitzenden <strong>der</strong> Dumadelegation mit dem deutschen<br />

Diplomaten, als erster Schritt auf diesem Wege, bedeutete sowohl eine Drohung an die<br />

Adresse <strong>der</strong> Alliierten zu dem Zwecke, Konzessionen zu erlangen, als auch eine<br />

Abtastung <strong>der</strong> realen Möglichkeiten einer Annäherung an Deutschland. Protopopow<br />

handelte mit Zustiminung nicht nur <strong>der</strong> zaristischen Diplomatie - die Zusammenkunft<br />

selbst fand in Gegenwart des <strong>russischen</strong> Gesandten in Schweden statt -, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong><br />

gesamten Delegation <strong>der</strong> Reichsduma. Nebenbei verfolgten die Liberalen mit dieser<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 24


Sondierung kein min<strong>der</strong> wichtiges inneres Ziel: Verlasse dich auf uns - deuteten sie dem<br />

Zaren an und wir werden dir einen Separatfrieden besorgen, besser und sicherer als<br />

Stürmer. Nach dem Plan Protopopows, das heißt seiner Inspiratoren, sollte die russische<br />

Regierung die Alliierten »einige Monate zuvor« verständigen, daß sie gezwungen sei,<br />

den Krieg zu beenden, und daß Rußland, falls die Alliierten sich weigern sollten<br />

Friedensverhandlungen aufzunehmen, einen Separatfrieden mit Deutschland schließen<br />

müsse. In seiner schon nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verfaßten Beichte spricht Protopopow wie<br />

von etwas Selbstverständlichem: »Alle vernünftigen Menschen in Rußland, darunter<br />

wohl sämtliche Führer <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong> "Volksfreiheit" (Kadetten), waren über-zeugt, daß<br />

Rußland nicht imstande sei, den Krieg fortzusetzen.«<br />

Der Zar, dem Protopopow nach <strong>der</strong> Rückkehr über Reise und Verhandlungen Bericht<br />

erstattete, verhielt sich durchaus zustimmend zur Idee eines Separatfriedens. Nur sah er<br />

keinen Grund, die Liberalen zu dieser Sache hinzuzuziehen. Daß Protopopow sich<br />

beiläufig selbst <strong>der</strong> Hofkamarilla anschloß und mit dem progressiven Block brach, ist aus<br />

dem persönlichen Charakter dieses Gecken zu erklären, <strong>der</strong> sich, nach seinen eigenen<br />

Worten, in Zar und Zarin und gleichzeitig - in das unerwartet gekommene Ministerportefeuille<br />

des Inneren verliebt hatte. Doch die Episode des Protopopowschen Verrats am<br />

Liberalismus än<strong>der</strong>t nicht im geringsten den Sinn <strong>der</strong> liberalen Außenpolitik, als einer<br />

Vereinigung aus Habgier, Feigheit und Treuebruch.<br />

Am 1. November versammelte sich wie<strong>der</strong> die Duma. Die Spannung im Lande war<br />

unerträglich geworden. Man erwartete von <strong>der</strong> Duma entschlossene Schritte. Man mußte<br />

etwas tun o<strong>der</strong> wenigstens sagen. Der progressive Block war wie<strong>der</strong> einmal gezwungen,<br />

zu parlamentarischen Enthüllungen zu greifen. Die wichtigsten Schritte <strong>der</strong> Regierung<br />

von <strong>der</strong> Tribüne herab aufzählend, fragte Miljukow jedesmal: »Ist es Dummheit o<strong>der</strong><br />

Verrat?« Hohe Töne verwandten auch die übrigen Deputierten. Die Regierung fand fast<br />

keine Verteidiger. Sie antwortete auf ihre Art: Die Dumareden zu drucken wurde untersagt.<br />

Darum fanden sie Absatz in Millionen von Exemplaren. Es gab keine Regierungskanzlei,<br />

we<strong>der</strong> im Hinterlande noch an <strong>der</strong> Front, in <strong>der</strong> man die verbotenen Reden nicht<br />

abschrieb, häufig mit Anmerkungen, die dem Temperament des Abschreibers entsprachen.<br />

Das Echo <strong>der</strong> Debatten vom 7. November war <strong>der</strong>art, daß die Enthüller selbst das<br />

Gruseln überkam.<br />

Eine Gruppe äußerster Rechter, eingefleischter Bürokraten, inspiriert von Durnowo,<br />

dem Bezwinger <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905, überreichte in diesem Moment dem Zaren eine<br />

programmatische Denkschrift. Das Auge <strong>der</strong> reicherfahrenen Würdenträger, die eine<br />

ernste Polizeischule durchgemacht hatten, sah weit genug und manches nicht schlecht,<br />

und wenn ihre Heilrezepte untauglich waren, so nur, weil es gegen die Krankheiten des<br />

alten Regimes überhaupt kein Heilmittel gab. Die Autoren <strong>der</strong> Denkschrift traten gegen<br />

jegliche Konzessionen an die bürgerliche Opposition auf, nicht weil die Liberalen etwa<br />

zu weit gehen könnten, wie die vulgären Schwarzhun<strong>der</strong>t wähnten, auf die die hohen<br />

Reaktionäre von oben herabblickten, nein, das Unglück sei, daß die Liberalen »so<br />

schwach, so uneinig und, man muß offen sagen, so unfähig sind, daß ihr Sieg ebenso<br />

kurz wie unsicher wäre«. Die Schwäche <strong>der</strong> wichtigsten oppositionellen Partei, <strong>der</strong><br />

"konstitutionell-demokratischen" (kadettischen), sei schon durch ihren Namen gekennzeichnet:<br />

sie nenne sich demokratisch, obwohl sie ihrem Wesen nach bürgerlich sei,<br />

während sie in hohem Maße die Partei <strong>der</strong> liberalen Gutsbesitzer darstelle, habe sie in ihr<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 25


Programm die zwangsweise Bodenablösung aufgenommen. »Ohne diese Trümpfe aus<br />

fremdem Kartenspiel«, schrieben die Geheimräte, die ihnen gewohnte Bil<strong>der</strong>sprache<br />

gebrauchend, »sind die Kadetten nichts an<strong>der</strong>es als eine zahlreiche Gesellschaft liberaler<br />

Advokaten, Professoren und Beamten verschiedener Ressorts - nichts mehr.« An<strong>der</strong>s die<br />

<strong>Revolution</strong>äre. Die Anerkennung <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> revolutionären Parteien begleitet die<br />

Denkschrift mit Zähneknirschen: »Die Gefahr und die Macht dieser Parteien besteht<br />

darin, daß sie eine Idee, Geld [!], eine bereite und gutorganisierte Masse besitzen.« Die<br />

revolutionären Parteien »dürfen auf die Sympathie <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Bauernschaft<br />

rechnen, die sogleich mit dem Proletariat gehen wird, wenn die revolutionären Führer<br />

ihr fremden Grund und Boden zeigen werden«. Was würde unter diesen Bedingungen die<br />

Errichtung eines verantwortlichen Ministeriums ergeben? »Die volle und endgültige<br />

Zerschlagung <strong>der</strong> Parteien <strong>der</strong> Rechten, das allmähliche Verschlingen <strong>der</strong> Mittelparteien<br />

des Zentrums, <strong>der</strong> liberalen Konservativen, Oktobristen und Progressisten - durch die<br />

Kadettenpartei, die anfangs entscheidende Bedeutung bekäme. Doch den Kadetten würde<br />

das gleiche Schicksal drohen... Und danach? Danach würde die revolutionäre Masse auf<br />

den Plan treten, die Kommune folgen, <strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> Dynastie, Pogrome auf die<br />

besitzenden Klassen und schließlich <strong>der</strong> Räuber-Muschik.« Man kann nicht leugnen, daß<br />

die reaktionär-polizeiliche Wut sich hier zu eigenartigem historischen Weitblick erhebt.<br />

Das positive Programm <strong>der</strong> Denkschrift ist nicht neu, aber konsequent: eine Regierung<br />

aus unnachgiebigen Anhängern des Selbstherrschertums; Abschaffung <strong>der</strong> Duma;<br />

Belagerungszustand in beiden Hauptstädten; Vorbereitung <strong>der</strong> Kräfte zur Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Rebellion. Im wesentlichen bildete denn auch dieses Programm die Grundlage <strong>der</strong><br />

Regierungspolitik <strong>der</strong> letzten vorrevolutionären Monate. Doch setzte ihr Erfolg eine<br />

Macht voraus die Durnowo im Winter 1905 in Händen hatte, die aber im Herbst 1917<br />

bereits nicht mehr existierte. Die Monarchie versuchte deshalb, das Land verstohlen und<br />

stückweise zu ersticken. Das Ministerium wurde erneuert nach dem Prinzip <strong>der</strong><br />

"eigenen" Leute, die dem Zaren und <strong>der</strong> Zarin bedingungslos ergeben waren. Doch diese<br />

"Eigenen", vor allem <strong>der</strong> Überläufer Protopopow, waren nichtig und kläglich. Die Duma<br />

wurde nicht abgeschafft, aber wie<strong>der</strong> aufgelöst, die Verkündung des Belagerungszustandes<br />

in Petrograd bis zu dem Moment aufgespart, wo die <strong>Revolution</strong> bereits gesiegt hatte.<br />

Und die für die Unterdrückung <strong>der</strong> Meuterei bereitgehakenen Militärkräfte wurden selbst<br />

von <strong>der</strong> Meuterei erfaßt. Das alles zeigte sich bereits nach zwei bis drei Monaten.<br />

Der Liberalismus machte inzwischen letzte Anstrengungen, die Lage zu retten. Alle<br />

Organisationen <strong>der</strong> Großbourgeoisie unterstützten die Novemberreden <strong>der</strong> Dumaopposition<br />

durch eine Reihe weiterer Erklärungen. Die herausfor<strong>der</strong>ndste war die Resolution<br />

des Städtebundes vom 9. Dezember: »Unverantwortliche Verbrecher, wahnsinnige<br />

Fanatiker bereiten Rußlands Nie<strong>der</strong>lage, Schande und Knechtschaft vor.« Die Reichsduma<br />

wird aufgefor<strong>der</strong>t, »solange nicht auseinan<strong>der</strong>zugehen, bis eine verantwortliche<br />

Regierung erreicht ist«. Sogar <strong>der</strong> Staatsrat, das Organ <strong>der</strong> Bürokratie und des Großbesitzes,<br />

sprach sich dafür aus, Menschen in die Regierung zu berufen, die das Vertrauen des<br />

Landes besitzen. Ein ähnliches Gesuch stellte <strong>der</strong> Kongreß des Vereinigten Adels: die<br />

moosbedeckten Steine begannen zu reden. Doch nichts än<strong>der</strong>te sich. Die Monarchie ließ<br />

den Rest <strong>der</strong> Macht nicht aus den Händen.<br />

Die letzte Session <strong>der</strong> letzten Duma wurde, nach Schwankungen und Verzögerungen,<br />

auf den 14. Februar 1917 angesetzt. Bis zum Ausbruch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verblieben<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 26


weniger als zwei Wochen. Man erwartete Demonstrationen. In <strong>der</strong> 'Rjetsch', dem Organ<br />

<strong>der</strong> Kadetten, wurde, neben <strong>der</strong> Anzeige des Chefs des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks, des<br />

Generals Chabalow, über das Demonstrationsverbot, ein Brief Miljukows abgedruckt,<br />

<strong>der</strong> die Arbeiter vor »schlechten und gefährlichen Ratschlägen«, die »dunklen Quellen«<br />

entstammten, warnte. Trotz <strong>der</strong> Streiks verlief die Dumaeröffnung verhältnismäßig ruhig.<br />

Indem sie sich den Anschein gab, als interessiere sie die Regierungsfrage nicht mehr,<br />

beschäftigte sich die Duma mit einer akuten, aber rein praktischen Frage: <strong>der</strong> Ernährung.<br />

Die Stimmung sei flau gewesen, erinnerte sich später Rodsjanko, »man empfand die<br />

Ohnmacht <strong>der</strong> Duma und Müdigkeit vom vergeblichen Kampfe«. Miljukow wie<strong>der</strong>holte<br />

mehrmals, daß <strong>der</strong> progressive Block »mit dem Wort und nur mit dem Wort wirken<br />

wird«. In solcher Gestalt trat die Duma in den Strudel <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />

Proletariat und Bauernschaft<br />

Das russische Proletariat machte seine ersten Schritte unter den politischen Bedingungen<br />

eines despotischen Staates. Gesetzlich verbotene Streiks, unterirdische Zirkel,<br />

illegale Proklamationen, Straßendemonstrationen, Zusammenstöße mit Polizei und<br />

Truppen - das war eine Schule, geschaffen aus <strong>der</strong> Verquickung <strong>der</strong> Bedingungen des<br />

sich schnell entwickelnden Kapitalismus und des seine Positionen langsam räumenden<br />

Absolutismus. Die Zusammenballung <strong>der</strong> Arbeiter in Riesenbetrieben, <strong>der</strong> konzentrierte<br />

Charakter des staatlichen Druckes, schließlich die Impulsivität des jungen und frischen<br />

Proletariats führten dazu, daß <strong>der</strong> politische Streik, im Westen so selten, in Rußland die<br />

Hauptmethode des Kampfes wurde. Die Zahlen <strong>der</strong> Arbeiterstreiks seit Beginn dieses<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts bilden den lehrreichsten Index <strong>der</strong> politischen <strong>Geschichte</strong> Rußlands. Bei<br />

allem Bestreben, den Text nicht durch Zahlen zu belasten, ist es unmöglich, auf die<br />

Einfügung einer Tabelle <strong>der</strong> politischen Streiks in Rußland für die Zeit vom Jahre 1903-<br />

1917 zu verzichten. Auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, beziehen sich die<br />

Angaben nur auf Betriebe, die <strong>der</strong> Fabrikinspektion unterstellt waren; Eisenbahnen,<br />

Bergwerksindutrie, Handwerks- und überhaupt Kleinbetriebe, ganz abgesehen von <strong>der</strong><br />

Landwirtschaft, blieben dabei aus verschiedenen Gründen unberücksichtigt. Aber die<br />

periodischen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Streikkurve treten dadurch nicht min<strong>der</strong> deutlich<br />

hervor.<br />

Zahl <strong>der</strong> Teilnehmer an politischen Streiks<br />

Jahr (in Tausenden)<br />

1903 87*<br />

1904 25*<br />

1905 1843<br />

1906 651<br />

1907 540<br />

1908 93<br />

1909 8<br />

1910 4<br />

1911 8<br />

* Die Angaben für die Jahre 1903 und 1904 beziehcn sich auf Streiks im allgemeinen,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 27


wobei die ökonomischen zweifellos überwogen.<br />

Zahl <strong>der</strong> Teilnehmer an politischen Streiks<br />

Jahr (in Tausenden)<br />

1912 550<br />

1913 502<br />

1914 (erste Hälfte) 1059<br />

1915 156<br />

1916 310<br />

1917 (Januar-Februar) 575<br />

Wir haben vor uns eine in ihrer Art einzig dastehende Kurve <strong>der</strong> politischen Temperatur<br />

einer Nation, die eine große <strong>Revolution</strong> in ihrem Schoße trägt. In einem rückständigen<br />

Lande mit einem an Zahl geringen Proletariat - in den <strong>der</strong> Fabrikinspektion unterstellten<br />

Betrieben sind etwa 1½ Millionen Arbeiter im Jahre 1905, etwa 2 Millionen im<br />

Jahre 1917! - nimmt die Streikbewegung ein solches Ausmaß an, wie es vorher die Welt<br />

nirgendwo gekannt hatte. Bei <strong>der</strong> Schwäche <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie, <strong>der</strong><br />

Zersplitterung und politischen Blindheit <strong>der</strong> Bauernbewegung wird <strong>der</strong> revolutionäre<br />

Arbeiterstreik zu einem Mauerbrecher, den die erwachende Nation gegen das Bollwerk<br />

des Absolutismus richtet. 1.843.000 Teilnehmer an politischen Streiks während des einen<br />

Jahres 1905 - Arbeiter, die an mehreren Streiks teilgenommen haben, werden hier selbstverständlich<br />

wie<strong>der</strong>holt gezählt -, allein diese Zahl würde gestatten, auf <strong>der</strong> Tabelle mit<br />

dem Finger das <strong>Revolution</strong>sjahr zu bezeichnen, selbst wenn wir nichts an<strong>der</strong>es über<br />

Rußlands politischen Kalen<strong>der</strong> wüßten.<br />

Für das Jahr 1904, das erste Jahr des Russisch-Japanischen Krieges, zeigt die Fabrikinspektion<br />

im ganzen nur 25.000 Streikende an. Im Jahre 1905 gaben politische und<br />

ökonomische Streikende zusammen 2.863.000, also 115mal soviel als im vorangegangenen<br />

Jahr. Dieser verblüffende Sprung bringt an sich auf den Gedanken, daß das Proletariat,<br />

durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse zur Improvisation einer solch unerhörten revolutionären<br />

Aktivität gezwungen, um jeden Preis aus seiner Tiefe eine Organisation hervorbringen<br />

mußte, die dem Ausmaß des Kampfes und <strong>der</strong> Grandiosität <strong>der</strong> Aufgaben entsprach:<br />

das waren eben die Sowjets, die, aus <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> geboren, zu Organen des<br />

allgemeinen Streiks und des Kamptes um die Macht wurden.<br />

Das im Dezemberaufstand 1905 nie<strong>der</strong>gerungene Proletariat macht heroische Anstrengungen,<br />

einen Teil <strong>der</strong> eroberten Positionen im Laufe <strong>der</strong> nächsten zwei Jahre zu behaupten,<br />

die, wie die Streikziffern zeigen, sich noch unmittelbar an die <strong>Revolution</strong> anlehnen,<br />

aber doch schon Jahre <strong>der</strong> Ebbe sind. Die vier weiteren Jahre (1908-1911) treten im<br />

Spiegel <strong>der</strong> Streikstatistik als Jahre <strong>der</strong> siegreichen Konterrevolution auf. Die damit<br />

zusammenfallende industrielle Krise erschöpft das ohnehin leergeblutete Proletariat noch<br />

mehr. Die Tiefe des Nie<strong>der</strong>ganges ist proportional <strong>der</strong> Höhe des Aufstieges. Die Konvulsionen<br />

<strong>der</strong> Nation ftnden ihren Ausdruck in diesen einfachen Zahlen.<br />

Die Belebung <strong>der</strong> Industrie, die im Jahre 1910 einsetzt, bringt die Arbeiter auf die<br />

Beine und gibt ihrer Energie einen neuen Anstoß. Die Zahlen <strong>der</strong> Jahre 1912-1914<br />

wie<strong>der</strong>holen fast die Angaben über die Jahre 1905-1907, nur in umgekehrter Ordnung:<br />

nicht vom Aufstieg zum Nie<strong>der</strong>gang, son<strong>der</strong>n vorn Nie<strong>der</strong>gang zum Aufstieg. Auf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 28


neuen, höheren historischen Grundlagen - es gibt jetzt mehr Arbeiter, und sie haben mehr<br />

Erfahrung - beginnt die neue revolutionäre Offensive. Das erste Halbjahr 1914 nähert<br />

sich nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> politischen Streikenden merklich dem Kulminationsjahr <strong>der</strong> ersten<br />

<strong>Revolution</strong>. Doch <strong>der</strong> Krieg bricht aus und unterbindet jäh diesen Prozeß. Die ersten<br />

Monate des Krieges sind durch politische Reglosigkeit <strong>der</strong> Arbeiterklasse gezeichnet.<br />

Doch schon im Frühling 1915 beginnt die Starre zu weichen. Es setzt ein neuer Zyklus<br />

politischer Streiks ein, <strong>der</strong> sich im Februar 1917 in dem Aufstand <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Soldaten entlädt.<br />

Die heftigen Fluten und Ebben des Massenkampfes verwandelten das russische Proletariat<br />

im Laufe einiger Jahre bis zur Unkenntlichkeit. Fabriken, die noch zwei, drei Jahre<br />

vorher wegen irgendeines vereinzelten Aktes polizeilicher Willkür einmütig in den Streik<br />

getreten waren, verloren jetzt das revolutionäre Gesicht und nahmen die ungeheuerlichsten<br />

Verbrechen <strong>der</strong> Behörden wi<strong>der</strong>standslos hin. Große Nie<strong>der</strong>lagen entmutigten für<br />

lange. Die revolutionären Elemente verlieren die Macht über die Massen. Noch nicht<br />

erloschene Vorurteile und Aberglaube gewinnen in ihrem Bewußtsein die Oberhand. Die<br />

grauen Abkömmlinge des Dorfes verwässern inzwischen die Arbeiterreihen. Die Skeptiker<br />

schütteln ironisch die Köpfe. So geschah es in den Jahren 1907 bis 1911. Doch die<br />

molekularen Prozesse in den Massen heilen die psychischen Wunden <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen.<br />

Eine neue Wendung <strong>der</strong> Ereignisse o<strong>der</strong> ein unterirdischer ökonomischer Anstoß eröffnet<br />

einen neuen politischen Zyklus. <strong>Revolution</strong>äre Elemente finden wie<strong>der</strong> ihr Auditorium.<br />

Der Kampf lebt auf höherer Stufe auf.<br />

Zum Verständnis <strong>der</strong> beiden Hauptströmungen in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiterklasse ist es<br />

wichtig, zu berücksichtigen, daß <strong>der</strong> Menschewismus sich endgültig in den Jahren <strong>der</strong><br />

Reaktion und <strong>der</strong> Ebbe formte, hauptsächlich gestützt auf die dünne Arbeiterschicht, die<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gebrochen hatte, während <strong>der</strong> Bolschewismus, in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong><br />

Reaktion grausam nie<strong>der</strong>geschlagen, sich in den Jahren vor dem Kriege auf dem Rücken<br />

<strong>der</strong> neuen revolutionären Flut schnell aufzurichten begann. »Am energischsten, verwegensten,<br />

zum unermüdlichen Kampf, Wi<strong>der</strong>stand und zur dauernden Organisierung am<br />

befähigsten sind jene Elemente, Organisationen und Personen, die sich um Lenin<br />

konzentrieren«, mit diesen Worten beurteilte das Polizeidepartement die Arbeit <strong>der</strong><br />

Bolschewiki in den dem Kriege vorangegangenen Jahren.<br />

Im Juli 1914, als die Diplomaten den letzten Nagel in das Kreuz eintrieben, an das<br />

Europa geschlagen werden sollte, brodelte es in Petrograd wie in einem revolutionären<br />

Kessel. Der Präsident <strong>der</strong> Französischen Republik, Poincaré, mußte unter dem letzten<br />

Wi<strong>der</strong>hall des Straßenkampfes und den ersten Lauten patriotischer Kundgebungen den<br />

Kranz am Denkmal Alexan<strong>der</strong>s III. nie<strong>der</strong>legen.<br />

Würde die Offensivbewegung <strong>der</strong> Massen in den Jahren 1912 bis 1914 ohne den Krieg<br />

zum Sturze des Zarismus geführt haben? Man kann diese Frage wohl kaum mit<br />

Bestimmtheit beantworten. Der Prozeß führte unabwendbar zur <strong>Revolution</strong>. Aber welche<br />

Etappen hätte er dabei durchschreiten müssen? Lauerte ihm nicht noch eine Nie<strong>der</strong>lage<br />

auf? Welche Frist hätten die Arbeiter nötig gehabt, um die Bauern auf die Beine zu<br />

bringen und die Armee zu gewinnen? Nach all diesen Richtungen hin sind nur Vermutungen<br />

möglich. Der Krieg hatte jedenfalls anfänglich dem Prozeß einen rückläufigen<br />

Gang verliehen, um ihn dann um so mächtiger zu beschleunigen und ihm einen überwältigenden<br />

Sieg zu sichern.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 29


Beim ersten Trommelschlag erstarb die revolutionäre Bewegung. Die aktivsten Arbeiterschichten<br />

wurden mobilisiert. Die irevolutionären Elemente aus den Betrieben an die<br />

Front geworfen. Auf Streiks standen strenge Strafen. Die Arbeiterpresse war weggefegt.<br />

Die Gewerkschaften erdrosselt. In die Werkstätten ergossen sich zu Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />

Frauen, Jugendliche, Bauern. Politisch desorientierte <strong>der</strong> Krieg in Verbindung mit dem<br />

Zusammenbruch <strong>der</strong> <strong>Internationale</strong> die Massen außerordentlich und gestattete <strong>der</strong> Fabrikadministration,<br />

die den Kopf erhoben hatte, im Namen <strong>der</strong> Betriebe patriotisch aufzutreten,<br />

einen bedeutenden Teil <strong>der</strong> Arbeiter mitzureißen und die Kühneren und Entschlosseneren<br />

zu zwingen, sich abwartend zurückzuziehen. Der revolutionäre Gedanke glimmte<br />

nur noch in kleinen, stillgewordenen Kreisen. Sich "Bolschewik" zu nennen wagte zu<br />

jener Zeit in den Betrieben niemand, hieß das doch, sich <strong>der</strong> Verhaftung o<strong>der</strong> Verprügelung<br />

durch rückständige Arbeiter aussetzen.<br />

Die bolschewistische Dumaftaktion, schwach in <strong>der</strong> personellen Zusammensetzung,<br />

zeigte sich im Augenblick des Kriegsbeginns nicht auf <strong>der</strong> Höhe. Gemeinsam mit den<br />

menschewistischen Deputierten brachte sie eine Deklaration ein, in <strong>der</strong> sie sich verpflichtete,<br />

»das kulturelle Wohl des Volkes gegen jeden Anschlag, woher er auch kommen<br />

möge, zu verteidigen«. Mit Beifall unterstrich die Duma diese Preisgabe <strong>der</strong> Position.<br />

Von den <strong>russischen</strong> Organisationen und Gruppen <strong>der</strong> Partei bezog keine einzige eine<br />

offen defätistische Stellung, wie sie Lenin im Auslande proklamierte. Indes erwies sich<br />

<strong>der</strong> Prozentsatz an Patrioten unter den Bolschewiki als geringfügig. Im Gegensatz zu den<br />

Narodniki und Menschewiki begannen die Bolschewiki bereits seit dem Jahre 1914 in<br />

den Massen schriftliche und mündliche Agitation gegen den Krieg zu entfalten. Die<br />

Dumadeputierten erholten sich bald von <strong>der</strong> Verwirrung und nahmen die revolutionäre<br />

Arbeit wie<strong>der</strong> auf, über die die Behörden dank einem weitverzweigten Provokationssystem<br />

sehr genau informiert waren. Es genügt zu sagen, daß von den sieben Mitglie<strong>der</strong>n<br />

des Petersburger Parteikomitees am Vorabend des Krieges drei im Dienste <strong>der</strong> Ochrana<br />

standen. So spielte <strong>der</strong> Zarismus mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Katze und Maus. Im November<br />

wurden die bolschewistischen Deputierten verhaftet. Im ganzen Lande setzte ein<br />

Vemichtungsfeldzug gegen die Partei ein. Im Februar 1915 fand vor dem Obergerichtshof<br />

die Verhandlung gegen die Fraktion statt. Die Deputierten ließen in ihrem Benehmen<br />

Vorsicht walten. Kamenew, <strong>der</strong> theoretische Inspirator <strong>der</strong> Fraktion, grenzte sich von <strong>der</strong><br />

defätistischen Position Lenins ab, ebenso Petrowski, <strong>der</strong> heutige Vorsitzende des Zentralkomitees<br />

in <strong>der</strong> Ukraine. Das Polizeidepartement stellte mit Befriedigung fest, daß das<br />

strenge Urteil über die Deputierten keinerlei Protestbewegung seitens <strong>der</strong> Arbeiter<br />

hervorgerufen habe.<br />

Es schien, als hätte <strong>der</strong> Krieg die Arbeiterklasse ausgetauscht. In bedeutendem Maße<br />

war es auch so: in Petrograd war <strong>der</strong> Arbeiterbestand fast vierzigprozentig erneuert. Die<br />

revolutionäre Nachfolge wurde schroff unterbrochen. Was vor dem Kriege gewesen war,<br />

darunter auch die Dumafraktion <strong>der</strong> Bolschewiki, trat mit einem Male in den Hintergrund<br />

und versank fast in Vergessenheit. Aber unter <strong>der</strong> unsicheren Hülle von Ruhe, Patriotismus,<br />

teils sogar Monarchismus häuften sich in den Massen Stimmungen für eine neue<br />

Explosion an.<br />

Im August 1915 berichteten die zaristischen Minister einan<strong>der</strong>, daß die Arbeiter<br />

ȟberall Betrug, Verrat und Sabotage zugunsten <strong>der</strong> Deutschen wittern und eifrig nach<br />

Schuldigen unserer Mißerfolge an <strong>der</strong> Front suchen«. Tatsächlich geht in dieser Periode<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 30


die erwachende Massenkritik, teils aufrichtig, teils <strong>der</strong> Schutzfärbung wegen, nicht selten<br />

von <strong>der</strong> "Vaterlandsverteidigung" aus. Doch ist diese Idee nur Ausgangspunkt. Immer<br />

tiefere Gänge bahnt sich die Unzufriedenheit <strong>der</strong> Arbeiter, die die Werkführer, Schwarzhun<strong>der</strong>tarbeiter,<br />

Kriecher vor <strong>der</strong> Administration zum Schweigen bringt und dem Arbeiterbolschewistenheer<br />

das Haupt zu erheben gestattet.<br />

Von <strong>der</strong> Kritik gehen die Massen zu Taten über. Die Empörung findet einen Ausweg<br />

zu allererst in Lebensmittelunruhen, die mancherorts die Form lokaler Meutereien annehmen.<br />

Frauen, Greise, Jugendliche fühlen sich auf dem Markte o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße sicherer<br />

und unabhängiger als die dienstpflichtigen Arbeiter in den Betrieben. In Moskau artet<br />

die Bewegung im Mai in einen Deutschenpogrom aus. Obwohl seine Teilnehmer hauptsächlich<br />

dem städtischen Mob angehören, <strong>der</strong> unter dem Protektorat <strong>der</strong> Polizei sein<br />

Unwesen treibt, so beweist doch schon die Möglichkeit eines Pogroms im industriellen<br />

Moskau, daß die Arbeiter noch nicht so weit erwacht sind, um ihre Parolen und ihre<br />

Disziplin dem aus seinem Gleichgewicht herausgeschleu<strong>der</strong>ten kleinen Stadtvolk aufzuzwingen.<br />

Sich über das ganze Land ausbreitend, beseitigen die Lebensmittelunruhen die<br />

Kriegshypnose und bahnen den Weg für Streiks.<br />

Der Zustrom roher Arbeitskraft in die Betriebe und die gierige Jagd nach Kriegsgewinnen<br />

führten überall zur Verschlechterung <strong>der</strong> Arbeitsbedingungen und zum Wie<strong>der</strong>aufleben<br />

brutalster Ausbeutungsmethoden. Zunehmende Teuerung drückt automatisch den<br />

Arbeitslohn herab. Ökonomische Streiks werden <strong>der</strong> unvermeidliche Reflex <strong>der</strong> Massen,<br />

und zwar ein um so heftigerer, je mehr er zurückgedrängt war. Die Streiks werden von<br />

Meetings, Verkündung politischer Resolutionen, Zusammenstößen mit <strong>der</strong> Polizei und<br />

nicht selten auch von Schießereien und Opfern begleitet.<br />

Der Kampf erfaßt zuallererst das zentrale Textilgebiet. Am 5. Juni gibt die Polizei eine<br />

Salve auf die Weber in Kostroma ab: 4 Tote, 9 Verwundete. Am 10. August schießen<br />

Truppen in Iwanowo-Wosnessensk auf Arbeiter: 16 Tote und 30 Verwundete. In die<br />

Bewegung <strong>der</strong> Textilarbeiter sind Soldaten des Platzbataillons verwickelt. Proteststreiks<br />

in verschiedenen Teilen des Landes sind Antwort auf die Arbeitererschießungen von<br />

Iwanowo-Wosnessensk. Parallel entwickelt sich <strong>der</strong> ökonomische Kampf. Die Textilarbeiter<br />

marschieren nicht selten in den vor<strong>der</strong>sten Reihen.<br />

Im Vergleich zum ersten Halbjahr 1914 bedeutet die Bewegung, was Kraft des<br />

Ansturms und Klarheit <strong>der</strong> Parolen betrifft, einen großen Schritt rückwärts. Nicht<br />

verwun<strong>der</strong>lich: in den Kampf werden zu bedeutendem Teil Rohmassen hineingezogen<br />

bei völliger Zersplitterung <strong>der</strong> führenden Arbeiterschicht. Nichtsdestoweniger kündet<br />

sich schon in den ersten Streiks während des Krieges das Herannahen großer Kämpfe an.<br />

Justizminister Chwostow erkläne am 16. August: »Wenn jetzt keine bewaffneten Aktionen<br />

<strong>der</strong> Arbeiter stattfinden, so ausschließlich deshalb, weil sie keine Organisationen besitzen.«<br />

Noch deutlicher drückte sich Goremykin aus: »Die Frage liegt bei den Arbeiterführern<br />

nur am Fehlen <strong>der</strong> Organisation, die durch die Verhaftung <strong>der</strong> fünf Dumamitglie<strong>der</strong><br />

zerschlagen wurde.« Der Innenminister fügte hinzu: »Die Dumamitglie<strong>der</strong> (Bolschewiki)<br />

darf man nicht amnestieren, sie sind das organisierende Zentrum <strong>der</strong> Arbeiterbewegung<br />

in ihren gefährlichsten Äußerungen.« Diese Menschen täuschten sich jedenfalls nicht<br />

darin, wo <strong>der</strong> wahre Feind war.<br />

Während das Ministerium sogar im Augenblick höchster Verwirrung und Geneigtheit<br />

zu liberalem Entgegenkommen es als notwendig erachtete, <strong>der</strong> Arbeiterrevolution<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 31


Schläge aufs Haupt, das heißt auf die Bolschewiki zu versetzen, bemühte sich die<br />

Großbourgeoisie, eine Arbeitsgemeinschaft mit den Menschewiki anzubahnen. Erschrokken<br />

über das Ausmaß <strong>der</strong> Streiks, machten die liberalen Industriellen den Versuch, den<br />

Arbeitern patriotische Disziplin aufzuerlegen, indem sie <strong>der</strong>en Wahlmänner in die<br />

Kriegsindustriekomitees einbezogen. Der Innenminister beklagte sich darüber, daß es<br />

sehr schwer sei, gegen Gutschkows Einfälle zu kämpfen: »Die ganze Sache segle unter<br />

patriotischer Flagge und im Interesse <strong>der</strong> Landesverteidigung.« Man muß jedoch<br />

feststellen, daß die Polizei selbst es vermied, die Sozialpatrioten zu verhaften, da sie in<br />

ihnen indirekte Kampfverbündete gegen Streiks und revolutionäre "Exzesse" erblickte.<br />

Auf dem übergroßen Vertrauen zur Macht des patriotischen Sozialismus gründete sich<br />

die Überzeugung <strong>der</strong> Ochrana, daß, solange <strong>der</strong> Krieg dauert, es keinen Aufstand geben<br />

werde.<br />

Bei den Wahlen zu den Kriegsindustriekomitees erwiesen sich die Vaterlandsverteidiger,<br />

mit dem energischen Metallarbeiter Gwosdjew an <strong>der</strong> Spitze - wir werden ihm später<br />

als Arbeitsminister in <strong>der</strong> Koalitionsregierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> begegnen - in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit.<br />

Sie benutzten jedoch die Unterstützung nicht nur <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>der</strong> Bürokratie, um die Boykottanhänger, geführt von den Bolschewiki, nie<strong>der</strong>zuhalten<br />

und dem Petersburger Proletariat eine Vertretung in den Organen des Industriepatriotismus<br />

auftuzwingen. Die Stellung <strong>der</strong> Menschewiki kam klar zum Ausdruck in einer<br />

Rede, mit <strong>der</strong> sich später einer ihrer Vertreter an die Industriellen im Kornitee wandte:<br />

»Ihr müßt for<strong>der</strong>n, daß die heute bestehende bürokratische Regierung von <strong>der</strong> Bildfläche<br />

verschwindet und ihren Platz euch als den Erben des bestehenden Regimes überläßt.«<br />

Die junge politische Freundschaft wuchs nicht nur täglich, son<strong>der</strong>n stündlich. Nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung wird sie ihre reifen Früchte bringen.<br />

Der Krieg richtete im unterirdischen Lager schreckliche Verwüstungen an. Eine zentralisierte<br />

Parteiorganisation besaßen die Bolschewiki nach <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Dumafraktion<br />

nicht. Die Lokalkomitees führten ein episodisches Dasein und waren häufig ohne<br />

Verbindung mit den Bezirken. Es arbeiteten nur vereinzelte Gruppen, Zirkel und Personen.<br />

Aber die einsetzende Belebung des Streikkampfes verlieh ihnen in den Betrieben<br />

Mut und Kraft. Allmählich fanden sie einan<strong>der</strong> und stellten Bezirksverbindungen her.<br />

Die unterirdische Arbeit erstand wie<strong>der</strong>. Im Polizeidepartement schrieb man später: »Die<br />

Leninisten, hinter denen in Rußland die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> illegalen sozialdemokratischen<br />

Organisationen steht, haben seit Kriegs-beginn in ihren größeren Zentren<br />

(wie Petrograd, Moskau, Charkow, Kiew, Tula, Kostroma, Gouvernement Wladimir,<br />

Samara) eine bedeutende Anzahl revolutiönärer Aufrufe herausgegeben mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />

nach Kriegseinstellung, Sturz <strong>der</strong> bestehenden Regierung und Errichtung <strong>der</strong><br />

Republik, wobei diese Arbeit als greifbare Resultate Arbeiterstreiks und Unruhen zur<br />

Folge hatte.«<br />

Der traditionelle Gedenktag <strong>der</strong> Arbeiterprozession zum Winterpalais, <strong>der</strong> im Jahre<br />

vorher fast unbeachtet verlaufen war, ruft am 9. Januar 1916 einen umfangreichen Streik<br />

hervor. Die Streikbewegung wächst in diesen Jahren um das doppelte an. Zusammenstöße<br />

mit <strong>der</strong> Polizei begleiten jeden größeren und hartnäckigeren Streik. Zu den<br />

Truppen verhalten sich die Arbeiter mit demonstrativem Wohlwollen, und die Ochrana<br />

registriert mehr als einmal diese besorgniserregende Tatsache.<br />

Die Kriegsindustrie quoll auf, indem sie ringsum alle Hilfsmittel verschlang und ihre<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 32


eigenen Grundlagen zu untergraben begann. Die Friedcnszweige <strong>der</strong> Industrie waren im<br />

Absterben. Aus <strong>der</strong> Wirtschaftsregulierung wurde trotz allen Plänen nichts. Die Bürokratie,<br />

bei dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> mächtigen Kriegsindustriekomitees bereits außerstande, die<br />

Sache in ihre Hände zu nehmen, war indes gleichzeitig nicht gewillt, <strong>der</strong> Bourgeoisie die<br />

regulierende Rolle zu überlassen. Das Chaos wuchs. Fähige Arbeiter wurden durch<br />

unfähige ersetzt. Die Kohlengruben, Fabriken und Werkstätten in Polen waren bald<br />

verloren. Während des ersten Kriegsjahres kam etwa ein Fünftel <strong>der</strong> gesamten Industriekräfte<br />

des Landes in Wegfall. Bis zu 50% <strong>der</strong> Gesamtproduktion gingen für die Bedürfnisse<br />

des Krieges und <strong>der</strong> Armee auf, darunter bis zu 75% <strong>der</strong> im Lande erzeugten<br />

Textilwaren. Der überlastete Transport war außerstande, den Fabriken das notwendige<br />

Heiz- und Rohmaterial zuzustellen. Der Krieg verschlang nicht nur das gesamte flüssige<br />

Nationaleinkommen, son<strong>der</strong>n ging auch ernstlich daran, das Grundkapital des Landes zu<br />

vergeuden.<br />

Die Industriellen waren immer weniger zu Konzessionen an die Arbeiter bereit,<br />

während die Regierung jeden Streik in alter Weise mit strengen Repressalien beantwortete.<br />

All das stieß den Gedanken des Arbeiters vom Einzelnen zum Allgemeinen, von <strong>der</strong><br />

Ökonomik zur Politik. »Es müssen alle auf einmal streiken.« So entsteht die Idee des<br />

Generalstreiks. Der Prozeß <strong>der</strong> Radikalisierung <strong>der</strong> Massen spiegelt sich am überzeugendsten<br />

in <strong>der</strong> Streikstatistik wi<strong>der</strong>. Im Jahre 1915 beteiligen sich an politischen Streiks<br />

zweieinhalbmal weniger Arbeiter - als an ökonomischen Konflikten, im Jahre 1916<br />

zweimal weniger; in den ersten zwei Monaten des Jahres 1917 erfassen politische Streiks<br />

bereits sechsmal soviel Arbeiter als ökonomische Streiks. Die Rolle Petrograds wird<br />

durch eine Ziffer gezeigt: Während <strong>der</strong> Kriegsjahre entfallen auf seinen Teil 72% <strong>der</strong><br />

politisch Streikenden!<br />

Im Feuer des Kampfes verbrennt nicht wenig alter Aberglaube. »Mit Schmerz« meldet<br />

die Ochrana: Wollte man den For<strong>der</strong>ungen des Gesetzes entsprechend reagieren, auf<br />

»alle Fälle frecher und offener Majestätsbeleidigung, die Zahl <strong>der</strong> Prozesse nach<br />

Paragraph 103 würde eine nie dagewesene Ziffer erreichen«. Allein das Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Massen bleibt dennoch hinter ihrer eigenen Bewegung zurück. Der schreckliche Druck<br />

des Krieges und des Zerfalls beschleunigt den Kampfprozeß <strong>der</strong>art, daß breite Arbeitermassen<br />

bis zum Moment <strong>der</strong> Umwälzung keine Zeit finden, sich von vielen Ansichten<br />

und Vorurteilen, die sie aus dem Dorfe o<strong>der</strong> dem kleinbürgerlichen Hause <strong>der</strong> Stadt<br />

mitbrachten, zu befreien. Diese Tatsache wird den ersten Monaten <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

ihren Stempel aufdrücken.<br />

Gegen Ende 1916 steigen die Preise sprunghaft. Zu Inflation und Transportzerrüttung<br />

gesellt sich direkter Warenmangel. Der Verbrauch <strong>der</strong> Bevölkerung vermin<strong>der</strong>t sich zu<br />

dieser Zeit um mehr als die Hälfte. Die Kurve <strong>der</strong> Arbeiterbewegung steigt schroff nach<br />

oben. Mit dem Oktober tritt die Bewegung in Petrograd in das entscheidende Stadium ein<br />

und vereinigt alle Arten <strong>der</strong> Unzufriedenheit: Petrograd nimmt den Anlauf zur Februarrevolution.<br />

Eine Versammlungswelle rollt durch die Betriebe. Die Themen sind:<br />

Ernährung, Teuerung, Krieg, Regierung. Es werden bolschewistische Flugblätter verteilt.<br />

Politische Streiks beginnen. Nach dem Verlassen <strong>der</strong> Betriebe finden improvisierte<br />

Demonstrationen statt. Es werden Fälle von Verbrü<strong>der</strong>ung einzelner Betriebe mit Soldaten<br />

beobachtet. Ein stürmischer Proteststreik entbrennt gegen das Gericht über die<br />

revolutionären Matrosen <strong>der</strong> baltischen Flotte. Der französische Gesandte macht den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 33


Premier Stürmer auf die ihm bekanntgewordenen Tatsachen aufmerksam, daß Soldaten<br />

auf die Polizei geschossen hätten. Stürmer beruhigt den Gesandten: »Die Repression<br />

wird erbarmungslos sein.« Im November wird eine große Gruppe dienstpflichtiger<br />

Arbeiter aus den Petrogra<strong>der</strong> Betrieben herausgezogen, uni an die Front geschickt zu<br />

werden. Das Jahr endet in Sturm und Gewitter.<br />

Die Lage mit dem Jahre 1905 vergleichend, kommt <strong>der</strong> Direktor des Polizeidepartements,<br />

Wassiljew, zu einem äußerst trostlosen Schluß: »Die oppositionellen Stimmungen<br />

haben einen enormen Umfang angenommen, wie sie ihn in <strong>der</strong> erwähnten Wirrnisperiode<br />

in den breiten Massen bei weitem nicht erreicht hatten.« Wassiljew baut nicht auf<br />

die Garnisonen. Sogar die Dorfpolizei scheint ihm nicht ganz verläßlich. Die Ochrana<br />

meldet die Belebung <strong>der</strong> Parole des Generalstreiks und die Gefahr <strong>der</strong> Auferstehung des<br />

Terrors. Die aus den Schützengräben ankommenden Soldaten und Offiziere sagen über<br />

die herrschende Lage: »Was ist da zu überlegen, abstechen muß man so einen Schuft,<br />

Wären wir da, wir würden nicht lange nachdenken«, und so weiter.<br />

Schljapnikow, Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki selbst ehemals Metallarbeiter,<br />

erzählt über die nervöse Stimmung <strong>der</strong> Arbeiter in jenen Tagen: »irgendein Pfiff<br />

o<strong>der</strong> ein Lärm genügte, die Arbeiter glauben zumachen, es sei das Signal zur Arbeitseinstellung.«<br />

Dieses Detail ist gleichermaßen bemerkenswert als politisches Symptom wie<br />

als psychologischer Zug: die <strong>Revolution</strong> sitzt bereits in den Nerven, bevor sie noch auf<br />

die Straße geht.<br />

Die Provinz macht die gleichen Etappen durch, nur langsamer. Das Wachstum des<br />

Massencharakters <strong>der</strong> Bewegung nnd ihres Kampfgeistes verschiebt das Schwergewicht<br />

von den Textilarbeitern zu den Metallarbeitern, von den ökonomischen zu den politischen<br />

Streiks, aus <strong>der</strong> Provinz nach Petrograd. Die ersten zwei Monate des Jahres 1917<br />

ergeben 575.000 politische Streikende, davon entfällt <strong>der</strong> Löwenanteil auf die<br />

Hauptstadt. Obwohl die Polizei am Vorabend des 9. Januar einen neuen Streich gegen<br />

die Partei führte, streiken am Tage des blutigen Jubiläums in <strong>der</strong> Hauptstadt 150.000<br />

Arbeiter. Die Stimmung ist gespannt; die Metallarbeiter gehen voran, die Proletarier<br />

fühlen, daß es keinen Rückzug mehr gibt. In jedem Betrieb entsteht ein aktiver Kern, am<br />

häufigsten um die Bolschewiki. Streiks und Meetings finden während <strong>der</strong> zwei Februarwochen<br />

ununterbrochen statt. Am 8. Februar wurden Polizisten auf dem Putilowwerk<br />

»mit einem Hagel von Eisenstücken und Schlacken« empfangen. Am 14., dem Tage <strong>der</strong><br />

Dumaeröffnung, streikten in Petrograd etwa 90.000 Arbeiter. Einige Betriebe wurden<br />

auch in Moskau stillgelegt. Am 16. beschlossen die Behörden in Petrograd, Brotkarten<br />

einzuführen. Diese Neuerung ging auf die Nerven. Am 19. sammelte sich vor den<br />

Lebensmittelgeschäften viel Volk, beson<strong>der</strong>s Frauen, an, alle for<strong>der</strong>ten Brot. Tags darauf<br />

wurden in einigen Stadtteilen die Bäckerläden geplün<strong>der</strong>t. Das war bereits das Wetterleuchten<br />

des Aufstandes, <strong>der</strong> wenige Tage später ausbrach.<br />

Die revolutionäre Kühnheit schöpfte das russische Proletariat nicht nur aus sich selbst.<br />

Schon seine Lage, die einer Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Nation, spricht dafür, daß es nicht imstande<br />

gewesen wäre, seinem Kampfe ein solches Ausmaß zu geben, und noch weniger, sich an<br />

die Spitze des Staates zu stellen, wenn es nicht eine mächtige Stütze in den Tiefen des<br />

Volkes gehabt hätte. Diese Stütze sicherte ihm die Agrarfrage.<br />

Die verspätete Halbbefreiung <strong>der</strong> Bauern im Jahre 1861 traf die Landwirtschaft fast auf<br />

<strong>der</strong> Stufe an, auf <strong>der</strong> sie zwei Jahrhun<strong>der</strong>te zuvor gestanden hatte. Die Beibehaltung des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 34


alten, bei <strong>der</strong> Reform zugunsten des Adels bestohlenen Fonds an Gemeindeland<br />

verschärfte unter den archaischen Bodenbearbeitungsmethoden automatisch die Übervölkerungskrise<br />

des Dorfes, die gleichzeitig die Krise <strong>der</strong> Dreifel<strong>der</strong>wirtschaft war. Die<br />

Bauernschaft fühlte sich um so Mehr in einer Falle, als <strong>der</strong> Prozeß sich nicht im<br />

siebzehnten son<strong>der</strong>n im neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte, das heißt unter Bedingungen<br />

<strong>der</strong> weit vorgeschrittenen Geldwirtschaft, die an den Holzpflug Ansprüche stellte,<br />

die höchstens <strong>der</strong> Traktor befriedigen konnte. Auch hier sehen wir das Zusammentreffen<br />

verschiedener Stufen des historischen Prozesses und als Ergebnis eine außerordentliche<br />

Schärfe <strong>der</strong> Gegensätze.<br />

Gelehrte, Agronomen und Nationalökonomen predigten, daß unter Bedingungen rationeller<br />

Bearbeitung das Land vollständig ausreichen würde, d.h. sie schlugen dem Bauer<br />

vor, den Sprung zur höheren technischen und kulturellen Stufe zu machen, ohne Gutsbesitzer,<br />

Urjadnik und Zaren zu nahe zu treten. Doch nie pflegte ein Wirtschaftsregime,<br />

und um so weniger das landwirtschaftliche, eines <strong>der</strong> starrsten, von <strong>der</strong> Bildfläche zu<br />

verschwinden, bevor es nicht alle seine Möglichkeiten erschöpft hatte. Ehe sich <strong>der</strong><br />

Bauer gezwungen sah, zu intensiverer Wirtschaftskultur überzugehen, mußte er den<br />

letzten Versuch einer Verbreiterung seiner Dreifel<strong>der</strong>wirtschaft machen. Doch war dies<br />

offensichtlich nur auf Kosten <strong>der</strong> nichtbäuerlichen Län<strong>der</strong>eien erreichbar. Erstickend in<br />

<strong>der</strong> Enge inmitten <strong>der</strong> Weiten des Landes, mußte <strong>der</strong> Muschik unter <strong>der</strong> brennenden<br />

Knute des Fiskus und des Marktes unvermeidlich den Versuch machen, den Gutsbesitzer<br />

ein für allemal loszuwerden.<br />

Die Gesamtzahl des nutzbaren Bodens in den Grenzen des europäischen Rußland<br />

wurde am Vorabend <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> auf 280 Millionen Deßjatinen geschätzt. Der<br />

Boden <strong>der</strong> Dorfgemeinden umfaßte etwa 140 Millionen, die Kronlän<strong>der</strong>eien etwa 5<br />

Millionen, Kirchen- und Klosterbesitz etwa 2½ Millionen Deßjatinen. Von dem Privatbesitz<br />

an Boden entfielen auf 30.000 Großgrundbesitzer, von denen jedem über 500 Deßjatinen<br />

gehörten, 70 Millionen Deßjatinen, das heißt die gleiche Zahl, über die annähernd<br />

10 Millionen Bauernfamilien verfügten. Diese Bodenstatistik bildete das fertige<br />

Programm des Bauemkrieges.<br />

Den Gutsbesitzer zu liquidieren, war <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> nicht gelungen. Es hatte<br />

sich nicht die gesamte Bauernmasse erhoben, die Bewegung im Dorfe fiel nicht mit <strong>der</strong><br />

Bewegung in <strong>der</strong> Stadt zusammen, die Bauernarmee schwankte, stellte jedoch schließlich<br />

genügend Kräfte zur Verfügung, um die Arbeiter nie<strong>der</strong>zuschlagen. Nachdem das<br />

Semjonowski-Gar<strong>der</strong>egiment mit dem Moskauer Aufstand fertig geworden war, verwarf<br />

die Monarchie jeden Gedanken an eine Beschneidung des gutsherrlichen Bodens und<br />

ihrer eigenen selbstherrlichen Rechte.<br />

Jedoch war die nie<strong>der</strong>geschlagene <strong>Revolution</strong> keinesfalls am Dorfe spurlos vorbeigegangen.<br />

Die Regierung hob die alten Ablösungen auf und eröffnete die Möglichkeit einer<br />

breiteren Übersiedlung nach Sibirien. Die erschrockenen Gutsbesitzer machten nicht nur<br />

beträchtliche Konzessionen bezüglich des Pachtzinses, son<strong>der</strong>n gingen auch zum<br />

verstärkten Ausverkauf ihrer Latifundien über. Diese Früchte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nutzten die<br />

wohlhaben<strong>der</strong>en Bauern, die in <strong>der</strong> Lage waren, gutsherrlichen Boden zu pachten und zu<br />

kaufen, erfolgreich aus.<br />

Die breiteste Pforte, um aus <strong>der</strong> Bauernschaft kapitalistische Farmer auszuson<strong>der</strong>n,<br />

öffnete jedoch das Gesetz vom 9. November 1906, die wichtigste Reform <strong>der</strong> siegreichen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 35


Konterrevoludon. Indem es sogar <strong>der</strong> kleinen Bauernmin<strong>der</strong>heit einer Gemeinde das<br />

Recht zuerkannte, gegen den Willen <strong>der</strong> Mehrheit aus dem Gemeindeland einzelne<br />

Stücke herauszuschneiden, wurde das Gesetz vom 9. November zu einem kapitalistischen<br />

Geschoß, das sich gegen die Dorfgemeinde richtete. Der Vorsitzende des Ministerrats,<br />

Stolypin, bezeichnete das Wesen <strong>der</strong> neuen Regierungspolitik in <strong>der</strong> Bauernfrage als<br />

»Einsatz auf die Starken«. Das bedeutete: die Oberschicht <strong>der</strong> Bauern auf die Aneignung<br />

von Gemeindeland durch Ankauf <strong>der</strong> "befreiten" Abschnitte zu stoßen und damit die<br />

neuen kapitalistischen Farmer in Ordnungsstützen zu verwandeln. Eine solche Aufgabe<br />

zu stellen war leichter, als sie zu lösen. Bei dem Versuch, die Bauern durch die Kulakenfrage<br />

zu ersetzen, mußte sich die Konterrevolution das Genick brechen.<br />

Gegen den 1. Januar 1916 sicherten sich zweieinhalb Millionen Hofbesitzer als ihren<br />

Privatbesitz 17 Millionen Deßjatinen. Zwei weitere Millionen Hofbesitzer for<strong>der</strong>ten die<br />

Ausson<strong>der</strong>ung von 14 Millionen Deßjatinen. Das sah nach einem kolossalen Erfolg <strong>der</strong><br />

Reform aus. Doch die ausgeson<strong>der</strong>ten Bauernwirtschaften waren in ihrer Mehrzahl<br />

durchaus lebensunfähig und stellten nur das Material für eine natürliche Auslese dar.<br />

Während die wirtschaftlich rückständigsten Gutsbesitzer und kleinen Bauern intensiv<br />

verkauften, die einen ihre Latifundien, die an<strong>der</strong>en ihre Landfetzen, trat vorwiegend die<br />

neue Bauernbourgeoisie als Käufer auf. Die Landwirtschaft ging zweifellos in das<br />

Stadium des kapitalistischen Aufstiegs. Die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus<br />

Rußland wuchs in fünf Jahren (1908-1912) von 1 Milliarde Rubel auf 1½ Milliarden.<br />

Das bedeutete: breite Bauernmassen wurden proletarisiert, und die Oberschicht des<br />

Dorfes warf immer mehr Brot auf den Markt.<br />

Als Ersatz für die zwangsweise Gemeindebindung <strong>der</strong> Bauernschaft entwickelte sich<br />

die freiwillige Kooperative, <strong>der</strong> es im Laufe weniger Jahre gelang, verhältnismäßig tief in<br />

die Bauernmassen einzudringen, und die sofort Gegenstand liberaler und demokratischer<br />

Idealisierung wurde. Die reale Macht in <strong>der</strong> Kooperative besaßen jedoch nur die wohlhabenden<br />

Bauern, denen sie letzten Endes auch zum Vorteil gereichte. Die Volkstümlerintelligenz,<br />

die in <strong>der</strong> Bauernkooperative ihre Hauptkräfte konzentrierte, hatte schließlich<br />

ihre Liebe zum Volke auf ein solides bürgerliches Geleise geschoben. Damit wurde im<br />

beson<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Block <strong>der</strong> "antikapitalistischen" Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre mit <strong>der</strong> par<br />

excellence kapitalistischen Partei <strong>der</strong> Kadetten vorbereitet.<br />

Während <strong>der</strong> Liberalismus den Schein einer Opposition in bezug auf die Agrarpolitik<br />

<strong>der</strong> Reaktion wahrte, blickte er jedoch mit größter Hoffnung auf die kapitalistische<br />

Vernichtung <strong>der</strong> Dorfgemeinde. »Im Dorfe wächst eine mächtige Kleinbourgeoisie<br />

heran«, schrieb <strong>der</strong> liberale Fürst Trubetzkoi, »die ihrem gesamten Wesen und ihrer<br />

Zusammensetzung nach in gleicher Weise den Idealen des vereinigten Adels wie den<br />

sozialistischen Schwärmereien fremd gegenüber steht.«<br />

Aber diese großartige Medaille hatte eine Kehrseite. Aus <strong>der</strong> Dorfgemeinde son<strong>der</strong>te<br />

sich nicht nur eine »mächtige Kleinbourgeoisie«, son<strong>der</strong>n auch ihr Antipode aus. Die<br />

Zahl <strong>der</strong> Bauern, die ihre lebensunfähigen Anteile verkauft hatten, erreichte zu Kriegsbeginn<br />

eine Million, was nicht weniger als fünf Millionen Seelen proletarisierter Bevölkerung<br />

bedeutete. Einen reichlichen Explosivstoff bildeten auch die Millionen verarmter<br />

Bauern, denen nichts weiter übrigblieb, als sich an ihre Hungeranteile zu klammem. In<br />

<strong>der</strong> Bauernschaft wie<strong>der</strong>holten sich folglich jene Gegensätze, die in Rußland die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes so früh untergraben hatten. Die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 36


neue Dorfbourgeoisie, die den alten und mächtigeren Besitzern eine Stütze hätte werden<br />

sollen, erwies sich den Kernmassen <strong>der</strong> Bauernschaft gegenüber ebenso feindlich wie die<br />

alten Besitzer dem Volke überhaupt. Ehe sie eine feste Ordnungsstütze wurde, benötigte<br />

die Bauernbourgeoisie selbst einer festen Stütze, um sich auf den eroberten Positionen<br />

halten zu können. Unter diesen Umständen ist es nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß die Agrarfrage<br />

in sämtlichen Reichsdumas ihre Schärfe behielt. Alle fühlten, daß das letzte Wort noch<br />

nicht gesprochen war. Der Bauerndeputierte Petritschenko erklärte einmal von <strong>der</strong><br />

Dumatribüne aus: »Soviel ihr auch diskutieren mögt, einen an<strong>der</strong>en Erdball werdet ihr<br />

nicht schaffen. Folglich wird man uns diese Erde geben müssen.« Dieser Bauer war<br />

we<strong>der</strong> Bolschewik noch Sozialrevolutionär; im Gegenteil, das war ein Deputierter <strong>der</strong><br />

Rechten, ein Monarchist.<br />

Die Agrarbewegung, die wie <strong>der</strong> Streikkampf <strong>der</strong> Arbeiter am Ende des Jahres 1907<br />

verstummte, lebt 1908 zum Teil wie<strong>der</strong> auf und steigert sich in den folgenden Jahren.<br />

Allerdings wird <strong>der</strong> Kampf hauptsächlich in das Innere <strong>der</strong> Gemeinde verlegt; darin<br />

bestand ja die politische Berechnung <strong>der</strong> Reaktion. Bewaffnete Zusammenstöße <strong>der</strong><br />

Bauern bei <strong>der</strong> Aufteilung des Gemeindelandes sind nicht selten. Aber auch <strong>der</strong> Kampf<br />

gegen den Gutsbesitzer erstirbt nicht. Die Bauern stecken häufig Gehöfte, Ernte, Heu <strong>der</strong><br />

Adligen in Brand und verschonen dabei auch die Siedler nicht, die sich gegen den Willen<br />

<strong>der</strong> Gemeindebauern ausgeson<strong>der</strong>t hatten.<br />

In diesem Zustande wurde die Bauernschaft vom Kriege überrascht. Die Regierung<br />

führte etwa zehn Millionen Arbeitskräfte und annähernd zwei Millionen Pferde aus dem<br />

Dorfe weg. Die schwachen Wirtschaften wurden noch schwächer. Die Zahl <strong>der</strong> nichtbestellenden<br />

Bauern nahm zu. Aber auch mit den Mittelbauern ging es in dem zweiten<br />

Kriegsjahre bergab. Die feindselige Haltung <strong>der</strong> Bauernschaft zum Kriege nahm von<br />

Monat zu Monat zu. Im Oktober 1916 berichtet die Petrogra<strong>der</strong> Gendarmerieverwaltung,<br />

daß man im Dorfe an den Sieg im Krieg schon nicht mehr glaube: nach den Worten <strong>der</strong><br />

Versicherurgsagenten, <strong>der</strong> Lehrer, Händler und so weiter »warten alle nur darauf, wann<br />

dieser verfluchte Krieg schließlich enden wird« ... Und mehr noch: »Überall werden<br />

politische Fragen diskutiert, werden gegen Gutsbesitzer und Kaufleute gerichtete Bestimmungen<br />

getroffen, Zellen verschiedenster Organisationen gebildet ... Ein vereinigendes<br />

Zentrum gibt es vorläufig nicht, es ist jedoch anzunehmen, daß die Bauern sich vermittels<br />

<strong>der</strong> Kooperativen, die stündlich in ganz Rußland wachsen, vereinigen werden.« Manches<br />

darin ist übertrieben, manches haben die Gendarme vorweggenommen, aber das Wesentliche<br />

ist zweifellos richtig angegeben.<br />

Die besitzenden Klassen konnten nicht übersehen, daß das Dorf seine Rechnung<br />

präsentieren werde, aber sie verscheuchten die düsteren Gedanken in <strong>der</strong> Hoffnung,<br />

irgendwie doch herauszukommen. Der wißbegierige französische Gesandte Paléologue<br />

unterhielt sich darüber in den Kriegstagen mit dem ehemaligen Landwirtschaftsminister<br />

Kriwoschein, dem ehemaligen Premier Kokowzew, dem Großgrundbesitzer Graf Bobrinski,<br />

dem Vorsitzenden <strong>der</strong> Reichsduma, Rodsjanko, dem Großindustriellen Putilow und<br />

mit an<strong>der</strong>en angesehenen Männern. Dabei wurde ihm folgendes eröffnet: Für die Durchführung<br />

einer radikalen Bodenreform wäre die Arbeit eines ständigen Heeres von<br />

300.000 Landvermessern für die Dauer von mindestens 15 Jahren nötig; aber in dieser<br />

Zeit würden die Bauernwirtschaften auf 30 Millionen angewachsen sein und folglich alle<br />

geleisteten Berechnungen sich als überholt erweisen. Die Bodenreform war mithin in den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 37


Augen <strong>der</strong> Gutsbesitzer, Würdenträger und Bankiers eine Quadratur des Kreises.<br />

Überflüssig zu sagen, daß solche mathematischen Skrupel dem Muschik völlig fremd<br />

waren. Er meinte, daß man zuallererst den Gutsherrn ausräuchern müsse, dann werde<br />

man schon sehen.<br />

Wenn das Dorf in den Kriegsjahren verhältnismäßig ruhig blieb, so darum, weil seine<br />

aktiven Kräfte an <strong>der</strong> Front waren. Die Soldaten vergaßen den Acker nicht, wenigstens<br />

solange sie nicht an den Tod dachten, und die Gedanken des Muschiks an die Zukunft<br />

wurden in den Schützengräben vom Pulvergeruch durchtränkt. Aber dennoch würde die<br />

Bauernschaft, auch nachdem sie den Gebrauch <strong>der</strong> Waffen gelernt hatte, mit ihren<br />

Kräften - allein niemals die agrar-demokratische, das heißt ihre eigene <strong>Revolution</strong><br />

vollbracht haben. Sie brauchte eine Führung. Zum erstenmal in <strong>der</strong> Weltgeschichte sollte<br />

<strong>der</strong> Bauer seinen Führer in <strong>der</strong> Person des Arbeiters finden. Darin besteht <strong>der</strong> grundlegende<br />

und man könnte sagen erschöpfende Unterschied zwischen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> und<br />

allen vorangegangenen <strong>Revolution</strong>en.<br />

In England verschwand die Leibeigenschaft faktisch am Ende des vierzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />

das heißt zwei Jahrhun<strong>der</strong>te bevor sie in Rußland entstand und viereinhalb<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te, ehe sie dort abgeschafft wurde. Die Enteignung des Bodenbesitzes <strong>der</strong><br />

Bauern erstreckt sich in England über die Reformation und zwei <strong>Revolution</strong>en bis zum<br />

neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t. Die kapitalistische Entwicklung, von außen nicht forciert,<br />

besaß somit Zeit genug, die selbständige Bauernschaft zu liquidieren, lange bevor noch<br />

das Proletariat zum politischen Leben erwacht war.<br />

In Frankreich zwang ihr Kamp mit dem königlichen Absolutismus, <strong>der</strong> Aristokratie<br />

und den Kirchenfürsten die Bourgeoisie in Gestalt ihrer verschiedenen Schichten, die<br />

radikale Agrarrevolution am Ende des achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts etappenweise zu vollziehen.<br />

Die selbständige Bauernschaft wurde danach für lange Zeit die Stütze <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Ordnung und half im Jahre 1871 <strong>der</strong> Bourgeoisie, mit <strong>der</strong> Pariser Kommune fertigzuwerden.<br />

In Deutschland erwies sich die Bourgeoisie zur revolutionären Lösung <strong>der</strong> Agrarfrage<br />

unfähig und lieferte im Jahre 1848 die Bauern ebenso an die Gutsbesitzer aus, wie Luther<br />

etwa drei Jahrhun<strong>der</strong>te zuvor sie während des Bauernkrieges an die Fürsten ausgeliefert<br />

hatte. Das deutsche Proletariat seinerseits war Mitte des neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts noch<br />

zu schwach, die Führung <strong>der</strong> Bauernschaft zu übernehmen. Die kapitalistische Entwicklung<br />

Deutschlands bekam infolgedessen eine genügende Frist, wenn auch keine so lange<br />

wie die Englands, um sich die Landwirtschaft, wie sie aus <strong>der</strong> unvollendeten bürgerlichen<br />

<strong>Revolution</strong> hervorgegangen war, zu unterwerfen.<br />

Die Bauernreform von 1861 wurde in Rußland von <strong>der</strong> Adels- und Beamtenmonarchle<br />

unter dem Druck <strong>der</strong> Bedürfüisse <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft durchgeführt, jedoch bei<br />

völliger politischer Ohnmacht <strong>der</strong> Bourgeoisie. Der Charakter <strong>der</strong> Bauernbefreiung war<br />

<strong>der</strong>art, daß die forcierte kapitalistische Umgestaltung des Landes das Agrarproblem<br />

unvermeidlich in ein Problem <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verwandeln mußte. Die <strong>russischen</strong><br />

Bourgeois erträumten eine Agrarentwicklung bald von französischem, bald dänischem,<br />

bald amerikanischem, von jedem beliebigen, nur nicht russischem Typ. Jedoch kamen sie<br />

nicht auf den Gedanken, sich französische <strong>Geschichte</strong> o<strong>der</strong> die amerikanische soziale<br />

Struktur anzueignen. Die demokratische Intelligenz stand trotz ihrer revolutionären<br />

Vergangenheit in <strong>der</strong> Entscheidungsstunde auf seiten <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie und <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 38


Gutsbesitzer, nicht aber auf <strong>der</strong> des revolutionären Dorfes. Nur die Arbeiterklasse<br />

vermochte sich unter diesen Umständen an die Spitze <strong>der</strong> Bauemrevolution zu stellen.<br />

Das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung verspäteter Län<strong>der</strong> - im Sinne <strong>der</strong> eigenartigen<br />

Verquickung von Elementen <strong>der</strong> Rückständigkeit mit jüngsten Faktoren - ersteht hier<br />

vor uns in seiner vollendeten Form und gibt gleichzeitig den Schlüssel zu dem wesentlichsten<br />

Rätsel <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>. Wäre das Agrarproblem, als Erbe <strong>der</strong> Barbarei<br />

<strong>der</strong> alten <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>, von <strong>der</strong> Bourgeoisie gelöst worden, hätte sie es zu lösen<br />

vermocht, das russische Proletariat hätte im Jahre 1917 keinesfalls an die Macht gelangen<br />

können. Um den Sowjetstaat zu verwirklichen, war die Annäherung und gegenseitige<br />

Durchdringung zweier Faktoren von ganz verschiedener historischer Natur notwendig:<br />

des Bauernkrieges, das heißt einer Bewegung, die für die Morgenröte <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, das heißt einer<br />

Bewegung, die den Untergang <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Darin eben besteht<br />

das Jahr 1917.<br />

Der Zar und die Zarin<br />

Dieses Buch hat am allerwenigsten die Aufgabe, psychologische Untersuchungen als<br />

Selbstzweck anzustellen, durch die man jetzt nicht selten die soziale und historische<br />

Analyse zu ersetzen versucht. In unserem Gesichtsfelde stehen vor allem die großen<br />

bewegenden Kräfte <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, die einen überpersönlichen Charakter tragen. Eine<br />

von ihnen ist die Monarchie. Jedoch wirken alle diese Kräfte sich durch Menschen aus.<br />

Die Monarchie aber ist ihrem Wesen nach mit dem persönlichen Prinzip verbunden. Das<br />

rechtfertigt an sich das Interesse für die Person eines Monarchen, den <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong><br />

Entwicklung mit einer <strong>Revolution</strong> zusammenstoßen ließ. Wir hoffen - außerdem - in <strong>der</strong><br />

weiteren Darstellung wenigstens teilweise zeigen zu können, wo in <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />

das Persönliche aufhört - nicht selten viel früher, als es scheint - und wie oft das "beson<strong>der</strong>e<br />

Merkmal" einer Person nichts weiter darstellt als den individuellen Kratzer einer<br />

höheren Gesetzmäßigkeit.<br />

Seine Ahnen hinterließen Nikolaus II. als Erbschaft nicht nur das gewaltige Reich,<br />

son<strong>der</strong>n auch die <strong>Revolution</strong>. Sie bedachten ihn mit keiner einzigen Eigenschaft, die ihn<br />

befähigt hätte, ein Reich zu verwalten o<strong>der</strong> auch nur ein Gouvernement o<strong>der</strong> einen Kreis.<br />

Der historischen Brandung, die ihre Wogen immer näher an die Tore des Palastes heranwälzte,<br />

brachte <strong>der</strong> letzte Romanow eine dumpfe Teilnahmslosigkeit entgegen. Es war,<br />

als trenne sein Bewußtsein und seine Epoche eine durchsichtige, aber völlig undurchdringliche<br />

Sphäre.<br />

Die Personen, die mit dem Zaren in Berührung gekommen waren, vermerkten nach<br />

dem Umsturz wie<strong>der</strong>holt, daß in den tragischsten Augenblicken seiner Regierung<br />

während <strong>der</strong> Übergabe Port Arthurs und des Unterganges <strong>der</strong> Flotte bei Zussima, zehn<br />

Jahre später, während des Rückzuges <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen aus Galizien, und, nach<br />

weiteren zwei Jahren, in jenen Tagen, die dem Thronverzicht vorangingen, als rings um<br />

ihn alles bedrückt, erschrocken, erschüttert war, Nikolaus II. allein die Ruhe bewahrte.<br />

Wie bisher, erkundigte <strong>der</strong> Zar sich nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Werst, die er während seiner<br />

Reisen durch Rußland zurückgelegt hatte, erinnerte sich an Episoden aus einstigen<br />

Jagden, an Anekdoten bei offiziellen Begegnungen; er zeigte überhaupt Interesse für den<br />

Kehricht seines Alltagslebens, während über ihm Donner rollten und Blitze zuckten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 39


»Was ist das?« fragte sich einer seiner vertrauten Generale, »eine ungeheure, fast<br />

unwahrscheinliche Haltung, erreicht durch Erziehung? Glaube an eine göttliche Vorbestimmung<br />

<strong>der</strong> Ereignisse? O<strong>der</strong> mangelnde Denkfähigkeit?« Die Antwort ist zur Hälfte<br />

schon in <strong>der</strong> Frage enthalten. Die sogenannte "gute Erziehung" des Zaren, seine Selbstbeherrschung<br />

auch unter den außerordentlichsten Umständen, lassen sich keinesfalls durch<br />

äußere Dressur allein erklären: <strong>der</strong> Kern lag in <strong>der</strong> inneren Gleichgültigkeit, in <strong>der</strong><br />

Dürftigkeit <strong>der</strong> seelischen Kräfte, in <strong>der</strong> Schwäche <strong>der</strong> Willensimpulse. Die Maske <strong>der</strong><br />

Gleichgültigkeit, die man in gewissen Kreisen als "gute Erziehung" bezeichnet,<br />

verschmolz bei Nikolaus auf natürliche Weise mit dem ihm angeborenen Gesicht.<br />

Das Tagebuch des Zaren ist wertvoller als alle Zeugenaussagen: tagein, tagaus, jahrein,<br />

jahraus folgen auf diesen Blättern trostlose Eintragungen seelischer Leere. »Ging lange<br />

spazieren und tötete zwei Krähen. Trank Tee bei Tageslicht.« Ein Spaziergang zu Fuß,<br />

eine Kahnfahrt. Und wie<strong>der</strong> Krähen und wie<strong>der</strong> Tee. Alles an <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong><br />

Physiologie. Die Erwähnung kirchlicher Feierlichkeiten geschieht. im gleichen Tone wie<br />

die einer Zecherei.<br />

In den Tagen vor <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Reichsduma, als das ganze Land in Konvulsionen<br />

erschauerte, schrieb Nikolaus: »14. April. Ging spazieren in einer leichten Hemdbluse<br />

und nahm die Spazierfahrten mit dem Paddelboot wie<strong>der</strong> auf. Trank Tee auf dem Balkon.<br />

Stana aß mit uns zu Mittag und fuhr mit uns spazieren. Habe gelesen.« Nicht ein Wort<br />

über den Gegenstand <strong>der</strong> Lektüre: ein sentimentaler englischer Roman o<strong>der</strong> ein Bericht<br />

des Polizeidepartements? »15. April. Nahm die Entlassung Wittes an. Marie und Dmitrij<br />

aßen mit uns. Haben 2 sie ins Schloß begleitet.«<br />

An dem Tage, an dem die Auflösung <strong>der</strong> Duma beschlossen wurde und die hohen<br />

Würdenträger wie die Liberalen einen Angstparoxismus durchmachten, schrieb <strong>der</strong> Zar<br />

in sein Tagebuch: »7. Juli. Freitag. Ein sehr beschäftigter Morgen. Haben uns zum<br />

Frühstück mit den Offizieren um eine halbe Stunde verspätet ... Es war Gewitter und sehr<br />

sehwül. Gingen zusammen spazieren. Empfing Goremykin; unterschrieb den Befehl zur<br />

Auflösung <strong>der</strong> Duma! Haben Mittag gegessen bei Olga und Petja. Den ganzen Abend<br />

gelesen.« Ein Ausrufungszeichen anläßlich <strong>der</strong> bevorstehenden Dumaauflösung ist <strong>der</strong><br />

höchste Ausdruck seiner Gefühlsregungen.<br />

Die Deputierten <strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gejagten Duma riefen das Volk auf, Steuerzahlungen<br />

und Militärpflieht zu verweigern. Eine Reihe militärischer Aufstände brach aus: in<br />

Sweaborg, in Kronstadt, auf den Schiffen, bei Armeeteilen; <strong>der</strong> revolutionäre Terror<br />

gegen hohe Beamte lebte in nie dagewesenem Maße auf Der Zar schreibt: »9. Juli.<br />

Sonntag. Es ist geschehen! Die Duma ist heute aufgelöst worden. Beim Frühstück nach<br />

<strong>der</strong> Messe sah man viele lange Gesichter ... Das Wetter war herrlich. Trafen beim<br />

Spaziergange Onkel Mischa, <strong>der</strong> gestern aus Gatschina hierher übergesiedelt ist. Bis<br />

zum Mittagessen und den ganzen Abend ruhig gearbeitet. Fuhr Paddelboot.« Daß er<br />

ausgerechnet Paddelboot fuhr, ist vermerkt, womit er sich aber beschäftigte, ist nicht<br />

gesagt. Und so immer wie<strong>der</strong>.<br />

Weiter, aus den gleichen schicksalsvollen Tagen: »14. Juli. Nachdem ich mich angezogen<br />

hatte, fuhr ich per Rad zur Badeanstalt und badete mit Genuß im Meere.« - »15. Juli.<br />

Zweimal gebadet. Es war sehr heiß. Aßen zu Mittag zu zweien. Das Gewitter ist<br />

vorüber.« - »19. Juli. Morgens gebadet. Empfang auf <strong>der</strong> Farm: Onkel Wladimir und<br />

2 Es sind immer Zar und Zarin gemeint.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 40


Tschagin waren zum Frühstück da.« Aufstände und Dynamitexplosionen werden in einer<br />

einzigen Wertung gestreift - »Nette Ereignisse!« -, verblüffend durch eine niedrige<br />

Teilnahmslosigkeit, die sich nicht mal bis zum bewußten Zynismus entwickelt.<br />

»Um 9.30 Uhr morgens fuhren wir zum Kaspischen Regiment ... Ging lange spazieren.<br />

Das Wetter war herrlich. Badete im Meere. Empfing nach dem Tee Lwow und<br />

Gutschkow.« Kein Wort darüber, daß dieser so gewöhnliche Empfang zweier Liberaler<br />

mit dem Versuch Stolypins zusammenhing, in sein Ministerium oppositionelle Politiker<br />

einzubeziehen. Fürst Lwow, das spätere Haupt <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, berichtete<br />

damals über den Empfang beim Zaren: »Ich hatte erwartet, den Kaiser vom Unglück<br />

nie<strong>der</strong>geschlagen vorzufinden, statt dessen kam ein lustiges, munteres Kerlchen in einem<br />

himbeerroten Blusenhemd zu mir heraus.«<br />

Der geistige Horizont des Zaren reichte nicht weiter als <strong>der</strong> eines kleineren Polizeibeamten,<br />

mit dem Unterschiede, daß dieser immerhin die Wirklichkeit besser kannte und<br />

von Aberglauben weniger belastet war. Die einzige Zeitung, die Nikolaus während einer<br />

Reihe von Jahren las und aus <strong>der</strong> er seine Ideen schöpfte, war eine Wochenschrift, die<br />

Fürst Meschtscherski auf Staatskosten herausgab, ein niedriger, käuflicher, selbst im<br />

eigenen Kreise <strong>der</strong> reaktionären Bürokratencliquen verachteter Journalist. Seinen<br />

Horizont hat <strong>der</strong> Zar über zwei Kriege und zwei <strong>Revolution</strong>en hinweg sich unverän<strong>der</strong>t<br />

bewahrt: zwischen seinem Bewußtsein und den Ereignissen stand stets trennend die<br />

undurchdringliche Sphäre <strong>der</strong> Gleichgültigkeit.<br />

Nicht ohne Grund nannte man Nikolaus einen Fatalisten. Man muß nur hinzufügen,<br />

daß dieser Fatalismus das gerade Gegenteil eines aktiven Glaubens an seinen "Stern"<br />

war. Nikolaus selbst hielt sich vielmehr für einen Pechvogel. Sein Fatalismus war lediglich<br />

die Form eines passiven Selbstschutzes gegen die geschichtliche Entwicklung und<br />

ging Hand in Hand mit einer Willkür, die ihren psychologischen Motiven nach kleinlich,<br />

ihren Folgen nach ungeheuerlich war.<br />

»Ich will, und darum muß es so sein«, schreibt Graf Witte, »diese Parole äußerte sich<br />

in allen Handlungen dieses willensschwachen Herrschers, <strong>der</strong> nur infolge seiner<br />

Schwäche all das getan hat, was seine Regierung charakterisierte - ein fortwährendes<br />

und in den meisten Fällen völlig zweckloses Vergießen mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> unschuldigen<br />

Blutes...«<br />

Man verglich Nikolaus manchmal mit seinem halbirrsinnigen Ururgroßvater Paul, <strong>der</strong>,<br />

mit Zustimmung des eigenen Sohnes, Alexan<strong>der</strong> des "Gesegneten", von einer Kamarilla<br />

erdrosselt wurde. Diese zwei Romanows gleichen sich tatsächlich in dem Mißtrauen<br />

gegen alle, das aus ihrem Mißtrauen gegen sich selbst erwuchs; in dem Argwohn einer<br />

allmächtigen Null; in dem Gefühl des Ausgestoßenseins, man könnte sagen, in dem<br />

Bewußtsein gekrönter Parias. Jedoch war Paul unvergleichlich farbiger. In seinem<br />

Wahnsinn war ein Element von Phantasie, wenn auch von unzurechnungsfähiger. An<br />

seinem Nachfahren ist alles farblos, ist kein greller Zug.<br />

Nikolaus war nicht nur unbeständig, son<strong>der</strong>n auch treubrüchig. Die Schmeichler<br />

nannten ihn für seine Sanftmut gegen Hofleute: »Charmeur.« Beson<strong>der</strong>e Freundlichkeit<br />

jedoch erwies <strong>der</strong> Zar jenen Würdenträgern, die er davonzujagen beschlossen hatte: ein<br />

von ihm beim Empfang über alle Maßen bezauberter Minister konnte zu Hause den<br />

Entlassungsbrief vorfinden. Das war eine Art Rache für die eigene Min<strong>der</strong>wertigkeit.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 41


Nikolaus wandte sich feindselig von allen Begabten und Bedeutenden ab. Es behagte<br />

ihm nur unter unfähigen, geistig min<strong>der</strong>wertigen Menschen, Scheinheiligen, Schwächlingen,<br />

zu denen er nicht emporzublicken brauchte. Er besaß Ehrgeiz, einen sogar raffinierten,<br />

aber nicht aktiven Ehrgeiz, <strong>der</strong>, ohne ein Körnchen Initiative nur <strong>der</strong> neidischen<br />

Selbstverteidigung diente. Seine Minister wählte er nach dem Prinzip des ständigen<br />

Abwärtsgleitens aus. Menschen von Geist und Charakter holte er nur in äußerstem Falle,<br />

wenn es keinen an<strong>der</strong>en Ausweg gab, etwa wie man einen Chirurgen zur Rettung des<br />

Lebens holt. So war es mit Witte und später mit Stolypin. Der Zar verhielt sich zu beiden<br />

mit schlecht verborgener Feindseligkeit. Sobald die zugespitzte Situation vorüber war,<br />

beeilte er sich, die Ratgeber loszuwerden, die ihm zu offensichtlich überlegen waren. Die<br />

Auswahl wirkte sich so systematisch aus, daß <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> letzten Duma,<br />

Rodsjanko, am 7. Januar 1917, als die <strong>Revolution</strong> an die Türen pochte, es wagen durfte,<br />

dem Zaren zu sagen: »Majestät, es ist kein einziger zuverlässiger und ehrlicher Mensch<br />

in Ihrer Umgebung geblieben, die Besten sind entfernt worden o<strong>der</strong> gegangen, es sind<br />

nur solche geblieben, die in schlechtem Rufe stehen.«<br />

Alle Bemühungen <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie, mit dem Hof eine gemeinsame Sprache<br />

zu finden, scheiterten. Der unermüdliche, polternde Rodsjanko versuchte durch seine<br />

Vorträge den Zaren aufzurütteln. Vergeblich! Dieser überging schweigend nicht nur alle<br />

Argumente son<strong>der</strong>n auch Anmaßungen und bereitete im stillen die Auflösung <strong>der</strong> Duma<br />

vor. Der Großfürst Dmitrij, <strong>der</strong> damalige Liebling des Zaren und spätere Teilnehmer an<br />

<strong>der</strong> Ermordung Rasputins, klagte seinem Mitverschworenen, dem Fürsten Jussupow, daß<br />

<strong>der</strong> Zar im Hauptquartier mit jedem Tage gleichgültiger gegen seine ganze Umgebung<br />

werde. Nach Dmitrijs Meinung gäbe man dem Zaren irgendein Getränk ein, das dessen<br />

geistige Fähigkeiten abstumpfe. »Es gingen Gerüchte«, schreibt <strong>der</strong> liberale Historiker<br />

Miljukow seinerseits, »daß <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> geistigen und moralischen Apathie beim<br />

Zaren durch starken Genuß von Alkohol aufrechterhalten würde.« Das aber waren alles<br />

Erfindungen o<strong>der</strong> Übertreibungen. Der Zar brauchte nicht zu Narkotika zu greifen: er<br />

hatte das tödliche »Getränk« schon im Blute. Nur waren dessen Wirkungen beson<strong>der</strong>s<br />

verblüffend auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> großen Ereignisse des Krieges und <strong>der</strong> inneren<br />

Krise, die zur <strong>Revolution</strong> geführt hat. Rasputin, <strong>der</strong> ein guter Psychologe war, pflegte<br />

vom Zaren kurz zu sagen, daß ihm »im Innern etwas fehlt«.<br />

Dieser farblose, gleichmäßige, "guterzogene" Mann war grausam. Es war aber nicht<br />

die aktive, historische Ziele verfolgende Grausamkeit eines Iwan des Schrecklichen o<strong>der</strong><br />

Peter - was hatte Nikolaus II. mit diesen gemein! -, son<strong>der</strong>n die feige Grausamkeit eines<br />

Letztgeborenen, dem vor seinem Geschick bange war. Schon in <strong>der</strong> Morgenröte seiner<br />

Regierung lobte Nikolaus die »braven Fanagorier« für die Nie<strong>der</strong>schießung von Arbeitern.<br />

Er »las mit Vergnügen«, wie man mit Nagajkas die »kurzgeschorenen« Studentinnen<br />

peitschte o<strong>der</strong> während <strong>der</strong> jüdischen Pogrome hilflosen Menschen die Schädel<br />

einschlug. Der Ausgestoßene auf dem Throne hatte stets eine Neigung für den Auswurf<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft, für die Plün<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Schwarzen Hun<strong>der</strong>t; er zahlte ihnen nicht nur<br />

freigebig einen Sold aus <strong>der</strong> Staatskasse, son<strong>der</strong>n liebte es auch, sich mit ihnen über ihre<br />

Heldentaten zu unterhalten, ihnen Gnaden zu erweisen, beson<strong>der</strong>s wenn sie zufällig bei<br />

einem Mord an dem einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en oppositionellen Deputierten erwischt worden<br />

waren. Witte, <strong>der</strong> während <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />

Regierung stand, schreibt in seinen Memoiren: »Wenn nutzlose, grausame Ausschreitun-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 42


gen <strong>der</strong> Anführer von Strafexpeditionen dem Kaiser bekannt wurden, fanden sie seine<br />

Billigung, jedenfalls seinen Schutz.« In Beantwortung einer For<strong>der</strong>ung des baltischen<br />

Generalgouverneurs, einen gewissen Kapitänleutnant Richter zur Räson zu bringen, <strong>der</strong><br />

»aus eigener Ermächtigung ohne jegliches Gerichtsverfahren auch Personen hinrichtete,<br />

die keinen Wi<strong>der</strong>stand geleistet hatten«, schrieb <strong>der</strong> Zar auf den Bericht: »Braver Kerl!«<br />

Solche Aufmunterungen gibt es ohne Zahl. Dieser »Charmeur« ohne Willen, ohne Ziel,<br />

ohne Phantasie war schrecklicher als alle Tyrannen <strong>der</strong> alten und <strong>der</strong> neuen <strong>Geschichte</strong>.<br />

Der Zar stand unter dem ungeheuren Einfluß <strong>der</strong> Zarin, <strong>der</strong> mit den Jahren und mit den<br />

Schwierigkeiten stetig zunahm. Zusammen bildeten sie irgendwie ein Ganzes. Schon<br />

diese Veibindung zeigt, in welch hohem Maße unter dem Druck <strong>der</strong> Verhältnisse das<br />

Persönliche durch das Gruppenmäßige ergänzt wird. Vorerst aber muß man einiges über<br />

die Zarin sagen.<br />

Maurice Paléologue, während des Krieges französischer Gesandter in Petrograd, ein<br />

feiner Psychologe für französische Akademiker und Portierfrauen, gibt ein sorgsam<br />

gelecktes Porträt <strong>der</strong> letzten Zarin: »Moralische Ruhelosigkeit, chronische Traurigkeit,<br />

grenzenlose Wehmut, wechselnde Ab- und Zunahme <strong>der</strong> Kräfte, quälende Gedanken über<br />

die jenseitige, unsichtbare Welt, Aberglaube - bilden denn nicht alle diese Züge, die an<br />

<strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>der</strong> Zarin so scharf hervortreten, die charakteristischen Eigenschaften<br />

des <strong>russischen</strong> Volkes?« So seltsam das ist, in dieser süßlichen Lüge ist ein Körnchen<br />

Wahrheit. Nicht umsonst hat <strong>der</strong> russische Satiriker Saltykow die Minister und Gouverneure<br />

aus den Reihen <strong>der</strong> baltischen Barone »Deutsche mit russischer Seele« genannt:<br />

zweifellos haben gerade die Fremden, die nichts mit dem Volke verband, den »echt<strong>russischen</strong>«<br />

Administrator in Reinkultur hochgezüchtet.<br />

Weshalb aber zollte das Volk, dessen Seele die Zarin, nach den Worten Paléologues,<br />

so vollkommen in sich aufgenommen hatte, ihr so unverhüllten Haß? Die Antwort ist<br />

einfach: zur Rechtfertigung ihrer neuen Lage hatte sich diese Deutsche mit kühler Besessenheit<br />

alle Traditionen und Eingebungen des <strong>russischen</strong> Mittelalters, des dürftigsten und<br />

rauhesten von allen, angeeignet, in einer Periode, in <strong>der</strong> das Volk gewaltige Anstrengungen<br />

machte, um sich von <strong>der</strong> eigenen mittelalterlichen Barbarei zu befreien. Diese hessische<br />

Prinzessin war buchstäblich vom Dämon des Selbstherrschertums erfüllt. Aus ihrem<br />

Krähwinkel zu den Höhen eines byzantinischen Despotismus emporgekommen, wollte<br />

sie von diesen um keinen Preis hinabsteigen. In dem orthodoxen Glauben fand sie die<br />

Mystik und die Magie, die ihrem neuen Schicksal angepaßt waren. Sie glaubte um so<br />

fester an ihre Berufung, je unverhüllter die Abscheulichkeit des alten Regimes zutage<br />

trat. Von starkem Charakter und mit <strong>der</strong> Fähigkeit zu trockener, gefühlloser Exaltation,<br />

ergänzte die Zarin den willenlosen Zaren, indem sie ihn beherrschte.<br />

Am 17. März 1916, ein Jahr vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, als das zerrüttete Land sich bereits in<br />

<strong>der</strong> Zange <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen und Zerstörung wand, schrieb die Zarin ihrem Manne ins<br />

Hauptquartier: »... Du darfst keine Nachgiebigkeit zeigen, verantwortliches Ministerium<br />

und so weiter - alles was sie wollen. Das muß Dein Krieg und Dein Friede sein, Deine<br />

Ehre und die unserer Heimat, keinesfalls die <strong>der</strong> Duma. Sie haben kein Recht, auch nur<br />

ein einziges Wort in diese Frage hineinzureden.« Das war jedenfalls ein geschlossenes<br />

Programm, und gerade dieses Programm obsiegte über alle Schwankungen des Zaren.<br />

Nach <strong>der</strong> Abreise Nikolaus zur Armee in seiner Eigenschaft des fiktiven Oberkommandierenden<br />

begann die Zarin offen über die inneren Angelegenheiten zu verfügen. Die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 43


Minister erstatteten ihr Bericht wie einer Regentin. Mit einer engen Kamarilla bildete sie<br />

eine Verschwörung gegen die Duma, gegen die Minister, gegen die Generale des Hauptquartiers,<br />

gegen die ganze Welt, teilweise auch gegen den Zaren. Am 6. Dezember 1916<br />

schrieb die Zarin an den Zaren: »... da Du einmal gesagt hast, Du willst Protopopow<br />

behalten, wie wagt er (<strong>der</strong> Premier Trepow) gegen Dich zu sein, - schlag mal mit <strong>der</strong><br />

Faust auf den Tisch, bleibe fest, sei <strong>der</strong> Herr, höre auf Dein hartes Weibchen und auf<br />

unseren Freund, vertraue uns.« Nach drei Tagen abermals: »Du weißt, daß Du im Recht<br />

bist, trage den Kopf hoch, befiehl Trepow, mit ihm zu arbeiten ... schlag mit <strong>der</strong> Faust<br />

auf den Tisch.« Diese Sätze scheinen wie erfunden. Sie sind jedoch den echten Briefen<br />

entnommen. Man könnte sie auch nicht erfinden.<br />

Am 13. Dezember suggeriert die Zarin dem Zaren wie<strong>der</strong>: »Nur kein verantwortliches<br />

Ministerium, auf das jetzt alle versessen sind. Alles wird ruhiger und besser, man will<br />

aber Deinen Arm fühlen. Wie lange Jahre schon sagt man mir immer dasselbe: "Rußland<br />

liebt es, die Peitsche zu fühlen", das ist seine Natur!« Die rechtgläubige Hessin mit <strong>der</strong><br />

Erziehung von Windsor und <strong>der</strong> Krone von Byzanz auf dem Haupte »verkörpert« nicht<br />

nur die russische Seele, son<strong>der</strong>n verachtet sie auch organisch: seine Natur verlange die<br />

Peitsche, schreibt die russische Zarin dem <strong>russischen</strong> Zaren über das russische Volk,<br />

zweieinhalb Monate bevor die Monarchie in den Abgrund stürzt.<br />

Ihm an Chatakterstärke überlegen, steht die Zarin geistig nicht über ihrem Mann, eher<br />

sogar unter ihm; mehr noch als er sucht sie die Gesellschaft von Einfältigen. Die enge<br />

langjährige Freundschaft, die den Zaren und die Zarin mit dem Hoffräulein Wyrubowa<br />

verbindet, zeigt das Maß <strong>der</strong> geistigen Größe des Selbstherrscherpaares. Wyrubowa<br />

nannte sich selber einen Dummkopt, und das war nicht Bescheidenheit. Witte, dem man<br />

ein scharfes Auge nicht absprechen kann, charakterisierte sie als »ein ganz gewöhnliches,<br />

dummes Petersburger Fräulein, nicht schön, einer Blase aus Butterteig ähnlich«. In<br />

Gesellschaft dieser Person, <strong>der</strong> betagte Würdenträger, Gesandte und Finanzleute vor<br />

Ehrfurcht vergehend, den Hof machten und die immerhin gescheit genug war, die<br />

eigenen Taschen nicht zu vergessen, verbrachten Zar und Zarin ungezählte Stunden,<br />

berieten mit ihr Geschäfte, korrespondierten mit ihr und über sie. Sie war einflußreicher<br />

als die Reichsduma und selbst die Ministerien.<br />

Aber die Wyrubowa war nur das Medium des "Freundes", dessen Autorität über den<br />

dreien stand. »...das ist meine private Meinung«, schreibt die Zarin an den Zaren, »ich<br />

werde erfahren, was unser Freund denkt.« Die Meinung des Freundes ist nicht privat, sie<br />

entscheidet. »...Ich bleibe fest«, wie<strong>der</strong>holt die Zarin nach einigen Wochen, »aber höre<br />

auf mich, das heißt auf unseren Freund, und vertraue Dich uns in allem an ... Ich leide<br />

für Dich, wie für ein zartes, weichherziges Kind, das <strong>der</strong> Leitung bedarf, aber auf<br />

schlechte Ratgeber hört, während <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> von Gott gesandt, ihm sagt, was zu tun<br />

ist.«<br />

»... Gebete und Hilfe unseres Freundes - darm wird alles gut gehen.«<br />

»Wenn wir ihn nicht hätten, alles wäre längst zu Ende, davon bin ich fest überzeugt.«<br />

Der Freund, <strong>der</strong> von Gott Gesandte, ist Grigorij Rasputin.<br />

Während <strong>der</strong> ganzen Regierung Nikolaus' und Alexandras brachte man Wahrsager und<br />

Fallsüchtige an den Hof, nicht nur aus ganz Rußland, son<strong>der</strong>n auch aus an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n.<br />

Es gab beson<strong>der</strong>e hochgestellte Lieferanten, die sich um das jeweilige Orakel gruppierten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 44


und neben dem Monarchen ein allmächtiges Oberhaus bildeten. Es mangelte hier nicht an<br />

alten Frömmlerinnen gräflichen Namens, an Würdenträgern, die sich nach Ämtern<br />

sehnten, an Finanzleuten, die ganze Ministerien pachteten. Die unpatentierte Konkurrenz<br />

von seiten <strong>der</strong> Hypnotiseure und Zauberer eifersüchtig verfolgend, beeilten sich die<br />

Hierarchen <strong>der</strong> orthodoxen Kirche, eigene Wege in das zentrale Heiligtum <strong>der</strong> Intrige<br />

anzulegen. Witte nannte diese regierende Clique, an <strong>der</strong> er zweimal zerschellte, »die<br />

aussätzige Palastkamarilla«.<br />

Je mehr sich die Dynastie isolierte und je verwahrloster <strong>der</strong> Monarch sich fühlte, um so<br />

größer wurde sein Bedürfnis nach jenseitiger Hilfe. Es gibt Wilde, die, um gutes Wetter<br />

hervorzurufen, ein an einem Strick befestigtes Brettchen in <strong>der</strong> Luft herumschwingen.<br />

Zar und Zarin nahmen Brettchen zu Hilfe für die mannigfaltigsten Zwecke. Im Zarenwaggon<br />

befand sich ein Betraum, ausstaffiert mit Heiligenbil<strong>der</strong>n und -bildchen so wie<br />

an<strong>der</strong>en Kultgegenständen, die zuerst <strong>der</strong> japanischen Artillerie entgegengestellt worden<br />

waren und später <strong>der</strong> deutschen.<br />

Das Niveau des Hofkreises hatte sich eigentlich von Generation zu Generation nicht<br />

son<strong>der</strong>lich verän<strong>der</strong>t. Unter Alexan<strong>der</strong> II., dem "Befreier", glaubten die Großfürsten<br />

aufrichtig an Hausgeister und Hexen. Unter Alexan<strong>der</strong> III. war es nicht besser, nur<br />

ruhiger. »Die aussätzige Kamarilla« existierte stets, sie wechselte bloß die Zusammensetzung<br />

und erneuerte ihre Methoden. Nikolaus II. hatte die höfische Atmosphäre des<br />

wilden Mittelalters nicht geschaffen, son<strong>der</strong>n von seinen Ahnen übernommen. Das Land<br />

verän<strong>der</strong>te sich in diesen Jahrzehnten, die Aufgaben wurden komplizierter, die Kultur<br />

stieg, doch <strong>der</strong> Hof blieb weit zurück. Wenn auch die Monarchie unter den Schlägen <strong>der</strong><br />

neuen Mächte Zugeständnisse machte, so hatte sie doch keine Zeit, sich innerlich zu<br />

mo<strong>der</strong>nisieren; im Gegenteil, sie schloß sich immer mehr ab, <strong>der</strong> Geist des Mittelalters<br />

verdichtete sich unter dem Druck <strong>der</strong> Feindschaft und Furcht, bis er den Charakter eines<br />

wi<strong>der</strong>lichen Alpdruckes bekam, <strong>der</strong> sieh auf das Land legte.<br />

Am 1. November 1905, das heißt im kritischsten Augenblick <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>,<br />

schreibt <strong>der</strong> Zar in sein Tagebuch: »Lernte einen Mann Gottes, Grigorij, aus dem<br />

Gouvernement Tobolsk kennen.« Das war Rasputin, ein sibirischer Bauer mit nicht<br />

verheilenden Schrammen am Kopfe, herrührend von Schlägen wegen Pierdediebstahls.<br />

Im rechten Augenblick aufgetaucht, fand <strong>der</strong> »Mann Gottes« bald hochgestellte Helfer,<br />

richtiger, sie fanden ihn, und so entstand eine neue regierende Clique, die die Zarin und<br />

durch sie den Zaren fest in ihre Hände bekam.<br />

Seit dem Winter <strong>der</strong> Jahre 1913/14 sprach man in <strong>der</strong> Petersburger Gesellschaft bereits<br />

offen davon, daß alle höheren Ernennungen, Lieferungen und Aufträge von <strong>der</strong> Rasputinclique<br />

abhängig seien. Der "Starez" selbst verwandelte sich allmählich in eine<br />

Staatsinstitution. Er wurde sorgsam bewacht und von den rivalisierenden Ministerien<br />

nicht weniger sorgsam beobachtet. Die Spitzel des Polizeidepartements führten nach<br />

Stunden Tagebuch über sein Leben und versäumten nicht zu berichten, daß sich Rasputin<br />

beim Besuch seines Heimatdorfes Pokrowskoje betrunken auf <strong>der</strong> Straße mit seinem<br />

Vater blutig prügelte. Am gleichen Tage, dem 9. September 1915, schickte Rasputin<br />

zwei freundschaftliche Telegramme ab, eines nach Zarskoje Selo, <strong>der</strong> Zarin, das an<strong>der</strong>e<br />

in das Hauptquartier, dem Zaren.<br />

In epischer Sprache registrierten die Spitzel tagein tagaus die Völlereien des<br />

"Freundes". »Kehrte heute um 5 Uhr morgens heim, stockbetrunken.« »In <strong>der</strong> Nacht vom<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 45


25. zum 26. übernachtete bei Rasputin die Schauspielerin W.« »Ist mit <strong>der</strong> Fürstin D.<br />

(<strong>der</strong> Frau des Kammerjunkers beim Zarenhof) im Hotel Astoria angekommen ...« Gleich<br />

hierauf: »Kehrte aus Zarskoje Selo um 11 Uhr abends heim.« »Rasputin kam mit <strong>der</strong><br />

Fürstin Sch. sehr betrunken nach Hause. Sie gingen bald zusammen weg.« Am Morgen<br />

o<strong>der</strong> am Abend des nächsten Tages eine Reise nach Zarskoje Selo. Auf die teilnehmende<br />

Frage des Spitzels, weshalb er heute so nachdenklich sei, antwortet <strong>der</strong> "Starez": »Kann<br />

mich nicht entschließen, soll die Duma einberufen werden o<strong>der</strong> nicht.« Dann wie<strong>der</strong>:<br />

»Kehrte um 5 Uhr morgens heim, ziemlich betrunken.« So wurde monate und jahrelang<br />

auf drei Tasten immer die gleiche Melodie gespielt: »Ziemlich betrunken«, »sehr betrunken«,<br />

»stockbetrunken«. Diese staatswichtigen Nachrichten verband zu einer Einheit und<br />

bekräftigte mit seiner Unterschrift <strong>der</strong> Gendarmeriegeneral Globatschew.<br />

Die Blüte des Rasputinschen Einflusses währte sechs Jahre, die letzten Jahre <strong>der</strong><br />

Monarchie. »Sein Leben in Petersburg«, erzählt Fürst Jussupow, bis zu einem gewissen<br />

Grade Teilnehmer dieses Lebens und später Rasputins Mör<strong>der</strong>, »verwandelte sich in ein<br />

ununterbrochenes Fest, in die wüste Orgie eines Zuchthäuslers, dem unverhofft das<br />

Glück in den Schoß gefallen war.« »In meinem Besitze befand sich«, schreibt <strong>der</strong><br />

Dumavorsitzende Rodsjanko, »eine Unmenge Briefe von Müttern, <strong>der</strong>en Töchter dieser<br />

schamlose Wüstling mißbraucht hatte.« Gleichzeitig verdankten <strong>der</strong> Petersburger Metropolit<br />

Pitirin und <strong>der</strong> kaum des Lesens und Schreibens kundige Erzbischof Warnawa ihre<br />

Ämter Rasputin. Durch ihn hielt sich auch lange Zeit <strong>der</strong> Oberprokureur des Heiligen<br />

Synods, Sabler, im Amte, auf Rasputins Wunsch und Willen wurde <strong>der</strong> Premier<br />

Kokowzew entlassen, <strong>der</strong> sich geweigert hatte, den "Starez" zu empfangen. Rasputin<br />

ernannte Stürmer zum Vorsitzenden des Ministerrats, Protopopow zum Minister des<br />

Innern, den neuen Oberprokureur des Synods, Rajew, und viele an<strong>der</strong>e. Der Gesandte<br />

<strong>der</strong> Französischen Republik, Paléologue, bemühte sich um eine Zusammenkunft mit<br />

Rasputin, er küßte sich mit ihm und rief aus: »Voilà un véritable illuminé!«, um so <strong>der</strong><br />

Zarin Herz für die Sache Frankreichs zu erobern. Der Jude Simanowitsch, des "Starez"<br />

Finanzagent, den die Kriminalpolizei als einen Spieler und Wucherer in ihren Listen<br />

führte, setzte mit Rasputins Hilfe durch, daß ein völlig ehrloses Subjekt, Dobrowolski,<br />

zum Justizminister ernannt wurde. »Sieh Dir die kleine Liste an«, schreibt die Zarin an<br />

den Zaren über die neuen Ernennungen, »unser Freund bittet, daß Du Dich über all dies<br />

mit Protopopow besprichst.« Nach zwei. Tagen: »Unser Freund sagt, Stürmer könne<br />

noch einige Zeit Vorsitzen<strong>der</strong> des Ministerrats bleiben.« Und wie<strong>der</strong>: »Protopopow<br />

verehrt ehrfurchtsvoll unsern Freund und wird gesegnet werden.«<br />

An einem jener Tage, als die Spitzel die Zahl <strong>der</strong> Flaschen und Frauen registrierten,<br />

schrieb die Zarin wehmütig an den Zaren: »Rasputin wird beschuldigt, daß er Frauen<br />

geküßt habe, und so weiter. Lies die Apostel - sie haben alle zum Gruße geküßt.« Der<br />

Hinweis auf die Apostel hätte die Spitzel kaum zu überzeugen vermocht. In einem<br />

an<strong>der</strong>en Briefe geht die Zarin noch weiter: »Während des abendlichen Evangeliums habe<br />

ich soviel über unseren Freund nachdenken müssen: wie doch die Buchgelehrten und<br />

Pharisäer Christus verfolgen und sich verstellen, als wären sie Vollkommenheiten ... Ja,<br />

wahrhaftig, es gilt kein Prophet in seinem Vaterlande.«<br />

Der Vergleich Rasputins mit Christus war in diesem Kreise üblich und nicht zufällig.<br />

Die Angst vor den mächtigen Kräften <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> war zu stark, als daß sich das<br />

Zarenpaar mit dem unpersönlichen Gott und dem körperlosen Schatten des Christus aus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 46


dem Evangelium begnügen konnte. Es bedurfte einer Wie<strong>der</strong>kunft des<br />

"Menschensohnes". Die ausgestoßene, in Agonie liegende Monarchie fand in Rasputin<br />

einen Christus nach ihrem Ebenbilde.<br />

»Hätte es Rasputin nicht gegeben«, sagte ein Mann des alten Regimes, <strong>der</strong> Senator<br />

Taganzew. »dann hätte man ihn erfmden müssen.« Diese Worte enthalten viel mehr, als<br />

ihr Autor geglaubt haben mag. Versteht man unter Hooliganentum den krassesten<br />

Ausdruck antisozialer, parasitärer Züge in den Tiefen <strong>der</strong> Gesellschaft, kann man die<br />

Rasputiniade mit vollem Recht als das gekrönte Hooliganentum auf seinem höchsten<br />

Gipfel bezeichnen.<br />

Die Idee <strong>der</strong> Palastrevolution<br />

Weshalb denn haben die herrschenden Klassen, als sie Rettung vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

suchten, nichts unternommen, um sich vom Zaren und dessen Umgebung zu befreien?<br />

Sie haben wohl daran gedacht, doch sie wagten es nicht. Es fehlte ihnen <strong>der</strong> Glaube an<br />

ihre Sache und die Entschlossenheit. Die Idee einer Palastrevolution lag in <strong>der</strong> Luft, bis<br />

sie in <strong>der</strong> Staatsumwälzung unterging. Man muß bei diesem Punkte verweilen, um sich<br />

ein klares Bild von den gegenseitigen Beziehungen zwischen <strong>der</strong> Monarchie und den<br />

Spitzen des Adels, <strong>der</strong> Bürokratie und <strong>der</strong> Bourgeoisie am Vorabend <strong>der</strong> Explosion<br />

machen zu können.<br />

Die besitzenden Klassen waren durch und durch monarchistisch: kraft ihrer Interessen,<br />

ihrer Traditionen und ihrer Feigheit. Aber sie wollten eine Monarchie ohne Rasputin. Die<br />

Monarchie gab ihnen zur Antwort: Nehmt mich, wie ich bin. Der For<strong>der</strong>ung nach einem<br />

anständigen Ministerium begegnete die Zarin damit, daß sie dem Zaren einen Apfel aus<br />

Rasputins Hand ins Hauptquartier sandte und verlangte, <strong>der</strong> Zar möge ihn zur Festigung<br />

seines Willens verzehren. »Erinnere Dich«, beschwor sie ihn, »daß sogar Monsieur<br />

Philippe (ein französischer Scharlatan und Hypnotiseur) gesagt hat, man dürfe keine<br />

Konstitution geben, denn das wäre Dein und Rußlands Untergang ... « »Sei Peter <strong>der</strong><br />

Große, Iwan <strong>der</strong> Schreckliche, Kaiser Paul - zerdrücke alles unter Dir!«<br />

Welch ekliges Gemisch aus Angst, Aberglauben und feindseliger Fremdheit gegen das<br />

Land! Es könnte allerdings scheinen, daß mindestens in den oberen Schichten die<br />

Zarenfamihe nicht gar so einsam war: Ist doch Rasputin stets von emem Gestirn<br />

vornehmer Damen umringt, und beherrscht doch das Schamanentum überhaupt die<br />

Aristokratie. Aber diese Mystik <strong>der</strong> Angst verbindet nicht, im Gegenteil, sie trennt. Je<strong>der</strong><br />

versucht, sich auf seine Art zu retten. Viele aristokratische Häuser haben ihre<br />

rivalisierenden Heiligen. Sogar auf den Petrogra<strong>der</strong> Gipfeln ist die Zarenfamihe, wie<br />

verpestet, von einer Quarantäne des Mißtrauens und <strong>der</strong> Feindschaft umgeben. Das<br />

Hoffräulein Wyrubowa schreibt in ihren Erinnerungen: »Ich ahnte tief und fühlte eine<br />

Feindseligkeit <strong>der</strong> ganzen Umgebung gegen die, die ich vergötterte, und ich fühlte, daß<br />

diese Feindseligkeit erschreckende Dimensionen annahm...«<br />

Auf purpurrotem Hintergrund des Krieges, unter vernehmbarem Getöse unterirdischer<br />

Stöße verzichteten die Privilegierten nicht eine Stunde auf die Freuden des Lebens, im<br />

Gegenteil, sie genossen sie wie im Rausch. Aber auf ihren Festgelagen erschien immer<br />

häufiger ein Skelett und drohte ihnen mit den Knöcheln seiner Finger. Dann wähnten sie,<br />

das ganze Unglück käme von dem abscheulichen Charakter <strong>der</strong> Alice, von <strong>der</strong> treubrüchigen<br />

Willenlosigkeit des Zaren, von <strong>der</strong> habgierigen Närrin Wyrubowa, vom sibiri-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 47


schen Christus mit den Schrammen auf dem Schädel. Wellen unerträglicher Ahnungen<br />

überliefen die herrschenden Klassen, krampfartige Zuckungen gingen von <strong>der</strong> Peripherie<br />

zum Zentrum, die verhaßte Spitze in Zarskoje Selo immer stärker isolierend. In ihren im<br />

allgemeinen äußerst verlogenen Erinnerungen hat die Wyrubowa recht kraß den<br />

Ausdruck für den Zustand dieser Spitze gefunden: »... zum hun<strong>der</strong>tsten Male fragte ich<br />

mich: was ist mit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Gesellschaft geschehen? Sind sie alle seelisch erkrankt<br />

o<strong>der</strong> von einer in Kriegszeiten wütenden Epidemie befallen? Es ist schwer, sich auszukennen,<br />

die Tatsache aber bleibt bestehen: alle waren in einem anormal erregten Zustande.«<br />

Zu denen, die die Besinnung verloren hatten, gehörte auch die umfangreiche Familie<br />

<strong>der</strong> Romanows, die ganze habgierige, schamlose, von allen gehaßte Meute <strong>der</strong> Großfürsten<br />

und Großfürstinnen. Auf den Tod erschrocken, trachteten sie, sich aus dem sie<br />

umkammernden Ring zu befreien, versuchten, sich bei <strong>der</strong> frondierenden Aristokratie<br />

einzuschmeicheln, klatschten über das Zarenpaar, hetzten einan<strong>der</strong> und ihre Umgebung<br />

auf Die allerdurchlauchtigsten Onkel wandten sich an den Zaren mit ermahnenden<br />

Briefen, in denen hinter Ehrfurcht das Zähneknirschen zu spüren war.<br />

Nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution charakterisierte Protopopow zwar ziemlich plump aber<br />

malerisch die Stimmung <strong>der</strong> obersten Schichten: »Selbst die höchsten Klassen frondierten<br />

vor <strong>der</strong> Revclution. In den Klubs und Salons <strong>der</strong> großen Welt übte man scharfe und<br />

mißgünstige Kritik an <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Regierung; man analysierte und begutachtete die<br />

Beziehungen, die sich in <strong>der</strong> Zarenfamilie herausgebildet hatten; verbreitete anekdotische<br />

Erzählungen über das Oberhaupt des Staates; schrieb Verse; viele Großfürsten<br />

besuchten offen solche Zusammenkünfte, und ihre Anwesenheit verlieh den karikaturenhaften<br />

Erfindungen und bösartigen Übertreibungen in den Augen des Publikums beson<strong>der</strong>e<br />

Zuverlässigkeit. Das Bewußtsein <strong>der</strong> Gefährlichkeit dieses Spieles erwachte bis zum<br />

letzten Augenblick nicht.«<br />

Beson<strong>der</strong>e Schärfe verlieh den Gerüchten über eine Palastkamarilla die Beschuldigung<br />

<strong>der</strong> Deutschfreundlichkeit und sogar <strong>der</strong> direkten Verbindung mit dem Feinde. Der<br />

vorlaute und nicht sehr gründliche Rodsjanko erklärt direkt: »Die Verbindung und die<br />

Analogie <strong>der</strong> Bestrebungen sind <strong>der</strong>art logisch klar, daß es mindestens für mich keine<br />

Zweifel geben kann an dem Zusammenwirken des deutschen Stabes und des Rasputinschen<br />

Kreises. Das unterliegt keinem Zweifel.« Der bloße Hinweis auf die »logische«<br />

Klarheit schwächt den kategorischen Ton dieses Zeugnisses sehr ab. Für die Verbindung<br />

<strong>der</strong> Rasputinleute mit dem deutschen Stab waren auch nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> keinerlei<br />

Beweise zu entdecken. An<strong>der</strong>s verhält es sich mit dem sogenannten<br />

"Germanophilentum". Es handelte sich natürlich nicht um nationale Sympathien o<strong>der</strong><br />

Antipathien <strong>der</strong> deutschstämmigen Zarin, des Premiers Stürmer, <strong>der</strong> Gräfin Kleinmichel,<br />

des Hofministers, Graf Fre<strong>der</strong>iks, und an<strong>der</strong>er Herren mit deutschen Namen. Die<br />

zynischen Memoiren <strong>der</strong> alten Intrigantin Kleinmichel zeigen mit bemerkenswerter<br />

Kraßheit, welch übernationaler Charakter die Spitzen <strong>der</strong> Aristokratie aller Län<strong>der</strong><br />

Europas auszeichnete, die miteinan<strong>der</strong> durch Bande <strong>der</strong> Verwandtschaft, Erbschaften,<br />

Verachtung gegen alles unter ihnen Stehende und, last but not least, durch kosmopolitische<br />

Libertinagen in alten Schlössern, fashionablen Bä<strong>der</strong>n und an europäischen Höfen<br />

verknüpft waren. Bedeutend realer waren die organischen Antipathien des Hofgesindels<br />

gegen die katzbuckelnden Advokaten <strong>der</strong> Französischen Republik und die Sympathien<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 48


<strong>der</strong> Reaktionäre teutonischen wie slawischen Namens für den echt preußischen Geist des<br />

Berliner Regimes, <strong>der</strong> ihnen so lange Zeit mit seinem gewichsten Schnurrbart, seinen<br />

Feldwebelmanieren und seiner selbstbewußten Dummheit imponiert hatte.<br />

Aber auch das war nicht für die Frage entscheidend. Die Gefahr ergab sich aus <strong>der</strong><br />

Logik <strong>der</strong> Situation selbst, denn <strong>der</strong> Hof konnte nichts an<strong>der</strong>es tun, als in einem Separatfrieden<br />

Rettung suchen, und zwar um so dringlicher, je bedrohlicher die Lage wurde. Der<br />

Liberalismus war, wie wir später noch sehen werden, in <strong>der</strong> Person seiner Führer<br />

bestrebt, die Chance des Separatfriedens für sich zu reservieren, in Verbindung mit <strong>der</strong><br />

Perspektive, an die Macht zu gelangen. Und gerade deshalb führte er eine wilde chauvinistische<br />

Agitation, das Volk betrügend und den Hof terrorisierend. Die Kamarilla wagte<br />

nicht, in einer so heiklen Frage vorzeitig ihr wahres Antlitz zu zeigen, und war sogar<br />

gezwungen, den allgemeinen patriotischen Ton nachzuahmen, während sie gleichzeitig<br />

den Boden für einen Separatfrieden abtastete.<br />

Das Oberhaupt <strong>der</strong> Polizei, General Kurlow, <strong>der</strong> zur Rasputinschen Kamarilla gehörte,<br />

bestreitet natürlich in seinen Erinnerungen die deutschen Verbindungen und Sympathien<br />

seiner Gönner, aber er fügt gleich hinzu: »Man kann Stürmer keinen Vorwurf daraus<br />

machen, daß er <strong>der</strong> Meinung war, <strong>der</strong> Krieg mit Deutschland sei das größte Unglück für<br />

Rußland gewesen und habe keine ernsten politischen Grundlagen für sich gehabt.« Man<br />

darf nur nicht vergessen, daß <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> diese interessante "Meinung" gehabt hat, das<br />

Oberhaupt einer Regierung war, die gegen Deutschland Krieg führte. Der letzte zaristische<br />

Innenminister, Protopopow, hatte am Vorabend seines Eintritts in die Regierung in<br />

Stockholm Verhandlungen mit einem deutschen Diplomaten geführt und darüber dem<br />

Zaren Bericht erstattet. Rasputin selbst hat nach den Worten desselben Kurlow »den<br />

Krieg mit Deutschland als ein großes Unglück für Rußland betrachtet«. Schließlich<br />

schrieb die Kaiserin am 5. April 1916 an den Zaren: »... sie dürfen es nicht wagen zu<br />

behaupten, daß Er irgend etwas Gemeinsames mit den Deutschen hat, Er ist gut und<br />

großherzig gegen alle, wie Christus, gleichviel zu welcher Religion ein Mensch gehört;<br />

so muß ein wahrer Christ sein.«<br />

Gewiß konnten sich an diesen wahren Christen, <strong>der</strong> aus dem Zustand <strong>der</strong> Betrunkenheit<br />

nie herauskam, neben Falschspielern, Wucherern und aristokratischen Kupplern<br />

auch ausgesprochene Spione herangemacht haben. "Verbindungen" solcher Art sind<br />

nicht ausgeschlossen. Die oppositionellen Patrioten aber stellten die Frage breiter und<br />

präziser: sie beschuldigten die Zarin direkt des Verrates. In seinen viel später geschriebenen<br />

Erinnerungen bekundet <strong>der</strong> General Denikin: »In <strong>der</strong> Armee sprach man laut, ohne<br />

Rücksicht auf Ort und Zeit, von <strong>der</strong> beharrlichen For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Zarin nach einem<br />

Separatfrieden, von ihrem Verrat an dem Feldmarschall Kitchener, über dessen Reise sie<br />

angeblich den Deutschen Mitteilung gemacht hätte, und so weiter. Dieser Umstand war<br />

von größter Bedeutung für die Stimmung in <strong>der</strong> Armee, in bezug auf <strong>der</strong>en Haltung<br />

gegenüber Dynastie und <strong>Revolution</strong>.« Der gleiche Denikin erzählt, daß General Alexejew<br />

nach <strong>der</strong> Umwälzung auf die direkte Frage betreffs des Verrates <strong>der</strong> Kaiserin<br />

»unbestimmt und unwillig« geantwortet habe, man hätte bei <strong>der</strong> Sichtung <strong>der</strong> Papiere <strong>der</strong><br />

Zarin eine Karte mit genauer Aufreichnung <strong>der</strong> Truppen <strong>der</strong> gesamten Front<br />

vorgefunden, und dies hätte auf ihn, Alexejew, einen sehr deprimierenden Eindruck<br />

gemacht ... »Nicht ein Wort mehr«, fügt Denikin vielsagend hinzu, »er wechselte das<br />

Gesprächsthema.« Ob die Zarin die geheimnisvolle Karte wirklich besessen hat, läßt sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 49


nicht feststellen, jedenfalls waren die unbeholfenen Generale offensichtlich nicht<br />

abgeneigt, einen Teil <strong>der</strong> Verantwortung für ihre Nie<strong>der</strong>lagen auf die Zarin abzuwälzen.<br />

Die Gerüchte über Verrat des Hofes schlichen durch die Armee zweifellos hauptsächlich<br />

von oben nach unten, von den schwachköpfigen Stäben aus.<br />

Wenn aber die Zarin, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Zar in allem unterwirft, an Wilhelm Kriegsgeheimnisse<br />

und sogar die Häupter <strong>der</strong> verbündeten Heeresführer verrät, was bleibt dann<br />

an<strong>der</strong>es als ein Strafgericht über das Zarenpaar? Und da an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> Großfürst<br />

Nikolai Nikolajewitsch als das Haupt <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> antideutschen Partei galt, war er<br />

gleichsam von Amts wegen für die Rolle des obersten Gönners <strong>der</strong> Palastrevolution<br />

vorbestimmt. Das war auch <strong>der</strong> Grund, weshalb <strong>der</strong> Zar auf Drängen Rasputins und <strong>der</strong><br />

Zarin den Großfürsten absetzte und das Oberkommando selbst in die Hand nahm. Aber<br />

die Zarin hatte sogar vor einer Zusammenkunft des Neffen mit dem Onkel bei Übergabe<br />

<strong>der</strong> Geschäfte Angst: »Seelchen, sei vorsichtig«, schreibt sie dem Zaren ins Hauptquartier,<br />

»laß Dich nicht von Nikolascha durch irgendwelche Versprechungen o<strong>der</strong> sonst was<br />

fangen, denk daran, daß Grigorij Dich vor ihm und seinen bösen Leuten gerettet hat ...<br />

erinnere Dich im Namen Rußlands, was sie vorhatten: Dich zu verjagen (das ist kein<br />

Klatsch, Orlow hatte schon alle Papiere fertig) und mich ins Kloster...«<br />

Der Bru<strong>der</strong> des Zaren, Michail, sagte zu Rodsjanko: »Die ganze Familie ist sich dessen<br />

bewußt, wie schädlich Alexandra Feodorowna ist. Den Bru<strong>der</strong> und sie umgeben<br />

ausschließlich Verräter. Alle anständigen Menschen haben sich entfernt. Aber was ist in<br />

diesem Falle zu tun?« Freilich, was war in diesem Falle zu tun?<br />

Die Großfürstin Maria Pawlowna bestand in Gegenwart ihrer Söhne darauf, daß<br />

Rodsjanko die Initiative <strong>der</strong> "Beseitigung" <strong>der</strong> Zarin auf sich nähme. Rodsjanko schlug<br />

vor, dies Gespräch als nicht stattgefunden zu betrachten, sonst müßte er aus Eidespflicht<br />

dem Zaren melden, daß die Großfürstin dem Dumavorsitzenden den Vorschlag gemacht<br />

habe, die Kaiserin zu beseitigen. So verwandelte <strong>der</strong> schlagfertige Kammerherr die ganze<br />

Frage nach <strong>der</strong> Ermordung <strong>der</strong> Zarin in einen netten Salonscherz.<br />

Das Ministerium selbst stand zeitweise in scharfer Opposition zum Zaren. Schon im<br />

Jahre 1915, an<strong>der</strong>thalb Jahre vor <strong>der</strong> Umwälzung, wurden bei den Regierungssitzungen<br />

Reden geführt, die noch heute unglaublich erscheinen. Der Kriegsminister Poliwanow<br />

sagt: »Die Situation retten kann nur eine <strong>der</strong> Gesellschaft gegenüber versöhnliche<br />

Politik. Die gegenwärtigen schwachen Dämme können die Katastrophe nicht<br />

abwenden.« Der Marineminister Grigorowitsch: »Es ist kein Geheimnis, daß die Armee<br />

uns mißtraut und auf eine Än<strong>der</strong>ung wartet.« Der Minister des Auswärtigen, Sasonow:<br />

»Die Popularität des Zaren und seine Autorität in den Augen <strong>der</strong> Volksmassen ist stark<br />

erschüttert.« Der Minister des Inneren, Fürst Schtscherbatow: »Wir sind alle zusammen<br />

ungeeignet, Rußland in dieser sich herausbildenden Situation zu verwalten ... Es ist<br />

entwe<strong>der</strong> eine Diktatur o<strong>der</strong> eine versöhnliche Politik notwendig« (Sitzung vom 21.<br />

August 1915). Schon konnte we<strong>der</strong> das eine noch das an<strong>der</strong>e helfen, we<strong>der</strong> das eine noch<br />

das an<strong>der</strong>e war durchführbar. Der Zar entschloß sich nicht zu einer Diktatur, lehnte eine<br />

versöhnliche Politik ab und nahm die Demission <strong>der</strong> Minister, die sich als ungeeignet<br />

bezeichneten, nicht an. Ein höherer Beamter gibt in seinen Aufzeichnungen zu den<br />

Reden <strong>der</strong> Minister folgenden kurzen Kommentar: Man wird wohl an <strong>der</strong> Laterne hängen<br />

müssen.<br />

Bei einer solchen Stimmung ist es nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß man sogar in den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 50


ürokratischen Kreisen von <strong>der</strong> Notwendigkeit einer Palastrevolution sprach, als dem<br />

einzigen Mittel, <strong>der</strong> heraufziehenden <strong>Revolution</strong> vorzubeugen. »Hätte ich die Augen<br />

verbunden gehabt«, erinnert sich ein Teilnehmer dieser Debatten, »ich hätte glauben<br />

können, mich in Gesellschaft eingefleischter <strong>Revolution</strong>äre zu befinden.«<br />

Ein Gendarmerieoberst, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Aufgabe betraut war, im Süden<br />

Rußlands die Armee zu inspizieren, entwarf in seinem Bericht ein düsteres Bild: Durch<br />

Propaganda, insbeson<strong>der</strong>e mit dem Argument <strong>der</strong> Deutschfreundlichkeit <strong>der</strong> Kaiserin und<br />

des Zaren, sei die Armee für eine Palastrevolution vorbereitet. »Derartige Gespräche<br />

wurden in Offizierskasinos offen geführt und fanden seitens des höheren Kommandos<br />

keine Zurückweisung.« Protopopow gibt seinerseits folgendes Zeugnis ab: »Eine<br />

beträchtliche Anzahl von Personen aus dem höheren Kommandobestand sympathisierte<br />

mit <strong>der</strong> Umwälzung; einzelne Personen standen in Verbindung und unter Einfluß des<br />

sogenannten progressiven Blocks.«<br />

Der später zur Berühmtheit gelangte Admiral Koltschak sagte nach Zertrümmerung<br />

seiner Truppen durch die Rote Armee vor <strong>der</strong> Untersuchungskommision <strong>der</strong> Sowjets aus,<br />

daß er mit zahlreichen oppositionellen Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Duma in Verbindung gestanden<br />

und <strong>der</strong>en Hervortreten begrüßt habe, da er sich »gegen die Macht, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

existierte, ablehnend verhielt«. In die Pläne <strong>der</strong> Palastrevolution war Koltschak<br />

jedoch nicht eingeweiht.<br />

Nach <strong>der</strong> Ermordung Rasputins und den in Verbindung damit erfolgten Ausweisungen<br />

von Großfürsten begann die vornehme Gesellschaft beson<strong>der</strong>s laut von <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> Palastrevolution zu sprechen. Fürst Jussupow erzählt, zu dem im Palaste inhaftierten<br />

Großfürsten Dmitrij seien Offiziere einiger Regimenter gekommen und hätten ihm<br />

verschiedene Pläne für eine entscheidende Aktion unterbreitet, »auf die er natürlich nicht<br />

eingehen konnte«.<br />

Auch die verbündete Diplomatie galt als an <strong>der</strong> Verschwörung beteiligt, zumindest in<br />

<strong>der</strong> Person des britischen Botschafters. Dieser unternahm, zweifellos auf Initiative <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong> Liberalen, im Januar 1917, nachdem er sich <strong>der</strong> Sanktion seiner Regierung<br />

versichert hatte, den Versuch, Nikolaus zu beeinflussen. Der Zar hörte ihn aufmerksam<br />

und höflich an, dankte ihm und - begann von an<strong>der</strong>en Dingen zu sprechen. Protopopow<br />

unterrichtete Nikolaus über die Beziehungen Buchanans zu den Hauptführern des<br />

progressiven Blocks und schlug vor, die Uberwachung <strong>der</strong> englischen Botschaft einzurichten.<br />

Nikolaus soll diesen Vorschlag nicht gebilligt haben mit <strong>der</strong> Begründung, die<br />

Überwachung eines Botschafters sei »den internationalen Traditionen wi<strong>der</strong>sprechend«.<br />

Indessen berichtet Kurlow ohne Umschweife, daß »die polizeilichen Überwachungsorgane<br />

täglich Verbindungen zwischen <strong>der</strong> Kadettenpartei Miljukows und <strong>der</strong> englischen<br />

Botschaft registrierten«. Die internationalen Traditionen haben also nichts verhin<strong>der</strong>t.<br />

Aber auch <strong>der</strong>en Verletzung hat nicht viel geholfen: die Palastverschwörung wurde<br />

dennoch nicht aufgedeckt.<br />

Hat sie in <strong>der</strong> Tat existiert? Das ist durch nichts bewiesen. Sie war zu ausgedehnt, diese<br />

"Verschwörung", erfaßte zu zahlreiche und allzu verschiedenartige Kreise, um eine<br />

Verschwörung zu sein. Sie hing in <strong>der</strong> Luft als Stimmung <strong>der</strong> Spitzen <strong>der</strong> Petersburger<br />

Gesellschaft, als wirre Vorstellung einer Rettung, als Losung <strong>der</strong> Verzweiflung. Aber sie<br />

verdichtete sich nicht bis zu einem praktischen Plan.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 51


Der höhere Adel hatte im achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t nicht nur einmal praktische Korrekturen<br />

an <strong>der</strong> Thronfolge vorgenommen, indem er unbequeme Kaiser hinter Schloß und<br />

Riegel setzte o<strong>der</strong> erdrosselte: zuletzt wurde eine solche Operation im Jahre 1801 an Paul<br />

vorgenommen. Man kann folglich nicht sagen, daß eine Palastrevolution <strong>der</strong> Tradition<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Monarchie wi<strong>der</strong>sprochen hätte: Im Gegenteil, sie bildete ein unentbehrliches<br />

Element dieser Tradition. Doch die Aristokratie fühlte sich schon längst nicht mehr<br />

sicher im Sattel. Die Ehre, den Zaren und die Zarin zu erdrosseln, trat sie an die liberale<br />

Bourgeoisie ab. Deren Führer aber bewiesen nicht viel größere Entschlossenheit.<br />

Nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hat man wie<strong>der</strong>holt auf die liberalen Kapitalisten Gutschkow und<br />

Tereschtschenko und auf den ihnen nahestehenden General Krymow verwiesen, als auf<br />

den Herd <strong>der</strong> Verschwörung. Gutschkow und Tereschtschenko haben das selbst bestätigt,<br />

wenn auch unbestimmt. Der ehemalige Freiwillige <strong>der</strong> Burenarmee gegen England,<br />

Duellant Gutschkow, <strong>der</strong> Liberale mit den Sporen, mußte <strong>der</strong> "öffentlichen Meinung" als<br />

die für eine Verschwörung geeignetste Person erscheinen. Beileibe doch nicht <strong>der</strong><br />

wortreiche Professor Miljukow! Gutschkow kehrte zweifellos in Gedanken wie<strong>der</strong>holt zu<br />

einem guten und kurzen Schlag zurück, bei dem ein Gar<strong>der</strong>egiment die <strong>Revolution</strong><br />

ersetzt und ihr vorbeugt. Schon Witte hatte in seinen "Erinnerungen" Gutschkow, den er<br />

haßte, als einen Anhänger <strong>der</strong> jungtürkischen Methoden zur Erledigung eines unbequemen<br />

Sultans denunziert. Aber Gutschkow, <strong>der</strong> auch in seinen jungen Jahren jungtürkischen<br />

Mut zu beweisen versäumt hatte, war inzwischen stark gealtert. Und was die<br />

Hauptsache ist: Der Gesinnungsgenosse Stolypins konnte den Unterschied zwischen den<br />

<strong>russischen</strong> Verhältnissen und den alttürkischen unmöglich übersehen und mußte sich<br />

fragen, ob ein Palastumsturz, statt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorzubeugen, nicht zu jenem letzten<br />

Stoß werden könnte, <strong>der</strong> die Lawine ins Rollen bringt, und ob das Heilmittel sich nicht<br />

ver<strong>der</strong>benbringen<strong>der</strong> erweisen würde als die Krankheit selbst?<br />

In <strong>der</strong> Literatur, die <strong>der</strong> Februarrevolution gewidmet ist, wird von <strong>der</strong> Vorbereitung des<br />

Palastumsturzes wie von einer feststehenden Tatsache gesprochen. Miljukow äußert sich<br />

folgen<strong>der</strong>maßen: »Im Februar sollte es schon zu seiner Verwirklichung kommen.«<br />

Denikin verlegt die Verwirklichung auf den März. Beide erwähnen den "Plan", den<br />

Zarenzug unterwegs anzuhalten, die Thronentsagung zu for<strong>der</strong>n und im Falle einer<br />

Weigerung, die man für unvermeidlich hielt, die »physische Beseitigung« des Zaren<br />

vorzunehmen. Miljukow fügt ergänzend hinzu, daß die Führer des progressiven Blocks,<br />

die an <strong>der</strong> Verschwörung unbeteiligt und über <strong>der</strong>en Vorbereitungen nicht »genau«<br />

informiert gewesen wären, in Voraussicht eines wahrscheinlichen Umsturzes im engeren<br />

Kreise darüber diskutiert hätten, wie die Umwälzung im Falle eines Erfolges am besten<br />

auszunutzen wäre. Einige marxistischc Untersuchungen <strong>der</strong> letzten Jahre nehmen<br />

ebenfalls die Version von <strong>der</strong> praktischen Vorbereitung einer Umwälzung gutgläubig<br />

hin. An diesem Beispiel kann man, nebenbei bemerkt, beobachten, wie leicht und fest<br />

Legenden sich einen Platz in <strong>der</strong> historischen Wissenschaft erobern.<br />

Als wichtigster Beweis für die Verschwörung wird nicht selten die farbige Erzählung<br />

Rodsjankos angeführt, die aber gerade ein Beweis dafür ist, daß es keine Verschwörung<br />

gegeben hat. Im Januar 1917 kam General Krymow von <strong>der</strong> Front in die Hauptstadt und<br />

klagte Dumamitglie<strong>der</strong>n gegenüber, daß es so nicht weitergehen könne. »Falls ihr euch<br />

zu diesem äußersten Mittel (einem Zarenwechsel) entschließt, werden wir euch unterstützen.«<br />

Falls ihr euch entschließt!... Der Oktobrist Schidlowski rief wütend aus: »Man<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 52


kann ihn nicht schonen und bemitleiden, wenn er Rußland zugrunde richtet.« Im lärmenden<br />

Streit wurden die tatsächlichen o<strong>der</strong> vermeintlichen Worte Brussilows angeführt:<br />

»Falls man gezwungen sein sollte, zwischen dem Zaren und Rußland zu wählen - gehe<br />

ich mit Rußland.« Falls man gezwungen sein sollte! Der junge Millionär<br />

Tereschtschenko trat als unbeugsamer Zarenmör<strong>der</strong> auf Der Kadett Schingarew sagte:<br />

»Der General hat recht. Ein Umsturz ist notwendig ... Wer aber wird sich dazu entschließen?«<br />

Darum handelt es sich eben: Wer wird sich dazu entschließen? Das ist <strong>der</strong> Kern<br />

<strong>der</strong> Angaben Rodsjankos, <strong>der</strong> selbst gegen den Umsturz aufgetreten war. Während <strong>der</strong><br />

wenigen weiteren Wochen ist <strong>der</strong> Plan offenbar nicht fortgeschritten. Davon, den Zarenzug<br />

aufzuhalten, wurde gesprochen; es ist aber nicht zu entdecken, wer die Operation<br />

durchführen sollte.<br />

Der russische Liberalismus unterstützte, als er noch jünger war, durch Geld und<br />

Sympathien die Terroristen in <strong>der</strong> Hoffnung, sie würden mit ihren Bomben die Monarchie<br />

in die Arme des Liberalismus treiben. Den eigenen Kopf zu riskieren war keiner<br />

dieser würdigen Herren gewohnt. Die Hauptrolle jedoch spielte nicht so sehr persönliche<br />

wie Klassenangst: Jetzt ist es schlimm - erwogen sie -, daß es aber nur nicht schlimmer<br />

werde! Jedenfalls, wenn Gutschkow-Tereschtschenko-Kryrnow ernstlich an einen<br />

Umsturz gedacht, das heißt für seine praktische Vorbereitung Kräfte und Mittel mobilisiert<br />

haben würden, so wäre dies nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> jedenfalls mit voller Bestimmtheit<br />

und Genauigkeit festzustellen gewesen, denn die Teilnehmer, beson<strong>der</strong>s die jungen<br />

Exekutoren, <strong>der</strong>en nicht wenig gebraucht worden wären, hätten keine Veranlassung<br />

gehabt, die »beinah« vollbrachte Heldentat zu verschweigen: Nach dem Februar hätte sie<br />

ihre Karriere nur gesichert. Solche Enthüllungen aber hat es nicht gegeben. Es kann<br />

keinem Zweifel unterliegen, daß es sich für Gutschkow und Krymow um nichts an<strong>der</strong>es<br />

gehandelt hat als um patriotische Stoßseufzer bei Wein und Zigarren. Die leichtsinnigen<br />

Frondeure <strong>der</strong> Aristokratie wie die schwerfälligen Oppositionellen <strong>der</strong> Plutokratie brachten<br />

den Mut nicht auf, den Gang <strong>der</strong> ungünstigen Vorsehung durch eine Tat zu korrigieren.<br />

Einer <strong>der</strong> phrasenhaftesten und hohlsten Liberalen, Maklakow, wird im Mai 1917 in<br />

einer Privatberatung <strong>der</strong> Duma, die - zusammen mit <strong>der</strong> Monarchie - von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

beiseite geschoben ist, rufen: »Wenn unsere Nachkommen diese <strong>Revolution</strong> verfluchen<br />

werden, so werden sie auch uns verfluchen, die wir es nicht verstanden haben, ihr rechtzeitig<br />

durch eine Umwälzung von oben zuvorzukommen!« Noch später, bereits in <strong>der</strong><br />

Emigration, wird, nach Maklakow, auch Kerenski wehklagen: »Ja, das privilegierte<br />

Rußland hat es versäumt, durch einen rechtzeitigen Coup d'Etat von oben (von dem man<br />

so viel gesprochen und auf den man sich so viel [?] vorbereitet hatte) die elementare<br />

Staatsexplosion abzuwenden.«<br />

Diese zwei Ausrufe vollenden das Bild, indem sie zeigen, daß die studierten Flachköpfe<br />

auch dann noch, als die <strong>Revolution</strong> alle ihre unbändigen Kräfte entfesselt hatte, zu<br />

glauben fortführen, ein »rechtzeitiger« Wechsel <strong>der</strong> dynastischen Spitze hätte die<br />

<strong>Revolution</strong> abzuwenden vermocht!<br />

Für den "großen" Palastumsturz hatte die Entschlossenheit nicht ausgereicht. Aber aus<br />

ihm erwuchs <strong>der</strong> Plan des kleinen Umsturzes. Die liberalen Verschwörer wagten nicht,<br />

den Hauptakteur <strong>der</strong> Monarchie zu beseitigen; die Großfürsten beschlossen deshalb,<br />

seinen Souffleur wegzuräumen: in <strong>der</strong> Ermordung Rasputins erblickten sie das letzte<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 53


Mittel zur Rettung <strong>der</strong> Dynastie.<br />

Der mit einer Romanow vermählte Fürst Jussupow zog den Großfürsten Dmitrij<br />

Pawlowitsch und den monarchistischen Deputierten Purischkewitsch zu <strong>der</strong> Aktion<br />

hinzu. Man bemühte sich, auch den Liberalen Maklakow einzubeziehen, wohl um dem<br />

Morde einen "allnationalen" Anstrich zu geben. Der berühmte Advokat wich wohlweislich<br />

aus, versah jedoch die Verschwörer mit Gift. Ein höchst stilvolles Detail! Nicht ohne<br />

Grund rechneten die Verschwörer damit, daß das Romanowsche Automobil nach dem<br />

Morde die Wegschaffung <strong>der</strong> Leiche erleichtern würde: das großfürstliche Wappen fand<br />

Verwendung. Das Weitere spielte sich im Plane einer auf schlechten Geschmack berechneten<br />

kinematographischen Inszenierung ab. In <strong>der</strong> Nacht vom 16. zum 17. Dezember<br />

wurde Rasputin, den man zu einem Trinkgelage verlockt hatte, in <strong>der</strong> Jussupowschen<br />

Villa ermordet.<br />

Außer <strong>der</strong> engeren Kamarilla und den mystischen Anbeterinnen nahmen die regierenden<br />

Klassen die Ermordung Rasputins wie einen Rettungsakt auf. Den mit Hausarrest<br />

bedachten Großfürsten, dessen Hände, nach dem Ausdruck des Zaren, von Bauernblut -<br />

wenn auch ein Christus, so doch ein Bauer! - besuddt waren, besuchten mit dem<br />

Ausdruck <strong>der</strong> Sympathie alle Mitglie<strong>der</strong> des Kaiserlichen Hauses, die sich in Petersburg<br />

aufhielten. Der Zarin leibliche Schwester, die verwitwete Großfürstin Sergius, teilte<br />

telegraphisch mit, daß sie für die Mör<strong>der</strong> bete und sie für ihre patriotische Tat segne.<br />

Solange kein Verbot bestand, Rasputin zu erwähnen, veröffentlichten die Zeitungen<br />

begeisterte Artikel. In den Theatern versuchte man Demonstration zu Ehren <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong><br />

zu veranstalten. In den Straßen gratulierten Passanten einan<strong>der</strong>. »In Privathäusern,<br />

Offiziersklubs, in Restaurants«, schreibt Fürst Jussupow, »trank man auf unsere Gesundheit;<br />

aus den Betrieben schrien uns die Arbeiter "hurra!" zu.« Es ist allerdings anzunehmen,<br />

daß die Arbeiter nicht getrauert haben, als sie von <strong>der</strong> Ermordung Rasputins<br />

erfuhren. Ihre "Hurra"-Rufe aber hatten mit den Hoffnungen auf eine Wie<strong>der</strong>belebung<br />

<strong>der</strong> Dynastie nichts zu tun.<br />

Die Rasputinsche Kamarilla verstummte abwartend. Vor aller Welt geheim, setzten Zar<br />

und Zarin, die Zarentöchter und Wyrubowa Rasputin bei; neben <strong>der</strong> Leiche des heiligen<br />

Freundes, des von Großfürsten ermordeten ehemaligen Pferdediebcs, mußte die Zarenfamilie<br />

sich selbst wie verstoßen fühlen. Aber auch <strong>der</strong> begrabene Rasputin fand keine<br />

Ruhe. Als Nikolaus und Alexandra Romanow schon als Gefangene galten, warfen Soldaten<br />

von Zarskoje Selo sein Grab auf und öffneten den Sarg. Neben dem Kopfe des<br />

Ermordeten lag ein Heiligenbild mit <strong>der</strong> Aufschrift: Alexandra, Olga, Tatjana, Maria,<br />

Anastasia, Anja. Die Provisorische Regierung schickte einen Bevollmächtigten, um die<br />

Leiche aus irgendeinem Grunde nach Petrograd schaffen zu lassen. Die Menge wi<strong>der</strong>setzte<br />

sich, und <strong>der</strong> Bevollmächtigte mußte die Leiche an Ort und Stelle verbrennen.<br />

Nach <strong>der</strong> Ermordung des "Freundes" bestand die Monarchie insgesamt noch zehn<br />

Wochen. Diese kurze Frist aber gehörte ihr. Rasputin war nicht mehr, doch sein Schatten<br />

herrschte weiter. Allen Erwartungen <strong>der</strong> Verschwörer zum Trotz, begann das Zarenpaar<br />

nach <strong>der</strong> Ermordung mit verstärkter Kraft die verächtlichsten Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rasputinschen<br />

Bande auszuzeichnen. Um Rasputin zu rächen, wurde ein berüchtigter Lump zum<br />

Justizminister ernannt. Einige Großfürsten verbannte man aus <strong>der</strong> Hauptstadt. Man<br />

erzählte, Protopopow betreibe Spiritismus, um den Geist Rasputins herbeizurufen. Die<br />

Schlinge <strong>der</strong> Ausweglosigkeit zog sich noch enger zusammen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 54


Die Ermordung Rasputins hatte große Folgen, aber ganz an<strong>der</strong>e als die, mit denen ihre<br />

Teilnehmer und Inspiratoren gerechnet hatten. Sie hatte die Krise nicht gemil<strong>der</strong>t,<br />

son<strong>der</strong>n zugespitzt. Von <strong>der</strong> Ermordung sprach man überall: in den Schlössern, in den<br />

Stäben, in den Betrieben und in den Bauernhütten. Die Schlußfolgerung drängte sich von<br />

selbst auf: sogar die Grossfürsten haben gegen die aussätzige Kamarilla keine an<strong>der</strong>en<br />

Mittel als Gift und Revolver. Der Dichter Alexan<strong>der</strong> Block schrieb über die Ermordung<br />

Rasputins: »Die Kugel, die mit ihm Schluß machte, traf die herrschende Dynastie mitten<br />

ins Herz.«<br />

Schon Robespierre erinnerte die Gesetzgebende Versammlung daran, daß die Opposition<br />

des Adels, indem sie die Monarchie geschwächt, die Bourgeoisie und hinterher auch<br />

die Volksmassen in Schwung gebracht hatte. Robespierre warnte gleichzeitig, daß die<br />

<strong>Revolution</strong> im übrigen Europa sich nicht so schnell entwickeln werde wie in Frankreich,<br />

weil die privilegierten Klassen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>, durch das französische Beispiel<br />

belehrt, die Initiative <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht auf sich nehmen würden. Indem er diese<br />

bemerkenswerte Analyse gab, hatte sich Robespierre jedoch mit seiner Vermutung<br />

getäuscht, daß <strong>der</strong> französische Adel durch seine oppositionelle Verirrung dem Adel <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong> ein für allemal eine Lektion erteilt habe, Rußland hat im Jahre 1905 und<br />

beson<strong>der</strong>s im Jahre 1917 erneut bewiesen, daß eine gegen Selbstherrschertum und halbe<br />

Leibeigenschaft, mithin gegen den Adel gerichtete <strong>Revolution</strong> bei ihren ersten Schritten<br />

eine systemlose, wi<strong>der</strong>spruchsvolle, aber immerhin äußerst wirksame För<strong>der</strong>ung findet,<br />

nicht nur seitens des Durchschnittsadels, son<strong>der</strong>n auch seiner privilegierten Spitzen,<br />

sogar einschließlich <strong>der</strong> Angehörigen <strong>der</strong> Dynastie. Diese bemerkenswerte historische<br />

Tatsache könnte als Gegensatz zu <strong>der</strong> Klassentheorie <strong>der</strong> Gesellschaft erscheinen, in<br />

Wirklichkeit jedoch wi<strong>der</strong>spricht sie nur <strong>der</strong>en vulgärer Auffassung.<br />

Eine <strong>Revolution</strong> bricht aus, wenn alle Antagonismen <strong>der</strong> Gesellschaft die höchste<br />

Spannung erreicht haben. Das aber gerade macht die Situation sogar für die Klassen <strong>der</strong><br />

alten Gesellschaft, das heißt für jene, die dem Untergange geweiht sind, unerträglich.<br />

Ohne den biologischen Analogien mehr Gewicht beizumessen, als sie es verdienen, ist es<br />

dennoch angebracht, daran zu erinnern, daß <strong>der</strong> Akt <strong>der</strong> Geburt in einem gewissen<br />

Augenblick in gleicher Weise für den Organismus <strong>der</strong> Mutter wie für den <strong>der</strong> Frucht<br />

unabwendbar wird. In <strong>der</strong> Opposition <strong>der</strong> privilegierten Klassen äußert sich die Unvereinbarkeit<br />

ihrer traditionellen gesellschaftlichen Lage mit den Bedürfnissen für das<br />

Weiterbestehen <strong>der</strong> Gesellichaft. Der regierenden Bürokratie beginnt alles aus den<br />

Händen zu gleiten. Die Aristokratie, die sich im Mittelpunkt des allgemeinen Hasses<br />

fühlt, schiebt die Schuld auf die Bürokratie. Diese beschuldigt die Aristokratie, und dann<br />

richten sie gemeinsam o<strong>der</strong> getrennt ihre Unzufriedenheit gegen die monarchische<br />

Krönung ihrer Macht.<br />

Der aus dem Dienste in Adelskörperschaften für einige Zeit als Minister herbeigerufene<br />

Fürst Schtscherbatow sagte: »Sowohl Samarin wie ich sind ehemalige Gouvernement-Adelsmarschälle.<br />

Niemand hat uns bisher als Linke betrachtet, und auch wir<br />

betrachten uns nicht als solche. Aber beide können wir eine Lage im Staate nicht<br />

begreifen, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Monarch und seine Regierung sich mit <strong>der</strong> gesamten vernünftigen<br />

Öffentlichkeit (von den revolutionären Intrigen lohnt sich nicht zu sprechen) - mit<br />

den Adligen, den Kaufleuten, den Städten, den Semstwos, sogar mit <strong>der</strong> Armee - in<br />

radikalem Wi<strong>der</strong>spruch befinden. Wenn man mit unserer Meinung oben nicht rechnen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 55


will, ist es unsere Pflicht, abzutreten.«<br />

Der Adel sieht die Ursache allen Übels darin, daß die Monarchie blind geworden ist<br />

o<strong>der</strong> die Vernunft verloren hat. Der privilegierte Stand glaubt nicht, daß es überhaupt<br />

keine Politik mehr geben kann, die die alte Gesellschaft mit <strong>der</strong> ncucn versöhnt; mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten, <strong>der</strong> Adel kann sich mit seinem Geschick nicht abfinden und verwandelt<br />

seine Todesangst in eine Opposition gegen die heiligste Kraft des alten Regimes, das<br />

heißt gegen die Monarchie. Die Schärfe und das Unverantwortliche <strong>der</strong> aristokratischen<br />

Opposition erklären sich aus <strong>der</strong> historischen Verzärtelung <strong>der</strong> Spitzen des Adels und aus<br />

ihrer unerträglichen Furcht vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>; das Systemlose und Wi<strong>der</strong>spruchsvolle<br />

<strong>der</strong> adeligen Fronde damit, daß es die Opposition einer Klasse ist, die keinen Ausweg<br />

mehr hat. Aber wie eine Petroleum-lampe vor dem Erlöschen grell aufleuchtet, wenn<br />

auch schwelend, so erlebt auch <strong>der</strong> Adel vor dem Erlöschen ein oppositionelles Aufflakkern,<br />

das seinen Todfeinden den größten Dienst erweist. Das ist die Dialektik dieses<br />

Prozesses, die sich nicht nur mit <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Klassengesellschaft verträgt, son<strong>der</strong>n<br />

nur von dieser Theorie erklärt werden kann.<br />

Die Agonie <strong>der</strong> Monarchie<br />

Die Dynastie fiel bei <strong>der</strong> Erschütterung wie eine faule Frucht, noch bevor die <strong>Revolution</strong><br />

Zeit gehabt hatte, an die Lösung ihrer nächsten Aufgaben heranzugehen. Das Bild<br />

<strong>der</strong> alten regierenden Klasse würde unvollendet bleiben, versuchten wir nicht zu zeigen,<br />

wie die Monarchie <strong>der</strong> Stunde ihres Sturzes begegnete.<br />

Der Zar weilte im Hauptquartier, in Mohilew, wohin er sich zu begeben pflegte, nicht<br />

weil man seiner dort bedurfte, son<strong>der</strong>n um sich den Petrogra<strong>der</strong> Behehigungen zu entziehen.<br />

Der Hofhistoriker, General Dubenski, <strong>der</strong> sich beim Zaren im Hauptquartier befand,<br />

trug in sein Tagebuch ein: »Ein stilles Leben hat hier begonnen. Alles wird beim alten<br />

bleiben. Von ihm (dem Zaren) wird nichts kommen. Es können nur zufällige äußere<br />

Ursachen sein, die eine Verän<strong>der</strong>ung erzwingen.« Am 24. schrieb die Zarin ins Hauptquartier<br />

wie stets auf Englisch: »Ich hoffe, daß man den Duma-Kedrinski (es handelt sich<br />

um Kerenski) aufhängen wird für seine schrecklichen Reden - das ist unbedingt notwendig.<br />

(Gesetz <strong>der</strong> Kriegszeit.) Und das wird ein Beispiel sein. Alle ersehnen und flehen<br />

Dich an, daß Du Deine Festigkeit zeigest.« Am 25. Februar traf ein Telegramm des<br />

Kriegsministers ein, daß in <strong>der</strong> Hauptstadt Streiks und Arbeiterunruhen ausgebrechen,<br />

aber entsprechende Maßnahmen - getroffen seien; Ernstes wäre nicht zu befürchten. Mit<br />

einem Wort: Wie<strong>der</strong> einmal!<br />

Die Zarin, die den Zaren stets lehrte, nicht nachzugehen, bemüht sich auch jetzt festzubleiben.<br />

Am 26. telegraphiert sie in offenkundiger Absicht, Nikolaus' schwankenden Mut<br />

zu stärken: »In <strong>der</strong> Stadt herrscht Ruhe.« Aber im Abendtelegramm ist sie schon<br />

gezwungen, einzugestehen: »In <strong>der</strong> Stadt sieht es gar nicht gut aus.« Im Briefe schreibt<br />

sie: »Man muß den Arbeitern offen sagen, daß sie keine Streiks machen sollen, wenn sie<br />

es aber tun werden, dann muß man sie zur Strafe an die Front schicken. Es sind gar<br />

keine Schießereien nötig, man braucht nur Ordnung und darf die Arbeiter nicht über die<br />

Brücken lassen.« Wahrhaftig, man braucht nicht viel: nur Ordnung! Und vor allem, die<br />

Arbeiter nicht ins Zentrum lassen, mögen sie in wüten<strong>der</strong> Ohnmacht in ihren Stadtvierteln<br />

ersticken.<br />

Am Morgen des 27. Februar rückte <strong>der</strong> General Iwanow mit einem Bataillon Georgier<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 56


von <strong>der</strong> Front zur Hanptstadt ab; er war mit diktatorischen Vollmachten versehen, die er<br />

allerdings erst nach Besetzung von Zarskoje Selo bekanntgeben sollte. »Man kann sich<br />

kaum eine ungeeignetere Person vorstellen«, schreibt in seinen Erinnerungen General<br />

Denikin, <strong>der</strong> sich späterhin selbst in militärischer Diktatur betätigte, »ein altersschwacher<br />

Mann, <strong>der</strong> sich in einer politischen Situation kaum auskannte und we<strong>der</strong> Kräfte,<br />

noch Energie, noch Willen, noch Strenge besaß.« Die Wahl war auf Iwanow gefallen, in<br />

Erinnerung an die erste <strong>Revolution</strong>: elf Jahre vorher hatte er Kronstadt "gebändigt".<br />

Diese Jahre waren aber nicht spurlos vergangen: die Bändiger waren gebrechlich geworden,<br />

die Gebändigten erwachsen. Der Nord- und <strong>der</strong> Westfront wurde befohlen, Truppen<br />

zum Abmarsch nach Petrograd bereit zu halten. Es ist klar, man meinte, vor<strong>der</strong>hand sei<br />

noch Zeit genug. Iwanow selbst glaubte, alles werde schnell und gut enden, er hatte sogar<br />

nicht vergessen, seinen Adjutanten zu beauftragen, in Mohilew Lebensmittel für die<br />

Petrogra<strong>der</strong> Bekannten einzukaufen.<br />

Am 27. Februar, morgens, schickte Rodsjanko dem Zaren ein neues Telegramm, das<br />

mit den Worten schloß: »Die letzte Stunde ist gekommen, in <strong>der</strong> sich das Schicksal des<br />

Vaterlandes und <strong>der</strong> Dynastie entscheidet.« Der Zar sagte zu seinem Hofminister Fre<strong>der</strong>iks:<br />

»Schon wie<strong>der</strong> schreibt mir dieser dicke Rodsjanko allerhand Unsinn, auf den ich<br />

ihm nicht einmal antworten werde.« Doch nein, es ist kein Unsinn! Und man wird<br />

antworten müssen.<br />

Gegen Mittag des 27. trifft im Hauptquartier ein Bericht von Chabalow ein über<br />

Meutereien in den Pawlowski-, Wolynski-, Litowski- und Preobraschenski-Regimentern.<br />

Der Bericht ersucht um zuverlässige Truppen von <strong>der</strong> Front. Eine Stunde später kommt<br />

ein Beruhigungstelegramm vom Kriegsminister: »Die am Morgen entstandenen Unruhen<br />

werden von den ihrer Pflicht treugebliebenen Kompanien und Bataillonen energisch<br />

unterdrückt... Bin von baldigem Eintritt <strong>der</strong> Ruhe fest überzeugt...« Nach 7 Uhr jedoch<br />

berichtet Belajew bereits: »Mit den wenigen ihrer Pflicht treugebliebenen Abteilungen<br />

die Meuterei <strong>der</strong> Truppen zu unterdrücken, gelingt nicht.« Er bittet um eiligen Abtransport<br />

wirklich zuverlässiger Truppenteile, und zwar in ausreichen<strong>der</strong> Stärke »für gleichzeitiges<br />

Vorgehen in verschiedenen Stadtteilen.«<br />

Der Ministerrat hielt an diesem Tage die Zeit für gekommen, aus eigener Machtvollkommenheit<br />

die vermeintliche Ursache alles Unheils aus seiner Mitte hinauszudrängen:<br />

den halb irrsinnigen Minister des Innern, Protopopow. Gleichzeitig setzte General<br />

Chabalow das geheim von <strong>der</strong> Regierung vorbereitete Dekret in Kraft, wonach auf Allerhöchsten<br />

Befehl über Petrograd <strong>der</strong> Belagerungszustand verhängt sei. Auf diese Weise<br />

wurde auch hier <strong>der</strong> Versuch unternommen, das Heiße mit dem Kalten zu kombinieren,<br />

ein wohl kaum vorbedachter, jedenfalls aber aussichtsloser Versuch. Es gelang nicht<br />

einmal, die Plakate mit <strong>der</strong> Proklamierung des Belagerungszustandes in <strong>der</strong> Stadt<br />

anzukleben: <strong>der</strong> Stadthauptmann Balk besaß we<strong>der</strong> Kleister noch Pinsel. Diese Behörden<br />

konnten überhaupt nichts mehr zusammenkleistern, denn sie gehörten bereits dem Reiche<br />

<strong>der</strong> Schatten an.<br />

Der Hauptschatten des letzten zaristischen Ministeriums war <strong>der</strong> siebzigjährige Fürst<br />

Golizyn, <strong>der</strong> früher irgendwelche wohltätigen Institutionen <strong>der</strong> Zarin verwaltet hatte und<br />

von ihr in <strong>der</strong> Periode des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf den Posten eines Regierungschefs<br />

erhoben worden war. Wenn die Freunde diesen, nach <strong>der</strong> Bezeichnung des liberalen<br />

Barons Nolde »gutmütigen <strong>russischen</strong> Herrn, den alten Schwächling«, fragten,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 57


weshalb er ein so mühevolles Amt auf sich genommen habe, erwi<strong>der</strong>te Golizyn: »Um<br />

eine angenehme Erinnerung mehr zu besitzen.« Dieses Ziel hat er jedenfalls nicht<br />

erreicht. Über das Befinden <strong>der</strong> letzten <strong>russischen</strong> Regierung in jenen Stunden erzählt ein<br />

Bericht Rodsjankos: Bei <strong>der</strong> ersten Nachricht von dem Marsch <strong>der</strong> Massen zum<br />

Mariinski-Palais, wo die Sitzungen des Ministeriums stattfanden, wurden unverzüglich<br />

alle Lichter im Gebäude gelöscht. Die Staatslenker wollten nur eines: daß die <strong>Revolution</strong><br />

sie unbeachtet lassen sollte. Das Gerücht erwies sich jedoch als erfunden, es kam zu<br />

keinem Überfall, und als nian wie<strong>der</strong> Licht machte, hockte manch Mitglied <strong>der</strong> zaristischen<br />

Regierung »zu seiner eigenen Verwun<strong>der</strong>ung« unter dein Tisch. Welche Erinnerungen<br />

sie dort gesammelt haben mögen, ist nicht festgestellt worden.<br />

Aber auch Rodsjankos Befinden war offenbar nicht auf <strong>der</strong> Höhe. Nach langwieriger<br />

und vergeblicher telephonischer Suche nach <strong>der</strong> Regierung klingelte <strong>der</strong><br />

Dumavorsitzende wie<strong>der</strong> mal bei Fürst Golizyn an. Dieser meldet sich: »Bitte, sich in<br />

keinerlei Angelegenheiten mehr an mich zu wenden, ich habe <strong>der</strong>mssioniert.« Auf diesen<br />

Bescheid hin ließ sich Rodsjanko, wie sein ihm ergebener Sekretär erzählt, schwer in den<br />

Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen... »Mein Gott, wie<br />

schrecklich! ... Keine Regierung ... Anarchie ... Blut ...«, und er weinte leise. Beim<br />

Versinken des altersschwachen Gespenstes <strong>der</strong> zaristischen Macht fühlte sich Rodsjanko<br />

unglücklich, verlassen, verwaist. Wie weit war er in dieser Stunde von dem Gedanken<br />

entfernt, daß er morgen die <strong>Revolution</strong> "vertreten" würde!<br />

Die telephonische Antwort Golizyns ist damit zu erklären, daß <strong>der</strong> Ministerrat am<br />

Abend des 27. endgültig seine Unfähigkeit, mit <strong>der</strong> entstandenen Lage fertigzuwerden,<br />

bekannt und dem Zaren empfohlen hatte, an die Spitze <strong>der</strong> Regierung eine Person zu<br />

stellen, die das allgemeine Vertrauen besitze. Der Zar antwortete Golizyn: »Betreffs<br />

Personenwechsel halte ich einen solchen unter den gegebenen Umständen für<br />

unzulässig. Nikolaus.« Auf welche Umstände wartete er denn noch? Gleichzeitig for<strong>der</strong>te<br />

<strong>der</strong> Zar, »energischste Maßnahmen« zur Unterdrückung <strong>der</strong> Meuterei zu treffen. Das war<br />

leichter gesagt als getan.<br />

Am nächsten Tage, dem 28., sinkt schließlich auch <strong>der</strong> Mut <strong>der</strong> ungezähmten Zarin.<br />

»Zugeständnisse sind notwendig«, telegraphiert sie an Nikolaus, »die Streiks dauern an.<br />

Viele Truppen sind auf die Seite <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> übergegangen. Alice.« Es bedurfte des<br />

Aufstandes <strong>der</strong> gesamten Garde, <strong>der</strong> gesamten Garnison, um die hessische Beschützerin<br />

des Selbstherrschertums zu <strong>der</strong> Einsicht zu bringen, »Zugeständnisse sind notwendig«.<br />

Jetzt dämmert es auch dem Zaren, daß <strong>der</strong> »dicke Rodsjanko« ihm keinen Unsinn<br />

mitgeteilt hatte. Nikolaus beschließt, zu seiner Familie zu reisen. Möglich, daß die<br />

Generale des Hauptquartiers, denen es ein wenig ungemütlich wurde, ihn etwas schoben.<br />

Der Zarenzug fuhr anfangs ohne Zwischenfall. Wie stets, empfingen ihn Polizeibeamte<br />

und Gouverneure. Weitab vom Wirbelsturm <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, im gewohnten Waggon,<br />

umgeben vom gewohnten Gefolge, verlor <strong>der</strong> Zar offenbar wie<strong>der</strong> das Gefühl <strong>der</strong> dicht<br />

heranrückenden Lösung. Am 28., um 3 Uhr nachmittags, als sein Schicksal durch den<br />

Lauf <strong>der</strong> Ereignisse bereits besiegelt ist, schickt er <strong>der</strong> Zarin aus Wjasma ein Telegramm:<br />

»Herrliches Wetter. Ich hoffe, Ihr fühlt Euch gut und ruhig. Von <strong>der</strong> Front sind viele<br />

Truppen gesandt. Zärtlich liebend, Niki.« Statt <strong>der</strong> Zugeständnisse, auf die nun die Zarin<br />

drängt, sendet <strong>der</strong> zärtlich liebende Zar Truppen von <strong>der</strong> Front. Aber trotz des »herrlichen<br />

Wetters« muß <strong>der</strong> Zar einige Stunden später höchstpersönlich mit dem revolutionä-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 58


en Orkan zusammengeraten. Der Zug kam bis zur Station Wischera, weiter ließen ihn<br />

die Eisenbahner nicht: »Die Brücke ist zerstört.« Wahrscheinlich hat das Gefolge selbst<br />

diese Ausrede erfunden, um die Situation zu beschönigen. Nikolaus versucht - o<strong>der</strong> man<br />

versucht ihn - über Bologoje zu fahren, mit <strong>der</strong> Nikolajewskaer Eisenbahn; doch auch<br />

hier ließ man den Zug nicht passieren. Das war anschaulicher als alle Telegramme aus<br />

Petrograd. Der Zar war vom Hauptquartier abgeschnitten und fand den Weg nicht in<br />

seine Hauptstadt. Mit den einfachen Eisenbahner-"Figuren" erklärte die <strong>Revolution</strong> dem<br />

König Schach!<br />

General Dubenski, <strong>der</strong> den Zaren auch im Zuge begleitete, vermerkt in seinem<br />

Tagebuch: »Alle sind sich dessen bewußt, daß diese nächtliche Wendung in Wischera<br />

eine historische Nacht bedeutet ... Mir ist es völlig klar, daß die Frage <strong>der</strong> Konstitution<br />

entschieden ist; sie wird bestimmt eingeführt werden ... Alle sprechen nur davon, daß<br />

man mit ihnen, mit den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, handelseinig werden<br />

müsse.« Vor dem heruntergelassenen Streckensignal, hinter dem die Todesgefahr lauert,<br />

sind jetzt Graf Fre<strong>der</strong>iks, Fürst Dolgoruki, Herzog von Leuchtenberg, kurz, all die hohen<br />

Herrschaften, für die Konstitution. Sie denken nicht mehr an einen Kampf. Man müsse<br />

nur verhandeln, das heißt versuchen, wie<strong>der</strong> zu betrügen, wie im Jahre 1905.<br />

Während so <strong>der</strong> Zug herumirrte, ohne einen Weg zu finden, schickte die Zarin ein<br />

Telegramm nach dem an<strong>der</strong>en an den Zaren, in denen sie auf seine eilige Rückkehr<br />

drang. Sie erhielt aber die Telegramme vom Telegraphenamt zurück mit dein Blaustiftvermerk:<br />

»Aufenthaltsort des Adressaten unbekannt.« Die Telegraphenbeamten konnten<br />

den <strong>russischen</strong> Zaren nicht ausfindig machen.<br />

Regimenter mit Musik und Fahnen marschierten zum Taurischen Palais. Die Gardebesatzung<br />

erschien unter dem Kommando des Grossfürsten Kyrill Wladimirowitsch, <strong>der</strong>,<br />

wie die Gräfin Kleinmichel bezeugt, mit einem Male eine revolutionäre Haltung zeigte.<br />

Die Wachposten zogen sich zurück. Der Hofstaat verließ das Schloß: »Es rettete sich,<br />

wer konnte«, schreibt die Wyrubowa in ihren Erinnerungen. Im Schlosse wan<strong>der</strong>ten<br />

Gruppen revolutionärer Soldaten umher und besahen alles mit heißhungriger Neugier.<br />

Bevor die oben sich noch über das "Was nun?" klargeworden waren, hatten die unten das<br />

Zarenpalais schon in ein Museum umgewandelt.<br />

Der Zar, dessen Aufenthalt unbekannt ist, wendet nach Pskow um, zum Stabe <strong>der</strong><br />

Nordfront, die unter dem Kommando des alten Generals Rußki steht. Im Gefolge des<br />

Zaren löst ein Vorschlag den an<strong>der</strong>en ab. Der Zar zögert. Er rechnet noch immer mit<br />

Tagen und Wochen, als die <strong>Revolution</strong> schon nach Minuten zählt.<br />

Der Dichter Block charakterisierte den Zaren in den letzten Monaten <strong>der</strong> Monarchie<br />

folgen<strong>der</strong>maßen: »Eigensinnig, aber willenlos, nervös, aber gegen alles abgestumpft, um<br />

den Glauben an die Menschen gebracht, zerrüttet, aber überlegt in seinen Worten, war<br />

er seiner selbst nicht mehr Herr. Er hörte auf, die Lage zu begreifen, machte keinen<br />

klaren Schritt mehr und begab sich völlig in die Hände <strong>der</strong>er, die er selbst an die Macht<br />

gestellt hatte.« Wie erst müssen sich die Züge <strong>der</strong> Willenlosigkeit und <strong>der</strong> Zerrüttung,<br />

<strong>der</strong> Ängstlichkeit und des Mißtrauens in den letzten Februar- und den ersten Märztagen<br />

verstärkt haben!<br />

Nikolaus raffte sich nun endlich auf, an den ihm verhaßten Rodsjanko ein Telegramm<br />

zu senden - offenbar ist dies aber dann doch nicht abgeschickt worden -, in dem er ihn,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 59


um des Heiles <strong>der</strong> Heimat willen, mit <strong>der</strong> Bildung eines neuen Ministeriums betraute,<br />

unter dem Vorbehalt, Außen-, Kriegs- und Marineminister selbst zu ernennen. Der Zar<br />

möchte mit "ihnen" noch handeln: marschieren doch »zahlreiche Truppen« gegen Petrograd!<br />

General Iwanow erreichte tatsächlich unbehin<strong>der</strong>t Zarskoje Selo: die Eisenbahner<br />

hatten sich wahrscheinlich doch nicht entschließen können, es auf einen Zusammenstoß<br />

mit dem Bataillon Georgier ankommen zu lassen. Allerdings gestand <strong>der</strong> General später,<br />

er sei unterwegs drei- bis viermal gezwungen gewesen, gegen die sich auflehnenden<br />

Soldaten »väterlichen Zwang« anzuwenden. Er ließ sie knien. Die Ortsbehörden erklärten<br />

dem "Diktator" gleich nach dessen Ankunft in Zarskoje Selo, daß ein Zusammenstoß<br />

<strong>der</strong> Georgier mit den Truppen die Zarenfamilie gefährden würde. Man hatte einfach<br />

Angst um sich und empfahl dem "Exekutor", ohne erst die Truppen auszuladen, die<br />

Rückreise anzutreten.<br />

Der General Iwanow stellte an den an<strong>der</strong>en "Diktator", Chabalow, zehn Fragen, die<br />

ihm präzis beantwortet wurden. Wir führen sie in vollem Wortlaut an, denn sie verdienen<br />

es:<br />

Die Fragen Iwanows:<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

Welche Truppenteile halten Ordnung,<br />

und welche erlauben sich Gemeinheiten?<br />

Welche Bahnhöfe werden bewacht?<br />

In welchen Stadtteilen wird die<br />

Ordnung aufrechterhalten?<br />

Welche Behörden üben in diesen<br />

Stadtteilen die Macht aus?<br />

Arbeiten sämtliche Ministerien?<br />

Welche Polizeibehörden stehen im<br />

Augenblick zu Ihrer Verfügung?<br />

Die Antworten Chabalows:<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

Unter meinem Befehl stehen im<br />

Gebäude <strong>der</strong> Admiralität vier Kompanien<br />

<strong>der</strong> Garde, fünf Schwadronen und<br />

Hun<strong>der</strong>tschaften, zwei Batterien; alle<br />

übrigen Truppen sind auf die Seite <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>äre übergegangen o<strong>der</strong><br />

bleiben nach Übereinkunft mit diesen<br />

neutral. Einzelne Soldaten und Banden<br />

treiben sich in <strong>der</strong> Stadt herum und<br />

entwaffnen Offiziere.<br />

Alle Bahnhöfe sind in den Händen <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>äre und werden von diesen<br />

streng bewacht.<br />

Die ganze Stadt ist in <strong>der</strong> Gewalt <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>äre, das Telephon arbeitet<br />

nicht, eine Verbindung mit den Stadtteilen<br />

gibt es nicht.<br />

Kann ich nicht beantworten.<br />

Die Minister sind von den <strong>Revolution</strong>ären<br />

verhaftet.<br />

Keine.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 60


7.<br />

8.<br />

9.<br />

Welche technischen und wirtschaftlichen<br />

Institutionen des Kriegsamtes<br />

unterstehen Ihrem Befehl?<br />

Welche Mengen von Proviant haben<br />

Sie zu ihrer Verfügung?<br />

Sind viele Waffen, Artillerie- und<br />

Kriegsvorräte in die Hände <strong>der</strong> Rebellen<br />

gefallen?<br />

10 Welche Militärbehörden und Stäbe<br />

stehen zu Ihrer Verfügung?<br />

7.<br />

8.<br />

9.<br />

10<br />

Keine.<br />

Ich habe keinen Proviant zu meiner<br />

Verfügung. Am 25. Februar war in <strong>der</strong><br />

Stadt ein Vorrat von 5.600.000 Pud<br />

Mehl.<br />

Alle Artilleriewerke sind in den<br />

Händen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre.<br />

Zu meiner Verfügung steht <strong>der</strong> Chef<br />

des Kreisstabes persönlich; mit den<br />

übrigen Kreisverwaltungen fehlt die<br />

Verbindung.<br />

Nach einer so unzweideutigen Beleuchtung <strong>der</strong> Situation war General Iwanow »einverstanden«,<br />

mit seiner unausgeladenen Staffel zur Station "Dno" zurückzukehren. »Auf<br />

diese Weise«, schlußfolgert eine <strong>der</strong> leitenden Personen des Hauptquartiers, General<br />

Lukomski, »wurde aus - <strong>der</strong> Kommandierung des Generals Iwanow mit diktatorischen<br />

Volirnachten nichts als ein Skandal.«<br />

Übrigens trug <strong>der</strong> Skandal einen stillen Charakter, er ging unbemerkt in den Wogen<br />

<strong>der</strong> Ereignisse unter. Der Diktator schickte, wie wohl anzunehmen ist, die Lebensmittel<br />

an seine Bekannten in Petrograd und hatte eine längere Unterredung mit <strong>der</strong> Zarin: sie<br />

verwies auf ihre selbstaufopfernde Arbeit in den Lazaretten und beklagte sich über die<br />

Undankbarkeit <strong>der</strong> Armee und des Volkes.<br />

Unterdessen laufen über Mohilew nach Pskow Nachrichten, eine schwärzer als die<br />

an<strong>der</strong>e. Die in Petrograd verbliebene persönliche Wache Seiner Majestät, aus <strong>der</strong> je<strong>der</strong><br />

Soldat einzeln <strong>der</strong> Zarenfamilie mit Namen bekannt und von ihr verhätschelt war,<br />

erscheint in <strong>der</strong> Reichsduma und bittet um Erlaubnis, jene Offiziere zu verhaften, die sich<br />

geweigert, am Aufstand teilzunehmen. Der Vizeadmiral Kurosch berichtet, er sehe keine<br />

Möglichkeit, Maßnahmen zur Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes in Kronstadt zu treffen,<br />

denn er könne für keinen einzigen Truppenteil garantieren. Admiral Nepenin telegraphiert,<br />

die Baltische Flotte anerkenne das Provisorische Komitee <strong>der</strong> Reichsduma. Der<br />

Moskauer Oberkommandierende, Mrosowski, berichtet: »Die Mehrzahl <strong>der</strong> Truppen ist<br />

mitsamt <strong>der</strong> Artillerie zu den <strong>Revolution</strong>ären übergegangen, in <strong>der</strong>en Gewalt sich somit<br />

die Stadt befmdet. Der Stadthauptmann und dessen Gehilfen haben sich aus <strong>der</strong> Stadthauptmannschaft<br />

entfernt.« Entfernt bedeutet: sie hatten Reißaus genommen.<br />

Dem Zaren wurde all dies am Abend des 1. März gemeldet. Bis tief in die Nacht hinein<br />

wurde für und wi<strong>der</strong> ein verantwortliches Ministerium geredet. Endlich, um 2 Uhr<br />

nachts, gab <strong>der</strong> Zar die Zustimmung. Seine Umgebung atmete erleichtert auf. Da man es<br />

als selbstverständlich ansah, daß damit das Problem <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gelöst sei, gab man<br />

gleichzeitig Befehl, die Truppenteile, die gegen Petrograd marschierten, um dort den<br />

Aufstand nie<strong>der</strong>zuschlagen, an die Front zurückzuführen. Rußki beeilte sich, bei<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 61


Morgengrauen Rodsjanko die frohe Kunde zu übermitteln. Doch die Uhr des Zaren ging<br />

stark nach. Rodsjanko, den im Taurischen Palais bereits Demokraten, <strong>Sozialisten</strong>, Soldaten<br />

und Arbeiterdeputierte bedrängten, antwortete Rußki: »Was Sie vorschlagen, genügt<br />

nicht, die Frage <strong>der</strong> Dynastie steht auf dem Spiel ... Die Truppen gehen überall auf die<br />

Seite <strong>der</strong> Duma und des Volkes über und for<strong>der</strong>n den Thronverzicht zugunsten des<br />

Sohnes unter <strong>der</strong> Regentschaft Michail Alexandrowitschs.« Die Truppen dachten allerdings<br />

we<strong>der</strong> daran den Sohn noch Michail Alexandrowitsch zu for<strong>der</strong>n. Rodsjanko<br />

schrieb hier einfach den Truppen und dem Volke die Losung zu, mit <strong>der</strong> die Duma noch<br />

immer hoffte, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Einhalt gebieten zu können. Wie dem auch sei, das<br />

Zugeständnis des Zaren kam zu spät: »Die Anarchie erreichte ein solches Maß, daß ich<br />

(Rodsjanko) gezwungen war, heute nacht eine Provisorische Regierung zu ernennen.<br />

Das Manifest kam lei<strong>der</strong> zu spät... « Diese majestätischen Worte beweisen, daß <strong>der</strong><br />

Dumavorsitzende inzwischen Zeit gefunden hatte, die über Golizyn vergossenen Tränen<br />

zu trocknen. Der Zar las die Unterhaltung Rodsjankos mit Rußki und schwankte, las sie<br />

wie<strong>der</strong> und wartete ab. Jetzt aber schlugen die Heeresführer Alarm: die Sache betraf ein<br />

wenig auch sie!<br />

General Alexejew veranstaltete in <strong>der</strong> Nacht gewissermaßen ein Plebiszit unter den<br />

Oberkommandierenden <strong>der</strong> Fronten. Es ist gut, daß mo<strong>der</strong>ne <strong>Revolution</strong>en sich unter<br />

Teilnalime des Telegraphen vollziehen und so die ersten Regungen und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>hall<br />

<strong>der</strong> Machthaber auf Papierstreifen für die <strong>Geschichte</strong> erhalten bleiben. Die Verhandlungen<br />

<strong>der</strong> zaristischen Feldmarschälle in <strong>der</strong> Nacht vom 1. zum 2. März bilden ein<br />

unvergleichliches menschliches Dokument. Soll <strong>der</strong> Zar verzichten o<strong>der</strong> nicht? Der<br />

Oberkommandierende <strong>der</strong> Westfront, General Evert, wollte seine Entschließung erst<br />

treffen, nachdem die Generale Rußki und Brussilow sich geäußert haben würden. Der<br />

Oberkommandierende <strong>der</strong> rumänischen Front, General Sacharow, verlangte, daß man<br />

ihm vorerst die Beschlüsse aller übrigen Oberkommandierenden mitteile. Nach langem<br />

Zögern erklärte dieser glorreiche Kämpe, seine heiße Liebe zum Monarchen erlaube es<br />

ihm nicht, sich mit einem so »nie<strong>der</strong>trächtigen Vorschlag« abzufinden; nichtsdestoweniger<br />

empfahl er dem Zaren »heulend«, »zur Vermeidung noch nie<strong>der</strong>trächtigerer<br />

Zumutungen« auf den Thron zu verzichten. Generaladjutant Evert setzte eindringlich die<br />

Notwendigkeit <strong>der</strong> Kapitulation auseinan<strong>der</strong>: »Ich treffe alle Maßnahmen, damit die<br />

Nachrichten über die gegenwärtige Lage in den Hauptstädten nicht in die Armee<br />

dringen, um die sonst unvermeidlichen Unruhen zu unterbinden. Mittel, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

in den Hauptstädten Einhalt zu gebieten, gibt es nicht.« Der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch<br />

flehte von <strong>der</strong> kaukasischen Front aus den Zaren kniefällig an, das »Übermaß«<br />

auf sich zu nehmen und dem Thron zu entsagen; ein ähnliches Flehen kam von den<br />

Generälen Alexejew, Brussilow und vom Admiral Nepenin. Rußki seinerseits befürwortete<br />

mündlich das gleiche. Ehrfurchtsvoll richteten die Generale sieben Revolverläufe<br />

gegen die Schläfe des vergötterten Monarchen. Aus Angst, den Augenblick eines<br />

Ausgleiches mit <strong>der</strong> neuen Macht zu verpassen, und nicht min<strong>der</strong> aus Angst vor ihren<br />

eigenen Truppen gaben die Heerführer, gewohnt, ihre Positionen zu räumen, dem Zaren<br />

und Obersten Kriegsherrn einmütig den Rat: kampflos von <strong>der</strong> Szene zu verschwinden.<br />

Das war nun nicht mehr das ferne Petrograd, gegen das man, wie es schien, Truppen<br />

schicken konnte, son<strong>der</strong>n es war die Front, von <strong>der</strong> man die Truppen entnehmen sollte.<br />

Nachdem <strong>der</strong> Zar diesen mit solchem Nachdruck versehenen Bericht entgegengenom-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 62


men hatte, entschloß er sich; auf den Thron zu verzichten, den er bereits nicht mehr<br />

besaß. Man verfertigte ein <strong>der</strong> Situation geziemendes Telegramm an Rodsjanko: »Es gibt<br />

kein Opfer, das ich zum wirklichen Wohle und zur Rettung des teuren Mütterchens<br />

Rußland nicht bringen würde. Deshalb bin ich bereit, auf den Thron zugunsten meines<br />

Sohnes zu verzichten, <strong>der</strong> bis zu seiner Volljährigkeit bei mir verbleibt, bei gleichzeitiger<br />

Regentschaft meines Bru<strong>der</strong>s, des Großfürsten Michail Alexandrowitseh. Nikolaus.«<br />

Aber auch dieses Telegramm wurde nicht abgesandt, da die Nachricht eintraf, die<br />

Deputierten Gutschkow und Schulgin seien von <strong>der</strong> Hauptstadt nach Pskow unterwegs.<br />

Das war eine neue Veranlassung, den Entschluß zu vertagen. Der Zar befahl, ihm das<br />

Telegramm zurückzugeben. Er hatte offenbar Angst, zuviel zu bieten, und wartete noch<br />

immer auf tröstliche Nachrichten, richtiger gesagt, er hoffte auf ein Wun<strong>der</strong>. Die beiden<br />

Deputierten empfing <strong>der</strong> Zar um 12 Uhr in <strong>der</strong> Nacht vom 2. zum 3. März. Kein Wun<strong>der</strong><br />

geschah, und es war nicht mehr möglich, auszuweichen. Der Zar erklärte plötzlich, er<br />

könne sich von seinem Sohne nicht trennen - welche wirren Hoffnungen gingen dabei<br />

durch seinen Kopf? -, und unterschrieb den Thronverzicht zugunsten seines Bru<strong>der</strong>s.<br />

Gleichzeitig wurden Dekrete an den Senat betreffs Ernennung des Fürsten Lwow zum<br />

Vorsitzenden des Ministerrats und Nikolai Nikolajewitschs zum Obersten Kriegsherrn<br />

unterzeichnet. Die Familienbefürchtungen <strong>der</strong> Zarin fanden damit gleichsam ihre Bestätigung:<br />

Der verhaßte »Nikolascha« kehrte, zusammen mit den Verschwörern, zur Macht<br />

zurück. Gutschkow wähnte wohl ernsthaft, die <strong>Revolution</strong> würde sich mit dem Kaiserlichen<br />

Kriegsherrn abfinden. Dieser nahm die Ernennung ebenfalls für bare Münze. Er<br />

versuchte einige Tage hindurch sogar, irgendwelche Befehle zu erteilen und zur Erfüllung<br />

<strong>der</strong> patriotischen Pflicht zu ermahnen. Doch die <strong>Revolution</strong> hat ihn schmerzlos<br />

ausgeschieden.<br />

Um den Schein eines freigefaßten Entschlusses zu wahren, wurde das Abdankungsmanifest<br />

mit 3 Uhr nachmittags gezeichnet, unter dem Vorwand, die Entscheidung des<br />

Zaren, dem Thron zu entsagen, sei ursprünglich um diese Stunde gefaßt worden. Aber<br />

den "Entschluß" vom Tage, <strong>der</strong> den Thron an den Sohn, nicht an den Bru<strong>der</strong> übergab,<br />

war ja, in <strong>der</strong> Hoffnung auf eine günstige Wendung des Rades, faktisch zurückgenommen<br />

worden. Doch daran erinnerte niemand. Der Zar machte noch den letzten Versuch,<br />

Haltung zu zeigen vor den verhaßten Deputierten, die ihrerseits die Fälschung des historischen<br />

Aktes, das heißt den Volksbetrug, zuließen. Die Monarchie entfernte sich vom<br />

Schauplatz unter Wahrung ihres Stils. Aber auch ihre Nachfolger blieben sich treu. Ihre<br />

Nachsicht betrachteten sie wahrscheinlich als Großmut des Siegers gegen den Besiegten.<br />

Von dem unpersönlichen Stil seines Tagebuches etwas abweichend, trägt Nikolaus am<br />

2. März ein: »Am Morgen kam Rußki und las mir ein ganz langes Telephongespräch<br />

mit Rodsjanko vor. Nach dessen Worten sei die Lage in Petrograd <strong>der</strong>art, daß ein<br />

Ministerium aus Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Reichsduma ohnmächtig wäre etwas zu tun, denn es<br />

würde von <strong>der</strong> Sozialdemokratischen Partei in <strong>der</strong> Gestalt des Arbeiterkomitees<br />

bekämpft werden. Mein Thronverzicht sei notwendig. Rußki übermittelte dieses<br />

Gespräch ins Hauptquartier an Alexejew und an alle Oberkommandierenden. Um<br />

12.30 Uhr trafen die Antworten ein. Um Rußland zu retten und die Truppen an <strong>der</strong><br />

Front festzuhalten, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Ich willigte ein, und<br />

aus dem Hauptquartier wurde ein Entwurf des Manifestes geschickt. Abends trafen aus<br />

Petrograd Gutschkow und Schulgin ein, mit denen ich eine Unterredung hatte und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 63


denen ich das unterzeichnete, abgeän<strong>der</strong>te Manifest übergab. Um 1 Uhr reiste ich<br />

schweren Herzens aus Pskow ab; ringsherum Verrat, Feigheit, Betrug.«<br />

Die Erbitterung Nikolaus' war, wie man zugeben muß, nicht unbegründet. Noch am 28.<br />

Februar hatte General Alexejew allen Oberkommandierenden <strong>der</strong> Fronten telegraphiert:<br />

»Uns allen obliegt die heilige Pflicht vor Kaiser und Heimat, in den Truppen <strong>der</strong> aktiven<br />

Armee die Treue zu Pflicht und Eid aufrechtzuerhalten.« Und zwei Tage später rief<br />

Alexejew die gleichen Oberkommandierenden <strong>der</strong> Armee auf, die Treue zu "Pflicht und<br />

Eid" zu verletzen. Im Kommandostand fand sich nicht einer, <strong>der</strong> sich für seinen Zaren<br />

einsetzte. Alle sputeten sich, auf das Schiff <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> umzusteigen, in <strong>der</strong> festen<br />

Zuversicht, dort bequeme Kajüten vorzufinden. Generale und Admirale nahmen die<br />

zaristischen Abzeichen herunter und steckten sich rote Bän<strong>der</strong> an. Man erzählte später<br />

nur von einem Gerechten, irgendeinem Korpskommandanten, <strong>der</strong> beim Ablegen des<br />

neuen Eides an Herzschlag verschied. Es ist jedoch nicht erwiesen, daß sein Herz an<br />

verletztem Monarchismus brach und nicht aus an<strong>der</strong>en Gründen. Die zivilen Würdenträger<br />

brauchten, schon ihrer Stellung nach, nicht mehr Mut zu zeigen als die Militärs. Je<strong>der</strong><br />

rettete sich, wie er konnte.<br />

Aber die Uhr <strong>der</strong> Monarchie ging entschieden nicht im gleichen Takt mit <strong>der</strong> Uhr <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Am 3. März, bei Sonnenaufgang, wird Rußki wie<strong>der</strong> zum Apparat geholt.<br />

Rodsjanko und Fürst Lwow for<strong>der</strong>n, das Zarenmanifest zurückzuhalten, es habe sich<br />

wie<strong>der</strong>um als verspätet erwiesen. Mit <strong>der</strong> Thronbesteigung Alexejs - berichten die neuen<br />

Herren ausweichend - würde man sich vielleicht abfinden - wer? -, die Thronbesteigung<br />

Michails hingegen sei völlig unannehmbar. Nicht ohne Bosheit drückte Rußki sein<br />

Bedauern darüber aus, daß die Deputierten <strong>der</strong> Duma, die gestern hier weilten, über Ziel<br />

und Aufgabe ihrer Reise nicht hinreichend informiert gewesen waren. Aber auch die<br />

Deputierten fanden eine Ausrede. »Es lo<strong>der</strong>te für alle unerwartet eine solche Soldatenmeuterei<br />

auf, wie ich sie nie gesehen habe«, erklärte <strong>der</strong> Kammerherr dem General<br />

Rußki, als habe er sein Lebtag nichts an<strong>der</strong>es getan, als Soldatenmeutereien beobachtet.<br />

»Die Proklamierung Michails zum Kaiser würde bedeuten, Öl ins Feuer zu gießen, und<br />

es würde eme erbarmungslose Vernichtung all dessen anheben, was nur zu vernichten<br />

möglich ist.« Wie es sie alle doch gepackt hat, wie es sie schüttelt, rüttelt, herumwirbelt!<br />

Die Generalität schluckt schweigend auch diese neue »nie<strong>der</strong>trächtige Anmaßung« <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Nur Alexejew erleichtert sich das Herz in einer telegraphischen Nachricht an<br />

die Oberkommandierenden: »Die linken Parteien und die Arbeiterdeputierten üben auf<br />

den Dumavorsitzenden einen gewaltigen Druck aus, in den Berichten Rodsjankos fehlt<br />

die nötige Offenheit und Aufrichtigkeit.« Nur Aufrichtigkeit vermißten die Generale in<br />

jenen Stunden!<br />

Aber da hat es sich <strong>der</strong> Zar nochmals überlegt. Bei seiner Ankunft aus Pskow in<br />

Mohilew händigt er seinem früheren Generalstabschef Alexejew zur Weiterbeför<strong>der</strong>ung<br />

nach Petrograd ein Blatt Papier aus mit <strong>der</strong> Einwilligung, den Thron an den Sohn<br />

abzutreten. Diese Kombination erschien ihm doch wohl als die annehmbarste. Nach dem<br />

Bericht Denikins ging Alexekew mit dem Telegramm davon ... sandte es jedoch nicht ab.<br />

Er betrachtete anscheinend jene zwei Manifeste als ausreichend, die bereits an Armee<br />

und Volk bekanntgegeben waren. Der ungleiche Pendelschlag entstand dadurch, daß<br />

nicht nur <strong>der</strong> Zar und dessen Berater, son<strong>der</strong>n auch die Dumaliberalen langsamer dachten<br />

als die <strong>Revolution</strong>.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 64


Am 8. März, vor seiner endgültigen Abreise aus Mohilew, schrieb <strong>der</strong> formell bereits<br />

verhaftete Zar einen Appell an die Truppen, <strong>der</strong> mit den Worten schloß: »Wer jetzt an<br />

Frieden denkt, wer ihn wünscht, verrät sein Vaterland, ist ein Hochverräter!« Das war<br />

ein ihm von irgendwem eingegebener Versuch, die Beschuldigung des Germanophilentums<br />

den Händen <strong>der</strong> Liberalen zu entreißen. Der Versuch blieb ohne Folgen: man wagte<br />

nicht mehr, den Appell zu veröffentlichen.<br />

So endete eine Regierung, die eine ununterbrochene Kette von Mißerfolgen, Unglück,<br />

Unheil und Verbrechen war, beginnend mit <strong>der</strong> Katastrophe auf Chodynka, während <strong>der</strong><br />

Krönungsfeierlichkeiten, über Erschießungen Streiken<strong>der</strong> und aufständischer Bauern,<br />

über den Russisch-Japanischen Krieg, über die schreckliche Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> von 1905, über zahllose Hinrichtungen, Strafexpeditionen und nationale<br />

Pogrome hinweg, abschließend mit <strong>der</strong> wahnwitzigen und infamen Beteiligung Rußlands<br />

an dem wahnwitzigen und infamen Weltkrieg.<br />

Nach seiner Ankuft in Zarskoje Selo, wo er zusammen mit seiner Familie im Schlosse<br />

gefangengehalten wurde, sagte, nach den Worten <strong>der</strong> Wyrubowa, <strong>der</strong> Zar leise vor sich<br />

hin »Es gibt unter Menschen keine Gerechtigkeit.« Indes sind gerade diese Worte<br />

unwi<strong>der</strong>legbares Zeugnis dafür, daß es eine historische Gerechtigkeit gibt, wenn sie sich<br />

auch manchmal verspätet.<br />

Die Ähnlichkeit des letzten Zarenpaares <strong>der</strong> Romanows mit dem französischen<br />

Königspaar aus <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Großen <strong>Revolution</strong> drängt sich von selbst auf. In <strong>der</strong><br />

Literatur wurde bereits darauf verwiesen, doch nur flüchtig und ohne aus dieser Ähnlichkeit<br />

Schlüsse zu ziehen. Diese Ähnlichkeit ist indes keinesfalls so zufällig, wie es auf den<br />

ersten Blick erscheint, und gibt wertvolles Material für Folgerungen.<br />

Voneinan<strong>der</strong> durch fünfviertel Jahrhun<strong>der</strong>te getrennt, stellen Zar und König in gewissen<br />

Augenblicken zwei Akteure dar, die die gleiche Rolle spielen. Passiver, lauern<strong>der</strong>,<br />

aber rachsüchtiger Treubruch bilden die hervorstechendste Eigenschaft bei<strong>der</strong>, mit dem<br />

Unterschiede, daß sie sich bei Ludwig hinter einer zweifelhaften Gutmütigkeit verbarg,<br />

während sie bei Nikolaus Umgangsform war. Beide machten den Eindruck von<br />

Menschen, die ihr Gewerbe belastet, die aber gleichzeitig nicht gewillt sind, auch nur das<br />

kleinste Teilchen ihrer Rechte, von denen sie keinen Gebrauch machen können, abzutreten.<br />

Die Tagebücher bei<strong>der</strong>, sogar im Stil o<strong>der</strong> im Fehlen des Stiles verwandt, enthüllen<br />

in gleicher Weise eine drückende seelische Leere.<br />

Die Österreicherin und die Deutsche aus Hessen wie<strong>der</strong>um bilden ihrerseits eine<br />

Symmetrie. Die Königinnen erheben sich über die Könige nicht nur ihrem physischen,<br />

son<strong>der</strong>n auch ihrem moralischen Wuchse nach. Marie Antoinette ist weniger fromm als<br />

Alexandra Feodorowna und zum Unterschiede von dieser den Vergnügungen heiß<br />

ergeben Beide hassen in gleicher Weise das Volk, ertragen den Gedanken an Zugeständnisse<br />

nicht, mißtrauen in gleicher Weise dem Mut ihrer Männer und betrachten sie von<br />

oben herab, Antoinette mit einem Schatten von Verachtung, Alexandra mit Mitleid.<br />

Wenn Autoren, die dem Petersburger Hof nähergekommen waren, uns in ihren Memoiren<br />

versichern, daß Nikolaus, wäre er eine Privatperson gewesen, in guter Erinnerung<br />

geblieben wäre, dann reproduzieren sie einfach das alte Klischee <strong>der</strong> wohlwollenden<br />

Gutachten über Ludwig XVI., wodurch sie uns aber we<strong>der</strong> in bezug auf die <strong>Geschichte</strong><br />

noch in bezug auf die menschliche Natur son<strong>der</strong>lich bereichern.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 65


Wir haben bereits gehört, wie sich Fürst Lwow entrüstete, als er während <strong>der</strong> tragischen<br />

Ereignisse <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> anstatt eines nie<strong>der</strong>geschlagenen Zaren ein »lustiges,<br />

munteres Kerlchen in himbeerroter Hemdbluse« vorfand. Ohne es zu wissen, hatte<br />

<strong>der</strong> Fürst das Gutachten des Gouverneurs Morris reproduziert, <strong>der</strong> im Jahre 1790 in<br />

Washington über Ludwig schrieb: »Was kann man von einem Menschen erwarten, <strong>der</strong> in<br />

seiner Lage immer guten Mutes ißt, trinkt, schläft und lacht; von diesem netten Kerl, <strong>der</strong><br />

lustiger ist als sonst einer?«<br />

Wenn Alexandra Feodorowna drei Monate vor dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie prophezeit:<br />

»Alles wendet sich zum Guten, die Träume unseres Freundes besagen so viel!«, wie<strong>der</strong>holt<br />

sie nur Marie Antoinette, die einen Monat vor dem Sturze des Königtums schreibt:<br />

»Ich fühle frischen Mut in mir, und etwas sagt mir, daß wir bald glücklich und gerettet<br />

sein werden.« Untergehend sehen beide rosige Träume.<br />

Einige Elemente <strong>der</strong> Ähnlichkeit tragen selbstverständlich zufälligen Charakter und<br />

besitzen nur das Interesse historischer Anekdoten. Unermeßlich wichtiger sind jene<br />

Züge, die durch die gewaltige Macht <strong>der</strong> Verhältnisse aufgepfropft o<strong>der</strong> geradezu aufgedrängt<br />

wurden und ein grelles Licht werfen auf das Verhältnis zwischen Persönlichkeit<br />

und objektiven Faktoren <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>.<br />

»Er konnte nicht wollen - das ist <strong>der</strong> hervorragende Zug seines Charakters«, sagte ein<br />

reaktionärer französischer Historiker von Ludwig. Diese Worte scheinen wie über<br />

Nikolaus geschrieben. Beide konnten nicht wollen. Dafür aber konnten beide nicht-wollen.<br />

Doch was hätten denn eigentlich diese letzten Vertreter einer hoffnungslos verlorenen<br />

historischen Sache noch »wollen« können?<br />

»Er hörte gewöhnlich zu, lächelte, aber nur selten entschloß er sich zu etwas. Sein<br />

erstes Wort war in <strong>der</strong> Regel nein.« Über wen ist es? Wie<strong>der</strong>um über Capet. Aber dann<br />

war doch das ganze Verhalten Nikolaus' ein durchgehendes Plagiat! Beide gehen dem<br />

Abgrunde zu »mit über die Augen geschobener Krone«. Ist es denn leichter, einem<br />

Abgrund, dem man doch nicht entrinnen kann, mit offenen Augen entgegenzugehen?<br />

Was würde sich in <strong>der</strong> Tat geän<strong>der</strong>t haben, wenn sie die Krone in den Nacken geschoben<br />

hätten?<br />

Man könnte den Berufspsychologen empfehlen, ein Lesebuch <strong>der</strong> parallelen Äußerungen<br />

von Nikolaus und von Ludwig, von Alexandra und von Antoinette und <strong>der</strong>en<br />

Nächsten über sie zusammenzustellen. An Material wäre kein Mangel, und das Ergebnis<br />

würde ein äußerst lehrreiches historisches Zeugnis zugunsten <strong>der</strong> materialistischen<br />

Psychologie sein: gleichartige (selbstverständlich nicht gleiche) Reize ergeben unter<br />

gleichartigen Bedingungen gleichartige Reflexe. Je mächtiger <strong>der</strong> Reizerreger ist, um so<br />

schneller überwindet er die individuellen Beson<strong>der</strong>heiten. Auf Kitzeln reagieren die<br />

Menschen verschieden, auf glühendes Eisen gleichartig. Wie <strong>der</strong> Dampfhammer eine<br />

Kugel und einen Würfel in gleicher Weise in eine Scheibe verwandelt, so platten unter<br />

dem Druck zu großer und unabwendbarer Ereignisse auch wi<strong>der</strong>strebende »Individualitäten«<br />

ab, verlieren ihre Umrisse.<br />

Ludwig und Nikolaus waren Lctztgeborene von Dynastien, die stürmisch gelebt hatten.<br />

Eine gewisse Ausgeglichenheit des einen und des an<strong>der</strong>en, die Ruhe und die "Heiterkeit"<br />

in schwierigen Augenblicken, waren anerzogene Äußerungen <strong>der</strong> Dürftigkeit ihrer<br />

inneren Kräfte, <strong>der</strong> Schwäche <strong>der</strong> nervösen Entladungen, <strong>der</strong> Armseligkeit <strong>der</strong> geistigen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 66


Ressourcen. Moralische Kastraten, waren beide jeglicher Phantasie und schöpferischer<br />

Fähigkeit bar, besaßen gerade noch so viel Geist, um ihre Trivialität zu fühlen, und<br />

hegten feindseligen Neid gegen alles Begabte und- Bedeutende. Beide hatten das Schicksal,<br />

ein Land zu regieren unter Bedingungen tiefer innerer Krisen und des revolutionären<br />

Erwachens des Volkes. Beide wehrten sich gegen das Eindringen neuer Ideen und den<br />

Ansturm feindlicher Mächte. Unentschlossenheit, Heuchelei und Verlogenheit waren bei<br />

beiden weniger <strong>der</strong> Ausdruck persönlicher Schwäche als vielmehr einer völligen Unmöglichkeit,<br />

sich auf den ererbten Positionen zu behaupten.<br />

Und wie verhielt es sich mit den Frauen? In noch höherem Grade als Antoinette wurde<br />

Alexandra durch die Ehe mit dem unbeschränkten Herrscher eines mächtigen Landes auf<br />

die höchsten Gipfel <strong>der</strong> Träumereien einer Prinzessin, und noch dazu einer so provinziellen<br />

wie <strong>der</strong> hessischen, emporgehoben. Beide waren bis zum Rand vom Bewußtsein ihrer<br />

hohen Mission erfüllt. Antoinette mehr auf frivole Art, Alexandra im Geiste <strong>der</strong> protestantischen<br />

Heuchelei, übersetzt in die kirchlich-slawische Sprache. Mißerfolge <strong>der</strong><br />

Regierung und wachsende Unzufriedenheit des Volkes erschütterten erbarmungslos jene<br />

phantastische Welt, welche diese fanatischen, aber letzten Endes doch nur hühnerhaft<br />

kleinen Gehirne sich aufgebaut hatten. Daher die wachsende Erbitterung, die nagende<br />

Feindseligkeit gegen ein fremdes Volk, das sich vor ihnen nicht gebeugt hatte; Haß<br />

gegen solche Minister, die auch nur im geringsten dieser feindlichen Welt, das heißt dem<br />

Lande Rechnung tragen wollten; Entfremdung sogar vom eigenen Hofe und ewiges<br />

Gekränktsein durch den Ehemann, <strong>der</strong> die in <strong>der</strong> Brautzeit erweckten Hoffnungen nicht<br />

erfüllt hat.<br />

Historiker und Biographen psychologischer Richtung suchen und entdecken nicht<br />

selten Rein-Persönliches und Zufälliges dort, wo nur eine Brechung großer historischer<br />

Kräfte in einer Persönlichkeit stattfindet. Es ist dies <strong>der</strong>selbe Sehfehler wie bei den<br />

Hofleuten, die in dem letzten <strong>russischen</strong> Zaren einen geborenen "Pechvogel" erblickten.<br />

Er selbst glaubte ebenfalls, daß er unter einem ungünstigen Stern geboren sei. In<br />

Wirklichkeit ergaben sich seine Mißerfolge aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen zwischen den alten<br />

Zielen, die ihm seine Ahnen vererbt hatten, und den neuen historischen Bedingungen, in<br />

die er hineingestellt war. Wenn die Alten sagten, Jupiter raube dem den Verstand, den er<br />

vernichten wolle, sprachen sie in <strong>der</strong> Form des Aberglaubens nur das Ergebnis tiefer<br />

historischer Beobachtungen aus. Die Worte Goethes: »Vernunft wird Unsinn« enthalten<br />

den gleichen Gedanken von dem unpersönlichen Jupiter <strong>der</strong> historischen Dialektik, <strong>der</strong><br />

überlebten historischen Institutionen den Sinn raubt und <strong>der</strong>en Verteidiger zu Mißerfolg<br />

verurteilt. Die Rollentexte <strong>der</strong> Romanows und <strong>der</strong> Capets waren durch die Entwicklung<br />

des historischen Dramas vorgeschrieben. Den Akteuren blieben höchstens die Nuancen<br />

<strong>der</strong> Interpretation übrig. Das Mißgeschick Nikolaus' wie Ludwigs wurzelte nicht in ihrem<br />

persönlichen Horoskop, son<strong>der</strong>n in dem historischen Horoskop <strong>der</strong> ständisch-bürokratischen<br />

Monarchie. Sie waren vor allem Letztgeborene des Absolutismus. Ihre moralische<br />

Nichtigkeit, die sich aus ihrem dynastischen Epigonentum ergab, verlieh diesem einen<br />

beson<strong>der</strong>s unheilvollen Charakter.<br />

Man könnte erwi<strong>der</strong>n: hätte Alexan<strong>der</strong> III. weniger getrunken, er hätte viel länger<br />

gelebt, die <strong>Revolution</strong> wäre mit einem völlig an<strong>der</strong>sgearteten Zaren zusammengestoßen,<br />

und eine Parallele mit Ludwig XVI. wäre nicht gegeben. Ein solcher Einwand aber<br />

berührt das oben Dargestellte nicht im geringsten. Wir beabsichtigen ja nicht, die Bedeu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 67


tung des Persönlichen in <strong>der</strong> Mechanik des historischen Prozesses o<strong>der</strong> die Bedeutung<br />

des Zufälligen im Persönlichen wegzuleugnen. Es ist nur nötig, daß man die historische<br />

Persönlichkeit mit all ihren Beson<strong>der</strong>heiten nicht als eine bloße Aufzählung psychologischer<br />

Züge nimmt, son<strong>der</strong>n als eine aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen<br />

entstandene und auf diese reagierende lebendige Realität. Wie eine Rose nicht aufhört zu<br />

duften, weil ein Naturwissenschaftler darauf hinweist, durch welche Ingredienzien des<br />

Bodens und <strong>der</strong> Atmosphäre sie sich ernährt, so beraubt auch die Aufdeckung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Wurzeln einer Persönlichkeit diese nicht ihres Aromas o<strong>der</strong> ihres Gestankes.<br />

Gerade die oben angestellte Erwägung über eine längere Lebensdauer Alexan<strong>der</strong>s III.<br />

kann dazu beitragen, dasselbe Problem von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite zu beleuchten. Wir wollen<br />

annehmen, daß ein Alexan<strong>der</strong> III. sich im Jahre 1904 nicht in einen Krieg mit Japan<br />

eingelassen hätte. Damit allein wäre die erste <strong>Revolution</strong> hinausgeschoben worden. Bis<br />

zu welchem Zeitpunkt? Es ist möglich, daß die <strong>Revolution</strong> von 1905, das heißt die erste<br />

Kraftprobe, das erste Loch im System des Absolutismus, eine einfache Einleitung zu <strong>der</strong><br />

zweiten, <strong>der</strong> republikanischen, und zu <strong>der</strong> dritten, <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> gebildet<br />

haben würde. Aber darüber sind nur mehr o<strong>der</strong> weniger interessante Mutmaßungen<br />

möglich. Es ist jedenfalls unbestreitbar, daß die <strong>Revolution</strong> sich nicht aus dem Charakter<br />

Nikolaus' II. ergeben hat und daß nicht Alexan<strong>der</strong> III. ihre Aufgaben gelöst hätte. Es<br />

genügt, daran zu erinnern, daß sich nirgendwo und niemals <strong>der</strong> Übergang vom feudalen<br />

zum bürgerlichen Regime ohne gewaltsame Erschütterungen vollzog. Erst sahen wir dies<br />

in China, dann beobachteten wir es in Indien. Das Äußerste, was man sagen kann, ist,<br />

daß die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Politik einer Monarchie, die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Persönlichkeit<br />

des Monarchen die <strong>Revolution</strong> zu beschleunigen o<strong>der</strong> zu verzögern und ihrem<br />

äußeren Verlauf einen gewissen Stempel aufzudrücken imstande ist.<br />

Mit welch wüten<strong>der</strong> und ohnmächtiger Beharrlichkeit versuchte <strong>der</strong> Zarismus noch in<br />

seinen allerletzten Monaten, Wochen und Tagen sich zu behaupten, während die Partie<br />

bereits hoffnungslos verloren war.<br />

Fehlte es Nikolaus selbst an Willen, so ersetzte die Zarin den Mangel. Rasputin war<br />

das Werkzeug <strong>der</strong> Beeinflussung für eine Clique, die verzweifelt um ihre Selbsterhaltung<br />

kämpfte. Sogar in diesem engen Maßstabe wird die Person des Zaren von einer Gruppe<br />

absorbiert, die ein Stück Vergangenheit und <strong>der</strong>en letzte Konvulsionen darstellt. Die<br />

"Politik" <strong>der</strong> Spitze in Zarskoje Selo bestand angesichts <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> aus Reflexen<br />

eines zu Tode gehetzten und ermatteten Raubtieres. Verfolgt man in <strong>der</strong> Steppe auf<br />

einem schnellen Automobil lange einen Wolf, dann bricht das Tier schließlich zusammen<br />

und bleibt entkräftet liegen. Probiert aber, ihm ein Halsband anzulegen, es wird versuchen,<br />

euch zu zerfleischen o<strong>der</strong> mindestens zu verletzen. Bleibt ihm in seiner Lage<br />

an<strong>der</strong>es übrig?<br />

Ja, wähnten die Liberalen. Anstatt rechtzeitig mit <strong>der</strong> privilegierten Bourgeoisie ein<br />

Abkommen zu treffen und so die <strong>Revolution</strong> abzuwenden - also lautet die Anklageschrift<br />

des Liberalismus gegen den letzten Zaren -, verweigerte Nikolaus hartnäckig jedes<br />

Zugeständnis, zögerte sogar in den allerletzten Tagen, schon unter dem Messer, wo jede<br />

Minute zählte, feilschte mit dem Schicksal und versäunite so die letzte Möglichkeit. Das<br />

klingt alles sehr überzeugend. Wie schade nur, daß <strong>der</strong> Liberalismus, <strong>der</strong> so unfehlbare<br />

Mittel für die Errettung <strong>der</strong> Monarchie wußte, für sich solche Mittel nicht fand.<br />

Es wäre unsinnig, zu behaupten, <strong>der</strong> Zarismus habe niemals und unter keinen Umstän-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 68


den Zugeständnisse gemacht. Er hat sie gemacht, soweit es seine Selbsterhaltung erfor<strong>der</strong>te.<br />

Nach den Nie<strong>der</strong>lagen auf<strong>der</strong> Krim führte Alexan<strong>der</strong> II. eine halbe Befreiung <strong>der</strong><br />

Bauernschaft durch und eine Reihe liberaler Reformen auf dem Gebiete des Semstwo,<br />

<strong>der</strong> Justiz, <strong>der</strong> Presse, <strong>der</strong> Lehranstalten und so weiter. Der Zar selbst erklärte damals den<br />

Leitgedanken seiner Reformen folgen<strong>der</strong>maßen: die Bauern von oben befreien, damit sie<br />

sich nicht von unten befreien. Unter dem Drucke <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> gab Nikolaus II.<br />

eine halbe Konstitution. Stolypin machte dem bäuerlichen Gemeindebesitz den Garaus,<br />

um die Arena <strong>der</strong> kapitalistischen Kräfte zu erweitern. Alle diese Reformen hatten für<br />

den Zarisinus jedoch nur insofern einen Sinn, als die Teilzugeständnisse das Ganze, das<br />

heißt die Grundlagen <strong>der</strong> ständischen Gesellschaft und <strong>der</strong> Monarchie selbst unversehrt<br />

ließen. Sobald die Folgen <strong>der</strong> Reformen diese Grenzen zu überschreiten drohten, wich<br />

die Monarchie unverzüglich zurück. Alexan<strong>der</strong> II. verübte in <strong>der</strong> zweiten Hälfte seiner<br />

Regierung Diebstahl an den Reformen <strong>der</strong> ersten Hälfte. Alexan<strong>der</strong> III. ging auf dem<br />

Wege <strong>der</strong> Konterreformen noch weiter. Nikolaus II. machte im Oktober 1905 vor <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> einen Rückzug, löste sodann die von ihm selbst geschaffene Duma wie<strong>der</strong>holt<br />

auf und vollzog, sobald die <strong>Revolution</strong> erlahmt war, einen Staatsstreich. Im Laufe<br />

von drei Vierteln eines Jahrhun<strong>der</strong>ts - rechnet man seit den Reformen Alexan<strong>der</strong> II. geht<br />

ein bald unterirdischer, bald offener Kampf <strong>der</strong> geschichtlichen Kräfte, <strong>der</strong> weit über die<br />

persönlichen Eigenschaften einzelner Zaren hinausragt und mit dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie<br />

endet. Nur in dem geschichtlichen Rahmen dieses Prozesses kann man den Platz für<br />

einzelne Zaren, <strong>der</strong>en Charaktere und "Biographien" finden.<br />

Auch <strong>der</strong> selbstherrlichste aller Despoten ähnelt recht wenig einer "freien" Individualität,<br />

die willkürlich den Ereignissen ihren Stempel aufdrückt. Er ist stets nur <strong>der</strong> gekrönte<br />

Agent <strong>der</strong> privilegierten Klassen, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen. Haben<br />

diese Klassen ihre Mission nicht erschöpft, dann steht auch die Monarchie fest und ist<br />

selbstsicher. Dann verfügt sie über einen zuverlässigen Machtapparat und über eine<br />

unbeschränkte Auswahl an Exekutoren, weil die fähigsten Menschen noch nicht in das<br />

Lager des Feindes übergegangen sind. Dann kann <strong>der</strong> Monarch persönlich o<strong>der</strong> vermittels<br />

seiner Günsthnge zum Träger großer und fortschrittlicher historischer Aufgaben<br />

werden. An<strong>der</strong>s, wenn die Sonne <strong>der</strong> alten Gesellschaft sich endgültig dem Untergange<br />

zuneigt: aus Organisatoren des nationalen Lebens verwandeln sich die privilegierten<br />

Klassen in eine parasitäre Wucherung; mit dem Verlust ihrer führenden Funktion verlieren<br />

sie das Bewußtsein ihrer Mission und den Glauben an ihre Kräfte; die Unzufriedenheit<br />

mit sich selbst verwandeln sie in die Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> Monarchie; die<br />

Dynastie wird isoliert; <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> ihr bis zu Ende ergebenen Menschen verengt sich;<br />

ihr Niveau sinkt; die Gefahren aber nehmen unterdes zu; die neuen Kräfte bedrängen; die<br />

Monarchie büßt die Fähigkeit zu irgendeiner schöpferischen Initiative ein; sie verteidigt<br />

sich, kämpft, beginnt den Rückzug - ihre Handlungen bekommen den Automatismus<br />

primitiver Reflexe. Diesem Schicksal entging auch die halbasiatische Despotie <strong>der</strong><br />

Romanows nicht.<br />

Betrachtet man den in Agonie liegenden Zatismus sozusagen im vertikalen<br />

Querschnitt, dann erscheint Nikolaus als die Achse einer Clique, <strong>der</strong>en Wurzeln in die<br />

hoffnungslos verdammte Vergangenheit zurückgehen. Im horizontalen Querschnitt <strong>der</strong><br />

historischen Monarchie gesehen, ist Nikolaus das letzte Glied einer dynastischen Kette.<br />

Seine nächsten Ahnen, die zu ihrer Zeit ebenfalls den Kollektiven <strong>der</strong> Sippe, <strong>der</strong> Stände,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 69


<strong>der</strong> Bürokratie angehörten, wenn auch größeren, haben verschiedene Mittel und Methoden<br />

<strong>der</strong> Verwaltung ausprobiert, um das alte soziale Regime vor dem drohenden Schicksal<br />

zu bewahren, und haben trotzdem Nikolaus ein chaotisches Reich vermacht, in dessen<br />

Leib die <strong>Revolution</strong> reifte. Wenn ihm eine Wahl gelassen war, so nur zwischen den<br />

verschiedenen Wegen des Unterganges.<br />

Der Liberalismus träumte von einer Monarchie nach britischem Muster. Hat sich aber<br />

<strong>der</strong> Parlamentarismus an <strong>der</strong> Themse auf friedlich evolutionärem Wege entwickelt, o<strong>der</strong><br />

ist er etwa die Frucht <strong>der</strong> "freien" Einsicht eines einzelnen Monarchen? Nein, er hat sich<br />

als Abschluß eines Kampfes herausgebildet, <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te gedauert und in dem einer<br />

<strong>der</strong> Könige sein Haupt am Kreuzwege lassen mußte.<br />

Die hier skizzierte historisch-psychologische Gegenüberstellung <strong>der</strong> Romanows und<br />

<strong>der</strong> Capets kann man mit vollem Erfolg auf das britische Königspaar aus <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong><br />

ersten englischen <strong>Revolution</strong> ausdehnen. Karl 1. wies im wesentlichen die gleichen Züge<br />

auf, mit denen die Memoirenschreiber und Historiker mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> begründet<br />

Ludwig XVI. und Nikolaus II. bedenken. »Karl bleibt passiv«, schreibt Montague, »gab<br />

dort nach, wo er keinen Wi<strong>der</strong>stand zu leisten vermocht hätte, griff, wenn auch unwillig,<br />

zur Täuschung und gewann we<strong>der</strong> Popularität noch Vertrauen.« »Er war kein stumpfer<br />

Mensch«, sagt ein an<strong>der</strong>er Historiker über Karl Stuart, »doch fehlte ihm Charakterstärke<br />

... Die Rolle des bösen Verhängnisses in seinem Leben spielte seine Frau, Henriette von<br />

Frankreich, die Schwester Ludwigs XIII., von den Ideen des Absolutismus noch tiefer<br />

durchdrungen als Karl ...« Wir wollen die Charakteristik dieses dritten - in chronologischer<br />

Reihenfolge ersten - Königspaares, das von <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> zermalmt<br />

wurde, nicht detaillieren. Vermerkt sei nur, daß auch in England <strong>der</strong> Haß sich vor allem<br />

gegen die Königin als eine Französin und Papistin konzentrierte, die des Techtelmechtels<br />

mit Rom, <strong>der</strong> Verschwörung mit den aufrührerischen Irlän<strong>der</strong>n und <strong>der</strong> Intrigen am<br />

französischen Hof beschuldigt wurde.<br />

England aber hatte immerhin Jahrhun<strong>der</strong>te zu seiner Verfügung. Es war <strong>der</strong> Pionier <strong>der</strong><br />

bürgerlichen Zivilisation. Es stand nicht unter dem Joch an<strong>der</strong>er Nationen, im Gegenteil,<br />

hielt eher diese unter seinem Joch. Es beutete die ganze Welt aus. Das mil<strong>der</strong>te die<br />

inneren Wi<strong>der</strong>sprüche, häufte Konservativismus an, sorgte für Überfluß und Stetigkeit<br />

<strong>der</strong> Fettablagerungen in Form <strong>der</strong> parasitären Schicht <strong>der</strong> Lords, <strong>der</strong> Monarchie, <strong>der</strong><br />

Lordkammer und <strong>der</strong> Staatskirche. Infolge <strong>der</strong> historisch ganz beson<strong>der</strong>s hevorzugten<br />

Entwicklung des bürgerlichen England ist <strong>der</strong> mit Elastizität verbundene Konservativismus<br />

aus den Institutionen in die Sitten übergegangen. Darüber sich zu begeistern haben<br />

manche kontinentalen Philister von <strong>der</strong> Art des <strong>russischen</strong> Professors Miljukow o<strong>der</strong> des<br />

Austromarxisten Otto Bauer bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört. Aber gerade jetzt,<br />

wo England, in <strong>der</strong> ganzen Welt bedrängt, die letzten Hilfsquellen seiner ehemaligen<br />

Vorzugsstellung vergeudet, verliert sein Konservativismus die Elastizität und verwandelt<br />

sich, selbst in Gestalt <strong>der</strong> Labouristen, in die unbändigste Reaktion. Angesichts <strong>der</strong><br />

indischen <strong>Revolution</strong> findet <strong>der</strong> "Sozialist" Macdonald keine an<strong>der</strong>en Methoden als jene,<br />

die Nikolaus II. <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> entgegenstellte.<br />

Nur ein Blin<strong>der</strong> kann übersehen, daß Großbritannien gigantischen revolutionären<br />

Erschütterungen entgegengeht, wobei die Trümmer seines Konservativismus, seiner<br />

Weltherrschaft und seiner heutigen Staatsmaschinerie spurlos untergehen werden. Nicht<br />

im geringsten schlechter und nicht weniger von Blindheit geschlagen als seinerzeit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 70


Nikolaus, bereitet Macdonald diese Erschütterungen vor. Wie wir sehen, ist dies<br />

ebenfalls keine schlechte Illustration zur Frage nach <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> "freien" Persönlichkeit<br />

in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>!<br />

Wie aber sollte Rußland mit seiner verspäteten Entwicklung, als Nachhut aller europäischen<br />

Nationen, mit dem dürftigen ökonomischen Fundament unter den Füßen, einen<br />

"elastischen Konservativismus" <strong>der</strong> gesellschaftlichen Formen - offenbar den beson<strong>der</strong>en<br />

Bedürfnissen des profrssoralen Liberalismus und dessen linken Schattens, des reformistisehen<br />

Sozialismus, entsprechend herausgebildet haben? Rußland war zu lange zurückgeblieben,<br />

- und als <strong>der</strong> Weltimperialismus es mit seiner Schraube erfaßte, war es gezwungen,<br />

seine politische <strong>Geschichte</strong> in einem sehr zusammertgedrängten Lehrkursus<br />

durchaunehmen. Wenn Nikolaus dem Liberalismus entgegengekommen wäre und<br />

Stürmer durch Miljukow ersetzt hätte, die Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse wäre in <strong>der</strong> Form<br />

etwas an<strong>der</strong>s geworden, aber nicht in ihrem Wesen. Hatte doch einst Ludwig gerade<br />

diesen Weg in <strong>der</strong> zweiten Etappe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beschritten, indem er die Gironde an<br />

die Regierung berief: das hat aber we<strong>der</strong> Ludwig selbst, noch später die Gironde vor <strong>der</strong><br />

Guillotine bewahrt. Die angehäuften sozialen Wi<strong>der</strong>sprüche mußten nach außen explodieren<br />

und explodierend die Aufräumungsarbeit zu Ende führen. Vor dem Ansturm <strong>der</strong><br />

Volksmassen, die ihre Unbill und Plagen, ihre Demütigungen, Leidenschaften, Hoffnungen,<br />

Illusionen und Ziele endlich in die offene Arena hinausgetragen hatten, konnten die<br />

Kombinationen <strong>der</strong> Spitzen <strong>der</strong> Monarchie und des Liberalismus nur von episodischer<br />

Bedeutung sein und allenfalls die Reihenfolge <strong>der</strong> Ereignisse, vielleicht auch <strong>der</strong>en Zahl<br />

beeinflussen, nicht aber die Gesamtentwicklung des Dramas und noch weniger dessen<br />

unerbittliche Lösung.<br />

Fünf Tage (23.-27. Februar 1917)<br />

Der 23. Februar war internationaler Frauentag. In sozialdemokratischen Kreisen war<br />

geplant, ihn in üblicher Weise, durch Versammlungen, Reden und Flugblätter, auszuzeichnen.<br />

Keinem kam in den Sinn, daß <strong>der</strong> Frauentag zum ersten Tag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

werden sollte. Nicht eine einzige Organisation rief an diesem Tage zu Streiks auf Mehr<br />

noch, die bolschewistische Organisation, und zwar eine <strong>der</strong> aktivsten, das Komitee des<br />

durchweg proletarischen Wyborger Bezirks, hielt entschieden vor Streiks zurück. Nach<br />

dem Zeugnis Kajurows, eines <strong>der</strong> Arbeiterführer dieses Bezirkes, war die Stimmung <strong>der</strong><br />

Massen sehr - gespannt, je<strong>der</strong> Streik drohte in einen offenen Zusammenstoß umzuschlagen<br />

Da aber das Komitee <strong>der</strong> Ansicht war, die Zeit für Kampfhandlungen sei noch nicht<br />

gekommen, die Partei noch nicht genügend gefestigt, die Arbeiter hätten mit den Soldaten<br />

zu wenig Verbindungen, beschloß es, nicht zum Streik aufzurufen, son<strong>der</strong>n Vorbereitungen<br />

zu treffen für ein Hervortreten in einer unhestimmten Zukunft. Diese Linie vertrat<br />

das Komitee am Vorabend des 23. Februar, und es schien, daß alle sie billigten. Am<br />

an<strong>der</strong>n Morgen jedoch traten den Direktiven zuwi<strong>der</strong> die Textilarbeitennnen einiger<br />

Fabriken in den Ausstand und entsandten Delegierte zu den Metallarbeitern mit <strong>der</strong><br />

Auffor<strong>der</strong>ung, den Streik zu unterstützen. »Schweren Herzens«, schreibt Kajurow,<br />

gingen die Bolschewiki darauf ein, denen sich die mensehewistischen und sozialrevolutionären<br />

Arbeiter anschlossen. Wenn aber Massenstreik, dann müsse man alle auf die<br />

Straße rufen und sich selbst an die Spitze stellen: diesen Beschluß setzte Kajurow durch,<br />

und das Wyborger Komitee mußte ihm beistimmen. »Der Gedanke an eine Aktion reifte<br />

in den Arbeitern schon längst, nur ahnte in diesem Augenblick niemand, welche Formen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 71


sie annehmen würde.« Merken wir uns dieses Zeugnis eines Teilnehmers, das für das<br />

Verständnis <strong>der</strong> Mechanik <strong>der</strong> Ereignisse sehr wichtig ist.<br />

Es galt von vornherein für unzweifelhaft, daß im Falle einer Demonstration die Soldaten<br />

aus den Kasernen gegen die Arbeiter auf die Straße geführt werden würden. Was<br />

wäre die Folge gewesen? Es ist Krieg, die Behörden sind zu Späßen nicht aufgelegt.<br />

An<strong>der</strong>erseits - <strong>der</strong> "Reservist" im Kriege ist nicht <strong>der</strong> alte Soldat <strong>der</strong> Ka<strong>der</strong>armee. Ist er<br />

so gefährlich? Dieses Thema wurde in revolutionären Kreisen zwar viel besprochen,<br />

doch mehr alastrakt, denn niemand, buchstäblich niemand - das darf man auf Grund des<br />

gesamten vorhandenen Materials kategorisch behaupten - dachte damals daran, daß <strong>der</strong><br />

23. Februar zum Ausgangspunkte des entscheidenden Angriffs auf den Absolutismus<br />

werden sollte. Es war die Rede von einer Demonstration mit unbestimmten, jedenfalls<br />

aber beschränkten Perspektiven.<br />

Die Tatsache bleibt also bestehen, daß die Februarrevolution von unten begann nach<br />

Überwindung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stände <strong>der</strong> eigenen revolutionären Organisationen, wobei die<br />

Initiative von dem am meisten unterdrückten und unterjochten Teil des Proletariats, den<br />

Textilarbeiterinnen, unter denen, wie man sich denken kann, nicht wenig Soldatenfrauen<br />

waren, spontan ergriffen wurde. Den letzten Anstoß gaben die immer länger werdenden<br />

Brotschlangen. Ungefähr 90.000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten an diesem Tage.<br />

Die Kampfstimmung entlud sich in Demonstrationen, Versammlungen und Zusammenstößen<br />

mit <strong>der</strong> Polizei. Die Bewegung entwickelte sich im Wyborger Bezirk mit seinen<br />

großen Betrieben, von wo sie auf die Petersburger Seite übersprang. In den übrigen<br />

Stadtteilen gab es nach dem Zeugnis <strong>der</strong> Ochrana keine Streiks und keine Demonstrationen.<br />

An diesem Tage zog man bereits Truppenteile, wenn auch in geringer Zahl, zur<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Polizei heran, es kam aber nicht zu Zusammenstößen mit ihnen. Eine<br />

große Menge Frauen, und zwar nicht nur Arbeiterinnen, zog zur Stadtduma mit <strong>der</strong><br />

For<strong>der</strong>ung nach Brot. Das war dasselbe, wie von einem Bock Milch zu verlangen. Es<br />

tauchten in verschiedenen Stadtteilen rote Banner auf, <strong>der</strong>en Aufschriften besagten, daß<br />

die Werktätigen Brot wollen, aber nicht mehr das Selbstherrschertum und den Krieg. Der<br />

Frauentag verlief erfolgreich, mit Schwung und ohne Opfer. Was er aber in sich barg,<br />

das ahnte am Abend noch niemand.<br />

Am nächsten Tage flaut die Bewegung nicht nur nicht ab, son<strong>der</strong>n wächst enorm an.<br />

Etwa die Hälfte <strong>der</strong> Industriearbeiter Petrograds streikt am 24. Februar. Die Arbeiter<br />

erscheinen morgens in den Betrieben, gehen jedoch nicht an die Arbeit, son<strong>der</strong>n veranstalten<br />

Versammlungen und bilden Züge, die in das Stadtzentrum marschieren. Neue<br />

Stadtbezirke und neue Gruppen <strong>der</strong> Bevölkerung werden in die Bewegung einbezogen.<br />

Die Parole "Brot" wird verdrängt und überdeckt von den Parolen "Nie<strong>der</strong> mit dem<br />

Selbstherrschertum", "Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg". Ununterbrochene Demonstrationen auf<br />

dem Newski-Prospekt: Zuerst kompakte Arbeitermassen, revolutionäre Lie<strong>der</strong> singend,<br />

später erscheint die bunte städtische Menge, in ihr die blauen Mützen <strong>der</strong> Studenten.<br />

»Das spazierende Publikum benahm sich uns gegenüber wohlwollend, aus einigen<br />

Lazaretten winkten uns Soldaten zu.« Ob sich viele klar darüber waren, was das mit den<br />

demonstrierenden Arbeitern sympathisierende Zuwinken <strong>der</strong> kranken Soldaten in sich<br />

barg? Allerdings attackierten die Kosaken die Menge ununterbrochen, wenn auch nicht<br />

erbittert; ihre Pferde waren schaumbedeckt; die Demonstranten wichen auseinan<strong>der</strong>,<br />

schlossen sich jedoch gleich wie<strong>der</strong> zusammen. Angst herrschte in <strong>der</strong> Menge nicht. »Die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 72


Kosaken versprechen, nicht zu schießen«, ging es von Mund zu Mund. Offenbar ließen<br />

die Arbeiter sich mit einzelnen Kosaken in Gespräche ein. Später aber tauchten schimpfend<br />

halbbetrunkene Dragoner auf, ritten in die Menge hinein und schlugen mit den<br />

Lanzen auf die Köpfe. Die Demonstranten hielten mit aller Kraft stand, ohne auseinan<strong>der</strong>zulaufen.<br />

»Man wird nicht schießen.« Man schoß tatsächlich nicht.<br />

Ein liberaler Senator beobachtete in den Straßen die leeren Trams - o<strong>der</strong> war es am<br />

nächsten Tag, und das Gedächtnis hatte ihn im Stich gelassen? -, manche mit zerschlagenen<br />

Scheiben, an<strong>der</strong>e umgeworfen, quer über die Schienen auf <strong>der</strong> Erde. Er gedachte <strong>der</strong><br />

Julitage 1914, des Vorabends des Krieges. »Es schien, als wie<strong>der</strong>hole sich <strong>der</strong> alte<br />

Versuch.« Den Senator hatte sein Blick nicht getäuscht - die Fortsetzung war unverkennbar:<br />

Die <strong>Geschichte</strong> erfaßte die Enden des durch den Krieg zerrissenen revolutionären<br />

Fadens und verband sie durch einen Knoten.<br />

Den ganzen Tag ergossen sich Volksmassen aus einem Stadtteil in den an<strong>der</strong>en,<br />

wurden von <strong>der</strong> Polizei energisch auseinan<strong>der</strong>getrieben, von Kavallerie-, teils auch lnfanterieabteilungen<br />

aufgehalten und zurückgedrängt. Neben den Rufen »Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

Polizei« erscholl immer häufiger ein »Hurra !« auf die Kosaken. Das war bezeichnend.<br />

Gegen die Polizei war die Menge von wildem Haß erfüllt. Die berittenen Schutzleute<br />

empfing man mit Pflifen, Steinen und Eisstücken. An<strong>der</strong>s gingen die Arbeiter an die<br />

Soldaten heran. An Kasernen, neben Wachtposten, Patrouillen und Sperrketten standen<br />

Gruppen von Arbeitern und Arbeiterinnen; es flogen freundschaftliche Worte hin und<br />

her. Das war eine neue Etappe, sie war die Folge <strong>der</strong> anwachsenden Streiks und <strong>der</strong><br />

Konfrontierung <strong>der</strong> Arbeiter mit <strong>der</strong> Armee. Eine solche Etappe ist in je<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

unvermeidlich. Aber sie wirkt jedesmal neu und tritt auch in <strong>der</strong> Tat jedesmal auf neue<br />

Art auf: Menschen, die über sie gelesen und sogar geschrieben haben, erkennen sie von<br />

Angesicht zu Angesicht nicht.<br />

In <strong>der</strong> Reichsduma erzählte man an diesem Tage, <strong>der</strong> ganze Snamenski-Platz, <strong>der</strong><br />

ganze Newski-Prospekt und alle anliegenden Straßen seien von einer ungeheuren Volksmenge<br />

überflutet und man beobachte eine ganz ungewöhnliche Erscheinung: Die revolutionäre,<br />

nicht die patriotische Menge habe die Kosaken und die mit Musik marschierenden<br />

Regimenter mit »Hurra«Rufen empfangen. Auf die Frage, was dies alles bedeute,<br />

antwortete <strong>der</strong> erstbeste Passant einem Deputierten: »Ein Polizist hat eine Frau mit <strong>der</strong><br />

Nagajka geschlagen, die Kosaken griffen ein und vertrieben die Polizei.« Ob es tatsächlich<br />

so gewesen ist o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s, kann niemand nachprüfen. Die Menge jedenfalls glaubte,<br />

es sei so passiert, es sei wahrscheinlich. Dieser Glaube war nicht vom Himmel gefallen,<br />

er entstammte <strong>der</strong> vorangegangenen Erfahrung und mußte darum ein Pfand des Sieges<br />

werden.<br />

Die gesamte Belegschaft von Erikson, einem <strong>der</strong> fortgeschrittensten Betriebe des<br />

Wyborger Stadtteiles, zog nach einer am frühen Morgen abgehaltenen Versammlung in<br />

Stärke von 2.500 Mann zum Sampsonjewski-Prospekt und stieß an einer engen Stelle auf<br />

Kosaken. Mit <strong>der</strong> Brust <strong>der</strong> Pferde sich den Weg bahnend, dringen zuerst die Offiziere in<br />

die Menge ein. Hinter ihnen, in <strong>der</strong> ganzen Breite <strong>der</strong> Straße, reiten die Kosaken. Ein<br />

entscheiden<strong>der</strong> Augenblick! Aber behutsam, in schmalem Bande, folgen die Reiter durch<br />

den von den Offizieren gebahnten Korridor. »Einige von ihnen lächelten«, erinnert sich<br />

Kajurow, »und <strong>der</strong> eine zwinkerte den Arbeitern gut zu.« Nicht umsonst hat <strong>der</strong> Kosak<br />

gezwinkert. Die Arbeiter sind kühner geworden, von einer den Kosaken freundlichen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 73


und nicht feindlichen Kühnheit, und stecken damit ein wenig die letzteren an. Der<br />

Zwinkernde fand Nachahmer. Trotz <strong>der</strong> erneuten Versuche <strong>der</strong> Offiziere schlängelten<br />

sich die Kosaken durch die Menge, ohne offen die Disziplin zu verletzen, aber auch ohne<br />

die Menge mit Nachdruck auseinan<strong>der</strong>zutreiben. Das wie<strong>der</strong>holte sich drei-, viermal und<br />

brachte die Parteien einan<strong>der</strong> noch näher. Die Kosaken begannen einzeln auf Fragen <strong>der</strong><br />

Arbeiter zu antworten und sogar flüchtige Gespräche anzuknüpfen. Von <strong>der</strong> Disziplin<br />

blieb nur eine dünne, durchsichtige Hülle übrig, die bald, gar bald zu reißen drohte. Die<br />

Offiziere beeilten sich, den Zug von <strong>der</strong> Menge zu lösen, ließen den Gedanken, die<br />

Arbeiter auseinan<strong>der</strong>zutreihen, fallen und stellten die Kosaken als Sperre quer über die<br />

Straße auf, um die Demonstranten nicht nach dem Zentrum durchzulassen. Aber auch das<br />

half nicht: wie befohlen am Platze stehend, hin<strong>der</strong>ten die Kosaken die Arbeiter nicht,<br />

unter die Pferde zu "tauchen". Die <strong>Revolution</strong> wählte ihre Wege nicht willkürlich: bei<br />

ihren ersten Schritten rückte sie zum Siege vor unter dem Hauche des Kosakenpferdes.<br />

Eine bemerkenswerte Episode! Und bemerkenswert das Auge des Erzählers, dem alle<br />

Windungen des Prozesses fest im Gedächtnis blieben. Kein Wun<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Erzähler war<br />

Anführer und hinter ihm mehr als zweitausend Mann das Auge des Kommandeurs, <strong>der</strong><br />

die feindlichen Nagajkas o<strong>der</strong> Kugeln zu befürchten hat, blickt scharf.<br />

Der Umschwung in <strong>der</strong> Armee hatte sich gleichsam zuallererst bei den Kosaken<br />

geäußert, den ewigen Ordnungsstützen und Strafexekutoren. Das bedeutet allerdings<br />

nicht, daß die Kosaken revolutionärer waren als die an<strong>der</strong>en Truppen. Im Gegenteil,<br />

diese wohl bestallten Landeigentümer auf ihren Pferden, die ihre beson<strong>der</strong>en Kosakenrechte<br />

hoch einschätzten, den einfachen Bauern verachteten, dem Arbeiter mißtrauten,<br />

bargen in sich viele Elemente des Konservativismus. Aber gerade deshalb waren die<br />

durch den Krieg hervorgerufenen Verän<strong>der</strong>ungen an ihnen am krassesten erkennbar.<br />

Außerdem wurden gerade sie dauernd hin und her gezerrt, sie vorgeschickt, mit <strong>der</strong> Brust<br />

gegen das Volk gestellt, sie entnervt und vor allen an<strong>der</strong>en Prüfungen ausgesetzt. Das<br />

alles hatten sie, zum Teufel, satt, sie wollten heim und zwin-kerten: macht, was ihr könnt,<br />

hin<strong>der</strong>n werden wir euch nicht. Jedoch das alles waren nur vielsagende Symptome. Die<br />

Armee war noch Armee, durch Disziplin gebunden, und die wichtigsten Fäden noch in<br />

den Händen <strong>der</strong> Monarchie. Die Arbeitermassen unbewaffnet. Die Führer dachten noch<br />

nicht an die entscheidende Lösung.<br />

An diesem Tage kam in <strong>der</strong> Sitzung des Ministerrats neben an<strong>der</strong>en Fragen auch die<br />

<strong>der</strong> Unruhen in <strong>der</strong> Hauptstadt zur Sprache. Streik? Demonstration? Nicht das erstemal.<br />

Alles vorgesehen. Anordnungen getroffen. Übergang zur Tagesordnung.<br />

Worin bestanden sie eigentlich, die Anordnungen? Obwohl im Laufe des 23. und 24.<br />

Februar achtundzwanzig Polizisten verprügelt worden sind eine bestechende Genauigkeit<br />

<strong>der</strong> Buchführung! -, greift <strong>der</strong> Chef des Militärbezirks, General Chabalolow, beinahe<br />

Diktator, noch nicht zur Schußwaffe. Nicht aus Gutmütigkeit: alles war vorgesehen und<br />

berechnet, auch für das Schießen sollte die Zeit kommen.<br />

Die <strong>Revolution</strong> kam nur im Moment überraschend. Allgemein gesagt hatten beide<br />

Pole, <strong>der</strong> revolutionäre und <strong>der</strong> regierende, sich sorgfältig auf sie vorbereitet, Jahre<br />

hindurch, immerwährend sich auf sie vorbereitet. Was die Bolschewiki betrifft, so war<br />

ihre gesamte Tätigkeit nach 1905 nichts an<strong>der</strong>es als eine Vorbereitung auf die zweite<br />

<strong>Revolution</strong>. Aber auch die Tätigkeit <strong>der</strong> Regierung war zum überwiegenden Teile eine<br />

Vorbereitung auf die Unterdrückung <strong>der</strong> neuen <strong>Revolution</strong>. Dieses Gebiet <strong>der</strong> Regie-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 74


ungsarbeit hatte im Herbst 1916 einen beson<strong>der</strong>s planmäßigen Charakter erhalten. Eine<br />

Kommission unter dem Vorsitz Chabalows hatte Mitte Januar 1917 die Ausarbeitung<br />

eines höchst genauen Planes zur Nie<strong>der</strong>schlagung eines neuen Aufstandes beendet. Die<br />

Stadt war in sechs Bezirke mit je einem Polizeimeister zerlegt, die Bezirke wie<strong>der</strong>um in<br />

Rayons. An die Spitze <strong>der</strong> gesamten bewaffneten Macht war <strong>der</strong> Kommandeur <strong>der</strong><br />

Gar<strong>der</strong>eservetruppen, General Tschebykin, gestellt; die Regimenter den Rayons<br />

zugeteilt; in jedem <strong>der</strong> sechs Polizeibezirke das Kommando über Polizei, Gendarmerie<br />

und Truppen beson<strong>der</strong>en Stabsoffizieren übertragen. Die Kosakenreiterei unterstand dem<br />

persönlichen Befehl Tschebykins, für Operationen größeren Maßstabes. Die Reihenfolge<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfungsmaßnahmen war so vorgesehen: zuerst geht die Polizei allein vor,<br />

dann treten die Kosaken mit Nagajkas auf den Schauplatz, und nur im Notfalle werden<br />

Truppen mit Gewehren und Maschinengewehren aufgeboten. Und dieser Plan, <strong>der</strong> nur<br />

eine Erweiterung <strong>der</strong> Erfahrung von 1905 darstellt, wurde in den Februartagen tatsächlich<br />

angewandt. Das Übel lag nicht an mangeln<strong>der</strong> Voraussicht, auch nicht an den<br />

Fehlern des Planes selbst, son<strong>der</strong>n am Menschenmaterial. Hier drohte ein großer Versager.<br />

Formell stützte sich <strong>der</strong> Plan auf die gesamte Garnison, die 150.000 Mann zählte; in<br />

Wirklichkeit aber wurde mit etwa 10.000 Mann gerechnet: außer den Schutzleuten, von<br />

denen es 3.500 gab, verließ man sich fest auf die Lehrkommandos. Dies ist mit dem<br />

Charakter <strong>der</strong> damaligen Petrogra<strong>der</strong> Garnison zu erklären, die fast ausschließlich aus<br />

Reservetruppenteilen bestand, vor allem aus den 14 Reservebataillonen <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>egimenter,<br />

die sich an <strong>der</strong> Front befanden. Außerdem gehörten zur Garnison: ein Reserve-<br />

Infanterieregiment, ein Radfahrer-Reservebataillon, eine Reserve-Panzerwagendivision,<br />

kleinere Sappeur- und Artillerietruppenteile und zwei Regimenter Donkosaken. Das war<br />

sehr viel, zu viel. Die aufgeschwemmten Reservetruppenteile bestanden aus Menschenmassen,<br />

die entwe<strong>der</strong> fast keinen militärischen Drill durchgemacht o<strong>der</strong> aber sich bereits<br />

von ihm befreit hatten. So war eigentlich die gesamte Armee.<br />

Chabalow hielt peinlichst an dem von ihm ausgearbeiteten Plan fest. Am ersten Tag,<br />

dem 23., trat ausschließlich Polizei in Aktion. Am 24. schickte man hauptsächlich Kavallerie<br />

vor, die aber nur mit Nagajkas und Lanzen operierte. Das Einsetzen von Infanterie<br />

und Feuerwaffen machte man von <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse abhängig.<br />

Die Ereignisse aber ließen nicht auf sich warten.<br />

Am 25. verbreitete sich <strong>der</strong> Streik noch mehr. Nach den Regierungsangaben beteiligten<br />

sich an ihm an diesem Tage 240.000 Arbeiter. Die rückständigeren Schichten folgen <strong>der</strong><br />

Avantgarde, es streiken bereits viele kleinere Betriebe, die Trams bleiben stehen, die<br />

Handelsunternehmen ruhen. Im Laufe des Tages schließen sich die Schüler <strong>der</strong> höheren<br />

Lehranstalten dem Streik an. Viele Zehntausende von Menschen strömen gegen Mittag<br />

vor <strong>der</strong> Kathedrale und in den anliegenden Straßen zusammen. Es werden Versuche<br />

gemacht, Versammlungen unter freiem Himmel abzuhalten. Es kommt zu bewaffneten<br />

Zusammenstößen mit <strong>der</strong> Polizei. Beim Denkmal Alexan<strong>der</strong> III. treten Redner auf. Die<br />

berittene Polizei eröffnet das Feuer. Ein Redner stürzt verwundet nie<strong>der</strong>. Schüsse aus <strong>der</strong><br />

Menge töten einen Polizeiwachtmeister, verwunden einen Polizeimeister und einige<br />

Polizisten. Die Gendarmen werden mit Flaschen, Petarden und Handgranaten beworfen.<br />

Der Krieg hat diese Kunst gelehrt. Die Soldaten verhalten sich passiv, mitunter auch<br />

feindselig gegen die Polizei. In <strong>der</strong> Menge erzählt man sich erregt, daß die Kosaken, als<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 75


die Polizisten am Denkmal Alexan<strong>der</strong> III. die Schießerei eröffneten, eine Salve auf die<br />

berittenen Pharaonen (Spitzname für die Schutzleute) abgegeben hätten und diese flüchten<br />

mußten. Das ist sicherlich keine Legende, die man in Umlauf gesetzt hat, um sich<br />

Mut zu machen, denn die Episode wird in verschiedenen Variationen von verschiedenen<br />

Seiten bestätigt.<br />

Der Arbeiterbolschewik Kajurow, einer <strong>der</strong> echten Führer in jenen Tagen, erzählt, wie<br />

die Demonstranten an einem Platz, dicht bei einer Kosakenstreife, vor den Nagajkas <strong>der</strong><br />

berittenen Polizei auseinan<strong>der</strong>liefen und wie er, Kajurow, und noch einige Arbeiter, den<br />

Flüchtenden nicht folgten, son<strong>der</strong>n die Hüte zogen und an die Kosaken mit den Worten<br />

herantraten: »Brü<strong>der</strong> Kosaken, helft den Arbeitern im Kampfe um ihre friedlichen For<strong>der</strong>ungen,<br />

ihr seht, wie die Pharaonen mit uns hungernden Arbeitern verfahren. Helft uns!«<br />

Dieser bedacht demütige Ton, diese Hüte in den Händen - welcb feine psychologische<br />

Berechnung, welch unnachahmliche Geste! Jede <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Straßenkämpfe und<br />

revolutionären Siege ist voll solcher Improvisationen. Nur gehen sie im Wirbel <strong>der</strong><br />

großen Ereignisse unter, den Geschichtsschreibern bleibt die Hülse <strong>der</strong> Gemeinplätze.<br />

»Die Kosaken sahen sich seltsam an«, fährt Kajurow fort, »kaum hatten wir Zeit, beiseite<br />

zu treten, als sie sich ins Gemenge stürzten. Nach einigen Minuten hob die Menge am<br />

Bahnhoßtor einen Kosaken auf ihren Händen hoch, <strong>der</strong> vor ihren Augen mit dem Säbel<br />

einen Polizeibeamten nie<strong>der</strong>gehackt hatte.«<br />

Die Polizei verschwand bald völlig von <strong>der</strong> Bildfliche, das heißt, sie begann aus dem<br />

Hinterhalt zu operieren. Dagegen erschienen Soldaten mit umgehängten Gewehren. Die<br />

Arbeiter riefen ihnen sorgenvoll zu: »Kameraden, seid ihr wahrhaftig gekommen, <strong>der</strong><br />

Polizei zu helfen?« Die Antwort war ein barsches »Weitergehen!«. Ein erneuter Versuch,<br />

ins Gespräch zu kommen, endete in gleicher Weise. Die Soldaten sind düster, etwas<br />

wurmt sie, auch sie ertragen es nicht mehr, wenn die Frage den Kern ihrer Not trifft.<br />

Die Entwaffnung <strong>der</strong> Pharaonen wird unterdes allgemeine Parole. Die Polizeei ist <strong>der</strong><br />

grimmige, unversöhnliche, verhaßte und hassende Feind. Sie zu gewinnen - davon kann<br />

keine Rede sein. Die Polizisten muß man schlagen o<strong>der</strong> erschlagen. Etwas ganz an<strong>der</strong>es<br />

ist das Heer. Die Menge vermeidet auf jede Weise feindselige Zusammenstöße mit ihm,<br />

im Gegenteil, sie sucht die Soldaten zu gewinnen, zu überzeugen, herüberzuziehen,<br />

zutraulich zu machen, sich mit ihnen zu vereinen. Trotz den, wenn auch vielleicht etwas<br />

übertrieben günstigen Gerüchten über das Verhalten <strong>der</strong> Kosaken ist die Menge vor<br />

ihnen auf <strong>der</strong> Hut. Der Kavallerist ragt hoch über die Menge, und seine Seele ist von <strong>der</strong><br />

Seele <strong>der</strong> Demonstranten durch vier Pferdebeine getrennt. Eine Gestalt, auf die man von<br />

unten emporblicken muß, erscheint immer gewichtig und bedrohlich. Die Infanterie steht<br />

da, gleich nebenan auf dem Pflaster, ist näher und erreichbarer. An sie bemüht sich die<br />

Masse dicht heranzukommen, ihr in die Augen zu blicken, sie mit ihrem heißen Atem zu<br />

umgeben. Eine große Rolle in den Beziehungen zwischen Arbeitern und Soldaten spielen<br />

die Frauen, die Arbeiterinnen. Kühner als die Männer bedrängen sie die Soldatenkette,<br />

greifen mit den Händen an die Gewehre, flehen, befehlen fast: »Wendet eure Bajonette<br />

weg, schließt euch uns an!« Die Soldaten sind erregt, beschämt, sehen sich unruhig an,<br />

schwanken, irgendeiner faßt als erster Mut - und die Bajonette erheben sich über die<br />

Schultern <strong>der</strong> Bedränger, die Barriere ist nie<strong>der</strong>gerissen, ein freudiges, dankbares<br />

»Hurra!« erschüttert die Luft, die Soldaten werden umringt, überall Wortwechsel,<br />

Vorwürfe, Mahnrufe - die <strong>Revolution</strong> hat wie<strong>der</strong> einen Schritt vorwärts gemacht.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 76


Aus dem Hauptquartier schickt Nikolaus einen telegraphischen Befehl an Chabalow,<br />

»gleich morgen« die Unruhen zu unterdrücken. Der Wille des Zaren entspricht dem<br />

weiteren Glied des Chabalowschen "Planes", so daß das Telegramm nur ein Anstoß mehr<br />

ist. Morgen sollen die Truppen ihr Wort sprechen. Ist es nicht zu spät? Das kann man<br />

vorläufig noch nicht sagen. Die Frage ist gestellt, aber längst nicht entschieden. Die<br />

Nachsicht <strong>der</strong> Kosaken, das Schwanken einzelner Infanterieketten sind nur vielverheißende<br />

Episoden, vom vieltausendfachen Echo <strong>der</strong> empfänglichen Straße wie<strong>der</strong>holt. Dies<br />

ist genügend, um die revolutionäre Menge zu begeistern, aber zu wenig für den Sieg. Um<br />

so mehr, als es auch Episoden entgegengesetzten Charakters gibt. In <strong>der</strong> zweiten Hälfte<br />

des Tages eröffnete, angeblich als Antwort auf Revolverschüsse aus <strong>der</strong> Menge, ein Zug<br />

Dragoner das erste Feuer auf die Demonstranten am Gostinyi Dwor: nach dem Bericht<br />

Chabalows an das Hauptquartier gab es 3 Tote und 10 Verwundete. Eine ernste<br />

Warnung! Gleichzeitig sprach Chabalow die Drohung aus, alle reklamierten Arbeiter an<br />

die Front zu schicken, falls sie die Arbeit nicht bis zum 28. aufnehmen sollten. Der<br />

General stellt ein dreitägiges Ultimatum, für die <strong>Revolution</strong> eine größere Frist, als sie<br />

benötigt, um Chabalow zu stürzen und die Monarchie dazu. Aber das wird man erst nach<br />

dem Siege erfahren. Am Abend des 25. ahnt noch niemand, was <strong>der</strong> nächste Tag in<br />

seinem Schoße birgt.<br />

Versuchen wir, die innere Logik <strong>der</strong> Ereignisse uns klar darzustellen. Unter <strong>der</strong> Flagge<br />

des "Frauentages" begann am 23. <strong>der</strong> lange herangereifte und lange zurückgehaltene<br />

Aufstand <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeitermassen. Die erste Stufe des Aufstandes war <strong>der</strong> Streik.<br />

Während dreier Tage dehnte er sich immer mehr aus und wurde faktisch zu einem<br />

Generalstreik. Dies allein stärkte das Sicherheitsgefühl <strong>der</strong> Massen und trug sie vorwärts.<br />

Der Streik nahm immer mehr einen Angriffscharakter an, begleitet von Demonstrationen,<br />

die die revolutionären Massen mit den Truppen zusammenstoßen ließen. Das hob die<br />

Aufgabe in ihrer Gesamtheit auf eine höhere Ebene, wo die Frage durch die bewaffnete<br />

Macht entschieden wird. Die ersten Tage brachten eine Reihe von Teilerfolgen, jedoch<br />

mehr syruptomatischen als materiellen Charakters.<br />

Ein revolutionärer Aufstand, <strong>der</strong> sich auf einige Tage erstreckt, kann sich nur in dem<br />

Falle siegreich entwickeln, wenn er von Stufe zu Stufe sich steigert und immer neue<br />

Fortschritte aufweist. Ein Stillstand in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Erfolge ist gefährlich, längeres<br />

Treten auf einem Fleck verhängnisvoll. Aber auch Erfolge an sich genügen nicht; es<br />

ist nötig, daß die Menge rechtzeitig von ihnen erfährt und Zeit hat, sie zu bewerten. Man<br />

kann den Sieg in einem Augenblick verpassen, wo man nur den Arm auszustrecken<br />

braucht, um ihn zu ergreifen. Das ist in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> schon vorgekommen.<br />

Die ersten drei Tage waren Tage ununterbrochener Steigerung und Verschärfung des<br />

Kampfes. Gerade aus diesem Grunde aber erreichte die Bewegung eine Höhe, wo<br />

symptomatische Erfolge nicht mehr ausreichten. Die gesamte aktive Masse ging auf die<br />

Straße. Mit <strong>der</strong> Polizei wurde sie erfolgreich und mühelos fertig. Die Truppen waren in<br />

den letzten zwei Tagen bereits in die Ereignisse hineingezogen worden, am zweiten Tage<br />

die Kavallerie, am dritten auch die Infanterie. Sie drängten zurück, sperrten den Weg,<br />

übten manchmal Nachsicht, griffen aber fast nie zu den Feuerwaffen. Oben überstürzte<br />

man sieh nicht, den Plan abzuän<strong>der</strong>n, teils weil man die Ereignisse unterschätzte - <strong>der</strong><br />

Fehler im Sehvermögen <strong>der</strong> Reaktion ergänzte symmetrisch den Fehler <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sführer<br />

-, teils weil man <strong>der</strong> Truppen nicht sicher war. Aber gerade <strong>der</strong> dritte Tag zwang<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 77


die Regierung, infolge <strong>der</strong> Steigerung des Kampfes wie infolge des Zarenbefehls, die<br />

Tru~ pen ernsthaft einzusetzen. Die Arbeiter, beson<strong>der</strong>s ihre fortgeschrittene Schicht,<br />

begriffen dies, um so mehr, als die Dragoner am Tage vorher bereits geschossen hatten.<br />

Die Frage erhob sich nun in ihrem vollen Umfange vor beiden Parteien.<br />

In <strong>der</strong> Nacht zum 26. Februar verhaftete man in mehreren Stadtteilen etwa hun<strong>der</strong>t<br />

Personen, die verschiedenen revolutionären Parteien angehörten, darunter auch fünf<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki. Das zeigte gleichfalls, daß die<br />

Regierung zum Angriff übergegangen war. Was wird es heute geben? Wie werden nach<br />

<strong>der</strong> gestrigen Schießerei die Arbeiter heute erwachen? Und die Hauptsache: was werden<br />

die Truppen tun? Die Morgenröte des 26. Februar erglühte im Nebel von Ungewißheit<br />

und schwerer Besorgnis.<br />

Infolge <strong>der</strong> Verhaftung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees ging die Leitung <strong>der</strong> gesamten Arbeit<br />

in <strong>der</strong> Stadt an den Wyborger Bezirk über. Vielleicht ist es auch besser so. Die obere<br />

Führung <strong>der</strong> Partei verspätet sich hoffnungslos. Erst am Morgen des 25. hat das Büro des<br />

Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki endlich beschlossen, ein Flugblatt herauszugeben mit<br />

dem Aufruf zum All<strong>russischen</strong> Generalstreik. Aber im Moment des Erscheinens dieses<br />

Flugblattes - wenn es überhaupt erschienen ist - steht <strong>der</strong> Generalstreik in Petrograd<br />

schon vor <strong>der</strong> Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes. Die Führung schaut von oben<br />

zu, schwankt und bleibt zurück, das heißt führt nicht. Sie trottet hinter <strong>der</strong> Bewegung her.<br />

Je näher an die Betriebe, um so größer die Entschlossenheit. Heute jedoch, am 26., ist<br />

auch in den Bezirken Alarm. Hungrig, müde, durchfroren, eine ungeheure historische<br />

Verantwortung auf den Schultern, versammeln sich die Wyborger Führer außerhalb <strong>der</strong><br />

Stadt, in Gemüsegärten, um ihre Tageseindrücke auszutauschen und eine gemeinsame<br />

Marschroute zu entwerfen ... wofür? Für eine neue Demonstration? Wohin aber kann<br />

eine unbewaffnete Demonstration führen, wenn die Regierung entschlossen ist, bis aufs<br />

Letzte zu gehen? Diese Frage bohrt im Bewußtsein. »Es schien nur eines sicher: <strong>der</strong><br />

Aufstand wird liquidiert.« Wir hören hier die Stimme des uns bereits bekannten Kajurow,<br />

aber im ersten Moment scheint uns, es sei nicht seine Stimme. So tief war das Barometer<br />

vor dem Sturm gefallen.<br />

In den Stunden, wo das Schwanken sogar die den Massen am nächsten stehenden<br />

<strong>Revolution</strong>äre erfaßt, ist die Bewegung selbst im Grunde schon viel weiter gegangen, als<br />

es ihre Teilnehmer dünkt. Bereits am Vorabend, dem 25. Februar, war <strong>der</strong> Wyborger<br />

Stadtteil vollständig in den Händen <strong>der</strong> Aufständischen. Die Polizeireviere waren<br />

zerstört, einzelne Polizeibeamte nie<strong>der</strong>gemacht, die Mehrzahl hielt sich verborgen. Die<br />

Stadthauptmannschaft hatte die Verbindung mit einem bedeutenden Teil <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

gänzlich verloren. Am Morgen des 26. zeigt sich, daß nicht nur <strong>der</strong> Wyborger Teil,<br />

son<strong>der</strong>n auch Peski fast dicht bis zum Litejny-Prospekt von den Außtändischen besetzt<br />

sind. Mindestens schil<strong>der</strong>n die Polizeiberichte die Lage so. In gewissem Sinne traf das<br />

zu, obwohl sich die Aufständischen darüber selbst nicht ganz klar waren: die Polizei<br />

verließ ihre Höhlen in vielen Fällen, noch bevor sie einer Bedrohung seitens <strong>der</strong> Arbeiter<br />

ausgesetzt war. Doch davon abgesehen, konnte die Säuberung <strong>der</strong> Fabrikbezirke von<br />

Polizei in den Augen <strong>der</strong> Arbeiter nicht von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung sein: hatten doch<br />

die Truppen ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Der Aufstand wird »liquidiert«, ging<br />

es den Kühnsten <strong>der</strong> Kühnen durch den Kopf. Indes war er in voller Entfaltung.<br />

Der 26. Februar war ein Sonntag, die Fabriken geschlossen, und dies hin<strong>der</strong>te, morgens<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 78


am Umfang des Streiks die Kraft des Massensturms zu messen. Dazu kam, daß sich die<br />

Arbeiter an diesem Tage nicht wie an den vorangegangenen Tagen in den Betrieben<br />

versammeln konnten, was die Demonstration erschwerte. Am Morgen herrschte auf dem<br />

Newski-Prospekt Stille. In diesen Stunden telegraphierte die Zarin an den Zaren: »In <strong>der</strong><br />

Stadt herrscht Ruhe.« Doch die Ruhe währt nicht lange. Allmählich sammeln sich die<br />

Arbeiter und bewegen sich aus allen Vorstädten nach dem Zentrum. Man läßt sie nicht<br />

über die Brücken. Die Massen strömen über das Eis: es ist ja noch Februar und die ganze<br />

Newa eine Eisbrücke. Die Beschießung <strong>der</strong> Menge auf dem Eis genügt nicht, sie aufzuhalten.<br />

Die Stadt ist wie verwandelt. Uberall Patrouillen, Sperrketten, Streifen Berittener.<br />

Die Zugänge zum Newski werden beson<strong>der</strong>s scharf überwacht. Dauernd ertönen Salven<br />

aus unsichtbarem Hinterhalt. Die Zahl <strong>der</strong> Getöteten und Verwundeten wächst. Nach<br />

verschiedenen Richtungen bewegen sich die Wagen <strong>der</strong> Ersten Hilfe. Woher geschossen<br />

wird, und wer schießt, ist nicht immer zu erkennen. Zweifellos hat die Polizei nach <strong>der</strong><br />

ernsten Lektion, die sie erhalten hat, beschlossen, sich <strong>der</strong> Gefahr nicht mehr offen<br />

auszusetzen. Sie schießt aus Fenstern, Balkontüren, hinter Säulen versteckt, von Dachböden.<br />

Es entstehen Hypothesen, die schnell zu Legenden werden. Man erzählt, zur<br />

Abschreckung <strong>der</strong> Demonstranten seien viele Soldaten in Polizeiuniform gesteckt<br />

worden. Man erzählt, Protopopow habe unzählige Maschinengewehrposten auf Dächern<br />

untergebracht. Eine nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geschaffene Kommission hat solche Posten<br />

nicht nachweisen können. Das heißt aber nicht, daß es sie nicht gegeben hat. Jedenfalls<br />

trat die Polizei an diesem Tage in den Hintergrund. In <strong>der</strong> Tat tritt endgültig Militär auf<br />

den Plan. Es wird ihm strengstens befohlen, zu schießen, und die Soldaten, hauptsächlich<br />

die Lehrkommandos, das heißt die Regimentsschulen für Unteroffiziere, schießen. Nach<br />

offiziellen Meldungen gab es an diesem Tage an die vierzig Tote und ebensoviel<br />

Verwundete, nicht gezählt jene die von <strong>der</strong> Menge weggeführt o<strong>der</strong> weggetragen<br />

wurden. Der Kampf geht in ein entscheidendes Stadium über. Wird die Masse vor dem<br />

Blei in ihre Viertel zurückweichen? Nein, sie weicht nicht zurück. Sie will ihr Ziel erreichen.<br />

Schrecken überkommt das beamtete, bürgerliche, liberale Petrograd. Der Vorsitzende<br />

<strong>der</strong> Reichsduma, Rodsjanko, for<strong>der</strong>t an diesem Tage die Entsendung zuverlässiger<br />

Truppen von <strong>der</strong> Front; dann »überlegt« er es sich und empfiehlt dem Kriegsminister<br />

Belajew, die Menge nicht durch Feuer, son<strong>der</strong>n durch kaltes Wasser aus Schläuchen <strong>der</strong><br />

Feuerwehr auseinan<strong>der</strong>zutreiben. Nach einer Beratung mit General Chabalow antwortet<br />

Belajew, daß Wasserduschen eine umgekehrte Wirkung erzielen, »gerade weil sie<br />

erregen«. So unterhielten sich Liberale, Würdenträger und Polizei über die Vorzüge<br />

einer kalten o<strong>der</strong> heißen Dusche für das aufständische Volk. Die Pohzeimeldungen von<br />

diesem Tage besagen, daß die Feuerwehrschläuche nicht ausreichten. »Während <strong>der</strong><br />

Unruhen konnte man als allgemeine Erscheinung beobachten, daß die tobenden Haufen<br />

ein äußerst herausfor<strong>der</strong>ndes Verhalten gegen die Truppen an den Tag legten; auf die<br />

Auffor<strong>der</strong>ung, auseinan<strong>der</strong>zugehen, antwortete die Menge mit Steinen und von <strong>der</strong><br />

Straße aufgelesenen Eisstücken. Wurden Schreckschüsse in die Luft abgegeben, dann<br />

zerstreute sich die Menge nicht nur nicht, son<strong>der</strong>n nahm solche Salven mit Gelächter auf.<br />

Erst nach Abgabe scharfer Schüsse mitten in die Menge hinein gelang es, die Ansammlungen<br />

zu zerstreuen, <strong>der</strong>en Teilnehmer jedoch in den meisten Fällen sich in den nächstliegenden<br />

Höfen versteckten und wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße erschienen, sobald das Schießen<br />

verstummte.« Diese polizeiliche Übersicht läßt die außerordentlich hohe Temperatur <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 79


Massen erkennen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß die Menge von sich aus begonnen<br />

hat, das Militär, waren es auch die Lehrkommandos, mit Steinen und Eis zu bombardieren:<br />

dies wi<strong>der</strong>spricht völlig <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> Aufständischen und ihrer klugen<br />

Taktik in bezug auf die Armee. Um die Massenmorde nachträglich zu rechtfertigen, sind<br />

die Farben <strong>der</strong> Berichte nicht ganz den Tatsachen entsprechend gewählt und verteilt. Das<br />

Wesentliche aber ist richtig und kraß wie<strong>der</strong>gegeben: die Masse will nicht mehr weichen,<br />

sie wi<strong>der</strong>setzt sich mit optimistischer Wut, bleibt auf den Straßen auch nach den tödlichen<br />

Salven, klammert sich nicht an das Leben, son<strong>der</strong>n an das Pflaster, an die Steine, an<br />

das Eis. Die Menge ist nicht bloß erbittert, sie ist verwegen. Und dies, weil sie, trotz <strong>der</strong><br />

Erschießungen, den Glauben an die Truppen nicht verloren hat. Sie rechnet mit einem<br />

Sieg und will ihn um jeden Preis erringen.<br />

Der Druck <strong>der</strong> Arbeiter auf die Armee verstärkt sich und wirkte dem Druck <strong>der</strong> Behörden<br />

auf die Armee entgegen. Die Petrogra<strong>der</strong> Garinson gerät endgultig in den Brennpunkt<br />

<strong>der</strong> Ereignisse. Die abwartende Periode, die drei Tage währte, in <strong>der</strong> es <strong>der</strong> Hauptrnasse<br />

<strong>der</strong> Garnison möglich war, wohlwollende Neutralität gegen die Aufständischen zu<br />

bewahren, ist zu Ende. »Schieße auf den Feind!« befiehlt die Monarchie. »Schieße nicht<br />

auf deine Brü<strong>der</strong> und Schwestern!« rufen die Arbeiter und Arbeiterinnen, und nicht nur<br />

das: »Geh mit uns!« So spielt sich auf den Straßen und Plätzen, an den Brücken, an den<br />

Toren <strong>der</strong> Kasernen ein ununterbrochener, bald dramatischer, bald unsichtbarer, aber<br />

immer verzweifelter Kampf ab um die Seele des Soldaten. In diesem Kampf, in dieser<br />

engen Berührung <strong>der</strong> Arbeiter und Arbeiterinnen mit den Soldaten unter unausgesetztem<br />

Geknatter <strong>der</strong> Gewehre und Maschinengewehre entschied sich das Schicksal <strong>der</strong> Macht,<br />

des Krieges und des Landes.<br />

Die Nie<strong>der</strong>metzelung von Demonstranten verstärkt die Unsicherheit in den Reihen <strong>der</strong><br />

Führer. Gerade <strong>der</strong> Schwung <strong>der</strong> Bewegung beginnt gefährlich zu erscheinen. Sogar in<br />

<strong>der</strong> Sitzung des Wyborger Komitees, am Abend des 26., das heißt zwölf Stunden vor<br />

dem Siege, ist die Rede davon, ob es nicht Zeit sei, zum Abbruch des Generalstreiks<br />

aufzurufen. Das mag seltsam erscheinen. Aber es ist viel leichter, den Sieg einen Tag<br />

nach dem Erringen zu erkennen als tags zuvor. Übrigens wechselt häufig die Stimmung<br />

unter den Stößen <strong>der</strong> Ereignisse und Gerüchte. Sinken<strong>der</strong> Mut und wachsende Zuversicht<br />

lösen einan<strong>der</strong> schnell ab. Persönlichen Mut besitzen die Kajurows und Tschugurins<br />

genügend, aber mitunter drückt sie die Verantwortung für die Massen schwer. Unter den<br />

Arbeitern selbst gibt es weniger Schwan kungen. Über <strong>der</strong>en Stimmung meldet <strong>der</strong> gut<br />

unterrichtete Agent <strong>der</strong> Ochrana, Schurkanow, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> bolschewistischen Organisation<br />

eine bedeutende Rolle gespielt hat, seiner Behörde: »Da die Truppen die Menge nicht<br />

hin<strong>der</strong>ten«, schrieb <strong>der</strong> Provokateur, »son<strong>der</strong>n in einzelnen Fällen sogar Maßnahmen zur<br />

Paralysierung <strong>der</strong> Polizeiaktionen trafen, wuchs in den Massen das Gefühl <strong>der</strong> Straifreiheit,<br />

und heute, nach zwei Tagen ungehin<strong>der</strong>ten Umhergehens in den Straßen, nachdem<br />

die revolutionären Kreise die Parolen "Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg" und "Nie<strong>der</strong> mit dem<br />

Selbstherrschertum" aufgestellt haben, hat sich im Volke <strong>der</strong> Glaube festgesetzt, die<br />

<strong>Revolution</strong> habe begonnen, <strong>der</strong> Erfolg sei den Massen sicher, die Regierung ohnmächtig,<br />

die Bewegung zu unterdrücken, da die Truppen auf seiten des Volkes ständen, <strong>der</strong><br />

entscheidende Sieg sei nahe, weil die Truppen heute o<strong>der</strong> morgen offen auf die Seite <strong>der</strong><br />

revolutionären Streitkräfte übergehen würden, die entfesselte Bewegung werde nicht<br />

mehr innehalten, sen<strong>der</strong>n ununterbrochen wachsen, bis zum völligen Siege und zum<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 80


Staatsumsturz.« In ihrer Knappheit und Kraßheit eine hervorragende Charakteristik! Der<br />

Bericht ist ein höchst wertvolles historisches Dokument. Das wird die siegreichen Arbeiter<br />

natürlich nicht hin<strong>der</strong>n, seinen Autor zu erschießen.<br />

Die Provokateure, <strong>der</strong>en Zahl ungeheuer ist, beson<strong>der</strong>s in Petrograd, fürchtet mehr als<br />

sonst wer siegt bei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Sie verfolgen ihre Politik: bei den bolschewistischen<br />

Beratungen verteidigt Schurkanow die radikalsten Handlungen in den Berichten an die<br />

Ochrana vertritt er die Notwendigkeit energischer Anwendung <strong>der</strong> Waffen. Vielleicht<br />

war Schurkanow zu diesem Zwecke sogar bemüht, den Offensivgeist <strong>der</strong> Arbeiter zu<br />

übertreiben. Im wesentlichen aber hat er recht: die Ereignisse werden bald seine Beurteilung<br />

als richtig bestätigen.<br />

Schwanken und Rätselraten herrschte bei den Spitzen bei<strong>der</strong> Lager, denn niemand<br />

konnte von vornherein das Kräfteverhältnis ermessen. Die äußeren Anzeichen haben<br />

endgültig aufgehört, als Gradmesser zu dienen: eines <strong>der</strong> Hauptmerkmale <strong>der</strong> revolutionären<br />

Krise besteht eben in dem scharfen Gegensatz zwischen dem Bewußtsein und den<br />

alten Formen <strong>der</strong> gesellschaftlichen Beziehungen. Das neue Kräfteverhältnis nistete<br />

geheimnisvoll im Bewußtsein <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Und gerade <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong><br />

Regierung zur Offensive, hervorgerufen durch die vorangegangene Offensive <strong>der</strong> revolutionären<br />

Massen, leitete das neue Kräfteverhälmis aus dem potentiellen in den aktiven<br />

Zustand über. Erwartungsvoll und gebieterisch schaute <strong>der</strong> Arbeiter dem Soldaten in die<br />

Augen, dieser aber wandte unsicher und unruhig den Blick ab: das bedeutete, <strong>der</strong> Soldat<br />

war seiner selbst nicht mehr gewiß. Der Arbeiter ging nun mutiger an ihn heran. Der<br />

Soldat verharrte in finsterem, doch nicht feindseligem, eher schuldbewußtem Schweigen,<br />

manchmal - ininier häufiger - antwortete er mit scheinbarer Strenge, um zu verbergen,<br />

wie unruhig das Herz in seiner Brust schlug. So vollzog sich <strong>der</strong> Umschwung. Der Soldat<br />

schüttelte sein Soldatentum offensichtlich von sich ab. Dabei erkannte er sich anfangs<br />

selbst nicht. Die Vorgesetzten sagten, die <strong>Revolution</strong> mache den Soldaten trunken; dem<br />

Soldaten hingegen schien es, als erwache er aus einem Opiumrausch <strong>der</strong> Kaserne. So<br />

bereitete sich <strong>der</strong> entscheidende Tag vor: <strong>der</strong> 27. Februar.<br />

Allein schon am Vorabend ereignete sich ein Vorfall, <strong>der</strong> trotz seines episodischen<br />

Charakters die Ereignisse des 26. Februar in neuem Lichte zeigt: am Abend meuterte die<br />

4. Kompanie <strong>der</strong> Leibgarde des Pawlowski-Regiments. In <strong>der</strong> schriftlichen Meldung<br />

eines Polizeiaufsehers wird als Ursache des Aufstandes ganz kategorisch angegeben:<br />

»Empörung über das Lehrkommando des gleichen Regiments, das während des<br />

Wachdienstes auf dem Newski in die Menge geschossen hat.« Wer hat die 4. Kompanie<br />

davon benachrichtigt? Darüber ist zufällig eine Mitteilung erhalten geblieben. Gegen<br />

zwei Uhr mittags kam zu den Kasernen des Pawlowski-Regiments ein Haufen Arbeiter<br />

gelaufen, die, einan<strong>der</strong> erregt unterbrechend, über die Schießerei auf dem Newski berichteten.<br />

»Sagt den Kameraden, daß auch die Pawlowsker auf uns schießen, wir haben auf<br />

dem Newski Soldaten in eurer Uniform gesehen.« Das war ein bitterer Vorwurf, ein<br />

flammen<strong>der</strong> Mahnruf. »Alle waren bewegt und blaß.« Der Samen war nicht auf Stein<br />

gefallen. Gegen sechs Uhr verließ die 4. Kompanie eigenmächtig die Kaserne unter dem<br />

Kommando eines Unteroffiziers - wer war es? sein Name ging spurlos in den Hun<strong>der</strong>ten<br />

und Tausenden ebensolcher heroischer Namen unter - und begab sich zum Newski, um<br />

ihr Lehrkommando wegzuholen. Das ist keine Soldatenmeuterei madigen Specks wegen,<br />

das ist ein Akt hoher revolutionärer Initiative. Unterwegs hatte die Kompanie einen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 81


Zusammenstoß mit einer berittenen Polizeistreife; sie schoß, tötete einen Schutzmann<br />

und ein Pferd, verwundete einen Schutzmann und ein Pferd. Der weitere Weg <strong>der</strong><br />

Aufständischen durch den Wirbel <strong>der</strong> Straße ist nicht aufzuspüren. Die Kompanie kehrte<br />

in die Kaserne zurück und brachte das ganze Regiment auf die Beine. Aber inzwischen<br />

waren die Waffen beiseite gebracht worden; nach einigen Mitteilungen gelang es jedoch<br />

den Soldaten, in den Besitz von dreißig Gewehren zu kommen. Bald wurden sie von<br />

Soldaten des Preobraschenski-Regiments umzingelt, neunzehn Mann verhaftet und in die<br />

Festung gebracht; <strong>der</strong> Rest ergab sich. Nach einer an<strong>der</strong>en Version fehlten am Abend<br />

beim Appell einundzwanzig Mann mit Gewehren. Ein gefährliches Leck! Die einundzwanzig<br />

Soldaten werden die ganze Nacht Verbündete und Beschützer suchen. Retten<br />

kann sie nur <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Von ihnen werden die Arbeiter Zuverlässiges über<br />

das Vorgefallene erfahren. Das ist kein schlechtes Vorzeichen für die morgigen Kämpfe.<br />

Nabokow, einer <strong>der</strong> angesehensten liberalen Führer, dessen glaubwürdig klingende<br />

Memoiren stellenweise wie ein Tagebuch seiner Partei und seiner Klasse anmuten, kehrte<br />

um ein Uhr nachts von einem Besuch heim durch dunkle, lauernde Straßen, »besorgt und<br />

mit düsteren Vorahnungen.. Möglich, daß ihm an einer Straßenkreuzung ein entlaufener<br />

Pawlowsker begegnete. Sie gingen hastig aneinan<strong>der</strong> vorbei: sie hatten sich nichts zu<br />

sagen. In den Arbeitervierteln und in den Kasernen wachten o<strong>der</strong> berieten sich die einen,<br />

während die an<strong>der</strong>en den Halbschlaf des Biwaks schliefen und fieberhaft vom morgigen<br />

Tag träumten. Dort fand <strong>der</strong> entlaufene Pawlowsker Unterkunft.<br />

Wie dürftig sind die Aufzeichnungen über die Massenkämpfe in den Februartagen,<br />

kärglich selbst im Vergleich mit den nicht übermäßig zahlreichen Aufzeichnungen über<br />

die Oktoberkämpfe. Im Oktober leitete die Aufständischen tagaus, tagein die Partei; in<br />

ihren Artikeln, Aufrufen, Protokollen ist doch mindestens die Reihenfolge <strong>der</strong> Kämpfe<br />

festgehalten. An<strong>der</strong>s im Februar. Eine Leitung <strong>der</strong> Massen von oben gab es fast nicht.<br />

Die Zeitungen schwiegen, denn es war Streik. Ohne sich umzuschauen, machten die<br />

Massen selbst ihre <strong>Geschichte</strong>. Ein lebendiges Bild <strong>der</strong> Ereignisse, die in den Straßen<br />

abrollten, zu schaffen, ist fast unmöglich. Es ist schon viel, wenn man ihre allgemeine<br />

Aufeinan<strong>der</strong>folge und innere Gesetzmäßigkeit wie<strong>der</strong>herstellen kann.<br />

Die Regierung, die den Machtapparat noch nicht verloren hatte, überblickte die Ereignisse<br />

im ganzen noch schlechter als die linken Parteien, die, wie wir wissen, alles an<strong>der</strong>e<br />

als auf <strong>der</strong> Höhe waren. Nach den "erfolgreichen" Erschießungen vom 26. faßten die<br />

Minister für einen Augenblick Mut. Am frühen Morgen des 27. meldet Protopopow<br />

beruhigend, daß, nach den vorliegenden Berichten, »ein Teil <strong>der</strong> Arbeiter beabsichtigt,<br />

die Arbeit wie<strong>der</strong>aufzunehmen«. Die Arbeiter aber dachten nicht im entferntesten daran,<br />

zur Werkbank zurückzukehren. Die Erschießungcn und Mißerfolge des gestrigen Tages<br />

haben die Massen nicht entmutigt. Wie ist das zu erklären? Offenbar überwog irgendein<br />

Plus das Minus. Indem sie sich über die Straßen ergießt, mit dem Feinde zusammenstößt,<br />

die Soldaten an den Schultern rüttelt, unter den Bäuchen <strong>der</strong> Pferde hindurchkriecht,<br />

angreift, auseinan<strong>der</strong>läuft, an den Straßenecken Tote zurückläßt, ab und zu Waffen<br />

erobert, Nachrichten weitergibt, Gerüchte auffängt, wird die aufständische Masse zu<br />

einem Kollektivwesen mit unzähligen Augen, Ohren und Fühlern. In <strong>der</strong> Nacht von <strong>der</strong><br />

Arena des Kampfes in die Fabrikviertel zurückgekehrt, verarbeitet die Masse die<br />

Tageseindrücke und zieht, das Kleinliche und Zufällige aussiebend, das schwerwiegende<br />

Fazit. In <strong>der</strong> Nacht zum 27. sah dieses Fazit ungefähr so aus, wie es <strong>der</strong> Provokateur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 82


Schurkanow seinen Vorgesetzten meldete.<br />

Am Morgen strömen die Arbeiter wie<strong>der</strong> in den Betrieben zusammen und beschließen<br />

in gemeinsamen Versammlungen, den Kampf fortzusetzen. Am eifrigsten sind, wie<br />

immer, die Wyborger. Aber auch in den an<strong>der</strong>en Bezirken verlaufen die Meetings unter<br />

großer Begeisterung. Fortsetzung des Kampfes! Aber was bedeutet das heute? Der<br />

Generalstreik hatte sich in revolutionäre Demonstrationen gewaltiger Massen aufgelöst,<br />

und die Demonstrationen hatten zu Zusammenstößen mit den Truppen geführt. Den<br />

Kampffortsetzen bedeutet heute, zum bewaffneten Aufstand aufrufen. Aber diesen Ruf<br />

erhebt keiner. Er wächst unabwendbar aus den Ereignissen hervor, noch ist er von <strong>der</strong><br />

revolutionären Partei durchaus nicht auf die Tagesordnung gestellt.<br />

Die Kunst <strong>der</strong> revolutionären Führung besteht in kritischen Augenblicken zu neun<br />

Zehntel darin, die Masse belauschen zu können, so wie Kajurow die Bewegung <strong>der</strong><br />

Kosakenaugenbraue abgeguckt hat, nur in viel breiterem Maßstabe. Die unühertreifliche<br />

Fähigkeit, die Masse zu belauschen, bildete die große Macht Lenins. Lenin aber war<br />

nicht in Petrograd. Die legalen und halblegalen "sozialistischen" Stäbe, die Kerenski,<br />

Tschcheidse, Skobelew, und all jene, die sie umschwirrten, konnten nur Warnungen<br />

aufbringen und die Bewegung hemmen. Aber auch <strong>der</strong> zentrale bolschewistische Stab,<br />

<strong>der</strong> aus Schljapnikow, Saluzki und Molotow bestand, verblüfft durch Hilflosigkeit und<br />

Mangel jeglicher Initiative. Tatsächlich waren die Bezirke und die Kasernen sich selbst<br />

überlassen. Der erste Aufruf an die Truppen wurde am 26. von einer sozialdemokratischen<br />

Organisation herausgegeben, die den Bolschewiki nahestand. Dieser Aufruf, <strong>der</strong><br />

einen reichlich unentschlossenen Charakter trug (es fehlte darin sogar die Auffor<strong>der</strong>ung,<br />

auf die Seite des Volkes überzugehen), wurde vom Morgen des 27. an in allen Stadtbezirken<br />

verbreitet. »Jedoch« - bezeugt ein Führer dieser Organisation, Jurenjew -, »das<br />

Tempo <strong>der</strong> revolutionären Ereignisse war <strong>der</strong>art, daß unsere Parolen bereits hinter ihm<br />

zurückblieben. In dem Moment, als die Flugblätter in die Soldatenmasse eindrangen,<br />

vollzog sich ihr Aufbruch.« Was das bolschewistische Zentrum betrifft, so schrieb<br />

Schljapnikow erst am Morgen des 27., auf Veranlassung Tschugurins, einem <strong>der</strong> besten<br />

Arbeiterführer <strong>der</strong> Februartage, einen Aufruf an die Soldaten. Wurde er gedruckt?<br />

Bestenfalls erreichte auch er die Soldaten schon beim Aufbruch. Die Ereignisse des 27.<br />

Februar zu beeinflussen, war er nicht mehr imstande. Man muß als Regel feststellen: die<br />

Führer blieben in jenen Tagen um so weiter zurück, je höher sie standen.<br />

Doch <strong>der</strong> Aufstand, den niemand hei Namen nennt, wird trotzdem auf die Tagesordnung<br />

gestellt. Alle Sinne <strong>der</strong> Arbeiter sind auf die Armee gerichtet. Wird es uns gelingen,<br />

sie in Bewegung zu bringen? Vereinzelte Agitation genügt heute nicht mehr. Die Wyborger<br />

veranstalten vor <strong>der</strong> Kaserne des Moskauer Regimentes ein Meeting. Das Unternehmen<br />

mißlang: ist es denn für einen Offizier o<strong>der</strong> einen Feldwebel schwer, das<br />

Maschinengewehr in Tätigkeit zu setzen? Die Arbeiter wurden durch grausames Feuer<br />

auseinan<strong>der</strong>getrieben. Ein gleicher Versuch wurde bei <strong>der</strong> Kaserne des Reserveregiments<br />

unternommen. Und auch dort das gleiche: zwischen Arbeiter und Soldaten stellten sich<br />

Offiziere mit Maschinengewehren. Die Arbeiterführer rasten, suchten nach Waffen,<br />

for<strong>der</strong>ten sie von <strong>der</strong> Partei. Sie erhielten zur Antwort: Waffen sind bei den Soldaten,<br />

holt sie bei ihnen. Dies wußten sie ohnehin. Aber wie sie holen? Wird heute nicht allesjäh<br />

scheitern? So rückte <strong>der</strong> kritische Punkt des Kampfes immer näher. Entwe<strong>der</strong> wird<br />

das Maschinengewehr den Aufstand hinwegfegen, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufstand in Besitz des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 83


Maschinengewehrs kommen.<br />

In seinen Erinnerungen erzählt Schljapnikow, die Hauptfigur des damaligen Petersburger<br />

Zentrums <strong>der</strong> Bolschewiki, wie er die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiter nach Waffen, wenigstens<br />

Revolvern, ablehnte und auf die Waffen in den Kasernen verwies. Er wollte auf<br />

diese Weise blutige Zusammenstöße zwischen Arbeitern und Soldaten vermeiden und<br />

den ganzen Einsatz auf die Agitation stellen, das heißt auf die Gewinnung <strong>der</strong> Soldaten<br />

durch Wort und Beispiel. Wir kennen keine an<strong>der</strong>en Angaben, die diese, eher von<br />

Wankelmut als von Weitblick zeugende Aussage eines angesehenen Führers jener Tage<br />

bestätigt o<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>legt hätten. Einfacher wäre gewesen, zuzugeben, daß die Führer<br />

keine Waffen besaßen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Schicksal je<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

auf einer bestimmten Etappe durch den Umschwung in <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Armee<br />

entschieden wird. Über eine zahlreiche, disziplinierte, gut bewaffnete und fachmännisch<br />

geleitete Militärmacht könnten unbewaffnete o<strong>der</strong> kaum bewaffnete Volksmassen keinen<br />

Sieg erringen. Aber jede tiefgehende nationale Krise muß in diesem o<strong>der</strong> jenem Grade<br />

natürlich auch die Armee erfassen; so bildet sich, zusammen mit den Bedingungen einer<br />

wahrhaften Volksrevolution, die Möglichkeit - allerdings nicht die Gewähr ihres Sieges<br />

heraus. Der Übergang <strong>der</strong> Armee auf die Seite <strong>der</strong> Auf-ständischen vollzieht sich jedoch<br />

nicht automatisch und kann nicht die Folge <strong>der</strong> Agitation allein sein. Die Armee ist<br />

uneinheitlich, und ihre antagonistischen Elemente werden durch den Terror <strong>der</strong> Disziplin<br />

zusammengehalten. Noch am Vorabend <strong>der</strong> entscheidenden Stunde wissen revolutionäre<br />

Soldaten oft nicht, welche Macht sie darstellen und wie groß die Möglichkeiten ihres<br />

Einflusses sind. Uneinheitlich sind allerdings auch die Arbeitermassen. Aber sie besitzen<br />

unermeßlich größere Möglichkeiten, im Prozeß <strong>der</strong> Vorbereitung des entscheidenden<br />

Zusammenstoßes ihre Reihen nachzuprüfen. Streiks, Versammlungen, Demonstrationen<br />

sind sowohl Akte des Kampfes als auch dessen Gradmesser. Nicht die gesamte Masse<br />

nimmt an Streiks teil. Nicht alle Streikenden sind kampfbereit. In den zugespitztesten<br />

Augenblicken sind auf <strong>der</strong> Straße nur die Entsehlossensten. Die Schwankenden, Müden<br />

o<strong>der</strong> Rückständigen sitzen zu Hause. So vollzieht sich die revolutionäre Auslese von<br />

selbst, die Menschen werden durch das Sieb <strong>der</strong> Ereignisse geson<strong>der</strong>t. An<strong>der</strong>s verhält es<br />

sich mit <strong>der</strong> Armee. Die revolutionären Soldaten, die sympathisierenden, die schwankenden,<br />

die feindlich gesinnten - alle sind an den Zwang <strong>der</strong> Disziplin gebunden, <strong>der</strong>en<br />

Fäden bis zum letzten Augenblick in <strong>der</strong> Faust des Offiziers konzentriert bleiben. Die<br />

Soldaten werden noch immer täglich in "erste" und "zweite" Reihen eingeteilt, wie aber<br />

sind sie in Meuternde und Gehorsame einzuteilen?<br />

Der psychologische Moment des Überschwenkens <strong>der</strong> Soldaten auf die Seite <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> wird durch einen langen molekularen Prozeß vorbereitet, <strong>der</strong>, wie alle Naturprozesse,<br />

seinen kritischen Punkt hat. Doch wie ihn bestimmen? Ein Truppenteil kann<br />

für den Anschluß an das Volk völlig reif sein, aber von außen den nötigen Anstoß nicht<br />

erhalten. Die revolutionäre Leitung glaubt noch nicht an die Möglichkeit, die Armee auf<br />

ihrer Seite zu haben, und geht am Sieg vorbei. Nach einem solchen herangereiften, aber<br />

nicht verwirklichten Aufstand, kann sich bei den Truppen eine Reaktion vollziehen: die<br />

Soldaten verlieren die in ihrem Innern aufgeflammte Hoffnung, beugen den Nacken<br />

wie<strong>der</strong> unter das Joch <strong>der</strong> Disziplin und werden dann bei einer neuen Begegnung mit den<br />

Arbeitern beson<strong>der</strong>s auf Distanz, gegen die Aufständischen sein. Dieser Prozeß birgt<br />

viele unwägbare o<strong>der</strong> schwer wägbare Größen, sich kreuzende Ströme, kollektive Sugge-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 84


stionen und Autosuggestionen. Aber von diesem kornplizierten Geflecht materieller und<br />

psychischer Kräfte hebt sich mit unwi<strong>der</strong>stehlicher Grelle die eine Schlußfolgerung ab:<br />

in ihrer Masse sind die Soldaten um so fähiger, die Bajonette zur Seite zu wenden o<strong>der</strong><br />

mit ihnen zum Volke überzugehen, je mehr sie sich davon überzeugen, daß die Aufständischen<br />

sich wirklich erhoben haben; daß es nicht nur eine Demonstration ist, nach <strong>der</strong><br />

man wie<strong>der</strong> in die Kaserne wird zurückkehren und Antwort stehen müssen; daß es ein<br />

Kampf auf Leben und Tod ist; daß das Volk zu siegen imstande ist, wenn man sich ihm<br />

anschließt, und daß dies nicht nur Straffreiheit sichern, son<strong>der</strong>n das ganze Dasein erleichtern<br />

wird. Mit an<strong>der</strong>en Worten, den Stimmungswechsel bei den Soldaten können die<br />

Aufständischen nur in dem Falle hervorrufen, daß sie selbst wirklich bereit sind, den Sieg<br />

um jeden Preis, folglich auch mit ihrem Blute, an sich zu reißen. Diese höchste<br />

Entschlossenheit aber kann und will niemals waffenlos sein.<br />

Die kritische Stunde <strong>der</strong> Berührung <strong>der</strong> vordrängenden Masse mit den ihr den Weg<br />

sperrenden Soldaten hat ihre kritische Minute: dann, wenn die graue Barriere noch nicht<br />

auseinan<strong>der</strong>gefallen ist, noch Schulter an Schulter steht, aber bereits schwankt und <strong>der</strong><br />

Offizier unter Sammlung seiner letzten Entschlossenheit den Befehl "Feuer" gibt. Schreie<br />

<strong>der</strong> Menge, Aufheulen des Schreckens und Drohungen übertönen die Stimme des<br />

Kommandos, - doch nur zur Hälfte. Die Gewehre wogen, die Menge drängt nach vorn.<br />

Da richtet <strong>der</strong> Offizier den Lauf seines Revolvers auf den verdächtigsten Soldaten. Aus<br />

<strong>der</strong> entscheidenden Minute hebt sich die entscheidende Sekunde heraus. Die Vernichtung<br />

des kühnsten Soldaten, auf den unwillkürlich die Blicke aller übrigen gerichtet sind, <strong>der</strong><br />

Schuß eines Unteroffiziers aus dem einem Toten entrissenen Gewehr in die Menge - und<br />

die Barriere schließt sich, die Gewehre gehen von selbst los, die Menge in die Nebenstraßen<br />

und Höfe wegfegend. Aber wie viele Male seit dem Jahre 1905 ist es an<strong>der</strong>s gekommen:<br />

im kritischen Augenblick, als <strong>der</strong> Offizier den Hahn abzudrücken sich anschickt,<br />

kommt ihm ein Schuß aus <strong>der</strong> Menge zuvor, die ihre Kajurows und Tschugurins hat.<br />

Dies entscheidet nicht nur das Schicksal des Zusammenpralls, son<strong>der</strong>n das Schicksal des<br />

Tages, vielleicht des ganzen Aufstandes.<br />

Die Aufgabe, die Schljapnikow sich gestellt hatte: die Arbeiter vor feindlichen Zusammenstößen<br />

mit den Truppen zu bewahren, indem man den Aulständischen keine Schußwaffen<br />

in die Hand gibt, ist überhaupt undurchführbar. Bevor es tatsächlich bis zu einem<br />

Zusammenprall mit den Truppen kam, gab es zahllose Geplänkel mit <strong>der</strong> Polizei. Der<br />

Straßenkampf begann mit <strong>der</strong> Entwaffnung <strong>der</strong> verhaßten "Pharaonen", <strong>der</strong>en Revolver<br />

in den Besitz <strong>der</strong> Aufständischen übergingen. An sich eine schwache Waffe, fast ein<br />

Spielzeug gegenüber den Gewehren, Maschinengewehren und Kanonen des Feindes.<br />

Sind aber diese wirklich in den Händen des Feindes? Um dies nachprüfen zu können,<br />

verlangten die Arbeiter eben Waffen. Die Frage wird auf dem psychologischen Gebiet<br />

entschieden. Aber auch beim Aufstande sind die psychischen Prozesse von den sachlichen<br />

nicht zu trennen. Der Weg zum Soldatengewehr geht über den Revolver, den man<br />

dem "Pharao" abnimmt.<br />

Die Erlebnisse <strong>der</strong> Soldaten in jenen Stunden waren weniger aktiv als die Erlebnisse<br />

<strong>der</strong> Arbeiter, aber nicht weniger tief. Wir wollen nochmals daran erinnern, daß die Garnison<br />

vorwiegend aus vieltausendköpfigen Reservebataillonen bestand, die zur Aufführung<br />

<strong>der</strong> Frontregimenter bestimmt waren. Diesen Menschen, in ihrer Mehrzahl Familienväter,<br />

stand bevor, in die Schützengräben zu gehen, wiewohl <strong>der</strong> Krieg bereits verloren, das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 85


Land ruiniert war. Sie wollten den Krieg nicht, sie wollten nach Hause, zu ihrer<br />

Wirtschaft zurück. Sie wußten sehr gut, was am Hofe sich abspielte, und fühlten nicht die<br />

geringste Anhänglichkeit für die Monarchie. Sie hatten keine Lust, gegen die Deutschen<br />

zu kämpfen und noch weniger gegen die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter. Sie haßten die regierende<br />

Klasse <strong>der</strong> Hauptstadt, die sich während des Krieges dem Wohlleben hingab. Unter ihnen<br />

waren Arbeiter mit revolutionärer Vergangenheit, die all diesen Stimmungen einen<br />

verallgemeinernden Ausdruck zu geben wußten.<br />

Die Soldaten von ihrer tiefen, aber noch nicht nach außen gedrungenen revolutionären<br />

Unzufriedenheit zu offenen, aufrührerischen Taten zu bringen o<strong>der</strong>, fürs erste, wenigstens<br />

zu aufrührerischer Verweigerung von Taten, - das war die Aufgabe. Am dritten<br />

Tage des Kampfes büßten die Soldaten endgültig die Möglichkeit ein, noch weiterhin in<br />

<strong>der</strong> Position wohlwollen<strong>der</strong> Neutralität gegen die Aufständischen zu verharren. Nur<br />

zufällige Bruchteile sind uns darüber erhalten geblieben, was sich in jenen Stunden des<br />

Zusammentreffens <strong>der</strong> Arbeiter mit den Soldaten abgespielt hat. Wir hörten schon, wie<br />

bitter die Arbeiter sich tags zuvor bei dem Pawlowski-Regiment über das Vorgehen des<br />

Lehrkommandos beklagten. Solche Szenen, solche Gespräche, Vorwürfe und Beschwörungen<br />

gab es an allen Enden <strong>der</strong> Stadt. Den Soldaten blieb keine Zeit mehr zum<br />

Schwanken. Man hatte sie gestern gezwungen, zu schießen, man wird sie heute wie<strong>der</strong><br />

dazu zwingen. Die Arbeiter ergeben sich nicht, weichen nicht zurück, unter dem Hagel<br />

des Bleies wollen sie das Ihrige erringen. Arbeiterinnen, Frauen, Mütter, Schwestern,<br />

Geliebte, sind mit ihnen. Das ist ja nun die Stunde, von <strong>der</strong> man so oft flüsternd in<br />

verborgenen Winkeln sprach: »Ja, wenn doch alle gemeinsam ...« Und im Augenblick<br />

<strong>der</strong> höchsten Qual, <strong>der</strong> unerträglichsten Angst vor dem werdenden Tag, im Augenblick<br />

des würgenden Hasses gegen jene, die ihnen die Henkerrolle aufzwingen, ertönen in den<br />

Kasernen die ersten Stimmen des offenen Aufruhrs; und in diesen Stimmen, die namenlos<br />

geblieben sind, erkennt die ganze Kaserne voll Erleichterung und Begeisterung sich<br />

selbst. So brach über das Land <strong>der</strong> Tag des Unterganges <strong>der</strong> Romanowschen Monarchie<br />

herein.<br />

Morgens, in <strong>der</strong> Versammlung bei dem unermüdlichen Kajurow, wo ungefähr vierzig<br />

Vertreter aus Fabriken und Betrieben anwesend waren, sprach sich die Mehrzahl für die<br />

Fortsetzung des Kampfes aus. Die Mehrzahl, doch nicht alle. Es ist bedauerlich, daß man<br />

die genaue Mehrheit nicht feststellen kann. Aber in jenen Stunden stand <strong>der</strong> Sinn nicht<br />

nach Protokollen. Im übrigen kam <strong>der</strong> Beschluß verspätet: die Versammlung wurde<br />

durch die berauschende Nachricht vom Aufstande <strong>der</strong> Soldaten und <strong>der</strong> Öffnung <strong>der</strong><br />

Gefängnisse unterbrochen. »Schurkanow küßte sich mit allen Anwesenden.« Der Kuß des<br />

Judas, zum Glück nicht vor <strong>der</strong> Kreuzigung.<br />

Eines nach dem an<strong>der</strong>en meuterten am Morgen - vor dem Ausmarsch aus <strong>der</strong> Kaserne<br />

-, die Reservegardebataillone, in Fortsetzung dessen, was die 4. Kompanie des Pawlowski-Regimentes<br />

tags zuvor begonnen hatte. In den Dokumenten, Aufzeichnungen und<br />

Erinnerungen hat dieses grandiose Ereignis <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte nur blasse und<br />

verschwommene Spuren hinterlassen. Die unterdrückten Massen erzählen, selbst wenn<br />

sie sich auf die höchsten Gipfel historischer Leistung erheben, nur wenig von sich, und<br />

noch weniger schreiben sie es nie<strong>der</strong>. Und <strong>der</strong> hinreißende Triumph des Sieges verwischt<br />

dann die Arbeit des Gedächtnisses. Nehmen wir also das, was vorhanden ist.<br />

Zuerst erhoben sich die Soldaten des Wolynski-Regiments. Bereits um sieben Uhr<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 86


morgens alarmierte <strong>der</strong> Bataillonskommandeur telephonisch den General Chabalow, um<br />

ihm die bedrohliche Nachricht zu geben, das Lehrkommando, das heißt <strong>der</strong> speziell für<br />

Ruhestiftung vorgesehene Truppenteil, weigere sich, auszurücken, <strong>der</strong> Kommandant sei<br />

ermordet o<strong>der</strong> habe sich vor versammelter Mannschaft selbst erschossen; die zweite<br />

Version wurde übrigens bald fallengelassen. Nachdem sie die Brücken hinter sich<br />

verbrannt hatten, waren die Wolyner bestrebt, die Basis des Aufstandes zu verbreitern:<br />

das war jetzt für sie die einzige Rettung. Sie stürzten in die benachbarten Kasernen <strong>der</strong><br />

Litowski- und Preobraschenski-Regimenter, um die Soldaten "rauszuholen", wie Streikende<br />

von Betrieb zu Betrieb gehen, um die Arbeiter herauszuholen. Nach einiger Zeit<br />

erhielt Chabalow die Meldung, die Wolyner gäben die Gewehre nicht nur nicht ab, wie<br />

es <strong>der</strong> General befohlen, son<strong>der</strong>n sie hätten gemeinsam mit den Preobraschenskern und<br />

Litowskem und, was noch schlimmer war, »vereinigt mit den Arbeitern« die Kasernen<br />

<strong>der</strong> Gendarmeriedivision demoliert. Das besagte, daß die gestrige Erfahrung des<br />

Pawlowski-Regiments nicht verlorengegangen war: die Aurfständischen fanden Führer<br />

und gleichzeitig einen Aktionsplan.<br />

In den frühen Morgenstunden des 27. schien den Arbeitern die Lösung <strong>der</strong> Aufgaben<br />

des Aufstandes unermeßlich ferner, als sie in Wirklichkeit war. Richtiger gesagt, sie<br />

sahen fast noch die ganze Aufgabe vor sich, während diese schon zu neun Zehntel hinter<br />

ihnen lag. Der revolutionäre Ansturm <strong>der</strong> Arbeiter auf die Kasernen fiel zusammen mit<br />

dem bereits begonnenen revolutionären Ausmarsch <strong>der</strong> Soldaten auf die Straße. Im Laufe<br />

des Tages verschmolzen diese zwei mächtigen Ströme in eins, um zuerst Dach, dann<br />

Mauern und schließlich Fundament des alten Gebäudes fortzuspülen und abzutragen.<br />

Tschugurin erschien als einer <strong>der</strong> ersten im Quartier <strong>der</strong> Bolschewiki mit einem<br />

Gewehr in <strong>der</strong> Hand und einem Patronengürtel über den Schultern, »ganz beschmutzt,<br />

aber strahlend und siegreich«. Wie konnte man da nicht strahlen! Die Soldaten gehen<br />

mit dem Gewehr in <strong>der</strong> Hand zu uns über! An manchen Orten war es den Arbeitern<br />

bereits gelungen, sich mit den Soldaten zu vereinigen, in die Kasernen einzudringen und<br />

dort Gewehre und Patronen zu erhalten. Gemeinsam mit dem entschlossensten Teil <strong>der</strong><br />

Soldaten entwarfen die Wyborger einen Aktionsplan: Eroberung <strong>der</strong> Polizeireviere, in<br />

denen sich bewaffnete Schutzleute verschanzt haben, Entwaffnung aller Polizeibeamten,<br />

Befreiung <strong>der</strong> Arbeiter, die in den Polizeirevieren festgehalten werden, und <strong>der</strong> politischen<br />

Gefangenen aus den Gefängnissen; Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Regierungstruppen in <strong>der</strong><br />

Stadt selbst und Vereinigung mit den noch nicht auf die Beine gebrachten Truppenteilen<br />

und mit den Arbeitern <strong>der</strong> übrigen Stadtbezirke.<br />

Das Moskauer-Regiment schloß sich nicht ohne inneren Kampf dem Aufstand an. Es<br />

ist verwun<strong>der</strong>lich, daß es solche Kämpfe in den Regimentern überhaupt so wenig<br />

gegeben hat. Die monarchische Oberschicht fiel kraftlos um vor <strong>der</strong> Soldatenmasse und<br />

verkroch sich entwe<strong>der</strong> in den Löchern o<strong>der</strong> beeilte sich, die Farbe zu wechseln. »Um<br />

zwei Uhr mittags«, schreibt Koroljew, ein Arbeiter aus <strong>der</strong> Fabrik "Arsenal", »nach dem<br />

Ausmarsch des Moskauer-Regiments, bewaffneten wir uns ... Wir nahmen je<strong>der</strong> einen<br />

Revolver und ein Gewehr, bildeten aus den an uns herangetretenen Soldaten Gruppen<br />

(einige von ihnen ersuchten uns, das Kommando zu übernehmen und ihnen zu sagen, was<br />

sie zu tun hätten) und begaben uns in die Tichwinskajastraße, ein Polizeirevier auszuheben.«<br />

Die Arbeiter waren, wie man sieht, nicht eine Minute in Verlegenheit, den Soldaten<br />

zu zeigen, »was zu tun« sei.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 87


Freudige Siegesnachrichten lösten einan<strong>der</strong> ab: Man ist im Besitz von Panzerwagen!<br />

Mit ihren roten Bannern jagen sie in den Bezirken allen jenen Schrecken ein, die sich<br />

noch nicht unterworfen haben. Jetzt braucht man nicht mehr unter den Bäuchen <strong>der</strong><br />

Kosakenpferde herumzukriechen! Die <strong>Revolution</strong> reckt sich in ihrem ganzen Wuchse<br />

hoch!<br />

Gegen zwölf Uhr mittags wurde Petrograd wie<strong>der</strong> zum Schauplatz kriegerischer Aktionen.<br />

Gewehr- und Maschinengewehrgeknatter ertönte überall. Wer schießt und wo<br />

geschossen wird, ist nicht immer zu unterscheiden. Klar war eines: Es beschossen sich<br />

Vergangenheit und Zukunft. Es gab auch nicht selten unnötiges Geschieße: Jugendliche<br />

feuern aus Revolvern, die auf so unerwartete Weise in ihre Hände geraten sind. Das<br />

Arsenal ist ausgeraubt: »Man sagt, allein an Brownings wurden mehrere zehntausend<br />

erbeutet.« Von den brennenden Gebäuden des Bezirksgerichts und <strong>der</strong> Polizeireviere<br />

steigen Rauchsäulen zum Himmel. An einigen Punkten verdichten sich die Zusammenstöße<br />

und Schießereien zu wahren Schlachten. Zu den Baracken am Sampsonjewski-Prospekt,<br />

in denen eine Radfahrertruppe untergebracht ist, von <strong>der</strong> ein Teil vor dem Tore<br />

sich zusammendrängt, kommen Arbeiter. »Was steht ihr da, Kameraden?« Die Soldaten<br />

lächeln - »lächeln nicht gut«, berichtet ein Teilnehmer - und schweigen, die Offiziere<br />

aber befehlen den Arbeitern grob, weiterzugehen. Die Radfahrer sowohl wie die Kavalleristen<br />

zeigten sich in <strong>der</strong> Februar- wie in <strong>der</strong> Oktoberrevolution als die konservativsten<br />

Armeeteile. Vor dem Zaune sammeln sich bald Arbeiter und revolutionäre Soldaten. Man<br />

muß das verdächtige Bataillon herausholen! Jemand sagt, man habe bereits nach Panzerwagen<br />

geschickt, an<strong>der</strong>s seien die Radfahrer wohl kaum zu bezwingen, da sie sich<br />

befestigt und Maschinengewehre aufgestellt hätten. Aber <strong>der</strong> Masse fällt das Warten<br />

schwer: sie ist unruhig und ungeduldig, und sie hat mit ihrer Ungeduld recht. Auf beiden<br />

Seiten fallen Schüsse. Der Bretterzaun, <strong>der</strong> die Soldaten von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> trennt, ist<br />

hin<strong>der</strong>lich. Die Angreifer beschließen, den Zaun umzulegen; ein Teil wird<br />

nie<strong>der</strong>gerissen, ein Teil in Brand gesteckt. Die Baracken, etwa zwanzig an <strong>der</strong> Zahl,<br />

stehen entblößt da. In zwei, drei von ihnen sind die Radfahrer untergebracht. Die leeren<br />

Baracken werden auf <strong>der</strong> Stelle angezündet. Sechs Jahre später wird sich Kajurow entsinnen:<br />

»Die lo<strong>der</strong>nden Baracken und <strong>der</strong> sie umgebende nie<strong>der</strong>gerissene Zaun, das<br />

Knattern <strong>der</strong> Maschinengewehre und Gewehre, die erregten Gesichter <strong>der</strong> Belagerer,<br />

das herbeirasende Lastauto voll bewaffneter <strong>Revolution</strong>äre und schließlich <strong>der</strong> auftauchende<br />

Panzerwagen mit den glänzenden Geschützläufen - ein groflartiges, unvergeßliches<br />

Bild.« Mit diesen Baracken und Zäunen brannte das alte zatistische Rußland <strong>der</strong><br />

Polizei, <strong>der</strong> Leibeigenschaft und <strong>der</strong> Popen, es ging im Feuer und Rauch auf, es krepierte<br />

im Lärm des Maschinengewehrgeknatters. Wie sollten da Kajurow, die Dutzende,<br />

Hun<strong>der</strong>te und Tausende Kajurows nicht gejubelt haben. Der eingetroffene Panzerwagen<br />

gab einige Kanonenschüsse auf die Baracken ab, in denen sich die Offiziere und Radfahrer<br />

festgesetzt hatten. Der Leiter <strong>der</strong> Verteidigung fiel, die Offiziere rissen Achselstücke<br />

und Abzeichen ab und flüchteten durch die angrenzenden Gemüsegärten, die übrigen<br />

ergaben sich. Das war wohl <strong>der</strong> wichtigste Zusammenstoß dieses Tages.<br />

Der militärische Aufstand nahm unterdes epidemischen Charakter an. Es meuterten an<br />

diesem Tage nur jene Truppenteile nicht, die dazu nicht Zeit fanden. Gegen Abend<br />

schlossen sich die Soldaten des Semjonowski-Regiments an, das durch bestialisches<br />

Nie<strong>der</strong>schlagen des Moskauer Aufstandes im Jahre 1905 berühmt geworden war: die elf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 88


Jahre waren nicht spurlos vergangen! Gemeinsam mit den Jägern entwaffneten die<br />

Semjonowsker noch spät abends das Ismajlowski-Regiment, das die Vorgesetzten in den<br />

Kasernen eingeschlossen hielten: Dieses Regiment, das am 3. Dezember 1905 den ersten<br />

Petersburger Sowjet umringt und verhaftet hatte, galt schon damals als eines <strong>der</strong><br />

rückständigsten. Die zatistische Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt, die 150.000 Soldaten zählte,<br />

kroch auseinan<strong>der</strong>, zerschmolz, verschwand. Nachts existierte sie nicht mehr.<br />

Chabalow, <strong>der</strong> am Morgen die Kunde von dem Aulstand <strong>der</strong> Regimenter vernimmt,<br />

versucht noch, Wi<strong>der</strong>stand zu leisten, indem er eine kombinierte Abteilung von etwa<br />

tausend Mann mit den drakonischsten Instruktionen gegen die Aufständischen marschieren<br />

läßt. Doch das Schicksal dieser Abteilung nimmt einen geheininisvollen Verlauf. »Es<br />

beginnt etwas Unwalirscheinliches sich in diesen Tagen abzuspielen«, erzählt <strong>der</strong> unvergleichliche<br />

Chabalow nach dem Umsturz, »... die Abteilung ist ausgerückt, ausgerückt<br />

mit mutigen, entschlossenen Offizieren [die Rede ist vom Obersten Kutjepow], aber ...<br />

ergebnislos.« Die nach dieser Abteilung ausgesandten Kompanien verschwinden gleichfalls<br />

spurlos. Der General beginnt auf dem Schloßplatz Reserveabteilungen zu formieren,<br />

aber »es gab keine Patronen, und man konnte sie nirgendwo auftreiben«. Das alles sind<br />

dokumentarische Angaben Chabalows vor <strong>der</strong> Untersuchungskommission <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung. Wohin verschwanden denn all diese Ordnungstruppen? Dies ist nicht<br />

schwer zu erraten: Sie gingen, kaum ausgerückt, im Aufstande unter. Arbeiter, Frauen,<br />

Jugendliche, meuternde Soldaten umringten die Chabalowschen Abteilungen von allen<br />

Seiten, da sie sie entwe<strong>der</strong> als die Ihrigen betrachteten o<strong>der</strong> zu solchen machen wollten,<br />

und ließen sie nicht an<strong>der</strong>s vorwärts als zusammen mit <strong>der</strong> großen, unübersehbaren<br />

Menge. Gegen diese fest an ihnen klebende, nichts mehr fürchtende, unerschöpifiche,<br />

alles durchdringende Masse zu kämpfen war ebensowenig möglich wie im Teig zu<br />

fechten.<br />

Gleichzeitig mit den Meldungen über Meutereien immer neuer Regimenter erging <strong>der</strong><br />

Ruf nach zuverlässigen Truppenteilen zur Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes, zum Schutze<br />

<strong>der</strong> Telephonstation, des Litauischen Schlosses, des Mariinski-Palais' und an<strong>der</strong>er, noch<br />

geheiligterer Stätten. Chabalow versuchte telephonisch, aus Kronstadt zuverlässige<br />

Truppen anzufor<strong>der</strong>n, aber <strong>der</strong> Kommandant antwortete ihm, er sei selbst um das Schicksal<br />

<strong>der</strong> Festung in Sorge. Chabalow wußte noch nicht, daß <strong>der</strong> Aufstand auch die benachbarten<br />

Garnisonen erfaßt hatte. Der General versuchte, o<strong>der</strong> tat wenigstens so, als versuche<br />

er, sich im Winterpalais zu verschanzen, <strong>der</strong> Plan wurde aber sofort als undurchführbar<br />

aufgegeben und das letzte Häuflein "treuer" Truppen in die Admiralität verlegt. Dort<br />

traf <strong>der</strong> Diktator endlich Sorge, das wichtigste und unaufschiebbarste Werk zu tun: die<br />

zwei letzten Regierungsakte - den Rücktritt Protopopows »wegen Krankheit« und die<br />

Erklärung des Belagerungszustandes - in Druck zu geben. Mit dem Belagerungszustand<br />

hieß es sich allerdings beeilen, denn schon nach wenigen Stunden hob die Armee Chabalows<br />

die »Belagerung« Petrograds wie<strong>der</strong> auf und lief aus <strong>der</strong> Admiralität aus-einan<strong>der</strong>.<br />

Nur in Unkenntnis <strong>der</strong> Lage hat die Revolntion am Abend des 27. den mit schrecklichen<br />

Vollmachten ausgerüsteten, aber gar nicht mehr schrecklichen General nicht verhaftet.<br />

Das wurde ohne Schwierigkeiten am nächsten Tag getan.<br />

War das wirklich <strong>der</strong> ganze Wi<strong>der</strong>stand des furchtbaren kaiserlichen Rußlands<br />

angesichts <strong>der</strong> tödlichen Gefahr? Ja, beinahe <strong>der</strong> ganze, trotz <strong>der</strong> großen Erfahrung in<br />

Exekutionen gegen das Volk und <strong>der</strong> sorgfältigst ausgearbeiteten Pläne. Die später zur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 89


Besinnung gekommenen Monarchisten erklärten die Leichtigkeit des Februarsieges des<br />

Volkes mit dem beson<strong>der</strong>en Charakter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison. Der gesamte weitere<br />

Verlauf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wi<strong>der</strong>legt jedoch diese Behauptung. Es ist richtig, daß bereits zu<br />

Beginn des schlcksalsvollen Jahres die Kamarilla dem Zaren den Gedanken von <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit eincr Erneuerung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison einzuflüstern versucht hatte.<br />

Mühelos ließ sich <strong>der</strong> Zar davon überzeugen, daß die Gardekavallerie, die als beson<strong>der</strong>s<br />

ergeben galt, »lange genug im Feuer gestanden« hätte und eine Ruhepause in den Petrogra<strong>der</strong><br />

Kasernen verdiene. Allein nach ehrfurchtsvollen Vorstellungen seitens <strong>der</strong> Front<br />

willigte <strong>der</strong> Zar ein, vier Gardekavallerieregimenter durch drei Gardematrosenequipagen<br />

zu ersetzen. Nach <strong>der</strong> Protopopowschen Version wurde dieser Wechsel angeblich ohne<br />

Wissen des Zaren vorgenommen, mit einer treubrüchigen Absicht des Kommandos:<br />

»Die Matrosen sind aus Arbeitern ausgewählt und stellen das revolutionäre Element in<br />

<strong>der</strong> Armee dar.« Das ist aber reiner Unsinn. Es ist einfach so, daß die höheren Gardeoffiziere,<br />

beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Kavallerie, zu gute Karriere an <strong>der</strong> Front machten, um Sehnsucht<br />

nach dem Hinterlande zu verspüren. Außerdem dachten sie wohl nicht ohne Angst an die<br />

ihnen vorbehaltenen Unterdrückungsfunktionen an <strong>der</strong> Spitze von Regimentern, die an<br />

<strong>der</strong> Front ganz an<strong>der</strong>s geworden, als sie am Standort, in <strong>der</strong> Hauptstadt, gewesen waren.<br />

Wie die Ereignisse an <strong>der</strong> Front bald zeigten, unterschied sich zu dieser Zeit die Gardekavallerie<br />

nicht von <strong>der</strong> übrigen Reiterei, während die in die Hauptstadt übergeführten<br />

Gardematrosen sich beim Februarumsturz keinesfalls durch eine aktive Rolle auszeichneten.<br />

Die ganze Sache war so, daß das Gewebe des Regimes endgültig verfault und an ihm<br />

kein heiler Faden geblieben war<br />

Im Laufr des 27. Februars wurden ohne Opfer aus zahlreichen Gefängnissen <strong>der</strong><br />

Hauptstadt die politischen Gefangenen befreit, darunter die patriotische Gruppe des<br />

Kriegsindustriekomitees, die seit dem 26. Januar verhaftet war, und die Mitglie<strong>der</strong> des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki, die Chabalow vierzig Stunden vorher festgenommen<br />

hatte. Die politische Abson<strong>der</strong>ung vollzieht sich an Ort und Stelle, jenseits des<br />

Gefängnistores: die Menschewikipatrioten begeben sich in die Duma, wo Rollen und<br />

Posten verteilt werden, die Bolschewiki gehen in die Bezirke, zu den Arbeitern und<br />

Soldaten, um gemeinsam mit ihnen die Eroberung <strong>der</strong> Hauptstadt zu vollenden. Man darf<br />

dem Feinde keine Atempause gewähren. Mehr als irgendeine an<strong>der</strong>e Sache muß man<br />

eine <strong>Revolution</strong> bis ans Ende führen.<br />

Wer auf den Gedanken gekommen war, die aufständischen Regimenter zum Taurischen<br />

Palais zu dirigieren, läßt sich nicht beantworten. Diese politische Marschroute<br />

ergab sich aus <strong>der</strong> ganzen Situation. Zum Taurischen Palais, als dem Sammelpunkt <strong>der</strong><br />

oppositionellen Information, strebten natürlicherweise alle Elemente des Radikalismus,<br />

die mit den Massen nicht verbunden waren. Es ist höchst wahrscheinlich, daß gerade<br />

diese Elemente, die am 27. plötzlich einen Zustrom neuer Lebenskräfte verspürten, als<br />

Anführer <strong>der</strong> meuternden Garde auftraten. Diese Rolle war ehrenvoll und beinahe schon<br />

ungefährlich. Das Palais Potemkin war seiner ganzen Lage nach sehr geeignet als<br />

Zentrum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Nur eine Straße trennte den Taurischen Garten von einem<br />

ganzen Militärstädtchen, wo die Gardekasernen lagen und verschiedene Kriegsämter<br />

untergebracht waren. Allerdings galt dieser Stadtteil während einer Reihe von Jahren<br />

sowohl bei <strong>der</strong> Regierung wie bei den <strong>Revolution</strong>ären als militärische Hochburg <strong>der</strong><br />

Monarchie. Er war es auch. Jetzt aber verwandelte sich alles. Vom Gardesektor ging die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 90


Soldatenrevolte aus. Die aufständischen Truppen hatten nur eine Straße zu überqueren,<br />

um in den Garten des Taurischen Palais zu gelangen, den wie<strong>der</strong> nur ein Straßenblock<br />

von <strong>der</strong> Newa trennte. Hinter <strong>der</strong> Newa aber liegt <strong>der</strong> Wyborger Bezirk, <strong>der</strong> Dampfkessel<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: die Arbeiter brauchten nur die Alexan<strong>der</strong>brücke o<strong>der</strong>, wenn diese auseinan<strong>der</strong>genommen,<br />

das Eis <strong>der</strong> Newa zu passieren, um in die Gardekasernen o<strong>der</strong> in das<br />

Taurische Palais zu gelangen. So schloß sich dieses verschiedenartige und seiner<br />

Abstammung nach gegensätzliche nordöstliche Dreieck Petersburgs: Garde, Potemkin-<br />

Palais und die Riesenbetriebe fest zu einem Heerlager <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zusammen.<br />

In den Räumen des Taurischen Palais werden verschiedene Zentren geschaffen o<strong>der</strong> in<br />

Aussicht genommen, darunter auch <strong>der</strong> Generalstab des Aufstandes. Man kann nicht<br />

sagen, daß dieser einen sehr ernsten Charakter trug. Die "revolutionären" Offiziere, das<br />

heißt Offiziere, die in ihrer Vergangenheit durch irgend etwas, und sei es auch durch ein<br />

Mißverständnis, mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verbunden gewesen waren, den Aufstand jedoch<br />

wohlbehalten verschlafen hatten, suchen nach seinem Sieg sich eiligst in Erinnerung zu<br />

bringen o<strong>der</strong> stellen sich, aufgefor<strong>der</strong>t, »in den Dienst <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Tiefsinnig<br />

betrachten sie die Lage und schütteln pessimistisch die Köpfe. Diese aufgeregten, oft<br />

unbewaffneten Soldatenmassen seien ja nicht kampffähig. Es gäbe we<strong>der</strong> Artillerie, noch<br />

Maschinengewehre, noch Verbindungen, noch Kommandeure. Dem Feinde würde ein<br />

fester Truppenteil genügen! Im Augenblick behin<strong>der</strong>n die revolutionären Haufen allerdings<br />

jede planmäßige Operation in den Straßen. In <strong>der</strong> Nacht aber entfernen sich die<br />

Arbeiter, die Einwohner verstummen, die Stadt wird leer. Greift Chabalow dann mit<br />

einem festen Truppenteil die Kasernen an, kann er sich als Herr <strong>der</strong> Lage erweisen.<br />

Nebenbei gesagt taucht dieser Gedanke später in verschiedenen Variationen in allen<br />

Etappen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf. »Gebt mir ein sicheres Regiment«, wird ein flinker Oberst in<br />

seinem Winkel sagen, »und ich fege im Nu diesen ganzen Unrat weg.« Einige, wie wir<br />

noch sehen werden, machten auch den Versuch. Aber alle werden die Worte Chabalows<br />

wie<strong>der</strong>holen müssen: »Die Abteilung ist ausgerückt mit mutigen Offizieren, aber ...<br />

ergebnislos.«<br />

Woher auch sollten die Ergebnisse kommen? Die unerschütter-lichsten aller Abteilungen<br />

waren die Polizisten, die Gendarmen und zum Teil noch die Lehrkommandos einiger<br />

Regimenter. Sie erwiesen sich aber als kläglich vor dem Ansturm wahrhafter Volksmassen,<br />

wie sich acht Monate später, im Oktober, die Bataillone des Georgjewski-Regiments<br />

und die Junkerschulen als ohnmächtig erweisen werden. Wo sollte die Monarchie die<br />

rettende Truppe hernehmen, die bereit und fähig gewesen wäre zu einem langwierigen<br />

und hoffnungslosen Zweikampfe mit <strong>der</strong> Zweiniillionenstadt? Die <strong>Revolution</strong> erscheint<br />

dem in Worten unternehmungslustigen Obersten schutzlos, weil sie noch schrecklich<br />

chaotisch ist: überall planlose Bewegungen, sich kreuzende Ströme, Menschenstrudel,<br />

erstaunte, gleichsam jäh betäubte Gestalten, zerknüllte Uniformen, gestikulierende<br />

Studenten, Soldaten ohne Gewehre, Gewehre ohne Soldaten, in die Luft schießende<br />

Jugendliche, tausendstimmiger Lärm, Fluten wildester Gerüchte, grundlose Ängste,<br />

grundlose Freuden; es braucht sich, scheint es, nur ein einziger Säbel über diesem Chaos<br />

zu erheben, und alles wird restlos auseinan<strong>der</strong>stieben. Das aber ist ein großer Sehfehler.<br />

Das Chaos ist nur scheinbar. Darunter vollzieht sich unaufhaltsam eine Kristallisierung<br />

<strong>der</strong> Massen um neue Achsen. Die ungezählten Mengen sind sich noch selbst nicht ganz<br />

im klaren, wie sie wollen, dafür aber sind sie von brennendem Haß gegen das erfüllt, was<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 91


sie nicht länger wollen. Hinter ihrem Rücken ist ein nie wie<strong>der</strong> ungeschehen zu machen<strong>der</strong><br />

Einsturz erfolgt. Ein Zurück gibt es nicht. Auch wenn eine Macht vorhanden wäre,<br />

sie auseinan<strong>der</strong>zutreiben, sie wären in einer Stunde wie<strong>der</strong> beisammen, und <strong>der</strong> zweite<br />

Ansturm würde wüten<strong>der</strong> und blutiger geworden sein. Seit den Februartagen ist die<br />

Atmosphäre in Petrograd so glühend heiß, daß je<strong>der</strong> feindliche Truppenteil, <strong>der</strong> in diesen<br />

gewaltigen Herd gerät o<strong>der</strong> sich ihm auch nur nähert, von seinem Atem versengt wird, -<br />

sich verwandelt, die Sicherheit verliert, sich paralysiert fühlt und sich den Siegern<br />

kampflos auf Gnade o<strong>der</strong> Ungnade ergibt. Davon wird sich morgen General Iwanow<br />

überzeugen, den <strong>der</strong> Zar mit einem Bataillon Georgierkavallerie von <strong>der</strong> Front gesandt<br />

hat. Nach fünf Monaten wird das gleiche Schicksal General Kornilow ereilen. Nach acht<br />

Monaten - Kerenski.<br />

In den vorangegangenen Tagen scheinen in den Straßen die Kosaken die nachgiebigsten<br />

zu sein; das kam daher, daß sie am meisten herumgezerrt wurden. Als es aber zum<br />

offenen Aufstand kam, rechtfertigte die Reiterei noch einmal ihre konservative Reputation,<br />

indem sie hinter <strong>der</strong> Infanterie zurückblieb. Am 27. bewahrte sie noch den Schein<br />

abwarten<strong>der</strong> Neutralität. Wenn auch Chabalow nicht mehr auf sie hoffte, die <strong>Revolution</strong><br />

war vor ihr noch immer auf <strong>der</strong> Hut.<br />

Ein Rätsel blieb einstweilen noch die Peterpaulfestung auf <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Newa umspülten<br />

Insel gegenüber dem Winterpalais und den Schlössern <strong>der</strong> Großfürsten. Hinter den<br />

Mauern war - o<strong>der</strong> schien - die Garnison <strong>der</strong> Festung gegen Einflüsse <strong>der</strong> äußeren Welt<br />

am meisten geschützt. Eine ständige Artillerie gab es in <strong>der</strong> Festung nicht, wenn man von<br />

<strong>der</strong> altertümlichen Kanone absieht, die täglich den Petrogra<strong>der</strong>n die Mittagsstunde<br />

verkündete. Heute aber sind auf den Mauern, gegen die Brücke gerichtet, Feldgeschütze<br />

aufgestellt. Was bereitet sich dort vor? Im Taurischen Stab zerbricht man sich nachts<br />

darüber den Kopf, was man mit <strong>der</strong> Peterpaulfestung beginnen solle, während man sich<br />

in <strong>der</strong> Festung mit <strong>der</strong> Frage abquält; was die <strong>Revolution</strong> mit ihr vorhabe. Am Morgen<br />

wird sich das Rätsel lösen. »Unter <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong> Unantastbarkeit des Offiziersbestandes«<br />

wird die Festung dem Taurischen Palais übergeben. Nachdem sie sich über die<br />

Lage klargeworden waren, was nicht gar so schwer war, beeilten sich die Festungsoffiziere,<br />

dem unvermeidlichen Gang <strong>der</strong> Ereignisse zuvorzukommen.<br />

Gegen Abend des 27. ziehen Soldaten, Arbeiter, Studenten und Bürger zum Taurischen<br />

Palais. Hier hofft man die zu finden, die alles wissen, hier glaubt man Neues erfahren zu<br />

können, Direktiven zu erhalten. Ins Palais werden haufenweise von allen Seiten Waffen<br />

zusammengetragen und in einem Raum aufgestapelt, <strong>der</strong> sich in ein Arsenal verwandelt.<br />

In <strong>der</strong> Nacht hat unterdessen <strong>der</strong> revolutionäre Stab im Taurischen Palais sich ans Werk<br />

gemacht. Er sendet Kommandos aus zur Bewachung <strong>der</strong> Bahnhöfe und Patrouillen in alle<br />

Richtungen, aus denen eventuell Gefahr drohen könnte. Willig und wi<strong>der</strong>spruchslos,<br />

wenn auch in völliger Unordnung, erfüllen die Soldaten die Befehle <strong>der</strong> neuen Macht.<br />

Sie for<strong>der</strong>n aber jedesmal eine schriftliche Or<strong>der</strong>: die Initiative stammt wohl von den<br />

Überresten des Kommandobestandes o<strong>der</strong> von den Militärschreibern. Aber sie haben<br />

recht: man muß unverzüglich Ordnung in das Chaos bringen. Der revolutionäre Stab wie<br />

<strong>der</strong> eben entstandene Sowjet besitzen noch keinerlei Stempel. Der <strong>Revolution</strong> steht erst<br />

bevor, die bürokratische Wirtschaft ein-zuführen. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit wird sie es tun,<br />

lei<strong>der</strong> bis zum Überfluß.<br />

Die <strong>Revolution</strong> beginnt nach den Feinden zu suchen. In <strong>der</strong> Stadt werden Verhaftun-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 92


gen vorgenommen; »eigenmächtig«, werden die Liberalen vorwurfsvoll sagen. Aber die<br />

ganze <strong>Revolution</strong> ist eigenmächtig. Ins Taurische Palais werden unaufbörlich Gefangene<br />

eingeliefert: <strong>der</strong> Vorsitzende des Staatsrates, Minister, Schutzleute, Ochranaagenten, eine<br />

»germanophile« Gräfin, Gendarmerieoffiziere haufenweise. Einige Würdenträger, wie<br />

Protopopow, kommen von selbst, um sich verhaften zu lassen: das ist sicherer. »Die<br />

Wände des Saales, die einst von Ruhmeshymnen auf den Absolutismus ertönten, vernahmen<br />

heute nur Seufzer und Weinen«, wird später die freigelassene Gräfin erzählen.<br />

»Nebenan läßt sich ein gefangener General kraftlos in einen Stuhl sinken. Einige<br />

Dumamitglie<strong>der</strong> bieten mir liebenswürdig eine Tasse Tee an. Der tief in seiner Seele<br />

erschütterte General sagt erregt: "Gräfin, wir sind Zeugen des Unterganges eines<br />

großen Landes!"«<br />

Das große Land, das gar nicht daran dachte, unterzugehen, schritt, mit den Stiefeln<br />

stampfend, mit den Kolben polternd, die Luft mit Rufen erschütternd und auf manchen<br />

Fuß tretend, an den Menschen von gestern vorbei. <strong>Revolution</strong>en pflegten sich stets durch<br />

Unhöflichkeit auszuzeichnen: wohl deshalb, weil die herrschenden Klassen sich nicht<br />

rechtzeitig die Mühe gaben, das Volk an gute Manieren zu gewöhnen.<br />

Das Taurische Palais wird vorübergehend Hauptquartier, Regierungszentrum, Arsenal<br />

und Gefängnisverlies <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die noch nicht Schweiß und Blut von ihrem Antlitz<br />

abgewischt hat. Hier, in diesen Strudel, schleichen sich auch die unternehmungslustigen<br />

Feinde ein. Zufällig wird ein verkleideter Gendarmerieoberst entdeckt, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Ecke<br />

seine Aufzeichnungen macht - nicht etwa für die <strong>Geschichte</strong>, son<strong>der</strong>n für die Feldgerichte.<br />

Soldaten und Arbeiter wollen gleich auf <strong>der</strong> Stelle mit ihm Schluß machen. Doch die<br />

Männer vom "Stab" nehmen sich seiner an und führen ihn behutsam aus <strong>der</strong> Menge. Die<br />

<strong>Revolution</strong> ist zu dieser Zeit noch gutmütig, vertrauensvoll, weichherzig. Sie wird erst<br />

nach einer Reihe von Verrat, Betrug und blutigen Prüfüngen erbarmungslos werden.<br />

Die erste Nacht <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> ist von Unruhe erfüllt. Improvisierte<br />

Kommissare <strong>der</strong> Bahnhöfe und an<strong>der</strong>er Punkte, in ihrer Mehrzahl zufällige Intellektuelle<br />

mit persönlichen Beziehungen, aufdringliche Wichtigtuer, entfernte Bekannte <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> Unteroffiziere, beson<strong>der</strong>s aus <strong>der</strong> Arbeiterschicht, wären viel nützlicher<br />

gewesen! -, beginnen nervös zu werden, wittern überall Gefahr, verwirren die Soldaten<br />

und telephonieren unaufhörlich ins Taurische Palais nach Verstärkungen. Dort herrscht<br />

ebenfalls Aufregung, auch dort wird dauernd telephoniert, Verstärkungen werden ausgesandt,<br />

die den Bestimmungsort meist nicht erreichen. »Wer Befehle erhält«, erzählt ein<br />

Mitglied des nächtlichen Stabs im Taurischen, »führt sie nicht aus, wer handelt - handelt<br />

ohne Befehle...«<br />

Ohne Befehle handeln die Arbeiterviertel. Die revolutionären Obleute, die ihre<br />

Betriebe auf die Straße führten, Polizeireviere besetzten, die Regimenter aus den Kasernen<br />

herausholten und die Nester <strong>der</strong> Konterrevolution aushoben, eilen nicht ins Taurische,<br />

in die Stäbe, in die leitenden Zentren, im Gegenteil, ironisch und mißtrauisch<br />

weisen sie mit dem Kopf in jene Richtung: schon flattern die Herrchen herbei, um das<br />

Fell des nicht von ihnen erlegten und noch nicht völlig erlegten Bären zu teilen. Die<br />

Arbeiter-Bolschewiki wie die Arbeiter <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en linken Parteien verbringen ihre Tage<br />

in den Straßen, die Nächte in den Bezirksstäben, halten die Verbindung mit den Kasernen<br />

aufrecht, bereiten den morgigen Tag vor. In <strong>der</strong> ersten Nacht nach dem Siege setzen<br />

sie die Arbeit fort, die sie die letzten fünf Tage getan haben. Sie bilden das junge<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 93


Knochengerüst <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die, wie jede <strong>Revolution</strong>, an ihrem Anfang noch zu<br />

ungefestigt ist.<br />

Nabokow, das uns bereits bekannte Mitglied des Kadettenzentrums, <strong>der</strong> in dieser Zeit<br />

als legalisierter Deserteur dem Generalstab angehörte, begab sich am 27., wie stets, zum<br />

Dienst in die Kanzlei und blieb dort, ohne etwas von den Ereignissen zu wissen, bis 3<br />

Uhr nachmittags. Am Abend hörte man in <strong>der</strong> Morskaja-Straße Schüsse. Nabokow<br />

vernahm sie in seiner Wohnung, Panzerwagen rasten vorbei, vereinzelte Soldaten und<br />

Matrosen liefen die Mauern entlang durch die Straße, - <strong>der</strong> ehrwürdige Liberale beobachtete<br />

das durch die Seitenfenster seines Erkers. »Das Telephonamt arbeitete weiter, und<br />

die Nachrichten über die Tagesereignisse wurden mir, wenn ich mich recht entsinne, von<br />

meinen Freunden mitgeteilt. Zur gewohnten Stunde gingen wir schlafen.« Dieser Mann<br />

wird bald einer <strong>der</strong> Inspiratoren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>ären (!) Provisorischen Regierung sein, in<br />

Gestalt ihres Geschäftsführers. Auf <strong>der</strong> Straße wird morgen ein unbekannter Greis,<br />

irgendein Bürobeamter o<strong>der</strong> vielleicht Lehrer an ihn herantreten, wird den Hut ziehen<br />

und sprechen: »Dank für alles, was Sie für das Volk getan haben.« Und mit bescheidenem<br />

Stolz wird Nabokow selbst es uns erzählen.<br />

Wer leitete den Februaraufstand?<br />

Die Advokaten und Journalisten <strong>der</strong> durch die <strong>Revolution</strong> betroffenen Klassen haben<br />

nachträglich nicht wenig Tinte verbraucht, um zu beweisen, daß im Februar eigentlich<br />

eine Weiberrebellion stattgefunden habe, die dann von <strong>der</strong> Soldatenmeuterei überdeckt<br />

wurde; das eben habe man für eine <strong>Revolution</strong> ausgegeben. Ludwig XVI. wollte seinerzeit<br />

ebenfalls glauben, die Einnahme <strong>der</strong> Bastille sei eine Rebellion, doch man hat ihm<br />

ehrfurchtsvoll beigebracht, daß es eine <strong>Revolution</strong> sei. Jene, die bei einer <strong>Revolution</strong><br />

verlieren, sind selten geneigt, ihr ihren rechten Namen zuzugestehen, denn dieser ist,<br />

trotz aller Bemühungen wüten<strong>der</strong> Reaktionäre, im historischen Gedächtnis <strong>der</strong> Menschheit<br />

mit <strong>der</strong> Aureole <strong>der</strong> Befreiung von alten Ketten und Vorurteilen umgeben. Die Privilegierten<br />

aller Jahrhun<strong>der</strong>te und <strong>der</strong>en Lakaien haben unentwegt versucht, die<br />

<strong>Revolution</strong>, die sie gestürzt hatte, zum Unterschiede von den früheren, als Wirren,<br />

Meuterei o<strong>der</strong> Pöbelrebellion zu proklamieren. Klassen, die sich überlebt haben, zeichnen<br />

sich nie durch Erfindungsgeist aus.<br />

Kurz nach dem 27. Februar unternahm man Versuche, die Februarrevolution mit dem<br />

jungtürkischen Militärstreich zu vergleichen, von dem, wie wir wissen, man in den<br />

oberen Schichten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie nicht wenig geträumt hatte. Dieser<br />

Vergleich war jedoch <strong>der</strong>art trostlos, daß er sogar in einem bürgerlichen Blatte eine<br />

ernste Zurückweisung fand. Tugan-Baranowski, Nationalökonom, <strong>der</strong> in seiner Jugend<br />

die Marxsche Schule durchgemacht hatte, eine russische Spielart von Sombart, schrieb<br />

am 10. März in <strong>der</strong> 'Birschewyje Wedomosti':<br />

»Die türkische <strong>Revolution</strong> bestand in einer siegreichen Erhebung <strong>der</strong> Armee, die von<br />

den Führern vorbereitet und verwirklicht worden war. Die Soldaten waren nur gehorsame<br />

Vollstrecker <strong>der</strong> Absichten ihrer Offiziere. Aber jene Gar<strong>der</strong>egimenter, die am<br />

27. den <strong>russischen</strong> Thron umgestürzt haben, waren ohne ihre Offiziere erschienen ...<br />

Nicht die Armee, son<strong>der</strong>n die Arbeiter haben den Aufstand begonnen. Nicht Generale,<br />

son<strong>der</strong>n Soldaten sind zur Reichsduma marschiert. Die Soldaten haben die Arbeiter<br />

unterstützt, nicht in gehorsamer Ausführung <strong>der</strong> Befehle ihrer Offiziere, son<strong>der</strong>n, weil<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 94


... sie sich blutsverwandt fühlten mit den Arbeitern, als einer Klasse ebenso werktätiger<br />

Menschen wie sie selbst. Die Bauern und die Arbeiter - das sind die zwei sozialen<br />

Klassen, die die russische <strong>Revolution</strong> vollbrachten.«<br />

Diese Worte bedürfen we<strong>der</strong> einer Berichtigung noch Ergänzung. Die weitere<br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hat ihren Sinn zur Genüge bestätigt und bekräftigt.<br />

Der letzte Februartag war in Petrograd <strong>der</strong> erste Tag nach dem Siege: ein Tag <strong>der</strong><br />

Begeisterung, <strong>der</strong> Umarmungen, freudiger Tränen, wortreicher Ergüsse, doch zugleich<br />

<strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> letzten Schläge gegen den Feind. in den Straßen knatterten noch Schüsse.<br />

Man erzählte, Protopopows "Pharaonen", über den Sieg des Volkes nicht unterrichtet,<br />

schössen noch weiter von den Dächern. Von unten feuerte man gegen Dachböden,<br />

Bodenfenster und Kirchtürme, wo man bewaffnete Phantome des Zarismus vermutete.<br />

Um 4 Uhr nachmittags wurde die Admiralität besetzt, wo sich die letzten Reste einstiger<br />

Staatsmacht verborgen hielten. <strong>Revolution</strong>äre Organisationen und improvisierte Gruppen<br />

nahmen in <strong>der</strong> Stadt Verhaftungen vor. Das Schlüsselburger Zuchthaus wurde ohne einen<br />

Schuß genommen. Es schlossen sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> immer neue und neue Regimenter<br />

an: in <strong>der</strong> Hauptstadt und in <strong>der</strong> Umgebung.<br />

Der Umsturz in Moskau war nur ein Wi<strong>der</strong>hall des Aufstandes in Petrograd. Die<br />

gleichen Stimmungen bei Arbeitern und Soldaten, nur im Ausdruck nicht so kraß. Etwas<br />

linkere Stimmungen bei <strong>der</strong> Bourgeoisie. Eine noch größere Schwäche <strong>der</strong> revolutionären<br />

Organisationen als in Petrograd. Als die Ereignisse an <strong>der</strong> Newa ihren Anfang<br />

nahmen, hielt die Moskauer radikale Intelligenz Beratungen ab, was zu tun sei, und kam<br />

zu keinem Entschluß. Erst am 27. Februar begannen in den Moskauer Fabrikbetrieben<br />

Streiks, danach folgten Demonstrationen. Die Offiziere sagten den Soldaten in den<br />

Kasernen, auf den Straßen meutere Gesindel, das man zur Räson bringen müsse. »Aber<br />

jetzt«, erzählt <strong>der</strong> Soldat Schischilin, »verstanden die Soldaten das Wort Gesindel<br />

verkehrt!« Gegen 2 Uhr nachmittags erschienen vor dem Gebäude <strong>der</strong> Stadtduma aus<br />

verschiedenen Regimentern zahlreiche Soldaten, die Wege suchten, sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

anzuschließen. Am nächsten Tage wuchsen die Ausstände an. Massen zogen mit Fahnen<br />

zur Duma. Der Soldat <strong>der</strong> Automobil-Kompanie, Muralow, ein alter Bolschewik,<br />

Agronom von Beruf, ein großmütiger und tapferer Riese, führte den ersten geschlossenen<br />

und disziplinierten Truppenteil zur Duma, <strong>der</strong> das Radio und an<strong>der</strong>e Punkte besetzte.<br />

Acht Monate später wird Muralow die Truppen des Moskauer Milätarbezirks kommandieren.<br />

Die Gefängnisse wurden geöffnet. Der gleiche Muralow brachte einen Lastwagen mit<br />

befreiten politischen Gefangenen. Die Hand an <strong>der</strong> Mütze, fragte <strong>der</strong> Polizeiaufseher den<br />

<strong>Revolution</strong>är, ob man auch Juden herauslassen solle. Der soeben aus dem Zuchthaus<br />

befreite Dserschlnski, <strong>der</strong> die Arrestantenklei<strong>der</strong> noch nicht gewechselt hatte, trat im<br />

Gebäude <strong>der</strong> Duma auf, wo sich bereits <strong>der</strong> Sowjet formierte. Der Artillerist Dorofejew<br />

wird später erzählen, wie die Arbeiter <strong>der</strong> Konfektfabrik Siou am 1. März mit Fahnen in<br />

<strong>der</strong> Kaseme <strong>der</strong> Artilleriebrigade erschienen, sich mit den Soldaten zu verbrü<strong>der</strong>n, und<br />

wie viele sich vor Freude nicht fassen konnten und weinten. Es gab in <strong>der</strong> Stadt vereinzelte<br />

Schüsse aus dem Hinterhalt, im allgemeinen aber we<strong>der</strong> bewaffnete Zusammenstöße<br />

noch Opfer: für Moskau stand Petrograd ein.<br />

In einer Reihe von Provinzstädten begann die Bewegung erst am 1. März, nachdem <strong>der</strong><br />

Umsturz auch in Moskau bereits vollzogen war. In Twer begaben sich die Arbeiter aus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 95


den Betrieben in Demonstrationszügen zu den Kasernen und marschierten, zusammen<br />

mit den Soldaten, durch die Straßen <strong>der</strong> Stadt. Damals sang man noch die Marseillaise<br />

und nicht die <strong>Internationale</strong>. In Nischni-Nowgorod versammelten sich Tausende von<br />

Menschen beim Gebäude <strong>der</strong> Stadtduma, das in den meisten Städten die Rolle des Taurischen<br />

Palais spielte. Nach <strong>der</strong> Rede des Bürgermeisters setzten sich die Arbeiter mit<br />

roten Fahnen in Bewegung, die Politischen aus den Gefängnissen zu befreien. Von<br />

einundzwanzig Truppenteilen <strong>der</strong> Garnison gingen schon bis zum Abend achtzehn<br />

freiwillig zur <strong>Revolution</strong> über. In Samara und Saratow fanden Meetings statt, wurden<br />

Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten gebildet. In Charkow richtete sich <strong>der</strong> Polizeimeister, <strong>der</strong><br />

Zeit gefunden hatte, am Bahnhof über den Umsturz Erkundigungen einzuziehen, in<br />

seinem Wagen vor <strong>der</strong> erregten Menge hoch und schrie aus voller Lunge, die Mütze in<br />

<strong>der</strong> Luft schwenkend: »Es lebe die <strong>Revolution</strong>, hurra!« Jekaterinoslaw erhielt die Kunde<br />

aus Charkow. An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Manifestation schritt <strong>der</strong> Gehilfe des Polizeimeisters,<br />

den langen Säbel mit <strong>der</strong> Hand stützend, wie es bei Paraden an Zarentagen üblich<br />

gewesen. Als es endgäitig klar war, daß die Monarchie sich nicht mehr erheben werde,<br />

begann man in den Regierungsämtern in aller Stille die Zarenporträts herunterzunehmen<br />

und auf dem Boden zu verstecken. Solche Anekdoten, wahre und erfundene, gab es nicht<br />

wenig in den liberalen Kreisen, die noch den Geschmack an dem scherzhaften Ton in<br />

bezug auf die <strong>Revolution</strong> nicht verloren hatten. Die Arbeiter wie die Soldatengarnisonen<br />

erlebten die Ereignisse auf ganz an<strong>der</strong>e Art.<br />

Von einer Reihe an<strong>der</strong>er Provinzstädte (Pskow, Orel, Rybinsk, Pensa, Kasan, Zarizyn<br />

usw.) vermerkt die Chronik unter dem 2. März: »Man erfuhr von dem vollzogenen<br />

Umsturz, und die Bevölkerung schloß sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an.« Dieser Bericht gibt, trotz<br />

seines summarischen Charakters, das Geschehene im wesentlichen richtig wie<strong>der</strong>.<br />

In das Dorf flossen die Nachrichten über die <strong>Revolution</strong> aus den nächsten Städten teils<br />

durch die Behörden, hauptsächlich durch die Märkte, die Arbeiter und die Urlauber. Das<br />

Dorf nahm den Umsturz langsamer und weniger enthusiastisch auf als die Stadt, aber<br />

nicht min<strong>der</strong> tief: es verband ihn mit Krieg und Land.<br />

Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, daß Petrograd die Februarrevolution<br />

vollbrachte. Das übrige Land schloß sich ihm an. Nirgends außer in Petrograd gab es<br />

Kampf. Im ganzen Lande fanden sich keine Bevölkerungskreise, Parteien, Institutionen<br />

o<strong>der</strong> Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen.<br />

Das beweist, wie unbegründet das spätere Gerede <strong>der</strong> Reaktionäre war, wonach das<br />

Schicksal <strong>der</strong> Monarchie sich an<strong>der</strong>s gestaltet hätte, wenn die Gardekavallerie in Petrograd<br />

gewesen wäre o<strong>der</strong> wenn Iwanow eine zuverlässige Brigade von <strong>der</strong> Front gebracht<br />

hätte. We<strong>der</strong> im Hinterlande noch an <strong>der</strong> Front war eine Brigade o<strong>der</strong> ein Regiment<br />

bereit, sich für Nikolaus II. zu schlagen.<br />

Der Umsturz vollzog sich auf Initiative und durch die Kraft einer Stadt, die etwa ein<br />

Fünfundsiebzigstel <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung Rußlands umfaßte. Wenn man will, kann<br />

man sagen, <strong>der</strong> größte demokratische Akt vollzog sich auf die undemokratischste Weise.<br />

Das ganze Land war vor eine vollendete Tatsache gestellt. Der Umstand, daß man in <strong>der</strong><br />

Perspektive mit <strong>der</strong> konstituierenden Versammlung rechnete, än<strong>der</strong>t daran nichts, denn<br />

die Fristen und die Art <strong>der</strong> Einberufung <strong>der</strong> Nationalvertretung wurden von Organen<br />

bestimmt, die aus dem siegreichen Petrogra<strong>der</strong> Aufstand hervorgegangen waren. Das<br />

wirft ein grelles Licht auf die Frage <strong>der</strong> Funktion demokratischer Formen im allgemeinen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 96


und während revolutionärer Epochen im beson<strong>der</strong>en. Dem juristischen Fetischismus des<br />

Volkswillens haben <strong>Revolution</strong>en stets schwere Schläge zugefügt, und zwar um so erbarmungsloser,<br />

je tiefer, kühner, demokratischer diese <strong>Revolution</strong>en waren.<br />

Es ist oft genug davon gesprochen worden, beson<strong>der</strong>s in bezug auf die Große Französische<br />

<strong>Revolution</strong>, daß die äußerste Zentralisierung <strong>der</strong> Monarchie später <strong>der</strong> revolutionären<br />

Hauptstadt gestartete, für das ganze Land zu denken und zu handeln. Diese Erklärung<br />

ist oberflächlich. Wenn die <strong>Revolution</strong> zentralistische Tendenzen aufweist, so nicht als<br />

Nachahmung <strong>der</strong> gestürzten Monarchie, son<strong>der</strong>n infolge <strong>der</strong> unausweichlichen Bedüriiaisse<br />

<strong>der</strong> neuen Gesellschaft, die sich mit Partikularismus nicht vertragen. Wenn die<br />

Hauptstadt in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine so dominierende Rolle spielt und in gewissen Momenten<br />

gleichsam den Willen <strong>der</strong> Nation in sich konzentriert, dann eben deshalb, weil sie die<br />

wesentlichsten Tendenzen <strong>der</strong> neuen Gesellschaft am krassesten ausdrückt und zu Ende<br />

führt. Die Provinz empfindet die Schritte <strong>der</strong> Hauptstadt als ihre eigenen, aber bereits in<br />

die Tat umgesetzten Absichten. Die initiative Rolle <strong>der</strong> Zentren ist nicht eine Verletzung<br />

des Demokratismus, son<strong>der</strong>n seine dynamische Verwirklichung. Jedoch fiel in großen<br />

<strong>Revolution</strong>en <strong>der</strong> Rhythmus dieser Dynamik niemals mit dem Rhythmus <strong>der</strong> formalen,<br />

repräsentativen Demokratie zusammen. Die Provinz schließt sich den Handlungen des<br />

Zentrums an, nur mit Verspätung. Bei <strong>der</strong> eine <strong>Revolution</strong> charakterisierenden schnellen<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse führt dies zu scharfen, mit Methoden <strong>der</strong> Demokratie nicht<br />

zu lösenden Krisen des revolutionären Parlamentarismus. In allen wirklichen <strong>Revolution</strong>en<br />

zerschlug sich die Nationalvertretung unvermeidlich den Kopf an <strong>der</strong> Dynamik <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong>en Hauptherd die Hauptstadt war. So im siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t in<br />

England, im achtzehnten in Frankreich und im zwanzigsten in Rußland. Die Rolle <strong>der</strong><br />

Hauptstadt wird nicht durch die Traditienen des bürokratischen Zentralismus, son<strong>der</strong>n<br />

durch die Lage <strong>der</strong> führenden revolutionären Klasse bestimmt, <strong>der</strong>en Avantgarde sich<br />

naturgemäß in <strong>der</strong> Hauptstadt konzentriert: das trifft in gleicher Weise für die Bourgeoisie<br />

wie für das Proletariat zu.<br />

Als <strong>der</strong> Februarsieg feststand, ging man an das Zählen <strong>der</strong> Opfer. In Petrograd wurden<br />

ermittelt: 1.443 Tote und Verwundete, darunter 869 Militärpersonen, davon 60 Offiziere.<br />

Verglichen mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Opfer einer beliebigen Schlacht <strong>der</strong> großen Metzelei sind<br />

diese erheblichen Zahlen verschwindend gering. Die liberale Presse verkündete die<br />

Februarrevolution als eine unblutige. In den Tagen allgemeiner Auflösung <strong>der</strong> Gefühle<br />

und gegenseitigen Amnestierens <strong>der</strong> patriotischen Parteien unternahm es niemand, die<br />

Wahrheit festzustellen. Albert Thomas, <strong>der</strong> Freund alles Siegreichen, sogar siegreicher<br />

Aufstände, schrieb damals von <strong>der</strong> »allersonnigsten, allerfestlichsten, allerunblutigsten<br />

<strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>«. Allerdings in <strong>der</strong> Hoffnung, sie würde zur Verfügung <strong>der</strong><br />

französischen Börse bleiben. Aber schließlich hatte nicht Thomas das Pulver erfunden.<br />

Am 27. Juni 1789 rief Mirabeau: »Welches Glück, diese große <strong>Revolution</strong> wird ohne<br />

Morde und ohne Tränen auskommen! ... Die <strong>Geschichte</strong> hat zu lange nur von Raubtiertaten<br />

berichtet ... Wir dürfen hoffen, die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschen zu beginnen.« Als alle<br />

drei Stände sich in <strong>der</strong> Nationalversammlung vereinigt hatten, schrieben die Vorfahren<br />

von Albert Thomas: »Die <strong>Revolution</strong> ist beendet, sie hat keinen Tropfen Blut gekostet.«<br />

Und man muß zugeben, daß es in jener Periode tatsächlich noch kein Blut gegeben hatte.<br />

An<strong>der</strong>s in den Februartagen. Doch die Legende von <strong>der</strong> unblutigen <strong>Revolution</strong> erhielt<br />

sich hartnäckig, da es dem Bedürfnis des liberalen Bourgeois entsprach, die Sache so<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 97


darzustellen, als sei ihm die Macht von selbst zugefallen.<br />

Wenn aber die Februarrevolution auch nicht unblutig gewesen ist, so muß man doch<br />

staunen über die geringe Zahl an Opfern, sowohl im Augenblick des Umsturzes als auch<br />

beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> ersten nachfolgenden Periode. War es doch eine Abrechnung für<br />

Sklaverei, Verfolgungen, Hohn und nie<strong>der</strong>trächtige Mißhandlungen, denen die Volksmassen<br />

Rußlands jahrhun<strong>der</strong>telang ausgesetzt gewesen waren! Matrosen und Soldaten<br />

rechneten zwar hie und da mit ihren schlimmsten Schin<strong>der</strong>n in Gestalt von Offizieren ab.<br />

Doch war die Zahl solcher Vergeltungen verschwindend im Vergleich mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong><br />

alten blutigen Kränkungen. Die Massen streiften ihre Gutmütigkeit erst bedeutend später<br />

ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß die herrschenden Klassen alles zurückzuzerren<br />

und die <strong>Revolution</strong>, die sie nicht vollbracht hatten, für sich auszunutzen suchten, wie<br />

sie sich stets die Güter des Lebens, die sie nicht erzeugten, anzueignen pflegten.<br />

Tugan-Baranowski hat recht, wenn er sagt, die Februarrevolution hätten die Arbeiter<br />

und Bauern vollbracht, die letzteren in <strong>der</strong> Person des Soldaten. Es bleibt aber die große<br />

Frage bestehen, wer hat den Umsturz geleitet? Wer hat die Arbeiter auf die Beine<br />

gebracht? Wer die Soldaten auf die Straße geführt? Nach dem Siege wurden diese<br />

Fragen Gegenstand von Parteikänipfen. Am einfachsten suchte man sie durch eine<br />

Universalformel zu lösen: keiner hat die <strong>Revolution</strong> geleitet, sie vollzog sich von selbst.<br />

Diese "Elementar"-Theorie kam nicht nur jenen Herrschaften sehr gelegen, die gestern<br />

noch in aller Ruhe administriert, gerichtet, angeklagt, verteidigt, gehandelt o<strong>der</strong><br />

kommandiert hatten, heute aber Eile zeigten, sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> anzubie<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />

auch vielen Berufspolitikem und gewesenen <strong>Revolution</strong>ären, die, nachdem sie die<br />

<strong>Revolution</strong> verschlafen hatten, nun glauben wollten, sie unterschieden sich in dieser<br />

Hinsicht nicht von allen an<strong>der</strong>en.<br />

In seiner kuriosen "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirren" erzählt General Denikin, <strong>der</strong><br />

ehemalige Höchstkommandierende <strong>der</strong> Weißen Armee, über den 27. Februar: »An<br />

diesem entscheidenden Tage gab es keine Führer, es gab nur entfesselte Elemente. In<br />

ihrem zornigen Lauf konnte man we<strong>der</strong> Ziel, noch Plan, noch Parolen erkennen.« Der<br />

gelehrte Historiker Miljukow schürft nicht tiefer als <strong>der</strong> General, <strong>der</strong> eine Schwäche für<br />

das Schrifttum hat. Bis zum Umsturz hatte <strong>der</strong> liberale Führer jeden Gedanken an eine<br />

<strong>Revolution</strong> für eine Eingebung des deutschen Stabes erklärt. Die Lage wurde aber nach<br />

dem Umsturz, <strong>der</strong> die Liberalen an die Macht brachte, verzwickter. Jetzt bestand Miijukows<br />

Aufgabe nicht mehr darin, die <strong>Revolution</strong> mit <strong>der</strong> Ehrlosigkeit <strong>der</strong> hohenzollernschen<br />

Initiative zu behaften, son<strong>der</strong>n, im Gegenteil, den <strong>Revolution</strong>ären die Ehre <strong>der</strong><br />

Initiative abzusprechen. Der Liberalismus adoptierte vollständig die Theorie vom<br />

elementaren und unpersönlichen Charakter des Umsturzes. Mit Sympathie heruft sich<br />

Miljukow auf den Haibliberalen, Halbsozialisten Stankewitsch, einen Privatdozenten, <strong>der</strong><br />

Regierungskommissar beim Hauptquartier des Oberkommandos geworden war. »Die<br />

Masse kam von selbst in Bewegung, einem unbewußten, inneren Drange gehorchend ...«,<br />

schreibt Stankewitsch über die Februartage. »Mit welcher Parole sind die Soldaten<br />

aufgetreten? Wer führte sie, als sie Petrograd eroberten, als sie das Bezirksgericht<br />

nie<strong>der</strong>brannten? Nicht eine politische Idee, nicht eine revolutionäre Parole, nicht eine<br />

Verschwörung, nicht eine Rebellion, son<strong>der</strong>n die elementare Bewegung, die mit einem<br />

Male die alte Macht restlos einäscherte.« Das Elementare erhält hier einen fast mystischen<br />

Charakter.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 98


Der gleiche Stankewitseh gibt eine sehr wertvolle Zeugenaussage: »Ende Januar hatte<br />

ich Gelegenheit, in einem sehr intimen Kreise Kerenski zu treffen ... Gegenüber <strong>der</strong><br />

Möglichkeit eines Volksaufstandes verhielten sich alle ausgesprochen ablehnend, aus<br />

Furcht, die einmal ausgebrochene Massenbewegung des Volkes könnte in linksradikales<br />

Fahrwasser geraten, und dieses würde außerordentliche Schwierigkeiten für die Kriegsführung<br />

schaffen.« Die Ansichten des Kerenskikreises unterschieden sich im wesentlichen<br />

nicht von denen <strong>der</strong> Kadetten. Nicht von dort konnte die Initiative ausgehen.<br />

»Die <strong>Revolution</strong> schlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein«, sagt <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong><br />

sozialrevolutionären Partei, Sensinow. »Wollen wir offen sein: sie kam als eine große<br />

und freudige Überraschung auch für uns, <strong>Revolution</strong>äre, die lange Jahre für sie gearbeitet<br />

und sie stets erwartet hatten.«<br />

Nicht viel besser verhielt sich die Sache mit den Menschewiki. Ein Journalist <strong>der</strong><br />

bürgerlichen Emigrantenkreise berichtet über seine Begegnung in <strong>der</strong> Straßenbahn am<br />

24. Februar mit Skobeljew, dem späteren Minister <strong>der</strong> revolutionären Regierung. »Dieser<br />

Sozialdemokrat, einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Bewegung, sagte mir, die Unruhen trügen den<br />

Charakter von Plün<strong>der</strong>ungen, die man unterdrücken müsse. Das hin<strong>der</strong>te Skobeljew<br />

nicht, einen Monat später zu behaupten, er und seine Freunde hätten die <strong>Revolution</strong><br />

gemacht.« Die Farben sind hier sicherlich dick aufgetragen. Doch im wesentlichen ist die<br />

Position <strong>der</strong> legalen Sozialdemokraten, <strong>der</strong> Menschewiki, ziemlich <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

entsprechend wie<strong>der</strong>gegeben.<br />

Schließlich sagt ein späterer Führer des linken Flügels <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre; Mstislawski,<br />

<strong>der</strong> dann zu den Bolschewiki überging, von dem Februarumsturz: »Die <strong>Revolution</strong><br />

hat uns, damalige Parteileute, wie die törichten Jungfrauen des Evangeliums schlafend<br />

überrascht.« Es ist hierbei unwesentlich, wieweit sie Jungfrauen ähnelten, geschlafen<br />

haben sie tatsächlich alle.<br />

Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter<br />

<strong>der</strong> unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei<br />

Männer: die ehernaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und <strong>der</strong> ehemalige Student<br />

Molotow. Schljapnikow, <strong>der</strong> längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher<br />

Verbindung gestanden hatte, war <strong>der</strong> politisch reifere und aktivere <strong>der</strong> drei, die das Büro<br />

des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am<br />

besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde<br />

glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von<br />

vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow,<br />

einer <strong>der</strong> Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: »Direktiven aus den<br />

Parteizentren waren absolut nicht zu verspüren ... Das Petrogra<strong>der</strong> Komitee war verhaftet,<br />

und <strong>der</strong> Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig,<br />

Weisungen für den nächsten Tag zu geben.«<br />

Die Schwäche <strong>der</strong> unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen<br />

Vennichtungsfeldzuges, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung dank <strong>der</strong> zu Beginn des Krieges<br />

herrschenden patriotischen Stimmung ganz beson<strong>der</strong>e Erfolge gebracht harte. Jede<br />

Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen<br />

Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen <strong>der</strong> Bolschewiki hatten sich zu<br />

Beginn des Jahres 1917 von Nie<strong>der</strong>geschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht<br />

erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh <strong>der</strong> revolutionären<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 99


Empörung Platz machte.<br />

Um ein klareres Bild von <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> revolutionären Führung zu erhalten, mußte man<br />

sich vergegenwärtigen, daß die autoritärsten <strong>Revolution</strong>äre, die Führer <strong>der</strong> linken Parteien,<br />

sich in <strong>der</strong> Emigration und zum Teil auch in Gefängnissen und Verbannung<br />

befanden. Je gefährlicher eine Partei für das alte Regime gewesen war, um so grausamer<br />

enthauptet zeigte sie sich zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die Narodniki hatten eine<br />

Dumafraktion, geführt von dem parteilosen Radikalen Kerenski. Der offizielle Führer <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionäre, Tschernow, befand sich in <strong>der</strong> Emigration. Die Menschewiki<br />

verfügten in <strong>der</strong> Duma über eine Parteifraktion mit Tschcheidse und Skobeljew an <strong>der</strong><br />

Spitze. Martow lebte als Emigrant im Auslande, Dan und Zeretelli in <strong>der</strong> Verbannung.<br />

Um die linken Fraktionen, Narodniki und Menschewiki, gruppierte sich ein großer Teil<br />

sozialistischer Intellektueller mit revolutionärer Vergangenheit. Daraus entstand so etwas<br />

wie ein politischer Stab, nur in <strong>der</strong> Art, daß er erst nach dem Siege fähig war, sich zu<br />

zeigen. Die Bolschewiki hatten keine Dumafraktion: 5 Arbeiterdeputierte, in denen die<br />

zaristische Regierung das organisierende Zentrum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sah, waren seit den<br />

ersten Kriegsmonaten verhaftet. Lenin war in <strong>der</strong> Emigration, mit ihm Sinowjew.<br />

Kamenew, wie auch die damals nur wenig bekannten führenden Praktiker Swerdlow,<br />

Rykow, Stalin, in <strong>der</strong> Verbannung. Der polnische Sozialdemokrat Dserschinski, <strong>der</strong><br />

damals noch nicht zu den Bolschewiki gehörte, befand sich in <strong>der</strong> Katorga. Die zufällig<br />

anwesenden Führer hielten we<strong>der</strong> sich noch an<strong>der</strong>e für fähig, eine leitende Rolle in den<br />

revolutionären Ereignissen zu spielen, beson<strong>der</strong>s da sie gewohnt waren, nur unter<br />

unbestritten autoritärer Führung zu handeln.<br />

Wenn aber schon die bolschewistische Partei den Aufständischen keine autoritäre<br />

Leitung zu sichern vermochte, so konnte bei den übrigen politischen Organisationen<br />

davon nicht einmal die Rede sein. Dies unterstützte die verbreitete Meinung vom elementaren<br />

Charakter <strong>der</strong> Februarrevolution. Nichtsdestoweniger ist sie tief irrig, im besten<br />

Falle inhaltlos.<br />

Der Kampf dauerte in <strong>der</strong> Hauptstadt nicht 1 und nicht 2 Stunden, son<strong>der</strong>n 5 Tage. Die<br />

Führer waren bestrebt, ihn einzudämnien. Die Massen antworteten mit verschärftem<br />

Ansturm und drangen vorwärts. Sie hatten gegen sich den alten Staat, hinter dessen traditioneller<br />

Fassade man noch eine mächtige Kraft vermutete, die liberale Bourgeoisie mit<br />

Reichsduma, Semstwo- und Stadtverbänden, Kriegsindustrie-Organisationen, Akademien<br />

Universitäten und weitverzweigter Presse; schließlich zwei starke sozialistische Parteien,<br />

die dem Druck von unten patriotischen Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzten. In <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong><br />

Bolschewiki hatte <strong>der</strong> Aufstand die ihm am nächsten stehende, aber enthauptete Organisation,<br />

mit zersplitterten Ka<strong>der</strong>n und schwachen illegalen Zellen. Dennoch entbrannte die<br />

<strong>Revolution</strong>, die in jenen Tagen niemand erwartet hatte, und als man oben glaubte, die<br />

Bewegung erlösche bereits, sicherte sie sich in schroffem Aufstieg und mächtigen<br />

Konvulsionen den Sieg.<br />

Woher diese beispiellose Kraft <strong>der</strong> Beharrlichkeit und des An-sturmes? Es genügt<br />

nicht, auf die Erbitterung zu verweisen. Erbitterung allein wäre zu wenig gewesen. So<br />

sehr die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter während <strong>der</strong> Kriegsjahre durch menschliches Rohmaterial<br />

auch verwässert worden waren; so besaßen sie immerhin große revolutionäre Erfahrung.<br />

In ihrer Beharrlichkeit und in ihrem Ansturm war, trotz fehlen<strong>der</strong> Leitung und <strong>der</strong><br />

Gegenwirkung von oben, eine nicht immer ausgesprochene, aber auf Lebenserfahrung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 100


egründete Kräftebewertung und selbständige strategische Berechnung.<br />

Am Vorabend des Krieges ging die revolutionäre Schicht <strong>der</strong> Arbeiter mit den<br />

Bolschewiki und führte die Masse hinter sich. Mit Beginn des Krieges än<strong>der</strong>te sich die<br />

Lage schroff: die konservativen Zwischenschichten erhoben den Kopf und rissen einen<br />

bedeutenden Teil <strong>der</strong> Klasse mit sich, die revolutionären Elemente wurden isoliert und<br />

verstummten. Im Verlauf des Krieges än<strong>der</strong>te sich die Situation, anfangs langsam, dann,<br />

nach den Nie<strong>der</strong>lagen, schneller und radikaler. Aktive Unzufriedenheit ergriff die<br />

gesamte Arbeiterklasse. Zwar war sie bei großen Kreisen noch patriotisch gefärbt, doch<br />

hatte das mit dem berechnenden, feigen Patriotimus <strong>der</strong> besitzenden Klasse nichts<br />

gemein, die alle inneren Fragen bis nach dem Siege vertagten. Gerade <strong>der</strong> Krieg, seine<br />

Opfer, seine Schrecken und seine Schande ließen nicht nur die alten, son<strong>der</strong>n auch die<br />

neuen Arbeiterschichten mit dem zaristischen Regime zusammenstoßen, mit neuer<br />

Schärfe anprallen und zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung kommen: man darf es nicht länger dulden!<br />

Diese Schlußfolgerung war allgemein, sie verband die Massen und verlieh ihnen die<br />

gewaltige Kraft des Vorstoßes.<br />

Die Armee quoll auf, Millionen Arbeiter und Bauern in sich aufnehmend. Je<strong>der</strong> hatte<br />

beim Militär die Seinen: einen Sohn, einen Mann, einen Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> einen an<strong>der</strong>en<br />

Nächsten. Die Armee war nicht mehr wie vor dem Kriege vom Volke abgezäunt. Man<br />

kam jetzt mit Soldaten viel mehr zusammen, man begleitete sie, wenn sie zur Front<br />

abmarschierten, man lebte mit ihnen, wenn sie auf Urlaub kamen, man unterhielt sich mit<br />

ihnen in den Straßen, in den Straßenbahnen über die Front, man besuchte sie in den<br />

Lazaretten. Arbeiterviertel, Kaserne, Front und zum großen Teil auch das Dorf wurden<br />

miteinan<strong>der</strong> verbundene Gefäße. Die Arbeiter wußten, was <strong>der</strong> Soldat dachte und fühlte.<br />

Sie führten endlose Gespräche über den Krieg, über Menschen, die sich am Kriege bereicherten,<br />

über Generale, über Regierung, über Zar und Zarin. Der Soldat sagte über den<br />

Krieg: Verflucht sei er! Der Arbeiter antwortete über die Regierung: Verflucht seien sie<br />

alle! Der Soldat sagte: Weshalb schweigt ihr hier, im Zentrum? Der Arbeiter antwortete:<br />

Mit leeren Händen ist nichts zu machen, schon im Jahre 1905 haben wir uns an <strong>der</strong><br />

Armee blutig gestoßen. Der Soldat grübelnd: Wenn sich doch alle auf einmal erhöben!<br />

Der Arbeiter: Ja, eben alle auf einmal. Solche Gespräche wurden vor dem Kriege von<br />

einzelnen geführt und hatten einen konspirativen Charakter. Jetzt sprach man überall so,<br />

bei jedem Anlaß und fast offen, mindestens in den Arbeitervierteln.<br />

Der zaristischen Ochrana gelang manchmal eine gute Sondierung. Zwei Wochen vor<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> berichtete ein Petrogra<strong>der</strong> Spitzel, <strong>der</strong> mit dem Spitznamen Krestjaninow<br />

unterzeichnete, in seinem Rapport über ein Gespräch in <strong>der</strong> Straßenbahn, die einen<br />

Arbeitervorort kreuzte. Ein Soldat habe erzählt, aus seinem Regiment seien 8 Mann in<br />

die Katorga verschickt worden, weil sie sich im Herbst geweigert hätten, auf die Arbeiter<br />

<strong>der</strong> Nobel-Werke zu schießen, und auf die Polizisten schossen. Dieses Gespräch wurde<br />

ganz offen geführt, da Polizei und Spitzel es in den Arbeitervierteln vorzogen, unbemerkt<br />

zu bleiben. »Wir werden mit ihnen abrechnen«, schloß <strong>der</strong> Soldat. Der Rapport lautet<br />

weiter: »Ein Arbeiter sagte: "Dazu muß man sich organisieren, damit alle wie einer<br />

sind." Der Soldat antwortete: "Darüber braucht man sich keine Sorgen zu machen, bei<br />

uns ist schon längst organisiert ... Sie haben genug Blut getrunken, die Menschen leiden<br />

an <strong>der</strong> Front, sie aber fressen sich hier dicke Fratzen an ..." Beson<strong>der</strong>e Vorfälle haben<br />

sich nicht ereignet. 10. Februar 1917. Krestjaninow.« Ein unvergleichliches Spitzel-E-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 101


pos! »Beson<strong>der</strong>e Vorfälle haben sich nicht ereignet.« Sie werden sich ereignen, und zwar<br />

bald: die Unterhaltung in <strong>der</strong> Straßenbahn verzeichnet ihr unausbleibliches Nahen.<br />

Den elementaren Charakter des Aufstandes illustriert Mstislawski durch ein bemerkenswertes<br />

Beispiel: Als <strong>der</strong> "Verband <strong>der</strong> Offiziere des 27. Februar", <strong>der</strong> gleich nach<br />

dein Umsturz entstanden war, durch eine Umfrage festzustellen versuchte, wer als erster<br />

das Wolynski-Regiment auf die Straße geführt hatte, kamen sieben Angaben über sieben<br />

Initiatoren dieser entscheidenden Aktion. Es ist höchst wahrscheinlich, möchten wir<br />

unsererseits hinzufügen, daß ein Teilchen <strong>der</strong> Initiative tatsächlich mehreren Soldaten<br />

gehörte; wobei nicht ausgeschlossen ist, daß <strong>der</strong> Hauptinitiator in den Straßenkämpfen<br />

fiel, seinen Namen ins Dunkel mitnehmend. Dies aber schmälert das historische Gewicht<br />

seiner namenlosen Initiative nicht. Wichtiger ist noch eine an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> Sache, die<br />

uns über die Mauern <strong>der</strong> Kaserne hinausführt. Der Aufstand <strong>der</strong> Gardebataillone, <strong>der</strong> zur<br />

Überraschung <strong>der</strong> liberalen und legal-sozialistischen Kreise entbrannte, kam gar nicht<br />

unerwartet für die Arbeiter. Ohne <strong>der</strong>en Aufstand wäre auch das Wolynski-Regiment<br />

nicht auf die Straße gegangen. Der Zusammenstoß <strong>der</strong> Arbeiter mit den Kosaken, den <strong>der</strong><br />

Advokat von seinem Fenster aus beobachtet und von dem er telephonisch einem<br />

Deputierten Mitteilung gemacht hatte, erschien beiden wie die Episode eines unpersönlichen<br />

Prozesses: die Heuschrecken <strong>der</strong> Fabriken sind mit den Heuschrecken <strong>der</strong> Kaserne<br />

zusammengeprallt. An<strong>der</strong>s aber erschien die Sache dem Kosaken, <strong>der</strong> es gewagt hatte,<br />

dem Arbeiter zuzublinzeln, wie dem Arbeiter, <strong>der</strong> sofort entschied, <strong>der</strong> Kosak »hat gut<br />

geblinzelt« ... Das molekulare Ineinan<strong>der</strong>dringen von Armee und Volk ging ununterbrochen<br />

vor sich. Die Arbeiter verfolgten die Temperatur <strong>der</strong> Armee und fühlten sofort das<br />

Nahen des kritischen Punktes. Das verlieh auch dem Ansturm <strong>der</strong> auf den Sieg vertrauenden<br />

Massen diese unwi<strong>der</strong>stehliche Kraft.<br />

Hier müssen wir die treffende Bemerkung eines liberalen Würdenträgers anführen, <strong>der</strong><br />

versuchte, das Fazit seiner Februarbeobachtungen zu ziehen: »Es ist üblich, zu sagen: die<br />

Bewegung hat elementar begonnen, die Soldaten sind von selbst auf die Straße<br />

gegangen. Ich kann dem keinesfalls zustimmen. Was will auch das Wörtchen "elementar"<br />

besagen? ... Die "Urzeugung" ist in <strong>der</strong> Soziologie noch unmöglicher als in <strong>der</strong> Naturwissenschaft.<br />

Weil kein revolutionärer Führer von Namen <strong>der</strong> Bewegung sein Etikett<br />

anhängen kann, wird sie nicht unpersönlich, son<strong>der</strong>n nur namenlos.« Diese Fragestellung,<br />

die unvergleichlich ernster ist als die Hinweise Miljukows auf deutsche Agenten<br />

und russische Elementargewalten, gehört einem ehemallgen Staatsanwalt, <strong>der</strong> im Amte<br />

eines zaristischen Senators <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> begegnete. Vielleicht hat gerade die Gerichtserfahrung<br />

Sawadski erlaubt, zu <strong>der</strong> Einsicht zu kommen, daß <strong>der</strong> revolutionäre Außtand<br />

we<strong>der</strong> auf Kommando ausländischer Agenten, noch als unpersönlicher Naturprozeß<br />

entstehen konnte.<br />

Der gleiche Autor führt zwei Episoden an, die es ihm ermöglichten, gleichsam durch<br />

das Schlüsselloch ins Laboratorium des <strong>Revolution</strong>sprozesses zu blicken. Am Freitag,<br />

dem 24. Februar, als oben noch keiner einen Umsturz für die nächsten Tage erwartete,<br />

bog die Straßenbahn, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Senator saß, plötzlich mit solchem Krach, daß die Scheiben<br />

zitterten und eine zerbrach, vom Litejny-Prospekt in eine Nebenstraße ein und blieb<br />

stehen. Der Schaffner for<strong>der</strong>te alle auf, auszusteigen. »Der Wagen wird nicht weiterfahren.«<br />

Die Passagiere protestierten, schimpften, mußten aber aussteigen. »Ich sehe noch<br />

jetzt das Gesicht des sich ausschweigenden Schaffners: bös-entschlossen, irgendein<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 102


Wolfsgesicht.« Der Straßenbahnverkehr stockte überall, soweit <strong>der</strong> Blick reichte. Dieser<br />

entschlossene Schaffner, an dem <strong>der</strong> liberale Würdenträger schon das »Wolfsgesicht«<br />

sah, muß ein hochentwickeltes Pflichtbewußtsein besessen haben, um auf <strong>der</strong> Straße des<br />

kaiserlichen Petrograds, während des Krieges, ganz allein den mit Beamten gefülltenWagen<br />

zum Stehen zu bringen. Genau solche Schaffner haben den Wagen <strong>der</strong> Monarchie<br />

zum Stehen gebracht, ungefähr mit den gleichen Worten: »Der Wagen wird nicht weiterfahren!«,<br />

und die Bürokratie ausgesetzt, ohne in <strong>der</strong> Eile große Unterschiede zwischen<br />

Gendarmeriegeneralen und liberalen Senatoren zu machen. Der Schafiher vom Litejny-<br />

Prospekt war ein bewußter Faktor <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>. Und man mußte ihn vorher erzogen<br />

haben.<br />

Während des Brandes des Bezirksgerichts drückte ein liberaler Jurist, aus dem Kreise<br />

desselben Senators, auf <strong>der</strong> Straße sein Bedauern darüber aus, daß das Laboratorium <strong>der</strong><br />

Gerichtsexpertise und das Notariatsarchiv vernichtet werden. Ein älterer Mann von<br />

düsterem Aussehen, dem Äußeren nach ein Arbeiter, erwi<strong>der</strong>te mürrisch: »Wir werden<br />

die Häuser und das Land verteilen können, auch ohne dein Archiv!« Wahrscheinlich ist<br />

die Episode literatisch abgerundet worden. Doch solcherart ältere Arbeiter, die die nötige<br />

Abfuhr zu geben wußten, gab es in <strong>der</strong> Menge nicht wenig. Sie selbst hatten keine Beziehung<br />

zur Brandstiftung des Bezirksgerichts: jedenfalls aber konnten solche "Exzesse" sie<br />

keineswegs schrecken. Sie bewaffneten die Massen nicht nur mit den nötigen Ideen<br />

gegen die zaristische Polizei, son<strong>der</strong>n auch gegen die liberalen Juristen, die die größte<br />

Angst davor hatten, daß im Feuer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Notariatsakten des Eigentums<br />

verbrennen könnten. Diese namenlosen Politiker <strong>der</strong> Fabrik und <strong>der</strong> Straße waren nicht<br />

vom Himmel gefallen: man mußte sie erzogen haben.<br />

Die Ereignisse <strong>der</strong> letzten Februartage registrierend, bezeichnete auch die Ochrana die<br />

Bewegung als "elementar", das heißt als ohne planmäßige Leitung von oben; doch fügte<br />

sie gleich hinzu: »bei <strong>der</strong> allgemeinen Bearbeitung des Proletariats durch Propaganda.«<br />

Diese Bewertung trifft den Kern: Die berufsmäßigen Kämpfer gegen die <strong>Revolution</strong><br />

hatten, bevor sie die Zellen <strong>der</strong> befreiten <strong>Revolution</strong>äre besetzten, das Antlitz des sich<br />

abwickeln-den Prozesses schärfer erkannt als die Führer des Liberalismus.<br />

Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und<br />

den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die<br />

Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse<br />

stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, es war nicht<br />

die Masse an sich, son<strong>der</strong>n es war die Masse <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiter<br />

im allgememen notwendig, die die <strong>Revolution</strong> von 1905 erlebt hatte und den Moskauer<br />

Dezemberaufstand von 1905, <strong>der</strong> an dem Semjonowski-Gar<strong>der</strong>egiment zerschellte; es<br />

war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von<br />

1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen <strong>der</strong> Liberalen und Menschewiki kritisiert,<br />

die Perspektive <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sich angeeignet, Dutzende Male das Problem <strong>der</strong><br />

Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig<br />

waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den an<strong>der</strong>en<br />

zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen <strong>der</strong> Garnison<br />

fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda<br />

erfaßt o<strong>der</strong> mindestens berührt worden waren.<br />

in je<strong>der</strong> Fabrik, in je<strong>der</strong> Werkstatt, in je<strong>der</strong> Kompanie, in je<strong>der</strong> Teestube, im Lazarett,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 103


in <strong>der</strong> Etappe und sogar in dem entvölkerten Dorfe ging eine molekulare Arbeit des<br />

revolutionären Gedankens vor sich. Überall gab es Deuter <strong>der</strong> Ereignisse, hauptsächlich<br />

Arbeiter, die man ausfragte, was es Neues gäbe, und von denen man das nötige Wort<br />

erwartete. Diese Häupter waren häufig sich selbst überlassen, nährten sich von Bruchteilen<br />

revolutionärer Verallgemeinerungen, zu denen sie auf verschiedenen Wegen kamen;<br />

selbst in liberalen Zeitungen lasen sie, was sie brauchten, zwischen den Zeilen heraus. Ihr<br />

Klasseninstinkt war durch politisches Kriterium geschärft, und führten sie auch nicht<br />

immer ihre Ideen zu Ende, so arbeitete ihr Gedanke doch unablässig und beharrlich stets<br />

in <strong>der</strong> gleichen Richtung. Elemente <strong>der</strong> Erfahrung, <strong>der</strong> Kritik, <strong>der</strong> Initiative, <strong>der</strong> Selbstaufopferung<br />

durchdrangen die Masse und bildeten die innere, dem oberflächlichen Blick<br />

unerreichbare, aber nichtsdestoweniger entscheidende Mechanik <strong>der</strong> revolutionären<br />

Bewegung als eines bewußten Prozesses.<br />

Den hochmütigen Politikern des Liberalismus und des gezähmten Sozilismus erscheint<br />

gewöhnlich alles, was in den Massen geschieht, als instinktiver Prozeß, wie wenn es sich<br />

um einen Ameisenhaufen o<strong>der</strong> Bienenstock handele. Tatsächlich war <strong>der</strong> Gedanke, <strong>der</strong><br />

tief in den Arbeitern bohrte, viel kühner, weitsichtiger und bewußter als jener Ideenwulst,<br />

mit dem die gebildeten Klassen sich die Zeit vertrieben. Und mehr noch, dieser Gedanke<br />

war auch wissenschaftlich begründeter: nicht nur, weil er in großem Maße durch die<br />

Methoden des Marxismus befruchtet war, son<strong>der</strong>n vor allem, weil er sich dauernd von<br />

<strong>der</strong> lebendigen Erfahrung <strong>der</strong> Massen nährte, denen es bevorstand, bald die revolutionäre<br />

Arena zu betreten. Die Wissenschaftlichkeit des Gedankens besteht darin, daß er den<br />

objektiven Prozessen entspricht und diese Prozesse zu beeinflussen und zu lenken fähig<br />

ist. Besaßen denn die Ideen <strong>der</strong> regierenden Kreise, die sich an <strong>der</strong> Apokalypse inspirierten<br />

und an die Träume Rasputins glaubten, auch nur im geringsten diese Eigenschaften?<br />

O<strong>der</strong> waren etwa die Ideen des Liberalismus wissenschaftlich begründet, <strong>der</strong> da hoffte,<br />

daß das rückständige Rußland, indem es an dem Gemetzel <strong>der</strong> kapitalistischen Giganten<br />

teilnahm, fähig werden würde, gleichzeitig den Sieg und den Parlamentarismus zu erringen?<br />

O<strong>der</strong> vielleicht war das geistige Leben <strong>der</strong> Intellektuellenkreise wissenschaftlich,<br />

die sich sklavisch dem von Kind auf altersschwachen Liberalismus anpaßten, wobei sie<br />

ihre scheinbare Selbständigkeit durch längst abgestandene Redensarten schützten ?<br />

Wahrhaftig, hier herrschte das Reich geistiger Starrheit, <strong>der</strong> Gespenster, des Aberglaubens,<br />

<strong>der</strong> Fiktionen, wenn man will, das Reich <strong>der</strong> "Elementargewalt". Haben wir mithin<br />

nicht durchaus das Recht, die liberale Philosophie <strong>der</strong> Februarrevolution völlig umzukehren?<br />

Ja, wir haben das Recht zu sagen: während die offizielle Gesellschaft, dieser ganze<br />

vielstöckige Überbau <strong>der</strong> herrschenden Klassen, Schichten, Gruppen, Parteien und<br />

Cliquen, tagein, tagaus in Trägheit und Automatismus lebte, sich die Zeit mit Resten<br />

abgenutzter Ideen vertrieb, taub gegen die unabwendbaren For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

Entwicklung, sich von Gespenstervisionen blenden ließ und nichts voraussah, - vollzog<br />

sich in den Arbeitermassen ein selbständiger und tiefer Prozeß des Anwachsens nicht nur<br />

des Hasses gegen die Herrschenden, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> kritischen Erkenntnis von <strong>der</strong>en<br />

Ohnmacht, <strong>der</strong> Anhäufung von Erfahrung und schöpferischer Einsicht, die mit dem<br />

revolutionären Aufstand und seinem Siege abschloß.<br />

Auf die oben gestellte Frage: wer hat den Februaraufstand geleitet, können wir folglich<br />

mit genügen<strong>der</strong> Bestimmtheit antworten: die aufgeklärten und gestählten Arbeiter, die<br />

hauptsächlich von <strong>der</strong> Partei Lenins erzogen worden waren. Aber wir müssen dabei<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 104


hinzufügen: diese Leitung genügte, um dem Aufstande den Sieg zu sichern, doch reichte<br />

sie nicht aus, um die Führung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von Anfang an in die Hände <strong>der</strong> proletarischen<br />

Avantgarde zu legen.<br />

Das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

Der Aufstand hatte gesiegt. Aber wem übergab er die <strong>der</strong> Monarchie entrissene Macht?<br />

Hier kommen wir zum zentralen Problem des Februarumsturzes: wie und weshalb geriet<br />

die Macht in die Hände <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie?<br />

Den am 23. Februar begonnenen Unruhen maßen die Dumakreise und die bürgerliche<br />

"Gesellschaft" keine Bedeutung bei. Die liberalen Deputierten und die patriotischen<br />

Journalisten versammelten sich wie sonst in den Salons, diskutierten über Triest und<br />

Fiume und betonten immer wie<strong>der</strong> die Bedeutung <strong>der</strong> Dardanellen für Rußland. Während<br />

<strong>der</strong> Ukas über die Auflösung <strong>der</strong> Duma bereits unterschrieben war, beriet die Dumakommission<br />

noch immer dringlich die Frage <strong>der</strong> Übergabe des Ernährungswesens an die<br />

städtische Selbstverwaltung. Weniger als zwölf Stunden vor dem Aufstande <strong>der</strong> Gardebataillone<br />

hörte die "Gesellschaft Slawischer Gemeinschaft" friedlich den Jahresbericht<br />

an. »Erst als ich aus dieser Versammlung zu Fuß heimkehrte«, erwähnt einer <strong>der</strong><br />

Deputierten, »verblüffte mich irgendeine unheimliche Stille und Leere in den sonst so<br />

belebten Straßen.« Eine unheimliche Leere bildete sich um die alten herrschenden<br />

Klassen und beklemmte auch schon die Herzen <strong>der</strong> morgigen Nachfolger.<br />

Am 26. wurde <strong>der</strong> Ernst <strong>der</strong> Bewegung sowohl <strong>der</strong> Regierung wie den Liberalen klar.<br />

An diesem Tage werden zwischen Ministern und Dumamitglie<strong>der</strong>n Verhandlungen über<br />

ein Abkommen geführt, dessen Schleier die Liberalen auch später nie gelüftet haben.<br />

Protopopow gab bei seiner Vernehmung an, die Führer des Dumablocks hätten, wie<br />

zuvor, die Ernennung neuer Minister aus Personen, die das Vertrauen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

genießen, gefor<strong>der</strong>t. »Diese Maßnahme würde das Volk vielleicht beruhigen.« Doch <strong>der</strong><br />

26. brachte, wie uns bekannt, eine gewisse Stockung in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>,<br />

und die Regierung fühlte sich für einen kurzen Moment fester. Als Rodsjanko bei<br />

Golizyn erschien, um ihn zum Rücktritt zu bewegen, wies <strong>der</strong> Premier als Antwort auf<br />

eine auf dem Tisch liegende Mappe hin, die das fertige Dekret über die Dumaauflösung<br />

enthielt, mit <strong>der</strong> Unterschrift Nikolaus', aber ohne Datum. Das Datum trug Golizyn ein.<br />

Wie konnte sich die Regierung im Augenblick des wachsenden Druckes <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

zu einem solchen Schritt entschliessen? Darüber hatte sich bei <strong>der</strong> regierenden Bürokratie<br />

schon längst eine feste Konzeption herausgebildet: »Ob wir mit dem Block gehen<br />

werden o<strong>der</strong> nicht, das ist <strong>der</strong> Arbeiterbewegung gegenüber belanglos. Mit dieser<br />

Bewegung kann man mit an<strong>der</strong>en Mitteln fertigwerden, und bisher ist das Ministerium<br />

des Innern mit ihr noch immer fertiggeworden.« So sprach Goremykin schon im August<br />

1915. An<strong>der</strong>erseits rechnete die Bürokratie damit, daß die Duma im Falle einer Auflösung<br />

sich zu keinerlei kühnen Schritten entschließen würde. Der Innenminister, Fürst<br />

Schtscherbatow, sagte, gleichfalls schon im August 1915, als die Auflösung <strong>der</strong> unzufriedenen<br />

Duma erwogen wurde: »Die Dumamitglie<strong>der</strong> werden sich wohl kaum zu offenem<br />

Ungehorsam entschließen. Sind sie doch in ihrer übergroßen Mehrzahl Feiglinge, die um<br />

ihre Haut zittern.« Der Fürst drückte sich nicht sehr wählerisch, aber schließlich und<br />

endlich doch treffend aus. Im Kampfe gegen die liberale Opposition fühlte die Bürokratie<br />

also hinlänglich festen Boden unter den Füßen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 105


Am Morgen des 27. versammelten sich die durch die anwachsenden Ereignisse<br />

beunruhigten Deputierten zur fälligen Sitzung. Die Mehrzahl erfuhr erst hier, daß die<br />

Duma aufgelöst sei. Das war um so unerwarteter gekommen, als noch am Vorabend<br />

friedliche Verhandlungen geführt worden waren. »Trotzdem«, schreibt mit Stolz<br />

Rodsjanko, »unterwarf sich die Duma dem Gesetz, immer noch hoffend, einen Ausweg<br />

aus <strong>der</strong> verwickelten Lage zu finden; sie faßte keinerlei Beschlüsse darüber, etwa, nicht<br />

auseinan<strong>der</strong>zugehen o<strong>der</strong> gewaltsam zur Sitzung zusammenzukommen.« Die Deputierten<br />

versammelten sich zu einer Privatberatung, in <strong>der</strong> sie sich gegenseitig ihre Ohnmacht<br />

beichteten. Nicht ohne Schadenfreude erinnerte später <strong>der</strong> gemäßigte Liberale Schidlowski<br />

an den durch den linken Kadetten Nekrassow, den späteren Kampfgenossen<br />

Kerenskis, eingebrachten Antrag: »Errichtung emer militärischen Diktatur durch<br />

Übertragung <strong>der</strong> gesamten Macht auf einen populären General.« Währenddessen unternahmen<br />

die Hauptlenker des progressiven Blocks, die bei <strong>der</strong> Privatberatung <strong>der</strong> Duma<br />

fehlten, einen praktischen Rettungsversuch; Sie machten dem nach Petrograd herbeigerufenen<br />

Großfürsten Michail den Vorschlag, die Diktatur zu übernehmen, den Ministerrat<br />

zur Demission zu »zwingen« und vom Zaren über die direkte Leitung die »huldvolle«<br />

Ernennung eines verantwortlichen Ministeriums zu for<strong>der</strong>n. In den Stunden, wo die<br />

ersten Gar<strong>der</strong>egimenter sich erhoben, machten die Führer <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie den<br />

letzten Versuch, mit Hilfe einer dynastischen Diktatur den Aufstand zu unterdrücken und<br />

gleichzeitig auf Kosten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine Verständigung mit <strong>der</strong> Monarchie zu treffen.<br />

Die »Unentschlossenheit des Großfürsten«, beklagt sich Rodsjanko, »trug dazu bei, daß<br />

<strong>der</strong> günstige Moment verpaßt wurde.«<br />

Wie leicht die radikale Intelligenz an das, was sie ersehnte, geglaubt hat, bezeugt <strong>der</strong><br />

parteilose Sozialist Suchanow, <strong>der</strong> zu jener Zeit im Taurischen Palais eine gewisse politische<br />

Rolle zu spielen begann. »Man teilte mir die hervorragendste politische Neuigkeit<br />

<strong>der</strong> Morgenstunden dieses unvergeßlichen Tages mit«, erzählt er in seinen umfangreichen<br />

Erinnerungen, »das Dekret über die Dumaauflösung sei veröffentlicht, und die<br />

Duma habe es mit <strong>der</strong> Weigerung, auseinan<strong>der</strong>zugehen, beantwortet und ein Provisorisches<br />

Komitee gewählt.« Das schreibt ein Mann, <strong>der</strong> das Taurische Palais fast nicht<br />

verlassen hat und dort. die bekannten Deputierten bei den Köpfen festhielt. Gleich<br />

Rodsjanko erklärt Miljukow in seiner <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kategorisch »Es wurde<br />

dort nach einer Reihe heißer Reden beschlossen, nicht aus Petrograd abzureisen, keinesfalls<br />

aber ist <strong>der</strong> Beschluß gefaßt worden, die Reich-Duma als Institution dürfe nicht<br />

auseinan<strong>der</strong>gehen, wie die entstandene Legende lautet.« »Nicht auseinan<strong>der</strong>zugehen«<br />

hätte bedeutet, irgendeine wenn auch verspätete Initiative zu ergreifen. »Nicht<br />

abzureisen« bedeutete, die Hände in Unschuld zu waschen und abzuwarten, welche<br />

Richtung die Ereignisse nehmen würden. Für die Vertrauensseligkeit Suchanows gibt es<br />

allerdings mil<strong>der</strong>nde Umstände. Das Gerücht, die Duma habe den revolutionären<br />

Beschluß gefaßt, sich dem Zarenukas zu wi<strong>der</strong>setzen, wurde in aller Hast von den<br />

Dumajournalisten durch ihr Informarionsbulletin verbreitet, <strong>der</strong> damals infolge des<br />

Streiks einzigen Publikation. Da <strong>der</strong> Aufstand im Laufe des Tages gesiegt hatte, beeilten<br />

sich die Deputierten keinesfalls, den Irrtum richtigzustellen, son<strong>der</strong>n unterstützten die<br />

Illusionen ihrer linken Freunde: an die Feststellung <strong>der</strong> Wahrheit gingen sie erst in <strong>der</strong><br />

Emigration. Eine scheinbar nebensächliche, doch äußerst bedeutsame Episode. Die<br />

revolutionäre Rolle <strong>der</strong> Duma am Tage des 27. Februar war eine vollkommene Mythe,<br />

geboren aus <strong>der</strong> politischen Leichtgläubigkeit <strong>der</strong> radikalen Intellektuellen, die die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 106


<strong>Revolution</strong> erfreut und erschreckt hatte und die den Glauben an die Fähigkeit <strong>der</strong><br />

Massen, die Sache zu Ende zu führen, nicht besaßen und bestrebt waren, so schnell wie<br />

möglich bei <strong>der</strong> Großbourgeoisie Anschluß zu finden.<br />

In den Memoiren <strong>der</strong> Deputierten, die <strong>der</strong> Dumamehrheit angehörten, ist glücklicherweise<br />

ein Bericht darüber erhalten geblieben, wie die Duma <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> begegnete.<br />

Nach <strong>der</strong> Erzählung des Fürsten Mansyrew, eines rechten Kadetten, befanden sich unter<br />

den Deputierten, die sich am 27. in großer Zahl versammelt hatten, we<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des<br />

Präsidiums noch Parteiführer noch Häupter des progressiven Blocks: diese wußten<br />

bereits von <strong>der</strong> Dumaauflösung und vom Aufstande und zogen es vor, so lange wie<br />

möglich den Kopf nicht herauszustecken; außerdem führten sie anscheinend gerade in<br />

diesen Stunden Verhandlungen mit dem Großfürsten Michail über die Diktatur. »In <strong>der</strong><br />

Duma herrschte allgemeine Verwirrung und Kopflosigkeit«, sagt Mansyrew. »Selbst die<br />

erregten Debatten verstummten, statt dessen vernahm man nur Seufzer und kurze Repliken,<br />

wie etwa: "Weit ist's gekommen", o<strong>der</strong> aber offene Angsteingeständnisse um die<br />

eigene Person.« So berichtet ein gemäßigter Deputierter, <strong>der</strong> lauter als alle an<strong>der</strong>en<br />

geseufzt hat. Schon gegen die zweite Stunde, als die Führer gezwungen waren in <strong>der</strong><br />

Duma zu erscheinen, brachte <strong>der</strong> Sekretär des Präsidiums die frohe, aber unbegründete<br />

Botschaft: »Die Unruhen werden bald unterdrückt sein, es sind Maßnahmen getroffen.«<br />

Es ist möglich, daß mit den Maßnahmen die Verhandlungen über die Diktatur gemeint<br />

waren. Doch die Duma ist bedrückt und wartet auf das erlösende Wort des Führers des<br />

progressiven Blocks. »Wir können im Augenblick schon allein deshalb keine Entschließungen<br />

treffen«, erklärte Miljukow, »weil uns das Ausmaß <strong>der</strong> Unruhen ebensowenig<br />

bekannt ist wie die Tatsache, auf wessen Seite die Mehrheit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Truppen,<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und <strong>der</strong> öffentlichen Organisationen steht. Man muß genaue Auskünfte über<br />

all dies einziehen und erst dann die Lage besprechen, jetzt ist es verfrüht.« Um 2 Uhr<br />

mittags am 27. Februar ist es dem Liberalismus noch immer »verfrüht«! »Auskunft<br />

einziehen« bedeutete, sich die Hände waschen und den Ausgang des Kampfes abwarten.<br />

Aber Miljukow hatte seine Rede noch nicht beendet, die er übrigens begonnen hatte, um<br />

mit nichts zu enden, als Kerenski in höchster Erregung in den Saal hereinstürzte: Gewaltige<br />

Volks- und Soldatenmengen ziehen zum Taurischen Palais, verkündete er, sie wollen<br />

die Duma auffor<strong>der</strong>n, die Macht zu übernehmen! ... Der radikale Deputierte weiß genau,<br />

was die gewaltigen Volksmassen for<strong>der</strong>n. In Wirklichkeit ist er es selbst, Kerenski, <strong>der</strong><br />

zum erstenmal verlangt, daß die Duma, die im stillen noch immer auf eine Unterdrükkung<br />

des Aufstandes hofft, die Macht übernehme. Die Mitteilung Kerenskis ruft »allgemeines<br />

Erstaunen und ratlose Blicke« hervor. Aber noch ist er nicht fertig, als ihn ein in<br />

hellem Schrecken hereinstürmen<strong>der</strong> Dumadiener unterbricht: Die vor<strong>der</strong>sten Reihen <strong>der</strong><br />

Soldaten ständen vor dem Palais, die Wache an <strong>der</strong> Einfahrt habe ihnen den Zutritt<br />

verweigert, <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> Wache sei schwer verwundet. Eine Minute nachher ergibt sich,<br />

die Soldaten sind bereits im Palais. Später wird man in Reden und Artikeln erzählen, die<br />

Soldaten seien gekommen, die Duma zu begrüßen und ihr den Eid abzulegen. Im Augenblick<br />

aber ist alles in tödlicher Panik. Das Wasser steht an <strong>der</strong> Kehle. Die Führer<br />

tuscheln. Man muß Zeit gewinnen. In aller Eile stellt Rodsjanko den ihm eingeflüsterten<br />

Antrag, ein Provisorisches Komitee zu wählen. Zustimmende Rufe. Aber alle möchten<br />

sich schnellstens aus dem Staube machen, ihr Sinn steht nicht nach Wahlen. Der nicht<br />

min<strong>der</strong> als die an<strong>der</strong>en erschrockene Vorsitzende schlägt vor, den Ältestenrat mit <strong>der</strong><br />

Bildung des Komitees zu beauftragen. Wie<strong>der</strong>um zustimmende Rufe einiger noch im<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 107


Saale Verbliebener: die Mehrzahl ist bereits verschwunden. Das war die erste Reaktion<br />

<strong>der</strong> vom Zaren aufgelösten Duma auf den Sieg des Aufstandes.<br />

Inzwischen schuf die <strong>Revolution</strong> im selben Gebäude, aber in seinem weniger prunkvollen<br />

Teil, ein an<strong>der</strong>es Organ. Die revolutionären Führer brauchten es nicht zu erfinden.<br />

Die Erfahrung <strong>der</strong> Sowjets von 1905 hatte sich für immer ins Bewußtsein <strong>der</strong> Arbeiter<br />

eingeprägt. Bei jedem Aufstieg <strong>der</strong> Bewegung, sogar im Kriege, lebte fast automatisch<br />

die Idee <strong>der</strong> Sowjets auf. Und obwohl das Verständnis für die Rolle <strong>der</strong> Sowjets bei<br />

Bolschewiki und Menschewiki verschieden tief war - die Sozialrevolutionäre entbehrten<br />

überhaupt beständiger Einstellungen -, war es, als ob die Form <strong>der</strong> Organisation selbst<br />

außerhalb je<strong>der</strong> Diskussion stünde. Die aus dem Gefängnis befreiten Menschewiki,<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Kriegsindustrie-Komitees, trafen sich im Taurischen Palais mit Führern<br />

<strong>der</strong> Gewerkschaften und <strong>der</strong> Kooperativen des gleichen rechten Flügels, wie auch mit<br />

den menschewistischen Dumadeputierten Tschcheidse und Skobeljew, und bildeten an<br />

Ort und Stelle ein provisorisches Exekutivkomitee des Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten,<br />

das im Laufe des Tages hauptsächlich durch ehemalige <strong>Revolution</strong>äre ergänzt wurde, die<br />

zwar die Verbindung mit den Massen verloren, aber doch einen "Namen" behalten<br />

hatten. Das Exekutivkomitee, das auch Bolschewiki in seinen Bestand einbezog, rief die<br />

Arbeiter auf, unverzüglich Deputierte zu wählen. Die erste Sitzung war für den Abend im<br />

Taurischen Palais anberaumt. Sie fand tatsächlich um 9 Uhr abends statt; sie sanktionierte<br />

die Zusammensetzung des Exekutivkomitees und ergänzte dieses durch offizielle<br />

Vertreter aller sozialistischen Parteien. Doch nicht hierin lag die Bedeutung <strong>der</strong> ersten<br />

Versammlung <strong>der</strong> Vertreter des siegreichen Proletariats <strong>der</strong> Hauptstadt. In <strong>der</strong> Sitzung<br />

traten Delegierte <strong>der</strong> aufständischen Regimenter mit Begrüßungsworten auf Unter ihnen<br />

waren auch die grauen Soldaten, denen die <strong>Revolution</strong> gleichsam Kontusionen beigebracht<br />

hatte und die noch kaum die Zunge bewegen konnten. Gerade sie aber fanden<br />

Worte, die kein Tribun zu finden vermocht hätte. Das war eine <strong>der</strong> pathetischsten Szenen<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die nun ihre Kraft zu fühlen begann, die Unzählbarkeit <strong>der</strong> erwachten<br />

Massen, die Grandiosität <strong>der</strong> Aufgaben, den Stolz auf die eigenen Erfolge, den jubelnden<br />

Herzensschauer vor dem morgigen Tag, <strong>der</strong> noch herrlicher werden müsse als <strong>der</strong> heutige.<br />

Die <strong>Revolution</strong> entbehrt noch ihres Rituals, die Straße liegt noch im Rauch, die<br />

Massen wissen die neuen Lie<strong>der</strong> noch nicht, die Sitzung verläuft in Unordnung, uferlos<br />

wie ein Fluß bei Hochwasser, <strong>der</strong> Sowjet verschluckt sich am eigenen Enthusiasmus. Die<br />

<strong>Revolution</strong> ist bereits mächtig, aber noch von kindlicher Naivität.<br />

In dieser ersten Sitzung wird beschlossen, die Garnison und die Arbeiter zu einem<br />

gemeinsamen Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten zu vereinigen. Wer schlug<br />

diesen Beschluß zuerst vor? Er wird von verschiedenen, o<strong>der</strong> richtiger gesagt, von allen<br />

Seiten gekommen sein, als Wi<strong>der</strong>hall jener Verbrü<strong>der</strong>ung zwlschen Arbeitern und Soldaten,<br />

die an diesem Tage das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entschieden hat. Dabei muß jedoch<br />

vermerkt werden, daß, nach den Worten Schljapnikows, die Sozialpatrioten anfänglich<br />

gegen das Hineinziehen <strong>der</strong> Armee in die Politik protestiert hatten. Vom Moment seiner<br />

Entstehung an beginnt <strong>der</strong> Sowjet in Gestalt des Exekutivkomitees als Regierungsmacht<br />

zu handeln. Er wählt eine provisorische Emährungskommission und überträgt ihr die<br />

Sorge um die Aufständischen und um die Garnison überhaupt. Er stellt an seine Seite<br />

einen provisorischen revolutionären Stab - alles heißt in diesen Tagen provisorisch -, von<br />

dem wir bereits gesprochen haben. Um die Finanzinittel <strong>der</strong> Verfügung <strong>der</strong> Beamten <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 108


alten Regierung zu entziehen, beschließt <strong>der</strong> Sowjet, Reichsbank, Reichsschatzamt,<br />

Münze und Ausgabestelle für Staatspapiere sofort durch revolutionäre Wachen zu besetzen.<br />

Die Aufgaben und die Funktionen des Sowjets wachsen unter dem Druck <strong>der</strong><br />

Massen ununterbrochen. Die <strong>Revolution</strong> bekommt ihr unbestreitbares Zentrum. Die<br />

Arbeiter, Soldaten und bald auch die Bauern werden sich von nun an nur noch an den<br />

Sowjet wenden - er wird in ihren Augen <strong>der</strong> Mittelpunkt aller Hoffnungen und aller<br />

Behörden, die Verkörperung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> selbst sein. Doch auch Vertreter <strong>der</strong> besitzenden<br />

Klasse werden, wenn auch zähneknirschend, beim Sowjet Schutz, Weisungen<br />

und Entscheidung bei Konflikten suchen.<br />

Jedoch schon in den ersten Stunden des Sieges, als die neue <strong>Revolution</strong>sgewalt sich<br />

mit märchenhafter Schnelligkeit und unüberwindlicher Kraft herausbildete, blickten jene<br />

<strong>Sozialisten</strong>, die an die Spitze des Sowjets gelangt waren, besorgt um sich, auf <strong>der</strong> Suche<br />

nach dem echten "Herrn". Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß die Macht an die<br />

Bourgeoisie übergehen müsse. Hier beginnt die Verknüpfung des wichtigsten politischen<br />

Knotens des neuen Regimes: einer <strong>der</strong> Fäden führt in das Zimmer des Exekutivkomitees<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in den Raum, wo das Zentrum <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Parteien sitzt.<br />

Um 3 Uhr nachmittags, als <strong>der</strong> Sieg in <strong>der</strong> Hauptstadt schon völlig feststand, wählte<br />

<strong>der</strong> Ältestenrat aus den Parteien des progressiven Blocks unter Hinzuziehung von<br />

Tschcheidse und Kerenski das "Provisorische Komitee <strong>der</strong> Dumamitglie<strong>der</strong>".<br />

Tschcheidse lehnte ab, Kerenski wand sich hin und her. Der Name des Komitees wies<br />

vorsorglich darauf hin, daß es sich nicht um ein offizielles Organ <strong>der</strong> Reichsduma<br />

handle, son<strong>der</strong>n um ein privates Organ zur Beratung <strong>der</strong> Dumamitghe<strong>der</strong>. Die Führer des<br />

progressiven Blocks hatten nur eine Frage zu Ende gedacht: wie sich vor Verantwortung<br />

schützen, ohne sich die Hände zu binden. Die Aufgabe des Komitees war mit sorgfältiger<br />

Zweideutigkeit formuliert worden: "Herstellung <strong>der</strong> Ordnung, und Verkehr mit Ämtern<br />

und Personen." Kein Wort davon, welche Ordnung die Herren herzustellen und mit<br />

welchen Ämtern sie zu verkehren gedachten. Sie streckten den Arm noch nicht offen<br />

nach dem Fell des Bären aus: wie, wenn er noch nicht ganz tot, son<strong>der</strong>n nur schwer<br />

verwundet ist? Erst am 27. Februar um 11 Uhr abends, erst als - nach dem Eingeständnis<br />

Miljukows - »<strong>der</strong> ganze Umfang <strong>der</strong> revolutionären Bewegung sichtbar wurde,<br />

entschloß sich das Provisorische Komitee, einen weiteren Schritt zu tun um die Macht,<br />

die den Händen <strong>der</strong> Regierung entfallen war, in seine Hände zu nehmen«. Unmerklich<br />

verwandelte sich das neue Organ aus einem Komitee <strong>der</strong> Dumamitglie<strong>der</strong> in ein Komitee<br />

<strong>der</strong> Duma: zur Sicherung <strong>der</strong> staatsrechtlichen Nachfolge gibt es kein besseres Mittel als<br />

die Fälschung. Aber Miljukow verschweigt die Hauptsache: die Führer des im Laufe des<br />

Tages gebildeten Exekutivkomitees hatten bereits Zeit gefünden, sich zum Provisorischen<br />

Komitee zu begeben und dieses dringendst zu ersuchen, die Macht zu übernehmen.<br />

Dieser freundschaftliche. Stoß hatte seine Wirkung. Nachträglich legte Miljukow den<br />

Entschluß des Dumakomitees dahin aus, daß die Regierung sich angeblich anschickte,<br />

zuverlässige Truppen gegen die Aufständischen zu entsenden, »und es drohte in den<br />

Straßen <strong>der</strong> Hauptstadt zu wahren Schlachten zu kommen«. In Wirklichkeit verfügte die<br />

Regierung schon über keinerlei Truppen mehr, <strong>der</strong> Umsturz war bereits vollzogen.<br />

Rodsjanko schrieb später: »Die Duma wäre«, hätte sie die Übemahme <strong>der</strong> Macht<br />

abgelehnt, »in ihrer Gesamtheit von den meutemden Truppen verhaftet und nie<strong>der</strong>ge-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 109


macht worden und die Herrschaft sogleich an die Bolschewiki übergegangen.« Das ist<br />

natürlich eine sinnlose Übertreibung, ganz im Geiste des achtbaren Kammerherrn; jedoch<br />

spiegelt sie unverfälscht die Stimmung <strong>der</strong> Duma wi<strong>der</strong>, die die Einhändigung <strong>der</strong> Macht<br />

als einen Akt politischer Vergewaltigung empfand.<br />

Bei dieser Stimmung fiel ein Beschluß nicht leicht. Beson<strong>der</strong>s heftig schwankte<br />

Rodsjanko, immer die an<strong>der</strong>n aushorchend: »Was wird es sein - Aufruhr o<strong>der</strong> kein<br />

Aufruhr?« Der monarchistische Deputierte Schulgin antwortete ihm, nach seiner eigenen<br />

Wie<strong>der</strong>gabe: »Es gibt keinerlei Aufruhr. Nehmen Sie als getreuer Untertan ruhig an ...<br />

wenn die Minister davongelaufrn sind, muß sie dochjemand ersetzen ... Es sind zwei<br />

Auswege möglich: alles wird sich zum Guten wenden, <strong>der</strong> Kaiser wird eine neue Regierung<br />

ernennen und wir ihm die Macht zurückgeben. Wird sich's aber nicht zum Guten<br />

wenden, dann werden, wenn wir sie nicht nehmen, an<strong>der</strong>e die Macht ergreifen, jene, die<br />

bereits irgendwelche Schufte in den Fabriken gewählt haben ...« Man braucht an den<br />

Pöbeleien des reaktionären Gentleman gegen die Arbeiter keinen Anstoß zu nehmen: die<br />

<strong>Revolution</strong> hat diesen Herren fest auf den Fuß getreten. Die Moral ist klar: siegt die<br />

Monarchie, - werden wir zu ihr stehen, siegt die <strong>Revolution</strong>, - wollen wir uns bemühen,<br />

sie zu bestehlen.<br />

Die Beratung währte lange. Die demokratischen Führer warteten erregt auf den<br />

Beschluß. Endlich trat Miljukow aus dem Zimmer Rodsjankos heraus. Er hatte ein feierliches<br />

Aussehen. An die Sowjetdelegation herantretend, verkündete er: »Der Entschluß<br />

ist gefaßt, wir übernehmen die Macht« ... »Ich fragte nicht, wer ist das - wir«, schreibt<br />

begeistert Suchanow, »ich fragte nichts mehr. Doch fühlte ich sozusagen mit meinem<br />

ganzen Wesen die neue Lage. Ich fühlte, wie das Schiff <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, durch die Willkür<br />

<strong>der</strong> Naturgewalten in dieser Stunde von den Böen hin und her geworfen, seine Segel<br />

hochrichtete und Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit und Gesetzmäßigkeit inmitten des furchtbaren<br />

Sturmes und Schwankens wie<strong>der</strong>gewann.« Welch geschraubte Form für das prosaische<br />

Bekenntnis sklavischer Abhängigkeit <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie vom kapitalistischen<br />

Liberalismus! Und welch mör<strong>der</strong>isches Verkennen <strong>der</strong> politischen Perspektive: die<br />

Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Liberalen wird dem Staatsschiff nicht nur keine Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />

verleihen, son<strong>der</strong>n, im Gegenteil, sie wird von Stund an die Quelle <strong>der</strong><br />

Herrschaftslosigkeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, des größten Chaos, <strong>der</strong> Erbitterung <strong>der</strong> Massen, des<br />

Zusammenbruchs <strong>der</strong> Front und späterhin <strong>der</strong> äußersten Erbitterung des Bürgerkrieges.<br />

Blickt man zurück auf vergangene Jahrhun<strong>der</strong>te, erscheint einem die Tatsache <strong>der</strong><br />

Machtübernahme durch die Bourgeoisie hinlänglich gesetzmäßig: in allen früheren<br />

<strong>Revolution</strong>en kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch<br />

Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide<br />

Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsieht, den Barrikadenkampf von den<br />

Fenstern aus verfolgt hatte. Die Februarrevolution von 1917 jedoch unterscheidet sich<br />

von allen früheren <strong>Revolution</strong>en durch einen unvergleichlich höheren sozialen Charakter<br />

und hohes politisches Niveau <strong>der</strong> revolutionären Klasse, durch das feindselige Mißtrauen<br />

<strong>der</strong> Aufständischen gegen die liberale Bourgeoisie, demzufolge im Augenblick des<br />

Sieges ein neues revolutionäres Machtorgan erstand: <strong>der</strong> Sowjet, <strong>der</strong> sich auf die bewaffnete<br />

Gewalt <strong>der</strong> Massen stützte. Unter diesen Umständen verlangt <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong><br />

Macht in die Hände <strong>der</strong> politisch isolierten und unbewaffneten Bourgeoisie eine Erklärung.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 110


Vor allem muß man das Kräfteverhälmis näher besehen, das sich als Ergebnis des<br />

Umsturzes herausgebildet hatte. Vielleicht war die Sowjetdemokratie kraft <strong>der</strong> objektiven<br />

Umstände gezwungen, zugunsten <strong>der</strong> Großbourgeoisie auf die Macht zu verzichten? Die<br />

Bourgeoisie selbst war nicht dieser Ansicht. Wir wissen bereits, daß sie von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

nicht nur die Macht nicht erwartet hatte, son<strong>der</strong>n im Gegenteil in ihr eine tödliche<br />

Gefahr für die eigene soziale Lage voraussah. »Die gemäßigteren Parteien haben die<br />

<strong>Revolution</strong> nicht nur nicht gewollt«, schrieb Rodsjanko, »sie haben sich vor ihr einfach<br />

gefürchtet. lnsbeson<strong>der</strong>e war die Partei <strong>der</strong> Volksfreiheit ("Kadetten"), die auf dem<br />

linken Flügel <strong>der</strong> gemäßigten Gruppen stand und die meisten Berührungspunkte mit den<br />

revolutionären Parteien des Landes hatte, durch die heranrückende Katastrophe mehr<br />

als alle an<strong>der</strong>en beunruhigt.« Die Erfahrung von 1905 sagte den Liberalen eindringlich<br />

genug, daß <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern sich für die Bourgeoisie nicht weniger<br />

gefahrvoll gestalten kann als für die Monarchie. Man sollte meinen, <strong>der</strong> Gang des<br />

Februaraufstandes hätte diese Voraussicht nur bekräftigen können. So ungeformt in<br />

vieler Hinsicht die politischen Ideen <strong>der</strong> revolutionären Massen in jenen Tagen auch sein<br />

mochten, so war doch die Trennungslinie zwischen den Werktätigen und <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

unversöhnlich gezogen.<br />

Der den liberalen Kreisen nahestehende Privatdozent Stankewitsch, kein Feind,<br />

son<strong>der</strong>n ein Freund des progressiven Blocks, charakterisiert in folgenden Zügen die<br />

Stimmung <strong>der</strong> liberalen Kreise am zweiten Tage nach dem Umsturz, den zu verhin<strong>der</strong>n<br />

sie nicht vermocht hatten: »Offiziell feierte und rühmte man die <strong>Revolution</strong>, schrie den<br />

Freiheitskämpfern "Hurra" zu, schmückte sich mit roten Bän<strong>der</strong>n und marschierte unter<br />

roten Fahnen ... Aber im Innern, in Gesprächen untereinan<strong>der</strong>, war man entsetzt,<br />

erschüttert, fühlte man sich gekettet an ein feindliches Element, das irgendeinen<br />

unbekannten Weg ging. Unvergeßlich bleibt die Figur Rodsjankos, dieses massigen und<br />

vornehmen Herrn, als er unter Wahrung seiner erhabenen Würde, aber mit dem erstarrten<br />

Ausdruck tiefen Leidens und <strong>der</strong> Verzweiflung auf dem blassen Gesicht, in den Korridoren<br />

des Taurischen Palais durch die Haufen ausgelassener Soldaten schritt. Offiziell<br />

hieß es: "die Soldaten sind gekommen, die Duma in ihrem Kampfe gegen die Regierung<br />

zu unterstützen", faktisch aber war die Duma seit dem ersten Tage erledigt. Der gleiche<br />

Ausdruck war auf den Gesichtern aller Mitglie<strong>der</strong> des Provisorischen Dumakomitees<br />

und jener Kreise, die sie umgaben. Man sagt, Vertreter des progressiven Blocks hätten<br />

zu Hause vor ohnmächtiger Verzweiflung hysterisch geweint.« Dieses lebendige Zeugnis<br />

ist wertvoller als alle soziologischen Untersuchungen über das Kräfteverhälinis. Nach<br />

seinem eigenen Bericht erschauerte Rodsjanko vor ohnmächtiger Empörung beim<br />

Anblick dessen, als irgendwelche Soldaten, »unbekannt auf wessen Befehle, Verhaftungen<br />

von Würdenträgern des alten Regimes vornahmen und diese in die Duma brachten.<br />

Der Kammerherr geriet in die Rolle eines Gefängnischefs in bezug auf Menschen, mit<br />

denen er zwar gewisse Meinungsverschiedenheiten hatte, die aber für ihn immerhin<br />

Menschen seines Kreises blieben. Der ob dieser "Willkür" nie<strong>der</strong>geschmetterte<br />

Rodsjanko lud den verhafteten Schtscheglowitow in sein Arbeitsnmmer ein, die Soldaten<br />

weigerten sich entschieden, den ihnen verhaßten Würdenträger auszuliefern. »Als ich<br />

meine Autorität durchzusetzen versuchte«, erzählt Rodsjanko, »bildeten die Soldaten<br />

einen Kreis um ihren Gefangenen und zeigten mit herausfor<strong>der</strong>nden frechen Mienen auf<br />

ihre Gewehre; dann wurde Schtscheglowitow ohne weiteres irgendwohin abgeführt.«<br />

Kann man krasser die Worte Stankewitschs bestätigen, wonach die Regimenter, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 111


angeblich zur Unterstützung <strong>der</strong> Duma gekommen waren, diese in Wirklichkeit erledigten?<br />

Daß die Macht von <strong>der</strong> ersten Stunde an bei dem Sowjet war, darüber konnten die<br />

Dumamitglie<strong>der</strong> weniger als sonst jemand im Zweifel sein. Der Oktobristen-Deputierte<br />

Schidlowski, einer <strong>der</strong> Führer des progressiven Blocks, schreibt in seinen Erinnerungen:<br />

»Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrogra<strong>der</strong><br />

Bahnhöfe, alle Druckereien, so daß man ohne seine Erlaubnis we<strong>der</strong> ein Telegramm<br />

abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte.« Diese<br />

unzweideutige Charakteristik des Kräfteverhältnisses muß man nur in einer Hinsicht<br />

klären: die "Eroberung" <strong>der</strong> Post- und Telegraphenämter, <strong>der</strong> Eisenbahnen, Druckereien<br />

und so weiter durch den Sowjet bedeutet nur, daß die Arbeiter und Angestellten dieser<br />

Betriebe sich keinem, außer dem Sowjet, unterwerfen wollten. Die Klage Schidlowskis<br />

wird, wie es besser nicht möglich ist, durch eine Episode illustriert, die sich in <strong>der</strong> Hitze<br />

<strong>der</strong> Verhandlungen über die Regierung zwischen den Führern des Sowjets und <strong>der</strong> Duma<br />

abspielte. Die gemeinsame Sitzung wurde durch die dringende Mitteilung unterbrochen,<br />

Rodsjanko werde aus Pskow, wo sich nach seinen Irrfahrten auf den Eisenbahnstrecken<br />

<strong>der</strong> Zar nun befand, an die direkte Telephonleitung gerufen. Der allmächtige Dumavorsitzende<br />

erklärte, er wolle nicht allein zum Telegraphenamt fahren. »Die Herren Arbeiter-<br />

und Soldatendeputierten mögen mir einen Schutz mitgeben o<strong>der</strong> mit mir fahren,<br />

sonst wird man mich dort im Telegraphenamt verhaften.« - »Nun ja! Ihr habt die Macht<br />

und die Gewalt«, fuhr er aufgeregt fort, »ihr könnt mich natürlich verhaften lassen ...<br />

Vielleicht werdet ihr uns alle verhaften, wir wissen es nicht!« ... Dies geschah am 1.<br />

März, kaum 48 Stunden nachdem das Provisorische Komitee, an dessen Spitze<br />

Rodsjanko stand, die Macht »übernommen« hatte.<br />

Wie aber kamen unter diesen Umständen die Liberalen dennoch zur Regierung? Wer -<br />

und was - hatte sie ermächtigt, eine Regierung zu bilden als Resultat jener <strong>Revolution</strong>,<br />

die sie gefürchtet, <strong>der</strong> sie entgegengewirkt und die sie zu unterdrücken gesucht hatten,<br />

die von den ihnen feindlichen Massen vollzogen worden war, und zwar mit solcher<br />

Entschiedenheit und Kühnheit, daß <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, <strong>der</strong> aus dem<br />

Aufstand hervorging, als natürlicher und unbestrittener Herr <strong>der</strong> Lage erschien?<br />

Hören wir jetzt die an<strong>der</strong>e Seite an, jene, die die Macht abgegeben hat. »Das Volk<br />

neigte keinesfalls zur Duma«, schreibt Suchanow über die Februartage, »es interessierte<br />

sich nicht für sie und dachte nicht daran, sie - politisch o<strong>der</strong> technisch - zum Zentrum <strong>der</strong><br />

Bewegung zu machen.« Dieses Geständnis ist um so beachtenswerter, als sein Autor in<br />

den nächsten Stunden alle seine Kräfte darauf verwenden wird, dem Komitee <strong>der</strong> Reichsduma<br />

die Macht auszuheiern. »Miljukow begriffvortrefflich«, sagt ferner Suchanow über<br />

die Verhandlungen vom 1. März, »daß es vollständig in <strong>der</strong> Macht des Exekutivkomitees<br />

stand, <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> Großbourgeoisie die Gewalt zu übertragen o<strong>der</strong> sie ihr nicht zu<br />

übertragen.« Kann man sich kategorischer ausdrücken? Kann eine politische Situation<br />

klarer gekennzeichnet sein? Und trotzdem erklärt Suchanow in völligem Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zur Situation und zu sich selbst: »Eine Macht, die den Zarismus ablöst, kann nur eine<br />

bürgerliche Macht sein ... Auf diese Lösung muß <strong>der</strong> Kurs gehalten werden. An<strong>der</strong>nfalls<br />

wird <strong>der</strong> Umsturz mißlingen und die <strong>Revolution</strong> zugrunde gehen.« Die <strong>Revolution</strong> wird<br />

zugrunde gehen - ohne Rodsjanko!<br />

Das Problem des lebendigen Verhältnisses <strong>der</strong> sozialen Kräfte wird hier durch ein<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 112


vorgefaßtes Schema und eine ausgeklügelte Terminologie ersetzt: das eben ist <strong>der</strong> Kern<br />

des intellektuellen Doktrinarismus. Und wir werden später sehen, daß dieser Doktrinarismus<br />

keinesfalls platonischer Art war: er erfüllte eine vollkommen reale politische Funktion,<br />

wenn auch mit verbundenen Augen.<br />

Wir haben nicht zufällig Suchanow zitiert. In dieser ersten Periode war <strong>der</strong> Inspirator<br />

des Exekutivkomitees nicht dessen Vorsitzen<strong>der</strong>, Tschcheidse, ein ehrlicher und<br />

beschränkter Provinzler, son<strong>der</strong>n eben Suchanow, einer, <strong>der</strong> allgemein gesprochen, für<br />

die revolutionäre Führung am wenigsten geeignet war. Halb-Narodnik, Halb-Marxist,<br />

eher gewissenhafter Beobachter als Politiker, mehr Journalist als <strong>Revolution</strong>är, mehr<br />

Räsoneur als Journalist, war er nur fähig, sich so lange an eine revolutionäre Konzeption<br />

zu halten, bis es hieß, sie in die Tat umzusetzen. Passiver Internationalist während des<br />

Krieges, entschied er am ersten Tage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, man müsse so schnell wie möglich<br />

die Macht und den Krieg <strong>der</strong> Bourgeoisie zuschieben. Theoretisch, das heißt mindestens<br />

seinem Bedürfnis, wenn nicht <strong>der</strong> Befähigung nach, eine Sache mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu<br />

verbinden, stand er über den damaligen Mitglie<strong>der</strong>n des Exekutivkomitees. Doch seine<br />

Hauptkraft bestand in <strong>der</strong> Fähigkeit, die organischen Züge dieser bunten und trotzdem<br />

einheitlichen Sippe in die Sprache des Doktrinarismus zu übersetzen: Unglaube an die<br />

eigenen Kräfte; Angst vor <strong>der</strong> Masse und hochmütig-ehrfurchtsvolles Verhältnis zur<br />

Bourgeoisie. Lenin nannte Suchanow einen <strong>der</strong> besten Vertreter Kleinbürgertums. Das<br />

ist aber auch das Schmeichelhafteste, was man über ihn sagen kann.<br />

Man darf nun nicht vergessen, daß es dabei vor allem um das Kleinbürgertum eines<br />

neuen kapitalistischen Typs geht: um die Handels-, Industrie- und Bankangestellten, um<br />

die Beamten des Kapitals emerseits und um die Arbeiterbürokratie an<strong>der</strong>erseits, das heißt<br />

um jenen neuen Mittelstand, in dessen Namen <strong>der</strong> nicht unbekannte deutsche Sozialdemokrat<br />

Eduard Bernstein Ende des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts eine Revision <strong>der</strong> revolutionären<br />

Konzeption von Marx unternahm. Um die Frage zu beantworten, wie die Arbeiterund<br />

Bauemrevolution die Macht an die Bourgeoisie abgetreten hat, muß man in die<br />

politische Kette ein Zwischenglied einführen: die kleinbürgerlichen Demokraten und<br />

<strong>Sozialisten</strong> vom Typ Suchanows, die Journalisten und Politiker des neuen Mittelstandes,<br />

die die Massen lehrten, daß die Bourgeoisie <strong>der</strong> Feind sei, sich aber selbst am meisten<br />

davor fürchteten, die Massen vom Kommando dieses Feindes zu lösen. Der Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen dem Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und dem Charakter <strong>der</strong> aus ihr entstandenen<br />

Regierung ist mit dem wi<strong>der</strong>spruchsvollen Charakter <strong>der</strong> neuen kleinbürgerlichen<br />

Schicht zu erklären, die zwischen den revolutionären Massen und <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Bourgeoisie stand. Im Verlauf <strong>der</strong> weiteren Ereignisse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wird sich uns die<br />

politische Rolle <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie des neuen Typs ganz erschließen.<br />

Vorläufig begnügen wir uns mit wenigen Worten.<br />

Am Aufstand beteiligt sich unmittelbar die Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> revolutionären Klasse,<br />

wobei die Kraft dieser Min<strong>der</strong>heit darin besteht, daß die Mehrheit sie unterstützt, mindestens<br />

mit ihr sympathisiert. Aus <strong>der</strong> aktiven und kampfbereiten Min<strong>der</strong>heit treten unter<br />

dem feindlichen Feuer unvermeidlich die revolutionärsten und aufopferungsfähigsten<br />

Elemente hervor. Es ist natürlich, daß in den Februarkämpfen die bolschewistischen<br />

Arbeiter an erster Stelle standen. Die Lage verän<strong>der</strong>t sich aber mit dem Siege, und zwar<br />

in dem Augenblick, wo seine politische Festigung beginnt. Zu den Wahlen für die<br />

Organe und Institutionen <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> werden aufgerufen und strömen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 113


herbei unermeßlich breitere Massen als jene, die mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand gekämpft<br />

hatten. Das bezieht sich nicht nur auf allgemein demokratische Institutionen, wie Stadtduma<br />

und Semstwo, o<strong>der</strong> später die Konstituierende Versammlung, son<strong>der</strong>n auch auf<br />

Klassenorgane, wie die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten. Die überwältigende Mehrzahl<br />

<strong>der</strong> Arbeiter, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Parteilosen unterstützte die Bolschewiki<br />

im Augenblick des unmittelbaren Zusammenpralls mit dem Zarismus. Jedoch<br />

begriff nur eine kleine Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Arbeiter, worin sich die Bolschewiki von den<br />

an<strong>der</strong>en sozialistischen Parteien unterschieden. Gleichzeitig aber zogen alle Arbeiter eine<br />

scharfe Trennungslinie zwischen sich und <strong>der</strong> Bourgeoisie. Das entschied die politische<br />

Situation nach dem Siege. Die Arbeiter wählten <strong>Sozialisten</strong>, das heißt solche, die nicht<br />

nur gegen die Monarchie, son<strong>der</strong>n auch gegen die Bourgeoisie waren. Sie machten dabei<br />

fast keinen Unterschied zwischen den drei sozialistischen Parteien. Da aber die Menschewiki<br />

und die Sozialrevolutionäre über unvergleichlich größere Intellektuellen-Ka<strong>der</strong><br />

verfügten, die ihnen von allen Seiten zuströmten und eine riesige Reserve von Agitatoren<br />

stellten, ergaben die Wahlen, sogar in Fabriken und Betrieben, ein großes Übergewicht<br />

<strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre.<br />

In <strong>der</strong> gleichen Richtung, nur mit noch unermeßlich größerer Kraft, ging <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong><br />

erwachten Armee. Am fünften Tage des Aufstands schloß die Petrogra<strong>der</strong> Garnison sich<br />

den Arbeitern an. Nach dem Siege sollte sie berufen sein, die Sowjets zu wählen.<br />

Vertrauensvoll gaben die Soldaten ihre Stimmen jenen, die für die <strong>Revolution</strong> und gegen<br />

die monarchistischen Offiziere waren und dies laut auszusprechen vermochten: das<br />

waren Einjährig-Freiwillige, Schreiber, Feldscher, junge Kriegsoffiziere aus Intellektuellenkreisen,<br />

kleine Militärbeamte, das heißt die untere Schicht des gleichen "neuen Mittelstandes".<br />

Seit dem März waren sie fast sämtlich in die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

eingetreten, die durch ihre geistige Formlosigkeit <strong>der</strong> zwischenstuflichen sozialen Lage<br />

dieser Elemente und ihrer politischen Beschränktheit am besten entsprach. Die Vertretung<br />

<strong>der</strong> Garnison war folglich unvergleichlich gemäßigter und bürgerlicher als die<br />

Soldatenmasse selbst. Die aber erkannte diesen Unterschied nicht; er mußte sich erst aus<br />

<strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> nächsten Monate ergeben. Die Arbeiter wie<strong>der</strong>um wollten sich den<br />

Soldaten so eng wie möglich anschließen, um das blutig erkaufte Bündnis zu festigen<br />

und die <strong>Revolution</strong> sicherer zu bewaffnen. Da nun im Namen <strong>der</strong> Armee vorwiegend<br />

neugebackene Sozialrevolutionäre sprachen, mußte das die Autorität dieser Partei und<br />

die ihrer Verbündeten, <strong>der</strong> Menschewiki, in den Augen <strong>der</strong> Arbeiter steigern. So entstand<br />

in den Sowjets die Vorherrschaft dieser zwei versöhnlerischen Parteien. Es genügt,<br />

darauf zu verweisen, daß in <strong>der</strong> ersten Zeit sogar im Sowjet des Wyborger Bezirks die<br />

führende Rolle menschewistischen Arbeitern gehörte. Der Bolschewismus brodelte in<br />

jener Periode erst tief im Schoße <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die offiziellen Bolschewiki aber bildeten<br />

damals sogar im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet eine verschwindende Min<strong>der</strong>heit, die sich außerdem<br />

über ihre Aufgaben nicht sehr im klaren war.<br />

So entstand das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution: die Macht in Händen demokratischer<br />

<strong>Sozialisten</strong>. Sie hatten sie keinesfalls zufällig, durch einen blanquistischen<br />

Anschlag erobert; nein, sie war ihnen von den siegreichen Volksmassen öffentlich<br />

übertragen worden. Diese Massen verweigern <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht nur Vertrauen und<br />

Unterstützung, son<strong>der</strong>n unterscheiden sie auch von Adel und Bürokratie. Ihre Waffen<br />

stellen sie ausschließlich den Sowjets zur Verfügung. Indessen bildet die einzige Sorge<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 114


<strong>der</strong> so leicht an die Spitze <strong>der</strong> Sowjets gelangten <strong>Sozialisten</strong> die Frage: wird die politisch<br />

isolierte, den Massen verhaßte, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch und durch kindliche Bourgeoisie<br />

bereit sein, aus unseren Händen die Macht zu übernehmen? Ihre Zustimmung muß um<br />

jeden Preis gewonnen werden; da aber die Bourgeoisie offensichtlich nicht auf ihr<br />

bürgerliches Programm verzichten kann, so müssen wir "<strong>Sozialisten</strong>" auf unser<br />

Programm verzichten und über Monarchie, Krieg, Land und Boden schweigen damit die<br />

Bourgeoisie nur ja das Geschenk <strong>der</strong> Macht annimmt. Während die "<strong>Sozialisten</strong>" diese<br />

Operation vornehmen, fahren sie, wie zum Hohn über sich selbst, fort, die Bourgeoisie<br />

nicht an<strong>der</strong>s denn als Klassenfeind zu bezeichnen. In den Ritualformen des Gottesdienstes<br />

wird auf diese Weise ein Akt herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Gotteslästerung begangen. Der bis<br />

ans Ende geführte Klassenkampf ist ein Kampf um die Staatsmacht. Die wesentliche<br />

Eigenschaft einer <strong>Revolution</strong> besteht darin, den Klassenkampf bis zu Ende zu führen.<br />

Die <strong>Revolution</strong> ist eben <strong>der</strong> unmittelbare Kampf um die Macht. Unsere "<strong>Sozialisten</strong>" aber<br />

sind nicht darum besorgt, die Macht dem sogenannten Klassenfeind zu entreißen, <strong>der</strong> sie<br />

nicht besitzt und sie aus eigener Kraft nicht erobern kann - son<strong>der</strong>n darum, ihm die<br />

Macht um jeden Preis auszuhändigen. Ist das etwa kein Paradoxon? Es erschien um so<br />

verblüffen<strong>der</strong>, als die Erfahrung <strong>der</strong> deutschen <strong>Revolution</strong> von 1918 damals noch nicht<br />

existierte und die Menschheit noch nicht Zeuge <strong>der</strong> gewaltigen und unvergleichlich<br />

erfolgreicheren Operation <strong>der</strong> gleichen Art gewesen war, die <strong>der</strong> "neue Mittelstand", <strong>der</strong><br />

die deutsche Sozialdemokratie führt, vollbrachte.<br />

Wie erklärten die Versöhmer ihr Verhalten? Das eine Argument war doktrinärer Art:<br />

da die <strong>Revolution</strong> eine bürgerliche ist, dürfen sich die <strong>Sozialisten</strong> durch die Machtergreifling<br />

nicht kornpromittieren - mag die Bourgeoisie für sich selbst einstehen. Das<br />

klang sehr unversöhnlich. In Wirklichkeit maskierte das Kleinbürgertum mit seiner<br />

angeblichen Unversöhnlichkeit nur seine Kriecherei vor Reichtum, Bildung, Geltung.<br />

Das Recht <strong>der</strong> Großbourgeoisie auf die Macht betrachteten die Kleinbürger als <strong>der</strong>en<br />

Urrecht, unabhängig vom Kräfteverhälmis. Dem lag fast die gleiche instinktive<br />

Bewegung zugrunde, die einen kleinen Kaufmann o<strong>der</strong> einen Lehrer zwingt, auf dem<br />

Bahnhof o<strong>der</strong> im Theater ehrerbietig beiseite zu treten, um ... Rothschild vorzulassen.<br />

Die doktrinären Argumente dienten nur zur Kompensation des Bewußtseins eigener<br />

Min<strong>der</strong>wertigkeit. Schon nach zwei Monaten, als es sich herausstellte, daß die Bourgeoisie<br />

aus eigener Kraft die ihr abgetretene Macht keinesfalls halten würde, schoben die<br />

Versöhnler ihre "sozialistischen" Vorurteile beiseite und traten in ein Koalitionsministerium<br />

ein. Nicht, um die Bourgeoisie von dort zu verdrängen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil, um<br />

sie zu retten. Und nicht gegen <strong>der</strong>en Willen, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong>en Antrag, <strong>der</strong> wie ein<br />

Befehl klang: die Bourgeoisie drohte den Demokraten, im Falle einer Weigerung ihnen<br />

die Macht an den Kopf zu werfen.<br />

Das zweite Argument für die Ablehnung <strong>der</strong> Macht hatte einen praktischeren<br />

Anschein, ohne im wesentlichen viel ernster zu sein. Der uns bereits bekannte Suchanow<br />

berief sich in erster Linie auf das »Zerstäubtsein« <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Demokratie: »In den<br />

Händen <strong>der</strong> Demokratie befanden sich damals keine einigermaßen festen und einflußreichen<br />

Organisationen - we<strong>der</strong> Partei-, noch Gewerkschafts-, noch Selbstverwaltungsorgane.«<br />

Das klingt wie Hohn! Die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten erwähnt<br />

mit keinem Wort <strong>der</strong> Sozialist, <strong>der</strong> im Namen <strong>der</strong> Sowjets auftrat. Indes entstanden die<br />

Sowjets dank <strong>der</strong> Tradition von 1905 wie aus <strong>der</strong> Erde gestampft und waren sofort<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 115


unvergleichlich mächtiger als alle an<strong>der</strong>en Organisationen, die später versuchten, mit<br />

ihnen zu rivalisieren (Munizipalitäten, Kooperative, teils auch Gewerkschaften). Was die<br />

Bauernschaft betrifft, eine ihrer Natur nach zersplitterte Klasse, so war sie gerade infolge<br />

des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mehr denn je organisiert: <strong>der</strong> Krieg versammelte die<br />

Bauern in <strong>der</strong> Armee, und die <strong>Revolution</strong> verlieh <strong>der</strong> Armee einen politischen Charakter!<br />

Nicht weniger als 8 Millionen Bauern waren in Kompanien und Schwadronen vereinigt,<br />

die sofort ihre revolutionären Vertretungen geschaffen hatten und durch <strong>der</strong>en Vermittlung<br />

jeden Moment auf einen telephonischen Anruf hin auf die Beine gebracht werden<br />

konnten. Ähnelt das einem "Zerstäubtsein"?<br />

Man könnte allerdings einwenden, daß <strong>der</strong> Deniokratie im Augenblick <strong>der</strong> Entschedung<br />

<strong>der</strong> Machtfrage die Haltung <strong>der</strong> Armee an <strong>der</strong> Front noch unbekannt gewesen sei.<br />

Wir wollen nicht die Frage berühren, ob auch <strong>der</strong> geringste Grund für die Befürchtung<br />

(o<strong>der</strong> Hoffhung) bestand, die durch den Krieg erschöpften Frontsoldaten könnten bereit<br />

sein, die Bourgeoisie zu unterstützen. Die Tatsache genügt, daß diese Frage in den<br />

nächsten zwei bis drei Tagen gelöst wurde, also in <strong>der</strong> Zeit, die die Versöhnler hinter den<br />

Kulissen mit <strong>der</strong> Vorbereitung einer bürgerlichen Regierung verbrachten. »Der Umsturz<br />

war am 3. Marz glücklich vollzogen«, gesteht Suchanow. Trotzdem sich die ganze<br />

Armee den Sowjets angeschlossen hatte, stießen ihre Führer die Macht mit aller Kraft<br />

von sich: sie fürchteten diese Macht um so mehr, je vollständiger sie sich in ihren<br />

Händen konzentrierte.<br />

Aber weshalb denn? Weshalb fürchteten sich Demokraten, "<strong>Sozialisten</strong>", die sich<br />

unmittelbar auf Menschenmassen stützten, wie sie keine Demokratie in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

gekannt hat, und zwar Massen mit bedeuten<strong>der</strong> Erfahrung, diszipliniert und bewaffnet, in<br />

Sowjets organisiert, - weshalb fürchtete diese allmächtige, wie es scheinen sollte, unverwüstliche<br />

Demokratie die Macht zu übernehmen? Dieses auf den ersten Blick knifflige<br />

Rätsel ist so zu lösen, daß die Demokratie ihrer eigenen Stütze nicht vertraute, sich vor<br />

den Massen fürchtete, die Dauerhaftigkeit <strong>der</strong>en Vertrauens bezweifelte und hauptsächlich<br />

Angst vor "Anarchie" hatte, das heißt davor, daß sie nach Übernahme <strong>der</strong> Macht<br />

zugleich mit dieser Macht ein Spielball <strong>der</strong> sogenannten entfesselten Elemente werden<br />

könnte. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Demokratie fühlte sich im Augenblick des revolutionären<br />

Aufstiegs nicht berufen, Führerin des Volkes zu sein, son<strong>der</strong>n nur linker Flügel <strong>der</strong><br />

bürgerlichen Ordnung, <strong>der</strong>en zu den Massen ausgestreckter Fühler. Sozialistisch nannte<br />

sie sich und hielt sich sogar dafür, um nicht nur vor den Massen, son<strong>der</strong>n auch vor sich<br />

selbst ihre tatsächliche Rolle zu verschleiern: ohne diese Selbsttäuschung wäre sie nicht<br />

in <strong>der</strong> Lage gewesen, diese Rolle auszuführen. So löst sich das grundlegende Paradoxon<br />

<strong>der</strong> Februarrevolution.<br />

Am Abend des 1. März kamen die Vertreter des Exekutivkomitees, Tschcheidse,<br />

Steklow, Suchanow und an<strong>der</strong>e, zur Sitzung des Dumakomitees, um die Bedingungen zu<br />

besprechen für die Unterstützung <strong>der</strong> neuen Regierung durch die Sowjets. Das Programm<br />

<strong>der</strong> Demokraten ignorierte die Fragen des Krieges, <strong>der</strong> Republik, des Land und Bodcns,<br />

des 8-Stunden-Tags völlig und lief nur auf eine einzige For<strong>der</strong>ung hinaus: den linken<br />

Parteien Agitationsfreiheit zu gewähren. Ein Beispiel <strong>der</strong> Selbstlosigkeit für Völker und<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te: <strong>Sozialisten</strong>, in <strong>der</strong>en Händen die gesamte Macht war und von denen es<br />

abhing, den an<strong>der</strong>en Agitationsfreiheit zu gewähren o<strong>der</strong> nicht, traten ihre Macht an die<br />

"Klassenfeinde" ab unter <strong>der</strong> Bedingung, daß diese ihnen Agitationsfreiheit zusicherten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 116


Rodsjanko fürchtete sich, zum Telegraphenamt zu gehen und sprach zu Tschcheidse und<br />

Suchanow: »Ihr habt die Macht, ihr könnt uns alle verhaften.« Tschcheidse und Suchanow<br />

antworteten ihm: »Nehmt die Macht, aber verhaftet uns nur nicht wegen Propaganda.«<br />

Studiert man die Verhandlungen <strong>der</strong> Versöhnler mit den Liberalen und all die<br />

Episoden aus den gegenseitigen Beziehungen des linken und des rechten Flügels des<br />

Taurischen Palais in jenen Tagen, so scheint einem, als benutze eine Gruppe Provinzschauspieler<br />

auf einer gewaltigen Bühne, auf <strong>der</strong> ein historisches Volksdrama spielt, ein<br />

freies Eckchen und eine kleine Pause, um ein banales Vaudeville mit Verkleidungen zu<br />

geben.<br />

Die Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie waren, man muß ihnen Gerechtigkeit wi<strong>der</strong>fahren lassen,<br />

auf <strong>der</strong>artiges nicht gefaßt gewesen. Sie hätten die <strong>Revolution</strong> wohl weniger gefürchtet,<br />

wenn sie mit einer solchen Politik ihrer Führer gerechnet hätten. Sie würden sich allerdings<br />

auch in diesem Falle verrechnet haben, doch dann gemeinsam mit jenen. Aus <strong>der</strong><br />

Befürchtung heraus, die Bourgeoisie könnte auch unter den angebotenen Bedingungen<br />

die Macht ablehnen, stellt Suchanow das bedrohliche Ultimatum: »Die entfesselten<br />

Elemente können nur wir bändigen, niemand sonst... Es gibt nur einen Ausweg: unsere<br />

Bedingungen an-nehmen.« Mit an<strong>der</strong>en Worten: akzeptiert das Programm, das ja euer<br />

Programm ist; wir aber versprechen euch dafür, die Massen, die uns die Macht anvertraut<br />

haben, zu bändigen. Arme Bändiger <strong>der</strong> Naturgewalten!<br />

Miljukow war erstaunt. »Er dachte nicht daran«, schreibt Suchanow, »seine Genugtuung<br />

und seine angenehme Überraschung zu verbergen.« Als aber die Sowjetdelegierten,<br />

um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, hinzufügten, ihre Bedingungen<br />

seien »endgültig«, wurde Mijukow sentimental und machte ihnen mit dem Satz Mut: »Ja,<br />

ich hörte ihnen zu und dachte darüber nach, wie weit unsere Arbeiterbewegung seit dem<br />

Jahre 1905 vorwärtsgeschritten ist ...« In diesem Tone eines gutmütigen Krokodils<br />

unterhielt sich die Hohenzollernsche Diplomatie in Brest-Litowsk mit den Delegierten<br />

<strong>der</strong> Ukrainer Rada, <strong>der</strong>en staatsmännischer Reife die nötige Anerkennung zollend, bevor<br />

sie sie verschluckte. Daß die Bourgeoisie die Sowjetdemokratie nicht verschluckt hat, ist<br />

we<strong>der</strong> Suchanows Verdienst noch Miljukows Schuld.<br />

Die Bourgeoisie erhielt hinter dem Rücken des Volkes die Macht. Sie besaß in den<br />

werktätigen Klassen keine Stütze. Doch zusammen mit <strong>der</strong> Macht bekam sie aus zweiter<br />

Hand so etwas wie einen Stützpunkt. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, von<br />

<strong>der</strong> Masse emporgehoben, bändigten von sich aus <strong>der</strong> Bourgeoisie das Vertrauensmandat<br />

aus. Betrachtet man diese Operation im Querschnitt <strong>der</strong> formalen Demokratie, dann<br />

entsteht das Bild einer Zweiklassenwahl, bei <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre in<br />

<strong>der</strong> technischen Rolle eines Mittelgliedes auftreten, das heißt als Kadettenwähler. Nimmt<br />

man die Frage aber politisch, dann muß man sagen, die Versöhnler haben das Vertrauen<br />

<strong>der</strong> Massen getäuscht, indem sie an die Macht jene beriefen, gegen die sie gewählt<br />

worden waren. Und endlich vom tieferen sozialen Standpunkt aus betrachtet, stellt sich<br />

die Frage so dar: die kleinbürgerlichen Parteien, die unter den Bedingungen des Alltags<br />

außerordentlich anspruchsvoll und selbstzufrieden waren, bekamen, sobald die <strong>Revolution</strong><br />

sie auf die Gipfel <strong>der</strong> Macht gehoben hatte, Angst vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit<br />

und beeilten sich, den Vertretern des Kapitals das Steuer zu überlassen. In diesem<br />

Prostrationsakt offenbarte sich jäh die erschreckende Haltlosigkeit des neuen Mittelstandes<br />

und seine beschämende Abhängigkeit von <strong>der</strong> Großbourgeoisie. Im Bewußtsein o<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 117


loß in <strong>der</strong> Vorahnung, daß sie die Macht ohnehin nicht lange zu halten imstande sein<br />

würden, son<strong>der</strong>n diese bald an rechts o<strong>der</strong> links abgeben müßten, beschlossen die<br />

Demokraten, es sei schon besser, sie heute den soliden Liberalen, als morgen den extremen<br />

Vertretern des Proletariats abzugeben. Auch in dieser Beleuchtung hört die Rolle<br />

<strong>der</strong> Versöhnler, trotz ihrer sozialen Bedingtheit, nicht auf, eine den Massen gegenüber<br />

treubrüchige zu sein.<br />

Nachdem sie ihr Vertrauen den <strong>Sozialisten</strong> geschenkt hatten, sahen sich die Arbeiter<br />

und Soldaten, unerwartet für sie selbst, politisch expropriiert. Sie begriffen es nicht,<br />

waren beunruhigt, wußten aber nicht gleich einen Ausweg. Von ihren eigenen Beauftragten<br />

wurden sie durch Argumente betäubt, auf die sie zwar keine Antwort bereit hatten,<br />

die aber all ihren Gefühlen und Absichten wi<strong>der</strong>sprachen: die revolutionären Tendenzen<br />

<strong>der</strong> Massen fielen schon im Augenblick des Februarumsturzes nicht zusammen mit den<br />

versöhnlerischen Tendenzen <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Parteien. Die Proletarier und Bauern<br />

gaben ihre Stimmen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären nicht als Versöhnlern,<br />

seindem als Feinden des Zaren, des Gutsbesitzers und des Kapitalisten. Doch indem<br />

sie sie wählten, schufen sie eine Scheidewand zwischen sich und ihren Zielen. Sie<br />

konnten jetzt nicht mehr vorrücken, ohne auf die von ihnen selbst errichtete Scheidewand<br />

zu stoßen und ohne diese zuvor nie<strong>der</strong>zureißen. Das war das erstaunliche qui pro quo,<br />

das in den Klassenbeziehungen enthalten war, wie sie durch die Februarrevolution aufgedeckt<br />

wurden.<br />

Dem Hauptparadoxon gesellte sich sogleich eine Ergänzung hinzu. Die Liberalen<br />

erklärten sich nur unter <strong>der</strong> Bedingung bereit, die Macht aus den Händen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong><br />

zu übernehmen, daß sich die Monarchie bereit erklären würde, die Macht aus ihren<br />

Händen entgegenzunehmen.<br />

Während Gutschkow mit dem uns bereits bekannten Monarchisten Schulgin zur<br />

Rettung <strong>der</strong> Dynastie nach Pskow reiste, wurde das Problem <strong>der</strong> konstitutionellen<br />

Monarchie Mittelpunkt <strong>der</strong> Verhandlungen <strong>der</strong> zwei Komitees des Taurischen Palais.<br />

Miljukow bemühte sich, die Demokraten, die ihm die Macht auf <strong>der</strong> flachen Hand<br />

darbrachten, zu überzeugen, die Romanows könnten jetzt keine Gefahr mehr sein,<br />

Nikolaus müsse natürlich abgesetzt werden, dagegen aber könnte <strong>der</strong> Zarewitsch Alexej<br />

unter <strong>der</strong> Regentschaft Michails das Wohl des Landes sichern: »Der eine ein krankes<br />

Kind, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ein ganz dummer Mensch.« Fügen wir noch die Charakteristik bei, die<br />

<strong>der</strong> liberale Monarchist Schidlowski von dem Kandidaten für den Zarenthron gab:<br />

»Michail Alexandrowitsch entzog sich auf jede Weise jeglicher Einmischung in die<br />

Staatsgeschäfte und widmete sich restlos dem Pferdesport.« Eine seltsame Empfehlung,<br />

wollte man sie vor den Massen wie<strong>der</strong>holen. Nach <strong>der</strong> Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes<br />

proklamierte Danton im Jakobinerklub, daß ein Mann, <strong>der</strong> schwachsinnig, nicht mehr<br />

König sein könne. Die <strong>russischen</strong> Liberalen dagegen glaubten, ein schwachsinniger<br />

Monarch sei die beste Zierde des konstitutionellen Regimes. Das war allerdings ein<br />

ungezwungenes Argument, berechnet auf die Psychologie <strong>der</strong> linken Einfaltspinsel, doch<br />

auch für diese zu plump. Den breiten Kreisen <strong>der</strong> liberalen Bürger wurde suggeriert,<br />

Michail sei "Anglomane", ohne genau anzugeben, ob die Rede um Pfer<strong>der</strong>ennen o<strong>der</strong> um<br />

Parlamentarismus ging. Hauptsache bleibt, man hat ein "gewohntes Machtsymbol", sonst<br />

könnte das Volk sich einbilden, die Zeit <strong>der</strong> Herrschaftslosigkeit sei gekommen.<br />

Die Demokraten hörten zu, staunten höflich und versuchten zu überreden ... die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 118


Republik zu proklamieren? Nein, nur die Frage nicht vorwegzunehmen. Punkt 3 <strong>der</strong><br />

Bedingungen des Exekutivkomitees lautete: »Die Provisorische Regierung darf keinerlei<br />

Schritte unternehmen, die die zukünftige Regierungsform im voraus festlegen.« Miljukow<br />

machte aus <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Monarchie ein Ultimatum. Die Demokraten waren verzweifelt.<br />

Da aber kamen die Massen zu Hilfe. Auf den Meetings im Taurischen Palais wollte<br />

niemand, we<strong>der</strong> die Arbeiter noch die Soldaten, einen Zaren, und es gab kein Mittel,<br />

ihnen diesen aufzuzwingen. Trotzdem versuchte Miljukow gegen den Strom zu schwimmen<br />

und über die Köpfe <strong>der</strong> linken Verbündeten hinweg Thron und Dynastie zu retten.<br />

In seiner <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verzeichnet er zurückhaltend selbst, daß gegen<br />

Abend des 2. März die durch seine Mitteilung von <strong>der</strong> Regentschaft Michails hervorgerufene<br />

Aufregung »sich bedeutend steigerte«. Viel farbiger schil<strong>der</strong>t Rodsjanko den Effekt,<br />

den die monarchistischen Manöver <strong>der</strong> Liberalen bei den Massen auslösten. Kaum aus<br />

Pskow mit dem Verzichtsakt Nikolaus' zugunsten Michails zurückgekehrt, begab sich<br />

Gutschkow auf Verlangen <strong>der</strong> Arbeiter vom Bahnhof in die Eisenbahnwerkstätten, schil<strong>der</strong>te<br />

das Vorgefallene, las den Verzichtsakt vor und schloß mit den Worten: »Es lebe<br />

Kaiser Michail!« Das Resultat war ein völlig unerwartetes. Der Redner wurde, nach<br />

Rodsjankos Bericht, von den Arbeitern unverzüglich verhaftet, angeblich sogar unter<br />

Androhung <strong>der</strong> Erschießung. »Mit großer Mühe gelang es, ihn mit Hilfe <strong>der</strong> Wachkompanie<br />

des nächsten Regiments zu befreien.« Wie stets, übertreibt Rods~ janko in<br />

manchen Punkten, doch die Darstellung ist im wesentlichen richtig. Das Land hatte die<br />

Monarchie so radikal erbrochen, daß sie dem Volk nicht mehr durch die Kehle gehen<br />

wollte. Die revolutionären Massen ließen den Gedanken an einen neuen Zaren nicht<br />

mehr aufkommen!<br />

Angesichts dieser Konjunktur rückten die Mitglie<strong>der</strong> des Provisorischen Komitees<br />

eines nach dem an<strong>der</strong>n von Michail ab, nicht endgültig, son<strong>der</strong>n »bis zur konstituierenden<br />

Versammlung«: da werde man schon sehen. Nur Miljukow und Gutschkow verteidigten<br />

die Monarchie bis zuletzt und machten weiterlhin ihre Beteiligung am Kabinett<br />

davon abhängig. Was tun? Die Demokraten meinten, man könne ohne Miljnkow keine<br />

bürgerliche Regierung bilden und ohne bürgerliche Regierung die <strong>Revolution</strong> retten. Es<br />

folgten endlose Wortwechsel und Unterredungen. In <strong>der</strong> Vormittagssitzung des 3. März<br />

obsiegte im Provisorischen Komitee fast durchgehend die Überzeugung, es sei notwendig,<br />

»den Großfürsten zur Abdankung zu bewegen« - er wurde mithin schon als Zar<br />

betrachtet! Der linke Kadett Nekrassow hatte bereits den Text <strong>der</strong> Abdankung fertig. Da<br />

aber Miijukow sich hartnäckig wi<strong>der</strong>setzte, fand man nach neuem leidenschaftlichen<br />

Streit schließlich eine Lösung: »Beide Parteien bringen dem Großfürsten ihre motivierten<br />

Ansichten vor und überlassen, ohne in weitere Diskussionen einzugehen, dem<br />

Großfürsten die Entscheidung.« Auf diese Weise wurde <strong>der</strong> »ganz dumme Mensch«, dem<br />

sein durch den Aufstand gestiirzter älterer Bru<strong>der</strong>, in Wi<strong>der</strong>spruch selbst zu den dynastischen<br />

Statuten, den Thron unterzuschieben versucht hatte, zum Schiedsrichter über die<br />

Frage <strong>der</strong> Staatsform des revolutionären Landes. So unglaublich das scheinen mag,<br />

dieser Wettstreitprozeß um das Schicksal des Staates hat stattgefunden. Um den Großfürsten<br />

zu bewegen, sich des Thrones halber von den Ställen loszureißen, versicherte ihm<br />

Miljukow, es bestehe durchaus die Möglichkeit, außerhalb Petrograds eine Militärmacht<br />

zu sammeln zur Verteidigung seiner Rechte. Mit an<strong>der</strong>en Worten, kaum die Macht aus<br />

den Händen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> erhalten, trat Miljukow mit dem Plan eines monarchistischen<br />

Staatsstreiches hervor. Doch nach Beendigung <strong>der</strong> Für- und Wi<strong>der</strong>reden, <strong>der</strong>en es nicht<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 119


wenige gab, erbat sich <strong>der</strong> Großfürst Bedenkzeit. Michail lud Rodsjanko in ein Nebenzimmer<br />

ein und stellte ihm unvermittelt die Frage: können die neuen Herrscher ihm nur<br />

die Krone o<strong>der</strong> auch den Kopf garantieren? Der unvergleichliche Kammerherr<br />

antwortete, er könne dem Monarchen nur versprechen, wenn nötig, mit ihm zusanaanen<br />

zu sterben. Dazu verstand sich <strong>der</strong> Prätendent keinesfalls. Als er nach Umarmungen mit<br />

Rodsjanko zu den ihn erwartenden Deputierten hinaustrat, erklärte Michail Romanow<br />

»ziemlich fest«, er verzichte auf das ihm angebotene hohe, aber gefahrvolle Amt. Da<br />

sprang Kerenski, <strong>der</strong> bei diesen Verhandlungen das Gewissen <strong>der</strong> Demokratie verkörperte,<br />

begeistert vom Stuhl auf mit den Worten: »Hoheit, Sie sind ein edler Mann!« und<br />

schwor, er werde dies von nun an überall verkünden. »Das Pathos Kerenskis«, kommentierte<br />

Miljukow trocken, »harmonierte schlecht mit <strong>der</strong> Prosa des getroffenen Entschlusses.«<br />

Das läßt sich nicht bestreiten. Für Pathos bot <strong>der</strong> Text dieses Zwischenspiels<br />

allerdings keinen Raum. Der oben angestellte Vergleich mit einer Posse im Winkel einer<br />

antiken Arena muß durch den Hinweis ergänzt werden, daß die Bühne durch einen<br />

Wandschirm in zwei Teile geteilt war: in dem einen bettelten die <strong>Revolution</strong>äre die<br />

Liberalen an, die <strong>Revolution</strong> zu retten, in dem an<strong>der</strong>en flehten die Liberalen die Monarchie<br />

an, den Liberalismus zu retten.<br />

Die Vertreter des Exekutivkomitees waren aufrichtig darüber erstaunt, daß ein so<br />

aufgeidärter und weitsichtiger Mann wie Mii-jukow sich irgendeiner Monarchie wegen<br />

wi<strong>der</strong>spenstig zeigte und sogar bereit war, auf die Macht zu verzichten, wenn man ihm<br />

nicht einen Romanow dazu gäbe. Miljukows Monarchismus war jedoch we<strong>der</strong><br />

doktrinärer noch romantischer Art; im Gegenteil, er ergab sich aus <strong>der</strong> nackten<br />

Berechnung <strong>der</strong> erschrockenen Besitzenden. In ihrer Nacktheit bestand eben ihre<br />

hoffnungslose Schwäche. Der Geschichtsschreiber Miljukow konnte sich allerdings<br />

darauf berufen, daß <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> französischen revolutionären Bourgeoisie, Mirabean,<br />

seinerzeit ebenfalls bestrebt war, die <strong>Revolution</strong> mit dem König auszusöhnen. Der Kern<br />

war auch dort Angst <strong>der</strong> Besitzenden um den Besitz: es war vorsichtiger, ihn durch die<br />

Monarchie zu decken, so wie die Monarchie sich mit <strong>der</strong> Kirche deckte.<br />

Doch besaß die Tradition <strong>der</strong> königlichen Macht m Frankreich im Jahre 1789 noch die<br />

Anerkennung des ganzen Volkes, abgesehen davon, daß Europa ringsum noch monarchistisch<br />

war. Sich an den König haltend, stand die französische Bourgeoisie auf dem<br />

gleichen Boden mit dem Volke, mindestens in dem Sinne, daß sie dessen Vorurteile<br />

gegen diese ausnutzte. Ganz an<strong>der</strong>s war die Lage im Jahre 1917 in Rußland. Abgesehen<br />

von den Katastrophen und Havarien des monarchistischen Regimes in verschiedenen<br />

Län<strong>der</strong>n, war schon im Jahre 1905 die russische Monarchie selbst in nichtwie<strong>der</strong>gutzumachen<strong>der</strong><br />

Weise angeschlagen worden. Nach dem 9. Januar verfluchte <strong>der</strong> Pope Gapon<br />

den Zaren und dessen »Schlangenbrut«. Der Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten des Jahres<br />

1905 stand offen auf republikanischem Boden. Die monarchistischen Gefühle <strong>der</strong><br />

Bauernschaft, auf die <strong>der</strong> Zarismus lange Zeit gebaut hatte und mit denen die Bourgeoisie<br />

ihren Monarchismus deckte, erwiesen sich einfach als nicht existierend. Die kriegerische<br />

Konterrevolution, die später den Kopf erheben wird, sagt sich bereits seit Kornilow,<br />

wenn auch heuchlerisch, dafür um so demonstrativer, von <strong>der</strong> Zarenmacht los: so wenig<br />

monarchistische Wurzeln waren im Volke geblieben. Doch die gleiche <strong>Revolution</strong> von<br />

1905, die den Monarchismus <strong>der</strong>art tödlich trat untergrub auch für immer die schwankenden<br />

republikanischen Tendenzen <strong>der</strong> "fortgeschrittenen" Bourgeoisie. Einan<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 120


sprechend, ergänzten sich diese zwei Prozesse. Von den ersten Stunden <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

an ihren Untergang fühlend, griff die Bourgeoisie nach einem Strohhalm. Sie<br />

brauchte die Monarchie nicht deshalb, weil diese <strong>der</strong> Glaube war, den sie mit dem Volke<br />

gemein hatte; im Gegenteil, die Bougeoisie hatte dem Glauben des Volkes nichts mehr<br />

entgegenzuhalten vermocht als das gekrönte Phantom. Die "gebildeten" Klassen<br />

Rußlands haben die Arena <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht als Verkün<strong>der</strong> eines rationellen Staates<br />

betreten, son<strong>der</strong>n. als Verteidiger mittelalterlicher Institutionen. Da sie we<strong>der</strong> im Volke<br />

noch in sich selbst eine Stütze hatten, suchten sie sie oben, über sich. Archimedes wollte<br />

die Erde umwälzen, wenn man ihm einen Stützpunkt gäbe. Miljukow dagegen suchte<br />

einen Stützpunkt, um das Stückchen gutsherrlicher Erde vor einer Umwälzung zu bewahren.<br />

Er fühlte sich dabei den verschrumpftesten zaristischen Generalen und den Hierarchen<br />

<strong>der</strong> rechtgläubigen Kirche naher als den zahmen Demokraten, die um nichts so<br />

besorgt waren wie um das Wohlwollen <strong>der</strong> Liberalen, Ohnmächtig, die <strong>Revolution</strong><br />

nie<strong>der</strong>zuringen, entschloß sich Miljukow fest, sie zu überlisten. Er war vieles zu schlukken<br />

bereit: bürgerliche Freiheiten für die Soldaten, demokratische Munizipalitäten, die<br />

Konstituierende Versammlung, aber alles nur unter <strong>der</strong> einen Bedingung: daß man ihm<br />

den archimedischen Punkt in Form <strong>der</strong> Monarchie belasse. Er beabsichtigte, die Monarchie<br />

allmählich, Schritt für Schritt, zu <strong>der</strong> Achse zu machen, um die sich die Generalität,<br />

die aufgefrischte Bürokratie, die Fürsten <strong>der</strong> Kirche, die Besitzenden, alle mit <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> Unzufriedenen gruppieren könnten. Ein an<strong>der</strong>er Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei,<br />

Nabokow, erklärte später, welcher Hauptvorteil durch die Thronannahme Michails<br />

erreicht worden wäre: »Die fatale Frage <strong>der</strong> Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung während des Krieges wäre beseitigt gewesen.« Diese Worte muß man sich<br />

merken: <strong>der</strong> Kampf um die Fristen <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung nahm in <strong>der</strong> Zeit<br />

zwischen dem Februar und dem Oktober einen großen Platz ein, wobei die Kadetten ihre<br />

Absicht, die Einberufung <strong>der</strong> Volksvertretung hinauszuziehen, kategorisch leugneten, in<br />

Wirklichkeit jedoch beharrlich und hartnäckig eine Verschleppungspolitik verfolgten.<br />

Aber sie mußten sich dabei auf sich selbst stützen: die monarchische Deckung war ihnen<br />

letzten Endes nicht zuteil geworden. Nach <strong>der</strong> Desertion Michails konnte sich Miljukow<br />

auch an einem Strohhalm nicht mehr festhalten.<br />

Die neue Macht<br />

Vom Volke getrennt, mit dem ausländischen Finanzkapital viel enger verbunden als<br />

mit den werktätigen Massen des eigenen Landes, <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> feind,<br />

verspätet auf den Plan getreten, konnte die russische Bourgeoisie im eigenen Namen<br />

nicht ein einziges Argument zugunsten ihrer Machtansprüche geltend machen. Eine<br />

Begründung aber war unbedingt notwendig, denn die <strong>Revolution</strong> unterwirft nicht nur die<br />

vererbten Rechte einer unbarmherzigen Nachprüfung, son<strong>der</strong>n auch die neuen<br />

Ansprüche. Am wenigsten war <strong>der</strong> Vorsitzende des Provisorischen Komitees,<br />

Rodsjanko, <strong>der</strong> in den ersten Tagen nach dem Umsturz an die Spitze des revolutionären<br />

Landes gelangt war, fähig, für die Massen überzeugende Argumente vorzubringen.<br />

Kammerpage unter Alexan<strong>der</strong> II., Offizier des Kavalleriegar<strong>der</strong>egiments, Gouvernement-Adelsmarschall,<br />

Kammerherr Nikolaus' I., durch und durch Monarchist, reicher<br />

Gutsbesitzer und Semstwoführer, Mitglied <strong>der</strong> Oktobristenpartei, Deputierter <strong>der</strong> Reichsduma,<br />

war Rodsjanko später zu <strong>der</strong>en Vorsitzendem gewählt worden. Das geschah,<br />

nachdem Gutschkow, <strong>der</strong> als »Jungtürke« am Hofe verhaßt war, seine Vollmachten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 121


nie<strong>der</strong>gelegt hatte: die Duma hoffte durch Vermittlung des Kammerherrn leichter zum<br />

Herzen des Monarchen Zutritt zu erlangen. Rodsjanko tat, was er konnte: offenherzig<br />

versicherte er dem Zaren, <strong>der</strong> Dynastie ergeben zu sein, erbat als Gnade, dem Thronfolger<br />

vorgestellt zu werden, und empfahl sich diesem. als »<strong>der</strong> größte und dickste, Mann<br />

Rußlands«. Trotz all dieser byzantinischen Gankeleien gelang es dem Kammerherrn<br />

nicht, den Zaren für eine Konstitution zu gewinnen, und die Zarin nannte Rodsjanko in<br />

ihren Briefen kurz einen Schuft. Während des Krieges bereitete <strong>der</strong> Dumavorsitzende<br />

dem Zaren zweifellos nicht wenige unangenehme Minuten, wenn er ihn bei persönlichen<br />

Vorträgen durch schwungvolle Überredungsversuche, patriotische Kritik und düstere<br />

Prophezeiungen in die Ecke drnängte. Rasputin sah in Rodsjanko einen persönlichen<br />

Feind. Der <strong>der</strong> Hofbande nahestehende Kurlow spricht von <strong>der</strong> Rodsjanko eigentümlichen<br />

»Frechheit bei unzweifelhafter Beschränktheit«. Witte äußerte sich über den<br />

Dumavorsitzenden nachsichtiger aber nicht viel günstiger: »Kein dummer Mensch, recht<br />

verständig; doch die Haupteigenschaft Rodsjankows besteht nicht in seinem Verstand,<br />

son<strong>der</strong>n in seiner Stimme: er hat einen vorzüglichen Baß.« Rod~ janko versuchte zuerst,<br />

die <strong>Revolution</strong> mit Hilfe <strong>der</strong> Feuerspritze zu besiegen; weinte dann, als er erfuhr, die<br />

Regierung des Fürsten Golizyn sei auf und davon gelaufen; er lehnte die Macht, die die<br />

<strong>Sozialisten</strong> ihm auftrugen, entsetzt ab; beschloß später, sie anzunehmen, aber nur als<br />

getreuer Untertan, um bei <strong>der</strong> ersten Gelegenheit dem Monarchen den verlorenen Gegenstand<br />

wie<strong>der</strong> zurückzugeben. Es ist nicht Rodsjankos Schuld, daß diese Möglichkeit sich<br />

nicht geboten hat. Dafür brachte die <strong>Revolution</strong>, mit Hilfe <strong>der</strong> gleichen <strong>Sozialisten</strong>, dem<br />

Kammerherrn die breite Möglichkeit, vor den aufständischen Regimentern seinen<br />

polternden Baß wirken zu lassen. Schon am 27. Februar hielt <strong>der</strong> Kavalleriegar<strong>der</strong>ittmeister<br />

a. D. Rodsjanko folgende Ansprache an das Kavallerieregiment, das ins Taurische<br />

Palais gekommen war: »Rechtgläubige Krieger, hört meinen Rat. Ich bin ein alter Mann,<br />

ich werde euch nicht betrügen, hört auf die Offiziere, sie werden euch nichts Schlechtes<br />

lehren und werden in vollem Einverständnis mit <strong>der</strong> Reichsduma handeln. Es lebe das<br />

heilige Rußland!« Eine solche <strong>Revolution</strong> anzunehmen waren alle Gardeoffiziere bereit.<br />

Nur die Soldaten waren stutzig: wozu war es dann nötig gewesen, sie zu machen?<br />

Rodsjanko fürchtete sich vor den Soldaten, vor den Arbeitern; Tschcheidse und an<strong>der</strong>e<br />

Linke hielt er für deutsche Agenten, und an die Spitze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gestellt, sah er sich<br />

alle Augenblicke um, ob <strong>der</strong> Sowjet ihn nicht verhaften wolle.<br />

Die Figur Rodsjankos ist ein wenig lächerlich, aber nicht zufällig <strong>der</strong> Kammerherr mit<br />

dem vorzüglichen Baß verkörperte das Bündnis <strong>der</strong> zwei regierenden Klassen Rußlands,<br />

Gutsbesitzer und Bourgeoisie, mitsamt <strong>der</strong> ihnen angeschlossenen fortschrittlichen Geistlichkeit:<br />

Rodsjanko selbst war sehr gottesfürchtig und des Kirchengesanges kundig; und<br />

die liberalen Bürger, unabhängig von ihrer Einstellung zur Orthodoxie, hielten das<br />

Bündnis mit <strong>der</strong> Kirche zur Erhaltung von Ruhe und Ordnung für ebenso notwendig wie<br />

das Bündnis mit <strong>der</strong> Monarchie.<br />

Der ehrwürdige Monarchist, <strong>der</strong> von Verschwörern, Rebellen und Tyrannenmör<strong>der</strong>n<br />

die Macht empfangen hatte, sah in jenen Tagen erbärmlich aus. Die übrigen Mitglie<strong>der</strong><br />

des Komitees fühlten sich nicht viel besser. Manche von ihnen zeigten sich im Tautischen<br />

Palais überhaupt nicht, da sie die Lage für nicht genügend. geklärt hielten. Die<br />

Weisesten gingen auf Zehenspitzen um den Scheiterhaufen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> herum, husteten<br />

vom Rauche und sagten sich: mag es ausbrennen; dann werden wir versuchen, etwas<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 122


fertig zu braten. Als das Komitee sich bereit erklärte, die Macht anzunehmen, entschloß<br />

es sich nicht gleich, das Ministerium zu bilden. »Abwartend, bis <strong>der</strong> Augenblick für die<br />

Regierungsbildung eintreten wird«, wie Miljukow sich ausdrückt, beschränkte sich das<br />

Komitee auf die Ernennung von Kommissaren aus Dumamitglie<strong>der</strong>n für die hohen<br />

Regierungsämter: das ließ noch die Möglichkeit zum Rückzug offen.<br />

In das Innenministerium wurde <strong>der</strong> unbedeutende, doch vielleicht weniger als die<br />

an<strong>der</strong>en ängstliche Deputierte Karaulow entsandt, <strong>der</strong> am 1. März einen Haftbefehl erließ<br />

gegen alle Beamten <strong>der</strong> öffentlichen und <strong>der</strong> geheimen Polizei und des Gendarmeriekorps.<br />

Diese schreckliche revolutionäre Geste hatte einen rein platonischen Charakter, da<br />

die Polizei schon vor allen Befehlen verhaftet worden war und das Gefängnis für sie den<br />

einzigen Zufiuchtsort vor einem Strafgericht darstellte. Viel später erblickte die Reaktion<br />

in dem Akt Karaulows den Beginn allen weiteren Unheils.<br />

Zum Kommandanten von Petrograd wurde Oberst Engelhardt ernannt, Gardeoffizier,<br />

Rennstall- und Großgrundbesitzer. Anstatt den "Diktator" Iwanow, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Front zur<br />

Bändigung <strong>der</strong> Hauptstadt eingetroffen war, zu verhaften, schickte Engelhardt einen<br />

reaktionären Offizier als Stabschef zu dessen Verfügung: schließlich waren es ja die<br />

eigenen Leute.<br />

In das Justizministerium wurde die Leuchte <strong>der</strong> Moskauer liberalen Advokatur<br />

entsandt, <strong>der</strong> beredte und hohle Maklakow, <strong>der</strong> vor allem den reaktionären Bürokraten zu<br />

verstehen gab, daß er nicht wünsche, Minister von Gnaden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu sein, und<br />

»mit einem Blick auf den hereintretenden Genossen Kurier« auf französisch sagte: »Le<br />

danger est à gauche.«<br />

Die Arbeiter und Soldaten brauchten kein Französisch zu lernen, um in all diesen<br />

Herren ihre grimmigsten Feinde zu fühlen.<br />

Rodsjanko polterte jedoch nicht lange an <strong>der</strong> Spitze des Komitees. Seine Kandidatur<br />

zum Vorsitzenden <strong>der</strong> revolutionären Regierung erledigte sich von selbst: <strong>der</strong> Mittler<br />

zwischen Besitz und Monarchie war zu offensichtlich ungeeignet zum Mittler zwischen<br />

Besitz und <strong>Revolution</strong>. Doch trat er nicht von <strong>der</strong> Bühne ab, ohne hartnäckig versucht zu<br />

haben, als Gegengewicht zum Sowjet die Duma wie<strong>der</strong> zu beleben und im Zentrum aller<br />

Vereinigungsexperimente <strong>der</strong> bürgerlich-gutsherrlichen Konterrevolution zu verharren.<br />

Wir werden von ihm noch hören.<br />

Am 1. März schritt das Provisorische Komitee zur Bildung eines Ministeriums, wobei<br />

es die gleichen Leute ernannte, die die Duma seit 1915 wie<strong>der</strong>holt dem Zaren als Männer<br />

empfohlen hatte, die das Vertrauen des Landes besäßen: es waren Großagrarier und<br />

Industrielle, oppositionelle Dumadeputierte, Führer des progressiven Blocks. Tatsache<br />

ist, daß <strong>der</strong> von den Arbeitern und Soldaten vollzogene Umsturz sich in <strong>der</strong> Zusammensetzung<br />

<strong>der</strong> revolutionären Regierung mit einer Ausnahme überhaupt nicht wi<strong>der</strong>spiegelte.<br />

Die Ausnahme war Kerenski. Die Schwingungsweite Rodsjanke-Kerenski ist die<br />

offizielle Schwingungsweite <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />

Kerenski trat in das Ministerium ein gleichsam als <strong>der</strong>en bevollmächtigter Gesandter.<br />

Sein Verhalten zur <strong>Revolution</strong> war jedoch das Verhalten eines Provinzadvokaten, <strong>der</strong> in<br />

politischen Prozessen auftritt. Kerenski war kein <strong>Revolution</strong>är, er hatte sich nur an <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> gerieben. Als er, dank seiner legalen Lage, in die vierte Duma gelangte,<br />

wurde er <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> grauen, jedes Gesichts entbehrenden Fraktion <strong>der</strong> Trudowi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 123


ki, die die anämische Frucht einer politischen Kreuzung zwischen Liberalismus und<br />

Narodnikitum darstellte. Er besaß we<strong>der</strong> theoretische Vorbereitung, noch politische<br />

Schulung, noch Fähigkeit zu verallgemeinerndem Denken, noch politischen Willen. Alle<br />

diese Eigenschaften ersetzten flüchtige Aufnahmefähigkeit, leichte Entzündbarkeit und<br />

jene Rednergabe, die nicht auf Verstand o<strong>der</strong> Willen wirkt, son<strong>der</strong>n auf die Nerven. Sein<br />

Auftreten in <strong>der</strong> Duma im Geiste deklamatorischen Radikalismus, für den es an Anlässen<br />

nicht mangelte, machten Kerenski wenn nicht populär, so doch bekannt. Im Kriege hielt<br />

er als Patriot, gemeinsam mit den Liberalen, allein schon den Gedanken an eine <strong>Revolution</strong><br />

für ver<strong>der</strong>benbringend. Er erkannte die <strong>Revolution</strong> an, als sie gekommen war und<br />

ihn, am Scheine seiner Popularität festgehakt, so mühelos nach oben hob. Der Umsturz<br />

identifizierte sich für ihn natürlicherweise mit <strong>der</strong> neuen Macht. Das Exekutivkomitee<br />

hatte jedoch beschlossen, die Macht müsse in einer bürgerlichen <strong>Revolution</strong> Bürgertum<br />

gehören. Diese Formel erschien Kerenski schon allein deshalb falsch, weil sie vor ihm<br />

die Türen des Ministeriums zuschlug. Kerenski war begründeterweise davon überzeugt,<br />

daß sein Sozialismus die bürgerliche <strong>Revolution</strong> so wenig behin<strong>der</strong>n könne, wie diese<br />

seinen Sozialismus beeinträchtigen. Das provisorische Dumakomitee beschloß zu versuchen,<br />

den radikalen Deputierten vom Sowjet loszureißen, und erreichte dies ohne<br />

Schwierigkeiten, indem es ihm das Justizportefeuille anbot, auf das Maklakow bereits<br />

verzichtet hatte. Kerenski fing in den Couloirs Freunde ab und befragte sie: nehmen o<strong>der</strong><br />

nicht nehmen? Die Freunde zweifelten nicht, daß er entschlossen war, zu nehmen)<br />

Suchanow, <strong>der</strong> zu jener Zeit Kerenski wohlwollte, entdeckte an ihm, allerdings nach<br />

späteren Erinnerungen, die Überzeugnng von irgendeiner seiner harrenden Mission ...<br />

»und höchste Gereiztheit gegen alle, die diese Mission noch nicht erraten hatten«.<br />

Schließlich empfahlen die Freunde, darunter auch Suchanow, Kerenski, das Portefeuille<br />

anzunehmen: so sei es immerhin sicherer; durch einen <strong>der</strong> Unseren könnte man erfahren,<br />

was dort, bei den schlauen Liberalen, geschieht. Aber während die Führer des Exekutivkomitees<br />

im stillen Kerenski zu diesem Sündenfall stiessen, zu dem es ihn ohnehin aus<br />

allen Kräften zog, verweigerten sie ihm die offizielle Sanktion. Suchanow erinnerte<br />

Kerenski daran, daß das Exekutivkomitee sich ja bereits geäußert habe und daß es »nicht<br />

ungefährlich« sei, die Frage noch einmal im Sowjet aufzurollen, da dieser einfach<br />

antworten könnte: »Die Macht muß <strong>der</strong> Sowjetdemokratie gehören.« Dies ist <strong>der</strong> wörtliche<br />

Bericht Suchanows - eine unglaubliche Mischung von Naivität und Zynismus. Der<br />

Inspirator des ganzen Mysteriums <strong>der</strong> Machtschöpfung gesteht hier offen, daß die<br />

Stimmung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets bereits am 2. März für die formale Übemahme <strong>der</strong><br />

Macht gewesen war, die ihm faktisch seit dem 27. Februar gehörte, und daß die sozialistischen<br />

Führer nur hinter dem Rücken <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, ohne <strong>der</strong>en Wissen<br />

und gegen <strong>der</strong>en wirklichen Willen, die Macht zugunsten <strong>der</strong> Bourgeoisie expropriieren<br />

konnten. Der Schacher <strong>der</strong> Demokraten mit den Liberalen gewinnt in <strong>der</strong> Erzählung<br />

Suchanows alle notwendigen juristischen Merkmale eines Verbrechens gegen die<br />

<strong>Revolution</strong>, und zwar einer Geheimverschwörung gegen die Herrschaft des Volkes und<br />

dessen Rechte.<br />

Anläßlich <strong>der</strong> Ungeduld Kerenskis tuschelten die Führer des Exekutivkomitees, daß es<br />

sich für einen <strong>Sozialisten</strong> nicht schicke, offiziell ein Zipfelchen Macht aus den Händen<br />

<strong>der</strong> Dumamitglie<strong>der</strong> entgegenzunehmen, die soeben aus den Händen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> die<br />

gesamte Macht empfangen hatten. Kerenski möge es lieber auf seine eigene Verantwortung<br />

tun. Wahrhaftig, diese Herren fanden mit untrüglichem Instinkt aus je<strong>der</strong> Situation<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 124


einen möglichst verzwickten und falschen Ausweg. Kerenski jedoch wollte nicht in <strong>der</strong><br />

Jacke eines radikalen Deputiereen in die Regierung gehen; er brauchte den Mantel eines<br />

Bevollmächtigten <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong>. Um nicht auf Wi<strong>der</strong>stand zu stoßen,<br />

wandte er sich um die Sanktion we<strong>der</strong> an die Partei, zu <strong>der</strong> er sich bekannte, noch an das<br />

Exekutivkomitee, als dessen steilvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> er galt. Ohne die Führer<br />

darauf vorbereitet zu haben, nahm er in <strong>der</strong> Plenarsitzung des Sowjets, <strong>der</strong> in den ersten<br />

Tagen noch ein chaotisches<br />

Meeting darstellte, das Wort zu einer außerordentlichen Erklärung, und in einer Rede, die<br />

die einen als wirr, die an<strong>der</strong>en als hysterisch bezeichneten, was allerdings miteinan<strong>der</strong><br />

nicht in Wi<strong>der</strong>spruch steht, for<strong>der</strong>te er für sich das Vertrauen, sprach von seiner allgemeinen<br />

Bereitschaft, für die <strong>Revolution</strong> zu sterben, und von <strong>der</strong> unmittelbaren Bereitschaft,<br />

das Portefeuille des Justizministers anzunehmen. Es genügte die Erwähnung <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit einer vollständigen politischen Amnestie und des Gerichtes über die<br />

zaristischen Würdenträger, um bei <strong>der</strong> unerfahrenen und von niemandem geleiteten<br />

Versammlung stürmischen Applaus hervorzurufen. »Diese Farce«, schrieb später<br />

Schljapnikow, »löste bei vielen tiefe Entrüstung und Ekel gegen Kerenski aus.« Aber<br />

niemand wi<strong>der</strong>sprach ihm: nachdem sie die Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert hatten,<br />

vermieden es die <strong>Sozialisten</strong>, wie wir wissen, diese Frage vor den Massen zu stellen.<br />

Eine Abstimmung fand nicht statt. Kerenski beschloß, den Applaus als Vertrauensmandat<br />

zu deuten. Auf seine Weise hatte er recht. Der Sowjet war zweifellos für den Eintritt <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialisten</strong> in das Ministerium, weil er darin einen Schritt zur Liquidierung <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Regierung erblickte, mit <strong>der</strong> er sich keinen Augenblick abfinden konnte. So o<strong>der</strong> so,<br />

die offizielle Machtdoktrin umstoßend, nahm Kerenski am 2. März den Posten des Justizministers<br />

an. »Mit seiner Ernennung«, erzählt <strong>der</strong> Oktobrist Schidlowski, »war er sehr<br />

zufrieden, und ich erinnere mich sehr gut, wie er im Raume des Provisorischen<br />

Komitees, in einen Stuhl gelehnt, leidenschaftlich davon sprach, auf welch unerreichbar<br />

hohes Piedestal er Rußlands Justiz stellen werde.« Das hat er in <strong>der</strong> Tat einige Monate<br />

später im Prozeß gegen die Bolschewiki bewiesen.<br />

Der Menschewik Tschcheidse, dem die Liberalen, geleitet von allzu durchsichtiger<br />

Berechnung und <strong>der</strong> internationalen Tradition, im schwierigen Augenblick das Arbeitsministerium<br />

aufzwingen wollten, lehnte kategorisch ab und blieb Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

Sowjets <strong>der</strong> Deputierten. Weniger glänzend als Kerenski, war Tschcheidse doch aus<br />

emsterem Material gemacht.<br />

Die Achse <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, wenn auch nicht formell ihr Haupt, wurde<br />

Miljukow, <strong>der</strong> unbestrittene Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei. »Miljukow war mit seinen<br />

übrigen Ministerkollegen überhaupt nicht zu vergleichen«, schrieb <strong>der</strong> Kadett Nabokow,<br />

nachdem er bereits mit Mijukow gebrochen hatte, »sowohl als geistige Kraft, wie als<br />

Mann von ungeheurem, fast unerschöpflichem Wissen und weitem Horizont.« Suchanow,<br />

<strong>der</strong> Miljukow für den Zusammenbruch des <strong>russischen</strong> Liberalismus persönlich verantwortlich<br />

machte, schrieb gleichzeitig: »Miljukow war damals die zentrale Figur, Herz<br />

und Hirn aller bürgerlichen politischen Kreise ... Ohne ihn würde es in <strong>der</strong> ersten<br />

Periode <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> keine bürgerliche Politik gegeben haben.« Bei all ihrer übermäßigen<br />

Geschraubtheit kennzeichnen diese Aussprüche die unbestrittene Überlegenheit<br />

Miljukows vor den übrigen Politikern <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. Seine Stärke bestand<br />

in dem, was auch seine Schwäche ausmachte: vollständiger und vollkommener als die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 125


an<strong>der</strong>en drückte er in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Politik das Schicksal <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie<br />

aus, das heißt ihre historische Ausweglosigkeit. Wenn die Menschewiki jammerten,<br />

Miljukow habe den <strong>russischen</strong> Liberalismus zugrunde gerichtet, so kann man mit mehr<br />

Recht behaupten, <strong>der</strong> Liberalismus habe Mijnkow zugrunde gerichtet.<br />

Trotz seines für die imperialistischen Zwecke aufgewärmten Neoslawismus blieb<br />

Miljukow stets ein bürgerlicher Westler. Das Ziel seiner Partei sah er im Siege <strong>der</strong><br />

europäischen Zivilisation in Rußland. Doch je weiter, um so mehr fürchtete er sich vor<br />

jenen revolutionären Wegen, die die Westvölker gegangen waren. Von seinem Westlertum<br />

blieb daher nichts als ein ohnmächtiger Neid auf den Westen.<br />

Die englische und französische Bourgeoisie hatten die neue Gesellschaft nach ihrem<br />

eigenen Ebenbilde errichtet. Die deutsche ist später gekommen, und sie mußte lange Zeit<br />

bei dem Hafer-absud <strong>der</strong> Philosophie sitzen. Die Deutschen haben das Wort »Weltanschauung«<br />

ausgedacht, das we<strong>der</strong> die Englän<strong>der</strong> noch die Franzosen besitzen: während<br />

die westlichen Nationen eine neue Welt schufen, beschauten die Deutschen sie. Aber die<br />

in bezug auf politische Tätigkeit so dürftige deutsche Bourgeoisie schuf die klassische<br />

Philosophie - und dies ist keine geringe Einlage. Die russische Bourgeoisie kam noch<br />

später. Zwar hatte sie das deutsche Wort »Weltanschauung« ins Russische übersetzt,<br />

sogar in mehreren Varianten, aber damit zeigte sie nur noch krasser zugleich mit ihrer<br />

politischen Impotenz ihre tödliche philosophische Dürftigkeit. Sie importierte Ideen wie<br />

auch Technik, richtete für die letztere hohe Zölle ein und für die ersteren eine Quarantäne<br />

<strong>der</strong> Angst. Diesen Zügen seiner Klasse politischen Ausdruck zu geben, war Miljukow<br />

berufen.<br />

Miijukow, ehemaliger Moskauer Geschichtsprofessor, Autor bedeuten<strong>der</strong> wissenschaftlicher<br />

Arbeiten, später Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> aus dem Bunde liberaler Gutsbesitzer und<br />

dem Bund linker Intellektueller zusammengeschlossenen Kadettenpartei, war des<br />

unerträglichen, teils herrenhaften, teils intellektuellen Zuges jenes politischen Dilettantismus<br />

völlig bar, <strong>der</strong> die Mehrzahl <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> liberalen Politiker kennzeichnet. Er<br />

nahm seinen Beruf sehr ernst, und schon das allein hob ihn hervor.<br />

In <strong>der</strong> Regel schämten sich die <strong>russischen</strong> Liberalen bis zum Jahre 1905, Liberale zu<br />

sein. Ein Anflug von Narodnikitum und später von Marxismus diente ihnen lange als<br />

unentbehrliche Schutzfarbe. In dieser schamhaften, im Wesen oberflächlichen Kapitulation<br />

ziemlich breiter bürgerlicher Kreise, darunter auch einer Reihe jüngerer Industrieller<br />

vor dem Soziahsmus, zeigte sich <strong>der</strong> Mangel innerer Sicherheit einer Klasse, die rechtzeitig<br />

genug gekommen war, um Millionen in ihren Händen zu konzentrieren, aber zu<br />

spät, um sich an die Spitze <strong>der</strong> Nation zu stellen. Die bärtigen Väter, reichgewordene<br />

Bauern und Krämer, häuften Besitz an, ohne über ihre gesellschaftliche Rolle nachzudenken.<br />

Die Söhne absolvierten die Universitäten in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> vorrevolutionären<br />

Ideengärung, und als sie versuchten, ihren Platz in <strong>der</strong> Gesellschaft zu finden, zögerten<br />

sie, sich unter das in fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n bereits verbrauchte, verblaßte und<br />

geflickte Banner des Liberalismus zu stellen. Eine Zeitlang gaben sie einen Teil ihrer<br />

Seele und sogar em Teilchen ihrer Einkünfte den <strong>Revolution</strong>ären hin. In noch höherem<br />

Maße betrifft das die Vertreter <strong>der</strong> freien Berufe: zu einem großen Teil machten sie in<br />

ihren jungen Jahren eine Periode sozialistischer Sympathien durch. Professor Miljukow<br />

aber hatte niemals an den Masern des Sozialismus gelitten. Er war ein organischer<br />

Bourgeois und schämte sich dessen nicht.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 126


Allerdings gab Mtljukow in <strong>der</strong> ersten Epoche <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht ganz die Hoffnung<br />

auf, mittels <strong>der</strong> gezähmten sozialistischen Parteien sich auf die revolutionären Massen<br />

stützen zu können. Witte erzählt, auf eine For<strong>der</strong>ung, die er bei <strong>der</strong> Bildung seines<br />

konstitutionellen Kabinetts im Oktober 1905 an die Kadetten stellte: »den revolutionären<br />

Schwanz abzuhacken«, hätten ihm diese geantwortet, sie könnten ebensowenig auf die<br />

bewaffneten Kräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verzichten wie Witte selbst auf die Armee. Im Kern<br />

<strong>der</strong> Sache war das schon damals Hochstapelei: um ihren Preis zu steigern, schreckten die<br />

Kadetten Witte mit den Massen vor denen sie selbst Angst hatten. Gerade auf Grund <strong>der</strong><br />

Erfahrung des Jahres 1905 hatte Miljukow sich überzeugt: so stark die liberalen Sympathien<br />

<strong>der</strong> sozialistischen Gruppen <strong>der</strong> Intelligenz auch sein mochten, die wahren Kräfte<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die Massen, werden ihre Waffen niemals <strong>der</strong> Bourgeoisie ausliefern und,<br />

je besser bewaffnet, eine um so größere Gefahr für diese bilden. Indem er offen proklamierte,<br />

die rote Fahne sei ein roter Lappen, beendete Miljukow mit sichtbarer Erleichterung<br />

den Roman, den er eigentlich niemals ernstlich begonnen hatte.<br />

Die Losgelöstheit <strong>der</strong> sogenannten "Intelligenz" vom Volke war eines <strong>der</strong> traditionellen<br />

Themen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Journalistik, wobei die Liberalen, im Gegensatz zu den <strong>Sozialisten</strong>,<br />

unter Intelligenz alle "gebildeten", das heißt besitzenden Klassen verstanden.<br />

Nachdem diese Losgelöstheit während <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> sich den Liberalen in so<br />

katastrophaler Weise offenbart hatte, lebten die Ideologen <strong>der</strong> "gebildeten" Klassen<br />

gleichsam in ständiger Erwartung des Jüngsten Gerichts. Ein liberaler Schriftsteller, ein<br />

an die Koventionen <strong>der</strong> Politik nicht gebundener Philosoph, hat die Angst vor den<br />

Massen mit einer Besessenheit ausgesprochen, die an die reaktionäre Epilepsie Dostojewskis<br />

erinnert. »So wie wir sind, können wir nicht nur nicht an eine Verschmelzung mit<br />

dem Volke denken - fürchten müssen wir es, mehr als alle Hinrichtungen <strong>der</strong> Regierung,<br />

und jene Macht segnen, die uns durch ihre Bajonette und Gefängnisse vor <strong>der</strong> Volkswut<br />

schützt.« Konnten die Liberalen bei einem solchen politischen Selbstgefühl davon<br />

träumen, die revolutionäre Nation zu leiten? Die ganze Politik Miljukows ist vom<br />

Stempel <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Im Augenblick <strong>der</strong> nationalen Krise denkt<br />

die von ihm geführte Partei nur daran, wie dem Schlage auszuweichen, nicht aber, wie<br />

ihn zu führen.<br />

Als Schriftsteller ist Miljukow schwerfällig, weitschweifig und ermüdend. Nicht<br />

an<strong>der</strong>s auch als Redner. Dekorativ ist er nicht. Das könnte ein Plus sein, wenn die<br />

engherzige Politik Miljukows nicht so offensichtlich <strong>der</strong> Maskierung bedurft o<strong>der</strong> wenn<br />

er mindestens die objektive Deckung einer großen Tradition besessen hätte: doch er<br />

besaß nicht einmal die kleine. Die offizielle Politik in Frankreich, die Quintessenz<br />

bürgerlichen Egoismus und Verräterei, hat zwei mächtige Stützen: Tradition und Rhetorik.<br />

Miteinan<strong>der</strong> multipliziert umgeben sie jeden bürgerlichen Politiker, selbst ein so<br />

prosaisches Faktotum des Großkapitals wie Poincaré, mit einer schützenden Hülle. Es ist<br />

nicht Miljukows Schuld, daß er keine pathetischen Vorfahren besaß und gezwungen war,<br />

die Politik des bürgerlichen Egoismus an <strong>der</strong> Grenze zwischen Europa und Asien durchzuführen.<br />

»Neben den Sympathien für Kerenski«, lesen wir in den Erinnerungen des Sozialrevolutionärs<br />

Sokolow über die Februarrevolution, »existierte von Anfang an eine große,<br />

unverhüllte und in ihrer Art seltsame Antipathie gegen Miljukow. Mir war und ist es<br />

auch jetzt noch unverständlich, weshalb dieser ehrwürdige Politiker so unpopulär war.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 127


Hätten die Philister den Grund ihrer Begeisterung für Kerenski und ihres Unwillens<br />

gegen Miljukow begreifen können, sie hätten aufgehört, Philister zu sein. Der Spießbürger<br />

liebte Miljukow deshalb nicht, weil dieser zu prosaisch und nüchtern, ohne Beschönigung,<br />

das politische Wesen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie wie<strong>der</strong>gab. Sich in dem<br />

Miljukowschen Spiegel betrachtend, sah <strong>der</strong> Bürger, daß er grau, eigennützig, feige war,<br />

und er fühlte sich, wie das üblich ist, durch den Spiegel beleidigt.<br />

Miljukow, dem die unzufriedenen Grimassen des liberalen Bürgers nicht verborgen<br />

blieben, sagte seinerseits ruhig und sicher: »Der Spießer ist dumm.« Er brachte diese<br />

Worte ohne Gereiztheit vor, fast zärtlich, als wollte er sagen: »Wenn mich <strong>der</strong> Spießer<br />

heute noch nicht versteht, schadet es nichts, er wird es später.« In Miljukow lebte die gut<br />

fundierte Gewißheit, daß <strong>der</strong> Bürger ihn nicht verraten und ihm, <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge<br />

gehorchend, folgen werde, denn ihm blieb kein an<strong>der</strong>er Weg. Und tatsächlich: nach dem<br />

Februarumsturz folgten alle bürgerlichen Parteien, sogar, wenn auch schimpfend und<br />

mitunter fluchend, die rechten, dem Führer <strong>der</strong> Kadetten.<br />

An<strong>der</strong>s verhielt es sich mit dem demokratischen Politiker sozialistischer Färbung, mit<br />

einem Suchanow. Das war kein gewöhnlicher Spießer, im Gegenteil, ein Bcrufspolitiker,<br />

in seinem kleinen Handwerk ziemlich gewitzt. "Gescheit" konnte dieser Politiker nicht<br />

erscheinen, denn zu augenfällig war <strong>der</strong> ständige Wi<strong>der</strong>spruch zwischen dem, was er<br />

wollte, und dem, was er erreichte. Aber er klügelte, verwirrte, langweilte. Um ihn zum<br />

Mitgehen zu bewegen, mußte man ihn täuschen, indem man ihm nicht nur seine volle<br />

Selbständigkeit zubilligte, son<strong>der</strong>n ihn sogar des unmäßigen Kommandierens, <strong>der</strong> Eigenmächtigkeit<br />

beschuldigte. Das schmeichelte ihm und versöhnte ihn mit <strong>der</strong> Rolle des<br />

Handlangers. Im Gespräch mit ebendiesen sozialistischen Schlaubergern warf Miljukow<br />

den Satz hin: »Der Spießer ist dumm.« Das war eine feine Schmeichelei: »Gescheit sind<br />

nur wir zwei.« In Wirklichkeit zog Miljukow gerade in diesem Moment seinen demokratischen<br />

Freunden einen Ring durch die Nase. Mit diesem Ring sind sie später auch<br />

gestürzt worden.<br />

Die persönliche Unpopularität erlaubte Miljukow nicht, sich an die Spitze <strong>der</strong> Regierung<br />

zu stellen: er übernahm die auswärtigen Angelegenheiten, die auch in <strong>der</strong> Duma<br />

seine Spezialität gewesen waren.<br />

Kriegsminister <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wurde <strong>der</strong> uns bereits bekannte Moskauer Großindustrielle<br />

Gutschkow, in seiner Jugend Liberaler, mit einem Einschlag ins Abenteuerliche,<br />

später Vertrauensperson <strong>der</strong> Großbourgeoisie bei Stolypin in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung<br />

<strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>. Die Auflösung <strong>der</strong> zwei ersten Dumas, in denen die<br />

Kadetten geherrscht hatten, führte zum Staatsstreich vom 3. Juni 1907, <strong>der</strong> das Ziel hatte,<br />

das Wahlrecht zugunsten <strong>der</strong> Partei Gutschkows abzuän<strong>der</strong>n, die dann in den zwei<br />

letzten Dumas bis zur <strong>Revolution</strong> die Führung auch behielt. Im Jahre 1911 in Kiew bei<br />

<strong>der</strong> Enthüllung eines Denkmals für Stolypin, <strong>der</strong> von einem Terroristen getötet worden<br />

war, legte Gutschkow schweigend einen Kranz nie<strong>der</strong> und verneigte sich tief bis zur<br />

Erde: das war eine Geste im Namen einer Klasse. In <strong>der</strong> Duma widmete sich Gutschkow<br />

hauptsächlich den Fragen <strong>der</strong> »Kriegsmacht« und ging bei <strong>der</strong> Vorbereitung des Krieges<br />

Hand in Hand mit Miljukow. Als Vorsitzen<strong>der</strong> des Zentralen Kriegsindustriekomitees<br />

vereinigte er die Industriellen unter dem Banner <strong>der</strong> patriotischen Opposition, wobei er<br />

gleichzeitig die Häupter des progressiven Blocks, einschließlich Rodsjanko, keinesfalls<br />

hin<strong>der</strong>te, ihre Hände an Militärlieferungen zu wärmen. Eine revolutionäre Empfehlung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 128


für Gutschkow war die mit seinem Namen verbundene halbe Legende von <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Palastrevolution. Der ehemalige Polizeichef behauptete darüber hinaus,<br />

Gutschkow »erlaubte sich, in Privatgesprächen höchst beleidigende Epitheta in bezug<br />

auf den Monarchen. anzuwenden«. Das ist durchaus wahrscheinlich. Doch bildete<br />

Gutschkow in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die gottesfürchtige Zarin haßte<br />

Gutschkow, sparte in ihren Briefen nicht mit groben Schmähungen an seine Adresse und<br />

sprach die Hoffnung aus, er werde an »einem hohen Baume« aufgehängt werden.<br />

Übrigens hatte die Zarin dafür viele vorgesehen. So o<strong>der</strong> so: jener Mann, <strong>der</strong> sich vor<br />

dem Henker <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> bis zur Erde verneigt hatte, wurde Kriegsminister <strong>der</strong><br />

zweiten.<br />

Zum Ackerbauminister wurde <strong>der</strong> Kadett Schingarew ernannt, ein Provinzarzt, <strong>der</strong><br />

später Dumadeputierter geworden war. Seine nächsten Gesinnungsgenossen aus <strong>der</strong><br />

Partei hielten ihn für eine ehrliche Mittelmäßigkeit o<strong>der</strong>, wie Nabokow sich ausdrückte,<br />

für »einen <strong>russischen</strong> Provinzintellektuellen, gemessen nicht mit dem Staats-, son<strong>der</strong>n<br />

einem Gouverneinents- o<strong>der</strong> Kreismaßstab«. Der unbestimmte Radikalismus <strong>der</strong> Jugendjahre<br />

hatte längst Zeit gehabt, sich zu verflüchtigen, und Schingarews Hauptsorge wurde,<br />

den besitzenden Klassen seine Staatsreife zu zeigen. Obwohl das alte Programm <strong>der</strong><br />

Kadetten von <strong>der</strong> »zwangsweisen Enteignung des gutsherrlichen Bodens nach einer<br />

gerechten Abschätzung« sprach, nahm doch keiner <strong>der</strong> Gutsbesitzer dieses Programm<br />

ernst, beson<strong>der</strong>s jetzt nicht, in den Jahren <strong>der</strong> Kriegsinflation, und Schingarew sah seine<br />

Hauptaufgabe darin, die Lösung des Agrarproblems zu verschleppen und die Bauern mit<br />

dem Trugbild <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung zu vertrösten, die die Kadetten nicht<br />

einberufen wollten. An den Fragen des Grund und Bodens und des Krieges sich das<br />

Genick zu brechen, stand <strong>der</strong> Februar-revolution bevor; Schingarew half dabei, wie er<br />

nur konnte.<br />

Das Portefeuille <strong>der</strong> Finanzen erhielt ein junger Mann namens Tereschtschenko. Wo<br />

haben sie den hergenommen? fragte man sich verwun<strong>der</strong>t im Taurischen Palais. Unterrichtete<br />

Personen erklärten, er sei Besitzer von Zuckerfabriken, Gütern, Wäl<strong>der</strong>n und<br />

an<strong>der</strong>en unzähligen Reichtümern, die man auf etwa 80 Millionen Goldrubel schätzte,<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> des Kriegsindustriekomitees in Kiew, mit guter französischer Aussprache<br />

und überdies Kenner des Balletts. Man fügte noch vielsagend hinzu, Tereschtschenko<br />

habe als Vertrauter Gutscbkows fast an <strong>der</strong> großen Verschwörung teilgenommen, die<br />

Nikolaus II. absetzen sollte. Die <strong>Revolution</strong>, die die Verschwörung vereitelt hatte, half<br />

Tereschtschenko.<br />

Während <strong>der</strong> fünf Februartage, als sich in den kalten Straßen <strong>der</strong> Hauptstadt <strong>Revolution</strong>skämpfe<br />

abspielten, huschte einigemal wie ein Schatten die Figur des Liberalen aus<br />

hohem Hause an uns vorbei - <strong>der</strong> Sohn des ehemaligen zaristischen Ministers Nabokow,<br />

eine in ihrer selbstzufriedenen Korrektheit und egoistischen Engherzigkeit fast symbolische<br />

Gestalt. Die entscheidenden Tage des Aufstandes hatte Nabokow zwischen den vier<br />

Wänden <strong>der</strong> Kanzlei o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Familie »in dumpfer und sorgenvoller Erwartung«<br />

verbracht. Jetzt war er Geschäftsführer <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, faktisch Minister<br />

ohne Portefeujile. In <strong>der</strong> Berliner Emigration, wo ihn die unsinnige Kugel eines Weißigardisten<br />

tötete, hinterließ er nicht uninteressante Aufzeichnungen über die Provisorische<br />

Regierung. Möge ihm dies als Verdienst gebucht werden.<br />

Doch wir vergaßen, den Premier zu erwähnen, den übrigens in ernsten Momenten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 129


seiner kurzen Amtstätigkeit alle vergaßen. Als am 2. März Miljukow bei einem Meeting<br />

im Taurischen Palais die neue Regierung empfahl, nannte er Fürst Lwow »die Verkörperung<br />

<strong>der</strong> vom zaristischen Regime verfolgten <strong>russischen</strong> Öffentlichkeit«. Später, in seiner<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, vermerkt Miljukow vorsichtig, »an die Spitze <strong>der</strong> Regierung<br />

wurde <strong>der</strong> den meisten Mitglie<strong>der</strong>n des Provisorischen Komitees wenig bekannte« Fürst<br />

Lwow gestellt. Der Historiker bemüht sich hier, den Politiker <strong>der</strong> Verantwortung für die<br />

Wahl zu entheben. In Wirklichkeit zählte <strong>der</strong> Fürst schon längst zur Kadettenpartei, zu<br />

ihrem rechten Flügel. Nach <strong>der</strong> Auflösung <strong>der</strong> ersten Duma, auf <strong>der</strong> berühmten<br />

Deputiertentagung in Wyborg, die sich mit dem rituellen Aufruf des beleidigten Liberalismus<br />

an die Bevölkerung wandte, keine Steuern zu zahlen, war Fürst Lwow zwar<br />

anwesend, unterschrieb aber den Aufruf nicht. Nabokow erzählt in seinen Erinnerungen,<br />

<strong>der</strong> Fürst wäre gleich nach Ankunft in Wyborg erkrankt, wobei seine Krankheit »<strong>der</strong><br />

Erregung zugeschrieben wurde, in <strong>der</strong> er sich befand«. Offenbar war <strong>der</strong> Fürst für<br />

revolutionäre Erschütterungen nicht geschaffen. Sehr gemäßigt, duldete Fürst Lwow,<br />

kraft seiner politischen Gleichgültigkeit, die nach politischer Weitherzigkeit aussah, in<br />

allen von ihm geleiteten Organisationen linke Intellektuelle, ehemalige <strong>Revolution</strong>äre,<br />

sozialistische Patrioten, die sich vor dem Kriege drückten. Sie arbeiteten nicht schlechter<br />

als die an<strong>der</strong>en Beamten, stahlen nicht und brachten dem Fürsten gleichzeitig eine Art<br />

Popularität ein. Ein Fürst, ein reicher Mann und Liberaler - das imponierte dem Durchschnittsbürger.<br />

Man hatte deshalb Fürst Lwow schon unter dem Zaren für den Premierposten<br />

vorgemerkt. Alles in allem muß man zugeben, das Regierungshaupt <strong>der</strong><br />

Februarrevolution war zwar ein erlauchter, aber ein notorisch leerer Fleck. Rodsjanko<br />

wäre jedenfalls farbenprächtiger gewesen.<br />

Die Chronik <strong>der</strong> legendären <strong>Geschichte</strong> des Russischen Staates beginnt mit <strong>der</strong> Erzählung,<br />

wie Abgesandte <strong>der</strong> slawischen Stämme sich zu den skandinavischen Fürsten<br />

begaben mit <strong>der</strong> Bitte: »Kommt, besitzt und regiert uns.« Die unglückseligen Vertreter<br />

<strong>der</strong> sozialistischen Demokratie verwandelten die historische Legende in eine wahre<br />

Begebenheit, nicht im 19., son<strong>der</strong>n im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, nur mit dem Unterschiede, daß<br />

sie sich nicht an überseeische, son<strong>der</strong>n an inländische Fürsten wandten. So gerieten als<br />

Resultat des siegreichen Aufstandes <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten einige schwerreiche<br />

Gutsbesitzer und Industrielle an die Macht, durch nichts bemerkenswerte, politische<br />

Dilettanten ohne Programm, mit einem Fürsten an <strong>der</strong> Spitze, <strong>der</strong> keine Aufregungen<br />

vertrug.<br />

Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Regierung rief bei den verbündeten Gesandtschaften, in den<br />

bürgerlichen und bürokratischen Salons, wie in den breiteren Schichten des mittleren<br />

Bürgertums, und teils auch des Kleinbürgertums, Befriedigung hervor. Fürst Lwow, <strong>der</strong><br />

Oktobrist Gutschkow, <strong>der</strong> Kadett Miljukow - diese Namen klangen beruhigend. Der<br />

Name Kerenski veranlaßte vielleicht die Alliierten zu einer Grimasse, aber er schreckte<br />

sie nicht. Die Weiterblickenden begriffen: im Lande ist immerhin <strong>Revolution</strong>; bei einem<br />

so sicheren Deichselpferd wie Miljukow kann ein mutwilliges Begleitpferd nur nützlich<br />

sein. So mußte <strong>der</strong> französische Gesandte Paleólogue denken, <strong>der</strong> russische Metaphern<br />

liebte.<br />

Unter den Arbeitern und Soldaten erweckte die Zusammensetzung <strong>der</strong> Regierung von<br />

Anfang an feindliche Gefühle, bestenfalls dumpfes Staunen. Die Namen Miljukow o<strong>der</strong><br />

Gutschkow konnten keine Zustimmung hervorrufen, we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Fabrik noch in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 130


Kaserne. Dafür sind nicht wenige Zeugnisse vorhanden. Der Offizier Mstislawski berichtet<br />

von <strong>der</strong> düsteren Sorge <strong>der</strong> Soldaten, daß die Macht vom Zaren an einen Fürsten<br />

übergegangen sei: hat es sieh gelohnt, deshalb Blut zu vergießen? Stankewitseh, <strong>der</strong> zum<br />

intimen Kerenski-Kreise gehörte, machte am 3. März einen Rundgang durch sein<br />

Sappeurbataillon, von Kompanie zu Kompanie, und pries die neue Regierung an, die er<br />

selbst für die bestmögliche hielt und von <strong>der</strong> er mit großer Begeisterung sprach. »Aber<br />

man fühlte im Auditorium eine Kühle.« Nur wenn <strong>der</strong> Redner Kerenski erwähnte,<br />

»entflammten« die Soldaten »in wahrer Befriedigung«. Zu dieser Zeit hatte bereits die<br />

öffentliche Meinung <strong>der</strong> Spießbürger <strong>der</strong> Hauptstadt Kerenski in einen Haupthelden <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> verwandelt. Die Soldaten wollten in höherem Maße als die Arbeiter in<br />

Kerenski ein Gegengewicht zur bürgerlichen Regierung sehen und wun<strong>der</strong>ten sich nur<br />

darüber, daß er dort allein war. Doch Kerenski war kein Gegengewicht, son<strong>der</strong>n eine<br />

Ergänzung, eine Deckung, eine Verzierung. Er verteidigte die gleichen Interessen wie<br />

Miljukow, nur beim Aufbhtzen von Magnesium.<br />

Wie war die reale Konstitution des Landes nach <strong>der</strong> Aufrichtung <strong>der</strong> neuen Macht?<br />

Die monarchistische Reaktion verkroch sich in die Löcher. Sobald nur die ersten<br />

Wasser <strong>der</strong> Sintflut zurückwichen, gruppierten sich die Besitzenden aller Arten und<br />

Richtungen um das Banner <strong>der</strong> Kadettenpartei, die mit einem Male die einzige nichtsozialistische<br />

Partei und gleichzeitig die äußerste Rechte in <strong>der</strong> offenen Arena geworden<br />

war.<br />

Die Massen strömten in Scharen zu den <strong>Sozialisten</strong>, die im Bewußtsein des Volkes mit<br />

den Sowjets verschmolzen waren. Nicht nur die Arbeiter und Soldaten <strong>der</strong> großen Garnisonen<br />

des Hinterlandes, son<strong>der</strong>n auch all das bunte Kleinvolk <strong>der</strong> Städte: Handwerker,<br />

Straßenverkäufer, kleine Beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Hausangestellte aller Art<br />

mieden die Provisorische Regierung mit <strong>der</strong>en Kanzleien und suchten eine nähere,<br />

zugänglichere Macht. In immer größerer Zahl kamen Bauernabgesandte ins Taurische<br />

Palais. Die Massen ergossen sich in die Sowjets wie in ein Triumphtor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Alles, was außerhalb <strong>der</strong> Sowjets blieb, fiel von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gleichsam ab und schien<br />

einer an<strong>der</strong>en Welt zugehörig. So war es auch: außerhalb <strong>der</strong> Sowjets blieb die Welt <strong>der</strong><br />

Besitzenden, in <strong>der</strong> sich jetzt alle Farben zu einem graurosa Schutzkolorit vermengten.<br />

Nicht die ganze werktätige Masse wählte die Sowjets, nicht mit einem Male erwachte<br />

sie, nicht alle Schichten <strong>der</strong> Unterdrückten wagten gleich zu glauben, daß <strong>der</strong> Umsturz<br />

auch sie betraf. Im Bewußtsein vieler regte sich nur schwerfällig unartikulierte Hoffnung.<br />

Den Sowjets wandten sich alle Aktiven aus den Massen zu, und während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

siegt mehr denn je die Aktivität; da nun die Massenaktivität von Tag zu Tag wuchs, so<br />

erweiterte sich die Basis <strong>der</strong> Sowjets ununterbrochen. Dies war auch die einzige reale<br />

Basis <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Im Taurischen Palais gab es zwei Hälften: Duma und Sowjet. Das Exekutivkomitee<br />

drängte sich ursprünglich in irgendwelchen engen Kanzleien, durch die ein ununterbrochener<br />

Menschenstrom flutete. Die Dumadeputierten waren bemüht, sich in ihren<br />

Para<strong>der</strong>äumen als die Herren zu fühlen. Doch bald trug das Hochwasser <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

die Schranken hinweg. Trotz <strong>der</strong> ganzen Unentschlossenheit seiner Führer verbreiterte<br />

sich <strong>der</strong> Sowjet unaufhaltsam, während die Duma immer mehr in den Hintergrund<br />

gedrängt wurde. Das neue Kräfteverhältuis brach sich allenthalben Bahn.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 131


Die Deputierten im Taurischen Palais, die Offiziere in ihren Regimentern, die<br />

Kommandeure in ihren Stäben, die Direktoren und Administratoren <strong>der</strong> Betriebe, Eisenbahnen,<br />

Telegraphenämter, die Gutsbesitzer o<strong>der</strong> Verwalter auf den Gütern, alle fühlten<br />

sich von den ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an unter <strong>der</strong> feindseligen und rastlosen<br />

Kontrolle <strong>der</strong> Masse. Der Sowjet war in den Augen dieser Masse <strong>der</strong> organisierte<br />

Ausdruck ihres Mißtrauens gegen all jene, die sie unterdrückt hatten. Die Setzer durchforschten<br />

eifrig den Text <strong>der</strong> Artikel, die sie zu setzen hatten, die Eisenbahnarbeiter<br />

beobachteten besorgt und wachsam die Militärzüge, die Telegraphisten lasen sich auf<br />

neue Art in die Telegramme hinein, die Soldaten sahen sich bei je<strong>der</strong> verdächtigen<br />

Bewegung des Offiziers an, die Arbeiter warfen den als Schwarzhun<strong>der</strong>tmann bekannten<br />

Meister aus dem Betrieb hinaus und hielten ein scharfes Auge auf den liberalen Direktor.<br />

Die Duma wurde von den ersten Stunden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und die Provisorische Regierung<br />

von ihren ersten Tagen an zum Reservoir, in das die Klagen und Beschwerden <strong>der</strong><br />

Oberschichten <strong>der</strong> Gesellschaft, <strong>der</strong>en Proteste gegen "Exzesse", ihre wehmütigen<br />

Beobachtungen und düsteren Vorahnungen zusammenströmten.<br />

»Ohne die Bourgeoisie können wir den Staatsapparat nicht erobern«, meinte <strong>der</strong><br />

sozialistische Kleinbürger mit einem ängstlichen Blick auf die Verwaltungsgebäude, aus<br />

denen mit leeren Augenhöhlen das Skelett des alten Staates starrte. Man fand einen<br />

Ausweg darin, daß man dem durch die <strong>Revolution</strong> enthaupteten Apparat irgendwie einen<br />

liberalen Kopf aufsetzte. Neue Minister begaben sich in die zaristischen Ministerien,<br />

nahmen dort Besitz von dem Apparat <strong>der</strong> Schreibmaschinen, Telephone, Kuriere, Stenotypistinnen<br />

und Beamten und überzeugten sich tagtäglich, daß die Maschine leer läuft.<br />

Kerenski erinnerte sich später, wie die Provisorische Regierung »am dritten Tage <strong>der</strong><br />

all<strong>russischen</strong> Anarchie die Macht in ihre Hände nahm, als es auf <strong>der</strong> ganzen Fläche <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong> Erde nicht nur keine Macht gab, son<strong>der</strong>n buchstäblich kein einziger Schutzmann<br />

übriggeblieben war«. Die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten, die<br />

Millionenmassen leiteten, zählen nicht: das sind doch nur Elemente <strong>der</strong> Anarchie. Die<br />

Verwahrlosung des Landes wird durch das Verschwinden des Schutzmannes charakterisiert.<br />

In diesem Glaubensbekenntnis des allerlinksten Ministers liegt <strong>der</strong> Schlüssel zur<br />

gesamten Politik <strong>der</strong> Regierung.<br />

Die Gouverneurposten wurden, auf Verfügung des Fürsten Lwow, durch Vorsitzende<br />

<strong>der</strong> Gouvernementsemstwoverwaltungen besetzt, die sich nicht viel von ihren Vorgängern<br />

unterschieden; nicht selten waren es Gutsbesitzer von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> alten Leibeigenenherren,<br />

die sogar in den Gouverneuren Jakobiner erblickten. An die Spitze <strong>der</strong> Kreise<br />

kamen die Vorsitzenden <strong>der</strong> Kreissemstwoverwaltungen. Unter <strong>der</strong> frischen Bezeichnung<br />

"Kommissare" erkannte die Bevölkerung ihre alten Feinde. »Die selben alten Popen, nur<br />

unter hochtrabenden Namen«, wie einst Milton von <strong>der</strong> ängstlichen Reformation <strong>der</strong><br />

Presbyterianer sagte. Die Gouvernement- und Kreiskommissare bemächtigten sich <strong>der</strong><br />

Schreibmaschinen, Schreibmaschinenschreiberinnen und Beamten <strong>der</strong> Gouverneure und<br />

lsprawniks, um sich davon zu überzeugen, daß diese ihnen keinerlei Macht vererbt<br />

hatten. Das Leben in den Gouvernements und in den Kreisen konzentrierte sich um die<br />

Sowjets. Auf diese Weise durchsetzte die Doppelherrschaft alles von oben bis unten.<br />

Aber die örtlichen Sowjetleiter, die gleichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki,<br />

waren doch simpler und warfen durchaus nicht immer die Macht, die sich ihnen aus <strong>der</strong><br />

ganzen Situation heraus von selbst aufdrängte, von sich. Infolgedessen bestand die Tätig-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 132


keit <strong>der</strong> Provinzkommissare hauptächlich in Beschwerden über die völlige Unmöglichkeit,<br />

ihre Vollmachten geltend zu machen.<br />

Am Tage nach <strong>der</strong> Bildung des liberalen Ministeriums fühlte die Bourgeoisie, daß sie<br />

die Macht nicht erlangt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil verloren hatte. Bei <strong>der</strong> ganzen phantastischen<br />

Willkür <strong>der</strong> Rasputinschen Clique bis zum Umsturze hatte <strong>der</strong>en reale Macht einen<br />

beschränkten Charakter. Der Einfluß <strong>der</strong> Bourgeoisie auf die Staatsgeschäfte war gewaltig.<br />

Auch Rußlands Beteiligung am Kriege war in höherem Maße eine Angelegenheit <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie als <strong>der</strong> Monarchie. Die Hauptsache aber bestand darin, daß die zaristische<br />

Macht den Besitzenden die Fabriken, Län<strong>der</strong>eien, Banken, Häuser und Zeitungen<br />

gesichert harte und mithin in <strong>der</strong> lebenswichtigsten Frage ihre Regierung gewesen war.<br />

Die Februarrevolution verän<strong>der</strong>te die Lage nach zwei einan<strong>der</strong> entgegengesetzten<br />

Richtungen: sie händigte <strong>der</strong> Bourgeoisie feierlichst die äußerlichen Machttribute aus,<br />

nahm ihr aber gleichzeitig jenen Teil <strong>der</strong> realen Herrschaft, die sie vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

besessen hatte. Die gestrigen Angestellten des Semstwoverbandes, wo Fürst Lwow <strong>der</strong><br />

Gebieter war, und des Kriegsindustriekomitees, wo Gutschkow kommandierte, wurden<br />

heute unter dem Namen Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Herren <strong>der</strong> Lage im<br />

Lande und an <strong>der</strong> Front, in Stadt und Dorf, ernannten Lwow und Gutschkow zu<br />

Ministern und stellten ihnen dabei Bedingungen, wie wenn sie sie als Gehlifen dingen<br />

wollten.<br />

An<strong>der</strong>erseits konnte das Exekutivkomitee, nachdem es die bürgerliche Regierung<br />

geschaffen hatte, sich nicht, dem biblischen Gott gleich, entschließen, kundzutun, die<br />

Schöpfüng sei gut. Im Gegenteil, es beeilte sich, sofort die Distanz zwischen sich und<br />

dem Werke seiner Hand zu vergrößern, indem es erklärte, die neue Macht nur insoweit<br />

unterstützen zu wollen, als diese treu <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> dienen würde. Die<br />

Provisorische Regierung war sich dessen durchaus bewußt, daß sie sich ohne die Unterstützung<br />

<strong>der</strong> offiziellen Demokratie nicht eine Stunde würde halten können; diese Unterstützung<br />

war ihr indes nur als Lohn für gutes Benehmen versprochen, das heißt für die<br />

Durchführung von Aufgaben, die ihr fremd waren und <strong>der</strong>en Lösung die Demokratie<br />

selbst eben noch ausgewichen war. Die Regierung wußte niemals, bis zu welchen<br />

Grenzen sie ihre Macht, die halb Konterbande war, äußern dürfte. Nicht immer könnten<br />

ihr dies die Häupter des Exekutivkomitees von vornherein sagen, denn auch ihnen war es<br />

schwer, zu erraten, bei welcher Grenze die Unzufriedenheit in den eigenen Reihen als<br />

Abbild des Unwillens <strong>der</strong> Massen durchbrechen würde. Die Bourgeoisie tat so, als hätten<br />

die <strong>Sozialisten</strong> sie betrogen. Die <strong>Sozialisten</strong> ihrerseits fürchteten, die Liberalen würden<br />

durch ihre vorzeitigen Ansprüche die Massen erregen und die ohnehin schwierige Lage<br />

verschlechtern. »Insoweit - wie« -, diese Zweideutigkeit drückte <strong>der</strong> ganzen Voroktoberperiode<br />

ihren Stempel auf, indem sie die juristische Formel für die innere Lüge wurde,<br />

die im Zwitterregime <strong>der</strong> Februarrevolution enthalten war.<br />

Um auf die Regierung einen Druck auszuüben, wählte das Exekutivkomitee eine<br />

beson<strong>der</strong>e Kommission, die es höflicher-, aber lächerlicherweise "Kontaktkommission"<br />

nannte. Die Bildung <strong>der</strong> revolutionären Macht war also offiziell auf den Prinzipien <strong>der</strong><br />

gegenseitigen Überredung aufgebaut. Der nicht unbekannte mystische Schriftsteller<br />

Mereschkowski konnte einen Präzedenzfall für ein solches Regime nur im Alten Testament<br />

finden: die Zaren Israels hielten sich Propheten. Die biblischen Propheten jedoch,<br />

wie auch <strong>der</strong> Prophet des letzten Romanow, empfingen wenigstens ihre Eingebungen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 133


unmittelbar vom Himmel und die Zaren wagten keine Wi<strong>der</strong>rede: das sicherte die<br />

Einheitlichkeit <strong>der</strong> Macht. Ganz an<strong>der</strong>s die Propheten des Sowjets: sie predigten nur<br />

unter <strong>der</strong> Eingebung <strong>der</strong> eigenen Beschränktheit. Die liberalen Minister aber waren <strong>der</strong><br />

Meinung, es könne überhaupt nichts Gutes von dem Sowjet kommen. Tschcheidse,<br />

Skobeljew, Suchanow und an<strong>der</strong>e gingen zu <strong>der</strong> Regierung und redeten ihr lang und breit<br />

zu, nachzugeben; die Minister sträubten sich; die Delegierten kehrten zum Exekutivkomitee<br />

zurück; übten hier einen Druck mittels <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> Regierung aus; traten<br />

wie<strong>der</strong> in Verbindung mit den Ministern und - begannen wie<strong>der</strong> vom Anfang. Diese<br />

komplizierte Mühle mahlte nichts aus.<br />

In <strong>der</strong> Kontaktkommission beklagten sich alle. Beson<strong>der</strong>s Gutschkow jammerte vor<br />

den Demokraten über Unordnung in <strong>der</strong> Armee, hervorgerufen durch das Gewährenlassen<br />

des Sowjets. Manchmal vergoß <strong>der</strong> Kriegsminister <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> »in direktem und<br />

buchstäblichen Sinne ... Tränen, mindestens wischte er sich eiftig die Augen mit dem<br />

Taschentuch«. Er meinte nicht ohne Grund, die Tränen <strong>der</strong> Gesalbten zu trocknen, sei die<br />

direkte Funktion <strong>der</strong> Propheten.<br />

Am 9. März telegraphierte General Alexejew, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Spitze des Hauptquartiers<br />

stand, an den Kriegsminister: »Das deutsche Joch ist nahe, wenn wir dem Sowjet weiter<br />

nachgeben.« Gutschkow antwortete ihm höchst weinerlich: die Regierung verfügt lei<strong>der</strong><br />

über keine reale Macht, in den Händen des Sowjets sind Truppen, Eisenbahn, Post und<br />

Telegraph. »Man kann geradezu sagen, die Provisorische Regierung existiert nur,<br />

solange <strong>der</strong> Sowjet es zuläßt.«<br />

Eine Woche nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verging, die Lage aber besserte sich nicht im geringsten.<br />

Als die Provisorische Regierung Anfang April Dumadeputierte an die Front sandte,<br />

schärfte sie ihnen zähneknirschend ein, keine Meinungsverschiedenheiten mit den<br />

Sowjetdelegierten erkennen zu lassen. Die liberalen Deputierten fühlten sich während <strong>der</strong><br />

ganzen Reise gleichsam unter Eskorte, doch waren sie sich bewußt, daß sie sonst, trotz<br />

all ihren hohen Volimachten, nicht nur nicht vor den Soldaten erscheinen, son<strong>der</strong>n auch<br />

keinen Platz im Wagen finden könnten. Dieses prosaische Detail aus den Erinnerungen<br />

des Fürsten Mansyrew ergänzt vorzüglich den Briefwechsel Gutschkows mit dem Hauptquartier<br />

über das Wesen <strong>der</strong> Februarkonstitution. Ein reaktionärer Witzbold charakterisierte<br />

nicht ohne Berechtigung die Lage folgen<strong>der</strong>maßen: »Die alte Regierung sitzt in <strong>der</strong><br />

Peter-Paul-Festung und die neue unter Hausarrest.«<br />

Besaß denn die Provisorische Regierung keine an<strong>der</strong>e Stütze außer <strong>der</strong> fragwürdigen<br />

Hilfe <strong>der</strong> Sowjetführer? Wo waren die besitzenden Klassen hingeraten? Eine begründete<br />

Frage. In ihrer Vergangenheit mit <strong>der</strong> Monarchie verbunden, hatten es die besitzenden<br />

Klassen nach <strong>der</strong> Umwälzung eilig, sich um eine neue Achse zu gruppieren. Der Rat für<br />

Industrie und Handel, die Vertretung des vereinigten Kapitals des gesamten Landes, hatte<br />

sich bereits am 2. März »vor <strong>der</strong> großen Tat <strong>der</strong> Reichsduma verbeugt« und sich »völlig<br />

zur Verfügung« ihres Komitees gestellt. Die Semstwos und die Stadtdumas beschritten<br />

denselben Weg. Am 10. März rief sogar <strong>der</strong> Rat des vereinigten Adels, die Stütze des<br />

Thrones, in <strong>der</strong> Sprache pathetischer Feigheit das ganze russische Volk auf, »sich um die<br />

Provisorische Regierung, als die heute einzige gesetzliche Macht in Rußland, zusammenzuschließen«.<br />

Fast zu gleicher Zeit begannen die Institutionen und Organe <strong>der</strong> besitzenden<br />

Klassen die Doppelherrschaft zu tadeln und schoben, zuerst schüchtern, dann immer<br />

kühner, die Verantwortung für die Unordnung den Sowjets zu. Hinter den Herren herzo-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 134


gen die Spitzen <strong>der</strong> Angestellten, die Vereinigungen <strong>der</strong> liberalen Berufe, die Staatsbeamten.<br />

Von <strong>der</strong> Armee trafen in den Stäben fabrizierte Telegramme, Denkschriften und<br />

Resolutionen gleichen Charakters ein. Die liberale Presse eröffnete eine Kampagne »für<br />

die Einheitsregierung«, die in den weiteren Monaten den Charakter eines Trommelfeuers<br />

gegen die Sowjetführer annahm. Alles zusammen sah äußerst imposant aus. Die große<br />

Anzahl <strong>der</strong> Organisationen, bekannte Namen, Resolutionen, Artikel, <strong>der</strong> entschiedene<br />

Ton, all das wirkte unfehlbar auf die empfänglichen Lenker des Exekutivkomitees.<br />

Nichtsdestoweniger stand hinter <strong>der</strong> dräuenden Parade <strong>der</strong> besitzenden Klassen keine<br />

ernsthafte Macht. »Und die Macht des Besitzes?« erwi<strong>der</strong>ten den Bolschewiki die kleinbürgerlichen<br />

<strong>Sozialisten</strong>. Besitz ist das Verhältnis zwischen Menschen. Er stellt eine<br />

riesige Macht dar, solange er allgemeine Anerkennung findet, die durch das Zwangssystem,<br />

das sich Recht und Staat nennt, aufrechterhalten wird. Aber darin bestand ja das<br />

Wesen <strong>der</strong> Lage, daß <strong>der</strong> alte Staat jäh zusammengebrochen und von den Massen hinter<br />

das gesamte alte Recht ein Fragezeichen gestellt war. In den Fabriken betrachteten sich<br />

die Arbeiter immer mehr als die Herren, den Herrn aber als den ungebetenen Gast. Noch<br />

weniger sicher fühlten sich die Gutsbesitzer auf dem Lande, von Angesicht zu Angesicht<br />

mit den finsteren, haßerfüllten Bauern, fern von <strong>der</strong> Macht, an <strong>der</strong>en Existenz die<br />

Gutsbesitzer, <strong>der</strong> weiten Entfernung halber, anfangs noch glaubten. Aber die<br />

Besitzenden, <strong>der</strong> Möglichkeit beraubt, über ihren Besitz zu verfügen und sogar, ihn zu<br />

schützen, hörten auf, wahre Besitzer zu sein, und wurden stark erschrockene<br />

Spießbürger, die ihrer Regierung keine Hilfe leisten konnten, denn sie selbst bedurften<br />

ihrer am meisten. Gar bald begannen sie, die Regierung ihrer Schwäche wegen zu verfluchen.<br />

Doch in <strong>der</strong> Gestalt <strong>der</strong> Regierung verfluchten sie nur ihr eigenes Schicksal.<br />

Indes machten sich Exekutivkomitee und Ministerium in gemeinsamer Tätigkeit<br />

gleichsam zur Aufgabe, nachzuweisen, daß während einer <strong>Revolution</strong> die Kunst des<br />

Regierens in wortreichem Zeitvergeuden besteht. Bei den Liberalen war es Sache bewußter<br />

Berechnung. Ihrer festen Überzeugung nach verlangten alle Fragen eine Vertagung,<br />

außer <strong>der</strong> einen: Ablegung des Treueeids für die Entente.<br />

Miljukow machte seine Kollegen mit den Geheiniverträgen bekannt. Kerenski<br />

überhörte sie. Es scheint, nur <strong>der</strong> Oberprokureur des Heiligen Synods, <strong>der</strong> an Überraschungen<br />

reiche Lwow, des Premiers Namensvetter, aber nicht Fürst, empörte sich<br />

stürmisch und bezeichnete die Verträge sogar als »räuberisch und schwindelhaft«, womit<br />

er sicherlich bei Miljukow ein nachsichtiges Lächeln (»<strong>der</strong> Spießer ist dumm«) und den<br />

Antrag hervorgerufen haben mag, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Die offizielle<br />

Regierungsdeklaration versprach die Einberufüng <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung in<br />

kürzester Frist, die aber absichtlich nicht festgesetzt wurde. Von <strong>der</strong> Staatsform war<br />

keine Rede: die Regierung hoffte noch, das verlorene Paradies <strong>der</strong> Monarchie wie<strong>der</strong>herstellen<br />

zu können. Doch bestand <strong>der</strong> wirkliche Sinn <strong>der</strong> Deklaration in <strong>der</strong> Verpflichtung,<br />

den Krieg bis zum siegreichen Ende zu führen und »unentwegt die mit den Alliierten<br />

geschlossenen Vereinbarungen zu erfüllen«. Hinsichtlich des bedrohlichsten Preblenis im<br />

Dasein des Volkes hatte sich die <strong>Revolution</strong> scheinbar nur vollzogen, um zu erklären:<br />

alles bleibt beim alten.<br />

Am 8. kam endlich aus dem Ministerlaboratonum das Dekret über die Amnestie<br />

heraus. Zu dieser Zeit waren bereits die Türen <strong>der</strong> Gefängnisse im ganzen Lande vom<br />

Volk geöffnet worden, politische Verbannte kehrten zurück im dichten Strom von<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 135


Versammlungen, Enthusiasmus, Militärmusik, Reden und Blumen. Das Amnestiedekret<br />

klang wie ein verspätetes Echo <strong>der</strong> Kanzleien. Am 12. wurde die Abschaffung <strong>der</strong><br />

Todesstrafe proklamiert. Vier Monate später die Todesstrafe für Soldaten wie<strong>der</strong> eingeführt.<br />

Kerenski hatte versprochen, die Rechtspflege auf eine nie dagewesene Höhe zu<br />

heben. In <strong>der</strong> Hitze des Gefechts hatte er tatsächlich den Antrag zur Annahme gebracht,<br />

<strong>der</strong> Vertreter von Arbeitern und Soldaten als Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Friedensgerichte ein-führte.<br />

Das war die einzige Maßnahme, in <strong>der</strong> man den Pulsschlag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verspürte und<br />

die darum bei allen Eunuchen <strong>der</strong> Justiz Entsetzen hervorrief. Damit aber endete die<br />

Sache. Der unter Kerenski einen hohen Ministerposten innehabende Advokat Demjanow,<br />

ebenfalls "Sozialist", beschloß, nach seinen eigenen Worten, sich an das Prinzip zu<br />

halten, alle alten Beamten auf ihren Plätzen zu belassen: »Die Politik <strong>der</strong> revolutionären<br />

Regierung darf niemanden ohne Notwendigkeit kränken.« Das war im wesentlichen die<br />

Regel <strong>der</strong> gesamten Provisorischen Regierung, die am meisten Angst hatte, jemand aus<br />

<strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> herrschenden Klassen zu kränken, sogar die zaristische Bürokratie. Nicht<br />

nur die Richter, son<strong>der</strong>n auch die Staatsanwälte des Zarismus blieben auf ihren Posten.<br />

Gewiß, die Massen konnten sich deswegen gekränkt fühlen. Das aber ging die Sowjets<br />

an: die Massen blieben außerhalb des Gesichtsfeldes <strong>der</strong> Regierung.<br />

Etwas wie einen frischen Strahl brachte nur <strong>der</strong> bereits erwähnte temperamentvolle<br />

Oberprokureur Lwow hinein, <strong>der</strong> offiziell über die »Idioten und Schufte«, die im Heiligen<br />

Synod saßen, berichtete. Nicht ohne Besorgnis tauschten die Minister diesen saftigen<br />

Charakteristiken, <strong>der</strong> Synod aber blieb als Staatsinstitution und die Orthodoxie als Staatsreligion<br />

weiter bestehen. Sogar die Zusammensetzung des Synods blieb erhalten: die<br />

<strong>Revolution</strong> darf es sich mit keinem ver<strong>der</strong>ben.<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> des Staatsrates, treue Diener zweier o<strong>der</strong> dreier Kaiser, fuhren fort zu<br />

tagen, zumindest ihr Gehalt zu beziehen. Diese Tatsache gewann bald symbolische<br />

Bedeutung. In den Fabriken und Kasernen protestierte man laut. Das Exekutivkomitee<br />

war erregt. Die Regierung verwendete zwei Tage auf die Beratung über Schicksal und<br />

Gehalt <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Staatsrates und konnte zu keinem Entschluß kommen. Wie<br />

sollte man auch ehrwürdige Männer beunruhigen, unter denen zudem nicht wenige gute<br />

Bekannte waren?<br />

Die Rasputinschen Minister saßen noch in <strong>der</strong> Festung, aber die Provisorische Regierung<br />

beeilte sich bereits, den ehemaligen Ministern eine Pension auszusetzen. Das klang<br />

wie eine Verhöhnung o<strong>der</strong> wie eine Stimme aus dem Jenseits. Die Regierung jedoch<br />

wollte sich's mit ihren Vorgängern nicht ver<strong>der</strong>ben, wenn man diese auch ins Gefängnis<br />

gesetzt hatte.<br />

Die Senatoren schlummerten weiter in ihren betreßten Uniformen, und als <strong>der</strong> von<br />

Kerenski neu ernannte linke Senator Sokolow es wagte, im schwarzen Gehrock zu<br />

erscheinen, wurde er einfach aus <strong>der</strong> Sitzung entfernt: die zaristischen Senatoren fürchteten<br />

sich vor einem Streit mit <strong>der</strong> Februarrevolution nicht, nachdem sie sich überzeugt<br />

hatten, daß <strong>der</strong>en Regierung zahnlos war.<br />

Die Ursache für den Zusammenbruch <strong>der</strong> Märzrevolution in Deutschland erblickte<br />

einst Marx darin, daß sie »nur die politische Spitze reformierte, während sie alle Schichten<br />

unterhalb dieser Spitze unangetastet ließ - die alte Bürokratie, die alte Armee, die<br />

alten, im Dienste des Absolutismus geborenen, erzogenen und ergrauten Richter«. Die<br />

<strong>Sozialisten</strong> vom Typ Kerenskis suchten Rettung darin, worin Marx die Ursache des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 136


Unterganges sah. Die menschewistischen Marxisten gingen mit Kerenski, nicht mit<br />

Marx.<br />

Das einzige Gebiet, auf dem die Regierung Initiative und revolutionäres Tempo an den<br />

Tag legte, war die Gesetzgebung für Aktiengesellschaften: ein Reformdekret wurde<br />

bereits am 17. März erlassen. Nationale Beschränkungen wie die des Glaubens wurden<br />

erst drei Tage später abgeschafft. In <strong>der</strong> Regierung gab es nicht wenige Personen, die<br />

unter dem alten Regime an nichts weiter als an den Mängeln des Aktienwesens gelitten<br />

hatten.<br />

Die Arbeiter for<strong>der</strong>ten ungeduldig den Achtstundentag. Die Regierung stellte sich taub<br />

auf beiden Ohren. Jetzt sei doch Krieg, alle müßten sich für das Wohl des Vaterlandes<br />

aufopfern. Überdies sei es Sache des Sowjets: möge er die Arbeiter beruhigen.<br />

Noch bedrohlicher stand die Bodcnbesitzfrage. Hier mußte unbedingt etwas geschehen.<br />

Von den Propheten angetrieben, verfügte <strong>der</strong> Ackerbauminister Schingarew dic Schaffung<br />

von lokalen Landkomitees, vorsichtigerweise ohne <strong>der</strong>en Funktionen und Aufgaben<br />

zu bestimmen. Die Bauern bildeten sich ein, die Komitees müßten ihnen Land geben. Die<br />

Gutsbesitzer waren <strong>der</strong> Ansicht, die Komitees hätten den Besitz zu schützen. So zog sich<br />

um den Hals des Februarregimes von Anfang an die bäuerliche Schlinge zusammen,<br />

unerbittlicher als alle an<strong>der</strong>en.<br />

Der offiziellen Doktrin gemäß wurden alle Fragen, die die <strong>Revolution</strong> aufgeworfen<br />

hatte, bis zur Konstituierenden Versammlung vertagt. Konnten denn die untadeligen<br />

konstitutionellen Demokraten dem Volkswillen vorgreifen, nachdem es ihnen - ach!<br />

-nicht gelungen war, Michail Romanow rittlings auf diesen Willen zu setzen? Die Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> zukünftigen Nationalvertretung wurde indes mit so bürokratischer Solidität<br />

und berechneter Saumseligkeit getroffen, daß die Konstituierende Versammlung sich in<br />

ein Trugbild verwandelte. Erst am 25. März, fast einen Monat nach dem Umsturz - ein<br />

Monat <strong>Revolution</strong>! -, ordnete die Regierung zur Ausarbeitung eines Wahlgesetzes die<br />

Bildung eines schwerfälligen Beson<strong>der</strong>en Ausschusses an. Doch trat dieser nicht in<br />

Funktion. In seiner durch und durch unwahren "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>" teilt Miljukow<br />

verlegen mit, daß infolge verschiedener Verzögerungen »<strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>e Ausschuß<br />

unter <strong>der</strong> ersten Regierung seine Arbeit nicht begonnen hat«. Die Verschleppungen<br />

gehörten zur Konstitution des Ausschusses und zu seinen Pflichten. Die Aufgabe bestand<br />

darin, die Konstituierende Versammlung auf bessere Zeiten zu verzögern: bis zum Siege,<br />

zum Frieden o<strong>der</strong> zum Kornilowschen Kalen<strong>der</strong>.<br />

Die russische Bourgeoisie, die zu spät zur Welt gekommen war, haßte die <strong>Revolution</strong><br />

tödlich. Ihrem Haß fehlte jedoch die Kraft. Es hieß abwarten und manövrieren. Da sie die<br />

Möglichkeit nicht besaß, die <strong>Revolution</strong> nie<strong>der</strong>zuwerfen und zu ersticken, hoffte die<br />

Bourgeoisie darauf, sie zu ermatten.<br />

Doppelherrschaft<br />

Worin besteht das Wesen <strong>der</strong> Doppelherrschaft? Man darf an dieser Frage nicht<br />

vorbeigehen, <strong>der</strong>en Beleuchtung wir in <strong>der</strong> historischen Literatur bisher nicht begegnet<br />

sind. Indes ist die Doppelherrschaft ein eigenartiger Zustand <strong>der</strong> gesellschaftlichen Krise,<br />

<strong>der</strong> durchaus nicht nur für die russische <strong>Revolution</strong> von 1917 allein charakteristisch ist,<br />

wenn er auch hier am deutlichsten beobachtet werden konnte.<br />

Antagonistische Klassen existierten in <strong>der</strong> Gesellschaft stets, und die von <strong>der</strong> Macht<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 137


ausgeschlossene Klasse ist unvermeidlich bestrebt, den Staatskurs in diesem o<strong>der</strong> jenem<br />

Grade in ihre Richtung zu lenken. Das bedeutet jedoch noch keinesfalls, daß in <strong>der</strong><br />

Gesellschaft eine Doppel- o<strong>der</strong> Vielherrschaft besteht. Der Charakter eines politischen<br />

Regimes wird unmittelbar bestimmt von dem Verhältnis <strong>der</strong> unterdrückten Klassen zu<br />

den herrschenden. Die Einzelherrschaft, die notwendige Bedingung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />

eines jeden Regimes, kann nur so lange bestehen, wie es <strong>der</strong> herrschenden Klasse<br />

gelingt, ihre ökonomischen und politischen Formen als die einzig möglichen <strong>der</strong> ganzen<br />

Gesellschaft aufzuzwingen.<br />

Die gleichzeitige Herrschaft des Junkertums und <strong>der</strong> Bourgeoisie - in <strong>der</strong> hohenzollernschen<br />

o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> republikanischen Form - ist, so stark zeitweilig die Konflikte zwischen<br />

den beiden Partnern <strong>der</strong> Macht auch sein mögen, noch keine Doppelherrschaft: sie haben<br />

eine gemeinsame soziale Basis, ihre Zusammenstöße drohen nicht den Staatsapparat zu<br />

spalten. Das Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft entsteht nur aus dem unversöhnlichen Zusammenprall<br />

<strong>der</strong> Klassen, ist demzufolge nur in einer revolutionären Epoche möglich und<br />

bildet eines ihrer wesentlichen Elemente.<br />

Die politische Mechanik <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht in dem Übergang <strong>der</strong> Macht von <strong>der</strong><br />

einen Klasse zur an<strong>der</strong>en. Die gewaltsame Umwälzung an sich kommt gewöhnlich innerhalb<br />

einer kurzen Frist zustande. Aber keine historische Klasse erhebt sich aus <strong>der</strong> unterdrückten<br />

Lage zur herrschenden mit einem Male, sozusagen über Nacht, mag es auch die<br />

Nacht einer <strong>Revolution</strong> sein. Sie muß schon am Vorabend in bezug auf die offiziell<br />

herrschende Klasse eine höchst unabhängige Stellung eingenommen haben; mehr noch,<br />

sie muß die Hoffnungen <strong>der</strong> Zwischenklassen und -schichten, <strong>der</strong> mit dem Bestehenden<br />

Unzufriedenen, aber für eine selbständige Rolle Unfähigen, auf sich konzentriert haben.<br />

Die historische Vorbereitung einer Umwälzung führt in <strong>der</strong> vorrevolutionären Periode zu<br />

einer Situation, in <strong>der</strong> die Klasse, die das neue Gesellschaftssystem zu verwirklichen<br />

berufen ist, ohne bereits Herr im Lande zu sein, faktisch einen bedeutenden Teil <strong>der</strong><br />

Staatsmacht in Händen hält, während <strong>der</strong> offizielle Staatsapparat noch im Besitz <strong>der</strong> alten<br />

Machthaber verbleibt. Dieses ist <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Doppelherrschaft in einer jeden<br />

<strong>Revolution</strong>.<br />

Doch das ist nicht ihre einzige Form. Falls die neue Klasse, die durch die <strong>Revolution</strong>,<br />

die sie nicht gewollt, an die Macht gestellt wird, eine alte, historisch verspätete Klasse<br />

ist; falls sie sich etwa vor ihrer offiziellen Krönung verbraucht hat; falls sie, zur Macht<br />

gekommen, ihren Wi<strong>der</strong>partner bereits hinreichend reif, den Arm nach dem Staatssteuer<br />

ausgestreckt, vorfindet, - dann führt die politische Umwälzung zum Ersatz <strong>der</strong> einen<br />

Doppelherrschaft mit sehr schwankendem Gleichgewicht durch eine an<strong>der</strong>e, mitunter<br />

noch weniger wi<strong>der</strong>standsfähige. Im Siege über die "Anarchie" <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />

besteht eben auf je<strong>der</strong> neuen Etappe die Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> o<strong>der</strong> - <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />

Die Doppelherrschaft setzt die Teilung <strong>der</strong> Macht in gleiche Hälften o<strong>der</strong> überhaupt<br />

irgendein formales Gleichgewicht <strong>der</strong> beiden Mächte nicht nur nicht voraus, son<strong>der</strong>n<br />

schließt sie, allgemein gesprochen, völlig aus. Das ist keine konstitutionelle, son<strong>der</strong>n eine<br />

revolutionäre Tatsache. Sie beweist, daß die Störung des sozialen Gleichgewichts den<br />

Staatsüberbau bereits gespalten hat. Eine Doppelherrschaft entsteht dort, wo feindliche<br />

Klassen sich bereits ihrem Wesen nach miteinan<strong>der</strong> nicht zu vereinbarende staatliche<br />

Organisationen stützen - eine im Ableben und eine im Entstehen begriffene -, die auf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 138


dem Gebiet <strong>der</strong> Staatsleitung einan<strong>der</strong> auf jedem Schritt bedrängen. Der Teil <strong>der</strong> Macht,<br />

<strong>der</strong> hierbei e<strong>der</strong> <strong>der</strong> kämpfrnden Klassen zufällt, wird vom Kräfteverhälmis und dem<br />

Gang des Kampfes bestimmt.<br />

Ein solcher Zustand kann seinem ganzen Wesen nach nicht beständig sein. Die Gesellschaft<br />

verlangt Konzentration <strong>der</strong> Macht und strebt in Gestalt <strong>der</strong> herrschenden Klasse,<br />

o<strong>der</strong> in diesem Falle. <strong>der</strong> zwei halbherrschenden Klassen, unversöhnlich dahin. Die<br />

Spaltung <strong>der</strong> Macht kündet nichts an<strong>der</strong>es an als den Bürgerkrieg. Jedoch bevor sich die<br />

rivalisierenden Klassen und Parteien zu diesem entschließen, können sie, beson<strong>der</strong>s<br />

wenn sie die Einmischung einer dritten Macht fürchten, gezwungen sein, das System <strong>der</strong><br />

Doppelherrschaft ziemlich lange zu dulden und sogar gewissermaßen zu sanktionieren.<br />

Aber doch wird es unvermeidlich gesprengt werden. Der Bürgerkrieg verleiht <strong>der</strong><br />

Doppelherrschaft einen augenfälligen, und zwar einen territorialen Ausdruck: indem sich<br />

jede Macht einen befestigten Punkt schafft, führt sie den Kampf um das übrige Territorium,<br />

das nicht selten eine Doppelherrschaft in Form des aufeinan<strong>der</strong>folgenden Einfalls<br />

<strong>der</strong> beiden kriegführenden Mächte erduldet, bis eine von ihnen sich endgriltig festsetzt.<br />

Die englische <strong>Revolution</strong> des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts zeigt, gerade weil sie eine große<br />

<strong>Revolution</strong> war, die die Nation bis in die Tiefen aufwühlte, ein deutliches Abwechseln<br />

von Doppelherrschaftregimes, mit scharfen Übergängen von dem einen zum an<strong>der</strong>en, in<br />

Form des Bürgerkrieges.<br />

Zuerst stehen <strong>der</strong> Königsmacht, die sich auf die privilegierten Klassen o<strong>der</strong> die<br />

Oberschichten dieser Klassen, Aristokraten und Bischöfe, stützt, Bourgeoisie und dieser<br />

nahestehende Schichten des kleinen Landadels gegenüber. Die Regierung <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

ist das Presbyterianer-Parlament, das sich auf die Londoner City stützt. Der andauernde<br />

Kampf dieser zwei Regimes wird im offenen Bürgerkrieg entschieden. Zwei<br />

Regierungszentren, London und Oxford, schaffen sich ihre Armeen, die Doppelherrschaft<br />

nimmt eine territoriale Form an, wenn auch die territorialen Abgrenzungen, wie<br />

stets im Bürgerkriege, sehr schwankend sind. Das Parlament obsiegt. Der König ist<br />

gefangen und harrt seines Geschicks.<br />

Es könnte scheinen, die Bedingungen für die Einzelherrschaft <strong>der</strong> presbyterianischen<br />

Bourgeoisie seien im Entstehen. Aber bevor noch die Königsmacht gebrochen ist,<br />

verwandelt sich die Armee des Parlaments in eine selbständige politische Kraft. Sie<br />

vereinigt in ihren Reihen die Independenten, fromme und entschlossene Kleinbürger,<br />

Handwerker und Ackerbauer. Die Armee mischt sich machtvoll in das öffentliche Lehen<br />

ein, aber nicht einfach als bewaffnete Gewalt, auch nicht als Prätorianergarde, son<strong>der</strong>n<br />

als politische Vertretung einer neuen Klasse, die sich <strong>der</strong> reichen und wohlhabenden<br />

Bourgeoisie entgegenstellt Dementsprechend schafft die Armee ein neues Staatsorgan,<br />

das sich über das militärische Kommando erhebt: den Rat <strong>der</strong> Soldaten und Offizersdeputierten<br />

("Agitatoren"). Es beginnt eine neue Periode <strong>der</strong> Doppelherrschaft: die des<br />

presbyterianischen Parlaments und <strong>der</strong> lndependenten-Armee. Die Doppelherrschaft<br />

führt zum offenen Zusammenstoß. Die Bourgeoisie erweist sich als ohnmächtig, <strong>der</strong><br />

"mustergültigen Armee" Cromwells, das heißt den bewaffneten Plebejern, eine eigene<br />

Armee entgegenzustellen; Der Konflikt endet mit einer Säuberung des presbyterianischen<br />

Parlaments mit Hilfe des Independentensäbels. Vom Parlament bleibt nur Spreu, es<br />

wird die Diktatur Cromwells errichtet. Die unteren Schichten <strong>der</strong> Armee versuchen unter<br />

Leitung <strong>der</strong> Leveller, des äußersten linken Flügels <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 139


militärischen Spitzen, <strong>der</strong> Granden <strong>der</strong> Armee ihr eigenes, wahrhaft plebejisches Regime<br />

entgegenzustellen. Doch die neue Doppelhemehaft kommt nicht zur Entwicklung: die<br />

Levellers, die untere Schicht <strong>der</strong> Kleinbürger, haben noch keinen eigenen historischen<br />

Weg und kömien ihn auch noch nicht haben. Cromwell wird mit den Gegnern bald fertig.<br />

Es entsteht für eine Reihe von Jahren ein neues, allerdings keinesfalls wi<strong>der</strong>standsfähiges<br />

politisches Gleichgewicht.<br />

In <strong>der</strong> großen Französischen <strong>Revolution</strong> konzentriert die Konstituierende Versammlung,<br />

<strong>der</strong>en Rückgrat die oberste Schicht des dritten Standes ist, die Macht in ihren<br />

Händen, jedoch ohne dem König seine Vorrechte völlig zu nehmen. Die Periode <strong>der</strong><br />

Konstituierenden Versammlung ist die Periode scharfer Doppelherrschaft, die mit <strong>der</strong><br />

Flucht des Königs nach Varennes endet und formell erst mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Republik<br />

liquidiert wird.<br />

Die erste französische Konstitution (1791), aufgebaut auf <strong>der</strong> Fiktion <strong>der</strong> voneinan<strong>der</strong><br />

völlig unabhängigen gesetzgebenden und ausführenden Gewalt, verschleierte in<br />

Wirklichkeit, o<strong>der</strong> suchte vor dem Volke zu verschleiern, die tatsächliche Doppelherrschaft:<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie, die sich nach <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Bastille durch das Volk endgültig<br />

in <strong>der</strong> Nationalversammlung verschanzt hatte, und <strong>der</strong> alten Monarchie, die sich noch<br />

auf die Spitzen des Adels, des Klerus, <strong>der</strong> Bürokratie und <strong>der</strong> Militärs stützte, nicht zu<br />

reden von ihren Hoffnungen auf eine ausländische Intervention. In diesem wi<strong>der</strong>spruchsvollen<br />

Regime lag die Unvermeidlichkeit seines Zusammenbruchs. Ein Ausweg konnte<br />

nur gefunden werden entwe<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> bürgerlichen Vertretung mit den<br />

Kräften <strong>der</strong> europäischen Reaktion o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Guillotine für den König und die Monarchie.<br />

Paris und Koblenz mußten ihre Kräfte messen.<br />

Aber noch bevor es zu Krieg und Guillotine kommt, tritt auf die Bühne die Pariser<br />

Kommune, die sich auf die unteren Schichten des dritten Standes <strong>der</strong> Stadt stützt und den<br />

offiziellen Vertretern <strong>der</strong> bürgerlichen Nation die Herrschaft immer kühner streitig<br />

macht. Es entsteht eine neue Doppelberrschaft, <strong>der</strong>en erste Äußerungen wir bereits im<br />

Jahre 1790 wahrnehmen, zu einer Zeit, wo die Mittel- und Großbourgeoisie noch in<br />

Administrationen und Munizipalitäten festsitzt. Welch erstaunliches - und gleichzeitig<br />

niedrig verleumdetes! - Bild <strong>der</strong> Bemühungen <strong>der</strong> plebejischen Schichten, aus <strong>der</strong> Tiefe<br />

emporzusteigen, aus den sozialen Kellern und Katakomben, und jene verbotene Arena zu<br />

betreten, wo Menschen in Perücken und Culotten die Schicksale <strong>der</strong> Nation entscheiden.<br />

Es schien, als sei das Fundament selbst, getreten von den Füßen <strong>der</strong> aufgeklärten<br />

Bourgeoisie, lebendig geworden und in Bewegung geraten; aus <strong>der</strong> formlosen Masse<br />

erhoben sich menschliche Häupter, streckten sich schwielige Hände in die Höhe, heisere,<br />

aber mutige Stimmen wurden vernehmbar! Die Pariser Distrikte, die Bastarde <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>, begannen ihr eigenes Leben zu leben. Sie wurden anerkannt - sie nicht<br />

anzuerkennen war unmöglich! - und in Sektionen umgewandelt. Aber unentwegt rissen<br />

sie die Schranken <strong>der</strong> Legalität nie<strong>der</strong>, erhielten Zustrom frischen Blutes von unten und<br />

öffneten, dem Gesetz zuwi<strong>der</strong>, den Entrechteten, Armen, den Sansculotten Zutritt in ihre<br />

Reihen. Gleichzeitig bieten die Landmunizipalitäten dem bäuerlichen Aufstand Deckung<br />

gegen die bürgerliche Gesetzlichkeit; die den Feudalbesitz begönnert. So erhebt sich<br />

unter den Füßen <strong>der</strong> zweiten Nation die dritte.<br />

Die Pariser Sektionen verhielten sich anfangs <strong>der</strong> Kommune gegenüber, in <strong>der</strong> noch<br />

die ehrenwerte Bourgeoisie herrschte, oppositionell. Durch einen kühnen Vorstoß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 140


eroberten die Sektionen sie am 10. August 1792. Von nun an bildete die revolutionäre<br />

Kommune einen Gegensatz zur Gesetzgebenden Versammlung und später zum Konvent,<br />

die beide hinter dem Gang und den Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zurückblieben, die die<br />

Ereignisse registrierten, aber nicht machten, weil sie nicht die Energie, die Kühnheit, die<br />

Einmütigkeit jener neuen Klasse besaßen, die inzwischen aus den Tiefen <strong>der</strong> Pariser<br />

Distrikte aufgestiegen war und einen Stützpunkt in den zurückgebhebensten Dörfern<br />

gefunden hatte. In gleicher Weise, wie die Sektionen die Kommune eroberten, eroberte<br />

die Kommune durch einen neuen Aufstand den Konvent. Jede dieser Etappen war von<br />

<strong>der</strong> scharf umrissenen Doppelhertschaft charakterisiert, <strong>der</strong>en beide Flügel bestrebt<br />

waren, eine einheitliche und starke Macht aufzurichten, <strong>der</strong> rechte Flügel auf dem Wege<br />

<strong>der</strong> Verteidigung, <strong>der</strong> linke auf dem des Angriffes. Das sowohl die <strong>Revolution</strong> wie die<br />

Konterrevolution kennzeichnende Bedürfnis nach einer Diktatur entspringt den unerträglichen<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Ihr Übergang von einer Form zur an<strong>der</strong>en<br />

wird auf dem Wege des Bürgerkrieges vollzogen. Große <strong>Revolution</strong>setappen, das heißt<br />

Verschiebungen <strong>der</strong> Macht an neue Klassen o<strong>der</strong> Schichten, fallen dabei ganz und gar<br />

nicht zusammen mit den Zyklen <strong>der</strong> Vertretungskörperschaften, die hinter <strong>der</strong> Dynamik<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> einherschreiten als verspätete Schatten. Zwar verschmilzt schließlich die<br />

revolutionäre Diktatur <strong>der</strong> Sansculotten mit <strong>der</strong> Diktatur des Konvents - aber welches? -,<br />

des durch die Hand des Terrors von den Girondisten, die noch gestern ihn beherrschten,<br />

gesäuberten, beschnittenen, <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> neuen sozialen Kraft angepaßten<br />

Konvents. So erhebt sich über die Stufen <strong>der</strong> Doppelherrschaft im Laufe von vier Jahren<br />

die Französische <strong>Revolution</strong> zu ihrem Höhepunkt. Mit dem 9. Thermidor beginnt sie<br />

wie<strong>der</strong>um über die Stufen <strong>der</strong> Doppelherrschaft hinabzusteigen. Und wie<strong>der</strong> geht <strong>der</strong><br />

Bürgerkrieg dem Abstieg voran, wie er früner den Aufstieg begleitete. So sucht die neue<br />

Gesellschaft ein neues Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte.<br />

Die russische Bourgeoisie, die gegen die Rasputinsche Bürokrade kämpfte und gleichzeitig<br />

mit ihr zusammenarbeitete, hatte im Kriege ihre politischen Positionen sehr stark<br />

gefestigt. Indem sie die Nie<strong>der</strong>lagen des Zarismus ausbeutete, konzentrierte sie mittels<br />

<strong>der</strong> Semstwo- und Stadtverbände und <strong>der</strong> Kriegsindustriekomitees eine bedeutende<br />

Macht in ihren Händen, verfügte selbständig über gewaltige Staatsmittel und stellte im<br />

Grunde genommen eine Parallelregierung dar. Während des Krieges beklagten sich die<br />

zaristischen Minister, Fürst Lwow versorge die Armee, ernähre und heile sie und errichte<br />

sogar Friseurgeschäfte für Soldaten. »Man muß damit Schluß machen o<strong>der</strong> aber die<br />

ganze Macht in seine Hände geben«, sagte schon 1915 Minister Kriwoschejin. Er hat<br />

damals noch nicht geahnt, daß Fürst Lwow nach an<strong>der</strong>thalb Jahren tatsächlich »die ganze<br />

Macht« bekommen würde, nur nicht aus den Händen des Zaren, son<strong>der</strong>n aus denen<br />

Kereuskis, Tschcheidses und Suchanows. Doch am Tage nachdem dies geschehen war,<br />

entstand eine neue Doppelherrschaft: neben <strong>der</strong> gestrigen liberalen Halbregierung, heute<br />

formell gesetzlichen, erwuchs die inoffizielle, aber um so realere Regierung <strong>der</strong> werktätigen<br />

Massen in Gestalt <strong>der</strong> Sowjets. Mit diesem Augenblick beginnt die Russische<br />

<strong>Revolution</strong> ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung zu werden.<br />

Worin besteht nun die Eigenart <strong>der</strong> Doppelherrschaft <strong>der</strong> Februarrevolution? Bei den<br />

Ereignissen des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bildete die Doppelherrschaft jedesmal eine<br />

natürliche Kampfetappe, die sich den Beteiligten durch das zeitliche Kräfteverhältnis<br />

aufdrängte, wobei jede <strong>der</strong> Parteien bestrebt war, die Doppelherrschaft durch die eigene<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 141


Einzelherrschaft zu ersetzen. In <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1917 sehen wir, wie die offizielle<br />

Demokratie die Doppelherrschaft bewußt und vorbedacht schafft und sich mit allen<br />

Kräften dagegen stemmt, die Macht allein zu übernehmen. Die Doppelherrschaft entsteht<br />

- so mag es auf den ersten Blick scheinen - nicht als Resultat des Kampfes <strong>der</strong> Klassen<br />

um die Macht, son<strong>der</strong>n als Resultat des freiwilligen "Abtretens" <strong>der</strong> Macht durch die eine<br />

Klasse an die an<strong>der</strong>e. Insofern die russische "Demokratie" einen Ausweg aus <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />

suchte, sah sie ihn im eigenen Rücktritt von <strong>der</strong> Macht. Ebendieses nannten<br />

wir das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />

Eine gewisse Analogie kann man eventuell in dem Verhalten <strong>der</strong> deutschen Bourgeoisie<br />

in bezug auf die Monarchie im Jahre 1848 finden. Doch ist diese Analogie nicht<br />

vollständig. Die deutsche Bourgeoisie wollte zwar um jeden Preis auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

einer Verständigung die Macht mit <strong>der</strong> Monarchie teilen, doch war sie nicht restlos im<br />

Besitze <strong>der</strong> Macht und wollte sie auch keinesfalls völlig <strong>der</strong> Monarchie abtreten. »Die<br />

preußische Bourgeoisie war nomineller Besitzer <strong>der</strong> Herrschaft, sie zweifelte keinen<br />

Augenblick, daß die Mächte des alten Staates ohne Hinterhalt sich ihr zu Gebote gestellt<br />

und in ebenso viele devote Ableger ihrer eigenen Allmacht verwandelt hätten« (Marx<br />

und Engels). Die russische Demokratie von 1917, die seit dem ersten Augenblick des<br />

Umsturzes die ganze Macht innehatte, strebte nicht einfach danach, sie mit <strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />

zu teilen, son<strong>der</strong>n dieser den Staat vollständig auszuliefern. Das könnte wohl bedeuten,<br />

daß die offizielle russische Demokratie im ersten Viertel des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Zeit<br />

gehabt hatte, sich politisch stärker zu zersetzen als die deutsche liberale Bourgeoisie <strong>der</strong><br />

Mitte des 19. Es ist dies auch völlig gesetzmäßig, denn es bildet die Kehrseite jenes<br />

Aufstieges, den in diesen Jahrzehnten das Proletariat erlebte, das den Platz <strong>der</strong> Handwerker<br />

Cromwells und <strong>der</strong> Sansculotten Robespierres eingenommen hat.<br />

Betrachtet man aber die Sache tiefer, so zeigt die Doppelherrschaft <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung und des Exekutivkomitees den Charakter einer bjoßen Wi<strong>der</strong>spiegelung.<br />

Prätendent auf die neue Macht konnte nur das Proletariat sein. Zaghaft sich auf die<br />

Arbeiter und Soldaten stützend, waren die Versöhnler gezwungen, <strong>der</strong> doppelten<br />

Buchführung <strong>der</strong> Zaren und <strong>der</strong> Propheten Beihilfe zu leisten. Die Doppelherrschaft <strong>der</strong><br />

Liberalen und Demokraten spiegelte nur die vorläufig unterirdische Doppelherrschaft <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie und des Proletariats wi<strong>der</strong>. Wenn die Bolschewiki die Versöhnler von <strong>der</strong><br />

Spitze <strong>der</strong> Sowjets verdrängen werden - was nach einigen Monaten geschieht -, dann<br />

wird die unterirdische Doppelherrschaft nach außen dringen, und dies wird <strong>der</strong> Vorabend<br />

<strong>der</strong> Oktoberrevolution sein. Bis zu diesem Augenblick wird die <strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> Welt<br />

politischer Wi<strong>der</strong>spiegelungen leben. Sich durch die Kannegießerei <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Intelligenz brechend, verwandelte sich die Doppelherrschaft aus einer Etappe des<br />

Klassenkampfes in eine regulative Idee. Gerade das stellte sie ins Zentrum <strong>der</strong> theoretischen<br />

Diskussion. Nichts geht verloren. Der wi<strong>der</strong>spiegelnde Charakter <strong>der</strong> Februar-<br />

Doppelherrschaft erlaubte uns, jene Etappen <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> besser zu verstehen, in<br />

denen die Doppelherrschaft als vollblütige Episode im Kampfe zweier Regime<br />

hervortritt. So ermöglicht das reflektierte und kraftlose Licht des Mondes, wichtige<br />

Schlußfolgerungen über das Sonnenlicht zu machen.<br />

In <strong>der</strong> unermeßlich höheren Reife des <strong>russischen</strong> Proletariats bestand eben, verglichen<br />

mit den Stadtmassen <strong>der</strong> alten <strong>Revolution</strong>en, die grundlegende Eigenart <strong>der</strong> Russischen<br />

<strong>Revolution</strong>, die anfangs zum Paradoxon einer halb gespenstischen Doppelherrschaft<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 142


geführt und dann den Abschluß <strong>der</strong> realen Doppelherrschaft zugunsten <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

verhin<strong>der</strong>t hat. Denn die Frage stand so: entwe<strong>der</strong> erobert die Bourgeoisie tatsächlich den<br />

alten Staatsapparat und erneuert ihn für ihre eigenen Ziele, wobei die Sowjets verschwinden<br />

müssen, o<strong>der</strong> die Sowjets werden zur Grundlage eines neuen Staates, wobei sie nicht<br />

nur den alten Apparat, son<strong>der</strong>n auch die Herrschaft jener Klassen, denen er gedient,<br />

liquidieren. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre hielten den Kurs auf die erste<br />

Lösung. Die Bolschewiki auf die zweite. Die unterdrückten Klassen, denen es, nach<br />

Marats Worten, in <strong>der</strong> Vergangenheit an Wissen, Fertigkeit und Führung gefehlt hat, um<br />

das von ihnen begonnene Werk zu Ende zu bringen, waren in <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong><br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit dem einen, dem an<strong>der</strong>en und dem dritten ausgerüstet. Es siegten<br />

die Bolschewiki.<br />

Ein Jahr nach ihrem Siege wie<strong>der</strong>holte sich die gleiche Frage, bei einem an<strong>der</strong>en<br />

Kräfteverhältnis, in Deutschland. Die Sozialdemokratie hielt den Kurs auf Errichtung <strong>der</strong><br />

demokratischen Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie und Liquidierung <strong>der</strong> Sowjets. Luxemburg und<br />

Liebknecht nahmen den Weg auf die Diktatur <strong>der</strong> Sowjets. Es siegten die Sozialdemokraten.<br />

Hilferding und Kautsky m Deutschland, Max Adler in Österreich schlugen vor,<br />

Demokratie und Sowjetsystem zu »kombinieren« und die Arbeitersowjets in die Verfassung<br />

einzubeziehen. Das hätte bedeutet, den potentiellen o<strong>der</strong> offenen Bürgerkrieg in<br />

einen Bestandteil des Staatsregimes zu verwandeln. Eine kuriosere Utopie läßt sich nicht<br />

ausdenken. Zu ihrer einzigen Rechtfertigung dient in deutschen Landen vielleicht die alte<br />

Tradition: schon die Württemberger Demokraten von 1848 wollten eine Republik mit<br />

einem Herzog an <strong>der</strong> Spitze.<br />

Wi<strong>der</strong>spricht die Erscheinung <strong>der</strong> Doppelherrschaft, bisher nicht genügend bewertet,<br />

<strong>der</strong> Marxschen Staatstheorie, die die Regierung als das Exekutivkomitee <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klasse ansieht? Das wäre dasselbe, als wollte man sagen: wi<strong>der</strong>spricht das Schwanken<br />

<strong>der</strong> Preise unter dem Einfluß von Nachfrage und Angebot <strong>der</strong> Werttheorie? Wi<strong>der</strong>legt<br />

die Selbstaufopferung des Weibchens, das sein Junges verteidigt, die Theorie vom<br />

Kampf ums Dasein? Nein, in diesen Erscheinungen finden wir nur eine komplizierte<br />

Kreuzung <strong>der</strong> gleichen Gesetze. Wenn <strong>der</strong> Staat die Organisation <strong>der</strong> Klassenherrschaft<br />

ist, die <strong>Revolution</strong> aber die Ablösung <strong>der</strong> herrschenden Klasse, so muß <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong><br />

Macht von <strong>der</strong> einen Klasse zur an<strong>der</strong>en notwendigerweise wi<strong>der</strong>spruchsvolle Staatszustände<br />

schaffen, vor allem in Form <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Das Verhältnis <strong>der</strong> Klassenkräfte<br />

ist keine mathematische Größe, die sich von vornherein berechnen läßt. Wenn das<br />

alte Regime aus dem Gleichgewicht geschleu<strong>der</strong>t ist, kann das neue Verhältnis <strong>der</strong> Kräfte<br />

sich nur als Resultat ihrer gegenseitigen Nachprüfung im Kampf ergeben. Das eben ist<br />

die <strong>Revolution</strong>.<br />

Es könnte scheinen, daß diese theoretische Exkursion uns von den Ereignissen des<br />

Jahres 1917 abgelenkt hat. In Wirklichkeit führt sie uns zu ihrem innersten Kern. Gerade<br />

um das Problem <strong>der</strong> Doppelherrschaft drehte sich <strong>der</strong> dramatische Kampf <strong>der</strong> Parteien<br />

und Klassen. Nur von <strong>der</strong> theoretischen Warte herab kann man sie ganz übersehen und<br />

richtig begreifen.<br />

Das Exekutivkomitee<br />

Was am 27. Februar jm Taurischen Palais unter dem Namen Exekutivkomitee des<br />

Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten entstanden war, hatte im wesentlichen wenig mit diesem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 143


Namen gemein. Der Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten von 1905, <strong>der</strong> Stammvater des<br />

Systems, war aus dem Generalstreik hervorgegangen. Er repräsentierte unmittelbar die<br />

Massen im Kampfe. Die Streikführer wurden Deputierte des Sowjets. Die Auswahl des<br />

Personenbestandes vollzog sich im Feuer. Das führende Organ wurde zur weiteren<br />

Leitung des Kampfes vom Sowjet gewählt. Gerade das Exekutivkomitee von 1905 war<br />

es gewesen, das den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung gestellt hatte.<br />

Die Februarrevolution siegte, dank dem Aufstand <strong>der</strong> Regimenter, bevor noch die<br />

Arbeiter Sowjets geschaffen hatten. Das Exekutivkomitee bildete sich eigenmächtig vor<br />

dem Sowjet, unabhängig von den Betrieben und Regimentern, nach dem Siege <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Wir sehen hier die klassische Initiative <strong>der</strong> Radikalen, die beim revolutionären<br />

Kampfe abseits stehen, aber bereit sind, seine Früchte zu ernten. Die wirklichen<br />

Arbeiterführer verließen die Straßen noch nicht, sie entwaffneten die einen, bewaffneten<br />

die an<strong>der</strong>en, befestigten den Sieg. Die Weiterblickenden unter ihnen waren durch die<br />

Nachrichten von <strong>der</strong> Entstehung irgendeines Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten im Taurischen<br />

Palais sogleich beunruhigt. Wie die liberale Bourgeoisie in Erwartung <strong>der</strong> Palastrevolution,<br />

die irgendwer vollziehen sollte, im Herbst 1916 eine Reserveregierung vorbereitet<br />

hatte, um sie im Falle des Gelingens dem neuen Zaren aufzudrängen, so hatten<br />

auch die radikalen Intellektuellen im Augenblick des Februarsieges ihre Reserve-Unterregierung<br />

gebildet. Und da sie alle, wenigstens in <strong>der</strong> Vergangenheit, mit <strong>der</strong> Arbeiterbewegung<br />

in Verbindung gewesen und mit <strong>der</strong>en Traditionen sich zu decken geneigt<br />

waren, gaben sie ihrem Kinde den Namen Exekutivkomitee des Sowjets. Das war eine<br />

jener halb beabsichtigten Fälschungen, an denen die <strong>Geschichte</strong>, darunter auch die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Volksaufstände, reich ist. Bei einer revolutionären Wendung <strong>der</strong> Ereignisse<br />

und einem Riß in <strong>der</strong> Nachfolge greifen jene "gebildeten" Schichten, denen es<br />

bevorsteht, sich <strong>der</strong> Macht anzuschließen, willig zu Namen und Symbolen, die mit den<br />

heroischen Erinnerungen <strong>der</strong> Massen verbunden sind. Worte verschleiern oft das Wesen<br />

<strong>der</strong> Dinge, beson<strong>der</strong>s, wenn dies die Interessen einflußreicher Schichten erfor<strong>der</strong>n. Die<br />

riesige Autorität, des Exekutivkomitees stützte sich schon am Tage seiner Entstehung auf<br />

seine angebliche Nachfolge des Sowjets von 1905. Das von <strong>der</strong> ersten chaotischen<br />

Versammlung des Sowjets bestätigte Komitee übte dann entscheidenden Einfluß sowohl<br />

auf die Zusammensetzung des Sowjets wie auf dessen Politik aus. Dieser Einfluß war um<br />

so konservativer, als es eine natürliche Auslese revolutionärer Vertreter, die dureb die<br />

glüliende Atmosphäre des Kampies gewährleistet wird, nicht mehr gab. Der Aufstand lag<br />

bereits im Rücken, alle berauschten sich am Siege, machten Anstalten, sich auf neue<br />

Weise einzurichten, die Seelen waren weich, teils auch die Köpfe. Es waren Monate<br />

neuer Konflikte und Kämpfe nötig, unter neuen Bedingungen und <strong>der</strong> sich daraus<br />

ergebenden Menschenumschichtung, damit die Sowjets aus Organen, die den Sieg<br />

nachträglich gekrönt hatten, zu wahrhaften Organen des Kampfes und <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

eines neuen Aufstandes wurden. Wir heben diese Seite <strong>der</strong> Sache um so mehr hervor, als<br />

sie bis jetzt völlig im Schatten geblieben ist.<br />

Jedoch nicht nur die Entstehungsbedingungen des Exekutivkomitees und des Sowjets<br />

bestimmten <strong>der</strong>en gemäßigten und versöhnlerischen Charakter; es waren tiefere und<br />

nachhaltigere Ursachen vorhanden, die sich in gleicher Richtung auswirkten.<br />

Soldaten gab es in Petrograd über 150.000 Mann. Arbeiter und Arbeiterinnen aller<br />

Kategorien mindestens die vierfache Zahl. Und trotzdem kamen auf zwei Arbeiterdele-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 144


gierte im Sowjet fünf Soldatendelegierte. Die Normen <strong>der</strong> Vertretung hatten einen sehr<br />

dehnbaren Charakter, man kam den Soldaten auf jede Weise entgegen. Während die<br />

Arbeiter einen Vertreter auf tausend wählten, schickten kleinere Truppenteile häufig<br />

zwei. Das graue Soldatenbuch wurde <strong>der</strong> Grundton <strong>der</strong> Sowjets.<br />

Aber auch die Zivilisten waren lange nicht alle durch Arbeiter gewählt worden. Nicht<br />

wenige Menschen gerieten auf persönliche Einladung hin, durch Protektion o<strong>der</strong> einfach<br />

durch ihre Verschlagenheit in den Sowjet, radikale Advokaten und Ärzte, Studenten,<br />

Journalisten, die verschiedene problematische Gruppen und am häufigsten den eigenen<br />

Ehrgeiz vertraten. Diese offenbare Verfälschung des Charakters des Sowjets wurde von<br />

den Leitern gerne geduldet, die nicht abgeneigt waren, die allzu herbe Essenz <strong>der</strong> Fabriken<br />

und Kasernen mit dem lauwarmen Wässerchen des gebildeten Spießertums zu<br />

verdünnen. Viele dieser zufällig Daherkommenden, Abenteuersüchtigen, Usurpatoren<br />

und an die Tribüne gewöhnten Schwätzer verdrängten mit <strong>der</strong> Autorität ihrer Ellenbogen<br />

für lange die schweigsamen Arbeiter und die unentschlossenen Soldaten.<br />

Wenn sich die Sache schon in Petrograd so verhielt, kann man sich leicht vorstellen,<br />

wie es in <strong>der</strong> Provinz aussah, wo <strong>der</strong> Sieg ganz ohne Kampf gekommen war. Das ganze<br />

Land wimmelte von Soldaten. Die Garnisonen von Kiew, Helsingfors und Tiffis standen<br />

zahlenmäßig hinter Petrograd nicht zurück, in Saratow, Samara, Tambow, Omsk standen<br />

je 70.000 bis 80.000 Soldaten, in Jaroslaw, Jekaterinoslaw, Jekaterinburg je 60.000, in<br />

einer ganzen Reihe von Städten je 50.000, 40.000 und 30.000. Die Sowjetvertretung war<br />

in den verschiedenen Orten verschieden aufgebaut, wies aber überall den Soldaten eine<br />

privilegierte Stellung zu. Politisch wurde dies hervorgerufen durch das Bestreben <strong>der</strong><br />

Arbeiter selbst, den Soldaten so weit wie möglich entgegenzukommen. Ebenso gern<br />

erwiesen die Führer den Offizieren Entgegenkommen. Außer <strong>der</strong> bedeutenden Zahl <strong>der</strong><br />

Leumants und Fähntiche, die in <strong>der</strong> ersten Zeit von Soldaten gewählt wurden, bewilligte<br />

man häufig, vor allem in <strong>der</strong> Provinz, dem Kommandobestand beson<strong>der</strong>e Vertreter. Im<br />

Resultat hatte das Militär in vielen Sowjets die überwältigende Mehrheit. Die Soldatenmassen,<br />

die noch keine Zeit gehabt hatten, sich eine politische Physiognomle<br />

anzueignen, bestimmten durch ihre Vertreter die Physiognomle <strong>der</strong> Sowjets.<br />

Jede Vertretung verbirgt ein Element des Mißverständnisses in sich. Es ist beson<strong>der</strong>s<br />

groß am Tage nach einem Umsturz. Als Deputierte politisch unbeholfrner Soldaten<br />

figurierten in <strong>der</strong> ersten Zeit den Soldaten und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> völlig fremde Personen,<br />

allerhand Intellektuelle und Halbintellektuelle, die sich in den Hinterlandsgarnisonen<br />

versteckt hielten und deshalb als extreme Patrioten auftraten. So entstand das Auseinan<strong>der</strong>klaffen<br />

<strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Kaserne und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Sowjets. Der Offtzier Stankewitsch,<br />

dem die Soldaten seines Bataillons nach dem Umsturze finster und mißtrauisch begegneten,<br />

konnte in <strong>der</strong> Soldatensektion erfolgreich zum akuten Thema, über Disziplin,<br />

sprechen. »Warum sind die Stimmungen im Sowjet«, fragte er sich, »mil<strong>der</strong> und angenehmer<br />

als beim Bataillon?« Diese naive Ahnungslosigkeit beweist zum Überfluß, wie<br />

schwer es für die wahren Gefühle <strong>der</strong> unteren Schichten ist, sich einen Weg nach oben zu<br />

bahnen.<br />

Nichtsdestoweniger begannen die Meetings <strong>der</strong> Soldaten und Arbeiter schon seit dem<br />

3. März vom Sowjet zu for<strong>der</strong>n, unverzüglich die Provisorische Regierung <strong>der</strong> liberalen<br />

Bourgeoisie zu beseitigen und die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Die Initiative<br />

gehörte auch hier dem Wyborger Bezirk. Konnte es auch eine For<strong>der</strong>ung geben, die den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 145


Massen verständlicher und näher gewesen wäre? Aber diese Agitation brach bald ab:<br />

nicht nur deshalb, weil die Vaterlandsverteidiger sie scharf zurückwiesen; schlimmer<br />

war, daß die bolschewistische Führung in <strong>der</strong> ersten Märzhälfte sich faktisch vor dem<br />

Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft beugte. Außer den Bolschewiki aber konnte niemand die<br />

Machtfrage auf die Spitze treiben. Die Wyborger Führer mußten den Rückzug antreten.<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter schenkten indes <strong>der</strong> neuen Regierung nicht eine Stunde<br />

Vertrauen und betrachteten sie nicht als die ihre. Doch horchten sie wacham auf die<br />

Soldaten, bemüht, sich zu ihnen nicht zu schroff in Wi<strong>der</strong>spruch zu stellen. Die Soldaten<br />

dagegen, die eben die ersten Sätze <strong>der</strong> Politik silbenweise entzifferten, trauten zwar nach<br />

Bauernart den Herren nicht, horchten aber aufmerksam auf ihre Vertreter, die ihrerseits<br />

ehrerbietig auf die autoritativen Häupter des Exekutivkomitees horchten; was die letzteren<br />

betrifft, so taten sie nichts an<strong>der</strong>es, als auf den Puls <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie zu<br />

horchen. Auf diesem Horchen von unten nach oben hielt sich eben alles - bis auf<br />

weiteres.<br />

Doch die Stimmung <strong>der</strong> unteren Schichten brachen nach außen, und die künstlich<br />

abgesetzte Machtfrage drängte sich jedesmal vor, wenn auch in maskierter Form. »Die<br />

Soldaten wissen nicht, auf wen zu hören ist«, klagten Bezirke und Provinz, auf diese<br />

Weise die Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> Doppelherrschaft dem Exekutivkomitee bekanntgebend.<br />

Die Delegationen <strong>der</strong> Baltischen und <strong>der</strong> Schwarzmeer-Flotte erklärten am 16.<br />

März, sie seien bereit, <strong>der</strong> Provisorischen Regierung in dem Maße Rechnung zu tragen,<br />

in dem diese mit dem Exekutivkomitee zusammengehen werde. Mit an<strong>der</strong>en Worten, sie<br />

hatten vor, mit ihr überhaupt nicht zu rechnen. Je weiter, um so beharrlicher klingt diese<br />

Note. »Armee und Bevölkerung haben nur den Anordnungen des Sowjets Folge zu<br />

leisten«, bestimmt das 172. Reserveregiment und formuliert sogleich das umgekehrte<br />

Theorem: »Befehlen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die den Beschlüssen des Sowjets<br />

wi<strong>der</strong>sprechen, ist nicht Folge zu leisten.« Mit gemischten Gefühlen von Befriedigung<br />

und Besorgnis sanktionierte das Exekutivkomitee diesen Zustand. Mit Zähneknirschen<br />

duldete ihn die Regierung. Beiden blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig.<br />

Schon Anfang März entstehen Sowjets in allen wichtigen Städten und Industriezentren.<br />

Von dort aus verbreiten sie sich während <strong>der</strong> nächsten Wochen über das ganze Land. Das<br />

Dorf beginnen sie erst im April-Mai zu erfassen. Im Namen <strong>der</strong> Bauernschaft spricht<br />

anfangs hauptsächlich die Armee.<br />

Das Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets erhielt natürlicherweise gesamtstaatliche<br />

Bedeutung. Die übrigen Sowjets richteten sich nach <strong>der</strong> Hauptstadt und faßten einer nach<br />

dem an<strong>der</strong>n Beschlüsse über die bedingte Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung.<br />

Obwohl sich in den ersten Monaten die Beziehungen zwischen dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet<br />

und denen <strong>der</strong> Provinz reibungslos herausbildeten, ohne Konflikte und ernstliche<br />

Mißverständnisse, ergab sich die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen Organisation<br />

aus <strong>der</strong> ganzen Lage. Einen Monat nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung des Selbstherrschertums<br />

wurde die erste Konfetenz <strong>der</strong> Sowjets einberufen, sie war unvollständig und in ihrer<br />

Zusammensetzung einseitig. Obwohl von den 185 vertretenen Organisationen zwei<br />

Drittel den lokalen Sowjets gehörten, waren es doch vorwiegend Soldatensowjets;<br />

zusammen mit den Vertretern <strong>der</strong> Frontorganisationen hatten die Delegierten <strong>der</strong> Armee,<br />

hauptsächlich Offiziere, die erdrückende Mehrheit. Es ertönten Reden vom Krieg bis<br />

zum siegreichen Ende und Zurechtweisungen an die Adresse <strong>der</strong> Bolschewiki, trotz<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 146


<strong>der</strong>en mehr als maßvollem Benehmen. Die Konferenz ergänzte das Petrogra<strong>der</strong> Exekutivkomitee<br />

durch 16 konservative Provinzler und legte so seinen gesamtstaatlichen Charakter<br />

fest.<br />

Der rechte Flügel war noch mehr gefestigt worden. Von nun an schreckte man die<br />

Unzufriedenen immer häufiger mit <strong>der</strong> Provinz. Die Bestimmung über die Regelung <strong>der</strong><br />

Zusammensetzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, angenommen noch am 14. März, wurde fast<br />

nicht durchgeführt. Beschlüsse würden ja doch nicht vom lokalen Sowjet gefaßt, son<strong>der</strong>n<br />

vom All<strong>russischen</strong> Exekutivkomitee. Die offiziellen Führer nahmen eine fast unnahbare<br />

Position ein. Wichtigere Beschlüsse wurden im Exekutivkomitee, richtiger in seinem<br />

regierenden Kern getroffen, nach vorheriger Übereinkunft mit dem Kern <strong>der</strong> Regierung.<br />

Der Sowjet stand beiseite. Man behandelte ihn wie ein Meeting: »Nicht dort, nicht in den<br />

Vollversammlungen wird die Politik gemacht, und alle diese "Plenums" haben nicht die<br />

geringste praktische Bedeutung« (Suchanow). Die selbstzufriedenen Vollstrecker <strong>der</strong><br />

Geschicke waren <strong>der</strong> Ansicht, die Sowjets hätten, nachdem sie ihnen die Führung anvertraut,<br />

eigentlich ihre Rolle erfüllt. Die nächste Zukunft wird zeigen, daß dem nicht sb<br />

war. Die Masse kann sehr geduldig sein, aber sie ist keineswegs Lehm, den man nach<br />

Belieben kneten kann. Und in revolutionären Epochen lernt sie schnell. Darin besteht<br />

eben die wesentliche Stärke <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Um die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse besser zu verstehen, muß man bei <strong>der</strong><br />

Charakteristik jener zwei Parteien verweilen, die seit dem Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> einen<br />

engen Block geschlossen hatten, in den Sowjets, den demokratischen Munizipalitäten,<br />

auf den Kongressen <strong>der</strong> sogenannten revolutionären Demokratie herrschten und sogar<br />

ihre, allerdings mehr und mehr dahinschmelzende Mehrheit hinüberretteten bis zur<br />

Konstituierenden Versammlung, die zum letzten Abglanz ihrer entschwundenen Macht<br />

wurde, wie die Abendröte aufeinem Berggipfel noch leuchtet von <strong>der</strong> untergegangenen<br />

Sonne.<br />

Kam die russische Bourgeoisie zu spät, um demokratisch zu sein, so wollte sich die<br />

russische Demokratie aus demselben Grunde als sozialistisch betrachten. Die demokratische<br />

Ideologie hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts hoffnungslos verausgabt. An<br />

<strong>der</strong> Grenze des 20. war für die russische radikale Intelligenz, wollte sie Zugang zu den<br />

Massen finden, eine sozialistische Färbung notwendig. Das ist die allgemeine historische<br />

Ursache, die zur Entstehung <strong>der</strong> Mittelparteien führte: <strong>der</strong> Menschewiki und <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre.<br />

Jede von ihnen hatte indes ihre eigene Genealogie und ihre eigene Ideologie.<br />

Die Ansichten <strong>der</strong> Menschewiki erwuchsen auf marxistischer Basis. Infolge <strong>der</strong> nämlichen<br />

historischen Verspätung Rußlands wurde hier <strong>der</strong> Marxismus anfänglich nicht so<br />

sehr Kritik <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft wie Begründung <strong>der</strong> Unvermeidlichkeit <strong>der</strong><br />

bürgerlichen Entwicklung des Landes. Die <strong>Geschichte</strong> hat, als sie es bräuchte, die<br />

kastrierte Theorie <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> geschickt dazu benutzt, um mit ihrer<br />

Hilfe breite Kreise muffiger Narodniki-Intellektueller in bürgerlichem Geiste zu europäisieren.<br />

Den Menschewiki wurde in diesem Prozeß ein großer Platz zugewiesen. Den<br />

linken Flügel <strong>der</strong> bürgerlichen Intelligenz bildend, verbanden sie diese mit den gemäßigsten<br />

Zwischenschichten jener Arbeiter, die zur legalen Arbeit in <strong>der</strong> Duma und in den<br />

Gewerkschaften neigten.<br />

Die Sozialrevolutionäre hingegen bekämpften, ihm teilweise erliegend, theoretisch den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 147


Marxismus. Sie hielten sich für die Partei, die das Bündnis zwischen Intelligenz, Arbeitern<br />

und Bauern verwirklichte, selbstverständlich unter Leitung <strong>der</strong> kritischen Vernunft.<br />

Auf ökonomischem Gebiet stellten ihre Ideen einen unverdaulichen Mischmasch<br />

verschiedener historischer Schichtungen dar, die die Gegensätze in den Daseinsbedingungcn<br />

<strong>der</strong> Bauernschaften und die des in schneller kapitalistischer Entwicklung befindlichen<br />

Landes wi<strong>der</strong>spiegelten. Die zukünftige <strong>Revolution</strong> dachten sich die<br />

Sozialrevolutionäre we<strong>der</strong> als bürgerlich noch als sozialistisch, son<strong>der</strong>n als "demokratisch":<br />

den sozialen Inhalt ersetzten sie durch eine politische Formel. Sie zeichneten sich<br />

auf diese Weise einen Weg vor zwischen Bourgeoisie und Proletariat, folglich auch die<br />

Rolle eines Schiedsrichters über beide. Nach dem Februar konnte es scheinen, die Sozialrevolutionäre<br />

seien einer solchen Stellung sehr nahe gekommen.<br />

Noch von <strong>der</strong> ersten Revolunon her hatten sie Wurzeln in <strong>der</strong> Bauernschaft. In den<br />

ersten Monaten des Jahres 1917 machte sieh die gesamte Dorfintelligenz die traditionelle<br />

Formel <strong>der</strong> Narodniki zu eigen: "Land und Freiheit." Zum Unterschiede von den<br />

Menschewiki, die stets eine reine Stadtpartei geblieben waren, schienen die Sozialrevolutionäre<br />

im Dorf eine mächtige Stütze gefunden zu haben. Noch mehr, sie hatten auch in<br />

<strong>der</strong> Stadt die Vorherrschaft: sowohl in den Sowjets durch die Soldatensektionen, wie in<br />

den ersten demokratischen Munizipalitäten, wo sie die absolute Stimmenrnehrheit<br />

besaßen. Die Macht <strong>der</strong> Partei schien unbegrenzt. In Wirklichkeit war es nur eine politische<br />

Verirrung. Eine Partei, für die alle stimmen, außer jener Min<strong>der</strong>heit, welche weiß,<br />

für wen sie zu stimmen hat, ist keine Partei, wie die Sprache, in <strong>der</strong> die Säuglinge aller<br />

Län<strong>der</strong> sprechen, keine nationale Sprache ist. Die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre trat auf<br />

als die feierliche Bezeichnung für all das, was an <strong>der</strong> Februarrev~ lution unreif,<br />

ungeformt und wirr war. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> vor-revolutionären Vergangenheit keine<br />

genügenden Gründe geerbt hatte, für Kadetten o<strong>der</strong> Bolschewiki zu stimmen, stimmte für<br />

die Sozialrevolutionäre. Doch die Kadetten standen im geschlossenen Lager <strong>der</strong> Besitzenden.<br />

Die Bolschewiki aber waren noch gering an Zahl, unverständlich und sogar<br />

furchterweckend. Die Wahl <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre bedeutete die Wahl <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

im großen und ganzen und verpflichtete zu nichts. In den Städten bedeutete sie das<br />

Bestreben <strong>der</strong> Soldaten, sich <strong>der</strong> Partei anzunähern, die zu den Bauern steht, das Bestreben<br />

des rückständigen Teiles <strong>der</strong> Arbeiter, sich näher an die Soldaten zu halten, das<br />

Bestreben des städtischen Kleinvolkes, sich von den Soldaten und Bauern nicht zu<br />

entfernen. In jener Periode war die Mitgliedskarte des Sozialrevolutionärs vorübergehend<br />

eine Anweisung auf das Recht, die Institutionen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu betreten, und behielt<br />

ihre Kraft bis zum Austausch gegen eine an<strong>der</strong>e Karte von ernsterem Charakter. Nicht zu<br />

Unrecht wurde von <strong>der</strong> großen Partei, die alles und alle erfaßte, gesagt, sie sei nur eine<br />

grandiose Null.<br />

Bereits seit <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> leiteten die Menschewiki die Notwendigkeit eines<br />

Bündnisses mit den Liberalen aus dem bürgerlichen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ab und<br />

stellten dieses Bündnis über die Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Bauernschaft, als einem<br />

unzuverlässigen Verbündeten. Die Bolschewiki dagegen bauten die ganze Perspektive<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf dem Bündnis von Proletariat und Bauernschaft gegen die liberale<br />

Bourgeoisie. Da die Sozialrevolutionäre sich vor allem für eine Bauernpartei hielten, so<br />

hätte man, könnte es scheinen, in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ein Bündnis zwischen Bolschewiki und<br />

Narodniki als Gegengewicht zum Bündnis <strong>der</strong> Mensehewiki und liberalen Bourgeoisie<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 148


erwarten dürfen. In Wirklichkeit sehen wir in <strong>der</strong> Februarrevolution die entgegengesetzte<br />

Gruppierung: Menschewiki und Sozialrevolu-tionäre treten in engstem Bündnis auf, das<br />

durch ihren Block mit <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie ergänzt wird. Die Bolschewiki sind auf<br />

dem offiziellen Feld <strong>der</strong> Politik völlig isoliert.<br />

Diese auf den ersten Blick unerklärliche Tatsache ist in Wirklichkeit ganz gesetzmäßig.<br />

Die Sozialrevolutionäre waren keinesfalls eine Bauernpartei, trotz <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Sympathien des Dorfes für ihre Parolen. Der grundlegende Kern <strong>der</strong> Partei, jener, <strong>der</strong><br />

ihre wirkliche Politik bestimmte und aus seiner Mitte Minister und Beamte stellte, war<br />

viel mehr mit den liberalen und radikalen Kreisen <strong>der</strong> Stadt verbunden als mit den rebellierenden<br />

Bauernmassen. Dieser führende Kern, <strong>der</strong> infolge des Zustroms von ehrgeizigen<br />

Märzsozialrevolutionären ungeheurer angeschwollen war, bekam Todesangst vor<br />

dem Schwung <strong>der</strong> Bauernbewegung, die unter sozialrevolutionären Parolen ging. Die<br />

neugebackenen Narodniki wünschten freilich den Bauern alles Gute, aber den roten<br />

Hahn wollten sie nicht. Der Schrecken <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre vor dem aufständischeh<br />

Dorf geht parallel mit dem Schrecken <strong>der</strong> Menschewiki vor dem Vorstoß des<br />

Proletariats; in seiner Gesamtheit war <strong>der</strong> demokratische Schreck ein treues Abbild <strong>der</strong><br />

vollkommen realen Gefahr, die die Bewegung <strong>der</strong> Unterdrückten den besitzenden<br />

Klassen brachte und diese zu einem einigen Lager bürgerlich-gutsherrlicher Reaktion<br />

zusammenschweißte. Der Block <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre mit <strong>der</strong> Regierung des Gutsbesitzers<br />

Lwow kennzeichnete ihren Bruch mit <strong>der</strong> Agrarrevolution, wie <strong>der</strong> Block <strong>der</strong><br />

Menschewiki mit den Industriellen und Bankiers vom Typ <strong>der</strong> Gntschkow<br />

Tereschtschenko und Konowalow <strong>der</strong>en Bruch mit <strong>der</strong> proletarischen Bewegung gleichkam.<br />

Das Bündnis zwischen Menschewiki und Sozialrevolutionären bedeutete unter<br />

diesen Umständen nicht die Zusammenarbeit von Proletariat und Bauernschaft, son<strong>der</strong>n<br />

eine Koalition von Parteien, die zugunsten eines Blocks mit den besitzenden Klassen mit<br />

Proletariat und Bauernschaft gebrochen hatten.<br />

Aus dem Dargelegten ist klar, wie fiktiv <strong>der</strong> Sozialismus <strong>der</strong> beiden demokratischen<br />

Parteien war; aber das heißt noch nicht, daß ihr Demokratismus echt war. Im Gegenteil,<br />

gerade die Saftlosigkeit des Demokratismus erfor<strong>der</strong>te eben die sozialistische Maskierung.<br />

Das russische Proletariat führte den Kampf um Demokratie in unversöhnlichem<br />

Antagonismus zur liberalen Bourgeoisie. Die demokratischen Parteien, die im Blocke mit<br />

<strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie waren, mußten unvermeidlich mit dem Proletariat in Konflikt<br />

geraten. Dies sind die sozialen Wurzeln des weiteren erbitterten Kampfes zwischen den<br />

Versöhnlern und den Bolschewiki.<br />

Führt man die oben umrissenen Prozesse auf ihre nackte Klassenmechanik zurück,<br />

<strong>der</strong>en sich die Teilnehmer und sogar die Führer <strong>der</strong> beiden Versöhnlerparteien allerdings<br />

nicht restlos bewußt wurden, so entsteht etwa folgende Verteilung <strong>der</strong> historischen<br />

Funktionen. Die liberale Bourgeoisie vermochte die Massen bereits nicht mehr zu gewinnen.<br />

Darum fürchtete sie die <strong>Revolution</strong>. Aber die <strong>Revolution</strong> war für die bürgerliche<br />

Entwicklung notwendig. Von <strong>der</strong> Großbourgeoisie trennten sich zwei Abteilungen ab,<br />

die aus <strong>der</strong>en jüngeren Brü<strong>der</strong>n und Söhnen bestanden. Die eine Abteilung begab sich zu<br />

den Arbeitern, die an<strong>der</strong>e zu den Bauern. Sie trachteten die einen wie die an<strong>der</strong>en an sich<br />

zu ziehen, indem sie aufrichtig und leidenschaftlich zu beweisen suchten, sie seien <strong>Sozialisten</strong>.<br />

Auf diese Weise gewannen sie tatsächlich bedeutenden Einfluß im Volke. Aber<br />

sehr bald waren die Auswirkungen ihrer Ideen ihnen über den Kopf gewachsen. Die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 149


Bourgeoisie empfand die tödliche Gefahr und gab das Alarmsignal. Die von ihr<br />

abgetrennten Abteilungen, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, beantworteten einmütig<br />

den Zuruf des Familienältesten. Über die alten Meinungsverschiedenheiten hinwegschreitend,<br />

stellten sie sich Schulter an Schulter auf und stürzten, den Massen den<br />

Rücken zugekehrt, <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft zu Hilfe.<br />

Sogar verglichen mit den Menschewiki verblüfften die Sozialrevolutionäre durch<br />

Schwammigkeit und Welkheit. Den Bolschewiki erschienen sie in allen wichtigen<br />

Augenblicken einfach als Kadetten dritter Sorte. Den Kadetten galten sie als drittklassige<br />

Bolschewiki. Den Platz <strong>der</strong> zweiten Sorte nahmen in beiden Fällen die Menschewiki ein.<br />

Die schwankende Basis und die Formlosigkeit <strong>der</strong> Ideologie führten zu einer entsprechenden<br />

Menschenauslese: alle sozialrevolutionären Führer trugen den Stempel <strong>der</strong><br />

Unfertigkeit, Oberflächlichkeit und sentimentalen Unzuverlässigkeit. Man kann ohne<br />

jede Übertreibung sagen: ein Durchschnittsbolschewik bewies in <strong>der</strong> Politik, das heißt in<br />

den Klassenbeziehungen, mehr Scharfsinn als die berühmtesten sozialrevolutionären<br />

Führer.<br />

Bar fester Kriterien, neigten die Sozialrevolutionäre zu ethischen Imperativen. Man<br />

braucht nicht zu beweisen, daß moralische Prätentionen sie nicht hin<strong>der</strong>ten, in <strong>der</strong> großen<br />

Politik kleine Gaunereien zu begehen, was im allgemeinen charakteristisch ist für Mittelparteien<br />

ohne feste Basis, klare Doktrin und wahren sittlichen Kern.<br />

Im Blocke <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre gehörte <strong>der</strong> führende Platz den<br />

Menschewiki, trotz <strong>der</strong> fraglos zahlenmäßigen Überlegenheit <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre. In<br />

dieser Rollenverteilung äußerte sich auf ihre Weise die Hegemonie <strong>der</strong> Stadt über das<br />

Dorf, das Übergewicht <strong>der</strong> städtischen Kleinbourgeoisie über die ländliche, schließlich<br />

die geistige Überlegenheit <strong>der</strong> "marxistischen" Intelligenz über die Intelligenz, die sich<br />

an die echtrussische Soziologie hielt und auf die Dürftigkeit <strong>der</strong> alten <strong>russischen</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> stolz war.<br />

In den ersten Wochen nach dem Umsturz hatte, wie wir wissen, keine <strong>der</strong> linken<br />

Parteien in <strong>der</strong> Hauptstadt ihren wirklichen Stab. Die allgemein anerkannten Führer <strong>der</strong><br />

sozialistischen Parteien befanden sich in <strong>der</strong> Emigration. Die Führer zweiten Ranges<br />

waren vom Fernen Osten nach dem Zentrum unterwegs. Das erzeugte bei den jeweiligen<br />

Häuptern eine behutsame und abwartende Stimmung, die sie näher aneinan<strong>der</strong>stieß.<br />

Nicht eine <strong>der</strong> leitenden Gruppen führte in jenen Wochen ihre Gedanken zu Ende. Der<br />

Kampf <strong>der</strong> Parteien im Sowjet trug einen äußerst friedlichen Charakter: es war, als ginge<br />

es um Schattierungen innerhalb ein und <strong>der</strong>selben "revolutionären Demokratie". Allerdings<br />

vollzog die Leitung <strong>der</strong> Sowjets mit <strong>der</strong> Ankunft Zeretellis aus <strong>der</strong> Verbannung<br />

(19. März) eine schroffe Wendung nach rechts, in die Richtung <strong>der</strong> direkten Verantwortung<br />

für die Regierung und den Krieg. Doch auch die Bolschewiki schwenkten Mitte<br />

März unter dem Einfluß <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Verbannung angekommenen Kamenew und Stalin<br />

schroff nach rechts, so daß die Distanz zwischen <strong>der</strong> Sowjetmehrheit und <strong>der</strong> linken<br />

Opposition Anfang April wohl geringer war als Anfang März. Die eigentliche Differenzierung<br />

begann etwas später. Man kann sogar ihr genaues Datum nennen: am 4. April,<br />

dem Tag nach <strong>der</strong> Ankunft Lenins m Petrograd.<br />

Die Partei <strong>der</strong> Menschewiki hatte an den Spitzen ihrer verschiedenen Richtungen eine<br />

Reihe hervorragen<strong>der</strong> Gestalten, aber nicht einen revolutionären Führer. Der äußerste<br />

rechte Flügel, vertreten durch die alten Lehrer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Sozialdemokratie, Plecha-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 150


now, Wera Sassulitsch, Deutsch, stand schon unter dem Selbstherrschertum auf <strong>der</strong><br />

patriotischen Position. Gerade am Vorabend <strong>der</strong> Februarrevolution schrieb Plechanow,<br />

<strong>der</strong> sich selbst jämmerlich überlebte, in einer amerikanischen Zeitung, Streiks und an<strong>der</strong>e<br />

Kampfesarten <strong>der</strong> Arbeiter in Rußland wären jetzt ein Verbrechen. Breitere Kreise <strong>der</strong><br />

alten Menschewiki, darunter Gestalten wie Martow, Dan, Zeretelli, zählten sich zum<br />

Lager von Zimmerwald und lehnten die Verantwortung für den Krieg ab. Doch <strong>der</strong> Internationalismus<br />

<strong>der</strong> linken Menschewiki wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre war in den<br />

meisten Fällen eine Deckung für ihre demokratisch-oppositionelle Stellung. Die Februarrevolution<br />

versöhnte die Mehrheit dieser "Zimmerwal<strong>der</strong>" mit dem Krieg, in dem sie von<br />

nun an die Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entdeckten. Mit <strong>der</strong> größten Entschlossenheit<br />

betrat diesen Weg Zeretelli, <strong>der</strong> Dan und an<strong>der</strong>e hintcr sich herzog. Martow, <strong>der</strong> den<br />

Beginn des Krieges in Frankreich erlebte und erst am 9. Mai aus dem Ausland eintraf,<br />

konnte nicht übersehen, daß seine gestrigen Gesinnungsgenossen nach <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

dort angelangt waren, wo Guesde, Sembat und an<strong>der</strong>e im Jahre 1914 begonnen<br />

hatten, als sie die Verteidigung <strong>der</strong> bürgerlichen Republik gegen den deutschen Absolutismus<br />

auf sich nahmen. Sich an die Spitze des linken Flügels <strong>der</strong> Menschewiki stellend,<br />

dem es nicht gelang, sich zu irgendeiner ernsten Rolle in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu erheben,<br />

blieb Martow in Opposition zu <strong>der</strong> Politik Zeretelli-Dan, wobei er gleichzeitig <strong>der</strong><br />

Annäherung <strong>der</strong> linken Menschewiki an die Bolschewiki entgegenwirkte. Im Namen des<br />

offiziellen Menschewismus trat Zeretelil auf, hinter dem eine unbestrittene Mehrheit<br />

stand: die vorrevolutionären Patrioten vereinigten sich mühelos mit den Patrioten des<br />

Februaraufgebots. Plechanow hatte allerdings seine eigene, ganz chauvinistische Gruppe,<br />

die außerhalb <strong>der</strong> Partei und sogar außerhalb des Sowjets stand. Martows Fraktion, die<br />

die gemeinsame Partei nicht verließ, hatte keine eigene Zeitung, wie sie auch keine<br />

eigene Politik besaß. Wie stets während großer historischer Ereignisse, verlor Martow<br />

hoffnungslos den Kopf und hing in <strong>der</strong> Luft. Im Jahre 1917, wie im Jahre 1905, hat die<br />

<strong>Revolution</strong> diesen hervorragenden Menschen fast nicht bemerkt.<br />

Zum Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets und später des Zentral-Exekutivkomitees<br />

wurde fast automatisch <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> menschewistischen Dumafraktion,<br />

Tschcheidse. Er war bestrebt, den ganzen Vorrat seiner Gewissenhaftigkeit in seine<br />

Pflichten hineinzutragen, wobei er seine stete Unsicherheit durch eine simple Scherzhaftigkeit<br />

verschleierte. Auf ihm lag <strong>der</strong> unauslöschliche Stempel seiner Provinz. Das<br />

bergige Georgien, das Land <strong>der</strong> Sonne, <strong>der</strong> Weingärten, Bauern und des Kleinadeis, mit<br />

einem geringen Prozent von Arbeitern, hat eine breite Schicht linker Intellektueller<br />

hervorgebracht, die, geschmeidig, temperamentvoll, sich jedoch in ihrer erdrückenden<br />

Mehrheit nicht über den kleinbürgerlichen Horizont erhob. In alle vier Dumas schickte<br />

Georgien Menschewiki als Deputierte, und in allen vier Fraktionen spielten seine<br />

Deputierten die Rolle von Führern. Georgien wurde die Gironde <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong>.<br />

Beschuldigte man die Girondisten des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts des Fö<strong>der</strong>alismus, so<br />

endeten die Girondisten Georgiens, die mit <strong>der</strong> Verteidigung des einen und unteilbaren<br />

Rußlands begonnen hatten, beim Separatismus.<br />

Die markanteste Figur, die die georgische Gironde hervorgebracht hat, war zweifellos<br />

<strong>der</strong> ehemalige Deputierte <strong>der</strong> zweiten Duma, Zeretelli, <strong>der</strong> sogleich nach seiner Ankunft<br />

aus <strong>der</strong> Verbannung nicht nur das Haupt <strong>der</strong> Menschewiki, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gesamten damaligen<br />

Sowjetmehrheit wurde. We<strong>der</strong> Theoretiker noch Journalist, aber hervorragen<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 151


Redner, war und blieb Zeretelli <strong>der</strong> Radikale von südfranzösischem Typus. Unter den<br />

Bedingungen parlamentarischer Routine würde er sich wie ein Fisch im Wasser gefühlt<br />

haben. Doch er war in einer revolutionären Epoche geboren und hatte sich in seinerJugend<br />

mit einer Dosis Marxismus vergiftet. Jedenfalls entwickelte er bei revolutionären<br />

Ereignissen von allen Menschewiki den größten Schwung und das Bestreben, konsequent<br />

zu sein. Gerade deshalb hat er mehr als die an<strong>der</strong>en zum Zusammenbruch des<br />

Februarregimes beigetragen. Tschcheidse unterwarf sich ihm ganz, wenn er auch in<br />

gewissen Augenblicken Angst bekam vor dessen doktrinärer Geradlinigkeit, die den<br />

gestrigen revolutionären Zuchthäusler den konservativen Vertretern <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

annäherte.<br />

Der Menschewik Skobeljew, <strong>der</strong> seine frische Popularität <strong>der</strong> Stellung als Deputierter<br />

<strong>der</strong> letzten Duma verdankte, machte, nicht nur infolge seines jugendlichen Aussehens,<br />

den Eindruck eines Studenten, <strong>der</strong> auf einer Hausbühne die Rolle eines Staatsmannes<br />

spielt. Skobeljew spezialisierte sich auf das Löschen von "Exzessen", Beseitigung lokaler<br />

Konflikte und überhaupt auf praktische Verkleisterung <strong>der</strong> Risse <strong>der</strong> Doppelherrschaft,<br />

bis er im Mai in <strong>der</strong> unglückseligen Rolle eines Arbeitsministers in die Koalitionsregierung<br />

geriet.<br />

Eine einflußreichere Figur unter den Menschewiki war Dan, ein alter Parteiarbeiter, <strong>der</strong><br />

stets als die zweite Person nach Martow galt. Wenn Sitten und Geist <strong>der</strong> deutschen<br />

Sozialdemokratie <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>gangsepoche dem Menschewismus überhaupt in Fleisch und<br />

Blut eingegangen waren, so schien Dan nachgerade ein Mitglied <strong>der</strong> deutschen Parteileitung<br />

zu sein, ein Ebert kleineren Formats. Der deutsche Dan hat ein Jahr später in<br />

Deutschland erfolgreich jene Politik durchgeführt, die dem <strong>russischen</strong> Ebert in Rußland<br />

mißlungen war. Der Grund lag allerdings nicht in den Menschen, son<strong>der</strong>n in den Verhältnissen.<br />

War die erste Geige im Orchester <strong>der</strong> Sowjetmehrheit Zeretelli, so spielte auf schriller<br />

Klarinette mit blutunterlaufenen Augen Liber aus aller Lungenkraft. Das war ein<br />

Menschewik aus dem jüdischen Arbeiterbund (Bund), mit langer revolutionärer Vergangenheit,<br />

sehr aufrichtig, sehr temperamentvoll, sehr beredt, sehr beschränkt und leidenschaftlich<br />

bestrebt, sich als unbeugsamer Patriot und eiserner Staatsmann zu zeigen.<br />

Liber verzehrte sich buchstäblich in Haß gegen die Bolschewiki.<br />

Die Phalanx menschewistischer Führer kann man mit dem ehemaligen ultralinken<br />

Bolschewiki Wojtinski abschließen, einem angesehenen Teilnehmer <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>,<br />

<strong>der</strong> die Katorga hinter sich hatte und im März auf dem Boden des Patriotismus mit<br />

<strong>der</strong> Partei brach. Nachdem er sich den Menschewiki angeschlossen hatte, wurde Wojtinski,<br />

wie es sich gehört, professioneller Bolschewikenfresser. Ihm fehlte nur das Temperament,<br />

um in <strong>der</strong> Hetze gegen seine früheren Gesinnungsgenossen es mit Liber aufnehmen<br />

zu können.<br />

Der Stab <strong>der</strong> Narodniki war ebensowenig einheitlich, aber bei weitem nicht so bedeutend<br />

und farbig. Die sogenannten Volkssozialisten, die die äußerste rechte Flanke bildeten,<br />

führte <strong>der</strong> alte Emigrant Tschajkowski, <strong>der</strong> in seinem kämpferischen Chauvinismus<br />

Plechanow glich, ohne dessen Talente o<strong>der</strong> dessen Vergangenheit zu besitzen. Neben<br />

ihm stand die alte Breschko-Breschkowskaja, die die Sozialrevolutionäre Großmutter <strong>der</strong><br />

Russischen <strong>Revolution</strong> nannten, die sich aber eifrig als Taufmutter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Konterrevolution vordrängte. Der betagte Anarchist Krapotkin, <strong>der</strong> aus seiner Jugend<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 152


eine Schwäche für die Narodniki behalten hatte, benutzte den Krieg, um all das zu<br />

desavouieren, was er fast ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t gelehrt hatte: <strong>der</strong> Staatsverneiner unterstützte<br />

die Entente, und wenn er die russische Doppelherrschaft verurteilte, so nicht im<br />

Namen <strong>der</strong> Herrschaftslosigkeit, son<strong>der</strong>n im Namen <strong>der</strong> Alleinherrschaft <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie. Diese Alten spielten jedoch eher eine dekorative Rolle, wenn auch Tschajkowski<br />

später, im Kriege gegen die Bolschewiki, an <strong>der</strong> Spitze einer <strong>der</strong> weißen Regierungen<br />

stand, die von Churchil ausgehalten wurden.<br />

Den ersten Platz unter den Sozialrevolutionären, allen an<strong>der</strong>en weit voran, aber nicht in<br />

<strong>der</strong> Partei, son<strong>der</strong>n über <strong>der</strong> Partei, nahm Kerenski ein, ein Mann ohne jegliche Parteivergangenheit.<br />

Wir werden im weiteren mehr als einmal dieser von <strong>der</strong> Vorsehung erkorenen<br />

Figur begegnen, <strong>der</strong>en Stärke in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Doppelherrschaft die Verbindung<br />

<strong>der</strong> Schwächen des Liberalismus mit den Schwächen <strong>der</strong> Demokratie bildete. Der<br />

formelle Eintritt in die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre än<strong>der</strong>te nichts an Kerenskis<br />

verächtlichem Verhalten zu Parteien im allgemeinen: er hielt sich für den unmittelbar<br />

Auserwählten <strong>der</strong> Nation. Aber auch die sozialrevolutionäre Partei hatte ja zu jener Zeit<br />

aufgehört, eine Partei zu sein, und war eine grandiose, wahrhaft nationale Null. In<br />

Kerenski fand sie den ihr adäquaten Führer.<br />

Der spätere Ackerbauminister und dann auch Vorsitzende <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung, Tschernow, war zweifellos die repräsentativste Figur <strong>der</strong> alten sozialrevolutionären<br />

Partei und galt nicht zufällig als <strong>der</strong>en Inspirator, Theoretiker und Führer. Mit<br />

bedeutenden, aber nicht zu einer Einheit verbundenen Kenntnissen, eher ein Bücherkundiger<br />

als ein gebildeter Mensch, hatte Tschernow stets eine unbeschränkte Auswahl<br />

passen<strong>der</strong> Zitate zu seiner Verfügung, die lange auf die Phantasie <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Jugend<br />

gewirkt hatten, ohne sie viel zu lehren. Nur auf eine einzige Frage hatte dieser redselige<br />

Führer keine Antwort: wen und wohin führt er? Die eklektischen Formeln Tschernows,<br />

aufgeputzt mit Moral und Versehen, vereinigten bis zu einer bestimmten Zeit das bunteste<br />

Publikum, das in allen kritischen Stunden nach verschiedenen Richtungen hin zerrte.<br />

Es ist nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, wenn Tschernow seine Methode <strong>der</strong> Parteibildung<br />

selbstzufrieden dem Leninschen "Sektierertum" gegenüber-stellte.<br />

Tschernow kam fünf Tage nach Lenin in Petrograd an: England hatte ihn schließlich<br />

durchgelassen. Auf die vielen Begrüßungen im Sowjet antwortete <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> größten<br />

Partei mit <strong>der</strong> längsten Rede, über die sich Suchanow, ein halber Sozialrevolutionär,<br />

folgen<strong>der</strong>maßen äußerte: »Nicht ich allein, son<strong>der</strong>n auch viele sozialrevolutionäre<br />

Parteipatrioten runzelten die Stirn und schüttelten die Köpfr: was singt er da so unangenehm,<br />

was macht er für seltsame Grimassen und verdreht die Äuglein und spricht endlos<br />

ungereimtes Zeug.« Die gesamte weitere Tätigkeit Tschernows in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entwikkelte<br />

sich im Grundton seiner ersten Rede. Nach einigen Versuchen, sich Kerenski und<br />

Zeretelli von links entgegenzustellen, ergab sich Tschernow, von allen Seiten eingeklemmt,<br />

kampflos, säuberte sich von seinen Zimmerwaldismus <strong>der</strong> Emigration, ging in<br />

die Kontaktkommission und später in die Koalitionsregierung. Alles, was er tat, traf<br />

daneben. Er beschloß daher, auszuweichen. Stimmenthaltung wurde für ihn die Form des<br />

politischen Daseins. Seine Autorität schmolz von April bis Oktober noch schneller als<br />

die Reihen seiner Partei. Bei allem Unterschied zwischen Tschernow und Kerenski, die<br />

einan<strong>der</strong> haßten, wurzelten beide gänzlich in <strong>der</strong> vorrevolutionären Vergangenheit, in <strong>der</strong><br />

alten <strong>russischen</strong> morschen Gesellschaft, in <strong>der</strong> saftlosen und prätentiösen Intelligenz, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 153


darauf brannte, die Volksmassen zu belehren, zu bevormunden, ihnen Wohltaten zu<br />

erweisen, aber völlig unfähig war, sie anzuhören, zu begreiien und von ihnen zu lernen.<br />

Ohne dieses aber gibt es keine revolutionäre Politik.<br />

Awksentjew, den die Partei auf die höchsten Posten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erhob - Vorsitzen<strong>der</strong><br />

des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Bauerndeputierten, Minister des Innern, Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

Vorparlaments -, stellte schon die völlige Karikatur eines Politikers dar: bezaubern<strong>der</strong><br />

Literaturlehrer des Mädchengymnasiums in Orel - das ist alles, was man von ihm sagen<br />

kann. Allerdings - seine politische Tätigkeit war bei weitem bösartiger als seine Person.<br />

Eine große Rolle, aber mehr hinter den Kulissen, spielte in <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Soziatrevolutionäre<br />

und im regierenden Sowjetkern Goz. Terrorist aus einer bekannten revolutionären<br />

Familie, war Goz weniger anspruchsvoll und sachlicher als seine näheren politischen<br />

Freunde. Jedoch in <strong>der</strong> Eigenschaft eines sogenannten "Praktikers" beschränkte er sich<br />

auf die Angelegenheiten <strong>der</strong> Küche und überließ die großen Fragen den an<strong>der</strong>en. Man<br />

muß übrigens hinzufügen, daß er we<strong>der</strong> Redner noch Schriftsteller war und sein wichtigstes<br />

Hilfsmittel persönliche Autorität bildete, die er mit Jahren Zwangsarbeit erkauft<br />

hatte.<br />

Wir haben im wesentlichen alle genannt, die man aus dem führenden Kreis <strong>der</strong> Narodniki<br />

nennen könnte. Es folgen nur noch ganz zufällige Gestalten, wie etwa Filippowski,<br />

bezüglich dessen niemand erklären konnte, wie er denn eigentlich auf den obersten<br />

Gipfel des Februarolymps geraten war: es bleibt nur anzunehmen, daß dabei die entscheidende<br />

Rolle seine Seeoffiziersuniform gespielt hat.<br />

Neben den offiziellen Führern <strong>der</strong> zwei herrschenden Parteien gab es im Exekutivkomitee<br />

nicht wenig "Wilde", Einzelgänger, in <strong>der</strong> Vergangenheit Teilnehmer <strong>der</strong><br />

Bewegung auf <strong>der</strong>en verschiedenen Etappen, Menschen, die längst vor <strong>der</strong> Umwälzung<br />

vom Kampfe zurückgetreten waren und die jetzt, nach hastiger Rückkehr unter das<br />

Banner <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> sich nicht beeilten, ins Parteijoch zu gehen. In allen<br />

Grundfragen gingen die Wilden die Linie <strong>der</strong> Sowjetmehrheit. In <strong>der</strong> ersten Zeit gehörte<br />

ihnen sogar die führende Rolle. Aber in dem Maße, wie die offiziellen Führer aus <strong>der</strong><br />

Verbannung und Emigration zurückkehrten, wurden die Parteilosen auf die zweite Stelle<br />

verdrängt, die Politik bekam Form, das Parteimäßige trat in seine Rechte.<br />

Die Gegner des Exekutivkomitees aus dem Lager <strong>der</strong> Reaktion haben später mehr als<br />

einmal auf die Übermacht <strong>der</strong> Fremdstämmigen im Komitee verwiesen: Juden, Georgier,<br />

Letten, Polen usw. Obwohl die Fremdstämmigen im Verhältnis zur ganzen Mitglie<strong>der</strong>masse<br />

des Exekutivkornitees einen durchaus niedrigen Prozentsatz ausmachten, nahmen<br />

sie zweifellos im Präsidium, in verschiedenen Kommissionen, unter den Referenten usw.<br />

einen sehr sichtbaren Platz ein. Da die Intelligenz <strong>der</strong> unterdrückten Nationalitäten,<br />

hauptsächlich in den Städten konzentriert, reichlich die revolutionären Reihen füllte, so<br />

ist es nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß die Zahl <strong>der</strong> Fremdstämmigen unter <strong>der</strong> älteren<br />

Generation <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre beson<strong>der</strong>s ansehnlich war. Ihre Erfahrung, obwohl nicht<br />

immer von hoher Qualität, machte sie unentbehrlich bei Errichtung <strong>der</strong> neuen gesellschaftlichen<br />

Formen. Ganz abgeschmackt sind aber die Versuche, die Politik <strong>der</strong> Sowjets<br />

und den Verlauf <strong>der</strong> gesamten <strong>Revolution</strong> aus <strong>der</strong> angeblichen Übermacht <strong>der</strong> Fremdstämmigen<br />

abzuleiten. Der Nationalismus enthüllt auch in diesem Falle Verachtung für<br />

die wirkliche Nation, das heißt das Volk, indem er es in <strong>der</strong> Periode seines großen nationalen<br />

Erwachens als einen völligen Tölpel in fremden und zufälligen Händen schil<strong>der</strong>t.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 154


Weshalb aber und wie konnten die Fremdstämmigen eine solche wun<strong>der</strong>tätige Macht<br />

über die eingeborenen Millionen erlangen? In <strong>der</strong> Tat stellt die Masse <strong>der</strong> Nation im<br />

Moment einer einschneidenden historischen Wendung nicht selten jene Elemente in ihren<br />

Dienst, die noch gestern unterdrückt waren und deshalb mit höchster Bereitschaft den<br />

neuen Aufgaben Ausdruck geben. Nicht die fremdstämmigen führen die <strong>Revolution</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n die <strong>Revolution</strong> benutzt die Fremdstämmigen. So geschah es sogar bei großen<br />

Reformen von oben. Die Politik Peters 1. hörte nicht auf, national zu sein, als sie von den<br />

alten Wegen abbog und Fremdstämmige und Auslän<strong>der</strong> in ihren Dienst zog. Die Meister<br />

<strong>der</strong> Deutschen Vorstadt und die holländischen Schiffer drückten in jener Periode die<br />

Bedürfnisse <strong>der</strong> nationalen Entwicklung Rußlands besser aus als die <strong>russischen</strong> Popen,<br />

die ehemals von den Griechen herangeschleppt worden waren, o<strong>der</strong> die Moskauer<br />

Bojaren, die ebenfalls über die fremdländische Vergewaltigung klagten, obwohl sie<br />

selber von Fremden abstammten, die den <strong>russischen</strong> Staat gebildet hatten. Jedenfalls<br />

verteilte sich die fremdstämmige Intelligenz im Jahre 1917 auf die gleichen Parteien wie<br />

die echtrussische, litt an den gleichen Gebrechen und beging dieselben Fehler, wobei<br />

gerade die Frenidstämmigen unter den Menschewiki und Sozialrevolutionären mit beson<strong>der</strong>em<br />

Eifer für die Verteidigung und Einheit Rußlands paradierten.<br />

So sah das Exekutivkomitee aus, das oberste Organ <strong>der</strong> Demokratie. Zwei Parteien, die<br />

ihre Illusionen verloren, aber die Vorurteile behalten hatten, mit einem Führerstab, <strong>der</strong><br />

unfähig war, vom Wort zur Tat überzugehen, gelangten an die Spitze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die<br />

berufen war, Jahrhun<strong>der</strong>te alte Ketten zu brechen und die Grundsteine einer neuen<br />

Gesellschaft zu legen. Die gesamte Tätigkeit <strong>der</strong> Versöhnler wurde eine Kette qualvoller<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche, die die Volksmassen entkräfteten und die Konvulsionen des Bürgerkrieges<br />

vorbereiteten.<br />

Die Arbeiter, die Soldaten, die Bauern nahmen die Ereignisse ernst. Sie meinten, daß<br />

die von ihnen geschaffenen Sowjets unverzüglich an die Beseitigung jener Nöte schreiten<br />

müßten, die die <strong>Revolution</strong> geboren hatten. Alle kamen zu den Sowjets. Je<strong>der</strong> brachte,<br />

was ihn schmerzte. Und wen schmerzte nichts? Man verlangte Beschlüsse, erhoffte Hilfe,<br />

erwartete Gerechtigkeit, for<strong>der</strong>te Vergeltung. Fürsprecher, Beschwerdeführer, Bittsteller,<br />

Entlarver glaubten, daß nun endlich die feindliche Macht durch eine eigene ersetzt war.<br />

Das Volk vertraut dem Sowjet, das Volk ist bewaffnet, also ist <strong>der</strong> Sowjet die Regierung.<br />

So verstanden sie die Sache - und hatten sie etwa nicht recht? »Ein ununterbrochener<br />

Strom von Soldaten, Arbeitern, Soldatenfrauen, Kleinhändlern, Bediensteten, Müttern,<br />

Vätern öffnete und schloß die Türe, suchte, fragte, weinte, for<strong>der</strong>te, zwang Maßnahmen<br />

zu treffen - manchmal genau bezeichnend welche - und verwandelte den Sowjet tatsächlich<br />

in eine revolutionäre Macht. Das war durchaus nicht im Interesse und paßte keinesfalls<br />

in die Pläne des Sowjets selbst«, klagt <strong>der</strong> uns bekannte Suchanow, <strong>der</strong><br />

selbstverständlich »nach Kräften gegen diesen Prozeß ankämpfte«. Ob mit Erfolg? Ach,<br />

er ist gezwungen, gleich zu gestehen: »Der Sowjetapparat begann unwillkürlich,<br />

automatisch, gegen den Willen des Sowjets die offizielle Staatsmaschinerie zu verdrängen,<br />

die immer mehr im Leerlauf ging.« Was aber taten die Doktrinäre <strong>der</strong> Kapitulation,<br />

die Mechaniker des Leerlaufs? »Man war gezwungen, sich damit abzufinden und<br />

einzelne Funktionen <strong>der</strong> Regierung zu übernehmen«, gesteht Suchanow melancholisch,<br />

»und gleichzeitig die Fiktion aufrechtzuerhalten, als hätte das Mariinski-Palais die<br />

Leitung.« Das ist es, womit sich diese Leute in einem verelendeten Lande beschäftigten,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 155


das in den Flammen des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> stand: durch maskeradenhafte<br />

Maßnahmen schützten sie das Prestige einer Regierung, die das Volk organisch ausgeschieden<br />

hatte. Möge die <strong>Revolution</strong> umkommen, aber es lebe die Fiktion! Gleichzeitig<br />

jedoch stieg die Macht, die diese Männer zur Türe hlnausjagten, durchs Fenster zu ihnen<br />

zurück, wobei sie sie jedesmal überraschte und in eine lächerliche. o<strong>der</strong> unwürdige Lage<br />

versetzte.<br />

Noch in <strong>der</strong> Nacht zum 28. Februar hatte das Exekutivkomitee die monarchistische<br />

Presse geschlossen und für Zeitungen Erlaubnispflicht eingeführt. Proteste ertönten. Am<br />

lautesten schrien die, die gewohnt waren, allen den Mund zu verstopfen. Nach einigen<br />

Tagen stieß das Komitee wie<strong>der</strong> auf die Frage <strong>der</strong> Pressefreiheit: soll man reaktionäre<br />

Zeitungen erlauben o<strong>der</strong> nicht? Es entstanden Meinungsverschiedenheiten. Doktrinäre<br />

vom Typ Suchanow waren für absolute Pressefreiheit. Tschcheidse war anfangs nicht<br />

einverstanden: wie dürfe man die Waffen dem Todfeinde zur unkontrollierbaren<br />

Verwendung überlassen? Es war, nebenbei gesagt, keinem in den Sinn gekommen, die<br />

Entscheidung <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Regierung anheimzustellen. Das wäre auch gegenstandslos<br />

gewesen: die Druckcreiarbeiter erkannten nur die Verfügungen des Sowjets an. Am 5.<br />

März bestätigte das Exekutivkomitee: die rechte Presse ist zu schließen, das Erscheinen<br />

neuer Zeitungen ist von <strong>der</strong> Genehmigung des Sowjets abhängig zu machen. Aber schon<br />

am 10. wurde die Verordnung unter dem Ansturm <strong>der</strong> bürgerlichen Kreise wie<strong>der</strong> aufgehoben.<br />

»Drei Tage genügten, um zur Vernunft zu kommen«, triumphiert Suchanow. Ein<br />

unbegründeter Triumph! Die Presse steht nicht über <strong>der</strong> Gesellschaft. Ihre Existenzbedingungen<br />

geben in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> selbst wie<strong>der</strong>. Wenn diese den<br />

Charakter des Bürgerkrieges annimmt o<strong>der</strong> anzunehmen droht, wird keines <strong>der</strong> kämpfenden<br />

Lager die Existenz <strong>der</strong> feindlichen Presse auf dem Gebiete ihres Einflusses zulassen,<br />

wie es auch nicht die Kontrolle über Arsenale, Eisenbahnen o<strong>der</strong> Druckereien freiwillig<br />

aus <strong>der</strong> Hand gibt. Im revolutionären Kampfe ist die Presse nur eine <strong>der</strong> Waffengattungen.<br />

Das Recht auf das Wort steht jedenfalls nicht über dem Recht auf das Leben. Die<br />

<strong>Revolution</strong> jedoch eignet sich auch dieses an. Man kann als Gesetz aufstellen, revolutionäre<br />

Regierungen sind um so liberaler, um so duldsamer, um so "großmütiger" gegen die<br />

Reaktion, je nichtiger ihr Programm, je mehr sie mit <strong>der</strong> Vergangenheit verknüpft sind, je<br />

konservativer ihre Rolle ist. Und umgekehrt: Je grandioser die Aufgaben sind, je größer<br />

die Zahl <strong>der</strong> erworbenen Rechte und Interessen, die durch sie verletzt werden, um so<br />

konzentrierter ist die revolutionäre Macht, um so unverhüllter ihre Diktatur. Mag das nun<br />

gut o<strong>der</strong> schlecht sein, aber gerade auf diesen Wegen ist die Menschheit bisher vorwärtsgeschritten.<br />

Der Sowjet hatte recht, als er die Kontrolle über die Presse in seinen Händen behalten<br />

wollte. Weshalb aber hat er so leicht darauf verzichtet? Weil er überhaupt auf einen<br />

ernsten Kampf verzichtet hatte. Er schwieg sich aus über Frieden, über Grund und<br />

Boden, sogar über die Republik. Nachdem er <strong>der</strong> konservativen Bourgeoisie die Macht<br />

übergeben hatte, blieb ihm we<strong>der</strong> Anlaß, die rechte Presse zu fürchten, noch die<br />

Mögliclikeit, gegen sie zu kämpfen. Dafür aber begann die Regierung mit Hilfe des<br />

Sowjets bereits nach wenigen Monaten erbarmungslos gegen die linke Presse vorzugehen.<br />

Zeitungen <strong>der</strong> Bolschewiki wurden eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en geschlossen.<br />

Am 7. März deklamierte Kerenski in Moskau: »Nikolaus II. ist in meinen Händen...<br />

Ein Marat <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong> werde ich niemals sein... Nikolaus II. wird sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 156


unter meiner persönlichen Überwachung nach England begeben ...« Damen warfen<br />

Blumen, Studenten klatschten Beifall. Die Massen aber horchten auf Noch nie hatte eine<br />

ernste <strong>Revolution</strong>, das heißt eine solche, die was zu verlieren hatte, den gestürzten<br />

Monarchen ins Ausland gelassen. Von den Arbeitern und Soldaten gingen ununterbrochen<br />

For<strong>der</strong>ungen ein: die Romanows zu verhaften. Das Exekutivkomitee fühlte, daß<br />

man in diesem Punkte nicht spaßen dürfe.<br />

Es wurde beschlossen, die Angelegenheit <strong>der</strong> Romanows müsse <strong>der</strong> Sowjet in seine<br />

Hände nehmen: damit war offen anerkannt, daß die Regierung kein Vertrauen verdiene.<br />

Das Exekutivkomitee gab an alle Eisenbahnstrecken den Befehl, Romanow nicht durchlassen:<br />

das war es, warum <strong>der</strong> Zarenzug unterwegs umherirrt! Eines <strong>der</strong> Exekutivkomiteemitglie<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> Arbeiter Gwosdjew, ein rechtsstehen<strong>der</strong> Menschewiki, wurde entsandt,<br />

Nikolaus zu verhaften. Kerenski war desavouiert und mit ihm die Regierung. Sie trat<br />

aber nicht zurück, son<strong>der</strong>n unterwarf sich stillschweigend. Schon am 9. März berichtete<br />

Tschcheidse dem Exekutivkomitee, die Regierung hätte von dem Gedanken, Nikolaus<br />

nach England zu schicken, »Abstand« genommen. Die Zarenfamilie wurde im Winterpalais<br />

<strong>der</strong> Haft unterworfen. So stahl das Exekutivkomitee sich selbst die Macht unter dem<br />

Kissen hervor. Von <strong>der</strong> Front aber kamen immer eindringlichere For<strong>der</strong>ungen: den<br />

ehemaligen Zaren in die Peter-Paul-Festung überzuführen.<br />

<strong>Revolution</strong>en bedeuteten stets Besitzumschichtungen, nicht nur im Wege <strong>der</strong> Gesetzgebung,<br />

son<strong>der</strong>n auch im Wege von Expropriationen durch die Massen. Die Agrarrevolution<br />

vollzog sich in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> überhaupt nie an<strong>der</strong>s: die legale Reform ging beständig<br />

in Begleitung des roten Hahnes. In den Städten war die Rolle <strong>der</strong> Expropriation<br />

kleiner: bürgerliche <strong>Revolution</strong>en hatten nicht die Aufgabe, den bürgerlichen Besitz zu<br />

erschüttern. Doch gab es kaum eine <strong>Revolution</strong>, in <strong>der</strong> die Massen nicht für allgemeine<br />

Zwecke von Gebäuden Besitz ergriffen hätten, die den Feinden des Volkes gehörten.<br />

Gleich nach <strong>der</strong> Februarumwälzung tauchten Parteien aus <strong>der</strong> Illegalität hervor, entstanden<br />

Gewerkschaftsverbände, wurden ununterbrochen Meetings abgehalten, alle Stadtbezirke<br />

hatten ihre Sowjets - alle brauchten Räume. Die Organisationen nahmen Besitz von<br />

unbewohnten Villen <strong>der</strong> zaristischen Minister o<strong>der</strong> von leerstehenden Palästen <strong>der</strong> Zarenballerinen.<br />

Die Betroffenen erhoben Beschwerde, o<strong>der</strong> die Behörden griffen aus eigener<br />

Initiative ein. Da die Aneigner aber im Grunde die Macht besaßen, die offizielle Macht<br />

hingegen ein Gespenst war, so waren die Staatsanwälte letzten Endes gezwungen, sich an<br />

das Exekutivkomitee zu wenden mit dem Ersuchen um Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> verletzten<br />

Rechte <strong>der</strong> Ballerinen, <strong>der</strong>en unkomplizierte Funktionen von den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

Dynastie aus den Volksmitteln hoch bezahlt worden waren. Wie es sich gehört, setzte<br />

man die Kontaktkommission in Bewegung, die Minister tagten, das Exekutivkomitee<br />

beriet, es wurden Delegationen zu den Aneignern geschickt - die Sache zog sich monatelang<br />

hin.<br />

Suchanow teilt mit, als "Linker" hätte er an sich nichts gegen die radikalsten gesetzgebenden<br />

Eingriffe in den Privatbesitz gehabt, dafür aber wäre er »ein heftiger Feind jeglicher<br />

gewaltsamen Aneignungen«. Mit solchen Kniffen verhüllten die linken Pechvögel<br />

ihren Bankrott. Eine wahrhaft revolutionäre Regierung wäre zweifellos imstande<br />

gewesen, durch ein rechtzeitiges Dekret über die Requisitionen von Räumlichkeiten die<br />

Zahl <strong>der</strong> chaotischen Besitzergreifungen auf ein Minimum herabzusetzen. Doch die<br />

linken Versöhnler hatten die Macht an die Eigentumsfanatiker abgetreten, um hinterher<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 157


den Massen vergeblich Achtung vor revolutionärer Gesetzlichkeit zu predigen... unter<br />

freiem Himmel. Petrograds Klima begünstigt Platonismus nicht.<br />

Die Brotschlangen gaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den letzten Antrieb. Sie waren auch die erste<br />

Gefährdung des neuen Regimes. Schon in <strong>der</strong> konstituierenden Sitzung des Sowjets war<br />

beschlossen worden, eine Ernährungskommission zu schaffen. Die Regierung machte<br />

sich wemg Sorgen darüber, wie die Hauptstadt zu ernähren sei. Sie war nicht abgeneigt,<br />

sie durch Hunger zu zähmen. Das Ernährungsproblem fiel auch späterhin dem Sowjet zu.<br />

Zu seiner Verfügung standen Nationalökonomen und Statistiker mit einiger praktischer<br />

Erfahrung, die früher im Dienste wirtschaftlicher und administrativer Organe <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie gewesen waren. In den meisten Fällen waren das Menschewiki des rechten<br />

Flügels, wie Gromann und Tscherewanin, o<strong>der</strong> ehemalige weit nach rechts gerückte<br />

Bolschewiki, wie Basarow und Awilow. Aber kaum von Angesicht zu Angesicht vor das<br />

Ernährungsproblem <strong>der</strong> Hauptstadt gestellt, waren sie durch die ganze Situation gezwungen,<br />

radikalste Maßnahmen zur Bändigung <strong>der</strong> Spekulation und zur Organisierung des<br />

Marktes vorzuschlagen. In einer Reihe von Sitzungen des Sowjets wurde ein ganzes<br />

System von Maßnahmen »des Kriegssozialismus« bestätigt, das die Proklamierung aller<br />

Brotvorräte als Staatsgut, Festsetzung von Höchstpreisen für Brot entsprechend ebensolchen<br />

Preisen für Industrieprodukte, staatliche Produktionskontrolle und geordneten<br />

Warenaustausch mit dem Dorfe zum Inhalt hatte. Die Führer des Exekutivkomitees<br />

wechselten besorgte Blicke; da sie nichts vorzuschlagen wußten, schlossen sie sich den<br />

radikalen Resolutionen an. Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kontaktkommission übermittelten sie dann<br />

verlegen <strong>der</strong> Regierung. Die Regierung versprach, die Sache zu studieren. Aber we<strong>der</strong><br />

Fürst Lwow noch Gutschkow noch Konowalow hatten Lust zu kontrollieren, zu requirieren,<br />

sich selbst und ihre Freunde einzuschränken. Alle wirtschaftlichen Verfügungen des<br />

Sowjets zerschellten an dem passiven Wi<strong>der</strong>stand des Staatsapparates, soweit sie nicht<br />

durch die lokalen Sowjets eigenmächtig verwirklicht wurden. Die einzige praktische<br />

Maßnahme, die <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet auf dem Gebiete <strong>der</strong> Ernährung durchgeführt<br />

hatte, bestand in <strong>der</strong> Einschränkung des Konsumenten durch eine feste Ration: an<strong>der</strong>thalb<br />

Pfund Brot für physische Arbeiter, ein Pfund für die übrigen. Allerdings brachte<br />

diese Einschränkung noch fast keine An<strong>der</strong>ungen in das reale Ernährungsbudget <strong>der</strong><br />

Hauptstadtbevölkerung: - ein Pfund beziehungsweise an<strong>der</strong>thalb Pfund - es läßt sich<br />

leben. Das Elend täglichen Hungerns steht noch bevor. Die <strong>Revolution</strong> wird gezwungen<br />

sein, nicht monate-, son<strong>der</strong>n jahrelang den Riemen am eingefallenen Leibe enger und<br />

enger zu ziehen. Sie wird diese Prüfung ertragen. Im Augenblick quält sie nicht Hunger,<br />

son<strong>der</strong>n die Ungewißheit, die Unbestimmtheit des Kurses, die Unsicherheit vor dem<br />

morgigen Tag. Ökonomische Schwierigkeiten, verschärft durch 32 Kriegsmonate,<br />

klopfen an Türen und Fenster des neuen Regimes. Zerrüttung des Transports, Mangel an<br />

verschiedenen Arten von Rohstoffen, Abgenutztheit eines großen Teiles des Inventars,<br />

bedrohliche lnflation, Desorganisation des Warenumsatzes, das alles erfor<strong>der</strong>t kühne und<br />

unaufschiebbare Maßnahmen. Während sie auf <strong>der</strong> ökonomischen Linie zu diesen<br />

gelangten, machten die Versöhnler die Durchführung politisch unmöglich. Jedes<br />

Wirtschaftsproblem, dem sie sich verschlossen, verwandelte sich in eine Verurteilung <strong>der</strong><br />

Doppelhenschaft, und je<strong>der</strong> Beschluß, den sie unterzeichnet hatten, verbrannte ihnen<br />

unerträglich die Finger.<br />

Zu einer großen Nachprüfung <strong>der</strong> Kräfte und Beziehungen wurde die Frage des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 158


8-Stunden-Tages. Der Aufstand hat gesiegt, doch <strong>der</strong> Generalstreik geht weiter. Die<br />

Arbeiter sind ernstlich <strong>der</strong> Meinung, die Än<strong>der</strong>ung des Regimes müsse eine Än<strong>der</strong>ung<br />

auch in ihr Schicksal bringen. Das erregt sofort Besorgnis bei den neuen Herrschern,<br />

Liberalen wie <strong>Sozialisten</strong>. Patriotische Parteien und Zeitungen erheben den Ruf: »Soldaten<br />

in die Kasernen, Arbeiter an die Werkbank!« Also bleibt alles beim alten? fragen die<br />

Arbeiter. Bis auf weiteres, antworten verlegen die Menschewiki. Doch die Arbeiter<br />

begreifen: wenn es nicht sofort Än<strong>der</strong>ungen gibt, später erst recht nicht. Die Sache mit<br />

den Arbeitern zu regeln, überläßt die Bourgeoisie den <strong>Sozialisten</strong>. Sich darauf berufend,<br />

daß <strong>der</strong> errungene Sieg »die Position <strong>der</strong> Arbeiterklasse in ihrem revolutionären Kampfe<br />

in genügendem Maße gesichert hat« - und in <strong>der</strong> Tat: stehen nicht liberale Gutsbesitzer<br />

an <strong>der</strong> Macht? -, beschließt das Exekutivkomitee am 5. März, die Arbeit im Petrogra<strong>der</strong><br />

Rayon wie<strong>der</strong> aufzunehmen. Arbeiter an die Werkbank! So stark war die Macht des<br />

gepanzerten Egoismus <strong>der</strong> gebildeten Klassen, <strong>der</strong> Liberalen gemeinsam mit ihren <strong>Sozialisten</strong>.<br />

Diese Menschen glaubten, daß Millionen Arbeiter und Soldaten, die sich unter<br />

dem unerbittlichen Druck von Unzufriedenheit und Hoffnung zum Aufstand erhoben<br />

hatten, sich nach dem Siege gehorsam mit den alten Lebensbedingungen bescheiden<br />

würden. Aus Geschichtsbüchern hatten diese Führer die Überzeugung gewonnen, so sei<br />

es auch in früheren <strong>Revolution</strong>en geschehen. Aber nein, so war es sogar in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

nie gewesen. Wurden die Werktätigen in den alten Stall zurückgetrieben, so nur<br />

auf Umwegen, durch eine Reihe von Nie<strong>der</strong>lagen und Überlistungen. Die grausame<br />

soziale Kehrseite politischer Umwälzungen hatte Marat scharf empfunden. Deshalb ist er<br />

auch von den offiziellen Geschichtsschreihern so verleumdet worden. »Die <strong>Revolution</strong><br />

wird vollzogen und gestützt nur von den unteren Klassen <strong>der</strong> Gesellschaft, von all den<br />

Elenden, die <strong>der</strong> schamlose Reichtum als Canaille verachtet und die von den Römern,<br />

mit dem diesen eigenen Zynismus, einst Proletarier genannt wurden«, schrieb Marat<br />

einen Monat vor dem Umsturz des 10. August 1792. Was gibt nun die <strong>Revolution</strong> den<br />

Elenden? »Nachdem die Bewegung anfangs einen gewissen Erfolg erreicht hat, erweist<br />

sie sich schließlich als besiegt; es fehlt ihr stets noch an Wissen, Festigkeit, Mitteln,<br />

Waffen, Führern, an einem bestimmten Aktionsplan; sie bleibt schutzlos gegen die<br />

Verschwörer, welche Erfahrung, Geschicklichkeit und Schlauheit besitzen.« Ist es da<br />

verwun<strong>der</strong>lich, daß Kerenski kein Marat <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong> sein wollte?<br />

Einer <strong>der</strong> ehemaligen <strong>russischen</strong> Industriekapitäne, W. Auerbach, erzählt mit Entrüstung,<br />

daß »die Hefe die <strong>Revolution</strong> etwa wie einen Karneval verstanden hat: das Dienstmädchen,<br />

zum Beispiel, verschwand für ganze Tage, ging mit roten Schleifen spazieren,<br />

fuhr Auto, kehrte erst gegen Morgen heim; um sich zu waschen und wie<strong>der</strong> auf den<br />

Bummel zu gehen«. Es ist bemerkenswert, daß <strong>der</strong> Entlarver, <strong>der</strong> es unternimmt, die<br />

demoralisierende Wirkung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu zeigen, das Benehmen des Dienstmädchens<br />

in jenen Zügen schil<strong>der</strong>t, die, vielleicht außer <strong>der</strong> roten Schleife, am besten das Alltagsleben<br />

einer bürgerlichen Patrizierin wie<strong>der</strong>geben. Ja, die Unterdrückten nehmen die<br />

<strong>Revolution</strong> wie einen Festtag auf, o<strong>der</strong> wie den Vorabend eines Festtages, und die erste<br />

Regung <strong>der</strong> durch sie geweckten Haussklavinnen besteht eben darin, das Joch <strong>der</strong> täglichen,<br />

erniedrigenden, beklemmenden, ausweglosen Unfreiheit abzuschwächen. Die<br />

Arbeiterklasse in ihrer Gesarntheit konnte und wollte sich nicht bloß mit den roten<br />

Schleifen allein, als Siegessymbol für an<strong>der</strong>e, abfinden. In den Betrieben Petrograds<br />

herrschte Erregung. Eine nicht geringe Anzahl von Betrieben wi<strong>der</strong>setzte sich offen den<br />

Beschlüssen des Sowjets. An die Werkbänke zu gehen sind die Arbeiter freilich bereit,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 159


denn sie sind dazu gezwungen; doch unter welchen Bedingungen? Die Arbeiter for<strong>der</strong>ten<br />

den 8-Stunden-Tag. Die Menschewiki beriefen sich auf das Jahr 1905, wo die Arbeiter<br />

auf dem Wege <strong>der</strong> Gewalt den 8-Stunden-Tag einzuführen versucht und eine Nie<strong>der</strong>lage<br />

erlitten hatten: »Der Kampf auf zwei Fronten - gegen Reaktion und Kapitalisten - geht<br />

über die Kräfte des Proletariats.« Das war ihre zentrale Idee. Allgemein gesprochen,<br />

anerkannten die Menschewiki für die Zukunft die Unvermeidlichkeit eines Bruches mit<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie. Doch dies rein theoretische Bekennmis verpflichtete sie zu nichts. Sie<br />

meinten, man dürfe den Bruch nicht forcieren. Da aber die Bourgeoisie nicht durch<br />

leidenschaftliche Phrasen <strong>der</strong> Redner und Journalisten in das Lager <strong>der</strong> Reaktion zurückgeworfen<br />

wird, son<strong>der</strong>n durch die selbständige Bewegung <strong>der</strong> werktätigen Klassen,<br />

wi<strong>der</strong>setzten sich die Menschewiki aus allen Kräften dem ökonomischen Kampfe <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Bauern. »Für die Arbeiterklasse«, lehrten sie, »stehen jetzt nicht die sozialen<br />

Fragen auf dem ersten Platz. Sie erkämpft sich jetzt die politische Freiheit.« Worin<br />

jedoch diese Freiheit bestand, konnten die Arbeiter nicht begreifen. Sie wollten vor allern<br />

etwas Freiheit für ihre Muskeln und Nerven. Und sie bedrängten die Unternehmer.<br />

Welche Ironie: gerade am 10. März, als die menschewistische Zeitung schrieb, <strong>der</strong><br />

8-Stunden-Tag stehe nicht auf <strong>der</strong> Tagesordnung, erklärte die Vereinigung <strong>der</strong> Fabrikanten,<br />

die am Vorabend bereits gezwungen gewesen war, mit dem Sowjet in offizielle<br />

Verhandlungen zu treten, ihre Zustimmung zur Einführung des 8-Stunden-Tages und zur<br />

Bildung von Fabrikkomitees. Die Industriellen bewiesen mehr Weitsicht als die Strategen<br />

des Sowjets. Das ist nicht verwun<strong>der</strong>lich: in den Fabriken standen die Unternehmer<br />

von Angesicht zu Angesicht den Arbeitern gegenüber, die mindestens in <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Betriebe, darunter vorwiegend <strong>der</strong> größten, nach 8-stündiger Arbeit einmütig<br />

die Werkbänke verließen. Sie nahmen sich selbst, was ihnen Regierung und Sowjet<br />

versagten. Als die liberale Presse gerührt die Geste <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Industriellen vom 10.<br />

März 1917 mit <strong>der</strong> Geste des französischen Adels vom 4. August 1789 verglich, war sie<br />

<strong>der</strong> historischen Wahrheit viel näher, als sie es selbst geglaubt haben mag: ähnlich den<br />

Feudalen am Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts handelten die <strong>russischen</strong> Kapitalisten unter den<br />

Schlägen des Zwanges und hofften durch eine vorübergehende Konzession in die Lage<br />

zu kommen, später das Verlorene wie<strong>der</strong> einzuholen. Unter Verletzung <strong>der</strong> offiziellen<br />

Lüge gestand ein kadettischer Publizist offen: »Zum Unglück <strong>der</strong> Menschewiki haben die<br />

Bolschewiki die Vereinigung <strong>der</strong> Fabrikanten durch Terror bereits gezwungen, sich mit<br />

<strong>der</strong> sofortigen Einführung des 8-Stunden-Tages einverstanden zu erklären.« Worin <strong>der</strong><br />

Terror bestand, wissen wir schon. Die Arbeiterbolschewiki nahmen in dieser Bewegung<br />

zweifellos den ersten Platz ein. Und wie<strong>der</strong>um ging, wie in den entscheidenden Tagen<br />

des Februar, die erdrückende Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter mit ihnen.<br />

Mit sehr gemischten Gefühlen registrierte <strong>der</strong> von den Menschewiki geleitete Sowjet<br />

den gewaltigen Sieg, <strong>der</strong> eigentlich gegen ihn errungen worden war. Die beschämten<br />

Führer mußten jedoch einen Schritt weitergehen und <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

vorschlagen, noch vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung ein Dekret über den 8-Stunden-Tag<br />

für das ganze Land zu erlassen. Nach einer Übereinkunft mit den Unternehmern<br />

weigerte sich aber die Regierung, in Erwartung besserer Tage, die ihr ohne jeglichen<br />

Nachdruck gestellte For<strong>der</strong>ung zu erfüllen.<br />

Im Moskauer Bezirk begann <strong>der</strong> gleiche Kampf, nur nahm er einen schleichen<strong>der</strong>en<br />

Charakter an. Auch hier verlangte, entgegen dem Wi<strong>der</strong>stande <strong>der</strong> Arbeiter, <strong>der</strong> Sowjet<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 160


die Wie<strong>der</strong>aufnahme <strong>der</strong> Arbeit. In einer <strong>der</strong> größten Fabriken erhielt die Resolution<br />

gegen den Abbruch des Streiks 7.000 von 13.000 Stimmen. So ungefähr reagierten auch<br />

die an<strong>der</strong>en Betriebe. Am 10. März wie<strong>der</strong>holte <strong>der</strong> Sowjet den Beschluß, wonach die<br />

Arbeiter sofort in die Betriebe zurückgehen sollten. Obwohl daraufhin in den meisten<br />

Fabriken die Arbeit aufgenommen wurde, entbrannte fast überall <strong>der</strong> Kampf um die<br />

Verkürzung des Arbeitstages. Die Arbeiter korrigierten ihre Führer durch die Tat. Der<br />

sich lange sträubende Moskauer Sowjet war schließlich, am 21. März, gezwungen, durch<br />

einen eigenen Beschluß den 8-Stunden-Tag einzuführen. Die Industriellen unterwarfen<br />

sich unverzüglich. In <strong>der</strong> Provinz dauerte <strong>der</strong> Kampf noch bis in den April hinein. Fast<br />

überall bremsten die Sowjets anfangs die Bewegung und wirkten ihr entgegen; später<br />

traten sie, unter dem Druck <strong>der</strong> Arbeiter, mit den Unternehmern in Verhandlung; wo<br />

diese ihre Zustimmung verweigerten, waren die Sowjets gezwungen, den 8-Stunden-Tag<br />

eigenmächtig zu dekretieren. Welche Bresche im System!<br />

Die Regierung hielt sich absichtlich beiseite. Inzwischen wurde, dirigiert von den<br />

liberalen Führern, eine wütende Kampagne gegen die Arbeiter eröffnet. Um sie mürbe zu<br />

machen, beschloß man, die Soldaten gegen sie aufzuhetzen. Eine Verkürzung des<br />

Arbeitstages bedeutete doch Schwächung <strong>der</strong> Front. Dürfe man etwa während des<br />

Krieges nur an sich denken? Würden etwa in den Schützengräben die Stunden gezählt?<br />

Wenn die besitzenden Klassen den Weg <strong>der</strong> Demagogie beschreiten, machen sie vor<br />

nichts halt. Die Agitation nahm einen wüsten Charakter an und wurde bald in die Schützengräben<br />

übertragen. Der Soldat Pirejko gesteht in seinen Fronterinnerungen, daß die<br />

Agitation, hauptsächlich von neugebackenen <strong>Sozialisten</strong> aus dem Offiziersstande geführt,<br />

nicht ohne Wirkung blieb. »Aber das ganze Pech des Offiziersstandes, <strong>der</strong> es versuchte,<br />

die Soldaten gegen die Arbeiter aufzuhetzen, bestand darin, daß sie Offiziere waren. Zu<br />

frisch war noch in <strong>der</strong> Erinnerung eines jeden Soldaten, was früher <strong>der</strong> Offizier bedeutet<br />

hatte.« Den schärfsten Charakter nahm die Arbeiterhetze in <strong>der</strong> Hauptstadt an. im Verein<br />

mit dem Kadettenstab fanden die Industriellen unbeschränkte Mittel und Kräfte für die<br />

Agitation in <strong>der</strong> Garnison. »Um den 20. herum«, erzählt Suchanow, »konnte man an<br />

allen Straßenecken, in den Straßenbahnen, an jedem öffentlichen Platz Arbeiter und<br />

Soldaten in wütendem Wortgefecht miteinan<strong>der</strong> antreffen.« Es kam auch zu Schlägereien.<br />

Die Arbeiter begriffen die Gefahr und wandten sie geschickt ab.<br />

Es genügte ihnen, zu diesem Zwecke die Wahrheit zu erzählen, die Zahlen <strong>der</strong> Kriegsgewinne<br />

zu nennen, den Soldaten die Betriebe und Werkstätten mit ihrem Maschinenlärm,<br />

höllischen Flammen <strong>der</strong> Öfen zu zeigen - ihre ewige Front, an <strong>der</strong> sie ungezählte<br />

Opfer brachten. Auf Initiative <strong>der</strong> Arbeiter begannen regelmäßige Besuche <strong>der</strong> Betriebe<br />

durch Garnisonteile, beson<strong>der</strong>s jener Betriebe, die für die Landesverteidigung arbeiteten.<br />

Der Soldat sah und hörte, <strong>der</strong> Arbeiter zeigte und erklärte. Die Besuche endeten mit<br />

feierlichen Verbrü<strong>der</strong>ungen. Die sozialistischen Zeitungen veröffentlichten zahlreiche<br />

Resolutionen von Truppenteilen über <strong>der</strong>en unverbrüchliche Solidarität mit den Arbeitern.<br />

Um die Mitte des Monats April verschwand <strong>der</strong> Konfliktgegenstand restlos aus den<br />

Spalten <strong>der</strong> Zeitungen. Die bürgerliche Presse verstummte. So errangen die Arbeiter nach<br />

dem ökonomischen einen politischen und moralischen Sieg.<br />

Die mit dem Kampf um den 8-Stunden-Tag verbundenen Ereignisse waren für die<br />

ganze weitere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von großer Bedeutung. Die Arbeiter gewannen<br />

einige freie Stunden in <strong>der</strong> Woche für Lektüre, Versammlungen, aber auch für<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 161


Gewehrübungen, die mit <strong>der</strong> Schaffung <strong>der</strong> Arbeitermiliz einen geordneten Charakter<br />

bekamen. Nach einer so krassen Lehre fingen die Arbeiter an, sich die Sowjetleiter näher<br />

zu besehen. Die Autorität <strong>der</strong> Menschewiki hatte eine ernstliche Einbuße erlitten. Die<br />

Bolschewiki befestigten sich in den Betrieben, teils auch in den Kasernen. Der Soldat<br />

wurde aufmerksamer nachdenklicher, vorsichtiger; er begrift daß ihm jemand auf-lauere.<br />

Die verräterische Absicht <strong>der</strong> Demagogie wandte sich gegen <strong>der</strong>en Inspiratoren. Statt<br />

Entfremdung und Feindschaft entstand eine innigere Zusammenschweißung <strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten.<br />

Trotz des Kontaktidylls haßte die Regierung den Sowjet, seine Führer, seine Bevormundung.<br />

Sie bewies es bei <strong>der</strong> ersten sich bietenden Gelegenheit. Da <strong>der</strong> Sowjet reine<br />

Regierungsfunktionen ausübte, und zwar auf eigenes Ersuchen <strong>der</strong> Regierung, sobald es<br />

hieß, die Massen im Zaume zu halten, kam das Exekutivkomitee um einen bescheidenen<br />

Unkostenzuschuß ein. Die Regierung lehnte ab und beharrte, trotz wie<strong>der</strong>holten<br />

Drängens des Sowjets, bei ihrer Weigerung: sie könne einer "Privatorganisation" keine<br />

Staatsmittel bewilligen. Der Sowjet schwieg. Das Budget des Sowjets belastete die<br />

Arbeiter, die nicht müde wurden, Geldsammlungen für die Bedürfnisse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

zu veranstalten.<br />

Indes wahrten beide Parteien, Liberale und <strong>Sozialisten</strong>, den Schein restloser gegenseitiger<br />

Freundschaft. Auf <strong>der</strong> Allrussisehen Konierenz <strong>der</strong> Sowjets wurde das Vorhandensein<br />

einer Doppelmacht für eine Erfindung erklärt. Kerenski versicherte den Ddegierten<br />

<strong>der</strong> Armee, zwischen Regierung und Sowjet bestehe völlige Einigkeit über Aufgaben und<br />

Ziele. Nicht min<strong>der</strong> eifrig bestritten Zeretelli, Dan und an<strong>der</strong>e Sowjethäupter die<br />

Existenz <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Mit Hilfe <strong>der</strong> Lüge suchte man ein Regime zu festigen,<br />

das auf Lüge aufgebaut war.<br />

Doch schwankte das Regime seit den ersten Wochen. Die Führer waren unermüdlich in<br />

organisatorischen Kombinationen: sie versuchten, sich gegen die Massen auf zufällige<br />

Vertreter zu stützen, auf die Soldaten gegen die Arbeiter, auf neue Dumas, Semstwos,<br />

Kooperationen gegen die Sowjets, auf die Provinz gegen die Hauptstadt und zum Schluß<br />

auf die Offiziere gegen das Volk.<br />

Die Sowjetform enthält keinerlei mystische Kraft. Sie ist durchaus nicht von den<br />

Fehlern einer jeden Vertretungsform frei, die unvermeidlich bleiben, solange diese selbst<br />

unvermeidlich ist. Aber ihre Stärke besteht darin, daß sie diese Fehler auf das äußerste<br />

herabmin<strong>der</strong>t. Man kann mit Bestimmtheit sagen - und die Erfahrung wird das bald<br />

bestätigen -, daß jede an<strong>der</strong>e die Massen atomisierende Vertretung in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

<strong>der</strong>en wirklichen Willen unvergleichlich schlechter und mit weitaus größerer Verspätung<br />

zum Ausdruck gebracht haben würde. Von allen revolutionären Vertretungsformen ist<br />

<strong>der</strong> Sowjet die biegsamste, unmittelbarste und klarste. Aber, doch ist es nur eine Form.<br />

Sie kann nicht mehr geben, als die Massen in jedem gegebenen Augenblick fähig sind, in<br />

sie hineinzulegen. Dafür aber kann sie den Massen das Verständnis für die begangenen<br />

Fehler und <strong>der</strong>en Richtigstellung erleichtern. Darin eben bestand eine <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Bürgschaften für die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Wie aber waren die politischen Perspektiven des Exekutivkomitees? Es ist fraglich, ob<br />

einer seiner Führer bis zu Ende durchdachte Perspektiven besaß. Suchanow versicherte<br />

später, daß, nach seinem Plan, die Macht nur für eine kurze Frist an die Bourgeoisie<br />

abgetreten werden sollte, bis die Demokratie, stärker geworden, diese Macht umso siche-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 162


er übernehmen könne. Doch diesean sich naive Konstruktion hat einen durchsichtig<br />

retrospektiven Charakter. Jedenfalls wurde sie seinerzeit von niemandem formuliert.<br />

Unter <strong>der</strong> Leitung Zeretellis hörten zwar die Schwankungen des Exekutivkomitees nicht<br />

auf, wurden aber in ein System gebracht. Zeretelli verkündete offen, ohne eine feste<br />

bürgerliche Macht drohe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>der</strong> unabwendbare Untergang. Die Demokratie<br />

müsse sich darauf beschränken, auf die liberale Bourgeoisie einen Druck auszuüben, und<br />

sich hüten, durch eine unvorsichtige Handlung sie in das Lager <strong>der</strong> Reaktion zu stoßen;<br />

im Gegenteil, sie müsse die liberale Bourgeoisie, insoweit diese die Errungenschaften <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> festigen werde, unterstützen. Letzten Endes mußte dieses unbestimmte<br />

Regime auf eine bürgerliche Republik mit den <strong>Sozialisten</strong> als parlamentarischer Opposition<br />

hinauslaufen.<br />

Einen Stein des Anstoßes bildete für die Führer weniger die Perspektive als das<br />

laufende Aktionsprogramm. Die Versöhnler versprachen den Massen, auf dem Wege des<br />

"Drucks" von <strong>der</strong> Bourgeoisie eine demokratische Innen- und Außenpolitik zu erkämpfen.<br />

Zweifellos haben in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> die herrschenden Klassen mehr als einmal unter<br />

dem Druck <strong>der</strong> Volksmassen Konzessionen gemacht. Aber <strong>der</strong> "Druck" bedeutete letzten<br />

Endes die Drohung, die herrschende Klasse von <strong>der</strong> Macht zu verdrängen und <strong>der</strong>en<br />

Platz einzunehmen. Gerade diese Waffe jedoch hatte die Demokratie nicht in den<br />

Händen. Sie selbst hatte freiwillig die Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert. Bei Ausbruch<br />

von Konflikten drohte nicht die Demokratie mit <strong>der</strong> Wegnahme <strong>der</strong> Macht, son<strong>der</strong>n<br />

umgekehrt die Bourgeoisie schreckte mit ihrem Verzicht auf die Macht. So lag <strong>der</strong><br />

Haupthebel <strong>der</strong> Druckmechanik in den Händen <strong>der</strong> Bourgeoisie. Das erklärt auch,<br />

weshalb die Regierung bei ihrer ganzen Ohnmacht allen ernsten Bestrebungen <strong>der</strong><br />

Sowjetspitzen mit Erfolg Wi<strong>der</strong>stand leisten konnte.<br />

Mitte April erweist sich sogar das Exekutivkomitee als ein zu breites Organ für die<br />

politischen Sakramente des führenden Kernes, <strong>der</strong> sein Gesicht endgültig den Liberalen<br />

zugewandt hatte. Es wurde ein Büro abgeson<strong>der</strong>t, ausschließlich aus rechten Vaterlandsverteidigern.<br />

Von nun an machte man große Politik im eigenen Kreise. Alles schien ins<br />

Geleise zu kommen und sich zu festigen. Zeretelli herrschte in den Sowjets uneingeschränkt.<br />

Kerenski stieg höher und höher. Aber gerade in diesem Moment begannen<br />

unten, bei den Massen, die ersten beunruhigenden Anzeichen deutlich sichtbar zu<br />

werden. »Es ist erstaunlich«, schreibt Stankewitseh, <strong>der</strong> dem Kreise Kerenskis<br />

nahestand, »daß gerade in dem Augenblick, als das Komitee sich organisierte, als das<br />

Büro, gewählt ausschließlich aus Parteien <strong>der</strong> Vaterlandsverteidigung, die Verantwortung<br />

für die Arbeit übernahm, daß gerade zu dieser Zeit das Komitee aus seinen Händen<br />

die Leitung <strong>der</strong> Massen verlor, die sich von ihm abwandten.« Erstaunlich? Nein, nur<br />

gesetzmäßig.<br />

Armee und Krieg<br />

Schon in den <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorangegangenen Monaten war die Disziplin in <strong>der</strong><br />

Armee merklich ins Wanken geraten. Man kann nicht wenige Klagen von Offizieren aus<br />

jener Zeit finden: die Soldaten benähmen sich ungebührlich gegen die Vorgesetzten, die<br />

Behandlung <strong>der</strong> Pferde, des Fiskusgutes, sogar <strong>der</strong> Waffen, sei unter je<strong>der</strong> Kritik, in den<br />

Militärzügen herrsche Unordnung. Nicht überall war die Sache gleich schlecht. Doch<br />

bewegte sie sich überall in <strong>der</strong> gleichen Richtung: dem Zerfall zu.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 163


Nun kam die Erschütterung durch die <strong>Revolution</strong> hinzu. Der Aufstand <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Garnison vollzog sich nicht nur ohne den Offiziersstand, son<strong>der</strong>n gegen ihn. In den kritischen<br />

versteckten die Kommandeure einfach die Köpfe. Der Oktobristendeputierte<br />

Sehidlowski unterhielt sich am 27. Februar mit Offizieren des Preobraschenski-Regiments,<br />

offenbar in <strong>der</strong> Absicht, <strong>der</strong>en Einstellung zur Duma herauszufühlen, aber er traf<br />

bei den Gardearistokraten völliges Unverständnis für die Geschehnisse, was übrigens<br />

vielleicht zur Hälfte Verstellung war: waren es doch alles erschrockene Monarchisten.<br />

»Wie groß war meine Verwun<strong>der</strong>ung«, berichtet Schidlowski, »als ich am nächsten<br />

Morgen auf <strong>der</strong> Straße das gesamte Preobraschenski-Regiment, in mustergultiger<br />

Ordnung in Reih und Glied marschierend, mit einem Orchester an <strong>der</strong> Spitze, ohne einen<br />

einzigen Offizier erblickte ...« Allerdings kamen einige Truppenteile ins Taurische Palais<br />

mit ihren Kommandeuren, genauer gesagt, sie führten diese mit sieh. Die Offiziere<br />

fühlten sich bei diesem Festzug in <strong>der</strong> Lage von Gefangenen. Gräfin Kleinmichel, die als<br />

Verhaftete diese Szenen beobachtet hat, drückt sich bestimmter aus: die Offiziere ähnelten<br />

Hammeln, die man zur Schlachtbank führt.<br />

Die Februarrevolution hat die Trennung zwischen Soldaten und Offizieren nicht<br />

geschaffen, sie hat sie nur aufgedeckt. Im Bewußtsein <strong>der</strong> Soldaten war <strong>der</strong> Aufstand<br />

gegen die Monarchie zuallererst ein Aufstand gegen die Vorgesetzten. »Seit dem Morgen<br />

des 28. Februar«, erinnert sich <strong>der</strong> Kadett Nabokow, <strong>der</strong> in jenen Tagen Offiziersuniform<br />

trug, »war es gefährlich, auszugehen, weil man den Offizieren die Achselstücke<br />

herunterriß.« So sah <strong>der</strong> erste Tag des neuen Regimes in <strong>der</strong> Garnison aus!<br />

Die erste Sorge des Exekutivkomitees war, die Soldaten mit den Offizieren zu versöhnen.<br />

Das bedeutete nichts an<strong>der</strong>es, als die Truppenteile wie<strong>der</strong> den alten Kommandeuren<br />

zu unterstellen. Die Rückkehr <strong>der</strong> Offiziere zu den Regimentern sollte, nach Suchanows<br />

Worten, die Armee vor »allgemeiner Anarchie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> finsteren und<br />

zersetzenden Soldateska« bewahren. Wie die Liberalen, fürchteten diese <strong>Revolution</strong>äre<br />

die Soldaten und nicht die Offiziere. Indes erwarteten die Arbeiter gemeinsam mit <strong>der</strong><br />

"finsteren Soldateska" alles Übel gerade von seiten <strong>der</strong> glanzvollen Offiziere. Die<br />

Versöhnung war deshalb nicht von Dauer.<br />

Stankewitseh schil<strong>der</strong>t das Verhalten <strong>der</strong> Soldaten gegenüber den nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />

zu ihnen zurückgekehrten Offizieren in folgenden Zügen: »Es stellte sich heraus, daß die<br />

Soldaten, die unter Verletzung <strong>der</strong> Disziplin nicht nur ohne Offiziere, son<strong>der</strong>n ... in<br />

vielen Fällen trotz <strong>der</strong> Offiziere die Kasernen verlassen und jene Vorgesetzten, die ihre<br />

Pflicht erfüllten, sogar getötet, ein großes Heldenstück <strong>der</strong> Befreiung vollbracht hatten.<br />

Wenn dies eine Heldentat war und die Offiziere es jetzt selbst behaupteten, weshalb<br />

haben sie dann nicht selbst die Soldaten auf die Straße geführt - für sie wäre es doch<br />

leichter und gefahrloser gewesen? Jetzt, nach <strong>der</strong> Tatsache des Sieges, schließen sie sich<br />

<strong>der</strong> Heldentat an. Ob aber aufrichtig und für lange?« Diese Worte sind um um so lehrreicher,<br />

als ihr Autor selbst zu jenen "linken" Offizieren gehörte, die nicht mal daran<br />

gedacht hatten, die Soldaten auf die Straße zu führen.<br />

Am Morgen des 28. klärte auf dem Sampsonjewski-Prospekt <strong>der</strong> Kommandeur einer<br />

Genieabteilung seine Soldaten auf: »Die allen verhaßte Regierung ist gestürzt«, eine<br />

neue sei gebildet, mit dem Fürsten Lwow an <strong>der</strong> Spitze, folglich müsse man in alter<br />

Weise den Offizieren gehorchen. »Und jetzt - bitte je<strong>der</strong> auf seinen Platz in die<br />

Kasernen. Einige Soldaten riefen: "Zu Befehl", die Mehrzahl blickte verwirrt drein: das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 164


ist alles? Diese Szene hatte Kajurow zufällig beobachtet. Es ging ihm durch und durch.<br />

»Gestatten Sie mir das Wort, Herr Kommandeur« ... Und ohne die Erlaubnis abzuwarten,<br />

stellte Kajurow die Frage: »Ist denn wegen <strong>der</strong> Ablösung des einen Gutsbesitzers durch<br />

den an<strong>der</strong>en drei. Tage lang in den Straßen Petrograds Arbeiterblut geflossen?«<br />

Kajurow hatte auch hier den Stier bei den Hörnern gepackt. Die von ihm gestellte Frage<br />

bildete den Kampfinhalt <strong>der</strong> nächsten Monate. Der Antagonismus zwischen Soldat und<br />

Offizier war die Wi<strong>der</strong>spiegelung <strong>der</strong> Feindschaft zwischen Bauer und Gutsbesitzer.<br />

In <strong>der</strong> Provinz stellten die Kommandeure, die offenbar inzwischen Instruktionen erhalten<br />

hatten, die Ereignisse nach einem und demselben Muster dar: <strong>der</strong> Kaiser habe sich in<br />

Sorge um das Land erschöpft und sei gezwungen gewesen, die Last <strong>der</strong> Regierung<br />

seinem Bru<strong>der</strong> zu übertragen. Man las auf den Gesichtern <strong>der</strong> Soldaten, klagt ein Offizier<br />

aus einem entlegenen Winkel <strong>der</strong> Krim: Nikolaus o<strong>der</strong> Michail - alles einerlei. Als<br />

jedoch <strong>der</strong> gleiche Kommandeur gezwungen war, am nächsten Morgen dem Bataillon<br />

den Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mitzuteilen, waren die Soldaten, nach seinen Worten, wie<br />

umgewandelt. Ihre Fragen, Gesten, Blicke zeugten klar von <strong>der</strong> »beharrlichen, langwierigen<br />

Arbeit, die jemand an diesen finsteren, grauen, des Denkens ungewohnten Hirnen<br />

vollbracht hatte«. Welche Kluft zwischen den Offizieren, <strong>der</strong>en Gehirne sich so mühelos<br />

dem letzten Petrogra<strong>der</strong> Telegramm anpaßten, und diesen Soldaten, die zwar schwer,<br />

aber ehrlich ihr Verhältnis zu den Ereignissen bestimmten, sie selbständig auf <strong>der</strong><br />

schwieligen Hand wägend!<br />

Das Oberste Kommando, das die Umwälzung formell anerkannt hatte, beschloß, die<br />

<strong>Revolution</strong> überhaupt nicht an die Front durchzulassen. Der Stabschef des Hauptquartiers<br />

befahl den Oberkommandierenden <strong>der</strong> Fronten: falls auf den ihnen unterstellten Territorien<br />

revolutionäre Delegationen auftauchen sollten, die General Alexcjew <strong>der</strong> Kürze<br />

halber Banden nannte, sie unverzüglich gefangenzunehmen und an Ort und Stelle vor ein<br />

Feldgericht zu stellen. Am nächsten Tage verlangte <strong>der</strong> gleiche General im Namen<br />

"Seiner Hoheit", des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, von <strong>der</strong> Regierung »Einstellung<br />

alles dessen, was heute in den Armeebezirken des Hinterlandes geschieht«, mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten - <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Das Kommando verschleppte es solange wie möglich, die aktive Armee über die<br />

Umwälzung zu unterrichten, weniger aus Treue für die Monarchie als aus Angst vor <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. An einigen Fronten errichtete man wahre Quarantänen: Briefe aus Petrograd<br />

wurden nicht durchgelassen, ankommende Personen festgehalten, so stahl das alte<br />

Regime von <strong>der</strong> Ewigkeit einige überzählige Tage. Die Kunde von <strong>der</strong> Umwälzung<br />

erreichte die Kampflinie nicht vor dem 5.-6. März. Aber in welcher Gestalt? Wir haben<br />

es schon ungefähr vernommen: zum Höchstkommandierenden sei <strong>der</strong> Großfürst ernannt,<br />

<strong>der</strong> Zar habe zum Wohle des Vaterlandes auf den Thron verzichtet, sonst sei alles beim<br />

alten. In viele Schützengräben, vielleicht in die meisten, gelangten Nachrichten von <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> früher durch die Deutschen als aus Petrograd. Konnten bei den Soldaten da<br />

noch Zweifel bestehen, daß das gesamte Kommando eine Verschwörung zur Unterdrükkung<br />

<strong>der</strong> Wahrheit gebildet hatte? Und konnten die Soldaten auch nur für einen Pfliferling<br />

jenen Offizieren Glauben schenken, die sich nach ein bis zwei Tagen rote Schleifchen<br />

ansteckten?<br />

Der Stabschef <strong>der</strong> Schwarzmeerfiotte erzählt, die Nachncht von den Ereignissen in<br />

Petrograd habe angeblich auf die Matrosen anfangs keinen merklichen Eindruck<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 165


gemacht. Sobald aber aus <strong>der</strong> Hauptstadt die ersten sozialistischen Zeitungen angekommen<br />

waren, »verän<strong>der</strong>te sich die Stimmung <strong>der</strong> Kommandos im Nu, es begannen<br />

Meetings, aus den Löchern krochen verbrecherische Agitatoren heraus«. Der Admiral<br />

begriff einfach nichts von dem, was sich vor seinen Augen abspielte. Nicht die Zeitungen<br />

hatten den Stimmungswechsel hervorgerufen. Sie zerstreuten nur die Zweifel <strong>der</strong> Matrosen<br />

über den Ernst <strong>der</strong> Umwälzung und erlaubten ihnen, offen ihre wahren Gefühle zu<br />

zeigen, ohne Angst vor Strafe seitens <strong>der</strong> Vorgesetzten. Der gleiche Autor charakterisiert<br />

das politische Gesicht <strong>der</strong> Offiziere <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte, darunter auch sein eigenes,<br />

durch einen Satz: »Die Mehrzahl <strong>der</strong> Offiziere glaubte, das Vaterland werde ohne Zaren<br />

zugrunde gehen.« Die Demokraten glaubten, das Vaterland werde ohne die Rückkehr<br />

solcher Leuchten zu den finsteren Matrosen zugrunde gehen.<br />

Der Kommandobestand <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> Flotte son<strong>der</strong>te bald zwei Phalangen ab: die<br />

eine versuchte, ihre Posten zu behalten, indem sie sich bei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> anbie<strong>der</strong>te, in<br />

die sozialrevolutionäre Partei eintrat; ein Teil von ihnen versuchte später sogar, bei den<br />

Bolschewiki unterzukriechen. Die an<strong>der</strong>en dagegen bäumten sich auf, versuchten, <strong>der</strong><br />

neuen Ordnung Wi<strong>der</strong>stand leisten, doch schon beim nächsten scharfen Konflikt<br />

zerschellten und wurden von <strong>der</strong> Soldatenüberschwemmung weggespült. Gruppierrangen<br />

dieser Art sind so natürlich, daß sie sich in allen <strong>Revolution</strong>en wie<strong>der</strong>holen. Die unversöhnlichen<br />

Offiziere <strong>der</strong> französischen Monarchie, jene, die, nach dem Ausdruck eines<br />

von ihnen, »gekämpft hatten, solange sie konnten«, litten weniger unter dem Ungehorsam<br />

<strong>der</strong> Soldaten als unter <strong>der</strong> Liebedienerei <strong>der</strong> adeligen Kollegen. Schließlich wurde<br />

die Mehrzahl des alten Kommandobestandes abgedrängt, unterdrückt, und nur ein kleiner<br />

Teil stellte sich um und assimilierte sich. Der Offiziersstand teilte nur in dramatischerer<br />

Form das Schicksal jener Klassen, denen er entstammte.<br />

Die Armee stellt überhaupt ein Abbild <strong>der</strong> Gesellschaft dar, <strong>der</strong> sie dient, mit dem<br />

Unterschiede, daß sie den sozialen Beziehungen einen konzentrierteren Charakter<br />

verleiht, <strong>der</strong>en positive und negative Züge in ihr extremsten Ausdruck finden. Es ist kein<br />

Zufall, daß in Rußland <strong>der</strong> Krieg nicht einen Militär von Namen hervorgebracht hat. Der<br />

höchste Kommandobestand ist von einem aus seiner Mitte recht kraß charakterisiert<br />

worden. »Viel Abenteuertum, viel Unbildung, viel Egoismus, Intrigen, Karrierismus,<br />

Habsucht, Unfähigkeit und Kurzsichtigkeit«, schreibt General Salesski, »aber sehr wenig<br />

Kenntnisse, Begabungen, Bereitschaft, sich o<strong>der</strong> auch nur seinen Komfort o<strong>der</strong> seine<br />

Gesundheit zu riskieren.« Nikolai Nikolajewitsch, <strong>der</strong> erste Höchstkommandierende,<br />

zeichnete sich nur durch hohen Wuchs und allerdurchlauchtigste Grobheit aus. Die<br />

Stärke des Generals Alexejew, einer grauen Mittelmäßigkeit, des höheren Militärschreibers<br />

<strong>der</strong> Armee, war fester Hosenboden. Kornilow, den mutigen Draufgänger, hielten<br />

sogar seine Verehrer für einen Einfaltspinsel; Werchowski, Kerenskis Kriegsminister,<br />

äußerte sich später über Kornilow: ein Löwenherz mit einem Hammelkopf. Brussilow<br />

und Admiral Koltschak überragten wohl die an<strong>der</strong>en an Intelligenz, aber auch nur das.<br />

Denikin war nicht ohne Charakter, im übrigen aber ganz und gar ein Durchschnittsgeneral,<br />

<strong>der</strong> fünf o<strong>der</strong> sechs Bücher gelesen hatte. Danach folgten die Judenitseh, Dragomirow,<br />

Lukomski, mit und ohne Französisch, gewöhnliche Trinker, starke Trinker, aber<br />

völlige Nullen.<br />

Im Offizierskorps war allerdings nicht nur das adelige, son<strong>der</strong>n auch das bürgerliche<br />

und demokratische Rußland stark vertreten. Der Krieg ergoß in die Reihen <strong>der</strong> Armee zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 166


Zehntausenden die kleinbürgerliche Jugend, als Offiziere, Kriegibeamte, Arzte, Ingenieure.<br />

Diese Kreise, die fast durchweg für den Krieg bis zum Siege waren, empfanden die<br />

Notwendigkeit irgendwelcher weitgehen<strong>der</strong> Maßnahmen, unterwarfen sich jedoch letzten<br />

Endes den reaktionären Oberschichten, unter dem Zarismus - aus Angst, nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung - aus Überzeugung, - wie sich die Demokratie im Hinterlande <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

unterwarf. Der versöhnlerische Teil <strong>der</strong> Offiziere teilte später das unselige Geschick<br />

<strong>der</strong> Versöhnlerparteien, mit dem Unterschiede, daß sich die Situation an <strong>der</strong> Front unvergleichlich<br />

schärfer gestaltete. Im Exekutivkomitee konnte man sich lange Zeit durch<br />

Zweideutigkeiten halten, unter den Augen <strong>der</strong> Soldaten war das schwieriger.<br />

Mißgunst und Reibungen zwischen demokratischen und aristokratischen Offizieren,<br />

die nicht imstande waren, die Armee zu erneuern, trugen in diese nur noch ein weiteres<br />

Element <strong>der</strong> Zersetzung hinein. Die Physiognomie <strong>der</strong> Armee bestimmte das alte<br />

Rußland, und das war durch und durch die Physiognomie <strong>der</strong> Leibeigenschaft. Die<br />

Offiziere hielten in alter Weise für den besten Soldaten den gehorsamen, urteilslosen<br />

Bauernjungen, in dem das Bewußtsein <strong>der</strong> menschlichen Persönlichkeit noch nicht<br />

erwacht war. Dies bildete die "nationale" Suworowsche Tradition <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee,<br />

die sich auf primitiven Ackerbau, Leibeigenschaft und Dorfgemeinde stützte. Im 18.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t vermochte Suworow mit diesem Material noch Wun<strong>der</strong> zu wirken. Leo<br />

Tolstoi idealisierte mit <strong>der</strong> Vorliebe eines Gutsherrn in seinem Platon Karatajew den<br />

alten Typ des <strong>russischen</strong> Soldaten, <strong>der</strong> sich widcrstandslos <strong>der</strong> Natur, <strong>der</strong> Willkür und<br />

dem Tode unterwirft ("Krieg und Frieden"); Die Französische <strong>Revolution</strong>, die den glanzvollen<br />

Durchbruch des Individualismus auf allen Gebieten <strong>der</strong> menschlichen Tätigkeit<br />

ermöglichte, hat über die Suworowsche Kriegskunst ein Kreuz gemacht. Im Verlaufe des<br />

19. wie des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, in <strong>der</strong> ganzen Epoche zwischen <strong>der</strong> Französischen und <strong>der</strong><br />

Russischen <strong>Revolution</strong>, wurde die zaristische Armee, als eine Leibeigenenarmee, ständig<br />

geschlagen. Der auf diesem "nationalen" Boden herangebildete Kommandobestand<br />

zeichnete sich durch Verachtung für die Person des Soldaten aus, durch passiven Mandarinengeist,<br />

Unwissen in seinem Handwerk, völligen Mangel heroischen Elements und<br />

vollendetes Diebswesen. Die Autorität des Offiziersstandes stützte sich auf äußere<br />

Rangabzeichen, auf ein Ritual von Ehrenbezeigungen, ein System von Repressalien und<br />

sogar eine beson<strong>der</strong>s festgelegte Sprache, die nie<strong>der</strong>trächtige Mundart <strong>der</strong> Sklaverei -<br />

»Zu Befehl«, »Melde gehorsamst« -, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Soldat mit dem Offizier sprechen mußte.<br />

Indem sie die <strong>Revolution</strong> in Worten akzeptierten und <strong>der</strong> Provisorischen Regierung den<br />

Eid leisteten, unterschoben die zaristischen Marschälle einfach ihre eigenen Sünden <strong>der</strong><br />

gefallenen Dynastie. Gnädig stimmten sie dem zu, daß Nikolaus zum Sündenbock für die<br />

ganze Vergangenheit gemacht wurde. Aber weiter - nicht einen Schritt! Wie sollten sie<br />

auch begreifen, daß das moralische Wesen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> Vergeistigung jener<br />

Menschenmasse bestand, auf <strong>der</strong>en geistiger Unbeweglichkeit ihr ganzes Wohlergehen<br />

beruhte. Der zum Befehlshaber <strong>der</strong> Front ernannte Denikin erklärte Minsk: »Ich akzeptiere<br />

die <strong>Revolution</strong> ganz und vorbehaltlos. Doch betrachte ich die <strong>Revolution</strong>ierung <strong>der</strong><br />

Armee und das Hineintragen von Demagogie in ihre Reihen als ver<strong>der</strong>blich für das<br />

Land.« Eine klassische Formel des Generalsstumpfsinns! Was die Durchschnittsgenerale<br />

betrifft, so verlangten sie, nach dem Ausdruck Salesskis, nur eines: »Rührt uns nur nicht<br />

an - alles an<strong>der</strong>e ist uns gleichgültig!« Die <strong>Revolution</strong> jedoch konnte sie nicht unangerührt<br />

lassen. Abkömmlinge privilegierter Klassen, konnten sie nichts gewinnen, aber<br />

vieles verlieren. Ihnen drohte nicht nur <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Kommandoprivilegien, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 167


auch des Bodenbesitzes. Unter dem Deckmantel <strong>der</strong> Loyalität gegen die Provisorische<br />

Regierung entfesselten die reaktionären Offiziere einen um so erbitterteren Kampf gegen<br />

die Sowjets. Als sie sich davon überzeugten, daß die <strong>Revolution</strong> unaufhaltsam in die<br />

Soldatenmassen und die Erbgüter drang, erblickten sie darin einen unerhörten Treubruch<br />

- seitens Kerenskis, Miljukows und sogar Rodsjankos. Von den Bolschewiken nicht erst<br />

zu sprechen.<br />

Die Existenzbedingungen <strong>der</strong> Kriegsflotte bargen in viel höherem Maße als die <strong>der</strong><br />

Armee ständig lebendige Keime des Bürgerkrieges in sich. Das Leben <strong>der</strong> Matrosen in<br />

den Stahlkisten, in die man sie gewaltsam für einige Jahre hineinpferchte, unterschied<br />

sich sogar in <strong>der</strong> Verpflegung wenig vom Leben <strong>der</strong> Zuchthäusler. Und daneben die<br />

Offiziere, meist aus privilegierten Kreisen, die den Seedienst freiwillig zu ihrem Beruf<br />

erwählt hatten, das Vaterland mit dem Zaren, den Zaren mit sich identifizierten und im<br />

Matrosen den wertlosesten Bestandteil des Kriegsschiffes erblickten. Zwei einan<strong>der</strong><br />

fremde Welten lebten in enger Berührung, ohne einan<strong>der</strong> aus den Augen zu lassen. Die<br />

Schiffe <strong>der</strong> Flotte hatten ihren Standort in industriellen Hafenstädten mit großer Arbeiterzahl,<br />

die für Bau und Reparaturen <strong>der</strong> Schiffe notwendig war. Dazu gab es unter dem<br />

Maschinenpersonal und dem technischen Dienst auf den Schiffen selbst nicht wenig<br />

qualifizierte Arbeiter. Das waren die Bedingungen, die die Kriegsflotte in eine revolutionäre<br />

Mine verwandelten. In den Umwälzungen und militärischen Aufständen aller<br />

Län<strong>der</strong> bildeten die Matrosen den explosivsten Stoff; fast stets pflegten sie bei <strong>der</strong> ersten<br />

Gelegenheit mit ihren Offizieren grausam abzurechnen. Die <strong>russischen</strong> Matrosen bildeten<br />

keine Ausnahme.<br />

In Kronstadt war die Umwälzung von einem blutigen Rache-ausbruch gegen die<br />

Kommandeure begleitet, die aus Entsetzen vor <strong>der</strong> eigenen Vergangenheit versucht<br />

hatten, die <strong>Revolution</strong> vor den Matrosen zu verbergen. Als eines <strong>der</strong> ersten Opfer fiel <strong>der</strong><br />

Flottenkommandierende, Admiral Wieren, <strong>der</strong> wohlverdienten Haß genoß. Ein Teil des<br />

Kommandobestandes wurde von den Matrosen verhaftet. Die in Freiheit belassenen<br />

Offiziere wurden entwaffnet.<br />

In Helsingfors und Sweaborg ließ Admiral Nepenin bis zur Nacht des 4. März keine<br />

Nachrichten aus dem aufständischen Petrograd durch und bedrohte Matrosen und Soldaten<br />

mit Repressalien. Um so wüten<strong>der</strong> entbrannte hier <strong>der</strong> Aufstand, <strong>der</strong> einen Tag und<br />

eine Nacht dauerte. Viele Offiziere wurden verhaftet. Die verhaßtesten ließ man unter<br />

dem Eis schwimmen. »Urteilt man nach Skobeljews Erzählung über das Verhalten <strong>der</strong><br />

Vorgesetzten in Helsingfors und bei <strong>der</strong> Flotte«, schreibt <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> »finsteren Soldateska«<br />

keinesfalls nachsichtige Suchanow, »so muß man sich nur wun<strong>der</strong>n, daß die Exzesse<br />

hier so geringfügig waren.«<br />

Aber auch bei den Landtruppen blieb es nicht ohne blutige Abrechnung, die sich in<br />

einigen Zwischenräumen abspielte. Anfangs war es Rache für die Vergangenheit, für die<br />

nie<strong>der</strong>trächtigen Peinigungen <strong>der</strong> Soldaten. An Erinnerungen, brennend wieWunden,<br />

bestand kein Mangel. Seit 1915 war in <strong>der</strong> zaristischen Armee offiziell die Disziplinarstrafe<br />

<strong>der</strong> Auspeitschung eingeführt. Die Offiziere ließen eigenmächtig Soldaten, nicht<br />

selten Familienväter, auspeitschen. Aber es ging nicht immer nur um die Vergangenheit.<br />

Auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Sowjetkonferenz berichtete <strong>der</strong> Referent über die Lage in <strong>der</strong><br />

Armee, daß noch in <strong>der</strong> Zeit vom 5. bis 17. März Befehle über die Anwendung körperlicher<br />

Strafen gegen Soldaten erlassen wurden. Ein von <strong>der</strong> Front zuruckgekehrter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 168


Dumadeputierter erzählte, Kosaken hätten ihm in Abwesenheit <strong>der</strong> Offiziere erklärt: »Sie<br />

sprechen da von einem Befehl [offenbar <strong>der</strong> berühmte "Befehl Nr. 1", von dem noch die<br />

Rede sein wird]. Er ist gestern angekommen, und heute hat mich <strong>der</strong> Kommandant in die<br />

Fresse geschlagen.« Die Bolschewiki bemühten sich ebenso häufig wie die Versöhnler,<br />

die Soldaten von Exzessen zurückzuhalten. Doch blutige Vergeltungen waren ebenso<br />

unvermeidlich wie <strong>der</strong> Rückstoß nach dem Schuß. Jedenfalls hatten die Liberalen keinen<br />

an<strong>der</strong>en Grund, die Februarrevolution unblutig zu nennen, als den, daß sie ihnen die<br />

Macht gebracht hatte.<br />

Einige Offiziere verstanden es, scharfe Konflikte heraufzubeschwören, <strong>der</strong> roten<br />

Schleifen wegen. die in den Augen <strong>der</strong> Soldaten das Symbol des Bruches mit <strong>der</strong><br />

Vergangenheit waren. Aus diesem Anlaß wurde <strong>der</strong> Kommandeur des Sumaer Regiments<br />

getötet. Ein Korpskommandeur, <strong>der</strong> die neu eingetroffenen Reserven aufgefor<strong>der</strong>t hatte,<br />

die roten Schleifen abzunehmen, wurde von den Soldaten verhaftet und auf die Hauptwache<br />

gebracht. Nicht wenige Zusammenstöße gab es auch wegen <strong>der</strong> Zarenporträts, die<br />

man aus den öffentlichen Räumen nicht entfernte. War das Ergebenheit für die Monarchie?<br />

In den meisten Fällen nur Unglaube an den Bestand <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und persönliche<br />

Rückversicherung. Die Soldaten aber sahen nicht ohne Grund hinter den Porträts das<br />

lauernde Gespenst des alten Regimes.<br />

Nicht überlegte Maßnahmen von oben, son<strong>der</strong>n stürmische Bewegungen von unten<br />

begründeten das neue Regime in <strong>der</strong> Armee. Die Disziplinargewalt <strong>der</strong> Offiziere war<br />

we<strong>der</strong> abgeschafft noch eingeschränkt; sie erledigte sich im Laufe <strong>der</strong> ersten Märzwochen<br />

einfach von selbst. »Es war klar«, sagt <strong>der</strong> Stabschef <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte, »hätte<br />

ein Offizier es unternommen, einem Matrosen eine Disziplinarstrafe aufzuerlegen, es<br />

wären keine Kräfte vorhanden gewesen, diese Strafe durchzuführen.« Darin besteht eines<br />

<strong>der</strong> Merkmale einer wahren Volksrevolution.<br />

Mit dem Wegfall <strong>der</strong> Disziplinargewalt offenbarte sich unverhüllt die praktische<br />

Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Offrziere. Stankewitsch, dem man we<strong>der</strong> Beobachtungsgabe noch<br />

Interesse für das Kriegshandwerk absprechen kann, gibt auch in dieser Hinsicht ein<br />

vernichtendes Urteil über den Kommandobestand: die Ausbildung vollzog sich immer<br />

noch nach den alten Statuten, die den Erfor<strong>der</strong>nissen des Krieges absolut nicht entsprachen.<br />

»Solche Übungen waren nur Proben auf Geduld und Gehorsam <strong>der</strong> Soldaten.« Die<br />

Offiziere waren selbstverständlich bestrebt, die Schuld für die eigene Unzulänglichkeit<br />

auf die <strong>Revolution</strong> abzuwälzen.<br />

Mit erbarmungsloser Abrechung schnell bei <strong>der</strong> Hand, neigten die Soldaten auch leicht<br />

zu kindlicher Vertrauensseligkeit und selbstaufopfern<strong>der</strong> Dankbarkeit. Für einen flüchtigen<br />

Augenblick erschien <strong>der</strong> Deputierte Filonenko, Geistlicher und Liberaler, den Frontsoldaten<br />

als Träger <strong>der</strong> Befreiungsideen und Seelenhirte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Alte kirchliche<br />

Vorstellungen vermischten sich wun<strong>der</strong>sam mit dem neuen Glauben. Die Soldaten trugen<br />

den Geistlichen auf Händen, hoben ihn hoch über die Köpfe, setzten ihn behutsam in den<br />

Schlitten, und er durfte später, vor Begeisterung sich überschlagend, in <strong>der</strong> Duma berichten:<br />

»Wir konnten nicht voneinan<strong>der</strong> Abschied nehmen. Sie küßten uns Hände und<br />

Füße:« Dem Deputierten schien es, als genieße die Duma bei <strong>der</strong> Armee ungeheure<br />

Autorität. In Wirklichkeit besaß Autorität die <strong>Revolution</strong>, und sie war es, die ihren<br />

blendenden Abglanz auf einzelne zufällige Figuren warf.<br />

Sie symbolische Säuberung, die Gutschkow an den Spitzen <strong>der</strong> Armee vorgenommen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 169


hatte - Absetzung einiger Dutzend Generale -, konnte die Soldaten nicht befriedigen und<br />

erzeugte gleichzeitig unter den höheren Offizieren einen Zustand <strong>der</strong> Unsicherheit. Je<strong>der</strong><br />

fürchtete, sich nicht zu bewähren, die Mehrzahl schwamm mit <strong>der</strong> Strömung, versuchte,<br />

sich einzuschmeicheln, - und machte die Faust in <strong>der</strong> Tasche. Noch schlimmer war es um<br />

den mittleren und den unteren Offiziersstand bestellt, <strong>der</strong> mit den Soldaten von<br />

Angesicht zu Angesicht zu tun hatte. Hier fand eine Säuberung seitens <strong>der</strong> Regierung<br />

überhaupt nicht statt. Auf <strong>der</strong> Suche nach legalen Wegen schrieben die Artilleristen einer<br />

Frontbatterie an das Exekutivkomitee und die Reichsduma über ihren Kommandeur:<br />

»Brü<strong>der</strong> ... wir bitten ergebenst unseren inneren Feind Wantschechasa zu entfernen.« Da<br />

sie keine Antwort bekamen, gingen die Soldaten in <strong>der</strong> Regel mit eigenen Mitteln vor:<br />

Gehorsamsverweigerung, Hinausdrängsing, sogar Verhaftungen. Erst dann schreckte die<br />

Behörde auf, entfernte die Verhafteten, versuchte manchmal, auch die Soldaten zu<br />

bestrafen, häufiger ließ sie sie straflos, um die Sache nicht noch mehr zu verwickeln. Das<br />

schuf eine unerträgliche Lage für die Offiziere, ohne Klarheit in die Lage <strong>der</strong> Soldaten zu<br />

bringen.<br />

Sogar viele aktive Offiziere, die das Schicksal <strong>der</strong> Armee ernst nahmen, betonten die<br />

Notwendigkeit einer Generalsäuberung des Kommandobestandes: an<strong>der</strong>s war, nach ihrer<br />

Versicherung, eine Erneuerung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Truppenteile undenkbar. Die<br />

Soldaten brachten den Dumadeputierten nicht weniger überzeugende Argumente vor.<br />

Waren sie früher beleidigt worden, so mußten sie bei den Vorgesetzten Beschwerde<br />

führen, die gewöhnlich unbeachtet blieb. Was wäre jetzt zu tun? Es seien doch die alten<br />

Vorgesetzten geblieben, und auch das Schicksal <strong>der</strong> Beschwerden werde also das alte<br />

bleiben. »Diese Frage war sehr schwer zu beantworten«, gesteht ein Deputierter. Indes<br />

umfaßte diese einfache Frage das ganze Schicksal <strong>der</strong> Armee und bestimmte <strong>der</strong>en<br />

Zukunft voraus.<br />

Man darf sich die Wechselbeziehungen in <strong>der</strong> Armee nicht als einheitlich auf dem<br />

gesamten Territorium des Landes, bei allen Waffengattungen und Truppenteilen, vorstellen.<br />

Nein, die Mannigfaltigkeit war sehr beträchtlich. Reagierten die Matrosen <strong>der</strong> Baltischen<br />

Flotte bei <strong>der</strong> ersten Kunde von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mit einem Strafgericht an den<br />

Offizieren, so nahmen nebenan, in <strong>der</strong> Garnison von Helsingfors, die Offiziere noch<br />

Anfang April in den Soldatensowjets leitende Positionen ein, und bei Paraden trat hier im<br />

Namen <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre ein achtunggebieten<strong>der</strong> General auf. Solche Gegensätze<br />

von Haß und Vertrauensseligkeit gab es nicht wenige. Aber dennoch bildete die Armee<br />

ein System verbundener Gefäße, und die politischen Stimmungen <strong>der</strong> Soldaten und<br />

Matrosen gravitierten nach einer Ebene.<br />

Die Disziplin hielt sich noch einigermaßen aufrecht, solange die Soldaten mit schnellen<br />

und entschiedenen Maßnahmen rechneten. »Als aber die Soldaten sahen, daß - nach den<br />

Worten eines Frontdelegierten - alles beim alten blieb, das alte Joch, Sklaverei und<br />

Finsternis, <strong>der</strong> alte Hohn, - begannen Unruhen.« Die Natur, die nicht darauf verfallen<br />

ist, die Mehrzahl <strong>der</strong> Menschheit mit Buckeln zu versorgen, hat zum Unglück die Soldaten<br />

mit einem Nervensystem versehen. <strong>Revolution</strong>en dienen dazu, von Zeit zu Zeit an<br />

dieses doppelte Verfehlen zu erinnern.<br />

Wie an <strong>der</strong> Front, führten auch im Hinterlande zufällige Anlässe leicht zu Konflikten.<br />

Den Soldaten war »gleich allen an<strong>der</strong>en Bürgern« das Recht des freien Besuches von<br />

Theatern, Versammlungen, Konzerten usw. eingeräumt worden. Viele Soldaten deuteten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 170


das als Recht unentgeltlichen Theaterbesuches. Der Minister setzte ihnen auseman<strong>der</strong>,<br />

daß man die "Freiheit" im bildlichen Sinne verstehen müsse. Aufständische Volksmassen<br />

jedoch haben noch niemals Neigung zu Platonismus o<strong>der</strong> Kantianismus bewiesen.<br />

Das abgenutzte Gewebe <strong>der</strong> Disziplin zerriß erst allmählich, zu verschiedenen<br />

Zeitpunkten, in verschiedenen Garnisonen und verschiedenen Truppenteilen. Dem<br />

Kommandeur schien nicht selten, in seinem Regiment o<strong>der</strong> in seiner Division sei alles<br />

wohlbestellt gewesen bis zur Ankunft <strong>der</strong> Zeitungen o<strong>der</strong> eines Agitators von außen. In<br />

Wirklichkeit vollzog sich eine Arbeit tiefschürfen<strong>der</strong> und unabwendbarer Kräfte.<br />

Der liberale Deputierte Januschkewitsch brachte von <strong>der</strong> Front die Verallgemeinerung<br />

mit, die Desorganisation zeige sich am stärksten in den "grünen" Truppenteilen dort, wo<br />

es Bauern gäbe. »In den revolutionären Truppenteilen kommt man mit den Offizieren<br />

sehr gut aus.« In <strong>der</strong> Tat hielt sich die Disziplin am längsten auf den zwei Polen: bei <strong>der</strong><br />

privilegierten Kavallerie, bestehend aus wohlhaben<strong>der</strong>en Bauern, und bei <strong>der</strong> Artillerie,<br />

überhaupt bei den technischen Truppen, mit einem hohen Prozentsatz von Arheitern und<br />

Intellektuellen. Am längsten wi<strong>der</strong>standen die Kosaken, - Bodenbesitzer, die vor <strong>der</strong><br />

Agrarrevolution, bei welcher die Mehrzahl von ihnen nur verlieren, nicht aber gewinnen<br />

konnte, Angst hatten. Einzelne Kosakentruppenteile haben auch nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />

mehr als einmal Unterdrückungsarbeit geleistet. Im allgemeinen aber bestand <strong>der</strong> ganze<br />

Unterschied nur im Tempo und in den Fristen <strong>der</strong> Zersetzung.<br />

Der dumpfe Kampf hatte seine Fluten und Ebben. Die Offiziere versuchten, sich<br />

anzupassen. Die Soldaten begannen, wie<strong>der</strong> abzuwarten. Doch durch die vorübergehenden<br />

Mil<strong>der</strong>ungen, durch die Tage und Wochen <strong>der</strong> Kampfpause erreichte <strong>der</strong> soziale<br />

Haß, <strong>der</strong> die Armee des alten Regimes zersetzte, immer höhere Spannung. Immer häufiger<br />

zuckte er in tragischem Wetterleuchten auf. In Moskau fand in einem Zirkus eine<br />

Versammlung von Kriegsinvaliden, Soldaten und Offizieren statt. Der Redner, ein<br />

Krüppel, sprach von <strong>der</strong> Tribüne herab scharf für die Offiziere. Da erhob sich ein<br />

Protestlärm, Poltern mit Füßen, Stöcken und Krücken. »Ist es denn lange her, ihr Herren<br />

Offiziere, daß ihr die Soldaten mit Ruten und Fäusten gedemütigt habt?« Verwundete,<br />

verkrüppelte Menschen standen wie eine Wand gegeneinan<strong>der</strong>, verstümmelte Soldaten<br />

gegen verstümmelte Offiziere, Mehrheit gegen Min<strong>der</strong>heit, Krücken gegen Krücken.<br />

Diese wie ein Alpdruck wirkende Szene in <strong>der</strong> Arena des Zirkus enthielt bereits die<br />

künftige Wildheit des Bürgerkrieges.<br />

Über allen Beziehungen und Wi<strong>der</strong>sprüchen in <strong>der</strong> Armee wie im Lande schwebte die<br />

eine Frage, die man mit dem kurzen Wort Krieg bezeichnete. Vom Baltischen bis zum<br />

Schwarzen Metr, vom Schwarzen bis zum Kaspischen, und weiter in das Innere Persiens,<br />

auf <strong>der</strong> unübersehbaren Front, standen 68 Infanterie- und 9 Kavalleriekorps. Was sollte<br />

mit ihnen nun werden? Was mit dem Kriege?<br />

Auf dem Gebiete <strong>der</strong> Kriegsausrüstung war die Armee zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

bedeutend gefestigt worden. Die einheimische Produktion für den Kriegsbedarf war<br />

gestiegen, gleichzeitig hatte sich über Murmansk und Archangelsk die Zufuhr an Kriegsmaterial<br />

seitens <strong>der</strong> Alliierten verstärkt, beson<strong>der</strong>s für die Artillerie. Gewehre, Kanonen<br />

und Geschosse gab es in unvergleichlich größerer Zahl als in den ersten Kriegsjahren.<br />

Man ging an die Zusammenstellung von neuen Infanteriedivisionen. Die Elitetruppen<br />

wurden erweitert. Aus diesem Grund versuchten einige <strong>der</strong> verkrachten Feldherren später<br />

den Nachweis zu führen, daß Rußland am Vorabend des Sieges gestanden und nur die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 171


<strong>Revolution</strong> ihn verhin<strong>der</strong>t habe. Zwölf Jahre vorher hatten Kuropatkin und Linewitsch<br />

mit <strong>der</strong> gleichen Begründung behauptet, Witte habe sie gehin<strong>der</strong>t, die Japaner zu<br />

zertrümmern. In Wirklichkeit war Rußland zu Beginn des Jahres 1917 von einem Siege<br />

weiter entfernt als je. Neben <strong>der</strong> gesteigerten Kriegsausrüstung zeigte sieh Ende 1916 bei<br />

<strong>der</strong> Armee scharfer Mangel an Lebensmitteln; Typhus und Skorbut verschlangen mehr<br />

Opfer als die Schlachten. Die Zerrüttung des Transports erschwerte immer stärker die<br />

Truppenverschiebungen, und das allein schon machte strategische Kombinationen<br />

zunichte, die mit bedeutenden Umgruppierungen <strong>der</strong> Truppenmassen verbunden waren.<br />

Schließlich verurteilte <strong>der</strong> große Mangel an Pferden die Artillerie oft zum Stillstand.<br />

Doch lag die Hauptsache nicht darin: hoffnungslos war <strong>der</strong> moralische Zustand <strong>der</strong><br />

Armee. Man kann ihn so formulieren: die Armee als Armee gab es nicht mehr. Nie<strong>der</strong>lagen,<br />

Rückzüge, Abscheulichkeiten <strong>der</strong> Regierenden hatten den Geist <strong>der</strong> Truppen völlig<br />

erschüttert. Das war nicht durch administrative Maßnahmen gutzumachen, wie man auch<br />

nicht das Nervensystem des Landes verän<strong>der</strong>n konnte. Der Soldat blickte jetzt auf den<br />

Haufen <strong>der</strong> Geschosse mit gleichem Ekel wie auf einen Haufen wurmigen Fleisches: all<br />

das schien ihm überflüssig, unbrauchbar, Betrug und Diebstahl. Der Offizier konnte ihm<br />

nichts Überzeugendes sagen und wagte nicht mehr, ihm die Zähne einzuschlagen. Der<br />

Offizier wähnte sich selbst vom oberen Kommando betrogen und fühlte sich gleichzeitig<br />

nicht selten für die Oberen vor dem Soldaten verantwortlich. Die Armee war unheilbar<br />

krank. Sie war noch fähig, in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ihr Wort zu sprechen. Für den Krieg aber<br />

existierte sie nicht mehr. Niemand glaubte an den Sieg, Offiziere so wenig wie Soldaten.<br />

Niemand mehr wollte kämpfen, we<strong>der</strong> die Armee; noch das Volk.<br />

Allerdings sprach man noch in den hohen Kanzleien, wo man ein eigenes Leben lebte,<br />

automatisch von großen Operationen, in <strong>der</strong> Frühlingsoffensive, <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> türkischen<br />

Meerengen. In <strong>der</strong> Krim stellte man für diesen Zweck sogar ein großes Detachement<br />

zusammen. Offizielle Nachrichten besagten, für die Landung seien die besten<br />

Elemente <strong>der</strong> Armee ausersehen. Aus Petrograd schickte man Gardetruppen. Nach <strong>der</strong><br />

Darstellung des Offiziers jedoch, <strong>der</strong> am 25. Februar, das heißt zwei Tage vor <strong>der</strong><br />

Umwälzung, sie auszubilden begann, war das Reservematerial unter je<strong>der</strong> Kritik. Nicht<br />

die geringste Kampflust war in diesen gleichgültigen blauen, braunen und grauen Augen<br />

... »All ihre Gedanken und ihre Wünsche waren einzig und allein - Friede.«<br />

Solche und ähnliche Zeugnisse gibt es nicht wenige. Die <strong>Revolution</strong> hat nur an den<br />

Tag gebracht, was vor ihr entstanden war. Die Parole »Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg« wurde<br />

deshalb eine <strong>der</strong> Hauptparolen <strong>der</strong> Februartage. Sie ging aus von den Frauendemonstrationen,<br />

von den Arbeitern des Wyborger Bezirks und den Gardekasernen.<br />

Anfang März, bei den Rundreisen <strong>der</strong> Deputierten an <strong>der</strong> Front, wurde ihnen von<br />

Soldaten, beson<strong>der</strong>s den älteren Jahrgängen, immer wie<strong>der</strong> die Frage gestellt: »Und was<br />

sagt man über den Boden?« Die Deputierten antworteten ausweichend, die Bodenfrage<br />

werde in <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung gelöst werden. Doch da ertönte eine<br />

Stimme, die den geheimen Gedanken aller verriet: »Was Boden! Wenn ich nicht mehr da<br />

sein werde, brauche ich auch keinen Boden.« Das war <strong>der</strong> Ausgangspunkt des Soldatenprogramms<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: zuerst Frieden, dann Boden.<br />

Auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Sowjetkonferenz, Ende März, wo es nicht wenige patriotische<br />

Phrasen gab, berichtete ein Delegierter, <strong>der</strong> unmittelbar die Soldaten <strong>der</strong> Schützengräben<br />

vertrat, mit großer Aufrichtigkeit, wie die Front die Nachricht von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> aufge-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 172


nommen hatte: »Alle Soldaten sagten: Gott sei Dank, vielleicht wird es jetzt bald Frieden<br />

geben.« Die Schützengräben beauftragten diesen Delegierten, <strong>der</strong> Konferenz mitzuteilen:<br />

»Wir sind bereit, unser Leben für die Freiheit hinzugeben, aber dennoch, Genossen,<br />

wollen wir das Ende des Krieges.« Das war eine lebendige Stimme <strong>der</strong> Wirklichkeit,<br />

beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> Botschaft. »Gedulden, - wir wollen's schon ein<br />

wenig, aber, daß die oben sich mit dem Frieden beeilen!«<br />

Die zaristischen Truppen in Frankreich, das heißt in einer für sie völlig fremden<br />

Umgebung, waren von denselben Gefühlen bewegt und machten die gleichen Zersetzungsetappen<br />

durch wie die Armee in <strong>der</strong> Heimat. »Als wir hörten, daß <strong>der</strong> Zar<br />

abgedankt habe«, erklärte in <strong>der</strong> Fremde ein älterer Soldat, ein bäuerlicher Analphabet,<br />

einem Offizier, »so dachten wir uns gleich, nun heißt es auch Schluß mit dem Kriege ...<br />

hat uns doch <strong>der</strong> Zar in den Krieg geschickt ... Was nützt mir Freiheit, wenn ich weiter in<br />

den Schützengräben faulen muß?« Diese echte Soldatenphilosophie ist nicht von außen<br />

hineingetragen worden: solche einfache und überzeugende Worte kann kein Agitator<br />

ausdenken.<br />

Die Liberalen und die halbliberalen <strong>Sozialisten</strong> versuchten nachträglich, die <strong>Revolution</strong><br />

als einen patriotischen Aufstand darzustellen. Am 11. März erklärte Miljukow<br />

französischen Journalisten: »Die Russische <strong>Revolution</strong> wurde gemacht, um die Hin<strong>der</strong>nisse,<br />

die auf dem Wege zum Siege Rußlands standen, zu beseitigen.« Hier geht Heuchelei<br />

Hand in Hand mit Selbstbetrug, obwohl, wie man annehmen kann, dabei immerhin<br />

die Heuchelei größer ist. Aufrichtige Reaktionäre sahen klarer. Von Struve, Panslawist<br />

deutscher Abstammung, rechtgläubiger Lutheraner und Monarchist marxistischer<br />

Herkunft, bezeichnete, wenn auch in <strong>der</strong> Sprache reaktionären Hasses, so doch genauer<br />

die wahren Quellen <strong>der</strong> Umwälzung. »Soweit an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Volksmassen, beson<strong>der</strong>s<br />

Soldatenmassen beteiligt waren«, schrieb er, »war sie kein patriotischer Ausbruch,<br />

son<strong>der</strong>n eine eigenmächtige pogromartige Demobilisierung und direkt gegen die Fortsetzung<br />

des Krieges gerichtet, das heißt, sie wurde des Kriegsabbruchs wegen unternommen.«<br />

Neben einem richtigen Gedanken enthalten diese Worte jedoch auch eine Verleumdung.<br />

Die pogromartige Demobilisierung erwuchs in Wirklichkeit aus dem Kriege selbst.<br />

Die <strong>Revolution</strong> hat sie nicht geschaffen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil sogar unterbrochen. Die<br />

am Vorabend <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> außerordentlich häufige Desertion ließ in den ersten<br />

Wochen nach <strong>der</strong> Umwälzung nach. Die Armee wartete ab. In <strong>der</strong> Hoffnung, die <strong>Revolution</strong><br />

werde Frieden bringen, war <strong>der</strong> Soldat bereit, die Front mit seiner Schulter noch zu<br />

stützen: an<strong>der</strong>nfalls könnte ja die neue Regierung auch den Frieden nicht schließen.<br />

»Die Soldaten äußern die bestimmte Ansicht«, berichtet am 23. März <strong>der</strong> Chef einer<br />

Grenadierdivision, »daß wir uns nur verteidigen, nicht aber angreifen können.« Militärische<br />

Rapporte und politische Berichte wie<strong>der</strong>holen diesen Gedanken in verschiedenen<br />

Variationen. Der Fähnrich Krylenko, ein alter <strong>Revolution</strong>är und später Oberstkommandieren<strong>der</strong><br />

bei den Bolschewiki, bezeugt, daß die Soldaten in jener Zeit die Frage des<br />

Krieges durch die Formel lösten: »Die Front halten, keinen Angriff unternehmen.« In<br />

einer feierlichen, aber völlig aufrichtigen Sprache hieß das auch, die Freiheit verteidigen.<br />

»Man darf die Bajonette nicht in die Erde stecken!« Unter dem Einfluß verworrener<br />

und wi<strong>der</strong>spruchsvoller Stimmungen weigerten sich die Soldaten in jener Zeit nicht<br />

selten, die Bolschewiki auch nur anzuhören. Sie glaubten, vielleicht unter dem Einfluß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 173


einzelner ungeschickter Reden, die Bolschewiki kümmerten sich nicht um die Verteidigung<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und könnten die Regierung hin<strong>der</strong>n, Frieden zu schließen. Darin<br />

bekräftigten die sozialpatriorischen Zeitungen und Agitatoren sie immer mehr. Aber<br />

wenn sie auch mitunter die Bolschewiki am Sprechen hin<strong>der</strong>ten, lehnten die Soldaten<br />

doch von den ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an jeden Gedanken an eine Offensive<br />

entschieden ab. Den Hauptstadtpolitikern erschien dies als eine Art Mißverständnis, das<br />

man durch gebührenden Druck auf die Soldaten beseitigen könflte. Die Agitation für die<br />

Fortsetzung des Krieges wuchs in außerordentlichem Umfange an. Die bürgerliche<br />

Presse schil<strong>der</strong>te in Millionen von Exemplaren die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Lichte<br />

des Krieges bis mm Siege. Die Versöhnler sangen bei dieser Agitation mit, anfangs leise,<br />

dann kühner. Der Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki, sehr schwach im Augenblick <strong>der</strong><br />

Umwälzung, verkleinerte sich noch, als die Tausende Arbeiter, die wegen Streiks an die<br />

Front geschickt worden waren, die Reihen <strong>der</strong> Armee verließen. Das Streben nach<br />

Frieden fand auf diese Weise keinen offenen und klaren Ausdruck gerade dort, wo es am<br />

gespanntesten war. Den Kommandeuren und Kommissaren, die tröstende Illusionen<br />

suchten, ermöglichte diese Situation, sich über den wirklichen Stand <strong>der</strong> Dinge hinwegzutäuschen.<br />

In Artikeln und Reden aus jener Zeit gibt es häufig Behauptungen, die<br />

Soldaten verweigerten die Offensive angeblich ausschließlich aus falscher Deutung <strong>der</strong><br />

Formel "ohne Annexionen und Kontributionen" heraus. Die Versöhnler wurden nicht<br />

müde, zu beweisen, daß <strong>der</strong> Verteidigungskrieg den Angriff nicht ausschließe, ihn<br />

manchmal sogar erfor<strong>der</strong>e. Als ob es um die Scholastik ging! Eine Offensive bedeutete<br />

Wie<strong>der</strong>aufnahme des Krieges. Das abwartende Halten <strong>der</strong> Front bedeutete Waffenstillstand.<br />

Die soldatische Tbeorie und Praxis des Verteidigungskrieges war die Form <strong>der</strong><br />

stillschweigenden und späterhin auch offenen Verständigung mit den Deutschen: »Laßt<br />

uns in Ruhe, und wir werden euch in Ruhe lassen.« Mehr vermochte die Armee dem<br />

Krieg schon nicht zu geben.<br />

Die Soldaten fielen auf die kriegerischen Ermahnungen. um so weniger herein, als die<br />

reaktionären Offiziere unter dem Schein <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive sich offensichtlich<br />

bemühten, die Zügel stramm zu ziehen. Ein unter Soldaten üblicher Satz war: »Das<br />

Bajonett gegen den Deutschen, den Kolben gegen den inneren Feind.« Das Bajonett<br />

bedeutete hier jedenfalls die Verteidigung. An die Meerengen dachten die Soldaten in<br />

den Schützengräben nicht. Die Friedenssehnsucht bildete eine mächtige, unterirdische<br />

Strömung, die bald nach außen dringen sollte.<br />

Ohne zu leugnen, daß in <strong>der</strong> Armee schon vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> negative Erscheinungen<br />

"beobachtet" worden waren, versuchte Miljukow dennoch längere Zeit nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />

zu behaupten, die Armee wäre fähig gewesen, die ihr von <strong>der</strong> Entente vorgeschriebenen<br />

Aufgaben zu erfüllen. »Die bolschewistische Propaganda«, schrieb er in <strong>der</strong><br />

Eigenschaft eines Historikers, »drang nicht sogleich an die Front. Den ersten Monat<br />

o<strong>der</strong> die ersten an<strong>der</strong>thalb Monate nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> blieb die Armee gesund.« Die<br />

ganze Frage wird in <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Propaganda hetrachtet, als wäre mit dieser <strong>der</strong> historische<br />

Prozeß erschöpft. Unter dem Schein des verspäteten Kampfes gegen die Bolschewiki,<br />

denen er eine mystische Kraft zuschreibt, führt Miijukow einen Kampf gegen<br />

Tatsachen. Wir haben bereits gesehen, wie es mit <strong>der</strong> Armee in Wirklichkeit bestellt war.<br />

Jetzt wollen wir sehen, wie die Kommandeure selbst ihre Kampffähigkeit in den ersten<br />

Wochen und sogar Tagen nach <strong>der</strong> Umwälzung einschätzten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 174


Am 6. März teilt <strong>der</strong> Oberstkommandierende <strong>der</strong> Nordfront, General Russki, dem<br />

Exekutivkomitee mit, die Soldaten verweigerten den Vorgesetzten vollständig den<br />

Gehorsam; die Ankunft populärer Führer an <strong>der</strong> Front sei unbedingt notwendig, um<br />

irgendwie Beruhigung in die Armee zu bringen.<br />

Der Chef des Stabes <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte erzählt in seinen Erinnerungen: »Seit den<br />

ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war es mir klar geworden, daß man den Krieg nicht weiterführen<br />

könne, daß er verloren sei.« Der gleichen Ansicht war, nach seinen Worten, auch<br />

Koltsehak, und wenn er im Amte des Frontkommandierenden verblieb, so nur, um die<br />

Offiziere gegen Gewalttaten zu schützen.<br />

Graf Ignatjew, <strong>der</strong> einen hohen Kommandoposten bei <strong>der</strong> Garde innehatte, schrieb im<br />

März an Nabokow: Man muß sich klar Rechenschaft darüber geben, daß <strong>der</strong> Krieg zu<br />

Ende ist, daß wir nicht mehr kämpfen können und nicht kämpfen werden. Kluge Männer<br />

müßten ein Mittel ersinnen, den Krieg schmerzlos zu liquidieren, an<strong>der</strong>nfalls naht eine<br />

Katastrophe ... Gutschkow sagte damals zu Nabokow, er erhalte Briefe solcher Art in<br />

Massen.<br />

Einzelne, sehr seltene, äußerlich günstigere Urteile werden in <strong>der</strong> Regel durch ergänzende<br />

Erklärungen umgestoßen. »Der Wunsch <strong>der</strong> Truppe nach einem Sieg ist<br />

geblieben«, berichtet <strong>der</strong> Kommandierende <strong>der</strong> 2. Armee, Danilow, »bei einzelnen<br />

Truppenteilen sogar gewachsen.« Aber er vermerkt sogleich: »Die Disziplin ist<br />

gesunken... Es ist wünschenswert, Offensivaktionen so lange zu vertagen, bis die<br />

zugespitzte Situation vorüber sein wird (1-3 Monate).« Danach ein überraschen<strong>der</strong><br />

Nachtrag: »Von dem Nachschub kommen nur 50 Prozent an; wenn sie weiter so<br />

hinschmelzen und sich so undiszipliniert benehmen sollten, ist mit einer erfolgreichen<br />

Offensive nicht zu rechnen.«<br />

»Zu Defensivaktionen ist die Division durchaus fähig«, meldet <strong>der</strong> wackere Befehlshaber<br />

<strong>der</strong> 51. Infanteriedivision - und fügt sofort hinzu: »Es ist unbedingt notwendig, die<br />

Armee von dem Einfluß <strong>der</strong> Soldaten- und Arbeiterdeputierten zu befreien.« Das jedoch<br />

war nicht so einfach!<br />

Der Befehlshaber <strong>der</strong> 182. Division meldete dem Korpskommandeur: »Mit jedem Tag<br />

entstehen immer häufiger Mißverständnisse, eigentlich wegen Nichtigkeiten, aber<br />

bedrohlichen Charakters; die Soldaten, und noch mehr die Offiziere, werden immer<br />

nervöser gemacht.«<br />

Hier handelt es sich noch immer um vereinzelte, wenn auch zahlreiche Zeugnisse.<br />

Aber am 18.. März fand im Hauptquartier eine Beratung <strong>der</strong> höheren Kommandos über<br />

den Zustand <strong>der</strong> Armee statt. Die Schlußfolgerungen <strong>der</strong> zentralen Verwaltungen stimmten<br />

überein. »Die Mannschaftsauffüllung durch Abgabe <strong>der</strong> nötigen Zahl an die Front ist<br />

in den nächsten Monaten unmöglich, denn bei allen Reservetruppenteilen herrscht<br />

Gärung. Die Armee macht eine Krankheit durch. Die Beziehungen zwischen Offizieren<br />

und Soldaten in Ordnung zu bringen, wird wahrscheinlich erst in zwei bis drei Monaten<br />

gelingen. (Die Generale begreifen nicht, daß die Krankheit nur noch fortschreiten wird.)<br />

Gegenwärtig bemerkt man ein Sinken des Mutes bei den Offizieren, Gärung bei den<br />

Truppen, beträchtliche Desertionen. Die Schlagfähigkeit <strong>der</strong> Armee ist gemin<strong>der</strong>t, und es<br />

ist schwer damit zu rechnen, daß die Truppen in dieser Zeit vorwärtsgehen würden.«<br />

Schlußfolgerung: »Heute die für den Frühling vorgemerkten aktiven Operationen durch-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 175


zuführen, ist unmöglich.«<br />

In den folgenden Wochen verschlimmert sich die Lage schnell, wofür sich die Beweise<br />

endlos mehren.<br />

Ende März schreibt <strong>der</strong> Kommandierende <strong>der</strong> 5. Armee, General Dragomirow, an<br />

General Russki: »Die Kampfstimmung ist gesunken. Den Soldaten fehlt nicht nur jede<br />

Lust zum Angriff, son<strong>der</strong>n auch das einfache Ausharren in <strong>der</strong> Verteidigung ist bis zu<br />

einem Grade hinabgemin<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> den Ausgang des Krieges bedroht ... Die Politik, die<br />

alle Schichten <strong>der</strong> Armee breit erfaßt hat, ... zwingt die Masse <strong>der</strong> Truppen nur das eine<br />

zu wünschen - Abbruch des Krieges und Heimkehr.«<br />

General Lukomski, eine <strong>der</strong> Stützen des reaktionären Haupt-quartiers, sattelte,<br />

unzufrieden mit <strong>der</strong> neuen Ordnung, zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zum Korpskommandeur<br />

um und fand, nach seinem Bericht, daß die Disziplin sich nur noch bei den Artillerie- und<br />

den Elitetruppen hielte, in denen es viel Ka<strong>der</strong>offiziere und -soldaten gab. »Was die drei<br />

Infanteriedivisionen betrifft, so waren sie auf dem Wege zum völligen Zerfall.«<br />

Die Desertion, die unter dem Einfluß <strong>der</strong> Hoffnungen nach dem Umsturz abgenommen<br />

hatte, nahm unter dem Einfluß <strong>der</strong> Enttäuschung wie<strong>der</strong> zu. In einer Woche, vom 1. bis<br />

zum 7. April, desertierten, nach den Mitteilungen General Alexejews, etwa 8.000 Soldaten<br />

<strong>der</strong> Nord- und Westfront. »Mit großem Erstaunen«, schrieb er an Gutschkow, »lese<br />

ich die Berichte unverantwortlicher Männer über die "vorzügliche" Stimmung in <strong>der</strong><br />

Armee. Wozu? Die Deutschen werden wir nicht täuschen, und für uns ist es ein verhängnisvoller<br />

Selbstbetrug.«<br />

Man muß sich merken, daß es vorläufig noch nirgendwo einen Hinweis auf die<br />

Bolschewiki gibt: die Mehrzahl <strong>der</strong> Offiziere hatte sich kaum diesen seltsamen Namen<br />

gemerkt. Ist in den Rapporten von den Ursachen <strong>der</strong> Zersetzung in <strong>der</strong> Armee die Rede,<br />

so nennt man Zeitungen, Agitatoren, Sowjets, die "Politik" überhaupt, mit einem Wort,<br />

die Februarrevolution.<br />

Man begegnet noch einzelnen optimistischen Befehlshabern, die da hoffen, es werde<br />

noch alles gut werden. Es gab allerdings mehr solche, die absichtlich die Augen vor den<br />

Tatsachen verschlossen, um <strong>der</strong> neuen Macht keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.<br />

Wie auch umgekehrt eine bedeutende Zahl <strong>der</strong> Kommandeure, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> höheren,<br />

bewußt die Anzeichen des Zerfalls übertrieb, um von <strong>der</strong> Regierung entschiedene<br />

Maßnahmen zu erreichen, die sie aber selbst nicht bei Namen nennen konnten o<strong>der</strong><br />

wollten. Das wesentliche Bild bleibt unbestritten. Die Umwälzung fand eine kranke<br />

Armee vor und kleidete den Prozeß ihres unabwendbaren Zerfalls in politische Formen,<br />

die mit je<strong>der</strong> Woche eine immer unbarmherzigere Deutlichkeit bekamen. Die <strong>Revolution</strong><br />

steigerte nicht nur die leidenschaftliche Sehnsucht nach Frieden auf höchste, son<strong>der</strong>n<br />

auch den Haß <strong>der</strong> Soldatenmasse gegen den Kommandobestand und die herrschenden<br />

Klassen überhaupt.<br />

Mitte April erstattete Alexejew persönlich <strong>der</strong> Regierung Bericht über die Stimmung<br />

<strong>der</strong> Armee, wobei er sichtlich mit Farben nicht sparte. »Ich erinnere mich gut«, schreibt<br />

Nabokow, »welches Gefühl des Grauens und <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit mich erfaßte.« Es<br />

ist anzunehmen, daß bei dieser Berichterstattung, die sich ja nur auf die ersten 6 Wochen<br />

nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beziehen kann, auch Miljukow anwesend war; es ist sehr<br />

wahrscheinlich, daß gerade er Alexejew auftreten ließ, um seinen Kollegen und durch sie<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 176


den sozialistischen Freunden Angst einzujagen. Gutschkow hatte tatsächlich danach eine<br />

Unterredung mit Vertretern des Exekutivkomitees. »Es haben katastrophale Verän<strong>der</strong>ungen<br />

begonnen«, klagte er. »Es sind Fälle von offenem Ungehorsam registriert worden.<br />

Befehle werden zuerst in Armeeorganisationen und auf offenen Meetings diskutiert. Von<br />

aktiven Operationen will man in solchen Truppenteilen nichts hören... Wenn Menschen<br />

hoffen, es werde morgen Frieden sein«, sagte nicht unbereehtigt Gutschkow, »dann kann<br />

man nicht erwarten, daß sie heute geneigt sein werden, ihren Kopf zu lassen.« Daraus<br />

zog <strong>der</strong> Kriegsminister die Schlußfolgerung: »Man muß aufhören, laut vom Frieden zu<br />

sprechen.« Da aber gerade die <strong>Revolution</strong> die Menschen gelehrt hat, laut auszusprechen,<br />

was sie früher nur für sich gedacht, so bedeutet das: man muß die <strong>Revolution</strong> ersticken.<br />

Der Soldat hatte freilich auch am ersten Kriegstage we<strong>der</strong> sterben noch kämpfrn<br />

wollen. Aber er hatte es ebenso nicht gewollt, das Artilleriepferd ein schweres Geschütz<br />

nicht durch den Morast ziehen will. So wenig wie das Pferd hatte er gedacht, sich <strong>der</strong><br />

ihm aufgebürdeten Last entledigen zu können. Zwischen seinem Willen und den Kriegsereignissen<br />

bestand keine Beziehung. Die Rwolution hatte ihm diese Beziehung eröffnet.<br />

Für Millionen von Soldaten bedeutete sie das Recht auf ein besseres Leben, vor allem<br />

das Recht auf Leben überhaupt, das Recht, sein Leben vor Kugeln und Geschossen zu<br />

schützen und gleichzeitig auch sein Gesicht vor <strong>der</strong> Offiziersfaust. In diesem Sinne ist<br />

auch oben gesagt, daß <strong>der</strong> grundlegende psychologische Prozeß in <strong>der</strong> Armee im<br />

Erwachen <strong>der</strong> Persönlichkeit bestand. In dem vulkanischen Ausbruch des Individualismus,<br />

<strong>der</strong> nicht selten anarchische Formen annahm, sahen die gebildeten Klassen Verrat<br />

an <strong>der</strong> Nation. Während sich in Wirklichkeit die Nation in dem stürmischen Auftreten<br />

<strong>der</strong> Soldaten, in ihren ungezähmten Protesten, sogar in ihren blutigen Exzessen aus dem<br />

rohen unpersönlichen prähistorischen Material erst formierte. Die <strong>der</strong> Bourgeoisie so<br />

verhaßte Überschwemmung des Massenindividualismus war durch den Charakter <strong>der</strong><br />

Februarrevolution hervorgerufen worden, und zwar als einer bürgerlichen <strong>Revolution</strong>.<br />

Doch das war nicht ihr einziger Inhalt. Denn außer dem Bauern und seinem Sohn, dem<br />

Soldaten, war auch <strong>der</strong> Arbeiter an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beteiligt. Er fühlte sich längst als<br />

Persönlichkeit, ging in den Krieg nicht nur mit Haß gegen diesen, son<strong>der</strong>n auch mit dem<br />

Gedanken des Kampfes gegen ihn, und die <strong>Revolution</strong> bedeutete für den Arbeiter nicht<br />

nur die nackte Tatsache des Sieges, son<strong>der</strong>n auch den teilweisen Triumph seiner Ideen.<br />

Die Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Monarchie war für ihn nur die erste Stufe, und er hielt sich bei<br />

ihr nicht auf, an<strong>der</strong>en Zielen zueilend. Für ihn bestand die ganze Frage darin, wie weit<br />

Soldat und Bauer ihn unterstützen werden. »Was nützt mir Boden, wenn ich nicht mehr<br />

sein werde?« fragte <strong>der</strong> Soldat. »Was nützt mir Freiheit«, sprach er dem Arbeiter nach,<br />

vor den für ihn verschlossenen Türen des Theaters, »wenn die Schlüssel zur Freiheit bei<br />

den Herren sind?« So leuchteten durch das unübersichtliche Chaos <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

hindurch bereits die stählemen Umrisse des Oktobers.<br />

Die Regierenden und <strong>der</strong> Krieg<br />

Was gedachten die Provisorische Regierung und das Exekutivkomitee mit diesem<br />

Krieg und dieser Armee zu beginnen?<br />

Vor allem muß man die Politik <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie begreifen, da diese die erste<br />

Geige spielte. Äußerlich blieb die Politik des Liberalismus aggressiv-patriotisch,<br />

annexionistisch, unversöhnlith. In Wirklichkeit war sie wi<strong>der</strong>spruchsvoll, treubrüchig<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 177


und wurde schnell defätistisch.<br />

»Auch wenn es keine <strong>Revolution</strong> gegeben hätte, <strong>der</strong> Krieg wäre dennoch verloren und<br />

wahrscheinlich ein Separatfrieden geschlossen worden«, schrieb später Rodsjanko.<br />

dessen Urteile sich nicht durch Selbständigkeit auszeichneten, gerade deshalb aber die<br />

Durchschnittsmeinung <strong>der</strong> liberalkonservativen Kreise gut ausdrückten. Der Aufstand<br />

<strong>der</strong> Gardebataillone kündete den besitzenden Klassen nicht den äußeren Sieg an, son<strong>der</strong>n<br />

die innere Nie<strong>der</strong>lage. Die Liberalen konnten sich darüber um so weniger Illusionen<br />

machen, als sie die Gefahr vorausgesehen und nach Kräften gegen sie gekämpft hatten.<br />

Der unerwartete revolutionäre Optimismus Miljukows, <strong>der</strong> die Umwälzung als eine Stufe<br />

zum Siege erklärte, war eigentlich die letzte Zuflucht <strong>der</strong> Verzweiflung. Die Frage nach<br />

Krieg und Frieden hatte für die Liberalen zu drei Vierteln aufgehört, eine selbständige<br />

Frage zu sein. Sie fühlten, daß es ihnen nicht gegeben sein würde, die <strong>Revolution</strong> für den<br />

Krieg auszunutzen. Um so gebieterischer erstand vor ihnen die an<strong>der</strong>e Aufgabe: den<br />

Krieg gegen die <strong>Revolution</strong> auszunutzen.<br />

Die Fragen <strong>der</strong> internationalen Lage Rußlands nach dem Kriege: Schulden und neue<br />

Anleihen, Kapital- und Absatzmärkte, standen selbstverständlich auch jetzt vor den<br />

Führern <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. Aber nicht diese Fragen bestimmten unmittelbar ihre<br />

Politik. Heute ging es nicht um die Sicherung <strong>der</strong> vorteilhaftesten internationalen Bedingungen<br />

für das bürgerliche Rußland, son<strong>der</strong>n um Rettung des bürgerlichen Regimes<br />

selbst, wenn auch um den Preis einer weiteren Schwächung Rußlands. »Zuerst muß man<br />

gesunden«, sagte die schwer verwundete Klasse, »und erst später die Angelegenheiten in<br />

Ordnung bringen.« Gesunden bedeutete, mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> fertigwerden.<br />

Die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Kriegshypnose und <strong>der</strong> chauvinistischen Stimmungen gab<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie die einzige Möglichkeit eines politischen Bandes mit den Massen, vor<br />

allem mit <strong>der</strong> Armee, gegen die sogenannten Vorwärtstreiber <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die<br />

Aufgabe bestand darin, den vom Zarismus vererbten Krieg, mit den bisherigen Verbündeten<br />

und Zielen, dem Volke als einen neuen Krieg, als Verteidigung <strong>der</strong> revolutionären<br />

Errungenschaften und Hoffnungen, darzustellen. Es hätte genügt, dies zu erreichen - aber<br />

wie? -, und <strong>der</strong> Liberalismus rechnete fest damit, gegen die <strong>Revolution</strong> jene ganze<br />

Organisation <strong>der</strong> patriotischen öffentlichen Meinung richten zu können, die ihm gestern<br />

gegen die Rasputinsche Clique Dienste geleistet hat. Wenn es nicht gelungen war, die<br />

Monarchie gegen den Willen des Volkes als höchste Instanz zu retten, dann mußte man<br />

sich um so mehr an die Alliierten halten: für die Dauer des Krieges bildete die Entente<br />

jedenfalls eine unvergleichlich mächtigere Appellationsinstanz, als es die eigene Monarchie<br />

hätte sein können.<br />

Die Fortsetzung des Krieges sollte die Aufrechterhaltung des militärischen und<br />

bürokratischen Apparates rechtfertigen, die Vertagung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung,<br />

die Unterwerfung des revolutionären Landes unter die Front, das heißt unter die<br />

Generalität, die sich mit <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie zusammengeschlossen hatte. Alle<br />

inneren Fragen, vor allem die Agrarfrage und die gesamte soziale Gesetzgebung, vertagte<br />

man bis zum Ende des Krieges, dieses wie<strong>der</strong>um bis zum Siege, an den die Liberalen<br />

nicht glaubten. Krieg bis zur Ermattung des Feindes verwandelte sich in Krieg zur<br />

Ermattung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Mag sein, daß dies kein fertiger, im voraus in offiziellen<br />

Sitzungen beratener und erwogener Plan war. Aber das war auch nicht nötig. Der Plan<br />

ergab sich aus <strong>der</strong> gesamten vorangegangenen Politik des Liberalismus und aus <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 178


durch die <strong>Revolution</strong> geschaffenen Lage.<br />

Gezwungen, den Weg des Krieges zu gehen, hatte Miljukow selbstverständlich keine<br />

Veranlassung, auf den Beuteanteil zu verzichten. Waren doch die Hoffnungen auf den<br />

Sieg <strong>der</strong> Alliierten ganz realer Natur und mit dem Eintritt Amerikas in den Krieg erheblich<br />

gestiegen. Allerdings war die Entente eines, und Rußland ein an<strong>der</strong>es. Die Führer<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie hatten während des Krieges begreifen gelernt, daß <strong>der</strong> Sieg<br />

<strong>der</strong> Entente über die Zentralmächte bei <strong>der</strong> ökonomischen und militärischen Schwäche<br />

Rußlands unvermeidlich zu einem Sieg über Rußland werden müsse, das bei allen<br />

denkbaren Möglichkeiten geschlagen und geschwächt aus dem Krieg herausgehen<br />

würde. Dennoch beschlossen die liberalen Imperialisten, vor dieser Perspektive bewußt<br />

die Augen zu schließen. Es blieb ihnen auch nichts an<strong>der</strong>es übrig. Gutschkow hatte in<br />

seinem Kreise offen erklärt, daß nur ein Wun<strong>der</strong> Rußland retten könne, und die<br />

Hoffnung auf ein Wun<strong>der</strong> bilde sein, des Kriegsministers, Programm. Miljukow brauchte<br />

für die Innenpolitik den Mythos des Sieges. In welchem Maße er selber an ihn glaubte,<br />

ist unwesentlich. Aber hartnäckig behauptete er: Konstantinopel müsse uns gehören.<br />

Dabei verfuhr er mit dem ihm eigenen Zynismus. Am 20. März versuchte <strong>der</strong> russische<br />

Außenminister die Botschafter <strong>der</strong> Alliierten zu überreden, Serbien zu verraten, um mit<br />

diesem Preise den Verrat Bulgariens an die Zentralmächte zu erkaufen. Der französische<br />

Gesandte runzelte die Stirn. Miljukow aber bestand auf »<strong>der</strong> Notwendigkeit, von sentimentalen<br />

Erwägungen in dieser Frage abzusehen« und unter an<strong>der</strong>em auch von jenem<br />

Neoslawismus, den er seit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> gepredigt hatte.<br />

Nicht umsonst schrieb Engels noch im Jahre 1882 an Bernstein: »Worauf läuft die ganze<br />

russische panslawistische Scharlatanerie hinaus? Auf die Einnahme von Konstantinopel<br />

- auf weiter nichts.«<br />

Die noch gestern gegen die Hofkamarilla erhobenen Beschuldigungen des Germanophilentums<br />

und sogar <strong>der</strong> Käuflichkeit durch Deutschland wurden heute mit ihrer vergifteten<br />

Spitze gegen die <strong>Revolution</strong> gerichtet. Je weiter, um so kühner, lauter und frecher<br />

klang diese Note in den Reden und Artikeln <strong>der</strong> Kadettenpartei. Bevor er an die Eroberung<br />

<strong>der</strong> türkischen Gewässer ging, trübte <strong>der</strong> Liberalismus die Quellen und vergiftete<br />

die Brunnen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Bei weitem nicht alle liberalen Führer haben in <strong>der</strong> Frage des Krieges eine unversöhnliche<br />

Position eingenommen, jedenfalls nicht sogleich nach <strong>der</strong> Umwälzung. Viele befanden<br />

sich noch in <strong>der</strong> Atmosphäre <strong>der</strong> vorrevolutionären Stimmungen, die mit <strong>der</strong><br />

Perspektive des Separatfriedens verbunden waren. Einzelne führende Kadetten erzählten<br />

es später ganz offenherzig. Nabokow hatte, nach seinem eigenen Geständnis, bereits am<br />

7. März mit Regierungsmitglie<strong>der</strong>n Besprechungen über einen Separatfrieden. Einige<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Kadettenzentrums versuchten kollektiv, ihren Führer von <strong>der</strong> Unmöglichkeit<br />

<strong>der</strong> Fortsetzung des Krieges zu überzeugen. »Mit <strong>der</strong> ihm eigenen kalten Präzision<br />

bemühte sich Miljukow, nach den Worten des Barons Nolde, zu beweisen, daß die Ziele<br />

des Krieges erreicht werden müßten.« General Alexejew, <strong>der</strong> sich um diese Zeit den<br />

Kadetten näherte, unter-stützte Mibukow und behauptete, »die Armee kann in Bewegung<br />

gebracht werden«. Sie in Bewegung zu bringen, fühlte sich wohl dieser Generalstabsorganisator<br />

allen Unheils berufen.<br />

Mancher Naivere unter den Liberalen und Demokraten begriff den Kurs Miljukows<br />

nicht und hielt diesen selbst für den Ritter <strong>der</strong> Treue gegen die Alliierten, für den Don<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 179


Quichotte <strong>der</strong> Entente. Welcher Unsinn! Nachdem die Bolschewiki die Macht übernommen<br />

hatten, zögerte Miljukow nicht eine Minute, sich in das von den Deutschen besetzte<br />

Kiew zu begeben und seine Dienste <strong>der</strong> Hohenzollernregierung anzubieten, die sich<br />

allerdings nicht übereilte, davon Gebrauch zu machen. Miljukows nächstes Ziel dabei<br />

war, für den Kampf gegen die Bolschewiki das nämliche deutsche Gold zu erhalten, mit<br />

dessen Gespenster vorher die <strong>Revolution</strong> zu beschmutzen gesucht hatte. Miljukows<br />

Appell an Deutschland schien im Jahre 1918 vielen Liberalen ebenso unverständlich wie<br />

in den ersten Monaten des Jahres 1917 sein Programm <strong>der</strong> Zerschmetterung Deutschlands.<br />

Doch waren es nur zwei Seiten <strong>der</strong> gleichen Medaille. Im Begriffe, die Alliierten,<br />

wie früher Serbien, zu verraten, verriet Miljukow we<strong>der</strong> sich selbst noch seine Klasse. Er<br />

verfolgte ein und dieselbe Politik, und es war nicht seine Schuld, wenn sie nicht schön<br />

aussah. Ob er nun unter dem Zarismus die Wege zuin Separatfrieden abtastete, um <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> auszuweichen, ob er den Krieg bis ans Ende for<strong>der</strong>te, um mit <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

fertigauwerden, ob er später ein Bündnis mit den Hohenzollern suchte, um die<br />

Oktoberrevolution zu stürzen, Miljukow blieb stets in gleicher Weise den Interessen <strong>der</strong><br />

Besitzenden treu. Wenn er ihnen nicht helfen konnte und jedesmal an eine neue Wand<br />

anrannte, so deshalb, weil seine Auftraggeber sich in einer Sackgasse befanden.<br />

Was Miljukow in <strong>der</strong> ersten Zeit nach <strong>der</strong> Umwälzung besonden gefehlt hat, war ein<br />

feindlicher Angrift, ein guter deutscher Schlag gegen den Schädel <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Zum<br />

Unglück waren die Monate März und April aus klimatischen Gründen für Operationen<br />

größeren Maßstabs an <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Front ungünstig gewesen. Und die Hauptsache war,<br />

daß die Deutschen, <strong>der</strong>en Lage immer schwieriger wurde, nach großen Schwankungen<br />

beschlossen hatten, die Russische <strong>Revolution</strong> ihren inneren Prozessen zu überlassen. Nur<br />

<strong>der</strong> General Linsingen bewies am 20.-21. März am Stochod Privatinitiative. Sein Erfolg<br />

erschreckte die deutsche Regierung und erfreute gleichzeitig die russische. Mit <strong>der</strong><br />

gleichen Unverschämtheit, mit <strong>der</strong> das Hauptquartier unter dem Zaren den geringsten<br />

Erfolg übertrieben hatte, bauschte es jetzt die Nie<strong>der</strong>lage am Stochod auf. Ihm folgte die<br />

liberale Presse. Fälle von Rückzügen, Panik und Verlusten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen<br />

wurden mit dem gleichen Behagen ausgemalt wie früher Gefangene und Trophäen.<br />

Bourgeoisie und Generalität gingen sichtbar auf die Position des Defätismus über.<br />

Linsingen aber wurde auf einen Befehl von oben her zurückgehalten, und die Front<br />

erstarrte wie<strong>der</strong> in Frühlingsschlamm und Abwarten.<br />

Die Absicht, sich gegen die <strong>Revolution</strong> auf den Krieg zu stützen, hätte nur Erfolg<br />

haben können, wenn die Mittelparteien, hinter denen die Volksmassen hergingen, bereit<br />

gewesen wären, die Rolle <strong>der</strong> Transmission <strong>der</strong> liberalen Politik auf sich zu nehmen. Die<br />

Idee des Krieges mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu verbinden, ging über die Kraft des<br />

Liberalismus: noch gestern predigte er, die <strong>Revolution</strong> bedeute die Katastrophe des<br />

Krieges. Es war nötig, diese Aufgabe <strong>der</strong> Demokratie zuzuschieben. Doch durfte man<br />

freilich das "Geheimnis" vor ihr nicht enthüllen. Man durfte sie nicht in den Plan einweihen,<br />

son<strong>der</strong>n mußte sie kö<strong>der</strong>n. Man mußte an ihren Vorurteilen, ihrer Prahlerei mit <strong>der</strong><br />

Staatsweisheit, ihrer Angst vor Anarchie, ihrer abergläubischen Anbetung <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

einhaken.<br />

In den ersten Tagen wußten die <strong>Sozialisten</strong> - wir sind gezwungen, die Menschewiki<br />

und Sozialrevoluüonäre <strong>der</strong> Kürze halber so zu nennen - nicht, was sie mit dem Kriege<br />

anfangen sollten. Tschcheidse seufzte: »Wir haben die ganze Zeit hindurch gegen den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 180


Krieg gesprochen, wie kann ich denn jetzt zur Fortsetzung des Krieges aufrufen?« Am<br />

10. März beschloß das Exekutivkomitee, Franz Mehring ein Begrüßungstelegramm zu<br />

schicken. Mit dieser kleinen Demonstration versuchte <strong>der</strong> linke Flügel sein nicht sehr<br />

anspruchsvolles sozialistisches Gewissen zu beruhigen. Über den Krieg selbst fuhr <strong>der</strong><br />

Sowjet fort, zu schweigen. Die Führer fürchteten in dieser Frage einen Konflikt mit <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung heraufzubeschwören und die Honigwochen des "Kontaktes"<br />

zu trüben. Nicht weniger Angst hatten sie vor Meinungsverschiedenheiten in <strong>der</strong> eigenen<br />

Mitte. Es gab unter ihnen Landesverteidiger und Zimmerwal<strong>der</strong>. Die einen wie die<br />

an<strong>der</strong>en überschätzten ihre Meinungsverschiedenheiten. Breite Kreise <strong>der</strong> revolutionären<br />

Intelligenz hatten während des Krieges eine gründliche bürgerliche Umwandlung durchgemacht.<br />

Der offene o<strong>der</strong> verschleierte Patriotismus verband die Intelligenz mit den<br />

regierenden Klassen und trennte sie von den Massen. Das Banner von Zimmerwald, mit<br />

dem sich <strong>der</strong> linke Flügel umhüllte, verpflichtete wenig, verbarg aber immerhin seine<br />

auffällige patriotische Solidarität mit <strong>der</strong> Rasputinschen Clique. Nun aber war das<br />

Romanowsche Regime gestürzt. Rußland war ein demokratisches Land geworden. Seine<br />

in allen Farben schimmernde Freiheit hob sich grell vom Polizeihintergrunde des in <strong>der</strong><br />

Militärdiktatur eingeklemmten Europa ab. Sollen wir etwa unsere <strong>Revolution</strong> nicht gegen<br />

den Hohenzollern schützen? schrien die alten und die neuen Patrioten, die sich an die<br />

Spitze des Exekutivkomitees gestellt hatten. Die Zimmerwal<strong>der</strong> vom Typ Suchanows<br />

und Steklows beriefen sich unsicher darauf, <strong>der</strong> Krieg sei imperialistisch geblieben:<br />

erklären doch die Liberalen, die <strong>Revolution</strong> müsse die vom Zaren vorgemerkten<br />

Annexionen sichern. »Wie kann ich da jetzt zur Fortsetzung des Kriell;es aufrufen?«<br />

beunruhigte sich Tschcheidse. Da aber die Zimmerwal<strong>der</strong> selbst die Initiatoren <strong>der</strong><br />

Machtübergabe an die Liberalen gewesen waren, hingen ihre Einwendungen in <strong>der</strong> Luft.<br />

Nach einigen Wochen Schwankens und Sträubens war mit Zeretellis Hilfe <strong>der</strong> erste Teil<br />

des Miljukowschen Planes glücklich gelöst: Schlechte Demokraten, die sich für <strong>Sozialisten</strong><br />

hielten, spannten sich in das Geschirr des Krieges ein und bemühten sich, unter <strong>der</strong><br />

Knute <strong>der</strong> Liberalen aus allen ihren schwachen Kräften den Sieg zu sichern ... <strong>der</strong><br />

Entente über Rußland, Amerikas über Europa.<br />

Die Hauptfunktion <strong>der</strong> Versöhnler bestand darin, die revolutionäre Energie <strong>der</strong> Massen<br />

auf die Leitung des Patriotismus umzuschalten. Sie strebten einerseits danach, die<br />

Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee wie<strong>der</strong>zubeleben - das war schwer; sie versuchten an<strong>der</strong>erseits,<br />

die Regierungen <strong>der</strong> Entente zu bewegen, auf den Raub zu verzichten das war<br />

lachhaft. In beiden Richtungen gingen sie von Illusionen zu Enttäuschungen und von<br />

Fehlern zu Demütigungen.<br />

In den Stunden seiner kurzwährenden Größe hatte Rodsjanko Zeit gefunden, einen<br />

Befehl zu erlassen, wonach die Soldaten sofort in die Kasernen zurückzukehren und<br />

ihren Offizieren Gehorsam zu leisten hätten. Die dadurch hervorgeruiene Erregung <strong>der</strong><br />

Garnison zwang den Sowjet, eine seiner ersten Sitzungen <strong>der</strong> Frage des weiteren Schicksals<br />

<strong>der</strong> Soldaten zu widmen. In <strong>der</strong> heißen Atmosphäre jener Stunden, im Chaos <strong>der</strong><br />

Sitzung, die eher einem Meeting glich, unter dem direkten Diktat <strong>der</strong> Soldaten, die von<br />

den abwesenden Führern nicht behin<strong>der</strong>t werden konnten, entstand <strong>der</strong> berühmte "Befehl<br />

Nr. 1", das einzige würdige Dokument <strong>der</strong> Februarrevolution, die Freiheitscharta <strong>der</strong><br />

revolutionären Armee. Seine kühnen Paragraphen, die den Soldaten den organisierten<br />

Ausweg auf eine neue Bahn wiesen, verfügten: bei allen Truppenteilen Wahlkomitees zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 181


schaffen; Soldatenvertreter in den Sowjet zu wählen; bei allen politischen Auftritten, sich<br />

dem Sowjet und den eigenen Komitees unterzuordnen; die Waffen unter Kontrolle <strong>der</strong><br />

Kompanie- und Bataillonskomitees zu halten und sie »unter keinen Umständen den<br />

Offizieren auszuliefern«; im Dienste strenge militärische Disziplin, außerhalb des<br />

Dienstes alle Bürgerrechte; Ehrenbezeigungen und Titulierungen <strong>der</strong> Offiziere außerhalb<br />

des Dienstes werden abgeschafft; grobes Benehmen gegen Soldaten, insbeson<strong>der</strong>e die<br />

Anrede mit »Du« ist verboten usw.<br />

Dies waren die Schlußfolgerungen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Soldaten aus ihrer Teilnahme an<br />

<strong>der</strong> Umwälzung. Hätten es auch an<strong>der</strong>e sein können? Sich zu wi<strong>der</strong>setzen wagte<br />

niemand. Während <strong>der</strong> Ausarbeitung des "Befehls" waren die Häupter <strong>der</strong> Sowjets durch<br />

erhabenere Sorgen abgelenkt: sie führten Verhandlungen mit den Liberalen. Dieses<br />

ermöglichte ihnen, sich auf ihr Alibi zu berufen, als sie gezwungen waren, sich vor <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie und dem Kommandobestand zu rechtfertigen.<br />

Gleichzeitig mit dem "Befehl Nr. 1" schickte das Exekutivkomitee, das Zeit gefunden<br />

hatte, sich zu besinnen, in die Druckerei als Gegengift einen Appell an die Soldaten, <strong>der</strong><br />

unter dem Scheine <strong>der</strong> Verurteilung <strong>der</strong> Selbstjustiz gegen Offiziere Unterordnung<br />

gegenüber dem alten Kommandobestand for<strong>der</strong>te. Die Setzer weigerten sich einfach,<br />

dieses Dokument zu setzen. Die demokratischen Autoren waren vor Empörung außer<br />

sich: Wohin führt das? Es wäre jedoch falsch anzunehmen, die Setzer härten blutige<br />

Strafgerichte gegen die Offiziere angestrebt. Der Aufruf zur Unterordnung am Tage nach<br />

dem Umsturz schien ihnen gleichbedeutend mit dem Öffnen <strong>der</strong> Tore für die Konterrevolution.<br />

Gewiß, die Setzer hatten ihre Befugnisse überschritten. Doch sie fühlten sich nicht<br />

nur als Setzer. Es ging ihrer Meinung nach um den Kopf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

In jenen ersten Tagen, als das Schicksal <strong>der</strong> zu den Regimentern zurückkehrenden<br />

Offiziere sowohl Soldaten wie Arbeiter äußerst heftig erregte, hatte die "interrayonale"<br />

sozialdemokratische Organisation, die den Bolschewiki nahestand, die heikle Frage mit<br />

revolutionärer Kühnheit gestellt. »Damit euch <strong>der</strong> Adel und die Offiziere nicht betrügen<br />

können«, lautete <strong>der</strong> von ihr erlassene Aufluf an die Soldaten, »wählt selbst Zug-,<br />

Kompanie- und Regimentskommandeure. Nehmt nur die Offiziere auf, die ihr als<br />

Freunde des Volkes kennt.« Aber was geschah? Die den Verhältnissen völlig entsprechende<br />

Proklamation wurde sofort vom Exekutivkomitee beschlagnahmt, und<br />

Tschcheidse bezeichnete sie in seiner Rede als Provokation. Wie wir sehen, scheuten sich<br />

die Demokraten gar nicht, die Pressefreiheit einzuschränken, wenn es galt, Schläge nach<br />

links auszuteilen. Glücklicherweise war ihre eigene Freiheit genügend eingeschränkt.<br />

Während die Arbeiter und Soldaten das Exekutivkomitee als ihr höchstes Organ unterstützten,<br />

korrigierten sie in allen wichtigsten Momenten die Politik <strong>der</strong> Leitung durch<br />

unmittelbare Einmischung.<br />

Schon nach wenigen Tagen versuchte das Exekutivkomitee durch einen "Befehl Nr. 2"<br />

den ersten zu wi<strong>der</strong>rufen, indem es seine Gültigkeit auf den Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirk<br />

einschränkte. Vergeblich! Der Befehl Nr. ! war nicht zu erschüttern, denn er hatte nichts<br />

erfunden, son<strong>der</strong>n nur das bekräftigt, was im Hinterlande und an <strong>der</strong> Front nach außen<br />

drängte und Anerkennung verlangte. Den Soldaten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehend,<br />

deckten sich sogar die liberalen Deputierten bei Fragen und Vorwürfen mit<br />

dem "Befehl Nr.1". In <strong>der</strong> großen Politik aber wurde <strong>der</strong> mutige Befehl zum Hauptargument<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie gegen die Sowjets. Die geschlagenen Generale hatten nunmehr in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 182


dem "Befehl Nr.1" das Haupthin<strong>der</strong>nis entdeckt, das ihnen verwehrt habe, die deutschen<br />

Truppen zu zerschmettern. Als Ursprungsort des Befehls wurde Deutschland bezeichnet.<br />

Die Versöhnler wurden nicht müde, sich für Getanes zu rechtfertigen, und erregten die<br />

Soldaten, indem sie versuchten, mit <strong>der</strong> rechten Hand das zu nehmen, was <strong>der</strong> linken<br />

entglitten war.<br />

Inzwischen verlangte im Sowjet bereits die Mehrheit <strong>der</strong> Deputierten Wählbarkeit <strong>der</strong><br />

Kommandeure. Die Demokraten wurden unruhig. Suchanow, <strong>der</strong> keine besseren<br />

Argumente finden konnte, drohte, die Bourgeoisie, <strong>der</strong> die Macht übergeben war, würde<br />

auf Wählbarkeit nicht eingehen. Die Demokraten versteckten sich ungeniert hinter<br />

Gutschkows Rücken. Bei diesem Spiel nahmen die Liberalen den gleichen Platz ein, den<br />

beim Spiel des Liberalismus die Monarchie einnehmen sollte. »Als ich vom Podium zu<br />

meinem Platze ging«, erzählt Suchanow, »stieß ich auf einen Soldaten, <strong>der</strong> mir den Weg<br />

versperrte und, vor meinen Augen mit den Fäusten fuchtelnd, wutentbrannt gegen die<br />

Herren wetterte, die niemals in <strong>der</strong> Soldatenhaut gesteckt hätten.« Nach diesem "Exzeß"<br />

lief unser Demokrat, <strong>der</strong> seine Fassung endgültig verloren hatte, Kerenski zu suchen, und<br />

erst mit dessen Hilfe »wurde die Frage dann irgendwie verwischt«. Diese Menschen<br />

taten nichts an<strong>der</strong>es, als Fragen zu verwischen.<br />

Zwei Wochen lang war es ihnen gelungen, so zu tun, als bemerkten sie den Krieg<br />

nicht. Schließlich wurde ein weiteres Hinausschieben unmöglich. Am 4. März brachte<br />

das Exekutivkomitee im Sowjet den von Suchanow geschriebenen Entwurf eines<br />

Manifestes "An die Völker <strong>der</strong> ganzen Welt" ein. Die liberale Presse nannte sehr bald<br />

dieses Dokument, das die rechten und linken Versöhnler vereinigte, den »Befehl Nr. 1<br />

auf dem Gebiet <strong>der</strong> Außenpolitik«. Doch diese schmeichelhafte Bezeichnung war ebenso<br />

unwahrhaftig wie das Dokument, auf das sie sich bezog. Der "Befehl Nr.1" war eine<br />

ehrliche, direkte Antwort <strong>der</strong> unteren Schichten auf jene Fragen, die die <strong>Revolution</strong> vor<br />

<strong>der</strong> Armee aufgerichet hatte. Das Manifest vom 14. März war eine treubrüchige Antwort<br />

<strong>der</strong> oberen Schichten auf Fragen, die ihnen von den Soldaten und Arbeitern ehrlich<br />

gestellt worden waren.<br />

Das Manifest drückte allerdings das Streben nach Frieden aus, und zwar nach einem<br />

demokratischen, ohne Annexionen und Kontributionen. Aber diese Phraseologie hatten<br />

die Imperialisten des Westens lange vor <strong>der</strong> Februarrevolution anzuwenden gelernt.<br />

Gerade im Namen eines gesicherten, ehrlichen, "demokratischen" Friedens schickte sich<br />

Wilson in jenen Tagen an, in den Krieg einzutreten. Der fromme Asqvith gab im Parlament<br />

eine gelehrte Klassifizierung <strong>der</strong> Annexionen, aus <strong>der</strong> sich unzweifelhaft ergab, daß<br />

alle jene Annexionen als unsittlich zu verurteilen waren, die den Interessen Großbritanniens<br />

wi<strong>der</strong>sprachen. Was die französische Diplomatie betrifft, so bestand ihr ganzes<br />

Wesen darin, <strong>der</strong> Gier des Krämers und Wucherers einen möglichst freiheitlichen<br />

Ausdruck zu verleihen. Das Sowjetdokument, dem man eine gewisse simple Aufrichtigkeit<br />

<strong>der</strong> Beweggründe nicht absprechen kann, geriet fatalerweise auf das ausgefahrene<br />

Gleis <strong>der</strong> offiziellen französischen Heuchelei. Das Manifest versprach »standhaft unsere<br />

eigene Freiheit zu verteidigen« gegen den ausländischen Militarismus. Gerade damit aber<br />

gingen die französischen Sozialpatrioten seit August 1914 rückwärts. »Es ist für die<br />

Völker die Zeit gekommen, über die Frage des Krieges und des Friedens selbst zu<br />

entscheiden«, verkündete das Manifest, <strong>der</strong>en Verfasser soeben im Namen des <strong>russischen</strong><br />

Volkes die Lösung dieser Frage <strong>der</strong> Großbourgeoisie überlassen hatten. Die Arbeiter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 183


Deutschlands und Österreich-Ungarns for<strong>der</strong>te das Manifest auf: »Weigert euch, ein<br />

Werkzeug <strong>der</strong> Eroberungen und Vergewaltigungen in den Händen <strong>der</strong> Könige, Gutsbesitzer<br />

und Bankiers zu sein!« In diesen Worten lag die Quintessenz <strong>der</strong> Lüge, denn die<br />

Häupter des Sowjets dachten nicht daran, ihr eigenes Bündnis mit den Königen von<br />

Großbritannien, Belgien, mit dem Kaiser von Japan, mit den Gutsbesitzem und Bankiers,<br />

ihren eigenen sowohl wie denen <strong>der</strong> Ententelän<strong>der</strong>, zu zerreißen. Nachdem sie die<br />

Leitung <strong>der</strong> Außenpolitik an Miljukow abgetreten hatten, <strong>der</strong> sich vor kurzem noch<br />

anschickte, Ostpreußen in ein russisches Gouvernement zu verwandeln, riefen die Führer<br />

des Sowjets die deutschen und österreich-ungarischen Arbeiter auf, dem Beispiel <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> zu folgen. Die theatralische Verurteilung des Krieges än<strong>der</strong>te<br />

nichts: auch <strong>der</strong> Papst beschäftigte sich damit. Mit Hilfe pathetischer Phrasen, gerichtet<br />

gegen die Schatten von Bankier, Gutsbesitzer und König, verwandelten die Versöhnler<br />

die Februarrevolution in ein Werkzeug <strong>der</strong> realen Könige, Gutsbesitzer und Bankiers.<br />

Schon in seinem Begrüßüngstelegramm an die Provisorische Regierung bewertete Lloyd<br />

George die Russische <strong>Revolution</strong> als einen Beweis dafür, daß »<strong>der</strong> gegenwärtige Krieg<br />

in seinem Wesen ein Kampf um Volksregierung und Freiheit ist«. Das Manifest vom 14.<br />

März solidarisierte sich »in seinem Wesen« mit Lloyd George und leistete <strong>der</strong> militaristischen<br />

Propaganda in Amerika wertvolle Hilfe. Dreifach Recht hatte die Zeitung Miljukows,<br />

als sie schrieb, daß »<strong>der</strong> Aufruf, <strong>der</strong> mit so typisch pazifistischen Tönen beginnt, im<br />

wesentlichen auf die uns mit allen unseren Verbündeten gemeinsame Ideologie hinausläuft«.<br />

Wenn die <strong>russischen</strong> Liberalen trotzdem mehr als einmal das Manifest wütend<br />

angriffen und die französische Zensur es überhaupt nicht passieren ließ, so war das von<br />

<strong>der</strong> Angst vor jener Deutung hervorgerufen, die diesem Dokument die revolutionären,<br />

aber noch vertrauensseligen Massen gaben.<br />

Das von einem Zimmerwal<strong>der</strong> verfaßte Manifest kennzeichnete den prinzipiellen Sieg<br />

des patriotischen Flügels. In <strong>der</strong> Provinz griffen die Sowjets das Signal auf Die Losung<br />

"Krieg dem Kriege" wurde als unzulässig erklärt. Sogar am Ural und in Kostroma, wo<br />

die Bolschewiki stark waren, erhielt das patriotische Manifest einstimmige Billigung.<br />

Nicht verwun<strong>der</strong>lich: hatten doch auch im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet die Bolschewiki diesem<br />

verlogenen Dokument keinen Wi<strong>der</strong>stand geleistet.<br />

Nach einigen Wochen war man gezwungen, eine Teilzahlung auf den Wechsel zu<br />

leisten. Die Provisorische Regierung gab eine Kriegsanleihe heraus, die allerdings<br />

"Freiheitsanleihe" genannt wurde. Zeretelli wies nach, daß, da die Regierung »im großen<br />

und ganzen« ihren Verpflichtungen nachkomme, die Demokratie die Anleihe unterstützen<br />

müsse. Im Exekutivkomitee vereinigte <strong>der</strong> oppositionelle Flügel mehr als ein Drittel<br />

<strong>der</strong> Stimmen auf sich. Doch im Plenum des Sowjets stimmten am 22. April gegen die<br />

Anleihe nur 112 von annähernd 2.000 Deputierten. Daraus zog man manchmal den<br />

Schluß: das Exekutivkomitee sei linker als <strong>der</strong> Sowjet. Das war aber falsch. Der Sowjet<br />

war nur ehrlicher als das Exekutivkomitee. Ist <strong>der</strong> Krieg die Verteidigung <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>, dann muß man Geld für den Krieg geben, muß man die Anleihe unterstützen.<br />

Das Exekutivkomitee war nicht revolutionärer, son<strong>der</strong>n verschlagener. Es lebte von<br />

Zweideutigkeiten und Ausreden. Die von ihm geschaffene Regierung unterstützte es »im<br />

großen und ganzen« und übernahm die Verantwortung für den Krieg nur »insofern wie«.<br />

Diese kleinen Schlauheiten waren den Massen fremd. Die Soldaten konnten we<strong>der</strong><br />

kämpfen »insofern wie« noch sterben »im großen und ganzen«.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 184


Um den Sieg des Staatsgedankens über die Wahnidee zu festigen, wurde General<br />

Alexejew, <strong>der</strong> am 5. März geplant hatte, die Propagandistenbanden zu erschießen, am 1.<br />

April offiziell an die Spitze <strong>der</strong> bewaffneten Macht gestellt. Von nun an war alles in<br />

Ordnung. Der Inspirator <strong>der</strong> Außenpolitik des Zarismus, Miljukow, war Minister des<br />

Auswärtigen. Der Befehlshaber <strong>der</strong> Armee unter dem Zaren, Alexejew, Oberkommandieren<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die Nachfolgeschaft war damit vollständig hergestellt.<br />

Gleichzeitig waren die Sowjetführer durch die Logik <strong>der</strong> Lage gezwungen, die<br />

Maschen des Netzes aufzulösen, das sie selbst geflochten. Die offizielle Demokratie hatte<br />

eine Todesangst vor jenen Kommandeuren, die sie duldete und stützte. Sie konnte nicht<br />

an<strong>der</strong>s, als diesen eine Kontrolle entgegenzustellen, wobei sie bestrebt war, sie in den<br />

Soldaten zu verankern und gleichzeitig möglichst unabhängig von diesen zu machen. In<br />

<strong>der</strong> Sitzung vom 6. März erklärte das Exekutivkomitee es als wünschenswert, bei allen<br />

Truppenteilen und militärischen Ämtern eigene Kommissare einzuführen. So entstand<br />

eine dreifache Verbindung: die Truppenteile delegierten ihren Vertreter in den Sowjet;<br />

das Exekutivkomitee schickte seine Kommissare in die Truppenteile, und schließlich<br />

wurde an die Spitze jedes Truppenteils ein gewähltes Komitee gestellt, das so etwas wie<br />

eine untere Zelle des Sowjets bildete.<br />

Eine <strong>der</strong> wichtigsten Aufgaben <strong>der</strong> Kommissare bestand in <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong><br />

politischen Zuverlässigkeit <strong>der</strong> Stäbe und des Kommandobestandes. »Das demokratische<br />

Regime hat bald das selbstherrliche übertroffen«, entrüstet sich Denikin und fügt<br />

prahlend gleich hinzu, wie geschickt sein Stab die chiffrierte Korrespondenz <strong>der</strong><br />

Kommissare mit Petrograd abfing und ihm übermittelte. Monarchisten und Verteidiger<br />

<strong>der</strong> Leibeigenschaft auf die Finger zu schauen - was kann es Empören<strong>der</strong>es gehen?<br />

Etwas an<strong>der</strong>es ist, die Korrespondenz <strong>der</strong> Kommissare mit <strong>der</strong> Regierung zu stehlen. Wie<br />

es auch mit <strong>der</strong> Moral bestellt gewesen sein mag, die inneren Beziehungen des leitenden<br />

Armeeapparates treten in aller Kraßheit hervor: beide Parteien fürchten einan<strong>der</strong> und<br />

überwachen sich feindselig. Sie verbindet nur die gemeinsame Angst vor den Soldaten.<br />

Selbst die Generale und Admirale, wie ihre weiteren Pläne und Hoffnungen auch<br />

gewesen sein mochten, sahen klar, daß es ihnen ohne demokratische Deckung nicht gut<br />

gehen würde. Die Bestimmungen über die Komitees bei <strong>der</strong> Flotte wurden von Koltschak<br />

ausgearbeitet. Er rechnete damit, sie später zu erdrosseln. Da man aber heute keinen<br />

Schritt ohne die Komitees machen konnte, kam Koltschak beim Hauptquartier um <strong>der</strong>en<br />

Bestätigung ein. In ähnhcher Weise schickte General Markow, einer <strong>der</strong> späteren weißen<br />

Heerführer, Anfang April an das Ministerium einen Entwurf betreffend die Einsetzung<br />

von Kommissaren zur Überwachung <strong>der</strong> Loyalität des Kommandobestandes. So brachen<br />

unter dem Ansturm <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die "uralten Gesetze <strong>der</strong> Armee", das heißt die Traditionen<br />

des militärischen Bürokratismus, wie Strohhalme zusammen.<br />

Die Soldaten gingen vom an<strong>der</strong>en Ende an die Komitees heran und schlossen sich um<br />

sie zusammen gegen den Kommandobestand. Und wenn auch die Komitees die<br />

Kommandeure gegen die Soldaten schützen, so doch nur bis zu einer bestimmten Grenze.<br />

Die Lage des Offiziers, <strong>der</strong> mit dem Komitee in Konflikt geraten war, wurde<br />

unerträglich. So entstand das ungeschriebene Gesetz <strong>der</strong> Soldaten, die Befehlshaber<br />

absetzen zu können. An <strong>der</strong> Westfront mußten nach Denikins Bericht bis Anfang Juli an<br />

die sechzig alte Befehlshaber, vom Korpskommandeur bis zum Regimentskommandeur,<br />

abtreten. Ähnliche Absetzungen erfolgten auch innerhalb <strong>der</strong> Regimenter.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 185


Inzwischen ging im Kriegsmmisterium, im Exekutivkomitee, in den Sitzungen <strong>der</strong><br />

Kontaktkommission eine mühselige Kauzleiarbeit vonstatten, die die Aufgabe hatte,<br />

"vernünftige" Formen <strong>der</strong> Beziehungen in <strong>der</strong> Armee zu schaffen und die Autorität <strong>der</strong><br />

Vorgesetzten zu heben durch Herabmin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Armeekomitees auf<br />

eine untergeordnete, hauptsächlich wirtschaftliche Rolle. Aber während die erhabenen<br />

Führer mit dem Schatten eines Besens den Schatten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> säuberten, entfalteten<br />

sich die Komitees zu einem mächtigen zentralisierten System, das bis zum Petrogra<strong>der</strong><br />

Exekutivkomitee hinaufreichte und diesem organisatorisch die Macht über die Armee<br />

sicherte. Diese Macht nutzte jedoch das Exekutivkomitee hauptsächlich dazu aus, um die<br />

Armee mittels <strong>der</strong> Kommissare und <strong>der</strong> Komitees wie<strong>der</strong> in den Krieg einzuspannen. Die<br />

Soldaten sind immer häufiger gezwungen, über die Frage nachzudenken, wie es denn<br />

komme, daß die von ihnen gewählten Komitees häufig nicht das aussprechen, was sie,<br />

die Soldaten, denken, son<strong>der</strong>n das, was von ihnen, den Soldaten, die Vorgesetzten<br />

wünschen.<br />

Die Schützengräben schicken m immer größerer Zahl Deputierte in die Hauptstadt, um<br />

zu erfahren, was denn los sei. Seit Anfang April besteht eine ununterbrochene Verbindung<br />

mit <strong>der</strong> Front, jeden Tag fmden im Taurisehen Palais Kollektivbesprechungen statt,<br />

die von draußen ankommenden Soldaten bewegen schwer ihre Hirne in dem Bemühen,<br />

sich in den Geheimnissen <strong>der</strong> Politik des Exekutivkomitees zurechtzufinden, das auf<br />

keine ihrer Fragen klare Antwort geben kann. Die Armee geht mühselig auf die Position<br />

<strong>der</strong> Sowjets über, um sich so klarer von <strong>der</strong> Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Sowjetleitung zu<br />

überzeugen.<br />

Die Liberalen, die nicht wagen, sich dem Sowjet offen entgegenzustellen, versuchen<br />

dennoch einen Kampf um die Armee zu führen. Als politisches Band mit ihr muß natürlich<br />

<strong>der</strong> Chauvinismus herhalten. In einer <strong>der</strong> Unterredungen mit Abgesandten aus den<br />

Schützengräben verteidigte <strong>der</strong> kadettische Minister Schingarew den Befehl Gutschkows<br />

gegen die »übermäßige Nachsicht« mit den Gefangenen, verweisend auf die »deutschen<br />

Greueltaten«. Der Minister fand nicht die geringste Zustimmung. Die Versammlung<br />

sprach sich entschieden für die Erleichterung des Schicksals <strong>der</strong> Gefangenen aus. Das<br />

waren die gleichen Männer, die die Liberalen beständig <strong>der</strong> Exzesse und Greueltaten<br />

beschuldigten. Aber die graue Frontmasse hatte ihre Maßstäbe. Sie betrachtete es als<br />

erlaubt, Rache zu nehmen an einem Offizier für Quälereien <strong>der</strong> Soldaten; aber sie<br />

betrachtete es als eine Niedrigkeit, Rache zu nehmen an einem gefangenen deutschen<br />

Soldaten wegen tatsächlicher o<strong>der</strong> angeblicher Greueltaten Ludendorfis. Die ewigen<br />

Normen <strong>der</strong> Moral blieben, ach, diesen knorrigen und verlausten Bauern fremd.<br />

Aus den Versuchen <strong>der</strong> Bourgeoisie, die Armee in ihre Hände zu bekommen, entstand<br />

auf <strong>der</strong> Delegiertenkonferenz <strong>der</strong> Westfront vom 7.-10. April zwischen den Liberalen<br />

und den Versöhnlem ein übrigens nicht zur Entfaltung gelangter Wettstreit. Die erste<br />

Konferenz einer <strong>der</strong> Fronten sollte die entscheidende politische Nachprüfung <strong>der</strong> Armee<br />

werden, und beide Parteien schickten ihre besten Kräfte nach Minsk. Der Sowjet:<br />

Zeretelli, Tschcheidse, Skobeljew, Gwosdjew; die Bourgeoisie: Rodsjanko höchstselbst,<br />

den Kadettendemosthenes Roditschjew und an<strong>der</strong>e. Leidenschaftliche Spannung<br />

herrschte in dem überfüllten Theatergebäude zu Minsk und verbreitete sich von dort aus<br />

wellenartig über die Stadt. Die Berichte <strong>der</strong> Delegierten ergaben ein Bild dessen, was ist.<br />

An <strong>der</strong> ganzen Front geht die Verbrü<strong>der</strong>ung vor sich, die Soldaten ergreifen immer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 186


kühner die Ininative, das Kommando vermag an Repressalien nicht einmal zu denken.<br />

Was konnten da die Liberalen sagen? Angesichts dieses leidenschaftlichen Auditoriums<br />

verzichteten sie sogleich auf den Gedanken, ihre Resolutionen denen <strong>der</strong> Sowjets entgegenzustellen.<br />

Sie beschränkten sich auf patriotische Töne in ihren Begrüßungsreden und<br />

wurden bald völlig hinweggespült. Die Schlacht war von den Demokraten ohne Kampf<br />

gewonnen. Sie brauchten die Massen nicht gegen die Bourgeoisie zu führen, son<strong>der</strong>n<br />

mußten sie zurückhalten. Die Losung des Friedens, zweideutig mit <strong>der</strong> Losung <strong>der</strong><br />

Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Geiste des Manifestes vom 14. März verflochten,<br />

beherrschte den Kongreß. Die Sowjetresolution über den Krieg wurde mit 610 gegen 8<br />

Stimmen bei 46 Stimmenthaltungen angenommen. Die letzte Hoffnung <strong>der</strong> Liberalen,<br />

dem Hinterland die Front, dem Sowjet die Armee entgegenstellen zu können, zerstob in<br />

Asche. Doch auch die demokratischen Führer kehrten vom Kongreß zurück, mehr<br />

verängstigt als begeistert über ihren Sieg. Sie hatten die Geister erblickt, die die <strong>Revolution</strong><br />

erweckt hatte, und sie fühlten, daß sie diesen Geistern nicht gewachsen waren.<br />

Die Bolschewiki und Lenin<br />

Am 3. April kam aus <strong>der</strong> Emigration Lenin in Petrograd an. Erst mit diesem Moment<br />

beginnt die bolschewistische Partei mit vol1er, und was noch wichtiger, mit eigener<br />

Stimme zu sprechen.<br />

Der erste Monat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war für den Bolschewismus eine Zeit <strong>der</strong> Fassungslosigkeit<br />

und Schwankungen. Im "Manifest" des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, verfaßt<br />

gleich nach dem Siege des Aufstandes, hieß es, »die Arbeiter <strong>der</strong> Fabriken und Werkstätten<br />

wie auch die aufständischen Truppen müssen sofort ihre Vertreter in die revolutionäre<br />

Provisorische Regierung wählen«. Das Manifest war im offiziellen Organ des<br />

Sowjets ohne Kommentare und Wi<strong>der</strong>reden abgedruckt worden, als betreffe es nur eine<br />

akademische Frage. Doch auch die leitenden Bolschewiki verliehen ihrer Losung rein<br />

demonstrative Bedeutung. Sie handelten nicht wie Vertreter einer proletarischen Partei,<br />

die sich zum selbständigen Kampf um die Macht vorbereitet, son<strong>der</strong>n als linker Flügel<br />

<strong>der</strong> Demokratie, <strong>der</strong>, seine Prinzipien verkündend, die Absicht hat, während einer<br />

unbestimmt langen Zeit die Rolle <strong>der</strong> loyalen Opposition zu spielen.<br />

Suchanow behauptet, daß in <strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees vom 1. März im<br />

Zentrum <strong>der</strong> Beratungen nur die Bedingungen <strong>der</strong> Machtübergabe standen: gegen die<br />

Tatsache <strong>der</strong> Bildung einer bürgerlichen Regierung selbst hätte sich keine einzige<br />

Stimme erhoben, ungeachtet dessen, daß im Exekutivkomitee von den 39 Mitglie<strong>der</strong>n 11<br />

zu den Bolschewiki und den diesen Nahestehenden zählten, darunter drei Mitglie<strong>der</strong> des<br />

Zentrums, Salutzki, Schljapnikow und Molotow.<br />

Am nächsten Tage stimmten im Sowjet, nach einem Bericht Schljapnikows selbst, von<br />

den anwesenden 400 Deputierten im ganzen 19 Mann gegen die Übergabe <strong>der</strong> Macht an<br />

die Bourgeoisie, während die bolschewistische Fraktion bereits an die 40 Mann zählte.<br />

Die Abstimmung an sich verlief vollkommen unbemerkt, in formell-parlamentarischer<br />

Ordnung, ohne klare Gegenvorschläge seitens <strong>der</strong> Bolschewiki, ohne Kampf und ohne<br />

jegliche Agitation in <strong>der</strong> bolschewistischen Presse.<br />

Am 4. März beschloß das Büro des Zentralkomitiees eine Resolution über den konterrevolutionären<br />

Charakter <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und die Notwendigkeit, den Kurs<br />

auf die demokratische Diktatur des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft zu halten. Das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 187


Petrogra<strong>der</strong> Komitee, das nicht ohne Grund diese Resolution als akademisch bezeichnete,<br />

da sie überhaupt nicht sagte, was im Augenblick zu tun sei, ging an das Problem vom<br />

entgegengesetzten Ende heran. »Der vom Sowjet angenommenen Resolution über die<br />

Provisorische Regierung Rechnung tragend«, erklärte es, »<strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung nicht entgegenzuwirken, insofern wie ...« Im wesentlichen war es die Position<br />

<strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre, nur auf die zweite Schützengrabenlinie<br />

zurückverlegt. Die offen opportunistische Resolution des Petrogra<strong>der</strong> Komitees wi<strong>der</strong>sprach<br />

nur <strong>der</strong> Form nach <strong>der</strong> Position des Zentralkomitees, <strong>der</strong>en akademischer Charakter<br />

nichts an<strong>der</strong>es bedeutete ah die politische Versöhnung mit <strong>der</strong> vollzogenen Tatsache.<br />

Die Bereitschaft, sich schweigend o<strong>der</strong> mit einem Vorbehalt vor <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie zu verneigen, fand keineswegs ungeteilte Sympathie in <strong>der</strong> Partei. Die<br />

bolschewistischen Arbeiter stießen sogleich auf die Provisorische Regierung wie auf eine<br />

feindliche Feste, die sich plötzlich auf ihrem Wege erhob. Das Wyborger Komitee führte<br />

tausendköpfige Versammlungen von Arbeitern und Soldaten durch, die fast einstimmig<br />

Resolutionen über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Machtergreifung durch den Sowjet annahmen.<br />

Ein aktiver Teilnehmer dieser Agitation, Dingelstedt, bezeugt: »Es gab kein Meeting,<br />

keine Arbeiterversammlung, die unsere Resolutionen dieses Inhalts abgelehnt haben<br />

würde, wenn nur irgend jemand dagewesen wäre, sie einzubringen.« Menschewiki und<br />

Sozialrevolutionäre fürchteten sich in <strong>der</strong> ersten Zeit, mit ihrer Fragestellung die Macht<br />

betreffend vor einem Arbeiter- und Soldatenauditorium offen aufzutreten. Die Resolution<br />

<strong>der</strong> Wyborger wurde in Anbetracht ihres Erfolges gedruckt und plakatiert. Das Petrogra<strong>der</strong><br />

Komitee aber belegte diese Resolution mit einem direkten Verbot, und die Wyborger<br />

mußten nachgeben.<br />

In <strong>der</strong> Frage des sozialen Inhalts <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong> Perspektiven ihrer Entwicklung<br />

war die Position <strong>der</strong> bolschewistischen Leitung nicht min<strong>der</strong> verworren. Schljapnikow<br />

berichtet: »Wir waren mit den Menschewiki darin einig, daß wir den Moment eines<br />

revolutionären Bruches <strong>der</strong> Feudal- und Leibeigenschaftsverhältnisse durchleben und<br />

daß diese durch verschiedene, den bürgerlichen Verhältnissen eigene "Freiheiten"<br />

abgelöst werden.« Die 'Prawda' schrieb in ihrer ersten Nummer: »Die Grundaufgabe ist<br />

... Einführung des demokratisch-republikanischen Regimes.« In seiner Weisung an die<br />

Arbeiterdeputierten verkündete das Moskauer Komitee: »Das Proletariat ist bestrebt, die<br />

Freiheit für den Kampf um den Sozialismus - das Endziel - zu erlangen.« Der traditionelle<br />

Hinweis auf das "Endziel" unterstreicht zur Genüge die historische Distanz in<br />

bezug auf den Sozialismus. Weiter ging niemand. Die Befürchtung, die Grenzen <strong>der</strong><br />

demokratischen <strong>Revolution</strong> zu überschreiten, diktierte die Politik des Abwartens, <strong>der</strong><br />

Anpassung und des faktischen Rückzuges vor den Versöhnlern.<br />

Wie drückend die politische Charakterlosigkeit des Zentrums sich auf die Provinz<br />

auswirkte, ist nicht schwer zu begreifen. Begnügen wir uns mit dem Zeugnis eines<br />

Leiters <strong>der</strong> Saratower Organisation: »Unsere Partei, die an dem Aufstand aktiv beteiligt<br />

gewesen war, hatte offenbar den Einfluß auf die Massen verloren, und er wurde von den<br />

Soziakevolutionären aufgefangen. Welches dier Parolen <strong>der</strong> Bolschewiki waren, wußte<br />

niemand ... Ein sehr unangenehmes Bild.«<br />

Die linken Bolschewiki, vor allem die Arbeiter, waren aus allen Kräften bestrebt, die<br />

Quarantäne zu durchbrechen. Doch auch sie wußten nicht, wie die Argumente vom<br />

bürgerlichen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und den Gefahren <strong>der</strong> Isolierung für das Proleta-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 188


iat zu parieren. Mit innerer Überwindung unterwarfen sie sich den Direktiven <strong>der</strong><br />

Leitung. Verschiedene Strömungen im Bolchewismus prallten vom ersten Tag an<br />

ziemlich heftig aneinan<strong>der</strong>, aber nicht eine führte ihre Gedanken zu Ende. Die 'Prawda'<br />

spiegelte diesen verworrenen und schwankenden Ideenzustand <strong>der</strong> Partei wi<strong>der</strong>, ohne<br />

eine Einheit hineinzubringen. Die Lage wurde noch verwickelter Mitte März, nach <strong>der</strong><br />

Ankunft Kamenews und Stalins aus <strong>der</strong> Verbannung, die das Steuer <strong>der</strong> offiziellen<br />

Parteipolitik schroff nach rechts warfen.<br />

Bolschewik fast seit <strong>der</strong> Entstehung des Bolschewismus, stand Kamenew stets auf dem<br />

rechten Flügel <strong>der</strong> Partei. Nicht ohne theoretische Vorbereitung und politischen Instinkt,<br />

mit großer Erfahrung im <strong>russischen</strong> Fraktionskampfe und einem Vorrat an politischen<br />

Beobachtungen im Westen, griff er besser als viele an<strong>der</strong>e Bolschewiki Lenins Gesamtideen<br />

auf, aber nur, um ihnen in <strong>der</strong> Praxis eine möglichst friedliche Deutung zu geben.<br />

We<strong>der</strong> Selbständigkeit des Entschlusses noch Initiative <strong>der</strong> Tat durfte man von ihm<br />

erwarten. Hervorragen<strong>der</strong> Propagandist, Redner, kein glänzen<strong>der</strong>, aber ein nachdenklicher<br />

Journalist, war Kamenew beson<strong>der</strong>s wertvoll für Verhandlungen mit an<strong>der</strong>en<br />

Parteien und sogar für die Erforschung an<strong>der</strong>er Gesellschaftskreise, wobei er von solchen<br />

Exkursionen stets ein Partikel parteifrem<strong>der</strong> Stimmungen mitbrachte. Diese Eigenschaften<br />

Kamenews traten <strong>der</strong>art klar zutage, daß sich fast niemand in bezug auf seine politische<br />

Figur täuschte. Suchanow vermerkt an ihm das Fehlen »scharfer Kanten« er »muß<br />

stets ins Schlepptau genommen werden, und wenn er sich mitunter auch wi<strong>der</strong>setzt, so<br />

doch nicht heftig«. In gleichem Sinne schreibt auch Stankewitseh: Die Beziehungen<br />

Kamenews zu den Gegnern »waren so mil<strong>der</strong> Art, daß es schien, als schämte er sich<br />

selbst über die Unversöhnlichkeit seiner Position im Komitee war er zweifellos nicht<br />

Feind, son<strong>der</strong>n nur Opposition«. Dem ist fast nichts hinzuzufügen.<br />

Stalin stellte sowohl seiner psychologischen Verfassung wie dem Charakter seiner<br />

Parteiarbeit nach, einen ganz an<strong>der</strong>eu Bolschewikentyp dar: den des festen, theoretisch<br />

und politisch primitiven Organisators. Blieb Kamenew in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Publizisten<br />

eine Reihe von Jahren mit Lenin in <strong>der</strong> Emigration, wo sich <strong>der</strong> Herd <strong>der</strong> theoretischen<br />

Arbeit <strong>der</strong> Partei befand, so war Stalin als sogenannter Praktiker ohne theoretischen<br />

Horizont, ohne breite politische Interesse und ohne Kenntnis frem<strong>der</strong> Sprachen<br />

vom <strong>russischen</strong> Bodcn nicht zu trennen. Solche Arbeiter tauchten im Auslande nur<br />

vorübergehend auf, um Instruktionen zu erhalten und wie<strong>der</strong> nach Rußland zurückzukehren.<br />

Stalin zeichnete sich unter den Praktikern durch Energie, Beharrlichkeit und Erfindungsgabe<br />

für Kulissenkombinationen aus. Wenn Kamenew aus seiner Natur heraus sich<br />

<strong>der</strong> praktischen Folgerunge Bolschewismus "schämte", so neigte im Gegenteil Stalin<br />

einmal erfaßte praktische Folgerungen ohne jede Mil<strong>der</strong>ung zu verteidigen, mit einer<br />

Mischung von Beharrlichkeit und Grobheit.<br />

Ungeachtet <strong>der</strong> Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere haben Kamenew und Stalin nicht<br />

zufällig zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine gemeinsame Position eingenommen: sie ergänzten<br />

einan<strong>der</strong>. <strong>Revolution</strong>äre Konzeption ohne revolutionären Willen ist dasselbe wie eine<br />

Uhr mit zerbrochener Fe<strong>der</strong>: <strong>der</strong> politische Zeiger Kamenews blieb stets hinter den<br />

revolutionären Aufgaben zurück. Doch das Fehlen einer breiten politischen Konzeption<br />

verurteilt den willensstärksten Politiker zur Unentschiedenheit beim Eintreten großer und<br />

komplizierter Ereignisse. Der Empiriker Stalin ist fremden Einflüssen ausgesetzt nicht<br />

von seiten des Willens, son<strong>der</strong>n des Denkens. So brachten <strong>der</strong> Publizist ohne Entschluß-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 189


kraft und <strong>der</strong> Organisator ohne Horizont im März ihren Bolschewismus bis hart an die<br />

Grenze des Menschewismus. Stalin zeigte sich dabei noch weniger befähigt als<br />

Kamenew, im Exekutivkomitee, in das er eintrat, als Vertreter <strong>der</strong> Partei eine selbständige<br />

Position zu entwickeln. In den Protokollen wie in <strong>der</strong> Presse ist nicht ein Antrag,<br />

eine Erklärung, ein Protest enthalten, in denen Stalin, im Gegensatz zur Kriecherei <strong>der</strong><br />

"Demokratie" vor dem Liberalismus, dem bolschewistischen Standpunkt Ausdruck<br />

verliehen hätte Suchanow sagt in seinen Aufzeichnungen: »Bei den Bolschewiki tauchte<br />

außer Kamenew zu dieser Zeit im Exekutivkomitee Stalin auf ... Während seiner bescheidenen<br />

Tätigkeit im Exekutivkomitee machte [er] - nicht nur auf mich den Eindruck eines<br />

grauen Hecks, <strong>der</strong> manchmal trübe schimmerte. Mehr ist über ihn eigentlich nicht zu<br />

sagen.« Wenn Suchanow Stalin im großen und ganzen sichtlich unterschätzt, so charakterisiert<br />

er doch richtig dessen politische Gesichtslosigkeit im versöhnlerischen Exekutivkomitee.<br />

Am 14. März wurde das Manifest "An die Völker <strong>der</strong> ganzen Welt", das die Februarrevolution<br />

im Interesse <strong>der</strong> Entente deutete und den Triumph des neuen, republikanischen<br />

Sozialpatriotismus französischer Marke darstellte, im Sowjet einstimmig angenommen.<br />

Das war zweifellos ein Sieg Kamenew-Stalin, <strong>der</strong> offensichtlich ohne großen Kanipf<br />

erreicht worden war. Die 'Prawda' schrieb darüber als von einem »bewußten Kompromiß<br />

zwischen den verschiedenen im Sowjet vertretenen Ströiiiungen«. Es hätte nur hinzugefügt<br />

werden müssen, daß <strong>der</strong> Kompromiß einen offenen Bruch mit <strong>der</strong> Strömung Lenins<br />

bedeutete, die im Sowjet überhaupt nicht vertreten war.<br />

Das Mitglied <strong>der</strong> ausländischen Redaktion des Zentralorgans, Kamenew, das Mitglied<br />

des Zentralkomitees, Stalin, und <strong>der</strong> Dumadeputierte Muranow, ebenfalls aus Sibirien<br />

zurückgekehrt, schoben die alte, zu "inke" Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' beiseite und nahmen,<br />

auf ihre problematischen Rechte gestützt, am 15. März die Zeitung in ihre Hände. Im<br />

Programmartikel <strong>der</strong> neuen Redaktion wurde verkündet, die BolschewIki würden die<br />

Provisorische Regierung entschieden unterstützen, »insofern sie gegen Reaktion und<br />

Konterrevolution kämpft«. In <strong>der</strong> Frage des Krieges sprachen sich die neuen Leiter nicht<br />

weniger kategorisch aus: solange die deutsche Armee ihrem Kaiser gehorcht, müßte <strong>der</strong><br />

russische Soldat »fest auf seinem Posten stehen, Kugel mit Kugel und Geschoß mit<br />

Geschoß beantworten«. »Nicht das inhaltlose "Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg" ist unsere Losung.<br />

Unsere Losung ist - <strong>der</strong> Druck auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu<br />

zwingen ... mit einem Versuch hervorzutreten, alle kämpfenden Län<strong>der</strong> zur sofortigen<br />

Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen ... Bis dahin bleibt aber je<strong>der</strong> auf<br />

seinem Kampfposten!« Idee wie Formulierung sind durch und durch im Geiste <strong>der</strong><br />

Landesverteidigung. Das Programm des Druckes auf die imperialistische Regierung mit<br />

dem Ziele, diese zur friedlichen Handlungsweise »zu bewegen«, war das Programm<br />

Kautskys in Deutschland, Jean Longuets in Frankreich, Macdonalds in England, keinesfalls<br />

aber das Programm Lenins, <strong>der</strong> zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> imperialistischen Herrschaft<br />

aufrief. In ihrer Verteidigung vor <strong>der</strong> patriotischen Presse ging die 'Prawda' noch weiter:<br />

»Jeglicher "Defätismus"«, schrieb sie, »o<strong>der</strong> richtiger das, was die nicht wählerische<br />

Presse unter dem Schutze <strong>der</strong> zaristischen Zensur mit diesem Namen brandmarkte, starb<br />

in dem Augenblick, als in den Straßen Petrograds das erste revolutionäre Regiment<br />

erschien.« Das war direkt Abgrenzung gegen Lenin. Der »Defätismus« war keinesfalls<br />

eine Erfindung <strong>der</strong> feindlichen Presse unter dem Schutze <strong>der</strong> Zensur, er wurde von Lenin<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 190


mit <strong>der</strong> Formel gegeben: »Die Nie<strong>der</strong>lage Rußlands ist das kleinere Übel.« Das Erscheinen<br />

des ersten revolutionären Regiments und sogar <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Monarchie än<strong>der</strong>te an<br />

dem imperialistischen Charakter des Krieges nichts. »Der Tag des Erscheinens <strong>der</strong><br />

ersten Nummer <strong>der</strong> umgestalteten 'Prawda' - am 15. März -«, erzählt Schljapnikow,<br />

»war ein Triumphtag für die Landesverteidiger. Das ganze Taurische Palais, von den<br />

Geschäftemachern des Komitees <strong>der</strong> Reichsduma bis zum Herzen <strong>der</strong> revolutionären<br />

Demokratie - dem Exekutivkomitee-, waren von <strong>der</strong> Neuigkeit erfüllt: dem Siege <strong>der</strong><br />

gemäßigten, vernünftigen Bolschewiki über die Extremen. Im Exekutivkomitee selbst<br />

empfing man uns mit giftigem Lächeln ... Als diese Nummer <strong>der</strong> 'Prawda' in die Fabriken<br />

gelangte, rief sie unter den Mitglie<strong>der</strong>n unserer Partei und den mit ihr Sympathisierenden<br />

tiefes Erstaunen hervor und höhnende Freude bei den Gegnern ... Die Empörung in<br />

den Bezirken war groß, und als die Proletarier erfuhren, daß die 'Prawda' von drei aus<br />

Sibirien angekommenen früheren Leitern des Blattes eigenmächtig übernommen worden<br />

sei, verlangten sie <strong>der</strong>en Ausschluß aus <strong>der</strong> Partei.«<br />

Die 'Prawda' war bald gezwungen, einen scharfen Protest <strong>der</strong> Wyborger abzudrucken:<br />

»Wenn sie [die Zeitung] nicht das Vertrauen <strong>der</strong> Arbeiterviertel verlieren will, so muß<br />

und wird sie das Licht des revolutionären Bewußtseins tragen, so grell es den bürgerlichen<br />

Eulen auch sein mag.« Proteste von unten veranlaßten die Redaktion, etwas<br />

vorsichtiger in den Ausdrücken zu sein, nicht aber die Politik zu än<strong>der</strong>n. Sogar Lenins<br />

erster Artikel, <strong>der</strong> inzwischen aus dem Auslande angekommen war, berührte das<br />

Bewußtsein <strong>der</strong> Redaktion nicht. Der Kurs ging auf <strong>der</strong> ganzen Linie nach rechts. »In<br />

unserer Agitation«, erzählt Dingelstedt, ein Vertreter des linken Flügeis, »mußten wir<br />

dem Prinzip <strong>der</strong> Doppelherrschaft Rechnung tragen ... und die Unvermeidlichkeit dieses<br />

Umweges jener Arbeiter- und Soldatenmasse nachzuweisen suchen, die während eines<br />

halben Monats intensiven politischen Lebens in einem ganz an<strong>der</strong>en Begriff ihrer Aufgaben<br />

erzogen worden war.«<br />

Die Politik <strong>der</strong> Partei im ganzen Lande glich sich naturgemäß <strong>der</strong> 'Prawda' an. In vielen<br />

Sowjets wurden jetzt Resolutionen über grundlegende Fragen einstimmig angenommen:<br />

die Bolschewiki beugten sich einfach <strong>der</strong> Sowjetmehrheit. Auf <strong>der</strong> Sowjetkonferenz des<br />

Moskauer Bezirks schlossen sich die Bolschewiki <strong>der</strong> Resolution <strong>der</strong> Sozialpatrioten<br />

über den Krieg an. Schließlich stimmten die Bolschewiki auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Konferenz<br />

<strong>der</strong> Vertreter von 82 Sowjets in Petrograd, Ende März und Anfang April, für die<br />

offizielle, von Dan befürwortete Resolution über die Macht. Diese merkwürdige politische<br />

Annäherung an die Menschewiki lag im Wesen <strong>der</strong> breit herausgebildeten Vereinigungstendenzen.<br />

In <strong>der</strong> Provinz veremigten sich Bolschewiki und Menschewiki in<br />

gemeinsamen Organisationen. Die Fraktion Kamenew-Stalin verwandelte sich immer<br />

mehr in die linke Flanke <strong>der</strong> sogenannten revolutionären Demokratie und schloß sich <strong>der</strong><br />

Mechanik des parlamentarischen Hinter-den-Kulissen-"Drucks" auf die Bourgeoisie an,<br />

diesen durch einen Druck hinter den Kulissen auf die Demokratie ergänzend.<br />

Der ausländische Teil des Zentralkomitees und die Redaktion des Zentralorgans 'Sozialdemokrat'<br />

bildeten das geistige Zentrum <strong>der</strong> Partei. Lenin, mit Sinowjew als Helfer,<br />

trug die ganze leitende Arbeit. Äußerst verantwortliche Sekretärpflichten erfüllte Lenins<br />

Frau, Krupskaja. In <strong>der</strong> praktischen Arbeit stützte sich dieses kleine Zentrum auf die<br />

Hilfe einiger Dutzend zu den Bolschewiki gehören<strong>der</strong> Emigranten. Die Abgetrennteit<br />

von Rußland wurde im Kriege um so unerträglicher, je enger die Militärpolizei <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 191


Entente ihre Kreise zog. Der Ausbruch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, den man lange und gespannt<br />

erwartet hatte, kam überraschend. England lehnte kategorisch die Durchlassung <strong>der</strong><br />

Emigranten-Internationalisten, über die es sorgfältigst Listen führte, nach Rußland ab.<br />

Lenin raste im Züricher Käfig, nach einem Ausweg suchend. Unter Hun<strong>der</strong>ten von<br />

Plänen, die einan<strong>der</strong> ablösten, gab es auch den, auf den Paß eines taubstummen Skandinaviers<br />

zu reisen. Gleichzeitig läßt Lenin keine Gelegenheit vorübergehen, seine Stimme<br />

aus <strong>der</strong> Schweiz hören zu lassen. Schon am 6. März telegraphiert er über Stockholm nach<br />

Petrograd: »Unsere Taktik: restloses Mißtrauen, keinerlei Unterstützung <strong>der</strong> neuen<br />

Regierung; Kerenski mißtrauen wir beson<strong>der</strong>s; Bewaffnung des Proletariats die einzige<br />

Garantie; unverzüglich Wahlen in die Petrogra<strong>der</strong> Duma; keine Annäherung an an<strong>der</strong>e<br />

Parteien.« Allein die Erwähnung <strong>der</strong> Wahlen für die Duma, statt für den Sowjet, hatte in<br />

dieser ersten Direktive episodischen Charakter und kam bald in Wegfall; die übrigen<br />

Punkte, mit telegraphischer Bestimmtheit ausgedrückt, gehen schon vollständig die allgemeine<br />

Richtung <strong>der</strong> Politik wie<strong>der</strong>. Gleichzeitig beginnt Lenin, an die 'Prawda' seine<br />

"Briefe aus <strong>der</strong> Ferne" zu senden, die, auf Bruchteile ausländischer Informationen<br />

gestützt, eine fertige Analyse <strong>der</strong> revolutionären Situation enthalten. Die Nachrichten <strong>der</strong><br />

ausländischen Presse ermöglichen ihm bald den Schluß, daß die Provisorische Regierung<br />

unter direkter Beihilfe nicht nur Kerenskis, son<strong>der</strong>n auch Tschcheidses die Arbeiter mit<br />

Erfolg betrügt, indem sie den im-perialistischen Krieg für einen Landesverteidigungskrieg<br />

ausgibt. Am 17. März schickt Lenin durch Vermittlung <strong>der</strong> Freunde in Stockholm<br />

einen von Sorge erfüllten Brief. »Unsere Partei würde sich für ewig mit Schande bedekken,<br />

politisch umbringen, wenn sie auf einen solchen Betrug einginge ... lch werde sogar<br />

einen sofortigen Bruch, mit wem auch immer aus unserer Partei, vorziehen, als dem<br />

Sozialpairiotismus nachgeben ...« Nach dieser dem Anschein nach unpersönlichen,<br />

jedoch auf bestimmte Personen berechneten Drohung beschwört Lenin: »Kamenew muß<br />

begreifen, daß auf ihm welthistorische Verantwortung ruht.« Kamenew wird deshalb<br />

genannt, weil es sich um prinzipielle Fragen <strong>der</strong> Politik handelt. Würde Lenin die praktische<br />

Kampfaufgabe meinen, er würde eher an Stalin denken. Doch gerade in jenen<br />

Stunden, als Lenin bestrebt war, durch das rauchende Europa hindurch die Spannkraft<br />

seines Willens nach Petrograd zu leiten, schwenkte Kamenew unter Mitwirkung Stalins<br />

schroff in die Richtung zum Sozialpatriotismus ab.<br />

All die Pläne von Schminke, Perücken, fremden und falschen Pässen fielen einer nach<br />

dem an<strong>der</strong>en als undurchführbar weg. Gleichzeitig trat immer konkreter die Idee <strong>der</strong><br />

Reise durch Deutschland hervor. Dieser Plan erschreckte die Mehrzahl <strong>der</strong> Emigranten,<br />

und zwar nicht nur die Patrioten. Martow und an<strong>der</strong>e Menschewiki wagten nicht, sich <strong>der</strong><br />

kühnen Initiative Lenins anzuschließen, und fuhren fort, vergeblich an die Türen <strong>der</strong><br />

Entente zu klopfen. Vorwürfe wegen <strong>der</strong> Reise durch Deutschland wurden später sogar<br />

von vielen Bolschewiken erhoben, infolge <strong>der</strong> Schwierigkeiten, die <strong>der</strong> »plombierte<br />

Wagen« für die Agitation geschaffen hatte. Lenin schloß von Anfang an die Augen nicht<br />

vor den späteren Schwierigkeiten. Krupskaja schrieb kurz vor <strong>der</strong> Abreise aus Zürich:<br />

»Gewiß werden die Patrioten in Rußland ein Geheul anstimmen, aber man muß darauf<br />

gefaßt sein.« Die Frage stand so: entwe<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schweiz bleiben o<strong>der</strong> durch Deutschland<br />

reisen. An<strong>der</strong>e Wege gab es überhaupt nicht. Konnte Lenin da auch nur einen<br />

Moment zweifeln? Genau einen Monat später mußten Martow, Axelrod und an<strong>der</strong>e<br />

Lenins Spuren folgen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 192


In <strong>der</strong> Organisation dieser ungewöhnlichen Reise durch feindliches Land während des<br />

Krieges äußern sich die grundlegenden Züge Lenins als Politiker: Kühnheit des Vorhabens<br />

und umsichtige Sorgfalt <strong>der</strong> Durchführung. In diesem großen <strong>Revolution</strong>är lebte ein<br />

pedantischer Notar, <strong>der</strong> jedoch seinen Platz kannte und zur Aufnahme seines Akts in dem<br />

Moment schritt, wo dies <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> Vernichtung sämtlicher Notariatsakte dienen<br />

konnte. Äußerst sorgfältig ausgearbeitete Bedingungen <strong>der</strong> Reise durch Deutschland<br />

bildeten die Basis eines eigenartigen internationalen Vertrages zwischen <strong>der</strong> Redaktion<br />

<strong>der</strong> Emigrantenzeitung und dem Reiche <strong>der</strong> Hohenzollern. Lenin for<strong>der</strong>t für die Durchfahrt<br />

volle Exterritorialität: keine Kontrolle über die personale Zusammensetzung <strong>der</strong><br />

Durchreisenden, ihrer Pässe und ihres Gepäcks, kein Mensch durfte unterwegs den<br />

Wagen betreten (daher die Legende vom »plombierten« Wagen). Ihrerseits verpflichtete<br />

sich die Emigrantengruppe, in Rußland auf die Freilassung einer entsprechenden Anzahl<br />

von Zivilgefangenen, Deutschen und Österreichern, zu dringen.<br />

Gemeinsam mit einigen ausländischen <strong>Revolution</strong>ären wurde eine Deklaration ausgearbeitet.<br />

»Die <strong>russischen</strong> Internationalisten, die ... sich jetzt nach Rußland begeben, um<br />

dort <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu dienen, werden uns helfen, die Proletarier <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Län<strong>der</strong>, insbeson<strong>der</strong>e die Proletarier Deutschlands und Österreich-Ungarns, zur<br />

Erhebung gegen ihre Regierungen zu bringen.« So lautete das Protokoll, das von Loriot<br />

und Guilbeaux für Frankreich, Paul Levi für Deutschland, Platten für die Schweiz, von<br />

den schwedischen linken Deputierten und an<strong>der</strong>en mehr unterschrieben wurde. Unter<br />

diesen Bedingungen und Vorsichtsmaßregeln reisten Ende März dreißig russische<br />

Emigranten aus <strong>der</strong> Schweiz ab, selbst unter den Frachten des Krieges eine Fracht von<br />

außerordentlieber Explosivkraft.<br />

In dem Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter erinnerte Lenin an die Erklärung des<br />

Zentralorgans <strong>der</strong> Bolschewiki vom Herbst 1915: Sollte die <strong>Revolution</strong> in Rußland eine<br />

republikanische Regierung an die Macht bringen, die den imperialistischen Krieg fortsetzen<br />

will, werden die Bolschewiki gegen die Verteidigung des republikanischen Vaterlandes<br />

sein. Heute ist diese Situation eingetreten. »Unsere Losung: keine Unterstützung <strong>der</strong><br />

Regierung Gutschkow-Miljukow.« Mit diesen Worten betrat jetzt Lenin das Territorium<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung sahen jedoch keinen Grund zur Beunruhigung.<br />

Nabokow erzählt: »ln einer Märzsitzung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, in <strong>der</strong><br />

Pause, vor <strong>der</strong> Fortsetzung eines Gesprächs über die anwachsende bolschewistische<br />

Propaganda, erklärte Kerenski, wie üblich hysterisch kichernd: "Wartet nur, Lenin selbst<br />

ist unterwegs, da wird es erst richtig beginnen" ...« Kerenski hatte recht: das Richtige<br />

sollte erst beginnen. Doch sahen die Minister, nach den Worten Nabokows, keinen<br />

Grund zu Beunruhigung: »Allein die Tatsache, sich an Deutschland gewandt zu haben,<br />

wird Lenins Autorität <strong>der</strong>maßen untergraben, daß man ihn nicht zu fürchten haben<br />

wird.« Wie üblich, waren die Minister auch hier sehr scharfsichtig.<br />

Freunde und Schüler reisten nach Finnland, Lenin abzuholen. »Kaum hatte er das<br />

Coupé betreten und Platz genommen«, erzählt Raskolnikow, ein junger Seeoffizier und<br />

Bolschewik, »fiel Wladimir lljitsch auch schon über Kamenew her: "Was wird bei euch<br />

in <strong>der</strong> Prawda geschrieben? Wir haben einige Nummern gesehen und tüchtig auf euch<br />

geschimpft" ...« Das war die Begegnung nach einigen Jahren <strong>der</strong> Trennung. Doch das<br />

hin<strong>der</strong>te nicht, daß sie herzlich war.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 193


Unter Mitwirkung <strong>der</strong> militärischen Organisation mobilisierte das Petrogra<strong>der</strong> Komitee<br />

einige tausend Arbeiter und Soldaten für den festlichen Empfang Lenins. Eine befreundete<br />

Panzerwagendivision ordnete für diesen Zweck alle vorhandenen Panzerautos ab.<br />

Das Komitee beschloß, in Begleitung <strong>der</strong> Panzerwagen zum Bahnhof zu gehen: die<br />

<strong>Revolution</strong> hatte bereits die Leidenschaft für diese massigen Ungeheuer geweckt, die in<br />

den Straßen <strong>der</strong> Stadt auf seiner Seite zu haben so vorteilhaft ist.<br />

Die Beschreibung des offiziellen Empfanges, <strong>der</strong> im sogenannten Zarenzimmer des<br />

Finnländischen Bahnhofs stattfand, bildete eine sehr lebendige Seite <strong>der</strong> vielbändigen<br />

und sonst recht schläfrigen Aufzeichnungen Suchanows. »Ins Zarenzimmer kam o<strong>der</strong><br />

richtiger stürzte Lenin herein, im runden Hut, mit erfrorenem Gesicht und - einem prächtigen<br />

Bukett in <strong>der</strong> Hand. Als er bis zur Mitte des Zimmers gelaufen war, blieb er plötzlich<br />

vor Tschcheidse stehen, als sei er auf ein ganz unerwartetes Hin<strong>der</strong>nis gestoßen. Da<br />

trug Tschcheidse, ohne sein bisheriges mürrisches Aussehen zu verän<strong>der</strong>n, folgende<br />

nicht nur im Geist und Text, son<strong>der</strong>n auch im Ton einer Belehrung gehaltene "Begriißungs"-Rede<br />

vor: »Genosse Lenin, im Namen des Petersburger Sowjets und <strong>der</strong> gesamten<br />

<strong>Revolution</strong> begrüßen wir Sie in Rußland ... Aber wir sind <strong>der</strong> Ansicht, daß die Hauptaufgabe<br />

<strong>der</strong> revolutionären Demokratie jetzt in <strong>der</strong> Verteidigung unserer <strong>Revolution</strong><br />

gegen alle Anschläge, von innen wie von außen, besteht ... Wir hoffen, daß Sie gemeinsam<br />

mit uns diese Ziele verfolgen werden.« Tschcheidse schwieg. Ich war außer mir vor<br />

Überraschung ... Lenin aber wußte sichtlich gut, wie sich all dem gegenüber zu<br />

verhalten. Er stand da mit einem Ausdruck, als betreffe all das Geschehene ihn nicht im<br />

geringsten: er blickte nach allen Seiten, betrachtete die Gesichter ringsum und sogar die<br />

Decke des "Zaren"zimmers, ordnete sein Bukett (das recht wenig mit seiner ganzen Figur<br />

harmonierte), und dann, von <strong>der</strong> Delegation des Exekutivkomitees schon völlig<br />

abgewandt, "antwortete" er: »Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin<br />

glücklich, in eurer Person die siegreiche Russische <strong>Revolution</strong> zu begrüßen, euch als die<br />

Avantgarde <strong>der</strong> proletanschen Weltarmee zu begrüßen ... Die Stunde ist nicht fern, wo<br />

auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter,<br />

die Kapitalisten, richten werden ... Die Russische <strong>Revolution</strong>, von euch vollbracht,<br />

hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution ...«<br />

Suchanow hat recht, - das Bukett harmonierte schlecht mit Lenins Figur, es behin<strong>der</strong>te<br />

ihn zweitellos und beengte ihn durch die Deplaziertheit auf dem grauen Hintergrunde <strong>der</strong><br />

Ereignisse. Überhaupt liebte Lenin Blumen nicht im Bukett. Doch noch viel mehr mußte<br />

ihn dieser offizielle heuchlerisch-belehrende Empfang im Paradezimmer des Bahnhofs<br />

beengen. Tschcheidse war besser als seine Begrüßungsrede. Er fürchtete Lenin ein<br />

wenig. Doch war ihm sicher eingeflößt worden, man müsse diesen "Sektierer" von<br />

Anfang an zurechtweisen. Als Ergänzung zu <strong>der</strong> Rede Tschcheidses, die das traurige<br />

Niveau <strong>der</strong> Führung demonstrierte, verfiel ein junger Flottenequipagekommandeur, <strong>der</strong><br />

im Namen <strong>der</strong> Matrosen sprach, darauf, den Wunsch zu äußern, Lenin möge Mitglied <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung werden. So empfing die Februarrevolution, zerfahren,<br />

wortreich und einfältig den Mann, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> ersten Absicht gekommen war, ihr Sinn und<br />

Willen einzuflößen. Schon diese ersten Eindräcke, die mitgebrachte Besorgnis verzehnfachend,<br />

riefen ein schwer zurückzuhaltendes Protestgefühl hervor. Nur schnell die<br />

Ärmel hochkrempeln! Appellierend von Tschcheidse an die Matrosen und Arbeiter, von<br />

<strong>der</strong> Vaterlandsverteidigung an die internationale <strong>Revolution</strong>, von <strong>der</strong> Provisorischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 194


Regierung an Liebknecht, machte Lenin auf dem Bahnhof nur eine kleine Probe seiner<br />

ganzen weiteren Politik durch.<br />

Und dennoch hatte diese plumpe <strong>Revolution</strong> den Führer sogleich und fest in ihren<br />

Schoß aufgenommen. Die Soldaten verlangten, daß Lenin auf einem Panzerwagen Platz<br />

nähme, und es blieb ihm nichts übrig, als diese For<strong>der</strong>ung zu erfüllen. Die herabgesunkene<br />

Nacht gestaltete den Zug beson<strong>der</strong>s imposant. Bei gelöschten Lichtern <strong>der</strong> übrigen<br />

Panzerwagen durchschnitt <strong>der</strong> Scheinwerfer des Autos, in dem Lenin fuhr, grell die<br />

Finsternis. Der Lichtstrahl entriß dem Dunkel <strong>der</strong> Straßen die erregten Scharen <strong>der</strong><br />

Arbeiter, Soldaten und Matrosen, <strong>der</strong> gleichen, die die größte Umwälzung vollbracht<br />

hatten, die Macht aber zwischen den Fingern entgleiten ließen. Das Militärorchester<br />

mußte unterwegs mehrere Male schweigen, um Lenin die Möglichkeit zu geben, vor<br />

immer neuen und neuen Hörern seine Bahnhofsrede zu variieren. »Der Triumph war<br />

glänzend«, sagt Suchanow, »und sogar recht symbolisch.«<br />

Im Kschesinskaja-Palais, dem bolschewistischen Stab im Atlasnest <strong>der</strong> Hofballerina -<br />

diese Vermischung muß <strong>der</strong> stets wachen Ironie Lenins Spaß gemacht haben -, begannen<br />

die Begrüßungen von neuem. Das war schon zuviel. Lenin erduldete die Ströme von<br />

Lobreden wie ein ungeduldiger Passant den Regen unter einem zufälligen Tor. Er fühlte<br />

die aufrichtige Freude über seine Ankunft heraus, aber es ärgerte ihn, daß diese Freude<br />

so redselig war. Der ganze Ton <strong>der</strong> offiziellen Begrüßungen kam ihm nachgeahmt, affektiert<br />

vor, mit einem Wort, <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie entlehnt, deklamatorisch,<br />

sentimental und falsch. Er sah, daß die <strong>Revolution</strong> ihrer Aufgaben und Wege noch nicht<br />

bestimmt, aber bereits ihre ermüdende Etikette geschaffen hatte. Er lächelte gutmütigvorwurfsvoll,<br />

blickte auf die Uhr und gähnte wohl von Zeit zu Zeit ungezwungen. Noch<br />

waren die letzten Begrüßungsworte nicht verklungen, als <strong>der</strong> ungewöhnliche Gast über<br />

dieses Auditorium mit einem reißenden Strom leidenschaftlicher Gedanken herfiel, die<br />

sehr häufig wie Geffielhiebe klangen. In jener Periode war die Stenographiekunst dem<br />

Bolschewismus noch nicht geläufig. Niemand machte Notizen, alle waren zu stark vom<br />

Geschehen ergriffen. Die Rede ist nicht erhalten geblieben, es blieb nur <strong>der</strong> allgemeine<br />

Eindruck von ihr in den Erinnerungen <strong>der</strong> Zuhörer, aber auch er unterlag <strong>der</strong> Bearbeitung<br />

<strong>der</strong> Zeit: Die Begeisterung wurde vergrößert, die Angst verkleinert. In Wirklichkeit war<br />

<strong>der</strong> Eindruck <strong>der</strong> Rede, selbst bei den Allernächsten, vorwiegend gerade <strong>der</strong> <strong>der</strong> Angst.<br />

Alle gewohnten Formeln, die während des Monats, wie es schien, durch endlose Wie<strong>der</strong>holungen<br />

unerschütterlichc Festigkeit gewonnen hatten, explodierten eine nach <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>n vor den Augen des Auditoriums. Die kurze Leninsche Replik auf dem Bahnhof,<br />

hingeworfen über den Kopf des fassungslosen Tschcheidse, wurde hier zu einer<br />

zweistündigen Rede entwickelt, unmittelbar an die Petrogra<strong>der</strong> Ka<strong>der</strong> des Bolschewismus<br />

gerichtet.<br />

Zufällig war in dieser Versammlung als Gast, eingelassen durch Kamenews Gutmütigkeit<br />

- Lenin duldete solche Nachsicht nicht -, <strong>der</strong> parteilose Suchanow anwesend. Diesem<br />

Umstand verdanken wir die von einem Außenstehenden stammende, halb frindliche, halb<br />

begeisterte Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> ersten Begegnung Lenins mit den Petrogra<strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

»Unvergeßlich ist mir die donnerähnliche Rede, die nicht allein mich, einen zufällig<br />

hierher geratenen Häretiker, erschütterte und verblüffte, son<strong>der</strong>n auch alle Rechtgläubigen.<br />

Ich behaupte, niemand hatte so etwas erwartet. Es schien, als hätten sich alle<br />

Elemente aus ihren Höhlen erhoben, und <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Vernichtung, <strong>der</strong> keine<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 195


Grenzen, keine Zweifel, kcine menschlichen Schwierigkeiten, keine menschlichen<br />

Berechnungen kennt, schwebe im Saale <strong>der</strong> Kschesinskaja über den Häuptern <strong>der</strong><br />

verzauberten Schüler.«<br />

Menschliche Berechnungen und Schwierigkeiten, das sind für Suchanow hauptsächlich<br />

die Schwankungen des Redaktionskreises um die 'Nowaja Schisn', während des Tees bei<br />

Maxim Gorki. Die Berechnungen Lenins waren tieferer Natur. Nicht Elemente schwebten<br />

im Saale, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> menschliche Gedanke, vor den Elementen nicht erschrocken,<br />

son<strong>der</strong>n bestrebt, sie zu begreifen, um sie zu beherrschen. Aber immerhin: <strong>der</strong> Eindruck<br />

ist grell wie<strong>der</strong>gegeben.<br />

»Als ich mit den Genossen hierher fuhr«, sagte Lenin nach Suchanows Wie<strong>der</strong>gabe,<br />

»dachte ich, man würde uns vom Bahnhof direkt in die Peter-Paul-Festung bringen. Wie<br />

wir sehen, sind wir sehr weit davon entfernt. Doch wollen wir die Hoffnung nicht verlieren,<br />

daß das an uns nicht vorbeigehen wird, daß wir es nicht werden vermeiden können.«<br />

Während für die an<strong>der</strong>en die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gleichbedeutend mit <strong>der</strong><br />

Befestigung <strong>der</strong> Demokratie war, führte für Lenin die nächste Perspektive direkt in die<br />

Peter-Paul-Festung. Das klang wie ein unheilkünden<strong>der</strong> Scherz. Doch dachte Lenin, und<br />

gemeinsam mit ihm die <strong>Revolution</strong>, durchaus nicht daran, zu scherzen.<br />

»Die Agrarreform auf gesetzgebendem Wege«, klagt Suchanow, »schleu<strong>der</strong>te er<br />

ebenso weg wie die übrige feste Politik des Sowjets. Er verkündete die organisierte<br />

Aneignung des Landes durch die Bauern, ohne auf irgendwelche Staatsmacht ... zu<br />

warten.«<br />

»Wir brauchen keine parlamentarische Republik, wir brauchen keine bürgerliche<br />

Demokratie, wir brauchen keinerlei Regierung außer den Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten<br />

und Landarbeiterdeputierten!«<br />

Gleichzeitig grenzte sich Lenin schroff gegen die Sowjetmehrheit ab, diese in das<br />

feindliche Lager verweisend. »Dies allein genügte in jener Zeit, daß den Zuhörern<br />

schwindlig wurde!«<br />

»Nur die Zimmerwal<strong>der</strong> Linke steht auf <strong>der</strong> Wacht <strong>der</strong> proletarischen Interessen und<br />

<strong>der</strong> Weltrevolution«, gibt Suchanow empört die Leninschen Gedanken wie<strong>der</strong>. »Die<br />

übrigen sind die gleichen Opportunisten, die gute Worte sprechen, in <strong>der</strong> Tat aber ...<br />

die Sache des Sozialismus und <strong>der</strong> Arbeitermassen verraten.«<br />

»Entschieden geißelte er die Taktik, die die leitenden Parteigruppen und einzelne<br />

Genossen bis zu seiner Ankunft verfolgt hatten«, ergänzt Raskolnikow Suchanow.<br />

»Hier waren die verantwortlichsten Parteiarbeiter vertreten. Aber auch ihnen kam die<br />

Rede Iljitschs als eine wahre Offenbarung. Sie hatte den Rubikon gezogen zwischen<br />

<strong>der</strong> Taktik des gestrigen und des heutigen Tages.«<br />

Diskussionen über das Referat gab es nicht: alle waren zu betäubt, und je<strong>der</strong> wollte erst<br />

seine Gedanken sammeln. »Ich ging auf die Straße hinaus«, schließt Suchanow, »ich<br />

hatte das Gefühl, als wäre ich in dieser Nacht mit Ketten auf den Kopf geschlagen<br />

worden. Klar war nur das eine: nein, mit Lenin habe ich, <strong>der</strong> Wilde, keinen gemeinsamen<br />

Weg!« Allerdings!<br />

Am nächsten Tage präsentierte Lenin <strong>der</strong> Partei eine kurze schriftliche Darstellung<br />

seiner Ansichten, die, unter dem Namen "Thesen vom 4. April", eines <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Dokumente <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geworden sind. Die Thesen gaben einfache Gedanken in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 196


einfachen, allen verständlichen Worten wie<strong>der</strong>. Die Republik, die aus dem Februaraufstand<br />

hervorgegangen ist, ist nicht unsere Republik, und <strong>der</strong> Krieg, den sie führt, nicht<br />

unser Krieg. Die Aufgabe <strong>der</strong> Bolschewiken besteht darin, die imperialistische Regierung<br />

zu stürzen. Doch hält diese sich durch die Unterstützung <strong>der</strong> Sozialtevolutionäre und<br />

Menschewiki, die sich auf das Vertrauen <strong>der</strong> Volksmassen stützen. Wir sind in <strong>der</strong><br />

Min<strong>der</strong>heit. Unter diesen Bedingungen kann von Gewalt unsererseits nicht die Rede sein.<br />

Man muß die Massen lehren, den Versöhnlern und Landesverteidigern zu mißtrauen.<br />

»Man muß geduldig aufklären.« Der Erfolg einer solchen Politik, die sich aus <strong>der</strong> gesamten<br />

Situation ergibt, ist gesichert und wird uns zur Diktatur des Proletariats führen, also<br />

folglich über die Grenzen des bürgerlichen Regimes hinaus. Wir wollen restlos mit dem<br />

Kapital brechen, seine Geheimverträge veröffentlichen und die Arbeiter <strong>der</strong> ganzen Welt<br />

zum Bruch mit <strong>der</strong> Bourgeoisie und zur Liquidierung des Krieges aufrufen. Wir beginnen<br />

die internationale <strong>Revolution</strong>. Nur ihr Erfolg wird unseren Erfolg festigen und den<br />

Übergang zum sozialistischen Regime sichern.<br />

Lenins Thesen wurden in seinem eigenen und nur in seinem Namen veröffentlicht. Die<br />

zentralen Parteiinstitutionen begegneten ihnen mit Feindseligkeit, die nur durch<br />

Fassungslosigkeit gemil<strong>der</strong>t war. Niemand we<strong>der</strong> eine Organisation, noch eine Gruppe,<br />

noch eine Person - schloß sich ihnen durch Unterschrift an. Sogar Sinowjew, <strong>der</strong> gemeinsam<br />

mit Lenin aus dem Auslande angekommen war, wo sich seine Gedanken im Laufe<br />

von zehn Jahren unter Lenins unmittelbarem und täglichem Einfluß geformt hatten, trat<br />

schweigend beiseite. Und dieser Abgang kam dem Lehrer, <strong>der</strong> seinen nächsten Schüler<br />

nur zu gut kannte, nicht unerwartet. Wenn Kamenew Propagandist und Popularisator<br />

war, so war Sinowjew Agitator und sogar, nach Lenins Ausdruck, nur Agitator. Um<br />

Führer zu sein, fehlte ihm vor allem Verantwortunsgefühl. Aber nicht nur dies. Sein je<strong>der</strong><br />

inneren Disziplin bares Denken ist zu theoretischer Arbeit völlig unfähig und geht auf in<br />

<strong>der</strong> formlosen Intuition des Agitators. Dank einem beson<strong>der</strong>s geschärften Instinkt,<br />

erfaßte er stets im Fluge die ihm notwendigen Formulierungen, das heißt solche, die auf<br />

die Massen die effektvollste Wirkung erleichterten. Als Journalist wie als Redner blieb er<br />

unverän<strong>der</strong>lich Agitator, mit dem Unterschiede, daß in den Artikeln hauptsächlich seine<br />

schwachen Seiten hervortreten, während in <strong>der</strong> mündlichen Rede die starken überwiegen.<br />

Verwegener und ungezähmter in <strong>der</strong> Agitation als sonst jemand von den Bolschewiki, ist<br />

Sinowjew noch weniger als Kamenjew zu revolutionärer Initiative fähig. Er ist unentschlossen<br />

wie alle Demagogen. Aus <strong>der</strong> Arena fraktioneller Zusammenstöße in die Arena<br />

<strong>der</strong> unmittelbaren Massenkämpfe hinübergetreten, trennte sich Sinowjew fast unwillkürlich<br />

von seinem Lehrer.<br />

In den letzten Jahren hat es nicht an Versuchen gefehlt, zu beweisen, daß die Aprilkrise<br />

<strong>der</strong> Partei eine flüchtige und fast zufällige Verwirrung gewesen sei. Doch alle zerstäuben<br />

sie zu Asche bei <strong>der</strong> ersten Berührung mit den Tatsachen. 3<br />

Schon das, was wir über die Tätigkeit <strong>der</strong> Partei im Laufe des März wissen, deckt uns<br />

den tiefsten Gegensatz zwischen Lenin und <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Parteileitung auf Gerade im<br />

Augenblick des Eintreffens Lenins erreichte <strong>der</strong> Gegensatz höchste Spannung. Gleichzeitig<br />

mit <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Konferenz <strong>der</strong> Vertreter von 82 Sowjets, wo Kamenew und<br />

3 In <strong>der</strong> großen Kollektivarbeit unter <strong>der</strong> Redaktion Prof. Pokrowskis "Abrisse zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Oktoberrevolution"<br />

(Bd. II, Moskau 1927) ist <strong>der</strong> April-"Verwirrung" die apologetische Arbeit eines gewissen<br />

Bajewski gewidmet, die man nach ihrem ungenierten Umspringen mit Tatsachen und Dokumenten zynisch<br />

nennen müßte, wenn sie nicht so kindlich unbeholfen wäre.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 197


Stalin für die von den Sozialrevolutionären und Menschewiki eingebrachte Resolution<br />

über die Macht stimmten, fand in Petrograd die Parteikonferenz <strong>der</strong> aus ganz Rußland<br />

zusammengekommenen Bolschewiki statt. Für die Charakteristik <strong>der</strong> Stimmungen und<br />

Meinungen <strong>der</strong> Partei, richtiger ihrer Oberschicht, wie sie aus dem Krieg hervorgegangen<br />

war, ist die Konferenz, an <strong>der</strong>en Schluß Lenin eintraf von ganz beson<strong>der</strong>em Interesse.<br />

Die Lektüre <strong>der</strong> Protokolle, die bis auf den heutigen Tag nicht veröffentlicht worden<br />

sind, ruft nicht selten Zweifel hervor: soll tatsächlich die Partei, von diesen Delegierten<br />

vertreten, in sieben Monaten mit eiserner Hand die Macht ergreifen?<br />

Nach <strong>der</strong> Umwälzung war schon ein Monat vergangen - für einen Krieg wie für eine<br />

<strong>Revolution</strong> eine lange Frist. In <strong>der</strong> Partei aber waren noch die Ansichten über die grundlegenden<br />

Fragen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht geklärt. Extreme Patrioten, von <strong>der</strong> Art Wojtinskis,<br />

Eliawas und an<strong>der</strong>er, beteiligten sich an <strong>der</strong> Konferenz Seite an Seite mit denen, die sich<br />

für Inteinationalisten hielten. Der Prozentsatz <strong>der</strong> offenen Patrioten, unvergleichlich<br />

geringer als bei den MenschewIki, war immerhin bedeutend. Die Konferenz in ihrer<br />

Gesamtheit ließ die Frage unentschieden: Spaltung mit den eigenen Patrioten o<strong>der</strong> Vereinigung<br />

mit den Patrioten des Menschewismus. In den Pausen zwischen den Sitzungen<br />

<strong>der</strong> bolschewistischen Konferenz fanden gemeinsame Sitzungen von Bolschewiki und<br />

MenschewIki, Delegierten <strong>der</strong> Sowjetkonferenz, statt, um die Frage des Krieges zu<br />

erörtern. Der wütendste menschewistische Patriot, Liber, erklärte auf dieser gemeinsamen<br />

Konferenz: »Die frühere Teilung in Bolschewiki und Menschewiki muß beiseitegestellt<br />

und es soll nur von unserer Stellung zum Kriege gesprochen werden.« Der Bolschewik<br />

Wojtinski zögerte nicht, seine Bereitschaft zu proklamieren, jedes Wort Libers zu<br />

unterschreiben. Alle zusammen, Bolschewiki und Menschewiki, Patrioten und Internationalisten,<br />

suchten eine gemeinsame Formel für ihre Stellung zum Kriege.<br />

Die Ansichten <strong>der</strong> bolschewistischen Konferenz fanden ihren zweifellos adäquatesten<br />

Ausdruck in Stalins Referat über die Stellung zur Provisorischen Regierung. Es ist nötig,<br />

hier den zentralen Gedanken des Referats wie<strong>der</strong>zugeben, das, wie die Protokolle im<br />

ganzen, bis heute nirgendwo veröffentlicht wurde. »Die Macht ist auf zwei Organe<br />

aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf<br />

zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat<br />

faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist <strong>der</strong><br />

revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung<br />

kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des<br />

Befestigers <strong>der</strong> Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet<br />

mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt<br />

wi<strong>der</strong>strebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes,<br />

die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch<br />

negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem<br />

wir den Prozeß <strong>der</strong> Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in <strong>der</strong><br />

Folge unvermeidlich von uns trennen mussen.«<br />

Das Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat stellt <strong>der</strong> Referent, <strong>der</strong> sich über<br />

die Klassen erhebt als einfache Arbeitsteilung dar. Die Arbeiter und Soldaten vollbringen<br />

die <strong>Revolution</strong>, Gutschkow und Miljukow »festigen« sie. Wir erkennen hier die traditionelle<br />

Konzeption des Menschewismus, eine schlechte Kopie <strong>der</strong> Ereignisse des Jahres<br />

1789. Gerade den Führern des Menschewismus ist dieses inspektorhafte Herangehen an<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 198


den historischen Prozeß eigen, die Erteilung von Befehlen an verschiedene Klassen und<br />

die gönnerhafte Kritik an <strong>der</strong>en Ausführung. Der Gedanke, daß es unvorteilhaft sei, den<br />

Rückzug <strong>der</strong> Bourgeoisie von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu beschleunigen, war stets das höchste<br />

Kriterium <strong>der</strong> gesamten Politik <strong>der</strong> Menschewiki gewesen. In <strong>der</strong> Tat bedeutete es:<br />

Abstumpfung und Schwächung <strong>der</strong> Massenbewegung, um die liberalen Verbündeten<br />

nicht abzuschrecken. Schließlich deckten sich Stalins Folgerungen in bezug auf die<br />

Provisorische Regierung völlig mit <strong>der</strong> zweideutigen Formel <strong>der</strong> Versöhnler: »Sofern die<br />

Provisorische Regierung die Schritte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> festigt, ist sie zu unterstützen; sofern<br />

sie konterrevolutionär ist, ist eine Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung unzulässig.«<br />

Das Referat Stalins wurde am 29. März gehalten. Am nächsten Tage entwarf <strong>der</strong> offizielle<br />

Berichterstatter <strong>der</strong> Sowjetkonferenz, <strong>der</strong> parteilose Sozialdemokrat Stecklow, zur<br />

Verteidigung <strong>der</strong> gleichen bedingten Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung in <strong>der</strong><br />

Hitze <strong>der</strong> Ekstase ein solches Bild von <strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> »Befestiger« <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> -<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen soziale Reformen, Neigung zur Monarchie, Begönnerung konterrevolutionärer<br />

Kräfte, annexionistische Appetite -, daß die Konfrrenz <strong>der</strong> Bolschewiki vor <strong>der</strong><br />

Formel <strong>der</strong> Unterstützung beunruhigt zurückprallte. Der rechte Bolschewik Nogin erklärte:<br />

»Das Referat Stecklows hat einen neuen Gedanken hineingebracht: es ist offenbar,<br />

daß jetzt nicht von einer Unterstützung, son<strong>der</strong>n vom Wi<strong>der</strong>stand die Rede sein muß.«<br />

Skrypnik kam ebenfalls zu dem Schluß, nach dem Referat von Stecklow »hat sich vieles<br />

verän<strong>der</strong>t: von <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> Regierung kann nicht mehr gesprochen werden. Es<br />

gibt eine Verschwörung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung gegen Volk und <strong>Revolution</strong>«.<br />

Stalin, <strong>der</strong> tags zuvor ein idyllisches Bild <strong>der</strong> »Arbeitsteilung« zwischen Regierung und<br />

Sowjet gemalt hatte, sah sich gezwungen, den Punkt <strong>der</strong> Unterstützung zu streichen. Die<br />

kurzen und sehr wenig tiefen Diskussionen drehten sich um die Frage: ist die Provisorische<br />

Regierung »insofern wie«, o<strong>der</strong> sind nur ihre revolutionären Aktionen zu unterstützen.<br />

Der Delegierte von Saratow, Wassiljew, erklärte nicht ohne Grund:<br />

»Die Stellung zur Provisorischen Regierung ist bei allen die gleiche.« Krestinski<br />

formulierte die Situation noch krasser: »In praktischen Schritten gibt es zwischen Stalin<br />

und Wojtinski keine Meinungsverschiedenheiten.« Obwohl Wojtinski sogleich nach <strong>der</strong><br />

Konferenz zu den MenschewIki überging, hatte Krestinski gar nicht so unrecht: indem<br />

Stalin die offene Erwähnung <strong>der</strong> Unterstützung zurücknahm, strich er die Unterstützung<br />

an sich nicht. Prinzipiell die Frage zu stellen, versuchte nur Krassikow, einer jener alten<br />

Bolschewiki, die für eine Reihe von Jahren die Partei verlassen hatten und jetzt, von<br />

Lebenserfahrung recht belastet, versuchten, in ihre Reihen zurückzukehren. Krassikow<br />

fürchtete sich nicht, den Stier bei den Hörnern zu packen: beabsichtigt ihr etwa, die<br />

Diktatur des Proletariats aufzurichten? fragte er ironisch. Die Resolution <strong>der</strong> Konferenz<br />

rief die revolutionäre Demokratie auf die Provisorische Regierung »zum energischen<br />

Kampfe für die völlige Liquidierung des alten Regimes« zu bewegen, das heißt, sie wies<br />

<strong>der</strong> proletarischen Partei die Rolle einer Gouvernante <strong>der</strong> Bourgeoisie zu.<br />

Am nächsten Tage kam <strong>der</strong> Antrag Zeretellis über die Vereinigung von Bolschewiki<br />

und Menschewiki zur Beratung. Stalin verhielt sich dem Antrag gegenüber absolut<br />

positiv: »Wir müssen darauf eingehen. Es ist notwendig, unsere Vorschläge über die<br />

Linie <strong>der</strong> Vereinigung festzulegen. Eine Vereinigung auf <strong>der</strong> Linie Zimmerwald-Kienthal<br />

ist möglich.« Molotow, von Kamenew und Stalin wegen zu radikaler Richtung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 199


Zeitung aus <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' entfernt, trat mit dem Einwand auf: Zeretelli<br />

wolle die gemischtesten Elemente vereinigen, nenne sich selbst auch einen Zimmerwal<strong>der</strong>,<br />

die Vereinigung auf dieser Linie sei falsch. Stalin jedoch blieb bei seiner Meinung:<br />

»Man darf nicht vorauseilen«, sagte er, »und den Meinungsverschiedenheiten vorgreifen.<br />

Ohne Meinungsverschiedenheiten gibt es kein Parteileben. Innerhalb <strong>der</strong> Partei werden<br />

wir die kleinen Meinungsverschiedenheiten austragen.« Der ganze Kampf den Lenin in<br />

den Jahren des Krieges gegen Sozialpatriotismus und dessen pazifistische Maskierung<br />

geführt hatte, war wie ausgelöscht. Im September 1916 schrieb Lenin mit beson<strong>der</strong>em<br />

Nachdruck an Schljapnikow nach Petrograd: »Versöhnlertum und Vereinigungsidee sind<br />

für die Arbeiterpartei in Rußland das Schädlichste, nicht nur Idiotie, son<strong>der</strong>n Ruin <strong>der</strong><br />

Partei... Verlassen können wir uns nur auf jene, die den ganzen Betrug <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong><br />

Vereinigung und die ganze Notwendigkeit des Bruches mit dieser Kumpanei<br />

(Tschcheidse & Co.) in Rußland begriffen haben.« Diese Warnung blieb unverstanden.<br />

Die Meinungsverschiedenheiten mit Zeretelli, dem Führer des regierenden Sowjetblocks,<br />

wurden von Stalin für »kleine« Meinungsverschiedenheiten erklärt, die man innerhalb<br />

einer gemeinsamen Partei austragen könne. Dieses Kriterium gibt die beste Bewertung<br />

<strong>der</strong> damaligen Ansichten Stalins.<br />

Am 4. April erscheint auf <strong>der</strong> Parteikonferenz Lenin. Seine Rede, die die »Thesen«<br />

kommentiert, fährt über alle Arbeiten <strong>der</strong> Konferenz hinweg wie <strong>der</strong> feuchte Schwamm<br />

des Lehrers, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Tafel alles auswischt, was ein irren<strong>der</strong> Schuljunge darauf<br />

schrieb.<br />

»Warum wurde die Macht nicht genommen?« fragt Lenin. Auf <strong>der</strong> Sowjetkonferenz<br />

hatte Stecklow kurz vorher die Grunde für die Machtenthaltung wirr auseinan<strong>der</strong>zusetzen<br />

versucht: eine bürgerliche <strong>Revolution</strong> -, erste Etappe -, Krieg und so weiter. »Das ist<br />

Unsinn«, erklärt Lenin, »es handelt sich darum, daß das Proletariat nicht genügend<br />

aufgeklärt und nicht genügend organisiert ist. Das muß man zugeben. Die materielle<br />

Macht ist in den Händen des Proletariats, aber die Bourgeoisie zeigte sich aufgeklärt<br />

und vorbereitet. Das ist eine ungeheuerliche Tatsache, doch muß man sie offen und<br />

geradeheraus zugeben und dem Volke erklären, daß man die Macht nicht übernommen<br />

habe, weil man unorganisiert und unaufgeklärt ist.«<br />

Aus <strong>der</strong> Ebene des falschen Objektivismus, hinter dem sich die politischen Kapitulanten<br />

verstecken, rückte Lenin die Frage auf die subjektive Ebene. Das Proletariat hat im<br />

Februar die Macht nicht ergriffen, weil die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki nicht auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong><br />

objektiven Aufgaben war und die Versöhnler nicht zu hin<strong>der</strong>n vermochte, die Volksmassen<br />

zugunsten <strong>der</strong> Bourgeoisie politisch zu expropriieren.<br />

Am Vorabend hatte <strong>der</strong> Advokat Krassikow herausfor<strong>der</strong>nd gesagt: »Glauben wir, daß<br />

die Zeit für die Verwirklichung <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats gekommen ist, dann muß<br />

man die Frage auch dementsprechend stellen. Die physische Kraft im Sinne <strong>der</strong> Machtergreifung<br />

besitzen wir zweifellos.« Der Vorsitzende hatte daraufhin Krassikow das Wort<br />

mit <strong>der</strong> Begründung entzogen, es handle sich um praktische Aufgaben, und die Frage <strong>der</strong><br />

Diktatur stehe nicht zur Diskussion. Lenin aber meinte, die einzige praktische Aufgabe<br />

sei gerade die Frage <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats. »Die Eigentümlichkeit<br />

des gegenwärtigen Momentes in Rußland«, sagte er in den Thesen, »besteht im<br />

Übergang von <strong>der</strong> ersten Etappe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die infolge <strong>der</strong> mangelnden Aufgeklärtheit<br />

und Organisiertheit des Proletariats, die Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert hat zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 200


ihrer zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und <strong>der</strong> ärmsten<br />

Schicht <strong>der</strong> Bauernschaft geben muß.«<br />

Nach <strong>der</strong> 'Prawda' beschränkte die Konferenz die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf<br />

demokratische Umwandlungen, zu verwirklichen durch die Konstituierende Versammlung.<br />

Im Gegensatz dazu erklärte Lenin: »Das Leben und die <strong>Revolution</strong> rücken die<br />

Konstituierende Versammlung in den Hintergrund ... Die Diktatur des Proletariats<br />

existiert, aber man weiß nicht, was mit ihr anfangen.«<br />

Die Delegierten tauschten Blicke aus, flüsterten einan<strong>der</strong> zu, Iljitseh hätte zu lange im<br />

Auslande gesessen, habe sich nicht umgesehen, kenne sich nicht aus. Aber Stalins<br />

Referat über die weise Arbeitsteilung zwischen Regierung und Sowjet versank sogleich<br />

und für immer in die nie wie<strong>der</strong>kehrende Vergangenheit. Stalin selbst schwieg. Hinfort<br />

wird er lange schweigen müssen. Verteidigen wird sich nur Kamenew.<br />

Schon von Genf aus hatte Lenin in Briefen gewarnt, daß er bereit sei, mit jedem zu<br />

brechen, <strong>der</strong> in den Fragen des Krieges, des Chauvinismus und des Versöhnlertums <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie Konzesionen machen sollte. Jetzt, angesichts <strong>der</strong> führenden Schicht <strong>der</strong><br />

Partei, eröffnet Lenin den Angriff auf <strong>der</strong> ganzen Linie. Anfangs nennt er noch keinen<br />

<strong>der</strong> Bolschewilti beim Namen. Braucht er ein lebendes Beispiel <strong>der</strong> Falschheit o<strong>der</strong><br />

Halbheit, dann zeigt er mit dem Finger auf die außerhalb <strong>der</strong> Partei Stehenden, Stecklow<br />

o<strong>der</strong> Tschcheidse. Das ist die übliche Art Lenins: niemand vorzeitig auf eine Position<br />

festzunageln, um den Vorsichtigen Zeit zu lassen, schweigend das Feld zu räumen, und<br />

damit die späteren offenen Gegner von vornherein zu schwächen. Kamenew und Stalin<br />

meinten, nach dem Februar verteidigen <strong>der</strong> Soldat und <strong>der</strong> Arbeiter durch Teilnahme am<br />

Kriege die <strong>Revolution</strong>. Lenin meint, Soldat und Arbeiter nähmen am Kriege, wie bisher,<br />

als unterjochte Sklaven des Kapitals teil. »Sogar unsere Bolschewiki«, sagt Lenin, die<br />

Kreise um die Gegner enger ziehend, »beweisen Vertrauensseligkeit gegenüber <strong>der</strong><br />

Regierung. Das kann man nur mit dem Rausch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erklären. Das ist <strong>der</strong><br />

Zusammenbruch des Sozialismus ... Wenn dem so ist, trennen sich unsere Wege. Dann<br />

bliebe ich lieber in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit!« Das ist keine leere oratorische Drohung. Das ist ein<br />

klar und bis zu Ende überlegter Weg.<br />

Ohne Kamenew und Stalin beim Namen zu nennen, ist Lenin jedoch gezwungen, die<br />

Zeitung zu erwähnen: »Die 'Prawda' for<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Regierung, sie solle auf Annexionen<br />

verzichten. Von einer Regierung <strong>der</strong> Kapitalisten verlangen, sie soll auf Annexionen<br />

verzichten - ist Unsinn, schreien<strong>der</strong> Hohn ...« Die zurückgehaltene Empörung bricht hier<br />

auf einer hohen Note durch. Doch <strong>der</strong> Redner nimmt sich sofort wie<strong>der</strong> zusammen: er<br />

will nicht weniger sagen als nötig, aber auch nicht mehr. Beiläufig, flüchtig gibt Lenin<br />

unvergleichliche Regeln revolutionärer Politik: »Wenn die Massen erklären, sie wollen<br />

keine Eroberungen, glaube ich ihnen. Wenn Gutschkow und Lwow sagen, sie wollen<br />

keine Eroberungen - sind sie Betrüger. Wenn <strong>der</strong> Arbeiter sagt, er wolle die Verteidigung<br />

des Landes, spricht aus ihm <strong>der</strong> Instinkt des unterdrückten Menschen.«<br />

Über den Aufruf des Sowjets »An die Völker <strong>der</strong> ganzen Welt«, <strong>der</strong> seinerzeit <strong>der</strong><br />

liberalen Zeitung 'Rjetsch' Anlaß gegeben hatte, zu erklären, das Thema Pazifismus<br />

entwickle sich bei uns zu einer uns und unseren Verbündeten gemeinsamen Ideologie,<br />

drückte sich Lenin präziser und krasser aus: »Was in Rußland eigenartig ist, das ist <strong>der</strong><br />

gigantisch schnelle Übergang von rohester Willkür zu feinstem Betrug.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 201


»Dieser Aufruf«, schrieb Stalin über das Manifest, »wird, wenn er die breiten Massen<br />

(des Westens) erreicht, zweifellos Hun<strong>der</strong>te und Tausende Arbeiter bewegen, zu <strong>der</strong> in<br />

Vergessenheit geratenen Parole "Proletarier aller Län<strong>der</strong>, vereinigt euch" zurückzukehren.«<br />

»In dem Aufruf des Sowjets«, erwi<strong>der</strong>te Lenin, »ist kein Wort, das von KIassenbewußtsein<br />

durchdrungen ist. Es ist eine einzige Phrase.« Das Dokument, auf das die hausbakkenen<br />

Zimmerwal<strong>der</strong> so stolz waren, ist in Lenins Augen eine Waffe »feinsten<br />

Betruges«.<br />

Bis zu Lenins Ankunft hatte die 'Prawda' die Zimmerwal<strong>der</strong> Linke üigrhaupt nicht<br />

erwähnt. Sprach sie von <strong>der</strong> <strong>Internationale</strong>, sagte sie nicht, welche. Das eben nannte<br />

Lenin »den Kautskyanismus« <strong>der</strong> 'Prawda'. »In Zimmerwald und Kienthal«, sagt er auf<br />

<strong>der</strong> Konferenz, »erhielt das Zentrum das Übergewicht ... Wir erklären, daß wir eine<br />

Linke gebildet und mit dem Zentrum gebrochen haben ... Die Richtung des linken<br />

Zimmerwald existiert in allen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt. Die Massen sollen erfahren, daß <strong>der</strong><br />

Sozialismus in <strong>der</strong> ganzen Welt gespalten ist ...«<br />

Drei Tage zuvor hatte Stalin auf <strong>der</strong> gleichen Konferenz seine Bereitschaft verkündet,<br />

die Meinungsverschiedenheiten mit Zeretelli auf <strong>der</strong> Basis von Zimmerwald-Kienthal<br />

auszutragen, das heißt auf <strong>der</strong> Basis des Kautskyanismus. »Ich höre, daß in Rußland eine<br />

Vereinigungstendenz besteht«, sagte Lenin, »eine Vereinigung mit den Landesverteidigern,<br />

- das ist Verrat am Sozialismus. Ich glaube, es ist besser, allein zu bleiben, wie<br />

Liebknecht, Einer gegen 116!« Die Beschuldigung des Verrats am Sozialismus, vorläufig<br />

noch namenlos, ist hier nicht einfach ein starkes Wort: sie drückt vollständig die Stellung<br />

Lenins gegen jene Bolschewiki aus, die den Sozialpatrioten einen Finger entgegenstrekken.<br />

Im Gegensatz zu Stalin, <strong>der</strong> es für möglich erachtet, sich mir den Menschewiki zu<br />

vereinigen, hält Lenin es für unzulässig, noch weiterhin mit ihnen den Namen Sozialdemokratie<br />

gemeinsam zu tragen. »Für meine Person«, sagt er, »schlage ich vor, den<br />

Namen unserer Partei zu än<strong>der</strong>n und uns Kommunistische Partei zu nennen.« »Für<br />

meine Person« - das bedeutet, daß niemand, kein einziger Teilnehmer <strong>der</strong> Konferenz, mit<br />

dieser symbolischen Geste des endgültigen Bruchs mit <strong>der</strong> Zweiten <strong>Internationale</strong> einverstanden<br />

war.<br />

»Ihr fürchtet, alten Erinnerungen untreu zu werden«, sagt <strong>der</strong> Redner den betretenen,<br />

bestürzten, teils auch entrüsteten Delegierten. Doch die Zeit ist da, »die Wäsche zu<br />

wechseln, - man muß das schmutzige Hemd ausziehen und ein sauberes anziehen.« Und<br />

wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> drängt er: »Klammert euch nicht an ein altes Wort, das durch und<br />

durch verfault ist. Habt den Willen, eine neue Partei aufzubauen ... - und es werden alle<br />

Unterdrückten zu euch kommen.«<br />

Die Größe <strong>der</strong> bevorstehenden Aufgaben, die geistige Verwirrung in den eigenen<br />

Reihen, <strong>der</strong> scharfe Gedanke an die wertvolle Zeit, die sinnlos vergeudet wird für<br />

Empfänge, Begrüßungen, rituale Resolutionen, entreißt dem Redner den Schrei: »Genug<br />

<strong>der</strong> Bcgrüßungen und Resolutionen - es ist Zeit, zur Sache zu schreiten, man muß zur<br />

sachlichen, nüchternen Arbeit übergehen!«<br />

Eine Stunde später ist Lenin gezwungen, in <strong>der</strong> allgemeinen Versammlung <strong>der</strong><br />

Bolschewiki und Menschewiki seine Rede zu wie<strong>der</strong>holen, wo sie die Mehrzahl <strong>der</strong><br />

Zuhörer als ein Mittelding zwischen Hohn und Fieberwahn erscheint. Die Nachsichtige-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 202


en zucken die Achseln. Dieser Mann ist offenbar vom Monde gefallen: nach zehn<br />

Jahren Abwesenheit, kaum die Stufen des Finnländischen Bahnhofs heruntergestiegen,<br />

predigt er die Machteroberung durch das Proletariat. Die weniger Gutmütigen unter den<br />

Patrioten erwähnen den plombierten Wagen. Stankewitsch bezeugt, daß das Auftreten<br />

Lenins dessen Gegner sehr erfreut habe: »Ein Mann, <strong>der</strong> solche Dummheiten spricht, ist<br />

ungefährlich. Gut, daß er gekommen ist, jetzt ist er allen sichtbar ..., jetzt wi<strong>der</strong>legt er<br />

sich selbst.«<br />

Indes ist bei aller Kühnheit ihres revolutionären Elans, bei <strong>der</strong> unbeugsamen<br />

Entschlossenheit, sogar mit alten Gesinnungs- und Kampfgenossen zu brechen, sollten<br />

sie sich als unfähig erweisen, mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Schritt zu halten, Lenins Rede, <strong>der</strong>en<br />

Teile alle gegeneinan<strong>der</strong> abgewogen sind, von tiefem Realismus und untrüglichem<br />

Masseninstinkt erfüllt. Und gerade deshalb mußte sie den an <strong>der</strong> Oberfläche gleitenden<br />

Demokraten phantastisch erscheinen.<br />

Die Bolschewiki sind eine kleine Min<strong>der</strong>beit in den Sowjets, und Lenin plant die<br />

Eroberung <strong>der</strong> Macht. Ist denn das nicht Abenteurertum? Nicht ein Schatten von<br />

Abenteurertum war in <strong>der</strong> Leninschen Fragestellung. Keinen Augenblick schließt er die<br />

Augen vor dem Vorhandensein einer "ehrlichen" Landesverteidigungsstimmung unter<br />

<strong>der</strong> breiten Masse. Ohne in ihr aufzugehen, beabsichtigt er auch nicht, hinter ihrem<br />

Rücken zu handeln. »Wir sind keine Scharlatane«, wirft er den zu erwartenden Einwänden<br />

und Beschuldigungen entgegen, »wir müssen uns nur auf das Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Massen stützen. Und wenn wir sogar gezwungen sein sollten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu<br />

bleiben - sei's drum. Es lohnt sich, für eine Zeit auf die führende Stellung zu verzichten,<br />

man darf sich nicht davor fürchten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben.« Sich nicht fürchten, in<br />

<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben - selbst allein, wie Liebknecht, gegen 110 - das ist das Leitmotiv<br />

<strong>der</strong> Rede.<br />

»Die gegenwärtige Regierung, das ist <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter-deputierten ... Im Sowjet<br />

ist unsere Partei in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit ... Nichts zu machen! Es bleibt uns nur das Irrige<br />

ihrer Taktik nachzuweisen, geduldig, beharrlich, systematisch. Solange wir in <strong>der</strong><br />

Min<strong>der</strong>heit sind, leisten wir die Arbeit <strong>der</strong> Kritik, um die Massen vor Betrug zu<br />

bewahren. Wir wollen nicht, daß die Massen uns aufs Wort glauben. Wir sind keine<br />

Scharlatane. Wir wollen, daß die Massen durch Erfahrung sich von ihren lrrtümern<br />

befreien.« Nicht fürchten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben! Nicht für immer, nur für eine<br />

Zeit. Die Stunde des Bolschewismus wird schlagen. »Unsere Linie wird sich als richtig<br />

erweisen ... Zu uns wird je<strong>der</strong> Unterdrückte kommen, weil <strong>der</strong> Krieg ihn zu uns bringen<br />

wird, an<strong>der</strong>en Ausweg hat er nicht.«<br />

»Auf <strong>der</strong> "Vereinigungs"konferenz«, berichtet Suchanow, »erschien Lenin als lebendige<br />

Verkörperung <strong>der</strong> Spaltung... Ich erinne mich an Bogdanow (ein angesehener<br />

Menschewik), <strong>der</strong> zwei Schritt entfernt von <strong>der</strong> Rednertribüne saß. "Das ist ja Fieberwahn,<br />

unterbrach er Lenin, "<strong>der</strong> Fieberwahn eines Irrsinnigen! ... Es ist eine Schande,<br />

diesem Gallimathias zu applaudieren", schrie er, zum Auditorium gewandt, blaß vor<br />

Zorn und Verachtung, "ihr schändet euch selbst! Marxisten!"«<br />

Das ehemalige Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, Goldenberg, <strong>der</strong> zu<br />

jener Zeit außerhalb <strong>der</strong> Partei stand, bewertete in <strong>der</strong> Diskussion Lenins Thesen mit<br />

folgenden vernichtenden Worten: »Viele Jahre blieb <strong>der</strong> Platz Bakunins in <strong>der</strong> Russischen<br />

<strong>Revolution</strong> unbesetzt, jetzt ist er von Lenin besetzt worden.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 203


»Sein Programm wurde damals nicht so sehr mit Entrüstung wie mit Hohn aufgenommen«,<br />

schrieb später <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »<strong>der</strong>art sinnlos und ausgeklügelt<br />

erschien es allen.«<br />

Am Abend desselben Tages kam bei einer Unterhaltung zweier <strong>Sozialisten</strong> mit Miljukow,<br />

vor <strong>der</strong> Türe <strong>der</strong> Kontaktkommission das Gespräch auf Lenin. Skobeljew schätzte<br />

ihn ein als »einen vollkommen erledigten, außerhalb <strong>der</strong> Bewegung stehenden<br />

Menschen«. Suchanow schloß sich <strong>der</strong> Skobeljewschen Bewertung an und fügte hinzu,<br />

»Lenin ist in solchem Maße für keinen akzeptabel, daß er im Augenblick meinem<br />

Gesprächspartner Miljukow ganz ungefährlich ist«. Die Rollenverteilung bei dieser<br />

Unterhaltung war jedoch ganz nach Lenin: <strong>Sozialisten</strong> wachten über die Ruhe <strong>der</strong><br />

Liberalen und bewahrten sie vor Sorgen, die diesen aus dem Bolschewismus erwachsen<br />

konnten.<br />

Sogar bis zum britischen Gesandten gelangten die Gerüchte darüber, daß Lenin als<br />

schlechter Marxist erkannt worden war. »Unter den neu eingetroffenen Anarchisten ...«,<br />

schreibt Bucharian, »war Lenin, <strong>der</strong> im plombierten Wagen aus Deutschland kam. Er<br />

erschien öffentlich zum erstenmal in <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Sozialdemokratischen Partei<br />

und wurde schlecht empfangen.«<br />

Nachsichtiger als die an<strong>der</strong>en verhielt sich zu Lenin in jenen Tagen wohl Kerenski, <strong>der</strong><br />

im Kreise <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung plötzlich erklärte, er gedenke<br />

Lenin aufzusuchen, und auf die erstaunten Fragen erläuterte: »Er lebt doch in einer vollig<br />

isolierten Atmosphäre, er weiß nichts, sieht alles durch die Brille seines Fanatismus,<br />

niemand ist um ihn, <strong>der</strong> ihm auch nur einigermaßen helfen könnte, sich darüber, was<br />

geschieht, zu orientieren.« So die Zeugenaussage Nabokows. Aber Kerenski fand dann<br />

doch nicht die freie Zeit, Lenin darüber, was geschah, zu orientieren.<br />

Lenins Aprilthesen hatten nicht nur die erstaunte Entrüstung <strong>der</strong> Feinde und Gegner<br />

hervorgerufen. Sie stießen einc Reihe alter Bolschewiki in das Lager des Menschewismus<br />

ab o<strong>der</strong> in die Zwischengruppe, die sich um die Zeitung Gorkis zusammerschloß.<br />

Ernste politische Bedeutung hat dieser Abgang nicht gehabt. Unermeßlich wichtiger ist<br />

<strong>der</strong> Eindruck, den Lenins Stellung auf die führende Parteischicht ausübte. »In den ersten<br />

Tagen nach seiner Ankunft«, schreibt Suchanow, »war seine völlige Isoliertheit unter den<br />

aufgeklärten Parteigenossen zweifellos... Sogar seine Parteigenossen, die Bolschewiki«,<br />

bestätigt <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »wandten sich verlegen von ihm ab.« Die<br />

Autoren dieser Gutachten kamen mit den führenden Bolschewiki täglich im Exekutivkomitee<br />

zusammen und besaßen Nachrichten aus erster Hand.<br />

Doch herrscht auch kein Mangel an ähnlichen Zeugenaussagen aus bolschewistischen<br />

Reihen. »Als Lenins Thesen erschienen«, erinnert sich später Zichon, wie die Mehrzahl<br />

<strong>der</strong> alten Bolschewiki, die über die Februarrevolution gestolpert sind, die Farben stark<br />

mil<strong>der</strong>nd, »machten sich in unserer Partei gewisse Schwankungen fühlbar, viele Genossen<br />

wiesen daraufhin, Lenin habe eine syndikalistische Abweichung, er sei Rußland<br />

entfremdet, berechne den gegebenen Moment nicht usw.« Ein angesehener bolschewistischer<br />

Parteiarbeiter in <strong>der</strong> Provinz, Lebedew, schreibt: »Nach Lenins Ankunft in Rußland<br />

wurde seine Agitation, die anfangs auch uns Bolschewiken nicht ganz verständlich war,<br />

utopisch schien und mit seiner langen Trennung vom <strong>russischen</strong> Leben erklärt wurde -<br />

von uns allmählich erfaßt und ging uns, wie man zu sagen pflegt, in Fleisch und Blut<br />

über.« Saleschski, ein Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees und Organisator des Empfan-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 204


ges, äußert sich offener: »Die Thesen Lenins machten den Eindruck einer platzenden<br />

Bombe.« Saleschski bestätigt durchaus die vollkommene Isoliertheit Lenins nach dem so<br />

heißen und eindrucksvollen Empfang. »An jenem Tage [dem 4. April] fand Genosse<br />

Lenin sogar in unseren Reihen keine offenen Anhänger.«<br />

Noch wichtiger sind jedoch die Angaben <strong>der</strong> 'Prawda'. Am 8. April, vier Tage nach<br />

Bekanntgabe <strong>der</strong> Thesen, als man sich bereits auseinan<strong>der</strong>zusetzen und zu verständigen<br />

vermochte, schrieb die Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda': »Was das allgemeine Schema des Genossen<br />

Lenin betrifft, so erscheint es uns unannehmbar, insofern es von <strong>der</strong> Einschätzung<br />

<strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen <strong>Revolution</strong> als einer abgeschlossenen ausgeht und mit<br />

<strong>der</strong> sofortigen Umwandlung dieser <strong>Revolution</strong> in eine sozialistische <strong>Revolution</strong> rechnet.«<br />

Das Zentralorgan <strong>der</strong> Partei erklärte auf diese Weise vor dem Angesicht <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />

und <strong>der</strong>en Feinden offen das Auseinan<strong>der</strong>gehen mit dem allgemein anerkannten<br />

Führer <strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> Kernfrage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, auf die die bolschewistischen Ka<strong>der</strong><br />

sich während einer langen Reihe von Jahren vorbereitet hatten. Dies allein genügt, um<br />

die ganze Tiefe <strong>der</strong> Aprilkrise <strong>der</strong> Partei richtig einzuschätzen, die aus dem Zusammenstoß<br />

zweier unversöhnlicher Linien erwachsen war. Ohne Über-windung dieser Krise<br />

konnte die <strong>Revolution</strong> nicht weiterschreiten.<br />

Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei<br />

Womit ist nun Lenins außerordentliche Isoliertheit Anfang April zu erklären? Wie<br />

konnte eine solche Lage überhaupt entstehen? Und wie wurde die Umbewaffnung <strong>der</strong><br />

Ka<strong>der</strong> des Bolschewismus erreicht?<br />

Seit 1905 führt die bolschewistische Partei den Kampf gegen das Selbstherrschertum<br />

unter <strong>der</strong> Losung: "Demokratische Diktatur des Proletariats und <strong>der</strong> Bauemsehaft." Die<br />

Losung wie ihre theoretische Begründung gingen von Lenin aus. Im Gegensatz zu den<br />

Menschewiki, <strong>der</strong>en Theoretiker Plechanow einen unversöhnlichen Kampf führte gegen<br />

den »irrigen Gedanken von <strong>der</strong> Möglichkeit, die bürgerliche <strong>Revolution</strong> ohne Bürgertum<br />

zu vollbringen«, meinte Lenin, die russische Bourgeoisie sei bereits unfähig, ihre eigene<br />

<strong>Revolution</strong> zu leiten. Die demokratische <strong>Revolution</strong> gegen Monarchie und Gutsbesitzer<br />

zu Ende führen, könnten nur Proletariat und Bauernschaft in engem Bündnis. Der Sieg<br />

dieses Bündnisses würde, nach Lenin, die demokratische Diktatur herbeiführen, die sich<br />

keinesfalls mit <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats identifizieren ließe, vielmehr ihr entgegengesetzt<br />

sein würde, denn die Aufgabe sei nicht Errichtung <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft,<br />

auch nicht Schaffung von Übergangsformen zu dieser, son<strong>der</strong>n nur unerbittliche Säuberung<br />

<strong>der</strong> Augiasställe des Mittelalters. Das Ziel des revolutionären Kampfes war durch<br />

drei Kampfparolen genau testgelegt - demokratische Republik, Konfiskation des<br />

gutsherrlichen Bodens, Achtstundentag -, die in <strong>der</strong> Volkssprache die drei Walfische des<br />

Bolschewismus hießen, nach <strong>der</strong> Analogie zu jenen Walfischen, auf denen, nach einer<br />

alten Volkssage, die Welt ruht.<br />

Die Frage <strong>der</strong> Durchführbarkeit <strong>der</strong> demokratischen Diktatur des Proletariats und <strong>der</strong><br />

Bauernschaft wurde gelöst im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Befähigung <strong>der</strong> Bauernschaft, ihre<br />

eigene <strong>Revolution</strong> zu vollbringen, das heißt, eine neue Macht aufzustellen, fähig, Monarchie<br />

und Adelsgrundbesitz zu liquidieren. Allerdings setzte die Parole <strong>der</strong> demokratischen<br />

Diktatur auch die Beteiligung von Arbeitervertretern an <strong>der</strong> revolutionären<br />

Regierung voraus. Doch wurde diese Beteiligung im voraus eingeschränkt durch die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 205


Rolle des Proletariats als linken Verbündeten bei <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Aufgaben <strong>der</strong> Bauernrevolution.<br />

Die populäre und sogar offiziell anerkannte Idee <strong>der</strong> Hegemonie des Proletariats<br />

in <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> konnte folglich nichts an<strong>der</strong>es bedeuten, als daß die<br />

Arbeiterpartei mit dem politischen Rüstzeug aus ihrem Arsenal den Bauern helfen, ihnen<br />

die besten Mittel und Methoden zur Liquidierung <strong>der</strong> Feudalgesellschaft eingeben und<br />

<strong>der</strong>en Anwendung in <strong>der</strong> Praxis zeigen würde. Jedenfalls bedeuteten die Reden von <strong>der</strong><br />

führenden Rolle des Proletariats in <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> niemals, daß das Proletariat<br />

den Bauernaufstand benutzen sollte, um, auf ihn gestützt, seine eigenen historischen<br />

Aufgaben, d.h. den direkten Übergang zur sozialistischen Gesellschaft auf die Tagesordnung<br />

zu stellen. Die Hegemonie des Proletariats in <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> unterschied<br />

sich scharf von <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats und wurde dieser auch polemisch<br />

entgegengehalten. Auf diese Ideen war die bolschewistische Partei seit dem Frühling<br />

1905 ausgerichtet worden.<br />

Der tatsächliche Verlauf <strong>der</strong> Februarumwälzung hatte das gewohnte Schema des<br />

Bolschewismus übertreten. Allerdings war die <strong>Revolution</strong> durch das Bündnis <strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Bauern vollzogen worden. Daß die Bauern hauptsächlich als Soldaten aufgetreten<br />

waren, än<strong>der</strong>te an <strong>der</strong> Sache nichts. Das Verhalten <strong>der</strong> bäuerlichen Armee des Zarismus<br />

wäre auch in dem Falle von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung gewesen, wenn sich die <strong>Revolution</strong><br />

in Friedenszeit entfaltet hätte. Um so natürlicher ist es, daß unter den Bedingungen<br />

des Krieges die Millionenarmee in <strong>der</strong> ersten Zeit die Bauernschaft gänzlich verdeckt hat.<br />

Nach dem Siege des Aufstandes erwiesen sich Arbeiter und Soldaten als Herren <strong>der</strong><br />

Lage. Es sollte scheinen, daß man in diesem Sinne hätte sagen können, die demokratische<br />

Diktatur <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern sei hergestellt. In Wirklichkeit aber hatte die<br />

Februarumwälzung zu einer bürgerlichen Regierung geführt, wobei die Macht <strong>der</strong> besitzenden<br />

Klassen durch die nicht zur Vollendung geführte Macht <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatensowjets<br />

eingeschränkt war. Alle Karten waren vermengt. An Stelle <strong>der</strong> revolutionären<br />

Diktatur, das heißt <strong>der</strong> konzentriertesten Macht, entstand ein wackliges Regime <strong>der</strong><br />

Doppelherrschatt, wo die kümmerliche Energie <strong>der</strong> regierenden Kreise fruchtlos zur<br />

Überwindung <strong>der</strong> inneren Reibungen unfruchtbar verausgabt wurde. Dieses Regime hatte<br />

niemand vorausgesehen. Man kann auch von einer Prognose nicht verlangen, daß sie<br />

nicht nur die grundlegenden Tendenzen, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong>en episodische Verquickungen<br />

aufzeige. »Wer hat jemals wirklich eine große <strong>Revolution</strong> vollbringen und im voraus<br />

wissen können, wie sie zu Ende zu führen?« fragte später Lenin. »Woher könnte man<br />

solches Wissen nehmen? Es ist nicht aus Büchern zu schöpfen. Solche Bücher gibt es<br />

nicht. Nur aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Massen konnte unser Entschluß geboren werden.«<br />

Doch das menschliche Denken ist konservativ, und das Denken <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre ist<br />

es mitunter beson<strong>der</strong>s. Die bolschewistischen Ka<strong>der</strong> in Rußland fuhren fort, an dem alten<br />

Schema festzuhalten, und sahen in <strong>der</strong> Februarrevolution, obwohl in ihr klar zwei nicht<br />

zu vereinbarende Regime enthalten waren, nur die erste Etappe <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong>.<br />

Ende März schickte Rykow aus Sibirien im Namen <strong>der</strong> Sozialdemokraten an die<br />

'Prawda' ein Begrüßungstelegramm anläßlich des Sieges <strong>der</strong> "nationalen <strong>Revolution</strong>",<br />

<strong>der</strong>en Aufgabe »die Eroberung <strong>der</strong> politischen Freiheit« sei. Sämtliche führenden<br />

Bolschewiki, ohne Ausnahme - wir kennen keine einzige - glaubten, die demokratische<br />

Diktatur stünde noch bevor. Nachdem die Provisorische Regierung »sich erschöpft haben<br />

wird«, würde die demokratische Diktatur <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern erstehen, als Vorstufe<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 206


des bürgerlich-parlamentarischen Regimes. Das war eine völlig falsche Perspektive. Das<br />

aus <strong>der</strong> Februarumwälzung hervorgegangene Regime leitete die demokratische Diktatur<br />

nicht nur nicht ein, son<strong>der</strong>n war <strong>der</strong> lebendige und erschöpfende Beweis dafür, daß sie<br />

überhaupt nicht möglich ist. Daß die Versöhnlerdemokratie nicht zufällig, nicht durch<br />

Kerenskis Leichtsinn o<strong>der</strong> Tschcheidses Beschränktheit, die Macht an die Liberalen<br />

ausgeliefert hatte, bewies sie dadurch, daß sie während acht weiterer Monate aus allen<br />

Kräften für die Erhaltung <strong>der</strong> bürgerlichen Regierung kämpfte, Arbeiter, Bauern und<br />

Soldaten unterdrückte und am 25. Oktober auf dem Posten einer Verbündeten und Schützerin<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie fiel. Und es war von Anfang an klar: wenn die Demokratie, die vor<br />

sich gigantische Aufgaben und in den Massen uneingeschränkte Unterstützung hatte,<br />

freiwillig auf die Macht verzichtete, geschah dies nicht aus politischen Prinzipien o<strong>der</strong><br />

Vorurteilen heraus, son<strong>der</strong>n infolge <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit <strong>der</strong> Lage des Kleinbürgertums<br />

in <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Periode von Krieg und<br />

<strong>Revolution</strong>, wo es um die grundlegenden Existenzfragen von Län<strong>der</strong>n, Völkern und<br />

Klassen geht. Indem es Miljukow das Zepter aushändigte, sagte das Kleinbürgertum:<br />

nein, diese Aufgaben gehen über meine Kraft.<br />

Die Bauernschaft, die auf ihrem Rücken die Versöhiilerdemokratie emporgehoben<br />

hatte, schließt alle Klassen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft in <strong>der</strong>en Urform ein. Gemeinsam<br />

mit dem städtischen Kleinbürgertum, das jedoch in Rußland niemals eine ernsthafte<br />

Rolle gespielt hat, bildete sie jenes Protoplasma, aus dem sich in <strong>der</strong> Vergangenheit die<br />

neuen Klassen differenzierten und in <strong>der</strong> Gegenwart weiter difitrenzieren. Die Bauernschaft<br />

hat immer zwei Gesichter: eines dem Proletariat zugewandt, das an<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie. Die zwischenstufliche, vermittelnde, versöhnlerische Position "bäuerlicher"<br />

Parteien, von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, kann sich nur unter den Bedingungen eines<br />

relativen politischen Stillstandes halten; in einer revolutionären Epoche tritt unvermeidlich<br />

<strong>der</strong> Monient ein, wo das Kleinbürgertum wählen muß. Die Sozialrevolutionäre und<br />

Menschewiki trafen ihre Wahl in <strong>der</strong> ersten Stunde. Sie liquidierten im Keime die<br />

"demokratische Diktatur", um sie zu hin<strong>der</strong>n, eine Brücke zur Diktatur des Proletariats zu<br />

werden. Doch gerade damit hatten sie <strong>der</strong> letzteren den Weg geöffnet, nur vom an<strong>der</strong>en<br />

Ende: nicht durch sie, son<strong>der</strong>n gegen sie.<br />

Die weitere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> konnte offenbar nur von neuen Tatsachen,<br />

nicht aber von alten Schemen ausgehen. Durch ihre Vertretung wurden die Massen, halb<br />

gegen ihren Willen, halb ohne ihr Wissen in die Mechanik <strong>der</strong> Doppelherrschaft hineingezogen.<br />

Sie mußten von nun an durch diese hindurchgehen, um sich durch Erfahrung zu<br />

überzeugen, daß sie ihnen we<strong>der</strong> Frieden noch Land geben könne. Vom Regime <strong>der</strong><br />

Doppelherrschaft sich abzuwenden, bedeutet für die Massen von nun an, mit den Sozialrevolutionären<br />

und Menschewiki zu brechen: Es ist aber ganz offensichtlich, daß die<br />

politische Wendung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten zu den Bolschewiki den ganzen Bau <strong>der</strong><br />

Doppelherrschaft umwarf und nichts an<strong>der</strong>es mehr bedeuten konnte als die Errichtung<br />

<strong>der</strong> Diktatur des Proletariats, die sich auf das Bündnis <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern stützte.<br />

Im Falle einer Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Volksmassen konnte auf den Ruinen <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Partei nur die Militärdiktatur des Kapitals entstehen. Die "demokratische Diktatur" war<br />

in beiden Fällen ausgeschlossen. Auf sie den Blick gerichtet, wandten die Bolschewiki<br />

faktisch das Gesicht dem Gespenst <strong>der</strong> Vergangenheit zu. In dieser Lage fand sie Lenin,<br />

<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> unbeugsamen Absicht gekommen war, die Partei auf einen neuen Weg zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 207


führen.<br />

Die Formel <strong>der</strong> demokratischen Diktatur hatte allerdings auch Lenin selbst bis zum<br />

Beginn <strong>der</strong> Februarrevolution durch keine an<strong>der</strong>e ersetzt, we<strong>der</strong> bedingt noch hypothetisch.<br />

War das richtig? Wir glauben, nein. Was in <strong>der</strong> Partei nach <strong>der</strong> Umwälzung vor<br />

sich ging, enthüllte allzu bedrohlich die Verspätung <strong>der</strong> Umbewaffnung, die noch dazu<br />

unter den gegebenen Umständen nur Lenin vornehmen konnte. Er hatte sich darauf<br />

vorbereitet. Im Feuer des Krieges seinen Stahl bis zur Weißglut erhitzt und wie<strong>der</strong>holt<br />

umgeschmiedet. Es verän<strong>der</strong>te sich in seinen Augen die Gesamtperspektive des historischen<br />

Prozesses. Die Erschütterungen des Krieges hatten die möglichen Fristen <strong>der</strong><br />

sozialistischen <strong>Revolution</strong> im Westen stark verkürzt. Die für Lenin noch immer<br />

demokratisch gebliebene Russische <strong>Revolution</strong> sollte <strong>der</strong> sozialistischen Umwälzung in<br />

Europa einen Anstoß geben, die dann auch das zurückgebliebene Rußland in ihren<br />

Strudel hineinziehen müßte. Das war die allgemeine Konzeption Lenins, als er Zürich<br />

verließ. Der von uns bereits zitierte Brief an die Schweizer Arbeiter lautet: »Rußland ist<br />

ein Bauernland, eines <strong>der</strong> rückständigsten europäischen Län<strong>der</strong>. Unmittelbar kann <strong>der</strong><br />

Sozialismus dort nicht sofort siegen. Doch <strong>der</strong> bäuerliche Charakter des Landes kann<br />

angesichts des heute noch erhalten gebliebenen gewaltigen Bodenbestandes <strong>der</strong> adligen<br />

Gutsbesitzer, auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Erfahrung von 1905, <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen<br />

<strong>Revolution</strong> in Rußland einen ungeheuren Schwung verleihen und unsere <strong>Revolution</strong> in<br />

den Prolog zur sozialistischen Weltrevolution verwandeln, in eine Stufe zu dieser.« In<br />

diesem Sinne schrieb Lenin jetzt zum erstenmat daß das russische Proletariat die sozialistische<br />

<strong>Revolution</strong> beginnen werde.<br />

Dies war das Bindeglied zwischen <strong>der</strong> alten Position des Bolschewismus, die die<br />

<strong>Revolution</strong> auf demokratische Ziele begrenzte, und <strong>der</strong> neuen Position, die Lenin in<br />

seinen Thesen vom 4. April zum erstenmal <strong>der</strong> Partei bekanntgab. Die Perspektive des<br />

unmittelbaren Überganges zur Diktatur des Proletariats kam ganz überraschend, <strong>der</strong><br />

Tradition wi<strong>der</strong>sprechend, und wollte einfach in die Köpfe nicht hinein. Es ist<br />

notwendig, hier daran zu erinnern, daß man bis zum Ausbruch <strong>der</strong> Februarrevolution und<br />

in <strong>der</strong> ersten Zeit danach unter Trotzkismus nicht den Gedanken verstand, daß man<br />

innerhalb <strong>der</strong> nationalen Grenzen Rußlands keine sozialistische Gesellschaftsordnung<br />

aufzubauen vermag (<strong>der</strong> Gedanke an eine solche "Möglichkeit" wurde bis zum Jahre<br />

1924 überhaupt von niemand ausgesprochen und kam wohl keinem in den Sinn), - Trotzkismus<br />

nannte man den Gedanken, daß das Proletariat Rußlands früher als das Proletariat<br />

des Westens zur Macht gelangen und in diesem Falle sich nicht im Rahmen <strong>der</strong> demokratischen<br />

Diktatur halten kann, son<strong>der</strong>n an die ersten sozialistischen Maßnahmen herangehen<br />

muß. Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß man die Aprilthesen Lenins als trotzkistisch<br />

brand-markte.<br />

Die Einwände <strong>der</strong> "alten Bolschewiki" bewegten sich auf verschiedenen Linien. Der<br />

Hauptstreit ging um die Frage, ob die bürgerlieh-demokratische <strong>Revolution</strong> abgeschlossen<br />

sei. Da die Agrarumwälzung sich noch nicht vollzogen hatte, konnten Lenins Gegner<br />

mit vollem Recht behaupten, die demokratische <strong>Revolution</strong> sei nicht zu Ende geführt,<br />

und daraus folgern, es gäbe für die Diktatur des Proletariats auch dann keinen Platz,<br />

wenn die sozialen Verhältnisse Rußlands diese in einer mehr o<strong>der</strong> weniger nahen<br />

Zukunft ermöglichen sollten. Gerade so hatte die Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' in dem von uns<br />

bereits angeführten Zitat die Frage gestellt. Später, auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz, wie<strong>der</strong>holte<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 208


Kamenew:<br />

»Lenin hat nicht recht, wenn er sagt, die bürgerlich-demokratische <strong>Revolution</strong> sei<br />

abgeschlossen ... Der klassische Rest des Feudalismus - <strong>der</strong> gutsherrliche Bodenbesitz<br />

- ist noch nicht liquidiert ... Der Staat nicht in eine demokratische Gesellschaft<br />

umgewandelt ... Es ist verfrüht zu sagen, die bürgerliche Demokratie habe alle ihre<br />

Möglichkeiten erschöpft.«<br />

»Die demokratische Diktatur«, erwi<strong>der</strong>te Tomski, »das ist unsere Basis ... Wir müssen<br />

die Macht des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft organisieren und sie von <strong>der</strong><br />

Kommune trennen, da dort die Macht nur dem Proletariat gehört.«<br />

»Vor uns stehen gewaltige revolutionäre Aufgaben«, stimmte ihnen Rykow bei. »Aber<br />

die Verwirklichung dieser Aufgaben führt uns über den Rahmen des bürgerlichen<br />

Regimes noch nicht hinaus.«<br />

Lenin sah gewiß nicht weniger scharf als seine Opponenten, daß die demokratische<br />

<strong>Revolution</strong> nicht abgeschlossen war, richtiger, daß sie, kaum angefangen, schon zurückzurollen<br />

begann. Aber eben daraus folgte, daß sie lediglich unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong><br />

neuen Klasse zu Ende zu führen war und daß man dazu nur gelangen könnte, wenn man<br />

die Massen dem Einfluß <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre entriß, das heißt dem<br />

indirekten Einfluß <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie. Die Verbindung dieser Parteien mit den<br />

Arbeitern und insbeson<strong>der</strong>e mit den Soldaten wurde durch die Idee <strong>der</strong> Verteidigung<br />

genährt - <strong>der</strong> »Verteidigung des Landes« o<strong>der</strong> <strong>der</strong> »Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Lenin<br />

for<strong>der</strong>te deshalb: unversöhnliche Politik in Beziehung auf alle Schattierungen des Sozialpatriotismus,<br />

Trennung <strong>der</strong> Partei von den rückständigen Massen, um dann diese Massen<br />

von ihrer Rückständigkeit zu befreien. »Den alten Bolschewismus muß man aufgeben«,<br />

sagte er wie<strong>der</strong>holt. »Es ist notwendig, die Scheidelinie zwischen Kleinbürgertum und<br />

Lohnproletariat zu ziehen.«<br />

Einem oberflächlichen Blick mochte es scheinen, alte Gegner hätten ihr Rüstzeug<br />

getauscht. Menschewiki und Sozialrevolutionäre vertraten jetzt die Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten und verwirklichten gleichsam in <strong>der</strong> Tat das politische Bündnis zwischen<br />

Proletariat und Bauernschaft, das die Bolschewiki stets im Gegensatz zu den Menschewiki<br />

verkündet hatten. Lenin aber for<strong>der</strong>te, die proletarische Avantgarde solle sich von<br />

diesem Bündnis lostrennen. In Wirklichkeit blieb jede Partei sich treu. Die Menschewiki<br />

betrachteten, wie stets, ihre Mission in <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie. Ihr<br />

Bündnis mit den Sozialrevolutionären war nur ein Mittel zur Verbreiterung und Festigung<br />

dieser Unterstützung. Dagegen bedeutete <strong>der</strong> Bruch <strong>der</strong> proletarischen Avantgarde<br />

mit dem kleinbürgerlichen Block die Vorbereitung des Bündnisses zwischen Arbeitern<br />

und Bauern unter Führung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, das heißt die Diktatur des Proletariats.<br />

Einwände an<strong>der</strong>cr Art ergaben sich aus <strong>der</strong> Rückständigkeit Rußlands. Die Macht <strong>der</strong><br />

Arbeiterklasse bedeute unabwendbar Übergang zum Sozialismus. Die Ökonomik und<br />

Kultur Russlands sei dafür aber nicht reif. Wir müßten die demokratische <strong>Revolution</strong> zu<br />

Ende führen. Nur die sozialistische <strong>Revolution</strong> im Westen könne die Diktatur des Proletariats<br />

bei uns rechtfertigen. Das waren die Einwände Rykows auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz.<br />

Daß die kulturökonomischen Bedingungen Rußlands an sich für den Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaft ungenügend sind, war für Lenin das Abc. Doch die Gesellschaft ist<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 209


durchaus nicht so rationell aufgebaut, daß die Fristen für die Diktatur des Proletariats<br />

gerade in dem Moment eintreten, wenn die ökonomischeri und kultarellen Bedingungen<br />

für den Sozialismus gereift sind. Würde sich die Menschheit so planmäßig entwickeln,<br />

dann bestände keine Notwendigkeit für die Diktatur, wie für <strong>Revolution</strong>en überhaupt. Es<br />

geht eben darum, daß die lebendige historische Gesellschaft durch und durch disharmonisch<br />

ist, und zwar um so mehr, je verspäteter ihre Entwicklung. Einen Ausdruck dieser<br />

Disharmehie bildet eben die Tatsache, daß in einem so rückständigen Lande wie Rußland<br />

die Bourgeoisie bereits vor dem vollen Siege des bürgerlichen Regimes gänzlich verfault<br />

ist und außer dem Proletariat niemand sie als Führer <strong>der</strong> Nation ersetzen kann. Rußlands<br />

ökonomische Rückständigkeit befreit die Arbeiterklasse nicht von <strong>der</strong> Pflicht, die ihr<br />

zukommende Aufgabe zu erfüllen, sie gestaltet nur diese Erfüllung äußerst schwierig.<br />

Rykow, <strong>der</strong> betont hatte, Sozialismus müsse aus Län<strong>der</strong>n mit entwickelterer Industrie<br />

kommen, erhielt von Lenin eine einfache, aber erschöptende Antwort: »Es läßt sich nicht<br />

sagen, wer beginnen und wer beenden wird.«<br />

Im Jahre 1921, als die Partei, von bürokratischer Verknöcherung noch weit entfernt,<br />

mit <strong>der</strong> gleichen Freimütigkeit ihre Vergangenheit beurteilte, wie sie ihre Zukunft vorbereitet<br />

hatte, beschäftigte sich einer <strong>der</strong> älteren Bolschewiki, Olminski, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Parteipresse<br />

auf allen Etappen ihrer Entwicklung leitenden Anteil genommen hatte, mit <strong>der</strong><br />

Frage, wie die Tatsache zu erklären sei, daß die Partei im Moment <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

auf den opportunistischen Weg geraten war. Und was ihr dann so schnell ermöglichte,<br />

auf die Oktoberbahn abzubiegen. Die Quelle <strong>der</strong> Märzirrungen sieht <strong>der</strong> genannte Autor<br />

ganz richtig in <strong>der</strong> Tatsache, daß die Partei den Kurs auf demokratische Diktatur »zu<br />

lange gehalten hat«. »"Die bevorstehende <strong>Revolution</strong> kann nur eine bürgerliche <strong>Revolution</strong><br />

sein" ... Das war«, sagt Olminski, »für jedes Parteimitglied ein obligatorisches<br />

Urteil, die offizielle Meinung <strong>der</strong> Partei, ihre ständige und unverän<strong>der</strong>liche Losung bis<br />

zur Februarrevolution 1917 und sogar einige Zeit danach.« Zur Illustration könnte<br />

Olminski darauf verweisen, daß die 'Prawda' noch vor Stalin und Kamenew, das heißt<br />

unter <strong>der</strong> "linken" Redaktion, einschließlich Olminskis, am 7. März wie selbstverständlich<br />

geschrieben hat: »Gewiß handelt es sich bei uns noch nicht um den Sturz <strong>der</strong><br />

Herrschaft des Kapitals, son<strong>der</strong>n um den Sturz <strong>der</strong> Herrschaft des Absolutismus und<br />

Feudalismus« ... Durch die zu kurze Visierung des Ziels geriet die Partei in die Märzgefangenschaft<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie. »Wie ist es dann zur Oktoberrevolution<br />

gekommen«, fragt <strong>der</strong> Autor weiter, »wie konnte es geschehen, daß die Partei, von den<br />

Führern bis zum letzten Mitglied, so "plötzlich" sich von dem lossagte, was sie fast zwei<br />

Jahrzehnte hindurch als unumstößliche Wahrheit betrachtet hatte?«<br />

Suchanow stellt als Gegner die gleiche Frage auf an<strong>der</strong>e Weise: »Wie und wodurch<br />

hatte es Lenin verstanden, seine Bolschewiki zu besiegen?« In <strong>der</strong> Tat, Lenins Sieg innerhalb<br />

<strong>der</strong> Partei war nicht nur voll, son<strong>der</strong>n auch in sehr kurzer Frist errungen. Die Gegner<br />

ironisierten aus diesem Anlaß überhaupt nicht wenig das persönliche Regime in <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei. Auf die von ihm aufgeworfene Frage gibt Suchanow selbst die<br />

Antwort ganz im Geiste des heroischen Prinzips: »Der geniale Lenin war eine historische<br />

Autorität - das ist die eine Seite <strong>der</strong> Sache. Die an<strong>der</strong>e ist die, daß es außer Lenin in<br />

<strong>der</strong> Partei niemand und nichts gegeben hat. Einige bedeuten<strong>der</strong>e Generale waren ohne<br />

Lenin - nichts, wie einige unerreichbare Planeten ohne die Sonne (ich lasse hier Trotzki<br />

außer acht, <strong>der</strong> damals noch nicht in den Reihen des Ordens stand).« Diese kuriosen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 210


Zeilen versuchen, den Einfluß Lenins durch dessen Einfluß zu erklären, wie wenn etwa<br />

die Eigen-schaft des Opiums, schläfrig zu machen, mit seiner einschläfernden Kraft<br />

erklärt wird.<br />

Der tatsächliche Einfluß Lenins in <strong>der</strong> Partei war zweifellos sehr groß, aber doch<br />

keinesfalls unbeschränkt. Er blieb auch später nicht uneingeschränkt, nach dem Oktober,<br />

als Lenins Autorität außerordentlich gewachsen war, da die Partei seine Kraft an dem<br />

Metermaß <strong>der</strong> Weltereignisse nachgeprüft hatte. Um so unzureichen<strong>der</strong> sind die nackten<br />

Hinweise auf die persönliche Autorität Lenins im April 1917, als die ganze führende<br />

Parteischicht bereits Zeit gefunden harte, eine Position einzunehmen, die <strong>der</strong> Leninschen<br />

entgegengesetzt war.<br />

Viel näher an die Lösung <strong>der</strong> Frage geht Olminski heran, wenn er beweist, daß die<br />

Partei, trotz ihrer Formel <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen <strong>Revolution</strong>, sich durch ihre<br />

gesamte Politik <strong>der</strong> Bourgeoisie und Demokratie gegenüber faktisch seit langer Zeit<br />

darauf vorbereitet hatte, an die Spitze des Proletariats im unmittelbaren Kampfe um die<br />

Macht zu treten. »Wir (o<strong>der</strong> viele von uns)«, sagt Olminski, »hielten unbewußt den Kurs<br />

auf die proletarische <strong>Revolution</strong>, während wir vermeinten, den Kurs auf die bürgerlichdemokratische<br />

<strong>Revolution</strong> zu halten. Mit an<strong>der</strong>en Worten, wir bereiteten den Oktober<br />

vor, während wir glaubten, die Februarrevolution vorzubereiten.« Eine sehr wertvolle<br />

Verallgemeinerung, die gleichzeitig eine einwandfreie Zeugenaussage ist!<br />

In <strong>der</strong> theoretischen Erziehung <strong>der</strong> revolutionären Partei war ein Element des Wi<strong>der</strong>spruches<br />

enthalten, <strong>der</strong> seinen Ausdruck in <strong>der</strong> zweideutigen Formel "demokratische<br />

Diktatur" des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft fand. Eine Delegierte, die auf <strong>der</strong> Konferenz<br />

zum Referat Lenins Stellung nahm, äußerte den Gedanken Olminskis noch<br />

einfacher: »Die Prognose, die die Bolschewiki aufgestellt hatten, erwies sich als falsch,<br />

aber die Taktik war richtig.«<br />

In den Aprilthesen, die so paradox schienen, stützte sich Lenin gegenüber <strong>der</strong> alten<br />

Formel auf die lebendige Tradition <strong>der</strong> Partei: ihre Unversöhnlichkeit gegen die<br />

herrschenden Klassen und Feindseligkeit gegen alle Halbheiten, während die "alten<br />

Bolschewiki" <strong>der</strong> konkreten Entwicklung des Klassenkampfes zwar frische, aber bereits<br />

den Archiven gehörende Erinnerungen entgegenstellten. Lenin besaß eine zu sichere<br />

Stütze, die durch die ganze <strong>Geschichte</strong> des Kampfes <strong>der</strong> Bolschewiki und Menschewiki<br />

vorbereitet war. Es ist hier angebracht, zu erinnern, daß das offizielle sozialdemokratische<br />

Programm in jener Zeit bei Bolschewiki und Menschewiki noch gemeinsam war<br />

und die praktischen Aufgaben <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> auf dem Papier bei beiden<br />

Parteien gleich aussahen. Doch waren sie in <strong>der</strong> Wirklichkeit durchaus nicht gleich. Die<br />

bolschewistischen Arbeiter ergriffen sofort nach <strong>der</strong> Umwälzung die Initiative des<br />

Kampfes um den Achtstundentag; die Menschewiki erklärten diese For<strong>der</strong>ung für unzeitgemäß.<br />

Die Bolschewiki leiteten die Verhaftung <strong>der</strong> zaristischen Beamten, die Menschewiki<br />

wi<strong>der</strong>setzten sieh "Exzessen". Die Bolschewiki gingen energisch an die Schaffung<br />

<strong>der</strong> Arbeitermiliz, die Menschewiki bremsten die Bewaffnung des Proletariats, da sie es<br />

sich mit <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht zu ver<strong>der</strong>ben wünschten. Noch ehe sie den Kreis <strong>der</strong><br />

bürgerlichen Demokratie überschritten hatten, waren die Bolschewiki aus allen Kräften<br />

bestrebt, wenn auch durch die Führung vom Weg abgelenkt, wie unversöhnliche <strong>Revolution</strong>äre<br />

zu handeln. Dagegen opferten die Menschewiki bei jedem Schritt das demokratische<br />

Programm im Interesse des Bündnisses mit den Liberalen. Bei völligem Fehlen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 211


demokratischer Verbündeter mußten Kamenew und Stalin unvermeidlich in <strong>der</strong> Luft<br />

hängenbleiben.<br />

Der Aprilzusammenstoß Lenins mit dem Generalstab <strong>der</strong> Partei ist nicht <strong>der</strong> einzige<br />

gewesen. In <strong>der</strong> ganzen <strong>Geschichte</strong> des Bolschewismus unter Abzug einzelner Episoden,<br />

die im Wesen die Regel nur bestätigen, standen alle Führer <strong>der</strong> Partei in allen wichtigen<br />

Momenten <strong>der</strong> Entwicklung rechts von Lenin. Zufällig? Nein! Lenin ist gerade darum<br />

<strong>der</strong> unbestrittene Führer <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Weltgeschichte revolutionärsten Partei geworden, weil<br />

sein Denken und Wille letzten Endes den grandiosen revolutionären Möglichkeiten des<br />

Landes und <strong>der</strong> Epoche angemessen waren. Den an<strong>der</strong>en fehlten bald ein, bald zwei Zoll,<br />

oft aber auch mehr.<br />

Fast die gesamte Führerschicht <strong>der</strong> bolschewistischen Partei befand sich in den<br />

Monaten und Jahren, die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorangegangen waren, außerhalb <strong>der</strong> aktiven<br />

Arbeit. Viele hatten die lastenden Eindrücke <strong>der</strong> ersten Kriegsmonate in die Gefängnisse<br />

und die Verbannung mitgenommen und den Zusammenbruch <strong>der</strong> <strong>Internationale</strong> einsam<br />

o<strong>der</strong> in kleinen Gruppen erlebt. Wenn sie in den Reihen <strong>der</strong> Partei auch hinreichende<br />

Aufnahmefähigkeit für die Ideen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gezeigt hatten, was sie ja auch an den<br />

Bolschewismus fesselte, so besaßen sie, isoliert, doch nicht die Kraft, dem Drucke <strong>der</strong><br />

Umgebung Wi<strong>der</strong>stand zu leisten und selbständig die Ereignisse marxistisch einzuschätzen.<br />

Der ungeheure Umschwung, <strong>der</strong> sich in den Massen in den zweieinhalb Kriegsjahren<br />

vollzogen hatte, war fast außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben. Die Umwälzung<br />

aber hatte sie nicht nur <strong>der</strong> Isoliertheit entrissen, son<strong>der</strong>n sie kraft ihrer autoritativen<br />

Stellung auf entscheidende Posten in <strong>der</strong> Partei gestellt. Ihren Stimmungen nach waren<br />

diese Elemente nicht selten <strong>der</strong> "Zimmerwal<strong>der</strong>" Intelligenz viel näher als den revolutionären<br />

Arbeitern aus den Betrieben.<br />

Die "alten Bolschewiki", die ihren Ruf im April 1917 mit so viel aufgeblähtem Selbstbewußtsein<br />

nachlebten, waren zur Nie<strong>der</strong>lage verurteilt, denn sie verteidigten gerade<br />

jenes Element <strong>der</strong> Parteitradition, das <strong>der</strong> geschichtlichen Nachprüfung nicht standgehalten<br />

hatte. »Ich gehöre zu den alten Bolschewiki-Leninisten«, sagte zum Beispiel auf <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Konferenz am 14. April Kalinin, »und vertrete die Ansicht, <strong>der</strong> alte Leninismus<br />

hat sich im gegenwärtigen, eigenartigen Moment keinesfalls als untauglich<br />

erwiesen, und ich kann über die Erklärung des Genossen Lenin nur staunen, daß die<br />

alten Bolschewiki im gegenwärtigen Moment ein Hemmnis geworden seien.« Solche<br />

gekränkte Stimmen mußte Lenin in jenen Tagen nicht selten vernehmen. Mit <strong>der</strong> traditionellen<br />

Formel <strong>der</strong> Partei brechend, hörte Lenin indes nicht im geringsten auf, "Leninist"<br />

zu sein: er warf die abgenutzte Schale des Bolschewismus beiseite, um dessen Kern zu<br />

neuem Leben zu erwecken. Gegen die alten Bolschewiki fand Lenin in einer an<strong>der</strong>en,<br />

bereits gestählten, aber frischeren und mehr mit den Massen verbundenen Parteischicht<br />

eine Stütze. In <strong>der</strong> Februarrevolution hatten die bolschewistischen Arbeiter, wie wir<br />

wissen, die entscheidende Rolle gespielt. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß<br />

jene Klasse die Macht übernehmen müsse, die den Sieg errungen hatte. Diese Arbeiter<br />

hatten stürmisch gegen den Kurs Kamenew-Stalin protestiert und <strong>der</strong> Wyborger Bezirk<br />

sogar mit dein Ausschluß <strong>der</strong> "Führer" aus <strong>der</strong> Partei gedroht. Das gleiche war in <strong>der</strong><br />

Provinz zu beobachten. Fast überall gab es linke Bolschewiki, die man des Maximalismus<br />

und sogar des Anarchismus beschuldigte. Den revolutionären Arbeitern fehlten nur<br />

die theoretischen Mittel, um ihre Positionen zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 212


ersten Zuruf mit Wi<strong>der</strong>hall zu beantworten.<br />

Nach dieser Arbeiterschicht, die während des Aufschwungs <strong>der</strong> Jahre 1912-1914 sich<br />

endgültig hochgerichtet hatte, orientierte sich Lenin. Schon zu Beginn des Krieges, als<br />

die Regierung durch die Zerschlagung <strong>der</strong> bolschewistischen Dumafraktion <strong>der</strong> Partei<br />

einen schweren Hieb zugefügt hatte, verwies Lenin, über die fernere revolutionäre Arbeit<br />

sprechend, auf die von <strong>der</strong> Partei erzogenen »Tausende klassenbewußte Arbeiter, aus<br />

denen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, ein neues Führerkollektiv entstehen wird«.<br />

Durch zwei Fronten von ihnen getrennt, fast ohne Verbindung, riß sich Lenin von ihnen<br />

doch niemals los. »Mag sie Krieg, Gefängnis, Sibirien, Katorga fünffach, zehnfach<br />

zerschlagen. Diese Schicht zu vernichten, ist unmöglich. Sie lebt. Sie ist von revolutionärern<br />

Geist und Antichauvinismus durchdrungen.« In Gedanken erlebte Lenin die Ereignisse<br />

gemeinsam mit diesen Arbeiterbolschewiki, zog gemeinsam mit ihnen die notwendigen<br />

Schlüsse, nur breiter und kühner als sie. Zum Kampfe gegen die Unentschlossenheit<br />

des Stabes und <strong>der</strong> breiten Offiziersschicht <strong>der</strong> Partei stützte sich Lenin sicher anf<br />

die Unteroffiziersschicht, die den einfachen Arbeiterbolschewiken besser wi<strong>der</strong>spiegelte.<br />

Die zeitweilige Macht <strong>der</strong> Sozialpatrioten und die verhüllte Schwäche des opportunistischen<br />

Flügels <strong>der</strong> Bolschewiki bestanden darin, daß die ersteren sich auf die damaligen<br />

Vorurteile und Illusionen <strong>der</strong> Massen stützten und die an<strong>der</strong>en sich ihnen anpaßten. Die<br />

Hauptstärke Lenins war, daß er die innere Logik <strong>der</strong> Bewegung begriff und danach seine<br />

Politik richtete. Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren<br />

eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen. Als Lenin alle Probleme <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

auf das eine Problem zurückführte: »Geduldig aufklären«, hieß dies, das Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Massen mit jener Situation in Übereinstimmung zu bringen, in die <strong>der</strong> historische Prezeß<br />

sie hineingetrieben hatte. Arbeiter o<strong>der</strong> Soldat mußte, enttäuscht von <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong><br />

Versöhnler, auf Lenins Position übergehen, ohne sich auf <strong>der</strong> Zwischenetappe<br />

Kamenew-Stalin aufzuhalten.<br />

Sobald die Leninschen Formeln gegeben waren, erhellten sie vor den Bolschewiki die<br />

Erfahrung des verflossenen Monats und die Erfahrung jedes neuen Tages mi neuen<br />

Lichte. Unter <strong>der</strong> breiten Parteimasse begann eine schnelle Differeinierung: nach links!<br />

nach links! zu den Thesen Lenins!<br />

»Bezirk auf Bezirk«, sagte Saleschski, »schloß sich ihnen an, und auf <strong>der</strong> am 24. April<br />

versammelten All<strong>russischen</strong> Parteikonferenz sprach sich die Petrogra<strong>der</strong> Organisation<br />

in ihrer Gesamtheit für die Thesen aus.«<br />

Der Kampf um die Umbewaffnung <strong>der</strong> bolschewistischen Ka<strong>der</strong>, <strong>der</strong> am Abend des 3.<br />

April begonnen hatte, war gegen Ende des Monats im wesentlichen bereits beendet 4 . Die<br />

Parteikonferenz, die in Petrograd vom 24.-29. April tagte, zog das Fazit des März, des<br />

4 Am gleichen Tage, als Lenin in Petrograd ankam, holte jenseits des Atlantischen O'teans, bei Halifax, die<br />

britische Seepolizei fünf Emigranten von dem norwegischen Dampfer "Christianiafjord" herunter, die auf <strong>der</strong><br />

Rückkehr aus New York nach Rußland waren: Trotzki, Tschudnowski, Melnitschanski, Muchin, Fischelew<br />

und Romantschenko. Diese Personen erhielten erst am 4. Mai die Möglichkeit, nach Petrograd zu kommen,<br />

als die politische Umbewaffnung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei mindestens im gröbsten beendet war. Wir<br />

erachten es deshaih für nicht angebracht, in den Text unseres Berichtes die Darsellung jener Ansichten über<br />

die <strong>Revolution</strong> einzufügen, die Trotzki in <strong>der</strong> damals in New York erschienenen <strong>russischen</strong> Tageszeitung<br />

enewickelte. Da an<strong>der</strong>erseits die Kenntnis dieser Ansichten dem Leser das Verständnis für die weiteren<br />

Parteigruppierungen und insbeson<strong>der</strong>e für den Ideenkampf am Vorabend des Oktobers erleichtern dürfte, so<br />

halten wir es für zweckmäßig, die darauf bezügliche Auskunft auszuson<strong>der</strong>n und sie am Ende des Buches als<br />

Anhang beizugeben. Der Leser, <strong>der</strong> sich an einem detaillierteren Studium <strong>der</strong> theoretischen Vorbereitung <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution desinteressiert glaubt, mag ruhig an diesem Anhang vorübergehen. (Anhang Nr.2)<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 213


Monats opportunistischer Schwankungen, und des Aprils, des Monats <strong>der</strong> scharfen Krise.<br />

Zu dieser Zeit war die Partei sehr stark gewachsen, sowohl zahlenmäßig wie politisch.<br />

149 Delegierte vertraten 79.000 Parteimitglie<strong>der</strong>, davon 15.000 aus Petrograd. Für die<br />

gestern noch illegale und heute antipatriotische Partei eine imposante Zahl, und Lenin<br />

wie<strong>der</strong>holte sie mehrere Male mit Genugtuung. Die politische Physiognomie <strong>der</strong> Konferenz<br />

wurde schon bei <strong>der</strong> Wahl des fünfgliedrigen Präsidiums bestimmt: we<strong>der</strong><br />

Kamenew noch Stalin, die Hauptschuldigen des Märzunheils, kamen hinein.<br />

Trotzdem die Streitfragen für die Partei im ganzen bereits fest entschieden waren,<br />

blieben viele Führer, an den gestrigen Tag gebunden, auf dieser Konferenz in Opposition<br />

o<strong>der</strong> Halbopposition zu Lenin. Stalin bewahrte Schweigen und wartete ab. Dserschinski<br />

for<strong>der</strong>te im Namen »vieler«, die »mit den Thesen des Referenten prinzipiell nicht einverstanden<br />

sind«, ein Korreferat seitens »<strong>der</strong> Genossen, die gemeinsam mit uns die <strong>Revolution</strong><br />

praktisch erlebt haben«. Das war eine deutliche Anspielung auf den<br />

Emigrantencharakter <strong>der</strong> Leninschen Thesen. Kamenew trat tatsächlich auf <strong>der</strong> Konferenz<br />

mit einem Korreferat auf zur Verteidigung <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen Diktatur.<br />

Rykow, Tomski und Kalinin versuchten mehr o<strong>der</strong> weniger, bei ihren Märzpositionen zu<br />

verharren. Kalinin fuhr fort, auf <strong>der</strong> Vereinigung mit den Menschewiki zu bestehen, im<br />

Interesse des Kampfes gegen den Liberalismus. Ein angesehener Moskauer<br />

Parteiarbeiter, Smidowitsch, führte leidenschaftlich Klage: »Wo immer wir auftreten,<br />

wird gegen uns ein Schreckgespenst in Gestalt <strong>der</strong> Thesen des Genossen Lenin<br />

gerichtet.« Früher, solange die Moskauer für die Resolutionen <strong>der</strong> Menschewiki stimmten,<br />

ließ es sich viel ruhiger leben.<br />

Als Schüler Rosa Luxemburgs trat Dserschinski gegen das Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong><br />

Nationen auf und beschuldigte Lenin <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung separatistischer Tendenzen, die das<br />

Proletariat Rußlands schwächten. Auf die Gegenanklage wegen Unterstützung des<br />

groß<strong>russischen</strong> Chauvinismus antwortete Dserschinski: »Ich kann ihm (Lenin) den<br />

Vorwurf machen, daß er auf dem Standpunkt polnischer, ukrainischer und an<strong>der</strong>er<br />

Chauvinisten steht.« Dieser Dialog entbehrt nicht politischer Pikanterie: <strong>der</strong> Großrusse<br />

Lenin beschuldigt den Polen Dserschinski des groß<strong>russischen</strong>, gegen die Polen gerichteten<br />

Chauvinismus und wird von diesem des polnischen Chauvinismus beschuldigt. Das<br />

politische Recht war auch in diesem Streitfall völlig auf seiten Lenins. Seine nationale<br />

Politik ging als wichtiges Grundelement in die Oktoberrevolution ein.<br />

Die Opposition erlosch merklich. In den strittigen Fragen brachte sie nicht mehr als<br />

sieben Stimmen zusammen. Es gab jedoch eine bemerkenswerte und krasse Ausnahme,<br />

die die internationalen Verbindungen <strong>der</strong> Partei betraf. Knapp vor Schluß <strong>der</strong> Arbeiten,<br />

in <strong>der</strong> Abendsitzung des 29. April, brachte Sinowjew im Namen einer Kommission<br />

folgenden Resolutionsentwuif ein: »An <strong>der</strong> auf den 18. Mai anberaumten internationalen<br />

Konferenz <strong>der</strong> Zimmerwal<strong>der</strong> teilzunehmen« (in Stockholm). Das Protokoll lautet:<br />

»Angenommen mit allen Stimmen gegen eine.« Diese eine Stimme war Lenin. Er<br />

verlangte den Bruch mit Zimmerwald, wo die Mehrheit endgültig bei den deutschen<br />

Unabhängigen und den neutralen Pazifisten vom Schlag des Schweizers Grimm<br />

angelangt war. Für die <strong>russischen</strong> Parteika<strong>der</strong> jedoch war Zinimerwald während des<br />

Krieges fast identisch mit dem Bolschewismus geworden. Die Delegierten weigerten<br />

sich, sowohl auf den Namen Sozialdemokratie zu verzichten, wie mit Zimmerwald zu<br />

brechen, das ihnen immer noch als eine Verbindung mit den Massen <strong>der</strong> Zweiten Interna-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 214


tionale erschien. Lenin versuchte, die Beteiligung an <strong>der</strong> bevorstehenden Konferenz<br />

wenigstens auf rein informatorische Zwecke zu begrenzen. Sinowjew trat dagegen auf.<br />

Der Antrag Lenins ging nicht durch. Darauf stimmte er gegen die ganze Resolution.<br />

Niemand unterstützte ihn. Das war letztes Aufflackern <strong>der</strong> "März"-Stimmungen,<br />

Festklammern an die gestrigen Positionen, Angst vor "Isolierung". Die Konferenz fand<br />

jedoch überhaupt nicht statt, und zwar infolge <strong>der</strong> gleichen inneren Krankheiten von<br />

Zimmerwald, die Lenin gerade bewogen hatten, mit ihm zu brechen. Die gegen eine<br />

Stimme abgelehnte Boykottpolitik wurde auf diese Weise doch verwirklicht.<br />

Der schroffe Charakter <strong>der</strong> Wendung, die in <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Partei vorgenommen<br />

worden war, wurde für alle offenbar. Schmidt, Arbeiterbolschewik, später Volkskommissar<br />

für Arbeit, sagte auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz: »Lenin hat dem Charakter <strong>der</strong> Parteitätigkeit<br />

eine neue Richtung gegeben.« Nach dem, allerdings einige Jahre später geschriebenen<br />

Ausdruck Raskolnikows hat Lenin im April 1917 »die Oktoberrevolution im Bewußtsein<br />

<strong>der</strong> Parteileiter vollzogen ... Die Taktik unserer Partei bildet keine gerade Linie, nach <strong>der</strong><br />

Ankunft Lenins machte sie eine schroffe Kurve nach links.« Unmittelbarer und gleichzeitig<br />

präziser beurteilt die alte Bolsehewistin Ludmilla Stahl die Än<strong>der</strong>ung: »Alle Genossen<br />

haben bis zur Ankunft Lenins im Dunkeln getappt«, sagte sie am 14. April auf <strong>der</strong><br />

Stadtkonferenz. »Es gab nur die Formeln von 1905. Angesichts seiner selbständigen<br />

Schöpfung vermochten wir nicht das Volk zu lehren ... Unsere Genossen konnten sich<br />

nur auf die Vorbereitung zur Konstituierenden Versammlung mit parlamentarischen<br />

Mitteln beschränken und nicht die Möglichkeit berechnen, weiter zu schreiten. Wenn wir<br />

die Parolen Lenins akzeptieren, tun wir nur, was uns das Leben selbst eingibt. Man darf<br />

sich vor <strong>der</strong> Kommune, weil das ja schon eine Arbeiterregierung ist, nicht fürchten. Die<br />

Pariser Kommune war nicht ausschließlich eine Arbeiterkommune, son<strong>der</strong>n auch kleinbürgerlich.«<br />

Man kann Suchanow zustimmen, daß die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei »<strong>der</strong><br />

wichtigste und grundlegende Sieg Lenins, abgeschlossen Anfang Mai, gewesen ist.«<br />

Allerdings, Suchanow meinte, Lenin habe bei dieser Operation die marxistischen Waffen<br />

mit den anarchistischen vertauscht.<br />

Es bleibt zu fragen, und es ist keine unwichtige Frage, obwohl sie leichter zu stellen als<br />

zu beantworten ist: welche Entwicklung würde die <strong>Revolution</strong> genommen haben, wenn<br />

Lenin im April 1917 Rußland nicht erreicht hätte? Wenn unsere Darstellung überhaupt<br />

etwas beweist und nachweist, so ist es, hoffen wir, dies, daß Lenin nicht Schöpfer des<br />

revolutionären Prozesses war, son<strong>der</strong>n sich nur in die Kette <strong>der</strong> objektiven historischen<br />

Kräfte eingeglie<strong>der</strong>t hat. Doch war er in dieser Kette ein großes Glied. Die Diktatur des<br />

Proletariats ergab sich aus <strong>der</strong> ganzen Situation. Aber man mußte sie erst errichten. Sie<br />

war ohne die Partei nicht zu errichten. Die Partei jedoch konnte ihre Mission nur<br />

erfüllen, nachdem sie sie erkannt hatte. Dazu war eben Lenin notwendig. Bis zu seiner<br />

Ankunft war nicht einer <strong>der</strong> bolschewistischen Führer imstande gewesen, die Diagnose<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu stellen. Die Führung Kamenew-Stalin wurde durch den Lauf <strong>der</strong><br />

Dinge nach rechts geschleu<strong>der</strong>t, zu den Sozialpatrioten: zwischen Lenin und dem<br />

Menschewismus ließ die <strong>Revolution</strong> keinen Raum für Mittelpositionen. Der innere<br />

Kampf in <strong>der</strong> bolschewistischen Partei war vollkommen unvermeidlich. Lenins Ankunft<br />

hat den Prozeß nur beschleunigt. Sein persönlicher Einfluß hat die Krise verkürzt. Kann<br />

man aber mit Bestimmtheit sagen, die Partei würde auch ohne ihn ihren Weg gefunden<br />

haben? Dies zu behaupten, könnten wir uns keinesfalls entschließen. Der Faktor Zeit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 215


entscheidet hier, und hinterher läßt sich schwer auf die Uhr <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> blicken.<br />

Dialektischer Materialismus hat jedenfalls nichts mit Fatalismus gemein. Die Krise, die<br />

die opportunistische Leitung unvermeidlich hervorrufen mußte, würde ohne Lenin einen<br />

beson<strong>der</strong>s scharfen und langwierigen Charakter angenommen haben. Die Bedingungen<br />

des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ließen aber <strong>der</strong> Partei für die Erfüllung ihrer Mission<br />

keine langen Fristen. Es ist deshalb ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß die desorientierte<br />

und zerrissene Partei die revolutionäre Situation auf viele Jahre hinaus verpassen<br />

konnte. Die Rolle <strong>der</strong> Persönlichkeit tritt hier vor uns wahrhaft gigantischem Maßstahe<br />

auf. Nur muß man diese richtig begreifen und die Persönlichkeit als ein Glied <strong>der</strong> historischen<br />

Kette betrachten.<br />

Lenins "plötzliche" Ankunft aus dem Auslande nach langer Abwesenheit, <strong>der</strong> wilde<br />

Lärm <strong>der</strong> Presse um seinen Namen, <strong>der</strong> Zusammenstoß Lenins mit allen Führern <strong>der</strong><br />

eigenen Partei und sein schneller Sieg über sie - kurz die äußere Hülle <strong>der</strong> Ereignisse hat<br />

in diesem Falle stark zur mechanischen Gegenüberstellung von Person, Held, Genie,<br />

objektiven Verhältnissen, Masse, Partei beigetragen. In Wirklichkeit ist eine solche<br />

Gegenüberstellung völlig einseitig. Lenin war kein zufälliges Element <strong>der</strong> historischen<br />

Entwicklung, son<strong>der</strong>n Produkt <strong>der</strong> gesamten vergangenen <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>. Er war<br />

tief in ihr verwurzelt. Gemeinsam mit den fortgeschrittenen Arbeitern hatte er während<br />

des vorangegangenen Vierteljahrhun<strong>der</strong>ts ihren ganzen Kampf mitgemacht. "Zufall" war<br />

nicht sein Eingreifen in die Ereignisse, son<strong>der</strong>n eher jener Strohhalm, mit dem Lloyd<br />

George ihm den Weg zu sperren versucht hatte. Lenin stand <strong>der</strong> Partei nicht von außen<br />

gegenüber son<strong>der</strong>n er war ihr vollendetster Ausdruck. Indem er sie erzog, erzog er sich<br />

an ihr. Sein Auseinan<strong>der</strong>gehen mit <strong>der</strong> Führerschicht <strong>der</strong> Bolschewiki bedeutete den<br />

Kampf des morgigen Tages <strong>der</strong> Partei mit ihrem gestrigen Tage. Wäre Lenin nicht künstlich<br />

durch Emigration und Krieg von <strong>der</strong> Partei getrennt gewesen, so wäre die äußere<br />

Mechanik <strong>der</strong> Krise nicht so dramatisch und die innere Kontinuität <strong>der</strong> Parteientwieklung<br />

nicht so verhüllt. Aus jener beson<strong>der</strong>en Bedeutung, die Lenins Ankunft erhalten hat,<br />

ergibt sich nur, daß Führer nicht zufällig erstehen, daß ihre Auslese und Erziehung<br />

Jahrzehnte erfor<strong>der</strong>n, daß sie nicht willkürlich zu ersetzen sind, daß ihre mechanische<br />

Ausschaltung aus dem Kampfe <strong>der</strong> Partei eine offene Wunde zufügen und unter Umständen<br />

die Partei für lange Zeit paralysieren kann.<br />

"Apriltage"<br />

Am 23. März traten die Vereinigten Staaten in den Krieg ein. Am gleichen Tage fand<br />

in Petrograd die Beisetzung <strong>der</strong> Opfer <strong>der</strong> Februarrevolution statt. Die traurige, doch<br />

ihrer Stimmung nach festlich-lebensfreudige Kundgebung war ein mächtiger Schlußakkord<br />

<strong>der</strong> Symphonie <strong>der</strong> fünf Tage. Zur Beisetzung kamen alle: sowohl jene, die Seite an<br />

Seite mit den Gemordeten gekämpft, wie jene, die vom Kampfe zurückgehalten, und<br />

wahrscheinlich auch jene, die sie gemordet hatten, am zahlreichsten aber die, die beim<br />

Kampfe abseits geblieben waren. Neben Arbeitern, Soldaten und städtischem Kleinvolk<br />

waren hier Studenten, Minister, Gesandte, solide Bürger, Journalisten, Redner, Häupter<br />

aller Parteien. Rote Särge schwebten auf den Händen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten aus den<br />

Stadtbezirken dem Marsfelde zu. Als man die Särge in die Gruft senkte, ertönte von <strong>der</strong><br />

Peter-Paul-Festung her, die gewaltigen Volksmassen erschütternd, <strong>der</strong> erste Trauersalut.<br />

Die Kanonen donnerten auf neue Art: Unsere Kanonen, unser Salut. Der Wyborger<br />

Bezirk trug 51 rote Särge. Das war nur ein Teil <strong>der</strong> Opfer, auf die er stolz war. Im Zuge<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 216


<strong>der</strong> Wyborger, dem dichtesten von allen, ragten zahlreiche bolschewistische Fahnen<br />

hervor. Doch wehten sie friedlich neben den an<strong>der</strong>en. Auf dem Marsfeld selbst blieben<br />

nur die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung des Sowjets und <strong>der</strong> bereits verblichenen, aber ihrer<br />

eigenen Beisetzung hartnäckig wi<strong>der</strong>strebenden Reichsduma. An den Gräbern defilierten<br />

mit Bannern und Musikorchestern im Laufe des Tages wenigstens achthun<strong>der</strong>ttausend<br />

Mann vorbei. Und obwohl nach Ansicht <strong>der</strong> höchsten militärischen Autoritäten in <strong>der</strong><br />

vorgesehenen Zeit eine solche Menschenmasse nicht ohne größtes Chaos und katastrophale<br />

Wirbel hätte vorbeigehen können, verlief die Manifestation dennoch in vollster<br />

Ordnung, wie sie für solche revolutionäre Umzüge charakteristisch ist, bei denen das<br />

befriedigende Bewußtsein zum erstenmal vollbrachter großer Taten herrscht, verbunden<br />

mit <strong>der</strong> Hoffnung, nun werde alles besser sein. Nur diese Stimmung hielt die Ordnung<br />

aufrecht, denn die Organisation war noch schwach, unerfahren und ihrer selbst nicht<br />

sicher.<br />

Die Tatsache <strong>der</strong> Beerdigung war, sollte man meinen, eine genügende Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong><br />

Legende von <strong>der</strong> unblutigen <strong>Revolution</strong>. Und doch gab die bei <strong>der</strong> Beerdigung<br />

herrschende Stimmung teilweise jene Atmosphäre <strong>der</strong> ersten Tage wie<strong>der</strong>, aus <strong>der</strong> diese<br />

Legende entstanden war.<br />

Nach 25 Tagen - in dieser Zeit hatten die Sowjets viel an Erfahrung und Sicherheit<br />

gewonnen - fand die Feier des 1. Mai nach europäischer Zeitrechnung (am 18. April nach<br />

dem alten Stil) statt. Alle Städte im Lande waren von Versammlungen und Demonstrationen<br />

überschwemmt. Nicht nur die Industriebetriebe, son<strong>der</strong>n auch die Staats-, Stadt-, und<br />

die Semstwo-Institutionen feierten. In Mohilew, wo sich das Hauptquartier befand,<br />

schritten die Ritter des Georgskreuzes an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Demonstration. Die Kolonne des<br />

Stabes mit den nicht abgesetzten Zarengeneralen trug ihre Maiplakate. Das Fest des<br />

proletarischen Antimilitarismus verschmolz mit <strong>der</strong> revolutionär gefärbten Manifestation<br />

des Patriotismus. Die verschiedenen Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung brachten in das Fest ihre<br />

Note, doch alles zusammen vereinigte sich noch zu einem zwar äußerst verschwommenen,<br />

teils unwahren, aber im allgemeinen großartigen Ganzen.<br />

In den beiden Hauptstädten und den Industriezentren waren bei dem Fest die Arbeiter<br />

vorherrschend, und in ihrer Masse hoben sich schon deutlich - durch Banner, Plakate,<br />

Reden und Zwischenrufe - die festen Kerne des Bolschewismus ab. Über die riesige<br />

Fassade des Mariinski-Palais, <strong>der</strong> Unterkunft <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, spannte sich<br />

ein herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> roter Streifen mit <strong>der</strong> Aufschrift: »Es lebe die Dritte<br />

<strong>Internationale</strong>!« Die Behörden, die ihre administrative Schüchternheit noch nicht<br />

abgeworfen hatten, konnten sich nicht entschließen, dieses unangenehme und besorgniserregende<br />

Plakat zu entfernen. Es schien, als feierten alle. Soweit sie konnte, feierte auch<br />

die aktive Armee. Berichte trafen ein über Versammlungen, Reden, Fahnen und revolutionäre<br />

Lie<strong>der</strong> in den Schützengräben. Es gab auch Wi<strong>der</strong>hall von deutscher Seite.<br />

Der Krieg ging noch nicht dem Ende zu, im Gegenteil, er erweiterte seine Kreise. War<br />

doch vor kurzem, gerade am Tage <strong>der</strong> Beisetzung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sopfer, ein ganzer<br />

Kontinent dem Kriege beigetreten, um ihm einen neuen Schwung zu verleihen. Zur<br />

gleichen Zeit nahmen in allen Gegenden Rußlands mit den Soldaten auch Kriegsgefangene<br />

an den Kundgebungen teil, unter gemeinsamem Banner, manchmal auch mit<br />

gemeinsamer Hymne in verschiedenen Sprachen. In diesem unübersehbaren Fest, einem<br />

Hochwasser ähnlich, das Klassen-, Partei- und Ideenumrisse überschwemmte, war die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 217


gemeinsame Demonstration <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Soldaten und <strong>der</strong> österreichischen und<br />

deutschen Gefangenen ein greller hoffnungserregen<strong>der</strong> Faktor, <strong>der</strong> den Glauben weckte,<br />

die <strong>Revolution</strong> verbürge trotz allem irgendeine bessere Welt.<br />

Gleich <strong>der</strong> Märzbeisetzung verlief auch die Maifeier in völliger Ordnung, ohne Zusammenstöße<br />

und Opfer, wie ein "allnationales" Fest. Das aufmerksame Ohr jedoch konnte<br />

mühelos aus den Reihen <strong>der</strong> Soldaten und Arbeiter eine ungeduldige und sogar drohende<br />

Note vernehmen. Das Leben werde immer schwerer. Und in <strong>der</strong> Tat: die Preise wuchsen<br />

bedrohlich, die Arbeiter fordenen feste Minimallöhne, die Unternehmer wi<strong>der</strong>setzten<br />

sich, die Konflikte in den Betrieben nahmen ununterbrochen zu. Die Ernährungslage<br />

verschlechterte sich, die Brotration wurde kleiner, sogar für Graupen führte man Karten<br />

ein. Auch in <strong>der</strong> Garnison wuchs die Unzufriedenheit. Der Kreisstab beabsichtigte, durch<br />

Entfernung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile aus Petrograd die Soldaten unschädlich zu<br />

machen. In <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> gesamten Garnison vom 17. April verlangten Soldaten,<br />

die die feindliche Absicht errieten, Einstellung des Abtransports von Truppenteilen: diese<br />

For<strong>der</strong>ung wird sich künftig bei je<strong>der</strong> neuen Krise <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in immer schärferer<br />

Form erheben. Doch die Wurzel allen Unheils bleibt <strong>der</strong> Krieg, dessen Ende nicht<br />

abzusehen ist. Wann wird die <strong>Revolution</strong> Frieden bringen? Warum schauen Kerenski<br />

und Zeretelli zu? Immer aufmerksamer lauschten die Massen den Bolschewiki, lauernd,<br />

abwartend blickten sie zu ihnen hin, die einen noch halb feindselig, die an<strong>der</strong>en bereits<br />

vertrauensvoll. Unter <strong>der</strong> Feiertagsdisziplin verbarg sich eine gespannte Stimmung; in<br />

den Massen gärte es.<br />

Aber niemand, auch nicht die Autoren des Transparentes am Mariinski-Palais, ahnte,<br />

daß schon die nächsten zwei, drei Tage die Hülle nationaler Einheit, die die <strong>Revolution</strong><br />

umgab, erbarmungslos zerreißen würden. Die bedrohlichen Ereignisse, <strong>der</strong>en Unvermeidlichkeit<br />

viele vorausgesehen, niemand aber so bald erwartet hatte, brachen überraschend<br />

herein. Den Anstoß dazu gab die Außenpolitik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, das<br />

heißt das Problem des Krieges. Kein an<strong>der</strong>er als Miljukow hat das Zündholz an den<br />

Docht gelegt.<br />

Die <strong>Geschichte</strong> des Zündholzes und des Dochtes: Am Tage des Eintritts Amerikas in<br />

den Krieg entwickelte <strong>der</strong> Außenminister <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, <strong>der</strong> nun Mut<br />

geschöpft hatte, den Journalisten sein Programm: Eroberung Konstantinopels, Eroberung<br />

Armeniens, Aufteilung Österreichs und <strong>der</strong> Türkei, Eroberung Nordpersiens und darüber<br />

hinaus selbstverständlich das Recht <strong>der</strong> Nationen auf Selbstbestimmung. »Bei jedem<br />

Hervortreten«, deutet Historiker Mijukow den Minister Miljukow, »unterstrich er<br />

entschieden die pazifistischen Ziele des Befreiungkrieges, aber er brachte sie stets in<br />

engste Verbindung mit den nationalen Aufgaben und Interessen Rußlands.« Das Interview<br />

scheuchte die Versöhnler auf »Wann wird die Außenpolitik <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung sich endlich von Heuchelei befreien?« entrüstete sich die Zeitung <strong>der</strong><br />

Menschewiki. »Weshalb verlangt die Provisorische Regierung von den alliierten Regierungen<br />

nicht den offenen und entschiedenen Verzicht auf Annexionen?« Als Heuchelei<br />

betrachteten diese Menschen die offene Sprache des Räubers. Sie wären bereit gewesen,<br />

in einer pazifistischen Verschleierung des Appetits die Befreiung von Heuchelei zu<br />

erblicken. Der über die Erregung <strong>der</strong> Demokratie erschrockene Kerenski beeilte sich,<br />

mittels des Pressebüros verlauten zu lassen: das Programm Miljukows sei dessen persönliche<br />

Ansicht. Daß <strong>der</strong> Autor dieser persönlichen Ansicht Außenminister war, galt offen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 218


ar als purer Zufall.<br />

Zeretelli, <strong>der</strong> das Talent besaß, jede Frage zu einem Gemeinplatz zu machen, bestand<br />

nun auf <strong>der</strong> Notwendigkeit einer Regierungserklärung, daß <strong>der</strong> Krieg für Rußland<br />

ausschließlich ein Verteidigungskrieg sei. Der Wi<strong>der</strong>stand Miljukows und zum Teil<br />

Gutschkows wurde gebrochen, und am 27. März kam die Regierung mit folgen<strong>der</strong><br />

Deklaration nie<strong>der</strong>: »Das Ziel des freien Rußland ist nicht Herrschaft über an<strong>der</strong>e<br />

Völker, nicht Enteignung ihres Nationalbesitzes, nicht gewaltsame Eroberung fremden<br />

Territoriums«, sicher aber »restlose Einhaltung <strong>der</strong> unseren Alliierten gegenüber<br />

übernommenen Verpflichtungen«. Auf diese Weise verkündeten die Zaren und Propheten<br />

<strong>der</strong> Doppelherrschaft ihre Absicht, zusammen mit den Vatermör<strong>der</strong>n und Ehebrechern<br />

ins Himmelreich zu kommen. Diesen Herren fehlte nebetk allem an<strong>der</strong>en das Gefühl für<br />

das Lächerliche. Die Erklärung vom 27. März wurde nicht nur von <strong>der</strong> gesamten<br />

Versöhnlerpresse begrüßt, son<strong>der</strong>n auch von <strong>der</strong> 'Prawda' Kamenew-Stalins, die vier<br />

Tage vor Lenins Ankunft in einem Leitartikel schrieb: »Klar und deutlich hat die Provisorische<br />

Regierung ... vor dem ganzen Volke erklärt, daß das Ziel des freien Rußland<br />

nicht die Herrschaft über an<strong>der</strong>e Völker ist« usw. Die englische Presse legte sofort mit<br />

Befriedigung den Verzicht Rußlands auf Annexionen als Verzicht auf Konstantinopel<br />

aus, wobei sie natürlich keinesfalls daran dachte, die Enthaltungsformel auch auf sich zu<br />

beziehen. Der russische Gesandte in London schlug Alarm und verlangte von Moskau<br />

dahingehende Erläuterungen, daß das Prinzip »Frieden ohne Annexionen von Rußland<br />

nicht bedingungslos angenommen wird, son<strong>der</strong>n nur insofern es unseren Lebensinteressen<br />

nicht wi<strong>der</strong>spricht«. Aber das war ja gerade Miljukows Formel: das Versprechen,<br />

nicht zu rauben, was wir nicht brauchen können. Im Gegensatz zu London unterstützte<br />

Paris nicht nur Miljukow, sondem trieb ihn durch Paléologue an zu einer entschlosseneren<br />

Politik den Sowjets gegenüber.<br />

Der damalige Premier Ribot, außer sich über die kläglichen Litaneien Petrograds,<br />

befragte London und Rom, ob »sie es nicht für notwendig erachten, die Provisorische<br />

Regierung aufzufor<strong>der</strong>n, mit jeglicher Zweideutigkeit (équivoque) ein Ende zu machen«.<br />

London erwi<strong>der</strong>te, es sei klüger, »den nach Rußland entsandten französischen und englischen<br />

<strong>Sozialisten</strong> Zeit zu lassen, auf ihre Gesinnungsgenossen einzuwirken«.<br />

Die Entsendung <strong>der</strong> alliierten <strong>Sozialisten</strong> nach Rußland war auf Initiative des <strong>russischen</strong><br />

Hauptquartiers, das heißt <strong>der</strong> alten zaristischen Generalität, unternommen worden.<br />

»Wir rechnen auf ihn«, schrieb Ribot über Albert Thomas, »um den Beschlüssen <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung einige Festigkeit zu verleihen.« Miljukow jedoch beklagte<br />

sich, Thomas halte sich zu eng an die Sowjetführer. Ribot antwortete darauf, Thomas sei<br />

»aufrichtig bestrebt«, den Standpunkt Miljukows zu unterstützen, versprach aber, seinen<br />

Abgesandten zu einer noch aktiveren Unterstützung zu veranlassen.<br />

Die durch und durch leere Deklaration vorn 27. März beunruhigte immerhin die<br />

Alliierten, die in ihr eine Konzession an den Sowjet erblickten. Aus London drohte man,<br />

den Glauben »an die Kampfkraft Rußlands« zu verlieren. Paléologue beschwerte sich<br />

über die »Schüchternheit und Unbestimmtheit« <strong>der</strong> Deklaration. Gerade das brauchte<br />

Miljukow. In <strong>der</strong> Hoffnung auf Hilfe <strong>der</strong> Alliierten ließ sich Mitjukow in ein großes<br />

Spiel ein, das seine Geldmittel weit überstieg. Sein Leitgedanke war, den Krieg gegen die<br />

<strong>Revolution</strong> zu wenden, die nächste Aufgabe auf diesem Wege - die Demokratie zu<br />

demoralisieren. Doch begannen die Versöhnler gerade im April in Fragen <strong>der</strong> Außenpoli-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 219


tik immer nen und betriebsamer zu werden, denn man bedrängte sie unablässig von<br />

unten. Die Regierung brauchte eine Anleihe. Die Massen jedoch waren bei aller<br />

Stimmung zugunsten <strong>der</strong> Landesverteidigung nur bereit, eine Friedensanleihe, nicht aber<br />

eine Kriegsanleihe zu unterstützen. Man mußte ihnen mindestens den Schein einer<br />

Friedensperspektive zeigen.<br />

Indem er die Rettungspolitik <strong>der</strong> Gemeinplätze entwickelte, schlug Zeretelli vor, von<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu for<strong>der</strong>n, daß sie an die Alliierten eine <strong>der</strong> innerpolitischen<br />

Erklärung vom 27. März analoge Note richte. Dafür verpflichtete sich das Exekutivkomitee,<br />

im Sowjet die Abstimmung für eine "Freiheitsanleihe" vorzunehmen.<br />

Miljukow ging auf den Betrug ein: Anleihe gegen Note, - beschloß aber, den Handel<br />

doppelt auszunutzen. Unter dem Schein einer Erläuterung zu <strong>der</strong> "Erklärung" desavouierte<br />

die Note diese. Sie betonte, daß die Friedensphrasen <strong>der</strong> neuen Macht »nicht den<br />

geringsten Vorwand geben, zu glauben, daß die Rolle Rußlands im Gesamtkampfe <strong>der</strong><br />

Alliierten durch die vollzogene Umwälzung eine Schwächung erlitten hat. Ganz im<br />

Gegenteil, - das allgemeine Bestreben des Volkes, den Weltkrieg bis zum endgültigen<br />

Siege zu führen, hat sich nur verstärkt« ... Die Note sprach ferner die Überzeugung aus,<br />

daß die Sieger »das Mittel finden werden, jene Garantiert und Sanktionen zu erlangen,<br />

die notwendig sind zur Vermeidung neuer blutiger Zusammenstöße in <strong>der</strong> Zukunft«. Die<br />

Worte »Garantien« und »Sanktionen«, die auf Drängen Thomas' aufgenommen wurden,<br />

bedeuteten in <strong>der</strong> Diebessprache <strong>der</strong> Diplomatie, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> französischen, nichts<br />

an<strong>der</strong>es als Annexionen und Kontributionen. Am Tage <strong>der</strong> Maifeier übergab Miljukow<br />

seine unter dem Diktat <strong>der</strong> alliierten Diplomatie verfaßte Note telegraphisch an die<br />

Regierungen <strong>der</strong> Entente, und erst danach wurde sie dem Exekutivkomitee übermittelt<br />

und gleichzeitig den Zeitungen. Die Kontaktkommission war von <strong>der</strong> Regierung<br />

übergangen worden, und die Führer des Exekutivkomitees gerieten in die Lage einfacher<br />

Bürger. Erfuhren die Versöhnler aus <strong>der</strong> Note auch nichts, was sie nicht schon vorher<br />

von Miljukow gehört hatten, so konnten sie doch den mit Vorbedacht kindlichen Akt<br />

nicht übersehen. Die Note entwaffnete sie vor den Massen und stellte sie direkt vor die<br />

Wahl zwischen Bolschewismus und Imperialismus. Lag nicht gerade darin Miljukows<br />

Absicht? Alles spricht dafür, daß seine Absicht noch weiter ging.<br />

Schon seit März war Miljukow mit allen Mitteln bestrebt, den unglückseligen Plan <strong>der</strong><br />

Eroberung <strong>der</strong> Dardanellen durch eine russische Landung wie<strong>der</strong> aufleben zu lassen. Er<br />

führte darüber zahlreiche Verhandlungen mit General Alexejew und suchte diesen zur<br />

energischen Durchführung <strong>der</strong> Operation zu bewegen, die, seiner Meinung nach, die<br />

gegen Annexionen protestierende vor eine vollendete Tatsache stellen würde. Die Note<br />

Miljukow's vom 18. April war gleichsam eine Parallellandung auf dem schlecht verteidigten<br />

Ufer <strong>der</strong> Demokratie. Zwei Aktionen - die militärische und die politische - ergänzten<br />

sich und rechtfertigten einan<strong>der</strong> für den Fall eines Sieges. Mit Siegern wird im<br />

allgemeinen nicht gerechtet. Doch Miljukow war es nicht beschieden, Sieger zu bleiben.<br />

Zur Landung waren 200.000 bis 300.000 Soldaten nötig. Die Sache scheiterte indes an<br />

einer Kleinigkeit: <strong>der</strong> Weigerung <strong>der</strong> Soldaten. Die <strong>Revolution</strong> zu verteidigen waren sie<br />

bereit, nicht aber anzugreifen. Das Dardanellenattentat Miljukows erlitt Fiasko. Und dies<br />

untergrub alle seine weiteren Pläne. Man muß zugeben, sie waren nicht schlecht berechnet<br />

... unter <strong>der</strong> Voraussetzung des Sieges.<br />

Am 17. April fand in Petrograd eine grauenerregende patriotische Demonstration <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 220


Kriegsinvaliden statt: eine riesige Zahl Verwundeter aus den Lazaretten <strong>der</strong> Hauptstadt,<br />

beinlose, armlose, bandagierte Soldaten, bewegte sich zum Taurischen Palais. Die nicht<br />

gehen konnten, wurden in Lastautos gefahren. Auf den Fahnen stand: "Krieg bis zum<br />

Ende." Das war eine Verzweiflungsdemonstration <strong>der</strong> menschlichen Überreste des<br />

imperialistischen Krieges, die nicht wollten, daß die <strong>Revolution</strong> die von ihnen gebrachten<br />

Opfer für sinnlos erkläre. Doch hinter den Demonstranten stand die Kadettenpartei,<br />

genauer gesagt Miljukow, <strong>der</strong> für morgen seinen großen Schlag vorbereitete.<br />

Am 19., nachts, beriet das Exekutivkomitee in einer außerordentlichen Sitzung die am<br />

Vorabend den alliierten Regierungen übermittelte Note. »Nach <strong>der</strong> ersten Lesung«,<br />

berichtet Stankewitsch, »wurde von allen einmütig und ohne Diskussion anerkannt, die<br />

Note sei etwas ganz an<strong>der</strong>es, als das Exekutivkomitee erwartet hatte.« Für die Note aber<br />

war die Regierung in ihrer Gesamtheit, einschließlich Kerenskis, verantwortlich. Man<br />

mußte folglich zuallererst die Regierung retten. Zeretelli begann, die unchiffrierte Note<br />

zu "dechiffrieren" und immer mehr und mehr Vorzüge an ihr zu entdecken. Skobeljew<br />

wies tiefsinnig nach, man könne »völlige Übereinstimmung« zwischen den Bestrebungen<br />

<strong>der</strong> Demokratie und <strong>der</strong> Regierung überhaupt nicht verlangen. Die Weisen quälten sich<br />

bis zum Morgengrauen, fanden aber keine Lösung. Gegen Morgen ging man<br />

auseinan<strong>der</strong>, um sich nach einigen Stunden wie<strong>der</strong> zu versammeln. Man rechnete offenbar<br />

mit <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Zeit, jegliche Wunden zu heilen.<br />

Am Morgen erschien die Note in allen Zeitungen. Die 'Rjetsch' kommentierte sie im<br />

Geiste reiflich erwogener Provokation. Die sozialistische Presse ,äußerte sich höchst<br />

gereizt. Die menschewistische 'Rabotschaja Gaseta' ('Arbeiterzeitung'), die gemeinsam<br />

mit Zeretelli und Skobeljew noch nicht Zeit gefunden hatte, sich von dem Dunst <strong>der</strong><br />

nächtlichen Empörung zu erholen, schrieb, die Provisorische Regierung veröffentliche<br />

einen »Akt, <strong>der</strong> ein Hohn auf die Bestrebungen <strong>der</strong> Demokratie ist«, und for<strong>der</strong>te vom<br />

Sowjet entschlossene Maßnahmen, »um seine schrecklichen Folgen abzuwenden«. In<br />

diesen Sätzen war <strong>der</strong> wachsende Druck <strong>der</strong> Bolschewiki deutlich fühlbar.<br />

Das Exekutivkomitee nahm seine Sitzung wie<strong>der</strong> auf, jedoch nur, um sich wie<strong>der</strong> von<br />

seiner Unfähigkeit, irgendeinen Entschluß zu fassen, zu überzeugen. Es wurde beschlossen,<br />

eine außerordentliche Plenarsitzung des Sowjets »zur Information« einzuberufen, in<br />

Wirklichkeit aber, um den Grad <strong>der</strong> Unzufriedenheit in den unteren Schichten herauszufühlen<br />

und Zeit zu gewinnen für die eigenen Schwankungen. In <strong>der</strong> Zwischenzeit plante<br />

man allerhand Kontaktsitzungen, die die Frage zunichte machen sollten.<br />

Doch in dieses rituale Getriebe <strong>der</strong> Doppelherrschaft mischte sich unerwartet eine<br />

dritte Macht ein: die Massen gingen mit Waffen in den Händen auf die Straße. Zwischen<br />

den Bajonetten <strong>der</strong> Soldaten tauchten Plakate auf: »Nie<strong>der</strong> mit Miljukow!« Auf an<strong>der</strong>en<br />

Plakaten prangte Gutschkow. Es war schwer, in den entrüsteten Kolonnen die Demonstranten<br />

vom 1. Mai wie<strong>der</strong>zuerkennen.<br />

Die Geschichtsschreiber nennen diese Bewegung »elementar« in dem bedingten Sinne,<br />

daß keine Partei die Initiative <strong>der</strong> Aktion ergriffen hatte. Der unmittelbare Aufruf, auf die<br />

Straße zu gehen, stammte von einem gewissen Linde, <strong>der</strong> damit seinen Namen in die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eingetragen hat. »Der Gelehrte, Mathematiker und<br />

Philosoph« Linde stand außerhalb je<strong>der</strong> Partei, war mit ganzer Seele auf seiten <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> und wünschte heiß, daß sie erfülle, was sie verhieß. Miljukows Note und <strong>der</strong><br />

Artikel <strong>der</strong> 'Prawda' hatten ihn empört. »Ohne sich mit jemand beraten zu haben«,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 221


erzählt sein Biograph, »schritt er sofort zu Taten ... begab sieh zum Finnländischen<br />

Regiment, rief das Komitee zusammen und schlug vor, mit dem ganzen Regiment<br />

sogleich zum Mariinski-Palais zu ziehen ... Der Vorschlag Lindes fand Zustimmung, und<br />

bereits um 3 Uhr nachmittags bewegte sich eine imposante Demonstration <strong>der</strong> Finnlän<strong>der</strong><br />

mit herausfor<strong>der</strong>nden Plakaten durch die Straßen Petrograds.« Dem Finnländischen<br />

folgten die Soldaten des 180. Reserveregiments, <strong>der</strong> Moskauer, Pawlowsker, Kexholmer<br />

Regimenter, die Matrosen <strong>der</strong> 2. Baltischen Flottenequipage, insgesamt 25.000-30.000<br />

Mann, alle in Waffen. In den Arbeitervierteln entstand Bewegung, man stellte die Arbeit<br />

ein und ging betriebsweise hinter den Regimentern her auf die Straßen.<br />

»Die Mehrzahl <strong>der</strong> Soldaten wußte nicht, weshalb sie gekommen war«, versicherte<br />

Miljukow, als habe er Zeit gehabt, sie zu befragen. »Außer den Truppen beteiligten sich<br />

an <strong>der</strong> Demonstradon halbwüchsige Arbeiter, welche laut [!] erklärten, man habe jedem<br />

von ihnen 10 bis 15 Rubel dafür bezahlt.« Die Quelle <strong>der</strong> Bezahlung ist klar: »Die Aufgabe,<br />

die beiden Minister [Miljukow und Gutschkow] zu entfernen, war direkt von<br />

Deutschland gestellt worden.« Mijukow gab diese tiefsinnige Erklärung nicht in <strong>der</strong><br />

Hitze des Aprilkampfes ab, son<strong>der</strong>n drei Jahre nach den Oktoberereignissen, die zur<br />

Genüge gezeigt haben, daß für niemand die Notwendigkeit bestand, den Haß <strong>der</strong> Volksmassen<br />

gegen Miljukow mit hohem Tageslohn zu bezahlen.<br />

Die überraschende Schärfe <strong>der</strong> Aprildemonstration läßt sich mit <strong>der</strong> Unmittelbarkeit<br />

<strong>der</strong> Massenreaktion auf den Betrug von oben erklären. »Solange die Regierung den<br />

Frieden nicht erlangt hat, muß man sich verteidigen.« Das wurde ohne Enthusiasmus,<br />

aber mit Überzeugung gesagt. Man nahm an, oben werde alles getan, um den Frieden<br />

herbeizuführen. Allerdings wurde seitens <strong>der</strong> Bolschewiki behauptet, die Regierung<br />

wolle die Fortsetzung des Krieges zu räuberischen Zwecken. Ist das aber denkbar? Und<br />

Kerenski? »Wir kennen die Sowjetführer vom Februar her, sie sind als erste zu uns in die<br />

Kasernen gekommen, sie sind für Frieden. Lenin ist aus Berlin eingetroffen, Zeretelli<br />

aber war in <strong>der</strong> Katorga. Man muß sich gedulden ...« Gleichzeitig nahmen die fortgeschrittenen<br />

Betriebe und Regimenter immer energischer die bolschewistischen Parolen<br />

<strong>der</strong> Friedenspolitik auf: Veröffentlichung <strong>der</strong> Geheimverträge und Bruch mit den Eroberungsplänen<br />

<strong>der</strong> Entente, offenes Angebot eines sofortigen Friedens an alle kriegführenden<br />

Län<strong>der</strong>. In diese verwickelten und schwankenden Stimmungen fiel die Note des 18.<br />

April. Wie? Man ist also oben nicht für Frieden, son<strong>der</strong>n für die alten Kriegsziele? Also<br />

wir warten und leiden vergeblich? Nie<strong>der</strong>! ... Aber mit wem nie<strong>der</strong>? Haben tatsächlich<br />

die Bolschewiki recht? Unmöglich. Aber was ist dann mit <strong>der</strong> Note? Verkauft wirklich<br />

jemand unsere Haut an die Verbündeten des Zaren? Aus <strong>der</strong> einfachen Gegenüberstellung<br />

<strong>der</strong> kadettischen und versöhnlerischen Presse ergab sich, daß Miljukow das allgemeine<br />

Vertrauen täuschte und gemeinsam mit Lloyd George und Ribot Eroberungspolitik<br />

treiben wollte. Auch Kerenski hatte ja erklärt, das Attentat auf Konstantinopel sei Miljukows<br />

»persönliche Ansicht«. So entstand die Bewegung.<br />

Doch war sie nicht einheitlich. Einzelne Hitzköpfe aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre<br />

überschätzten Umfang und politische Reife <strong>der</strong> Bewegung um so mehr, je greller und<br />

überraschen<strong>der</strong> sie durchbrach. Bei den Truppenteilen und in den Betrieben entwickelten<br />

die Bolschewiki große Energie. Die For<strong>der</strong>ung »Hinweg mit Miljukow«, die gewissermaßen<br />

das Minimalprogramm <strong>der</strong> Bewegung war, ergänzten sie durch Plakate gegen die<br />

Provisorische Regierung überhaupt, wobei verschiedene Elemente es verschieden<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 222


verstanden: die einen als eine Propagandalosung, die an<strong>der</strong>en als Aufgabe des Tages. Die<br />

von den bewaffneten Soldaten und Matrosen auf die Straßen getragene Losung »Nie<strong>der</strong><br />

mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung« mußte unvermeidlich in die Demonstration eine<br />

Strömung des bewaffneten Aufstandes hineinbringen. Beträchtliche Arbeiter- und Soldatengruppen<br />

waren nicht abgeneigt, die Provisorische Regierung sofort hinwegzufegen.<br />

Von ihnen stammten die Versuche, in das Mariinski-Palais einzudringen, seine Ausgänge<br />

zu besetzen und die Minister zu verhaften. Zu <strong>der</strong>en Rettung wurde Skobeljew abkommandiert,<br />

<strong>der</strong> seine Mission um so erfolgreicher erfüllen konnte, als das Mariinski-Palais<br />

leer war.<br />

Infolge Gutschkows Erkrankung tagte die Regierung dieses Mal in seiner Privatwohnung.<br />

Doch nicht dieser Zufall hatte die Minister vor Verhaftung bewahrt; sie waren von<br />

ihr gar nicht ernstlich bedroht gewesen. Die Armee von 25.000 bis 30.000 Soldaten, die<br />

auf die Straßen gegangen war, um gegen die Kriegsverlängerer zu kämpfen, hätte<br />

vollständig genügt, auch eine soli<strong>der</strong>e Regierung zu stürzen, als die, an <strong>der</strong>en Spitze<br />

Fürst Lwow stand. Die Demonstranten aber hatten sich dieses Ziel nicht gestellt. Sie<br />

beabsichtigten eigentlich nur, mit <strong>der</strong> Faust durch das Fenster zu drohen, damit die hohen<br />

Herren aufhören, die Zähne gegen Konstantinopel zu fletschen, und ernstlich an die<br />

Friedensfrage herangehen. Damit glaubten die Soldaten, Kerenski und Zeretelli gegen<br />

Miljukow zu unterstützen.<br />

In <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Regierung erschien General Kornilow, herichtete über die bewaffneten<br />

Demonstrationen und erklärte als Kommandieren<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks,<br />

über hinreichend Kräfte zu verfügen, um mit bewaffneter Hand die Meuterei nie<strong>der</strong>zuwerfen:<br />

es hänge nur von dem Befehl ab. Koltschak, <strong>der</strong> zufällig in dieser Regierungssitzung<br />

anwesend war, bekundete später in dem Prozeß, <strong>der</strong> seiner Erschießung voranging,<br />

Fürst Lwow und Kerenski seien gegen den Versuch eines militärischen Strafgerichtes<br />

über die Demonstranten gewesen. Miljukow sprach es nicht direkt aus, zog aber seine<br />

Schlußfolgerung in dem Sinne, die Herren Minister mochten über die Lage urteilen wie<br />

immer, das würde ihre Übersiedlung ins Gefängnis nicht verhin<strong>der</strong>n. Es konnte kein<br />

Zweifel darüber bestehen, daß Kornilow in Übereinstimmung mit dem Kadettenzentrum<br />

handelte.<br />

Den versöhnlerischen Führern gelang es mühelos, die demonstrierenden Soldaten zur<br />

Räumung des Platzes vor dem Mariinski-Palais zu bewegen und sie sogar in die Kasernen<br />

zurückzuleiten. Die in <strong>der</strong> Stadt entstandene Erregung ging jedoch nicht in ihre Ufer<br />

zurück. Es versammelten sich Massen, Meetings wurden abgehalten, an den Straßenkreuzungen<br />

gab es Diskussionen, in den Trams teilte man sich in Anhänger und Gegner<br />

Miljukows. Auf dem Newskij-Prospekt und in den anliegenden Straßen agitierten<br />

bürgerliche Redner gegen Lenin, <strong>der</strong> von Deutschland geschickt worden sei, den großen<br />

Patrioten Miljukow zu stürzen. In den Randbezirken und den Arbeitervierteln bemühten<br />

sich die Bolschewiki, die Empörung gegen die Note und ihren Autor auf die gesamte<br />

Regierung auszudehnen.<br />

Um 7 Uhr abends versammelte sich das Plenum des Sowjets. Die Führer wußten nicht,<br />

was sie dem vor leidenschaftlicher Spannung bebenden Auditorium sagen sollten.<br />

Tschcheidse berichtete weitschweifend, es stehe nach <strong>der</strong> Sitzung eine Zusammenkunft<br />

mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bevor. Tschernow schreckte mit dem nahenden<br />

Bürgerkrieg. Feodorow, ein Metallarbeiter, das Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 223


Bolschewiki, erwi<strong>der</strong>te, <strong>der</strong> Bürgerkrieg sei bereits da, es bleibe den Sowjets nur übrig,<br />

sich auf ihn zu stützen und die Macht zu übernehmen. »Das waren neue und damals sehr<br />

schreckliche Worte«, schreibt Suchanow. »Sie trafen den Kern <strong>der</strong> Stimmungen und<br />

fanden diesmal einen solchen Wi<strong>der</strong>hall, wie ihn die Bolschewiki we<strong>der</strong> früher, noch<br />

lange Zeit nachher zu verzeichnen hatten.«<br />

Zum Höhepunkt <strong>der</strong> Sitzung wurde, unerwartet für alle, die Rede des Vertrauten<br />

Kerenskis, des liberalen <strong>Sozialisten</strong> Stankewitsch: »Weshalb, Genossen, sollen wir<br />

"aufmarschieren"?« fragte er. »Gegen wen sollen wir Gewalt anwenden? Die ganze<br />

Macht, das seid ja ihr und die Massen, die hinter euch stehen ... Schaut hin, es fehlen<br />

jetzt noch fünf Minuten bis 7 Uhr [Stankewitsch streckt die Hand nach <strong>der</strong> Wanduhr aus,<br />

<strong>der</strong> ganze Saal blickt in die gleiche Richtung). Verfügt, daß die Provisorische Regierung<br />

verschwinde, daß sie demissioniere. Wir geben es telephonisch weiter, und in fünf<br />

Minuten wird sie ihre Vollmachten nie<strong>der</strong>legen. Wozu da Gewalt, Aktionen,<br />

Bürgerkrieg?« Im Saal stürmischer Applaus, begeisterte Zwischenrufe. Der Redner<br />

wollte den Sowjet durch die extremen Folgerungen aus <strong>der</strong> entstandenen Lage schrecken,<br />

erschrak aber selbst vor dem Effekt seiner Rede. Die unverhoffte Wahrheit <strong>der</strong> Worte<br />

über die Macht <strong>der</strong> Sowjets hob die Versammlung hoch über das klägliche Getriebe <strong>der</strong><br />

Führer, die am meisten darum besorgt waren, den Sowjet zu hin<strong>der</strong>n, irgendeinen<br />

Beschluß zu fassen. »Wer wird die Regierung ersetzen?« erwi<strong>der</strong>te auf den Applaus<br />

einer <strong>der</strong> Redner. »Wir? Aber uns zittern die Hände ...« Das war eine unvergleichliche<br />

Charakteristik <strong>der</strong> Versöhnler, <strong>der</strong> hochtrabenden Führer mit den zitternden Händen.<br />

Der Vorsitzende des Ministerrats, Ministerpräsident Lwow, gab, gleichsam um Stankewitseh<br />

von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite zu ergänzen, am nächsten Tage folgende Erklärung ab:<br />

»Die Provisorische Regierung fand bis jetzt unablässig Unterstützung seitens des führenden<br />

Organs des Sowjets. In den letzten zwei Wochen ... ist die Regierung unter Verdacht<br />

gestellt. Unter solchen Bedingungen ... ist es für die Provisorische Regierung das beste,<br />

zurückzutreten.« Wie<strong>der</strong> sehen wir, welches die reale Verfassung des Februar-Rußland<br />

gewesen ist!<br />

Im Mariinski-Palais fand die Zusammenkunft des Exekutivkomitees mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung statt. In seiner Einführungsrede beklagte sich Fürst Lwow über den<br />

Feldzug, den die sozialistischen Kreise gegen die Regierung begonnen hätten, und sprach<br />

halb beleidigt, halb drohend von Demission. Der Reihe nach schil<strong>der</strong>ten die Minister die<br />

Schwierigkeiten, zu <strong>der</strong>en Anhäufung sie aus allen Kräften beigetragen hatten. Dem<br />

Kontaktredeschwall den Rücken kehrend, sprach Miljukow vom Balkon aus zu kadettischen<br />

Demonstrationen: »Als ich die Plakate mit den Aufschriften "Nie<strong>der</strong> mit Miljukow"<br />

sah ... fürchtete ich nicht für Miljukow. Ich fürchtete für Rußland.« So gibt <strong>der</strong> Historiker<br />

Miljukow die schlichten Worte wie<strong>der</strong>, die <strong>der</strong> Minister Miljukow vor <strong>der</strong> auf dem Platze<br />

versammelten Menge sprach. Zeretelli for<strong>der</strong>te von <strong>der</strong> Regierung eine neue Note.<br />

Tschernow fand einen genialen Ausweg, indem er Miljukow vorschlug, in das Ministerium<br />

für Volksbildung überzugehen. Als Objekt <strong>der</strong> Geographe war Konstantinopel<br />

jedenfalls ungefährlicher denn als Objekt <strong>der</strong> Diplomatie. Miljukow weigerte sich aber<br />

entschieden, sowohl zur Wissenschaft zurückzukehren, wie eine neue Note zu schreiben.<br />

Die Führer des Sowjets ließen sich jedoch nicht lange bitten und gaben sich mit einer<br />

"Erläuterung" <strong>der</strong> alten Note zufrieden. Es blieb nur noch übrig, einige Phrasen zu<br />

finden, <strong>der</strong>en Verlogenheit hinreichend demokratisch verbrämt war, um die Lage - und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 224


damit gleichzeitig das Portefeuille Miljukows - als gerettet zu betrachten.<br />

Doch <strong>der</strong> unruhige Dritte wollte sich nicht beruhigen. Der Tag des 21. April brachte<br />

eine neue Erregungswelle, eine mächtigere als die des vorigen Tages. Jetzt rief bereits<br />

das Petrogra<strong>der</strong> Komitee <strong>der</strong> Bolschewiki zur Demonstration auf Trotz <strong>der</strong> Gegenagitation<br />

<strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre setzten sich ungeheuere Arbeitermassen<br />

von <strong>der</strong> Wyborger Seite und dann auch von an<strong>der</strong>en Bezirken nach dem Zentrum in<br />

Bewegung. Das Exekutivkomitee schickte autoritative Ruhestifter, mit Tschcheidse an<br />

<strong>der</strong> Spitze, den Demonstranten entgegen. Doch die Arbeiter wollten entschieden ihr Wort<br />

sprechen, und sie hatten was zu sagen. Ein bekannter liberaler Journalist beschrieb in <strong>der</strong><br />

'Rjetsch' die Arbeiterdemonstration auf dem Newskij: »Voran etwa 100 Bewaffnete;<br />

hinter ihnen geordnete Reihen unbewaffneter Männer und Frauen - Tausende von<br />

Menschen. Zu beiden Seiten lebende Ketten. Gesang. Ihre Gesichter verblüfften mich.<br />

Diese Tausende hatten ein Gesicht, das besessene, mönchische Gesicht <strong>der</strong> ersten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te des Christentums, unversöhnlich, erbarmungslos bereit zu Mord, Inquisition<br />

und Tod.« Der liberale Journalist hatte <strong>der</strong> Arbeiterrevolution in die Augen geschaut<br />

und einen Moment <strong>der</strong>en konzentrierte Entschlossenheit gespürt. Wie unähnlich sind<br />

diese Arbeiter den Miljukowschen - für 15 Rubel pro Tag von Ludendorff gekauften<br />

Halbwüchsigen!<br />

Wie am Vorabend gingen auch diesmal die Demonstranten nicht darauf aus, die Regierung<br />

zu stürzen, obwohl die Mehrzahl von ihnen sicherlich über diese Aufgabe schon<br />

ernstlich nachdachte und ein Teil bereit war, die Demonstration schon heute über die<br />

Stimmung <strong>der</strong> Mehrzahl hinaus mitzureißen. Tschcheidse ermahnte die Demonstranten,<br />

in ihre Stadtviertel umzukehren. Die Anführer aber antworteten barsch, die Arbeiter<br />

wüßten selbst, was sie zu tun hätten. Das war ein neuer Ton, und Tschcheidse wird sich<br />

in den nächsten Wochen an ihn gewöhnen müssen.<br />

Während die Versöhnler beschwichtigten und löschten, provozierten und schürten die<br />

Kadetten. Obwohl Kornilow gestern die Sanktion zur Waffenanwendung nicht erhalten<br />

hatte, gab er seinen Plan nicht nur nicht auf, son<strong>der</strong>n traf im Gegenteil gerade heute seit<br />

dem frühen Morgen Maßnahmen, um den Demonstranten Kavallerie und Artillerie entgegenzustellen.<br />

Im festen Vertrauen auf die Bravour des Generals hatten die Kadetten<br />

durch ein Flugblatt ihre Anhänger auf die Straße gerufen, offen bestrebt, die Sache zum<br />

entscheidenden Konflikt zu treiben. Wenn auch ohne erfolgreiche Landung an <strong>der</strong><br />

Dardanellenküste, setzte Miljukow mit Kornilow als Avantgarde und <strong>der</strong> Entente als<br />

schwere Reserve seine Offensive fort. Die hinter dem Rücken des Sowjets abgesandte<br />

Note und <strong>der</strong> Leitartikel <strong>der</strong> 'Rjetsch' sollten die Rolle <strong>der</strong> Emser Depesche des liberalen<br />

Kanzlers <strong>der</strong> Februarrevolution spielen. »Alle, die für Rußland und dessen Freiheit sind,<br />

müssen sich um die Provisorische Regierung zusammenschließen und sie unterstützen«,<br />

lautete <strong>der</strong> Aufruf des Zentralkomitees <strong>der</strong> Kadetten, <strong>der</strong> alle guten Bürger zum Kampf<br />

gegen die Anhänger des sofortigen Friedens auf die Straße rief.<br />

Der Newskij-Prospekt, die Haupta<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bourgeoisie, verwandelte sich in ein<br />

kompaktes kadettisches Meeting. Eine große Demonstration mit den Mitglie<strong>der</strong>n des<br />

kadettischen Zentralkomitees an <strong>der</strong> Spitze bewegte sich zum Mariinski-Palais. Man sah<br />

überall neue, soeben aus <strong>der</strong> Werkstatt gekommene Plakate: »Volles Vertrauen zur<br />

Provisorischen Regierung«, »Hoch Miljukow!« Die Minister sahen wie Gebunstagskin<strong>der</strong><br />

aus: es hatte sich herausgestellt, daß auch sie ihr "Volk" hatten, was um so mehr<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 225


auffiel, als die Abgesandten des Sowjets aus allen Kräften bemüht waren, die revolutionären<br />

Meetings aufzulösen, die Arbeiter- und Soldatendemonstrationen aus dem Zentrum<br />

in die Randbezirke abzuleiten und Kasernen und Fabriken vorn Ausmarsch zurückzuhalten.<br />

Unter <strong>der</strong> Flagge <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Regierung fand die erste offene und breite<br />

Mobilisierung <strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte statt. Im Zentrum <strong>der</strong> Stadt tauchten<br />

Lastautos mit bewaffneten Offizieren, Junkern, Studenten auf. Es marschierten die Ritter<br />

des Georgskreuzes. Die goldene Jugend organisierte auf dem Newskij ein Tribunal, das<br />

gleich an Ort und Stelle die Leninisten und »deutschen Spione« überführte. Es gab<br />

bereits Zusammenstöße und Opfer. Wie man berichtete, kam es zum ersten blutigen<br />

Zusammenprall, als Offiziere versuchten, Arbeitern ein Banner mit <strong>der</strong> Parole gegen die<br />

Provisorische Regierung zu entreißen. Die Zusammenstöße wurden immer erbitterter, es<br />

entstand eine Schießerei, die fast den ganzen Nachmittag dauerte. Niemand wußte genau,<br />

wer schoß und weshalb geschossen wurde. Aber es gab bereits Opfer dieser planlosen,<br />

teils böswilligen, teils panischen Schießerei. Die Temperatur erhitzte sich.<br />

Nein, dieser Tag ähnelte keinesfalls einer Manifestation nationaler Einheit. Zwei<br />

Welten standen einan<strong>der</strong> gegenüber. Die patriotischen Kolonnen, von <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />

gegen die Arbeiter und Soldaten auf die Straße gerufen, entstammten ausschließlich<br />

bürgerlichen Bevölkerungsschichten, dem Offiziersstande, <strong>der</strong> Beamtenschaft und <strong>der</strong><br />

Intelligenz. Zwei Menschenströme, für Konstantinopel und für den Frieden, kamen aus<br />

verschiedenen Stadtteilen hervor, verschieden ihrer sozialen Zusammensetzung nach,<br />

schon äußerlich einan<strong>der</strong> in nichts ähnlich, mit feindlichen Aufschriften auf den Plakaten<br />

prallten sie aneinan<strong>der</strong> und setzten Fäuste, Stöcke, sogar Feuerwaffen in Bewegung.<br />

Das Exekutivkomitee erhielt die sensationelle Nachricht, Kornilow lasse auf dem<br />

Schloßplatz Kanonen auffahren. Aus eigener Initiative des Kreiskommandierenden?<br />

Nein, <strong>der</strong> Charakter und die weitere Laufbahn Kornilows bezeugen, daß den wackeren<br />

General stets irgendwer an <strong>der</strong> Nase herumführte - eine Funktion, die diesmal die Kadettenführer<br />

ausübten. Nur im Hinblick auf die Einmischung Kornilows und um diese<br />

Einmischung notwendig zu machen, hatten sie auch ihre Massen auf die Straße gerufen.<br />

Ein junger Historiker hebt richtig hervor, daß Kornilows Versuch, die Militärschulen auf<br />

dem Schloßplatze zusammenzuziehen, nicht mit <strong>der</strong> wirklichen o<strong>der</strong> scheinbaren<br />

Notwendigkeit zusammenfiel, das Mariinski-Palais gegen eine feindliche Menge zu<br />

verteidigen, son<strong>der</strong>n mit dem Moment des höchsten Aufschwunges <strong>der</strong> kadettischen<br />

Manifestation.<br />

Der Plan Miljukow-Kornilow scheiterte jedoch, und zwar überaus schmählich. So<br />

einfältig die Führer des Exekutivkomitees auch waren, so konnte ihnen doch nicht<br />

verborgen bleiben, daß es um ihre Köpfe ging. Schon vor dem Eintreffen <strong>der</strong> Nachricht<br />

von den blutigen Zusammenstößen auf dem Newskij hatte das Exekutivkomitee an alle<br />

Truppenteile Petrograds und Umgebung telegraphischen Befehl gegeben, ohne Verfügung<br />

des Sowjets keine Truppen auf die Straße zu schicken. Jetzt, nachdem die Absichten<br />

Kornilows zutage getreten waren, legte das Exekutivkomitee, entgegen all seinen<br />

feindlichen Deklarationen, beide Hände an das Steuer, indem es nicht nur vom Kommandierenden<br />

sofortige Abberufung <strong>der</strong> Truppen for<strong>der</strong>te, son<strong>der</strong>n außerdem Skobeljew und<br />

Filippowski beauftragte, die ausmarschierten Truppen im Namen des Sowjets in die<br />

Kasernen zurückzuführen. »Geht in diesen unruhigen Tagen, ohne Auffor<strong>der</strong>ung des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 226


Exekutivkomitees, nicht mit Waffen in <strong>der</strong> Hand auf die Straße. Nur das Exekutivkomitee<br />

hat das Recht, über euch zu verfügen.« Von nun an muß je<strong>der</strong> Befehl über Truppenentsendungen<br />

außer <strong>der</strong> üblichen Or<strong>der</strong> auf einem offiziellen Dokument des Sowjets erteilt<br />

und mit <strong>der</strong> Unterschrift mindestens zweier dazu Bevollmächtigter bekräftigt sein. Es<br />

sollte scheinen, daß <strong>der</strong> Sowjet damit Kornilows Vorgehen unzweideutig als Versuch <strong>der</strong><br />

Konterrevolution, den Bürgerkrieg zu entfesseln, erläutert hatte. Aber obgleich das<br />

Exekutivkomitee durch seinen Befehl das Kreiskommando lahmlegte, dachte es dennoch<br />

nicht daran, Kornilow selbst abzusetzen: Durfte man die Vorrechte <strong>der</strong> Macht antasten?<br />

»Es zitterten die Hände.« Das junge Regime war von Fiktionen umgeben, wie ein<br />

Kranker von Kissen und Kompressen. Vom Standpunkte des Kräfteverhältnisses ist<br />

jedoch die Tatsache am lehr-reichsten, daß, noch bevor sie Tschcheidses Befehl<br />

erhielten, nicht nur die Truppenteile, son<strong>der</strong>n auch die Offiziersschulen sich geweigert<br />

hatten, ohne Sanktion des Sowjets auszurücken. Die hintereinan<strong>der</strong> hagelnden, von den<br />

Kadetten nicht vorausgesehenen Unannehmlichkeiten waren die unvermeidliche Folge<br />

davon, daß die russische Bourgeoisie zur Zeit <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> eine antinationale<br />

Klasse war, - dies ließ sich für kurze Zeit durch die Doppelherrschaft verschleiern,<br />

än<strong>der</strong>n aber konnte man es nicht.<br />

Die Aprilkrise sollte anscheinend eine unentschiedene Partie werden. Dem Exekutivkomitee<br />

gelang es, die Massen an <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> Doppelherrschaft festzuhalten. Ihrerseits<br />

erläuterte die erkenntliche Regierung, unter "Garantien" und "Sanktionen" seien<br />

internationale Tribunale, Einschränkung <strong>der</strong> Rüstungen und an<strong>der</strong>e herrliche Dinge zu<br />

verstehen. Das Exekutivkomitee benutzte schleunigst diese terminologischen Konzessionen,<br />

um mit 34 gegen 19 Stimmen die Frage als erledigt zu erklären. Zur Beschwichtigung<br />

seiner aufgescheuchten Reihen wurden von <strong>der</strong> Mehrheit noch diese<br />

Bestimmungen angenommen: die Kontrolle über die Tätigkeit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

sei zu verstärken; ohne vorherige Verständigung des Exekutivkomitees dürfte kein<br />

wichtiger Akt erlassen werden; die Zusammensetzung <strong>der</strong> diplomatischen Vertretung sei<br />

radikal zu än<strong>der</strong>n. Die faktische Doppelherrschaft wurde in die juristische Sprache <strong>der</strong><br />

Konstitution übersetzt. Die Natur <strong>der</strong> Dinge blieb jedoch unberührt. Dem linken Flügel<br />

gelang es nicht einmal, von <strong>der</strong> Versöhnler-Mehrheit die Verabschiedung Miljukows<br />

durchzusetzen. Alles sollte beim alten bleiben. Über die Provisorische Regierung erhob<br />

sich die weit wirksamere Kontrolle <strong>der</strong> Entente, die anzutasten sich das Exekutivkomitee<br />

nicht einmal einfallen ließ.<br />

Am Abend des 21. zog <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet das Fazit. Zeretelli berichtete von dem<br />

neuen Sieg <strong>der</strong> weisen Führer, <strong>der</strong> allen falschen Deutungen <strong>der</strong> Note vom 27. März ein<br />

Ende bereitet habe. Kamenew beantragte im Namen <strong>der</strong> Bolschewiki die Bildung einer<br />

reinen Sowjet-Regierung. Kolontay, eine populäre <strong>Revolution</strong>ärin, die während des<br />

Krieges von den Menschewiki zu den Bolschewiki übergegangen war, schlug vor, in den<br />

Bezirken und Vororten Petrograds eine Volksabstimmung über die Regierungsfrage<br />

vorzunehmen. Diese Vorschläge gingen jedoch an dem Bewußtsein des Sowjets fast<br />

unmerklich vorüber: die Frage schien beigelegt. Mit großer Mehrheit, gegen 13 Stimmen,<br />

fand die tröstliche Resolution des Exekutivkomitees Annahme. Allerdings war die<br />

Mehrzahl <strong>der</strong> bolschewistischen Deputierten noch in den Betrieben, auf den Straßen, bei<br />

Demonstrationen. Immerhin bleibt unzweifelhaft, daß in <strong>der</strong> ausschlaggebenden Masse<br />

des Sowjets noch kein Umschwung zum Bolschewismus eingetreten war.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 227


Der Sowjet verfügte, in den nächsten zwei Tagen sich jeglicher Straßendemonstrationen<br />

zu enthalten. Der Beschluß wurde einstimmig angenommen. Es konnte bei keinem<br />

auch nur <strong>der</strong> Schatten eines Zweifels entstehen, daß sich alle dem Beschluß unterwerfen<br />

würden. Und tatsächlich, Arbeiter, Soldaten, bürgerliche Jugend, <strong>der</strong> Wyborger Bezirk<br />

und <strong>der</strong> Newskij-Prospekt - niemand wagte sich <strong>der</strong> Weisung des Sowjets zu<br />

wi<strong>der</strong>setzen. Die Beruhigung trat ohne irgendwelche Zwangsmaßnahmen ein. Es genügte<br />

dem Sowjet, sich als Herr <strong>der</strong> Lage zu fühlen, um es in <strong>der</strong> Tat zu sein.<br />

In die Redaktionen <strong>der</strong> linken Zeitungen strömten inzwischen zu Dutzenden in Betrieben<br />

und Regimentern angenommene Resolutionen mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> sofortigen<br />

Verabschiedung Miljukows, mitunter auch <strong>der</strong> gesamten Provisorischen Regierung.<br />

Nicht nur Petrograd war in Wallung gekommen. In Moskau verließen Arbeiter die<br />

Werkbank, Soldaten die Kasernen und erfüllten die Straßen mit stürmischen Protesten.<br />

Das Exekutivkomitee erhielt in den folgenden Tagen Dutzende von Telegrammen von<br />

örtlichen Sowjets mit Protesten gegen die Politik Miljukows und <strong>der</strong> Versicherung restloser<br />

Unterstützung des Sowjets. Ähnliche Erklärungen trafen von <strong>der</strong> Front ein. Dennoch<br />

sollte alles beim alten bleiben.<br />

»Während des 21. April«, behauptete Miljukow später, »überwog auf den Straßen eine<br />

<strong>der</strong> Regierung wohlwollende Stimmung.« Er meinte offenbar die Straßen, die er von<br />

seinem Balkon aus überblicken konnte, nachdem die Mehrzahl <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

in ihre Quartiere zurückgekehrt war. ln Wirklichkeit war die Regierung vollkommen<br />

entblößt. Es stand keinerlei ernstliche Macht hinter ihr. Wir haben es schon von Stankewitsch<br />

und dem Fürsten Lwow selbst vernommen. Was aber bedeuteten Kornilows<br />

Versicherungen, er besäße Kräfte genug, um mit den Meuterern fertigzuwerden? Nichts<br />

als des ehrenwerten Generals äußersten Leichtsinn. Er wird im August seinen Gipfel<br />

erreichen, wenn <strong>der</strong> Verschwörer Kornilow nicht existierende Truppen gegen Petrograd<br />

anrücken lassen wird. Die Sache lag nämlich so, daß Kornilow noch immer versuchte,<br />

vom Kommandobestand auf die Truppen zu schließen. Die Offiziere standen in ihrer<br />

Mehrzahl zweifellos hinter ihm; das heißt, sie waren bereit, unter dem Vorwand, die<br />

Provisorische Regierung zu schützen, dem Sowjet die Rippen zu brechen. Die Soldaten<br />

jedoch hielten zum Sowjet, wobei sie ihrer Stimmung nach unvergleichlich weiter links<br />

standen als <strong>der</strong> Sowjet. Da aber <strong>der</strong> Sowjet selbst für die Provisorische Regierung eintrat,<br />

ergab sich, daß Kornilow zum Schutze <strong>der</strong> Provisorischen Regierung Sowjetsoldaten mit<br />

reaktionären Offizieren an <strong>der</strong> Spitze hinausführen konnte. Dank dem Regime <strong>der</strong><br />

Doppelherrschaft spielten alle miteinan<strong>der</strong> Blindekuh. Kaum jedoch hatten die Sowjetführer<br />

den Truppen befohlen, die Kasernen nicht zu verlassen, blieb Kornilow mitsamt<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung in <strong>der</strong> Luft hängen.<br />

Trotzdem stürzte die Regierung nicht. Die Massen die den Angriff begonnen hatten,<br />

waren keineswegs darauf vorbereitet, ihn zu Ende zu führen. Die Versöhnler durften<br />

deshalb noch versuchen, das Februarregime auf seinen Ausgangspunkt zurückzubringen.<br />

Als hätten sie vergessen o<strong>der</strong> als wollten sie bloß die an<strong>der</strong>en vergessen machen, daß das<br />

Exekutivkomitee gezwungen gewesen war, offen gegen die "geserzliche" Macht Hand<br />

auf die Armee zu legen, klagten die »Mitteilungen« des Sowjets vom 22. April: »Die<br />

Sowjets haben die Ergreifung <strong>der</strong> Macht nicht angestrebt. Indes trugen viele Banner <strong>der</strong><br />

Sowjetanhänger Aufschriften, die den Sturz <strong>der</strong> Regierung und die Ubertragung <strong>der</strong><br />

gesamten Macht an die Sowjets for<strong>der</strong>ten« ... Ist es denn nicht in <strong>der</strong> Tat empörend, daß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 228


Arbeiter und Soldaten die Versöhnler zur Übernahme <strong>der</strong> Macht zu verflihren versucht,<br />

das heißt jene Herren ernstlich für fähig gehalten hatten, von <strong>der</strong> Macht revolutionären<br />

Gebrauch zu machen?<br />

Nein, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki wollten die Macht nicht. Die<br />

bolschewistische Resolution, die die Übertragung <strong>der</strong> Macht an die Sowjets verlangte,<br />

erhielt, wie wir gesehen haben, im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet eine verschwindende<br />

Stimmenzahl. In Moskau erhielt die von den Bolschewiki am 22. April eingebrachte<br />

Resolution, mit dem Mißtrauensvotum für die Provisotische Regierung, nur 74 von<br />

vielen hun<strong>der</strong>t Stimmen. Allerdings hatte <strong>der</strong> Helsingforser Sowjet, obgleich dort Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki in <strong>der</strong> Mehrheit waren, an diesem Tage eine für jene Zeit<br />

ausnahmsweise mutige Resolution angenommen, in <strong>der</strong> er dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet zur<br />

Beseitigung <strong>der</strong> »imperialistischen Provisoriselien Regierung« seine bewaffnete Hilfe<br />

anbot. Doch bildete diese unter dem direkten Druck <strong>der</strong> Matrosen an-genommene<br />

Resolution eine Ausnahme. In ihrer überwiegenden Mehrheit verharrte die Sowjetvertretung<br />

<strong>der</strong> gestern noch einem Aufstand gegen die Provisorische Regierung so nahe<br />

gewesenen Massen durchaus auf dem Boden <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Was bedeutete das?<br />

Der in die Augen springende Wi<strong>der</strong>spruch zwischen <strong>der</strong> Entschlossenheit des Massenangriffs<br />

und <strong>der</strong> Halbheit seiner politischen Wi<strong>der</strong>spiegelung ist nicht zufällig. In einer<br />

revolutionären Epoche werden die unterdrückten Massen leichter und schneller in eine<br />

direkte Aktion hineingezogen als geübt, durch eigene Vertretung ihren Wünschen und<br />

For<strong>der</strong>ungen geformten Ausdruck zu verleihen. Je abstrakter das System einer Vertretung<br />

ist, um so weiter bleibt es hinter dem Rhythmus <strong>der</strong> Ereignisse zurück, <strong>der</strong> die<br />

Handlungen <strong>der</strong> Massen bestimmt. Die Sowjetvertretung, von allen Vertretungsformen<br />

die am wenigsten abstrakte, bietet unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> unermeßliche<br />

Vorzüge: es genügt, daran zu erinnern, daß die demokratischen Dumas, gewählt auf<br />

Grund <strong>der</strong> Bestimmungen vom 17. April, durch nichts und durch keinen eingeschränkt,<br />

sich völlig unfähig zeigten, mit den Sowjets zu konkurrieren. Doch bei allen Vorzügen<br />

ihrer organischen Verbindung mit den Betrieben und den Regimentern, das heißt mit den<br />

handelnden Massen, bleiben die Sowjets immerhin eine, Vertretung und folglich von den<br />

Konventionen und Verfälschungen des Parlamentarismus nicht frei. Der Wi<strong>der</strong>spruch<br />

je<strong>der</strong> Vertretung, auch <strong>der</strong> des Sowjets, besteht darin, daß sie einerseits für die Massenaktionen<br />

notwendig ist, an<strong>der</strong>erseits aber leicht zu einem konservativen Hin<strong>der</strong>nis für die<br />

Aktion wird. Der praktische Ausweg aus dem Wi<strong>der</strong>spruch besteht in <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Erneuerung <strong>der</strong> Vertretung. Doch diese keinesfalls so einfache Operation ist, beson<strong>der</strong>s<br />

in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die Folge <strong>der</strong> aktiven Aktion und bleibt daher hinter ihr zurück. Jedenfalls<br />

saßen am nächsten Tag nach dem halben o<strong>der</strong> richtiger viertel Aufstand vom April -<br />

<strong>der</strong> halbe wird erst im Juli kommen - im Sowjet die gleichen Deputierten wie am<br />

Vorabend und, wie<strong>der</strong> in die gewohnte Umgebung geraten, stimmten für die Anträge <strong>der</strong><br />

gewohnten Führer.<br />

Doch bedeutet das keinesfalls, daß <strong>der</strong> Aprilsturm an den Sowjets und am Februarsystem<br />

überhaupt, geschweige an den Massen selbst, spurlos vorübergegangen war. Das<br />

grandiose, wenn auch nicht zu Ende geführte Eingreifen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten in die<br />

politischen Ereignisse verän<strong>der</strong>t die politische Situation, gibt <strong>der</strong> Gesamtbewegung <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> einen Anstoß, beschleunigt die unvermeidlichen Umgruppierungen und<br />

zwingt die Stuben- und Hintertreppenpolitiker, ihre gestrigen Pläne zu vergessen und ihr<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 229


Vorgehen <strong>der</strong> neuen Lage anzupassen.<br />

Nachdem die Versöhnler das Aufflackern des Bürgerkrieges liquidiert hatten, wobei<br />

sie sich einbildeten, alles kehre auf die alten Positionen zurück, begann erst in Wirklichkeit<br />

die Regierungskrise. Die Liberalen wollten nicht mehr ohne direkte Teilnahme <strong>der</strong><br />

<strong>Sozialisten</strong> regieren. Durch die Logik <strong>der</strong> Doppelhenschaft gezwungen, dieser Bedingung<br />

entgegen zukommen, verlangten die <strong>Sozialisten</strong> ihrerseits die demonstrative Liquidierung<br />

des Dardanellenprogramms, was unabwendbar zur Liquidierung Miljukows<br />

führen mußte. Am 2. Mai war Miljukow gezwungen, die Reihen <strong>der</strong> Regierung zu<br />

verlassen. Die Losung <strong>der</strong> Demonstration vom 20. April wurde auf diese Weise mit einer<br />

Verspätung von 12 Tagen und gegen den Willen <strong>der</strong> Sowjetführer verwirklicht.<br />

Doch hatten die Verschleppungen und Verschiebungen die Ohnmacht <strong>der</strong> Regierenden<br />

nur noch krasser unterstrichen. Miljukow, <strong>der</strong> mit Hilfe seines Generals eine schroffe<br />

Wendung im Kräfteverhältnis herbeizuführen geplant hatte, sprang - wie ein Pfropfen -<br />

mit einem Knall aus <strong>der</strong> Regierung. Der Haudegengeneral war gezwungen, seine Demission<br />

zu nehmen. Die Minister waren gar nicht mehr Geburtstagskin<strong>der</strong>n ähnlich. Die<br />

Regierung flehte den Sowjet um eine Koalition an. Und all das, weil die Massen auf das<br />

lange Ende des Hebels gedrückt hatten.<br />

Doch bedeutet das nicht, daß die Versöhnlerparteien den Arbeitern und Soldaten<br />

nähergekommen waren. Im Gegenteil, die Aprilereignisse, die entlarvt hatten, welche<br />

Überraschungen die Massen in sich bargen, stießen die demokratischen Führer noch<br />

weiter nach rechts, in die Richtung einer engeren Anlehnung an die Bourgeoisie. Von<br />

nun an gewinnt die patriotische Linie endgültig Oberhand. Die Mehrheit des Exekutivkomitees<br />

schließt sich enger zusammen. Formlose Radikale, wie Suchanow, Stecklow usw.,<br />

die vor kurzem noch die Sowjetpolitik inspirierten und bestrebt waren, irgendwelche<br />

Traditionen des Sozialismus zu wahren, werden beiseite geschoben. Zeretelli steuert<br />

einen festen konservativen und patriotischen Kurs, <strong>der</strong> die Anpassung <strong>der</strong> Miljukowschen<br />

Politik an die Vertretung <strong>der</strong> werktätigen Massen bedeutet.<br />

Die Haltung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei in den Apriltagen war nicht einheitlich. Die<br />

Ereignisse kamen <strong>der</strong> Partei überraschend. Die innere Krise ging erst ihrem Abschluß<br />

entgegen, die Parteikonferenz wurde eifrig vorbereitet. Unter dem Eindruck <strong>der</strong> starken<br />

Erregung in den Bezirken sprachen sich einige Bolschewiki für den Sturz <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung aus. Das Petrogra<strong>der</strong> Komitee, das noch am 5. März die Resolution des<br />

bedingten Vertrauens zur Provisorischen Regierung angenommen hatte, schwankte. Es<br />

wurde beschlossen, am 21. eine Demonstration zu veranstalten, <strong>der</strong>en Ziel jedoch nicht<br />

klar bestimmt war Ein Teil des Petrogra<strong>der</strong> Komitees führte die Arbeiter und Soldaten<br />

auf die Straße mit <strong>der</strong> allerdings nicht ausgesprochenen Absicht, nebenbei den Versuch<br />

zu machen, die Provisorische Regierung zu stürzen. In <strong>der</strong> gleichen Richtung wirkten<br />

einzelne linke Elemente außerhalb <strong>der</strong> Partei. Es mischten sich anscheinend auch die<br />

nicht zah-reichen aber betriebsamen Anarchisten ein. Einzelne Personen wandten sich an<br />

die Truppenteile mit Ersuchen um Panzerautos o<strong>der</strong> Verstärkung überhaupt, bald zum<br />

Zwecke <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, bald für Straßenkampf gegen den<br />

Feind im allgemeinen. Aber die mit den Bolschewiki sympathisierende Panzerdivision<br />

erklärte, sie würde ohne Befehl des Exekutivkomitees niemand Wagen zur Verfügung<br />

stellen.<br />

Die Kadetten bemühten sich aus allen Kräften, die Schuld für die blutigen Zusammen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 230


stöße auf die Bolschewiki abzuwälzen. Doch wurde durch eine beson<strong>der</strong>e Kommission<br />

des Sowjets unwi<strong>der</strong>legbar festgestellt, daß die, Schießerei nicht von <strong>der</strong> Straße her,<br />

son<strong>der</strong>n aus Haustoren und Fenstern begonnen hatte. Die Zeitungen veröffentlichten<br />

einen Bericht des Staatsanwalts: »Die Schießerei ist von dem Auswurf <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

inszeniert worden, um Unruhen und Verwirrung zu stiften, was den Rowdies stets zum<br />

Vorteil gereicht.«<br />

Die Feindseligkeit gegen die Bolschewiki seitens <strong>der</strong> regierenden Sowjetparteien hatte<br />

noch lange nicht jene Spannung erreicht, die zwei Monate später, im Juli, Vernunft und<br />

Gewissen restlos verdunkelte. Die Gerichtsbarkeit, wenngleich in alter Zusammensetzung,<br />

nahm sich vor dem Antlitz <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zusammen und erlaubte sich im April<br />

noch nicht, gegen die extreme Linke Methoden <strong>der</strong> zaristischen Ochrana anzuwenden.<br />

Die Attacke Miljukows war auch auf dieser Linie mühelos zurückgeschlagen worden.<br />

Das Zentralkomitee wies den linken Flüget <strong>der</strong> Bolschewiki zurecht und erklärte am<br />

21. April, es erachte das vom Sowjet erlassene Verbot von Straßenkundgebungen für<br />

durchaus richtig, und es sei unbedingt zu befolgen. »Die Losung "Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung" ist momentan unrichtig«, lautete die Resolution des Zentralkomitees,<br />

»weil eine solche Losung beim Fehlen einer festen [das heißt bewußten und<br />

organisierten] Mehrheit des Volkes seitens des revolutionären Proletariats entwe<strong>der</strong><br />

Phrase ist o<strong>der</strong> objektiv auf Unternehmen abenteuerlicher Art hinausläuft.« Als Aufgaben<br />

des Augenblicks nennt die Resolution: Kritik, Propaganda und, als Voraussetzung<br />

<strong>der</strong> Machtergreifung, Eroberung <strong>der</strong> Mehrheit in den Sowjets. Die Gegner erblickten in<br />

dieser Erklärung einen Rückzug erschrockener Führer o<strong>der</strong> aber ein schlaues Manöver.<br />

Aber wir kennen bereits Lenins Grundeinstellung zur Frage <strong>der</strong> Macht; jetzt lehrte er die<br />

Partei, die "Aprilthesen" in <strong>der</strong> Praxis anzuwenden.<br />

Drei Wochen zuvor hatte Kamenew erklärt, er sei »glücklich«, gemeinsam mit den<br />

Menschewiki und Soziatrevolutionären für die einheitliche Resolution über die Provisorische<br />

Regierung stimmen zu können, während Stalin die Theorie <strong>der</strong> Arbeitsteilung<br />

zwischen Kadetten und Bolschewiki entwickelte. In welch weite Ferne waren diese Tage<br />

und diese Theorien gerückt! Nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Apriltage trat Stalin nun zum ersten<br />

Male gegen die Theorie <strong>der</strong> wohlwollenden "Kontrolle" über die Provisorische Regierung<br />

auf, behutsam vor seinem eigenen gestrigen Tag zurückweichend. Doch blieb dieses<br />

Manöver unbeachtet.<br />

Worin bestand das Element des Abenteurertums in <strong>der</strong> Politik einiger Teile <strong>der</strong> Partei?<br />

fragte Lenin auf <strong>der</strong> Konferenz, die gleich nach den ernsten Tagen stattfand. In dem<br />

Versuch, dort mit Gewalt vorzugehen, wo es für revolutionäre Gewalt noch nicht o<strong>der</strong><br />

nicht mehr Platz gibt. »Man kann jemand stürzen, <strong>der</strong> dem Volke als Gewalthaber<br />

bekannt ist. Jetzt gibt es keine Gewalthaber, die Kanonen und Gewehre sind bei den<br />

Soldaten, nicht bei den Kapitalisten; die Kapitalisten gehen jetzt nicht mit Gewalt vor,<br />

son<strong>der</strong>n mit Betrug, und jetzt nach Gewalt zu schreien, ist Unsinn ... Wir hatten die<br />

Parole friedlicher Demonstrationen ausgegeben. Wir beabsichtigten nur eine friedliche<br />

Auskundschaftung <strong>der</strong> Kräfte des Feindes, nicht aber eine Schlacht zu liefern, das Petrogra<strong>der</strong><br />

Komitee jedoch steuerte ein bißchen zu sehr nach links ... Gleichzeitig mit <strong>der</strong><br />

richtigen Parole: "Hoch die Sowjets" wurde eine unrichtige gegeben: "Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung". Im Augenblick <strong>der</strong> Aktion war es unangebracht, "ein<br />

bißchen zu sehr nach links" zu steuern. Wir betrachten das als das größte Verbrechen,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 231


als Desorganisation.«<br />

Was liegt den dramatischen Ereignissen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zugrunde? Verschiebungen im<br />

Kräfteverhälmis. Wodurch werden sie hervorgerufen? Hauptsächlich durch die Schwankungen<br />

<strong>der</strong> Zwischenklassen, <strong>der</strong> Bauernschaft, des Kleinbürgertums, <strong>der</strong> Armee. Ein<br />

gigantischer Abstand <strong>der</strong> Schwankungen - vom kadettischen Imperialismus bis zum<br />

Bolschewismus. Diese Schwankungen gehen gleichzeitig nach zwei entgegengesetzten<br />

Richtungen. Die politische Vertretung des Kleinbürgertuins, dessen Spitzen, die versöhnlerischen<br />

Führer, neigen immer mehr nach rechts, zur Bourgeoisie. Die unterdrückten<br />

Massen werden immer schärfer und mutiger nach links schwingen. Während Lenin<br />

gegen das von den Leitern <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Organisation bekundete Abenteurertum<br />

auftritt, macht er den Vorbehalt: würde sich die Zweischichten-Masse ernstlich,<br />

entschlossen und dauerhaft zu uns bekennen, wir würden keinen Augenblick zau<strong>der</strong>n, die<br />

Regierung aus dem Mariinski-Palais hinauszusetzen. Das aber ist noch nicht <strong>der</strong> Fall. Die<br />

Aprilkrise, die sich auf den Straßen abspielte, ist »nicht das erste und nicht das letzte<br />

Schwanken <strong>der</strong> kleinbürgerlichen und halbproletarischen Masse«. Unsere Aufgabe ist<br />

vorläufig noch: »geduldig aufklären«, die nächste, tiefere, bewußtere Schwenkung <strong>der</strong><br />

Massen auf unsere Seite vorbereiten.<br />

Was das Proletariat betrifft, so bekam seine Wendung zu den Bolschewiki im Laufe<br />

des April klar ausgeprägten Charakter. Es erschienen Arbeiter bei den Parteikomitees<br />

und fragten, wie man sich von <strong>der</strong> menschewistischen Partei in die bolschewistische<br />

umschreiben könnte. In den Betrieben bedrängte man die eigenen Deputierten mit Fragen<br />

über Außenpolitik, Krieg, Doppelherrschaft, Ernährung, und als Folge solcher Prüfungen<br />

wurden die sozialrevolutionären o<strong>der</strong> menschewistischen Deputierten immer häufiger<br />

durch bolschewistische ersetzt. Die schroffe Wendung begann bei den Bezirkssowjets,<br />

als den den Betrieben am nächsten stehenden. In den Sowjets <strong>der</strong> Wyborger Seite <strong>der</strong><br />

Wassiljewski-Insel und des Narwskij-Bezirks waren die Bolschewiki Ende April wie mit<br />

einem Schlage in <strong>der</strong> Mehrheit. Das war von größter Bedeutung, aber die von <strong>der</strong> hohen<br />

Politik in Anspruch genommenen Führer des Exekutivkomitees betrachteten nur<br />

hochmütig das Treiben <strong>der</strong> Bolschewiki in den Arbeitervierteln. Die Bezirke jedoch<br />

bedrängten das Zentrum immer stärker. Ohne Zutun des Petrogra<strong>der</strong> Komitees begann in<br />

den Betrieben eine energische und erfolgreiche Kampagne für Neuwahlen zum Stadtsowjet<br />

<strong>der</strong> Arbeiterdeputierten. Suchanow glaubt, daß Anfang Mai ein Drittel des Petrogra<strong>der</strong><br />

Proletariats hinter den Bolschewiki stand. Keinesfalls weniger, und außerdem das<br />

aktivste Drittel. Die Formlosigkeit des März verschwand, die politischen Linien bekamen<br />

Umrisse, die "phantastischen" Thesen Lenins füllten sich in den Bezirken Petrograds mit<br />

Fleisch und Blut.<br />

Je<strong>der</strong> Schritt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorwärts wird hervorgerufen o<strong>der</strong> erzwungen durch direktes<br />

Eingreifen <strong>der</strong> Massen, das in den meisten Fällen für die Sowjetparteien ganz<br />

unerwartet erfolgt. Die Führer des Exekutivkomitees betrachteten die Rolle <strong>der</strong> Masssen<br />

nach <strong>der</strong> Februarumwälzung, nachdem die Arbeiter und Soldaten die Monarchie gestürzt<br />

hatten, als erledigt. Doch war dies ein fataler Irrtum. Die Massen dachten nicht daran,<br />

von <strong>der</strong> Bühne zu verschwinden. Bereits Anfang März, während <strong>der</strong> Kampagne um den<br />

Achtstundentag, und trotzdem die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich an ihre<br />

Schultern hängten, war es den Arbeitern geglückt, den Kapitalisten eine Konzession zu<br />

entreißen. Der Sowjet war gezwungen, den Sieg, <strong>der</strong> ohne ihn und gegen ihn errungen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 232


worden war, zu registrieren. Die Aprildemonstration war eine Korrektur ähnlicher Art.<br />

Jedes Auftreten <strong>der</strong> Massen ist, abgesehen von seinen unmittelbaren Zielen, eine<br />

Warnung an die Adresse <strong>der</strong> Sowjetleiter. Die Warnung trägt anfangs milden Charakter,<br />

doch wird sie immer energischer. Im Juli verwandelt sie sich in Drohung. Im Oktober<br />

kommt die Lösung.<br />

In allen kritischen Momenten greifen die Massen »elementar« ein, mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten, ihren eigenen aus <strong>der</strong> politischen Erfahrung gewonnenen Erkenntnissen und<br />

ihren offiziell noch nicht anerkannten Führern folgend. Indem die Massen gewisse<br />

Elemente <strong>der</strong> Agitation in sich aufnehmen, übersetzen sie diese selbständig in die<br />

Sprache <strong>der</strong> Tat. Die Bolschewiki als Partei haben noch nicht die Kampagne für den<br />

Achtstundentag geleitet. Die Bolschewiki haben auch nicht im April die Massen zur<br />

Demonstration aufgerufen. Die Bolschewiki werden auch nicht im Juli die bewaffneten<br />

Massen auf die Straße führen. Erst im Oktober wird es <strong>der</strong> Partei gelingen, den Schritt<br />

auszugleichen, und sie wird dann an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Massen schon nicht zur Demonstration,<br />

son<strong>der</strong>n zur Umwälzung marschieren.<br />

Erste Koalition<br />

Entgegen allen offiziellen Theorien, Deklarationen und Aushängeschil<strong>der</strong>n besaß die<br />

Provisorische Regierung die Macht nur auf dem Papier. Upgeachtet des Wi<strong>der</strong>standes<br />

<strong>der</strong> sogenannten Demokratie, schritt die <strong>Revolution</strong> vorwärts, hob neue Massen empor,<br />

stärkte die Sowjets, bewaffnete, wenn auch in beschränktem Maße, die Arbeiter. Die<br />

lokalen Regierungskommissare und die ihnen beigeordneten "öffentlichen Komitees", in<br />

denen in <strong>der</strong> Regel Vertreter <strong>der</strong> bürgerlichen Organisationen vorherrschten, wurden<br />

naturnotwendig und mühelos von den Sowjets verdrängt. In den Fällen, wo die Agenten<br />

<strong>der</strong> Zentralmacht Wi<strong>der</strong>stand zu leisten versuchten, entbrannten heftige Konflikte. Die<br />

Kommissare beschuldigten die lokalen Sowjets <strong>der</strong> Mißachtung <strong>der</strong> Zentralmacht. Die<br />

bürgerliche Presse heulte auf: Kronstadt, Schlüsselburg und Zarizyn seien von Rußland<br />

abgefallen, hätten sich in selbständige Republiken verwandelt. Die lokalen Sowjets<br />

protestierten gegen solchen Unsinn. Die Minister gerieten in Erregung. Regierungssozialisten<br />

reisten in die Provinz, versuchten zu überreden, drohten, rechtfertigten sich vor <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie. Doch all das än<strong>der</strong>te das Kräfteverhältuis nicht. Die Unabwendbarkeit <strong>der</strong><br />

Prozesse, die die Doppelherrschaft untergruben, kam schon darin zum Ausdruck, daß sie,<br />

wenn auch nicht überall im gleichen Tempo, im ganzen Lande vor sich gingen. Aus<br />

Kontrollorganen verwandelten sich die Sowjets in Verwaltungsorgane. Sie wollten von<br />

keiner Theorie <strong>der</strong> Machtteilung etwas, wissen und mischten sich in die Verwaltung <strong>der</strong><br />

Armee ein, in Wirtschaftskonflikte, Ernährungs- und Transportfragen und sogar<br />

Gerichtsangelegenheiten. Unter dem Druck <strong>der</strong> Arbeiter dekretierten die Sowjets den<br />

Achtstundentag, setzten übereifrige reaktionäre Administratoren ab, entließen die<br />

unerträglichsten Kommissare <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, nahmen Verhaftungen und<br />

Haussuchungen vor, untersagten das Erscheinen feindlicher Zeitungen. Unter dem<br />

Einfluß <strong>der</strong> ständig anwachsenden Emährungsschwierigkeiten und des Warenhungers<br />

griffen die Provinzsowjets zu Preisregulierungen, Ausfuhrverboten für bestimmte<br />

Gouvernements und zur Requisition von Vorräten. Dabei standen überall an <strong>der</strong> Spitze<br />

<strong>der</strong> Sowjets Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die mit Entrüstung die bolschewistische<br />

Parole "Alle Macht den Sowjets" ablehnten.<br />

Sehr lehrreich war in dieser Beziehung die Tätigkeit des Sowjets in Tiflis, dem Herzen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 233


<strong>der</strong> menschewistischen Gironde, die <strong>der</strong> Februarrevolution Führer wie Zeretelli und<br />

Tschcheidse gegeben und später, nachdem sie sich in Perrograd rettungslos verbraucht,<br />

ihnen Asyl gewährt hat. Der von Jordania, dem späteren Haupt des unabhängigen<br />

Georgiens geleitete Tifliser Sowjet, mußte auf Schritt und Tritt die Prinzipien <strong>der</strong> darin<br />

herrschenden Menschewiki verletzen und wie eine Regierungsmacht handeln. Der<br />

Sowjet konfiszierte für seine Bedürfnisse eine Privatdruckerei, nahm Verhaftungen vor,<br />

leitete Untersuchung und Gerichtsverfahren in politischen Prozessen, setzte die Brotration<br />

fest, bestimmte Preise für Nahrungsmittel und unentbehrliche Bedarfsartikel. Der<br />

Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> sich von den ersten Tagen an zwischen offizieller Doktrin und Leben<br />

ergab, fand erst im Laufe des März und April eine Steigerung.<br />

In Petrograd wurde mindestens das Dekorum gewahrt, wenn auch, wie wir gesehen<br />

haben, nicht immer. Die Apriltage jedoch hatten zu eindeutig die Ohnmacht <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung entschleiert und gezeigt, daß sie auch in <strong>der</strong> Hauptstadt keine ernstliche<br />

Stütze besaß. Im letzten Drittel des April führte die Regierung nur noch ein<br />

qualvolles, im Erlöschen begriffenes Leben. »Mit Wehmut sprach Kerenski davon, daß<br />

es keine Regierung mehr gäbe, sie arbeite nicht, son<strong>der</strong>n bespräche nur noch ihre Lage«<br />

(Stankewitsch). Von dieser Regierung kann man im allgemeinen sagen, daß sie bis zu<br />

den Oktobertagen in schwierigen Momenten Krisen durchmachte und in den Pausen<br />

zwischen den Krisen ... existierte. Indem sie fortwährend »ihre Lage besprach«, hatte sie<br />

ohnehin keine Zeit, sich <strong>der</strong> Arbeit zu widmen.<br />

Aus <strong>der</strong> Krise, die durch die Aprilprobe <strong>der</strong> kommenden Kämpfe entstanden war,<br />

waren theoretisch drei Auswege denkbar. Entwe<strong>der</strong> mußte die Macht gänzlich an die<br />

Bourgeoisie übergehen: das war nicht an<strong>der</strong>s als durch Bürgerkrieg zu verwirklichen;<br />

Miljukow hatte es versucht, war aber gescheitert. O<strong>der</strong> die Macht mußte völlig an die<br />

Sowjets abgetreten werden: das war ohne jeden Bürgerkrieg zu erreichen, durch eine<br />

Handbewegung, es hieß nur wollen. Doch die Versöhnler wollten nicht wollen, während<br />

die Massen noch immer den Glauben an die Versöhnler bewahrten - wenn er auch bereits<br />

einen Riß hatte. Auf diese Weise waren die beiden Hauptauswege - sowohl auf <strong>der</strong><br />

bürgerlichen wie auf <strong>der</strong> proletarischen Linie - versperrt. Es blieb die dritte Möglichkeit:<br />

<strong>der</strong> verworrene, geteilte, ängstliche Hal~ ausweg des Kompromisses, sein Name - Koalition.<br />

Am Ausgang <strong>der</strong> Apriltage dachten die <strong>Sozialisten</strong> an eine Koalition nicht im entferntesten:<br />

diese Menschen vermochten überhaupt nie etwas vorauszusehen. Mit <strong>der</strong> Resolution<br />

vom 21. April verwandelte das Exekutivkomitee die Doppelherrschaft offiziell aus<br />

einer Tatsache in ein konstitutionelles Prinzip. Aber die Weisheitseule hatte auch diesmal<br />

ihren Flug zu spät unternommen: die juristische Weihe <strong>der</strong> Märzform <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />

- Zaren und Propheten - wurde in dem Augenblick vollzogen, als diese Form<br />

bereits durch das Auftreten <strong>der</strong> Massen gesprengt war. Die <strong>Sozialisten</strong> bemühten sich,<br />

vor dieser Tatsache die Augen zu schließen. Miljukow erzählt, daß Zeretelli, als seitens<br />

<strong>der</strong> Regierung die Frage <strong>der</strong> Koalition gestellt wurde, erklärt habe: »Welchen Nutzen<br />

habt ihr davon, wenn wir in eure Reihen eintreten? Wir würden ja ..., falls ihr euch<br />

unnachgiebig zeigen solltet, gezwungen sein, mit Lärm aus dem Ministerium<br />

auszutreten.« Zeretelli versuchte, die Liberalen mit seinem künftigen »Lärm« zu schrekken.<br />

Zur Begründung ihrer Haltung appellierten die Menschewiki, wie stets, an die Interessen<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie. Doch das Wasser stieg an die Kehle. Kerenski schreckte das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 234


Exekutivkomitee: »Die Regierung befindet sich augenblicklich in einer unerträglich<br />

schwierigen Situation; die Demissionsgerüchte sind kein politisches Spiel.« Gleichzeitig<br />

setzte ein Druck seitens <strong>der</strong> bürgerlichen Kreise ein. Die Moskauer Stadtduma erklärte<br />

sich in einer Resolution für die Koalition. Am 26. April, als <strong>der</strong> Boden genügend vorbereitet<br />

war, verkündete die Provisorische Regierung in einem beson<strong>der</strong>en Aufruf die<br />

Notwendigkeit, »jene aktiven schöpferischen Kräfte des Landes, die sich bisher nicht<br />

daran beteiligt hatten«, zur Staatsarbeit heranzuziehen. Die Frage war in aller Schärfe<br />

gestellt.<br />

Immerhin war die Stimmung gegen die Koalition noch recht stark. Gegen den Eintritt<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in die Regierung äußerten sich Ende April die Sowjets von Moskau,<br />

Tiflis, Odessa, Jekaterinburg, Nishnij Nowgorod, Twer und an<strong>der</strong>en Orten. Ihre Beweggründe<br />

drückte ein menschewistischer Führer in Moskau kraß aus: wenn die <strong>Sozialisten</strong><br />

in die Regierung eintreten, wird niemand vorhanden sein, die Massenbewegung »in<br />

bestimmte Fahrwasser« zu leiten. Aber es war schwer, diese Erwägung den Arbeitern<br />

und Soldaten zu suggerieren, gegen die sie gerichtet war. Soweit die Massen noch nicht<br />

mit den Bolschewiki gingen, waren sie durchweg für den Eintritt <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in die<br />

Regierung. Wenn es gut ist, daß Kerenski Minister ist, dann sind sechs Kerenski noch<br />

besser. Die Massen wußten nicht, daß dies Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie hieß und daß<br />

die Bourgeoisie sich durch die <strong>Sozialisten</strong> gegen das Volk decken wollte. Von <strong>der</strong><br />

Kaserne aus betrachtet, sah die Koalition an<strong>der</strong>s aus als vom Mariinski-Palais. Die<br />

Massen wollten durch die <strong>Sozialisten</strong> die Bourgeoisie aus <strong>der</strong> Regierung verdrängen. So<br />

verquickten sich zwei in entgegengesetzte Richtungen gehende Druckwirkungen für<br />

einen kurzen Augenblick in eins.<br />

In Petrograd stimmte eine Reihe von Truppenteilen, darunter auch die den Bolschewiken<br />

freundliche Panzerdivision, für eine Koalitionsregierung. Desgleichen in überwiegen<strong>der</strong><br />

Mehrheit die Provinz. Bei den Sozialzevolutionären herrschte die<br />

Koalitionsstimmung vor, nur fürchteten sie sieh, ohne die Menschewiki in die Regierung<br />

zu gehen. Für die Koalition war schließlich auch die Armee. Später, auf dem Rätekongreß<br />

im Juni, hat ein Delegierter die Stellung <strong>der</strong> Front zur Frage <strong>der</strong> Macht recht gut<br />

wie<strong>der</strong>gegeben: »Wir glaubten, jener Seufzer, den die Armee ausstieß, als sie erfuhr, daß<br />

die <strong>Sozialisten</strong> nicht ins Ministerium wollten, zur Zusammenarbeit mit Menschen, denen<br />

sie nicht vertrauten, indes doch die gesamte Armee gezwungen war, weiter mit Menschen<br />

zu sterben, denen sie nicht traute - wir glaubten, jener Seufzer habe Petrograd erreicht.«<br />

Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung war in dieser Frage, wie in allen an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> Krieg.<br />

Die <strong>Sozialisten</strong> hatten anfangs die Absicht, die Frage des Krieges wie die <strong>der</strong> Macht zu<br />

übergehen und zu warten. Doch <strong>der</strong> Krieg wartete nicht. Die Verbündeten warteten nicht.<br />

Und auch die Front wollte nicht länger warten. Gerade während <strong>der</strong> Regierungskrise<br />

kamen Frontdelegierte zum Exekutivkomitee und stellten den Führern die Frage: Führen<br />

wir Krieg o<strong>der</strong> nicht? Das hieß: ühernehmt ihr die Verantwortung für den Krieg o<strong>der</strong><br />

nicht? Nicht zu antworten war unmöglich. Die gleiche Frage stellte in <strong>der</strong> Sprache halber<br />

Drohungen die Entente.<br />

Die Apriloffensive an <strong>der</strong> westeuropäischen Front kam die Alliierten teuer zu stehen<br />

und brachte keine Resultate. Die französische Armee geriet unter dem Einfluß <strong>der</strong> Russischen<br />

<strong>Revolution</strong> und des Mißerfolges <strong>der</strong> Offensive, von <strong>der</strong> man so viel erhofft hatte,<br />

ins Schwanken. Die Armee »wand sich unter den Händen« - nach den Worten des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 235


Marschalls Pétain. Um diesen bedrohlichen Prozeß aufzuhalten, benötigte die französische<br />

Regierung unbedingt eine russische Offensive, und bis dahin - mindestens das feste<br />

Versprechen <strong>der</strong> Offensive. Außer <strong>der</strong> materiellen Erleichterung, die auf diese Weise<br />

geschaffen werden sollte, mußte man so schnell wie möglich von <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />

die Friedensaureole herunterreißen, die Hoffnung aus den Herzen <strong>der</strong> französischen<br />

Soldaten tilgen, die <strong>Revolution</strong> durch Beteiligung an den Ententeverbrechen kompromittieren,<br />

das Banner des Aufstandes <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiter und Soldaten durch Blut und<br />

Schmutz <strong>der</strong> imperialistischen Schlächterei zerren.<br />

Um dieses hehre Ziel zu erreichen, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Nicht an<br />

letzter Stelle wirkten dabei die patriotischen Ententesozialisten mit. Die erprobtesten von<br />

ihnen kommandierte man in das revolutionäre Rußland ab. Sie trafen in <strong>der</strong> vollen<br />

Rüstung eines stabilen Gewissens und loser Zunge ein. »Die ausländischen Sozialpatrioten<br />

empfing man im Mariinski-Palais mit offenen Armen ...«, schreibt Suchanow.<br />

»Branting, Cachin, O'Grady, de Brouckère und an<strong>der</strong>e mehr fühlten sich dort in heimischer<br />

Atmosphäre und bildeten mit unseren Ministern eine Einheitsfront gegen den<br />

Sowjet.« Man muß gestehen, daß sogar dem Versöhnlersowjet mit diesen Herren nicht<br />

immer wohl zumute war.<br />

Die alliierten <strong>Sozialisten</strong> bereisten die Fronten. »General Alexejew«, schrieb Van<strong>der</strong>velde,<br />

»tat alles, um unsere Bemühungen jenen hinzuzufügen, die etwas früher von<br />

Delegierten <strong>der</strong> Schwarzmeerfiotte, von Kerenski, Albert Thomas aufgewandt worden<br />

waren, um zu vollenden, was er moralische Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive nannte.« Der<br />

Vorsitzende <strong>der</strong> Zweiten <strong>Internationale</strong> und <strong>der</strong> ehemalige Generalstabschef Nikolaus II.<br />

fanden auf diese Weise eine gemeinsame Sprache im Kampfe um die erhabenen Ideale<br />

<strong>der</strong> Demokratie. Renaudel, einer <strong>der</strong> Führer des französischen Sozialismus, konnte<br />

erleichtert ausrufen: »Jetzt können wir, ohne zu erröten, vom Kriege ums Recht<br />

sprechen.« Mit dreijähriger Verspätung erführ die Menschheit, daß diese Herren irgendeinen<br />

Grund gehabt hatten, zu erröten.<br />

Am 1. Mai beschloß endlich das Exekutivkomitee, nachdem es alle nur denkbaren<br />

Stadien <strong>der</strong> Schwankung durchgemacht hatte, mit 41 gegen 18 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen,<br />

die Teilnahme an <strong>der</strong> Koalitionsregierung. Dagegen stimmten nur die<br />

Bolschewiki und ein Häuflein Menschewiki-Internationalisten.<br />

Es ist nicht uninteressant, daß <strong>der</strong> anerkannte Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie, Miljukow, als<br />

Opfer des engeren Anschlusses <strong>der</strong> Demokratie an das Bürgertum fiel. »Ich bin nicht<br />

gegangen, ich bin gegangen worden«, sagte er später. Gutschkow hatte sich schon am<br />

30. April entfernt, nachdem er es abgelehnt hatte, die »Deklaration <strong>der</strong> Rechte des Soldaten«<br />

zu unterzeichnen. Wie düster es schon damals in den Herzen <strong>der</strong> Liberalen ausgesehen<br />

haben mag, läßt sich daraus folgern, daß das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei zur<br />

Rettung <strong>der</strong> Koalition den Beschluß gefaßt hatte, nicht auf Miljukows Verbleiben in <strong>der</strong><br />

Regierung zu bestehen. »Die Partei hat ihren Führer verraten«, schreibt <strong>der</strong> rechte<br />

Kadett Isgojew. Es war ihr allerdings keine große Wahl geblieben. Derselbe Isgojew<br />

erklärt vollkommen richtig: »Ende April war die Partei <strong>der</strong> Kadetten aufs Haupt getroffen.<br />

Sie erhielt einen moralischen Schlag, von dem sie sich nie mehr erholen konnte.«<br />

Aber auch über das Schicksal Miljukows gebührte das letzte Wort <strong>der</strong> Entente.<br />

England war mit <strong>der</strong> Ablösung des Dardanellenpatrioten durch einen disziplinierteren<br />

"Demokraten" völlig einverstanden. Hen<strong>der</strong>son, <strong>der</strong> nach Petrograd mit Volimachten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 236


gekommen war, nötigenfalls Buchanan auf dem Gesandtenposten abzulösen, betrachtete<br />

einen solchen Wechsel, nachdem er sich über die Lage orientiert hatte, für überflüssig.<br />

Tatsächlich war gerade Buchanan am rechten Platze, denn er erwies sich als ein entschiedener<br />

Gegner von Annexionen, sofern diese mit dem Appetit Großbritanniens nicht<br />

übereinstimmten: »Wenn Russland Konstantinopel nicht braucht«, flüsterte er<br />

Tereschtschenko zart ein, »dann um so besser, je schneller es dies verkündet.« Frankreich<br />

unterstützte anfangs Miljukow. Doch war hier die Rolle Albert Thomas' von<br />

Bedeutung, <strong>der</strong> nach Buchanan und den Führern des Sowjets sich gleichfalls gegen<br />

Miljukow aussprach. So wurde <strong>der</strong> den Massen verhaßte Politiker von den Alliierten,<br />

Demokraten und schließlich von <strong>der</strong> eigenen Partei verlassen.<br />

Miljukow hatte im Grunde genommen eine so grausame Hinrichtung nicht verdient,<br />

mindestens nicht von diesen Händen. Die Koalition aber for<strong>der</strong>te ein läuterndes Opier.<br />

Miljukow wurde den Massen als <strong>der</strong> böse Geist hingestellt, <strong>der</strong> den allgemeinen<br />

Triumphzug zum demokratischen Frieden getrübt hatte. Indem sie Miljukow opferte,<br />

läuterte sich die Koalition mit einem Schlage von den Sünden des Imperialismus.<br />

Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet bestätigte am 5. Mai die Zusammensetzung <strong>der</strong> Koalitionsregierung<br />

und <strong>der</strong>en Programm. Die Bolschewiki brachten gegen die Koalition im ganzen<br />

100 Stimmen auf »Die Versammlung begrüßte stürmisch die Ministerreden ...«, berichtet<br />

Miljukow ironisch. »Mit den gleichen stürmischen Ovationen war jedoch erst am<br />

Vorabend <strong>der</strong> aus Amerika eingetroffene Trotzki, "<strong>der</strong> alte Führer <strong>der</strong> ersten<br />

<strong>Revolution</strong>", empfangen worden, <strong>der</strong> den Eintritt <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in das Ministerium in<br />

scharfen Worten verurteilt und behauptet hatte, die "Doppelherrschaft" sei nicht aufgehoben,<br />

son<strong>der</strong>n nunmehr "lediglich ins Ministerium verlegt" und die wahre Einzelherrschaft,<br />

die Rußland "retten" solle, werde erst dann eintreten, wenn <strong>der</strong> "nächste Schritt -<br />

die Übergabe <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten", getan sein<br />

würde. Dann werde eine "neue Epoche anbrechen - eine Epoche von Blut und Eisen,<br />

doch nicht mehr als Kampf <strong>der</strong> Nationen gegen Nationen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> leidenden, unterdrückten<br />

Klasse gegen die herrschenden Klassen".« So die Darstellung Miljukows. Zum<br />

Schluß seiner Rede formulierte Trotzki drei Regeln für die Politik <strong>der</strong> Massen: »Drei<br />

revolutionäre Gebote: <strong>der</strong> Bourgeoisie mißtrauen; die Führer kontrollieren; nur auf die<br />

eigene Kraft bauen.« Über dieses Auftreten bemerkt Suchanow: »Auf Zustimmung zu<br />

seiner Rede hatte er von vornherein nicht rechnen können.« Und tatsächlich, <strong>der</strong> Redner<br />

wurde am Schluß seiner Ansprache viel kühler behandelt als zu Beginn. Suchanow,<br />

überaus feinfühlig für intellektuelle Couleurs, fügt hinzu: »Es kursierten über ihn, <strong>der</strong><br />

sich <strong>der</strong> bolschewistischen Partei noch nicht angeschlossen hatte, bereits Gerüchte, er<br />

sei 2noch schlimmer als Lenin".«<br />

Die <strong>Sozialisten</strong> nahmen sich von fünfzehn Ministerportefeuilles sechs. Sie wollten in<br />

<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit sein. Selbst nachdem sie sich entschlossen hatten, offen <strong>der</strong> Regierung<br />

anzugehören, setzten sie das Schlagdamespiel fort. Fürst Lwow blieb Premier, Kerenski<br />

wurde Kriegs- und Marineminister, Tschernow Ackerbauminister. Miljukows Posten als<br />

Außenminister besetzte <strong>der</strong> Kenner des Balletts, Tereschtschenko, <strong>der</strong> gleichzeitig<br />

Kerenskis und Buchanans Vertrauensperson wurde. Alle drei einigten sich dahingehend,<br />

Rußland könne auch ohne Konstantinopel vorzüglich auskommen. An die Spitze des<br />

Justizministeriums geriet <strong>der</strong> unbedeutende Advokat Perewersew, <strong>der</strong> später im Zusammenhang<br />

mit dem Juliprozeß gegen die Bolschewiki zu vorübergehen<strong>der</strong> Berühmtheit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 237


gelangte. Zeretelli begnügte sich, um seine Zeit dem Exekutivkomitee nicht zu entziehen,<br />

mit dem Ministerium für Post- und Telegraphenwesen, Skobeljew, <strong>der</strong> Arbeitsminister<br />

wurde, versprach im ersten Überschwang, die Gewinne <strong>der</strong> Kapitalisten um sämtliche<br />

hun<strong>der</strong>t Prozent einzuschränken was bald zu einem geflügelten Wort wurde. Der<br />

Symmetrie halber ernannte man den Moskauer Großunternehmer Konowalow zum<br />

Minister für Handel und Industrie. Er führte einige Gestalten <strong>der</strong> Moskauer Börse ein,<br />

denen man wichtige Staatsposten anvertraute. Konowalow nahm allerdings bereits nach<br />

zwei Wochen seine Entlassung, um damit seinen Protest gegen die "Anarchie" in <strong>der</strong><br />

Wirtschaft auszudrücken, während Skobeljew schon vorher seinen Attentatsplan auf den<br />

Gewinn aufgegeben und sich dem Kampfe gegen die Anarchie gewidmet hatte: er würgte<br />

Streiks ab und rief die Arbeiter zur Selbsteinschränkung auf.<br />

Die Regierungsdeklaration bestand, wie es sich für eine Koalition geziemt, aus<br />

Gememplätzen. Sie sprach von aktiver Außenpolitik zugunsten des Friedens, Lösung <strong>der</strong><br />

Ernährungsfrage und Vorbereitung <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Bodenbesitzfrage. Das waren durchweg<br />

aufgeblasene Phrasen. Der einzige wenigstens den Absichten nach ernsthafte Punkt<br />

sprach von <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Armee »für defensive und offene Aktionen zur Abwendung<br />

einer etwaigen Nie<strong>der</strong>lage Rußlands und seiner Verbündeten«. In dieser Aufgabe<br />

bestand im wesentlichen <strong>der</strong> tiefere Sinn <strong>der</strong> Koalition, die als letzter Einsatz <strong>der</strong> Entente<br />

in Rußland zustande gekommen war.<br />

»Die Koalitionsregierung«, schrieb Buchanan, »ist unsere letzte und fast einzige<br />

Hoffnung auf Rettung <strong>der</strong> Kriegslage an dieser Front.« So stand hinter den Grundsätzen,<br />

Reden, Abkommen und Abstimmungen <strong>der</strong> liberalen und demokratischen Führer <strong>der</strong><br />

Februarrevolution <strong>der</strong> imperialistische Regisseur in Gestalt <strong>der</strong> Entente. Gezwungen, im<br />

Interesse <strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kindlichen Ententefront eiligst in die Regierung einzutreten,<br />

nahmen die <strong>Sozialisten</strong> etwa ein Drittel <strong>der</strong> Macht und den ganzen Krieg auf sich.<br />

Der neue Außenminister mußte zwei Wochen lang die Veröffentlichung <strong>der</strong> Antworten<br />

<strong>der</strong> allüerten Regierungen auf die Deklaration vom 27. März zurückhalten, um solche<br />

stilistische Än<strong>der</strong>ungen zu erwirken, die die Polemik gegen die Deklaration des Koalitionskabinetts<br />

genügend verschleierten. Die »aktive Außenpolitik zugunsten des Friedens«<br />

bestand nunmehr darin, daß Tereschtschenko eifrigst die Texte <strong>der</strong> diplomatischen<br />

Telegramme, die die alten Kanzleien für ihn aufsetzten, redigierte, »Ansprüche«<br />

ausstrich, »For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gerechtigkeit« darüber schrieb o<strong>der</strong> für »Sicherung <strong>der</strong><br />

Interessen«, »Wohl <strong>der</strong> Völker« setzte. Mit leisem Zähneknirschen sagt Miljukow von<br />

seinem Nachfolger: »Die alliierten Diplomaten wußten, daß die "demokratische" Terminologie<br />

seiner Depeschen eine unfreiwillige Konzession an die For<strong>der</strong>ungen des Augenblicks<br />

war, und übten Nachsicht mit ihr.«<br />

Thomas und <strong>der</strong> kurz vorher eingetroffene Van<strong>der</strong>velde legten unterdes die Hände<br />

nicht in den Schoß: eifrigst waren sie damit beschäftigt, dem »Wohl <strong>der</strong> Völker« eine den<br />

Bedürfnissen <strong>der</strong> Entente angepaßte Deutung zu gehen und die Einfaltspinsel aus dem<br />

Exekutivkomitee erfolgreich zu bearbeiten. »Skobeljew und Tschernow«, meldete<br />

Van<strong>der</strong>velde, »protestierten energisch gegen jeden Gedanken an einen vorzeitigen<br />

[prématurée] Frieden.« Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, wenn Ribot, auf solche Helfershelfer<br />

gestützt, schon am 9. Mai dem französischen Parlament erklären konnte, er beabsichtige,<br />

»ohne auf irgend etwas zu verzichten«, Tereschtschenko eine befriedigende Antwort zu<br />

erteilen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 238


Ja, die wahren Herren <strong>der</strong> Lage hatten nicht die Absicht, auf irgend etwas zu verzichten,<br />

was man erwischen konnte. Gerade in jenen Tagen hatte Italien die Unabhängigkeit<br />

Albaniens proklamiert und - es sogleich unter italienisches Protektorat gestellt. Das war<br />

kein schlechter Anschauungsunterricht. Die Provisorische Regierung plante einen<br />

Protest, weniger im Namen <strong>der</strong> Demokratie, als wegen des verletzten »Gleichgewichts«<br />

auf dem Balkan, doch zwang ihre Ohnmacht sie rechtzeitig, sich auf die Zunge zu<br />

beißen.<br />

Neu an <strong>der</strong> Außenpolitik <strong>der</strong> Koalition war nur die hastige Annäherung an Amerika.<br />

Diese frische Freundschaft bot drei nicht unwichtige Bequemlichkeiten: die Vereinigten<br />

Staaten waren weniger durch militärische Nie<strong>der</strong>trächtigkeiten kompromittiert als Frankreich<br />

und England; die transatlantische Republik eröffnete vor Rußland weite Perspektiven<br />

in bezug auf Anleihen und militärische Ausrüstung; endlich kam Wilsons Diplomatie<br />

- eine Mischung von demokratischer Bigotterie und Gaunerei - den stilistischen Bedürfnissen<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung sehr gelegen. Wilson schickte die Mission des<br />

Senators Root nach Russland und richtete eine seiner Pastorbotschaften an die Provisorische<br />

Regierung, wobei er erklärte: »Es darf kein Volk gewaltsam einer Herrschaft unterworfen<br />

werden, unter <strong>der</strong> es nicht leben will.« Das Kriegsziel selbst bezeichnete <strong>der</strong><br />

amerikanische Präsident zwar nicht sehr bestimmt, aber verlockend: »Der Welt dauerhaften<br />

Frieden und den Völkern künftigen Wohlstand und Glück zu sichern.« Was konnte es<br />

Besseres geben? Gerade das hatten Tereschtschenko und Zeretelli nötig: frische Kredite<br />

und pazifistische Gemeinplätze. Mit Hilfe <strong>der</strong> ersteren und unter dem Schleier <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en konnte man an die Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive gehen, die <strong>der</strong> Shylock an <strong>der</strong><br />

Seine, wie besessen mit allen seinen Wechseln fuchtelnd, for<strong>der</strong>te.<br />

Schon am 11. Mai reiste Kerenski an die Front ab und begann die Agitationskampagne<br />

für die Offensive. »Die Welle des Enthusiasmus in <strong>der</strong> Armee wächst und verbreitert<br />

sich«, berichtete <strong>der</strong> neue Kriegsminister <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, sich vor Enthusiasmus<br />

über die eigenen Reden verschluckend. Am 14. Mai erläßt Kerenski einen<br />

Armeebefehl : »Ihr werdet gehen, wohin eure Führer euch leiten werden«, und um diese<br />

dem Soldaten gut bekannte und wenig verlockende Perspektive auszuschmücken, fügt er<br />

hinzu: »Ihr werdet auf den Spitzen eurer Bajonette den Frieden tragen.« Am 22. Mai<br />

wurde <strong>der</strong> vorsichtige, übrigens reichlich unbegabte General Alexejew seiner Eigenschaft<br />

als Oberkommandieren<strong>der</strong> enthoben und durch den elastischeren und unternehmungslustigeren<br />

General Brussilow ersetzt. Die Demokraten bereiteten mit aller Kraft<br />

die Offensive, das heißt die große Katastrophe <strong>der</strong> Februarrevolution vor<br />

Der Sowjet war das Organ <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, das heißt Bauern. Die Provisorische<br />

Regierung war das Organ <strong>der</strong> Bourgeoisie. Die Kontaktkommission war das Organ<br />

<strong>der</strong> Versöhnung. Die Koalition vereinfachte die Mechanik, indem sie die Provisorische<br />

Regierung selbst in eine Kontaktkommission verwandelte. Die Doppelherrschaft war<br />

damit aber keinesfalls beseitigt. Ob Zeretelli Mitglied <strong>der</strong> Kontaktommission o<strong>der</strong><br />

Postminister war - nicht diese Frage entschied. Im Lande existierten zwei nicht zu vereinbarende<br />

Staatsorganisanonen: die Hierarchie <strong>der</strong> von oben herab ernannten alten und<br />

neuen Beamten, gekrönt durch die Provisorische Regierung, und das System <strong>der</strong> gewählten<br />

Sowjets, die bis zur ferusten Kompanie an <strong>der</strong> Front hinabreichten. Diese zwei Regierungssysteme<br />

stützten sich auf verchiedene Klassen, die sich erst anschickten, ihre<br />

historische Rechnung zu regeln. Indem sie auf die Koalition eingingen, wähnten die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 239


Versöhnler, das Rätesystem allmählich friedlich abschaffen zu können. Sie waren davon<br />

überzeugt, die Macht <strong>der</strong> in ihrer Person konzentrierten Sowjets werde nunmehr in die<br />

offizielle Regierung hinüberströmen. Kerenski versicherte Buchanan kategorisch, »die<br />

Sowjets werden eines natürlichen Todes sterben«. Diese Hoffnung wurde bald zur offiziellen<br />

Doktrin <strong>der</strong> Versöhnler. Ihr Gedanke war, das Schwergewicht des Lebens müsse<br />

sich überall von den Sowjets zu den neuen demokratischen Selbstverwaltungsorganen<br />

verschieben. Den Platz des Zentralexekutivkomitees sollte die Konstituierende<br />

Versammlung einnehmen. Die Koalitionsregierung schickte sich somit an, die Brücke<br />

zum Regime <strong>der</strong> bürgerlich parlamentarischen Republik zu bilden.<br />

Die <strong>Revolution</strong> aber wollte und konnte diesen Weg nicht gehen. Das Schicksal <strong>der</strong><br />

neuen Stadtdumas war in diesem Sinne eine unzweideutige Voraussage. Die Dumas<br />

waren auf <strong>der</strong> Basis des weitestgehenden Wahlrechtes entstanden. Soldaten hatten<br />

gleiches Wahlrecht wie Zivilbevölkerung, Frauen wie Männer. Am Kampfe nahmen vier<br />

Parteien teil. Die 'Nowoje Wremja' ('Neue Zeit'], das alte offizielle Organ <strong>der</strong> zaristischen<br />

Regierung, eine <strong>der</strong> ehrlosesten Zeitungen <strong>der</strong> Welt - und das will was besagen! -,<br />

for<strong>der</strong>te die Rechten, Nationalisten, Oktobristen auf, für die Kadetten zu stimmen. Als<br />

aber die politische Ohnmacht <strong>der</strong> besitzenden Klassen klar zutage trat, stellte die<br />

Mehrzahl <strong>der</strong> bürgerlichen Zeitungen die Losung auf: »Wählt, wen ihr wollt, nur keine<br />

Bolschewiki!« In allen Dumas und Semstwos bildeten die Kadetten den rechten Flügel,<br />

die Bolschewiki die wachsende linke Min<strong>der</strong>heit. Die Mehrheit, in <strong>der</strong> Regel eine<br />

überwiegende, gehörte den Sozialrevolutionären und Menschewiki.<br />

Es könnte scheinen, die neuen Dumas, die sich von den Sowjets durch größere<br />

Vollständigkeit <strong>der</strong> Vertretung unterschieden, hätten die größere Autorität genießen<br />

müssen. Als öffentlich-rechtliche Institutionen besaßen die Dumas außerdem den gewaltigen<br />

Vorteil offizieller staatlicher Unterstützung. Miliz, Verpflegung, städtischer Transport,<br />

Volksbildung unterstanden offiziell den Dumas. Die Sowjets besaßen als<br />

"Privat"-Institutionen we<strong>der</strong> Budget noch Rechte. Und trotzdem blieb die Macht in den<br />

Händen <strong>der</strong> Sowjets. Die Dumas waren im wesentlichen nur Munizipalkommissionen <strong>der</strong><br />

Sowjets. Der Wettstreit zwischen Sowjetsystem und formaler Demokratie war m seinem<br />

En<strong>der</strong>gebnis um so verblüffen<strong>der</strong>, als er sich unter Leitung <strong>der</strong> gleichen Parteien,<br />

Sowjetrevolutionären und Menschewiki, vollzog, die, in Dumas wie Sowjets vorherrschend,<br />

tief davon überzeugt waren, daß die Sowjets den Dumas Platz zu machen hätten,<br />

und in dieser Richtung zu tun suchten, was sie nur konnten.<br />

Die Erklärung für diese bemerkenswerte Erscheinung, über die man im Strudel <strong>der</strong><br />

Ereignisse im allgemeinen wenig nachdachte, ist einfach: Munizipalitäten, wie jegliche<br />

Einrichtungen <strong>der</strong> Demokratie überhaupt, können ihre Tätigkeit nur auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

stabiler gesellschaftlicher Beziehungen, das heißt eines bestimmten Eigentumssystems<br />

ausüben. Das Wesen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht aber darin, daß sie eben diese Grundlage<br />

aller Grundlagen in Frage stellt, die zu beantworten lediglich die offene revolutionäre<br />

Nachprüfung des Verhältnisses <strong>der</strong> Klassenkräfte imstande ist. Die Sowjets waren,<br />

entgegen <strong>der</strong> Politik ihrer Leiter, Kampforganisationen <strong>der</strong> unterdrückten Klassen, die<br />

sich teils bewußt, teils halbbewußt zusammenschlossen, um die Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaftsordnung<br />

zu än<strong>der</strong>n. Die Munizipalitäten dagegen gaben allen Bevölkerungsklassen,<br />

auf die Abstraktion Bürger gebracht, gleichmäßige Vertretung und ähnelten unter<br />

den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sehr einer diplomatischen Konferenz, die sich in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 240


konventioneller, heuchlerischer Sprache zu verständigen sucht, indes die in ihr vertretenen<br />

feindlichen Lager sich fieberhaft auf den Kampf vorbereiten. Im Alltagstrott <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> konnten die Munizipalitäten noch ihr Scheindasein fristen. Jedoch an Wendepunkten,<br />

wo das Eingreifen <strong>der</strong> Massen die weitere Richtung <strong>der</strong> Ereignisse bestimmte,<br />

mußten die Muntzipalitäten auffliegen und ihre Bestandteile auf vcrschiedenen Seiten <strong>der</strong><br />

Barrikade stehen. Es genügte, die parallelen Rollen <strong>der</strong> Sowjets und Munizipalitäten in<br />

<strong>der</strong> Zeit von Mai bis Oktober gegenüberzustellen, um das Schicksal <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung beizeiten vorauszusehen.<br />

Mit <strong>der</strong> Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung übereilte sich die Koalitionsregierung<br />

nicht. Die Liberalen, die, entgegen <strong>der</strong> demokratischen Arithmetik, in <strong>der</strong><br />

Regierung in <strong>der</strong> Mehrzahl waren, hatten es gar nicht eilig, in <strong>der</strong> späteren Konstituierenden<br />

Versammlung, wie jetzt in den neuen Dumas, den ohnmächtigen rechten Flügel zu<br />

bilden. Die "Son<strong>der</strong>beratung über die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung"<br />

begann erst Ende Mai, drei Monate nach <strong>der</strong> Umwälzung, ihre Tätigkeit. Die liberalen<br />

Juristen spalteten jedes Haar in sechzehn Teile, rührten und schüttelten in Kolben den<br />

ganzen demokratischen Bodensatz, stritten endlos über das Wahlrecht <strong>der</strong> Armee, und<br />

darüber, ob Deserteure, die nach Millionen zählten und Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> früheren Zarenfamihe,<br />

die einige Dutzend ausmachten, Stimmrecht zu bekommen hätten o<strong>der</strong> nicht. Uber<br />

den Termin <strong>der</strong> Einberufung wurde nach Möglichkeit geschwiegen. Diese Frage in <strong>der</strong><br />

Beratungskommission aufzuwerfen, galt überhaupt als Taktlosigkeit, <strong>der</strong>en nur die<br />

Bolschewiki fähig waren.<br />

Wochen vergingen, aber entgegen den Hoffnungen und Voraussagen <strong>der</strong> Versöhnler<br />

starben die Sowjets nicht ab. Durch ihre Führer eingeschläfert und verwirrt, verfielen<br />

allerdings auch sie zeitweilig hochgradiger Erschöpfung, doch das erste Gefahrensignal<br />

stellte sie wie<strong>der</strong> auf die Beine und erwies damit für alle unbestreitbar die Sowjets als die<br />

Herren <strong>der</strong> Lage. Obgleich sie dauernd versuchten, die Sowjets zu sabotieren, waren die<br />

Sozialrevolutionäre und Menschewiki in allen wichtigen Fällen doch gezwungen, <strong>der</strong>en<br />

Priorität anzuerkennen. Das fand seinen Ausdruck unter an<strong>der</strong>em darin, daß die besten<br />

Kräfte bei<strong>der</strong> Parteien in den Sowjets konzentriert waren. Die Munizipalitäten und<br />

Semstwos überließen sie zweitrangigen Männern, Technikern, Administratoren. Das<br />

gleiche konnte man auch bei den Bolschewiki beobachten. Nur die Kadetten, die zu den<br />

Sowjets keinen Zutritt hatten, konzentrierten ihre besten Kräfte in den Organen <strong>der</strong><br />

Selbstverwaltung. Aber die hoffnungslose bürgerliche Min<strong>der</strong>heit vermochte nicht, sie zu<br />

ihrem Stützpunkt zu machen.<br />

Die Munizipalitäten betrachtete somit niemand als sein Organ. Über den wachsenden<br />

Antagonismus zwischen Arbeitern und Fabrikanten, Soldaten und Offizieren, Bauern und<br />

Gutsbesitzern konnte in den Munizipalitäten und Semstwos nicht so offen diskutiert<br />

werden wie im eigenen Kreise, im Sowjet einerseits und in den Privatsitzungen <strong>der</strong><br />

Reichsduma und sonstigen Beratungen <strong>der</strong> bürgerlichen Politiker an<strong>der</strong>erseits. Man kann<br />

sich mit dem Gegner wohl über Kleinigkeiten, nicht aber über Leben und Tod verständigen.<br />

Nimmt man die Marxsche Formel, daß die Regierung das Komitee <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klasse ist, so muß man sagen, die wahren "Komitees" <strong>der</strong> um die Macht ringenden<br />

Klassen befanden sich außerhalb <strong>der</strong> Koalitionsregierung. In bezug auf den Sowjet, <strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Regierung als Min<strong>der</strong>heit vertreten war, wurde das beson<strong>der</strong>s offensichtlich. Doch<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 241


traf das nicht weniger auf die bürgerliche Mehrheit zu. Die Liberalen hatten keine<br />

Möglichkeit, in Gegenwart <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> ernst und sachlich jene Fragen zu besprechen,<br />

die die Bourgeoisie am meisten berührten. Die Verdrängung Miljukows, des anerkannten<br />

und unbestrittenen Führers <strong>der</strong> Bourgeoisie, um den sich <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> Besitzenden scharte,<br />

hatte symbolischen Charakter, indem sie vollends offenbarte, daß die Regierung<br />

exzentrisch in jedem Sinne dieses Wortes war. Das Leben drehte sich um zwei Brennpunkte,<br />

von denen <strong>der</strong> eine rechts, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e links vom Mariinski-Palais lag.<br />

Ohne zu wagen, innerhalb <strong>der</strong> Regierung auszusprechen, was sie dachten, lebten die<br />

Minister in einer Atmosphäre selbstgeschaffener Konventionen. Die durch die Koalition<br />

verhüllte Doppelherrschaft wurde zur Schule für Doppelsinn, Doppelmoral und jegliche<br />

Zweideutigkeit überhaupt. Die Koalitionsregierung machte in den nächsten sechs<br />

Monaten eine Reihe von Krisen, Umgestaltungen und Umschichtungen durch, doch ihre<br />

Wesenszüge <strong>der</strong> Ohnmacht und Falschheit bewahrte sie bis zu ihrem Todestage.<br />

Die Offensive<br />

In <strong>der</strong> Armee wie im Lande vollzog sich eine ununterbrochene Umgruppierung <strong>der</strong><br />

Kräfte: die unteren Schichten verschoben sich nach links, die oberen nach rechts. In dem<br />

Maße, wie das Exekutivkomitee ein Werkzeug <strong>der</strong> Entente zur Zähmung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

wurde, verwandelten sich die Armeekomitees, geschaffen als Vertretung <strong>der</strong> Soldaten<br />

gegen den Kommandebestand, in Helfershelfer des Kommandobestandes gegen die<br />

Sofldaten.<br />

Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Komitees war sehr bunt. Es gab da nicht wenig patriotische<br />

Elemente, die aufrichtig den Krieg mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> identifizierten, mutig in die ihnen<br />

von oben aufgedrängte Offensive gingen und ihr Leben für eine fremde Sache ließen. In<br />

einer Reihe mit ihnen standen die Phrasenhelden, die Divisions- und Regiments-Kerenskis.<br />

Schließlich gab es auch nicht wenig Schlaumeier und Kriecher, die, nach Privilegien<br />

haschend, sich in die Komitees vor dem Schützengraben retteten. Jede<br />

Massenbewegung trägt, beson<strong>der</strong>s in ihrem ersten Stadium, all diese menschlichen Spielarten<br />

an die Oberfläche. Nur war die Versöhnlerperiode an Schwätzern und Chamäleons<br />

beson<strong>der</strong>s reich. Wenn Menschen das Programm formen, so formt das Programm auch<br />

die Menschen. Die Schule des Kontaktes wird in einer <strong>Revolution</strong> die Schule <strong>der</strong> Kniffe<br />

und Intrigen.<br />

Das Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft schloß die Möglichkeit <strong>der</strong> Schaffung einer Militärmacht<br />

aus. Die Kadetten hatten sich den Haß <strong>der</strong> Volksmassen zugezogen und waren<br />

gezwungen, sich in <strong>der</strong> Armee als Sozialrevolutionäre auszugeben. Die Demokratie<br />

dagegen konnte die Armee aus dem gleichen Grunde nicht erneuern, aus dem sie die<br />

Macht nicht zu übernehmen vermochte: das eine ist vom an<strong>der</strong>en untrennbar. Als Kuriosität,<br />

die jedoch die Lage grell beleuchtet, vermerkt Suchanow, daß die Provisorische<br />

Regierung in Petrograd nicht eine Truppenparade abgehalten hat: die Liberalen und die<br />

Generale wollten die Beteiligung des, Sowjets an einer Parade nicht, waren sich aber<br />

dessen bewußt, daß ohne den Sowjet eine Parade undenkbar war.<br />

Die höheren Offiziere schlossen sich immer enger den Kadetten an - und warteten, bis<br />

wie<strong>der</strong> reaktionärere Parteien das Haupt erheben würden. Die kleinbürgerliche Intelligenz<br />

vermochte in bedeuten<strong>der</strong> Zahl den unteren Offiziersbestand <strong>der</strong> Armee zu stellen,<br />

wie früher unter dem Zarismus. Aber sie war unfähig, ein Kommandokorps nach ihrem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 242


Ebenbilde zu schaffen, denn sie besaß kein eigenes Gesicht. Wie <strong>der</strong> ganze weitere<br />

Verlauf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gezeigt hat, konnte man das Kommandokorps entwe<strong>der</strong> fertig<br />

von Adel und Bourgeoisie übernehmen, wie das die Weißen taten, o<strong>der</strong> aber es auf <strong>der</strong><br />

Grundlage proletarischer Auslese schaffen und erziehen, wie es später die Bolschewiki<br />

vollbrachten. Den kleinbürgerlichen Demokraten war die eine wie die an<strong>der</strong>e Möglichkeit<br />

versagt. Sie waren gezwungen, alle zu überreden, anzuflehen, zu betrügen, und als<br />

dabei nichts herauskam, übergaben sie verzweifelt die Macht den reaktionären<br />

Offizieren, damit diese dem Volk die richtigen revolutionären Ideen einflößen sollten.<br />

Die Wunden <strong>der</strong> alten Gesellschaft brachen eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf und zerstörten<br />

den Organismus <strong>der</strong> Armee. Die nationale Frage in all ihren Variationen - und Rußland<br />

war an ihnen reich - erfaßte immer tiefer die Soldatenmasse, die mehr als zur Hälfte aus<br />

Nichtgroßrussen bestand. Auf verschiedenen Linien verflochten und kreuzten sich die<br />

nationalen Gegensätze mit den Klassen-Antagonismen. Die Regierungspolitik war auf<br />

dem nationalen Gebiet wie auf allen an<strong>der</strong>en schwankend und wirr und wirkte deshalb<br />

doppelt verräterisch. Einzelne Generalc spielten mit nationalen Formationen in <strong>der</strong> Art<br />

des »muselmännischen Korps mit französischer Disziplin« an <strong>der</strong> rumänischen Front.<br />

Und tatsächlich bewiesen die neuen nationalen Truppenteile in <strong>der</strong> Regel größere Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />

als die dcr alten Armee, denn sie wurden um eine neue Idee und uni ein<br />

neues Banner formiert. Diese nationale Lötung hielt jedoch nicht lange: sie wurde bald<br />

durch die Entwicklung des Klassenkampfcs gesprengt. Schon <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> nationalen<br />

Formierungen, <strong>der</strong> die Hälfte <strong>der</strong> Armee zu erfassen drohte, brachte diese in einen flüssigen<br />

Zustand, zersetzte ihre alten Teile, noch bevor die neuen sich heranbilden konnten.<br />

So kam das Unheil von allen Seiten.<br />

Miljukow schreibt in seiner <strong>Geschichte</strong>, die Armee sei durch den »Ideenkonflikt<br />

zwischen "revolutionärer" und normal-militärischer Disziplin, zwischen "Demokratisierung"<br />

<strong>der</strong> Armee und Erhaltung ihrer Kampffähigkeit« zerstört worden, wobei unter<br />

"normaler" Disziplin jene zu verstehen ist, die unter dem Zarismus bestand. Man sollte<br />

meinen, ein Historiker müßte es wissen, daß noch jede große <strong>Revolution</strong> die Vernichtung<br />

<strong>der</strong> alten Armee mit sich brachte, nicht als Folge des Zusammenpralls abstrakter Prinzipien<br />

<strong>der</strong> Disziplin, son<strong>der</strong>n lebcndiger Klassen. Die <strong>Revolution</strong> läßt nicht nur strenge<br />

Disziplin in <strong>der</strong> Armee zu, sie schafft sie auch. Aber diese Disziplin können nicht Vertreter<br />

<strong>der</strong> Klasse herstellen, die durch die <strong>Revolution</strong> gestürzt wurde.<br />

»Es ist eine evidente Tatsache«, schrieb am 26. September 1851 ein klugcr Deutscher<br />

dem an<strong>der</strong>en, »daß die Desorganisierung <strong>der</strong> Armeen und die gänzliche Lösung <strong>der</strong><br />

Disziplin sowohl Bedingung wie Resultat je<strong>der</strong> bisher siegreichen <strong>Revolution</strong> war.« Die<br />

gesamte <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschheit hat dieses einfache und unbestreitbare Gesetz fcstgestellt.<br />

Aber mit den Liberalen haben dies auch die <strong>russischen</strong> <strong>Sozialisten</strong>, die das Jahr<br />

1905 im Rücken hatten, nicht begriffen, obwohl sie wie<strong>der</strong>holt als ihre Lehrer jene<br />

beiden Deutschen nannten, von denen <strong>der</strong> eine Friedrich Engels hieß, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Karl<br />

Marx. Die Menschewiki glaubten allen Ernstes, daß die Armee, die eine Umwälzung<br />

vollbracht hatte, den alten Krieg unter dem alten Kommando fortsetzen werde. Und diese<br />

Menschen verschrien die Bolschewiki als Utopisten.<br />

General Brussilow hatte Anfang Mai in einer Konferenz des Hauptquartiers den<br />

Zustand des Kommandobestandes sehr genau charakterisiert: 15-20 Prozent paßten sich<br />

<strong>der</strong> neuen Ordnung aus Überzeugung an; ein Teil <strong>der</strong> Offiziere begann, mit den Soldaten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 243


zu liebäugeln und hetzte sie gegen den Kommandobestand auf, die Mehrzahl dagegen,<br />

etwa 75 Prozent, vermochte sich nicht anzupassen, fühlte sich beleidigt, hatte sich in ihrc<br />

Schale verkrochen und wußtc nicht, was zu beginnen. Die erdrückende Mehrheit <strong>der</strong><br />

Offiziere war überdies auch vom rein militärischen Standpunkt aus gesehen vollständig<br />

unfähig.<br />

Bei <strong>der</strong> Beratung mit den Generalen entschuldigten sich Kerenski und Skobeljew aus<br />

allen Kräften, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wegen, die - ach - "fortdauert" und <strong>der</strong> man Rechnung<br />

tragen müsse. Darauf erwidcrt <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>tgeneral Gurko, die Minister Moral<br />

lehrend: »Ihr sagt, die <strong>Revolution</strong> "dauert fort". Hört auf uns ... Stellt die <strong>Revolution</strong> ein<br />

und laßt uns, Militärs, unsere Pflicht bis ans Ende erfüllen.« Kerenski war mit allem<br />

Eifer bemüht, den Generalen entgegenzukommen, - bis einer von ihnen, <strong>der</strong> wackere<br />

Kornilow, ihn mit seinen Umarmungcn beinahe erdrückte.<br />

Während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bedeutet das Versöhnlertum die Politik fieberhaften Pendelns<br />

zwischen den Klassen. Kerenski war das verkörperte Pendeln. An die Spitze dcr Armee<br />

gestellt, die ohne klares und eindeutiges Regime überhaupt undenkbar ist, wurde<br />

Kerenski zum unmittclbaren Werkzeug ihrer Zersetzung. Denikin führt eine interessante<br />

Liste von Personen des höheren Kommandobestandes an, <strong>der</strong>en Absetzung das Ziel<br />

verfehlt hätte, obwohl eigentlich niemand und am wenigsten Kerenski wußte, wo dieses<br />

Ziel sich befand. Alexejew entließ den Hauptkommandierenden <strong>der</strong> Front, Russki, und<br />

den Armeekommandeur Radko-Dmitrjew wegen Schwäche und Nachgiebigkeit den<br />

Komitees gegenüber. Brussilow entfernte aus dem gleichen Grunde den verängstigten<br />

Judenitsch. Kerenski entließ Alexejew selbst und die Hauptkommandierenden <strong>der</strong><br />

Fronten, Gurko und Dragomirow, wegcn Wi<strong>der</strong>stand gegen die Demokratisierung <strong>der</strong><br />

Armee. Aus dem gleichen Grunde entfernte Brussilow General Kaledin und wurde in <strong>der</strong><br />

Folge selbst wegen übermäßiger Nachsicht mit den Komitees abgesetzt. Kornilow legte<br />

wegen seiner Unfähigkeit, sich nut <strong>der</strong> Demokratie zu vertragen, das Kommando des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Militärkreises nie<strong>der</strong>. Das verhin<strong>der</strong>te nicht seine Ernennung zum Kommandierenden<br />

<strong>der</strong> Front und später zum Höchstkommandierenden. Denikin wurde seines<br />

Postens als Chef beim Stabe Alexejews wegen offener Leibeigenschaftstendenzen enthoben,<br />

bald darauf aber zum Oberkommandierenden <strong>der</strong> Westfront ernannt. Dieses<br />

Bockspringen, das bewies, daß man oben nicht wußte, was man wollte, ging stufenweise<br />

abwärts bis zur Kompanie und beschleunigte den Zerfall <strong>der</strong> Armee.<br />

Während dic Kommissare von den Soldaten Gehorsam für die Offiziere for<strong>der</strong>ten,<br />

mißtrauten sie diesen selbst. Auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Offensive erklärte in <strong>der</strong> Sowjetsitzung in<br />

Mohilew, <strong>der</strong> Hauptstadt des Hauptquartiers, in Gegenwart Kerenskis und Brussilows ein<br />

Mitglied des Sowjets: »88 Prozent <strong>der</strong> Offiziere des Hauptquartiers schaffen durch ihre<br />

Handlungen die Gefahr konterrevolutionärer Vorgänge.« Für die Soldaten war das kein<br />

Geheimnis. Sie hatten vor <strong>der</strong> Umwälzung Zeit genug gehabt, ihre Offiziere kennenzulernen.<br />

Im Laufe des ganzen Mai variierten die Berichte <strong>der</strong> oberen wie <strong>der</strong> unteren<br />

Kommandobestandes den gleichen Gedanken: »Das Verhalten zur Offensive ist im allgemeinen<br />

ablehnend, beson<strong>der</strong>s bei <strong>der</strong> Infanterie.« Manchmal wird hinzugefügt: »etwas<br />

besser bei <strong>der</strong> Kavallerie und recht lebhaft bei <strong>der</strong> Artillerie.«<br />

Ende Mai, als die Truppen sich bereits zur Offensive aufstellten, telegraphierte <strong>der</strong><br />

Kommissar <strong>der</strong> 7. Armee an Kerenski »Bei <strong>der</strong> 12. Division sind das 48. Regiment in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 244


ganzer, das 45. und 46. Regiment in halber Frontstärke ausgerückt, das 47. Regiment<br />

weigert sich, auszurücken. Von den Regimentern <strong>der</strong> 13. Division ist das 50. Regiment<br />

annähernd in voller Stärke ausgerückt. Das 51. Regiment verspricht, morgen auszurükken,<br />

das 49. ist nicht vorschriftsmäßig ausgerückt, das 52. weigert sich, auszurücken und<br />

hat alle seine Offiziere verhaftet.« Ein solches Bild war fast überall zu beobachten. Auf<br />

die Meldung des Kommissars hin erfolgte die Antwort <strong>der</strong> Regierung: »Das 45., 46., 47.<br />

und 52. Regiment auflösen. Offiziere und Soldaten, die zum Ungehorsam aufreizten, vor<br />

Gericht stellen.« Das klang bedrohlich, schreckte aber nicht. Die Soldaten, die nicht<br />

mehr Krieg führen wollten, hatten we<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Auflösung noch vor dem Gericht<br />

Furcht. Bei <strong>der</strong> Aufstellung <strong>der</strong> Truppen war man nicht selten gezwungen, einen Tru~<br />

penteil gegen den an<strong>der</strong>en zu verwenden. Als Werkzeug <strong>der</strong> Re-pression dienten am<br />

häufigsten, wie unter dem Zaren, die Kosaken, jetzt aber wurden sie von <strong>Sozialisten</strong><br />

geleitet: ging es doch um die Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Am 4. Juni, weniger als vierzehn Tage vor Beginn <strong>der</strong> Offensive, meldete <strong>der</strong> Stabschef<br />

des Hauptquartiers: »Die Nordfront befindet sich noch immer im Zustand <strong>der</strong><br />

Gärung, die Verbrü<strong>der</strong>ung geht weiter, das Verhalten <strong>der</strong> Infanterie zur Offensive ist<br />

ablehnend... An <strong>der</strong> Westfront ist die Lage ungewiß. An <strong>der</strong> Südwestfront ist eine gewisse<br />

Besserung dcr Stimmung zu verzeichnen... Von <strong>der</strong> rumänischen Front ist keine beson<strong>der</strong>e<br />

Besserung zu melden, die Infanterie will nicht angreifen ...«<br />

Am 11. Juni 1917 schreibt <strong>der</strong> Kommandeur des 61. Regiments: »Mir und den Offizieren<br />

bleibt nur noch übrig, uns zu retten, da aus Petrograd ein Soldat <strong>der</strong> 5. Kompanie<br />

angekommen ist, ein Leninist ... Viele <strong>der</strong> besten Soldaten und Offiziere sind bereits<br />

davongelaufen.« Das Erscheinen eines einzigen Leninisten im Regiment genügte, die<br />

Offiziere zum Davonlaufen zu bringcn. Es ist klar, daß <strong>der</strong> betreffende Soldat die Rolle<br />

des ersten Kristalls in gesättigter Lösung spielte. Man braucht übrigens nicht zu glauben,<br />

daß es sich unbedingt um einen Bolschewiken handelte. Zu jener Zeit nannte <strong>der</strong><br />

Kommandobestand jeden Soldaten, <strong>der</strong> kühner als die an<strong>der</strong>en die Stimme gegen die<br />

Offensive erhob, einen Leninisten. Viele dieser "Leninisten" glaubten noch aufrichtig,<br />

Lenin sei von Wilhelm geschickt worden. Der Kommandeur des 61. Regiments versuchte,<br />

seine Soldaten mit Strafen seitens <strong>der</strong> Regierung zu schrecken. Ein Soldat gab ihm zur<br />

Antwort: »Wir haben die alte Regierung gestürzt, wir werden auch Kerenski hinausstochern.«<br />

Das waren neue Töne. Sie nährten sich von <strong>der</strong> Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki, liefen<br />

ihr aber weit voraus.<br />

Von <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte, die unter Leitung <strong>der</strong> Sozialrolutionäre stand und, im<br />

Gegensatz zu den Kronstädtern, als Stütze des Patriotismus galt, wurde bereits Ende<br />

April eine Delegation von 300 Mann, mit dem flinken Studenten Batkin an <strong>der</strong> Spitze,<br />

<strong>der</strong> sich als Matrose verkleidet hatte, ins Land geschickt. An dieser Delegation roch<br />

vieles nach Maskerade; doch gab es auch aufrichtige Begeisterung. Die Delegation trug<br />

die Idee des Krieges bis zum Siege ins Land, doch benahmen sich die Zuhörer von<br />

Woche zu Woche feindseliger. Während die Schwarzmeerler den Ton ihrer Offensive-<br />

Predigt immer leiser stimmten, kam eine baltische Delegation nach Sewastopol, den<br />

Frieden zu propagieren. Die Nordlän<strong>der</strong> hatten im Süden einen größeren Erfolg als die<br />

Südlän<strong>der</strong> im Norden. Unter dem Einfluß <strong>der</strong> Kronstädter entwaffneten die Sewastopoler<br />

Matrosen am 8. Juni den Kom-mandobestand und verhafteten die verhaßtesten Offiziere.<br />

In <strong>der</strong> Sitzung des Rätekongresses vom 9. Juni fragte Trotzki, wie es geschehen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 245


konnte, daß »in dieser mustergültigen Schwarzmeerflotte, die über das ganze Land<br />

patriotische Deputationen geschickt hat, in diesem Nest des organisierten Patriotismus<br />

zu einem so kritischen Moment ein <strong>der</strong>artiger Ausbruch erfolgen konnte? Was beweist<br />

das?«. Eine Antwort wurdc ihm nicht zuteil.<br />

Unordnung und Kopflosigkeit in <strong>der</strong> Armee rieben alle auf, Mannschaft, Kommandeure<br />

und Komiteevertreter. Alle brauchten unverzüglich irgendeinen Ausweg. Die<br />

Spitzen wähnten, die Offensive würde die Unordnung überwinden und Klarheit schaffen.<br />

In gewissem Sinne war diese Annahme berechtigt. Wenn Zeretelli und Tschernow in<br />

Petrograd, unter Verwendung aller Modulationen dcr demokratischen Rhetorik, für die<br />

Offensive plädierten, so mußten die Komitees an <strong>der</strong> Front Hand in Hand mit den<br />

Offizieren den Kampf gegen das neue Regime in <strong>der</strong> Armee aufnehmen, ohne das die<br />

<strong>Revolution</strong> zwar undenkbar, das abcr mit dem Krieg nicht zu vereinbaren war. Die<br />

Folgen <strong>der</strong> Wendung stellten sich bald ein. »Mit jedem Tage wurden die Komitees immer<br />

rechter«, berichtet ein Seeoffizicr, »gleichzeitig jedoch machte sich das Sinken ihrer<br />

Autorität unter den Soldaten und Matrosen immer mehr bemerkbar.« Für den Krieg aber<br />

waren gerade Soldaten und Matrosen notwendig.<br />

Mit Zustimmung Kerenskis ging Brnssilow daran, Stoßbataillone aus Freiwilligen zu<br />

bilden, womit er die Kampfunfähigkeit <strong>der</strong> Armee offen eingestand. Diesem Werk<br />

schlossen sich unverzüglich die verschiedensten, meist recht abenteuerlichen Elemente<br />

an, wie Kapitän Murawjew, <strong>der</strong> später, nach dem Oktoberumsturz, zu den linken Sozialrevolutionären<br />

überlief, um dann, nach stürmischen und in ihrer Art glänzenden Taten,<br />

die Sowjetmacht zu verraten und von bolschewistischer o<strong>der</strong> eigener Kugel zu fallen. Es<br />

ist überflüssig zu sagen, daß die konterrevolutionären Offiziere gierig zu den Stoßbataillonen,<br />

als <strong>der</strong> legalen Form zur Sammlung ihrer Kräfte, Zuflucht nahmen. Die Idee fand<br />

jedoch bei <strong>der</strong> Soldatenmasse fast keinen Wi<strong>der</strong>hall. Abenteuerlustige Mädchen schufen<br />

Frauenbataillone, "schwarze Todeshusaren". Eines dieser Bataillone bildete im Oktober<br />

Kerenskis letzte bewaffnete Stütze bei <strong>der</strong> Verteidigung des Winterpalais. Doch all dies<br />

konnte <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> Vernichtung des deutschen Militarismus wenig dienen.<br />

Die Offensive, die das Hauptquartier den Alliierten für die ersten Frühlingstage<br />

versprochen hatte, wurde von Woche zu Woche verschoben. Nun aber lehnte die Entente<br />

weitere Vertagungen energisch ab. Die Alliierten waren in den Mitteln, den sofortigen<br />

Angriff zu erpressen, nicht wählerisch. Neben den pathetischen Beschwörungen Van<strong>der</strong>veldes<br />

wurden auch Drohungen, die Lieferung von Munition einzustellen, angewandt.<br />

Der italienische Generalkonsul in Moskau erklärte, und zwar nicht in <strong>der</strong> italienischen,<br />

son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Presse, die Alliierten würden im Falle eines Separatfriedens<br />

seitens Rußlands Japan volle Aktionsfreiheit in Sibirien gewähren. In patriotischer<br />

Begeisterung druckten liberale Zeitungen, nicht etwa in Rom, son<strong>der</strong>n in Moskau, diese<br />

frechen Drohungen ab, wobei sie den Schwerpunkt <strong>der</strong> Frage vom Separatfrieden auf die<br />

Verzögerung <strong>der</strong> Offensive verschoben. Die Alliierten legten sich auch in an<strong>der</strong>er<br />

Hinsicht keinen Zwang auf; so sandten sie zum Beispiel <strong>der</strong> Artillerie bewußt Ausschußmaterial:<br />

35% <strong>der</strong> Geschütze, die das Ausland geliefert hatte, waren nach einem zweiwöchigen,<br />

mäßigen Schießen unbrauchbar. England machte Schwierigkeiten mit den<br />

Anleihen. Dagegen eröffnete <strong>der</strong> neue Gönner, Amerika, ohne Wissen Englands, <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung für die kommende Offensive einen Kredit von 75 Millionen<br />

Dollar.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 246


Während die russische Bourgeoisie die Erpressungen <strong>der</strong> Alliierten unterstützte und<br />

eine wilde Agitation für die Offensive führte, schenkte sie selbst dieser Offensive kein<br />

Vertrauen; sie zeichnete nicht einmal die Freiheitsanleihe. Die gestürzte Monarchie<br />

benutzte inzwischen die Gelegenheit, um sich in Erinnerung zu bringen: in einer Erklärung<br />

an die Provisorische Regierung äußerten die Romanows den Wunsch, die Anleihe<br />

zu zeichnen, wobei sie hinzufügten: »Die Höhe <strong>der</strong> Zeichnung wird davon abhängen, ob<br />

die Staatskasse den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Zarenfamilie Unterhaltungsgel<strong>der</strong> geben wird.« All<br />

das las die Armee, <strong>der</strong> bekannt war, daß die Mehrheit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung wie<br />

auch die Mehrheit des höheren Offiziersstandes wie bisher auf die Wie<strong>der</strong>errichtung <strong>der</strong><br />

Monarchie hoffte.<br />

Die Gerechtigkeit erfor<strong>der</strong>t, zu verzeichnen, daß nicht alle im Lager <strong>der</strong> Alliierten mit<br />

den Van<strong>der</strong>velde, Thomas und Cachin, die die russische Armee in den Abgrund stießen,<br />

einverstanden waren. Es gab auch wamende Stimmen. »Die russische Armee ist nur eine<br />

Fassade«, sagte General Pétain, »sie wird zerfallen, sobald sie sich vom Platz rührt.« Im<br />

gleichen Sinne äußerte sich ferncr die amerikanische Mission. Es siegten jedoch an<strong>der</strong>e<br />

Erwägungen. Man mußte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Seele herausprügeln. »Die deutsch-russische<br />

Verbrü<strong>der</strong>ung«, erklärte später Painlevé, »schuf solche Verwüstungen (faisait de tels<br />

ravages), daß es das Risiko ihrer schnellsten Auflösung bedeutete, wollte man die russische<br />

Armee ohne Bewegung lassen.«<br />

Die Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive auf <strong>der</strong> politischen Linie führten Kerenski und Zeretelli,<br />

anfangs in Heimlichkeit sogar vor den nächsten Gesinnungsgenossen. Während die<br />

halb eingeweihten Führer noch weiterhin von <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> faselten,<br />

betonte Zeretelli immer entschiedener die Notwendigkeit, die Armee für aktive Handlungen<br />

bereitzuhalten. Länger als dic an<strong>der</strong>en wi<strong>der</strong>setzte sich, das heißt kokettierte Tschernow.<br />

In <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung vom 17. Mai unterwarf man den<br />

"Bauernminister", wie er sich nannte, einem hochnotpeinlichen Verhör, ob es wahr sei,<br />

daß er in einer Versammlung von <strong>der</strong> Offensive ohne die nötige Sympathie gesprochen<br />

habe. Es ergab sich, daß Tschernow sich so ausgedrückt hatte: Die Offensive gehe ihn,<br />

den Politiker, nichts an, das sei Sache <strong>der</strong> Strategen an <strong>der</strong> Front. Diese Menschen spielten<br />

Versteck sowohl mit dem Krieg wie mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Allerdings nur bis zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt.<br />

Die Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive war selbstverständlich vom gesteigerten Kampf gegen<br />

die Bolschewiki begleitet. Immer häufiger wurdcn diese <strong>der</strong> Bestrebungen für Separatfrieden<br />

beschuldigt. Die Erkenntnis, daß <strong>der</strong> Separatfrieden <strong>der</strong> Ausweg sein werde, war<br />

in <strong>der</strong> Situation von selbst gegeben, das heißt in <strong>der</strong> Schwäche und Erschöpfung<br />

Rußlands im Vergleich mit den übrigen kriegführenden Län<strong>der</strong>n. Doch hatte noch<br />

niemand die Kraft des neuen Faktors, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, zu ermessen vermocht. Die<br />

Bolschewiki meinten, daß man <strong>der</strong> Perspektive des Separatfriedens nur dann ausweichen<br />

könne, wenn man mutig und restlos die Kraft und Autorität <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> dem Kriege<br />

entgegenstelle. Dazu war vor allem notwendig, das Bündnis mit <strong>der</strong> eigenen Bourgeoisie<br />

zu zerreißen. Am 9. Juni erklärte Lenin auf dem Rätekongreß: »Wenn man behauptet,<br />

daß wir den Separatfrieden anstreben, so ist das unwahr. Wir sagen: keinen Separatfrieden,<br />

mit keinen Kapitalisten, vor allem nicht mit den <strong>russischen</strong>. In dcr Provisorischen<br />

Regierung dagegen herrscht Separatfrieden mit den <strong>russischen</strong> Kapitalisten. Nie<strong>der</strong> nüt<br />

diesem Separatfrieden!.« »Beifall«, vermerkt das Protokoll. Das war <strong>der</strong> Beifall einer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 247


kleinen Kongreßmin<strong>der</strong>heit, und gerade deshalb ein beson<strong>der</strong>s heißer.<br />

Im Exekutivkomitee fehlte den einen noch die Entschlossenheit, die an<strong>der</strong>en wollten<br />

sich zuvor mit einem autoritativsten Organ decken. Im letzten Moment wurde beschlossen,<br />

Kerenski zur Kenntnis zu bringen, daß es unerwünscht sei, den Befehl zur Offensive<br />

zu erteilen, bevor <strong>der</strong> Rätekongrcß die Frage gelöst hätte. Die von <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong><br />

Bolschewiki in <strong>der</strong> ersten Sitzung des Kongresses eingebrachte Erklärung lautete, »die<br />

Offensive kann die Armee nur endgültig desorganisieren, da sie ihre Teile gegeneinan<strong>der</strong><br />

stellen wird«, <strong>der</strong> »Kongreß muß dem gegenrevolutionären Druck Wi<strong>der</strong>stand leisten,<br />

o<strong>der</strong> aber die Verantwortung für diese Politik offen und restlos übernehmen«.<br />

Der Beschluß des Rätekongresses zugunsten <strong>der</strong> Offensive war nur eine demokratische<br />

Formalität. Alles war schon bereit. Die Artilleristen hielten die feindlichen Positionen<br />

längst unter Visier. In dem Befehl an Armee und Flotte vom 16. Juni setzte Kerenski<br />

unter Berufung auf den höchstkommandierenden, »von Siegen umwobenen Führer« die<br />

Notwendigkeit eines »sofortigen und entschlossenen Hiebes« auseinan<strong>der</strong> und endete mit<br />

den Worten: »Ich befehle euch - vorwärts!«<br />

In dem am Vorabend <strong>der</strong> Offensive geschriebenen und die Erklärung <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Fraktion auf dem Rätekongreß kommentierenden Artikel schrieb Trotzki: »Die<br />

Regierungspolitik untergräbt die Möglichkeit erfolgreicher militärischer Aktionen in <strong>der</strong><br />

Wurzel... Die materiellen Voraussetzungen <strong>der</strong> Offensive sind äußerst ungünstig. Die<br />

Ernährungsorganisation <strong>der</strong> Armee spiegelt den allgemeinen Wirtschafiszerfall wi<strong>der</strong>,<br />

gegen den auch nur eine radikalc Maßnahme zu treffen die Regierung in ihrer heutigen<br />

Zusammensetzung außerstande ist. Die geistigen Voraussetzungcn <strong>der</strong> Offensive sind in<br />

noch höherem Maße ungünstig ... Die Regierung ... hat ihre Unfähigkeit, Rußlands<br />

Politik unabhängig von den imperialistischen Alliierten zu bestimmen, ... vor <strong>der</strong> Armee<br />

entblößt. Die Massendesertion ... hört unter den heutigen Bedingungen auf, einfach das<br />

Resultat bösen Einzelwillens zu sein, und wird <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> völligen Unfähigkeit <strong>der</strong><br />

Regicning, die revolutionäre Armee durch innere Einheitlichkeit <strong>der</strong> Ziele zusammenzuschweißen...«<br />

Indem er weiter darauf verwies, daß die Regierung die »sofortige Abschaffung<br />

des gutsherrlichen Bodenbesitzes, das heißt die einzige Maßnahme, die den<br />

rückständigsten Bauern überzeugen könnte, daß diese <strong>Revolution</strong> seine <strong>Revolution</strong>« ist,<br />

nicht zu beschließen wage, endet <strong>der</strong> Artikel rait den Worten: »Unter solchen materiellen<br />

und geistigen Bedingungen muß die Offensive unvermeidlich den Charakter eines<br />

Abenteuers erhalten.«<br />

Der Kommandobestand glaubte fast durchweg, daß die in militärischer Hinsicht<br />

hoffnungslose Offensive ausschließlich aus politischen Erwägungen erfor<strong>der</strong>lich sei.<br />

Nachdem Denikin seine Front bereits hatte, meldete er Brussilow: »Ich glaube an keinen<br />

Erfolg <strong>der</strong> Offensive.« Das letzte Element <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit brachte die Untauglichkeit<br />

des Kommandobestandes selbst hinein. Der Offizier und Patriot Stankewitsch<br />

bezeugt, daß ein Sieg vom Standpunkt <strong>der</strong> technischen Vorbereitung ausgeschlossen war,<br />

unabhängig von <strong>der</strong> moralischen Verfassung <strong>der</strong> Truppen: »Die Offensive war unter aller<br />

Kritik organisiert.« Eine Offiziersdelegation mit dem Vorsitzenden des Offiziersverbandes,<br />

dem Kadetten Nowosilzew, an <strong>der</strong> Spitze, suchte die Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei auf<br />

und warnte sie, die Offensive werde zu einem Mißerfolg verurteilt sein und zur Vernichtung<br />

<strong>der</strong> besten Tmppenteile führen. Die höheren Stellen entledigten sich <strong>der</strong> Warnungen<br />

mit allgemeinen Phrasen: »Es glimmte die Hoffnung«, sagte <strong>der</strong> Stabschef des Haupt-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 248


quartiers, <strong>der</strong> reaktionäre General Lukomski, »daß <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> erfolgreichen Kämpfe<br />

die Massenpsychologie vielleicht verän<strong>der</strong>n und den Vorgesetzten die Möglichkeit geben<br />

werde, die ihren Händen entfallenen Zügel wie<strong>der</strong> straffzuziehen« Darin eben bestand<br />

das eigentliche Ziel: die Zügel straffzuziehen.<br />

Entsprechend einem längst ausgearbeiteten Plane bestand ursprünglich die Absicht, mit<br />

den Kräften <strong>der</strong> Südwestfront den Hauptschlag in <strong>der</strong> Richtung auf Lemberg zu führen;<br />

<strong>der</strong> Nord- und Westfront waren Hilfsaufgaben zugedacht. Der Angriff sollte gleichzeitig<br />

an allen Fronten beginnen. Bald aber wurde offenbar, daß dieser Plan die Kräfte des<br />

Kommandos weit überstieg. Es wurde deshalb beschlossen, an den einzelnen Fronten,<br />

beginnend mit den weniger wichtigen, <strong>der</strong> Reihe nach loszuschlagen. Aber auch dies<br />

erwies sich als undurchführbar. »Nunmehr beschloß das Oberste Kommando«, sagte<br />

Denikin, »auf jede strategische Planmäßigkeit zu verzichten und gezwungenermaßen den<br />

Fronten zu überlassen, die Operationen nach Maßgabe ihrer Bereitschaft zu beginnen.«<br />

Alles wurde <strong>der</strong> Vorsehung anheimgestellt. Es fehlten nur noch die Heiligenbil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Zarin. Man venuchte sie durch die Heiligenbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Demokratie zu ersetzen. Kerenski<br />

reiste umher, beschwor, segnete. Die Offensive begann: am 16. Juni an <strong>der</strong> Südwestfront;<br />

am 7. Juli an <strong>der</strong> Westfront; am 8. an <strong>der</strong> Nordfront, am 9. an <strong>der</strong> rumänischen Front.<br />

Das Losschlagen <strong>der</strong> letzten drei Fronten, im Wesen fiktiv, traf bereits zusammen mit<br />

dem Beginn des Zusammenbruches <strong>der</strong> wichtigsten, das heißt <strong>der</strong> Südwestfront.<br />

Kerenski meldete <strong>der</strong> Provisorischen Regierung: »Heute ist das große Fest <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Am 18. Juni ist die russische revolutionäre Armee mit höchster Begeisterung zum<br />

Angriff übergegangen.« »Das langersehnte Ereignis ist eingetreten«, schrieb die<br />

'Rjetsch', das Blatt <strong>der</strong> Kadetten, »das die guten Tage <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> mit<br />

einem Schlage zurückbrachte.« Am 19. Juni deklamierte <strong>der</strong> Greis Plechanow bei einer<br />

patriotischen Kundgebung: »Bürger! Wenn ich euch frage, welcher Tag heute ist, werdet<br />

ihr mir sagen: Montag. Aber das ist ein Irrtum: heute ist Sonntag, ein Sonntag für unser<br />

Land und für die Demokratie <strong>der</strong> ganzen Welt. Rußland, das das Joch des Zarismus<br />

abgeschüttelt hat, hat beschlossen, auch das Joch des Feindes abzuschütteln.« Zeretelli<br />

erklärte am selben Tage auf dem Rätekongreß: »Es beginnt eine neue Seite in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> großen Russischen Re-volution ...« »Nicht allein die russische Demokratie<br />

muß die Erfolge unserer revolutionären Armee begrüßen, son<strong>der</strong>n auch ... alle jene,<br />

die einen Kampf gegen den Imperialismus wirklich anstreben.« Die patriotische<br />

Demokratie hatte alle ihre Schleusen geöffnet.<br />

Die Zeitungen brachten inzwischen die freudige Nachricht: »Die Pariser Börse<br />

begrüßt die russische Offensive mit dem Steigen aller <strong>russischen</strong> Wertpapiere.« Die<br />

<strong>Sozialisten</strong> versuchten, die Festigkeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> am Kurszettel zu prüfen. Die<br />

<strong>Geschichte</strong> aber lehrt, daß die Börse sich um so besser fühlt, je schlechter es <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

geht.<br />

Die Arbeiter und die Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt waren keinen Augenblick von <strong>der</strong> Welle<br />

des künstlich aufgewärmten Patriotismus erfaßt. Sein Schauplatz blieb <strong>der</strong> Newskij-Prospekt<br />

»Wir gingen auf den Newsktj«, erzählt <strong>der</strong> Soldat Tschinenow in seinen Erinnerungen,<br />

»und versuchten gegen die Offensive zu agitieren. Da stürzten sich die Bourgeois<br />

mit Schirmen auf uns ... Wir ergriffen die Bourgeois, schleppten sie in die Kasernen...<br />

und sagten ihnen, sie würden morgen an die Front geschickt werden.« Das waren schon<br />

Zeichen des heranziehenden Ausbruches des Bürgerkrieges: es nahten die Julitage.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 249


Am 21. Juni beschloß das Maschinengewehrregiment in Petrograd in allgemeiner<br />

Versammlung: »Wir werden in <strong>der</strong> Zukunft nur dann Kommandos an die Front schicken,<br />

wenn <strong>der</strong> Krieg einen revolutionären Charakter tragen wird« ... Auf die Drohung mit<br />

Auflösung antwortete das Regiment, es werde vor <strong>der</strong> Auflösung »<strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung und <strong>der</strong> sie unterstützenden Organisationen« nicht haltmachen. Wir vernehmen<br />

hier wie<strong>der</strong>um eine Note <strong>der</strong> Drohung, die <strong>der</strong> Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki weit<br />

vorauslief.<br />

Die Chronik <strong>der</strong> Ereignisse vermerkt unter dem 23. Juni: »Teile <strong>der</strong> II. Armee erobern<br />

die erste und die zweite Schützengrabenlinie des Feindes« ... Und gleich danach: »In <strong>der</strong><br />

Fabrik von Baranowski (6.000 Arbeiter) sind Neuwahlen für den Petrogra<strong>der</strong> Sowjet<br />

vorgenommen worden. An Stelle <strong>der</strong> drei Sozialrevolutionäre wurden drei Bolschewiki<br />

gewählt.«<br />

Gegen Ende des Monats war die Physiognomie des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets bereits bedeutend<br />

verän<strong>der</strong>t. Allerdings nahm er am 20. Juni noch eine Begrüßungsdelegation für die<br />

im Vormarsch begriffene Armee an. Aber mit welcher Mehrheit? 472 gegen 271<br />

Stimmen bei 39 Stimmenthaltungen. Das ist ein völlig neues Kräfteverhältnis, dem wir<br />

bisher nicht begegneten. Zusammen mit den linken Grüppchen <strong>der</strong> Menschewiki und<br />

Sozialrevolutionäre bilden die Bolschewiki bereits zwei Fünftel des Sowjets. Das bedeutet,<br />

in Betrieben und Kasernen sind die Gegner <strong>der</strong> Offensive eine unbestrittene<br />

Mehrheit.<br />

Der Wyborger Bezirkssowjet nahm am 24. Juni eine Resolution an, in <strong>der</strong> jedes Wort<br />

ein Hammerschlag ist: »Wir .. . protesticren gegen die Abenteuer <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung, die für alte Raubverträge die Offensive führt ... und wir schieben <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung und den sie unterstützenden Parteien <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

die ganze Verantwortung für diese Politik <strong>der</strong> Offensive zu.« Der nach <strong>der</strong><br />

Februarumwälzung zurückgedrängte Wyborger Bezirk rückte jetzt zuversichtlich auf den<br />

ersten Platz vor. Im Wyborger Sowjet herrschten die Bolschewiki bereits völlig.<br />

Jetzt hing alles vom Schicksal <strong>der</strong> Offensive ab, das heißt von den Schützengrabensoldaten.<br />

Welche Verän<strong>der</strong>ungen rief die Offensive im Bewußtsein jener hervor, die sie zu<br />

vollziehen hatten? Unbewußt strebten sie nach Frieden. Doch gelang es den<br />

Regierenden, gerade dieses Streben bis zu einem gewissen Grade, mindestens bei einem<br />

Teil <strong>der</strong> Soldaten und für ganz kurze Zeit, in die Bereitschaft zum Angriff umzuwandeln.<br />

Die Soldaten hatten nach <strong>der</strong> Umwälzung von <strong>der</strong> neuen Macht den baldigen Friedensschluß<br />

erwartet und bis dahin sich bereit gefunden, die Front zu halten. Der Frieden<br />

jedoch kam nicht. Teils unter dem Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki, hauptsächlich aber auf <strong>der</strong><br />

Suche nach eigenen Wegen zum Frieden, begannen die Soldaten Verbrü<strong>der</strong>ungsversuche<br />

mit den Deutschen und Österreichern. Nun setzte jedoch gegen die Verbrü<strong>der</strong>ung eine<br />

Hetze von allen Seiten ein. Außerdem ergab sich, daß die deutschen Soldaten ihren<br />

Offizieren noch lange nicht den Gehorsam verweigerten. So wurde die Verbrü<strong>der</strong>ung,<br />

die zu keinem Frieden geführt hatte, stark eingedämmt.<br />

An <strong>der</strong> Front herrschte inzwischen faktisch Waffenstillstand, den die Deutschen zu<br />

riesigen Truppenverschiebungen an die Westfront benutzten. Die <strong>russischen</strong> Soldaten<br />

beobachtcten, wie die feindlichen Schützengräben sich leerten, die Maschinengewehre<br />

entfernt, die Kanonen abtransportiert wurden. Darauf eben baute man den Plan <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 250


moralischen Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive auf. Man flößte den Soldaten systematisch den<br />

Gedanken ein, <strong>der</strong> Feind sei völlig geschwächt, seine Kraft reiche nicht mehr aus, im<br />

Westen werde er von Amerika bedrängt, und es genüge unsererseits ein leichter Stoß,<br />

damit die feindliche Front auseinan<strong>der</strong>falle und wir Frieden bekämen. Die Regierenden<br />

glaubten daran nicht eine einzige Stunde. Aber sie verließen sich darauf, daß die Armee,<br />

die Hand erst einmal in die Kriegsmaschine hineingesteckt, nicht mehr imstande sein<br />

würde, sie zurückzuziehen.<br />

Da we<strong>der</strong> die Diplomatie <strong>der</strong> Provisorischen Regierung noch die Verbrü<strong>der</strong>ung zum<br />

Ziele geführt hatten, neigte ein Teil <strong>der</strong> Soldaten zweifellos zum dritten Weg: den Stoß<br />

zu geben, durch den <strong>der</strong> Krieg in Asche zerfallen müsse. Auf dem Rätekongreß gab ein<br />

Frontdelegierter die Stimmung <strong>der</strong> Soldaten gerade so wie<strong>der</strong>: »Vor uns liegt die jetzt<br />

stark gelichtete deutsche Front, vor uns stehen jetzt keine Kanonen; gehen wir los und<br />

werfen den Feind um, dann sind wir dem ersehnten Frieden nähergekommen.«<br />

Der Feind erwies sich anfangs tatsächlich als sehr schwach und zog sich zurück, ohne<br />

den Kampf anzunehmen, den zu liefern die Angreifer allerdings auch nicht imstande<br />

gewesen wären. Der Feind zerfiel aber durchaus nicht, son<strong>der</strong>n gruppierte sich um und<br />

zog seine Kräfte zusammen. Nachdem sie 20-30 Kilometer vorgegangen waren, eröffnete<br />

sich den <strong>russischen</strong> Soldaten ein Bild, das ihnen aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahre nur zu gut bekannt war: <strong>der</strong> Feind erwartete sie auf neuen, befestigten Positionen.<br />

Und da offenbarte sich auch, daß, wenn die Soldaten auch noch einverstanden gewesen<br />

waren, einen Stoß zugunsten des Friedens zu führen, sie keinesfalls den Krieg wollten.<br />

Durch Gewalt, moralischen Druck und hauptsächlich Täuschung in diesen<br />

hineingezogen, machten sie um so entrüsteter kehrt.<br />

»Nach einer artilleristischen Vorbereitung, wie man sie ihrer Stärke und Größe nach<br />

russischerseits noch nie gesehen hatte«, schreibt <strong>der</strong> russische Geschichtsschreiber des<br />

Weltkrieges, General Sajontschkowski, »besetzten die Truppen fast ohne Verluste die<br />

feindlichen Positionen und wollten nicht weiter vorgehen. Es begann eine Massendesertion,<br />

ganze Truppenteile verließen die Stellungen.«<br />

Der ukrainische Politiker Doroschenko, ehemaliger Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung in Galizien, erzählt, nach <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Städte Galitsch und Kalusch<br />

»erfolgte in Kalusch sofort ein furchtbarer Pogrom gegen die Bevölkerung, ausschließlich<br />

Ukrainer und Juden, - die Polen tastete man nicht an. Den Pogrom leitete irgendeine<br />

erfahrene Hand, die beson<strong>der</strong>s auf die ukrainischen kulturell aufklärenden<br />

Institutionen in <strong>der</strong> Stadt hinwies.« Am Pogrom beteiligten sich »die besten, durch die<br />

<strong>Revolution</strong> am wenigsten demoralisierten« Truppenteile, die für die Offensive sorgfältigst<br />

ausgesucht worden waren. Aber noch offener enthüllten dabei ihr Antlitz die Führer<br />

<strong>der</strong> Offensive, die alten zaristischen Kommandeure, erprobte Pogromorganisatoren.<br />

Am 9. Juli telegraphienen Komitees und Kommissare <strong>der</strong> II. Armee an die Regierung:<br />

»Die am 6. Juli an <strong>der</strong> Front <strong>der</strong> II. Armee begonnene deutsche Offensive wächst sich zu<br />

einem unermeßlichen Unglück aus ... In <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Truppenteile, die vor kurzem<br />

mit heroischer Anstrengung <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit in Bewegung gebracht wurden, vollzieht sich<br />

ein schroffer und katastrophaler Umschwung. Der Angriffselan hat sich schnell<br />

erschöpft. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Truppenteile befindet sich im Zustande stetig wachsen<strong>der</strong><br />

Auflösung. Von Vorgesetzten und Gehorsam kann nicht mehr die Rede sein, Überredungen<br />

und Ermahnungen haben ihre Kraft verloren, - sie werden mit Bedrohungen o<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 251


auch mit Erschießung beantwortet.«<br />

Der Oberkommandierende <strong>der</strong> Südwestfront erließ mit Zustimmung <strong>der</strong> Kommissare<br />

und Komitees einen Befehl, auf Fliehende zu schießen.<br />

Am 12. Juli kehrte <strong>der</strong> Oberkommandierende <strong>der</strong> Westfront, Denikin, zu seinem Stab<br />

zurück »mit Verzweiflung im Herzen und mit dem klaren Bewußtsein des völligen Zusammenbruchs<br />

<strong>der</strong> letzten noch glimmenden Hoffnung auf ... ein Wun<strong>der</strong>«.<br />

Die Soldaten wollten nicht kämpfen. Die Truppen in <strong>der</strong> Etappe, an die sich die<br />

geschwächten Truppenteile nach Besetzung <strong>der</strong> feindlichen Schützengräben um Ersatz<br />

wandten, antworteten: »Weshalb seid ihr zum Angriff übergegangen? Wer hat es euch<br />

befohlen? Beenden soll man den Krieg, aber nicht angreifen.« Der Kommandeur des 1.<br />

Sibirischen Korps, das als eines <strong>der</strong> besten galt, meldete, daß die Soldaten mit Einbruch<br />

<strong>der</strong> Nacht in Scharen, kompanieweise, die nicht attackierte erste Linie zu verlassen<br />

begannen. »Ich begrift daß wir Vorgesetzten ohnmächtig waren, die elementare Psychologie<br />

<strong>der</strong> Soldatenmasse zu än<strong>der</strong>n1 - und habe bitter, bitter und lange geweint.e<br />

Eine Kompanie weigerte sich sogar, dem Gegner ein Flugblatt über die Einnahme<br />

Galitschs zuzuwerfen, solange nicht ein Soldat da sei, <strong>der</strong> zuvor den deutschen Text ins<br />

Russische übersetzen könnte. Diese Tatsache zeigt den ganzen Umfang des Mißtrauens<br />

<strong>der</strong> Soldatenmasse zur Führung, sei es jetzt die alte, sei es die neue vom Februar. Die<br />

jahrhun<strong>der</strong>telang erduldeten Verhöhnungen und Mißhandlungen drangen vulkanisch<br />

nach außen. Dic Soldaten fühlten sich wie<strong>der</strong>um betrogen. Die Offensive führte nicht<br />

zum Frieden, son<strong>der</strong>n zum Krieg. Die Soldaten aber wollten keinen Krieg. Und sie hatten<br />

recht. Die im Hinterlande verkrochenen Patrioten hetzten und brandmarkten die Soldaten<br />

als Drückeberger. Doch die Soldaten hatten recht. Es leitete sie ein richtiger nationaler<br />

Instinkt, hervorgebrochen aus dem Bewußtsein unterjochter, betrogener, geschundener,<br />

von revolutionärer Hoffnung aufgerichteter und wie<strong>der</strong> in den blutigen Trog hinabgestürzter<br />

Menschen. Die Soldaten hatten recht. Die Fortsetzung des Krieges konnte deni<br />

<strong>russischen</strong> Volke nichts bringen als neue Opfer, Erniedrigungen, Nöte, nichts als<br />

Verschärfung <strong>der</strong> inneren und äußeren Knechtschaft.<br />

Die patriotische Presse, nicht nur die kadettische, son<strong>der</strong>n auch die sozialistische, war<br />

im Jahre 1917 darin unermüdlich, den <strong>russischen</strong> Soldaten, den Deserteuren und Feiglingen<br />

die heroischen Bataillone <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong> gegenüberzustellen.<br />

Diese Gegenüberstellungen verraten nicht nur Unverständnis für die Dialektik des<br />

revolutionären Prozesses, son<strong>der</strong>n auch völlige historische Unbildung.<br />

Die hervorragenden Feldherren <strong>der</strong> Französischen <strong>Revolution</strong> und des Imperiums<br />

begannen stets als Disziplinbrecher und Desorganisatoren; Miljukow würde sagen, als<br />

Bolschewiki. Der spätere Marschall Davoust zersetzte als Leutnant D'Avoust in den<br />

Jahren 1789-1790 monatelang die "normale" Disziplin in <strong>der</strong> Garnison Aisdenne, indem<br />

er die Vorgesetzten verjagte. In ganz Frankreich vollzog sich bis Mitte des Jahres 1790<br />

<strong>der</strong> Prozeß des völligen Verfalls <strong>der</strong> alten Armee. Die Soldaten des Vincenner Regiments<br />

zwangen die Offiziere, gemeinsam mit ihnen zu speisen. Die Flotte jagte ihre Offiziere<br />

davon. In 20 Regimentern wurden Gewaltakte gegen den Kommandobestand verübt. In<br />

Nancy sperrten drei Regimenter ihre Offiziere ins Gefängnis. Seit 1790 wurden die<br />

Führer <strong>der</strong> Französischen <strong>Revolution</strong> nicht müde, anläßlich <strong>der</strong> militärischen Exzesse zu<br />

wie<strong>der</strong>holen: »Die Exeku-tivmacht trägt die Schuld, da sie die Offiziere, die <strong>der</strong> Revolu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 252


tion feindlich sind, nicht absetzt.« Es ist bemerkenswert, daß für die Auflösung des alten<br />

Offizierskorps sowohl Mirabeau wie Robespierre plädierten. Der eine beabsichtigte, so<br />

schnell wie möglich die feste Disziplin aufzurichten. Der an<strong>der</strong>e wollte die Konterrevolution<br />

entwaffnen. Beide aber hatten begriffen: das Leben <strong>der</strong> alten Armee war zu Ende.<br />

Allerdings vollzog sich die Russische <strong>Revolution</strong> zum Unterschiede von <strong>der</strong> Französischen<br />

während des Krieges. Daraus aber ergibt sich keineswegs eine Ausnahme für das<br />

von Engels abgeleitete historische Gesetz. Im Gegenteil, die Bedingungen des langwierigen<br />

und unglücklichen Krieges vermochten den Prozeß <strong>der</strong> revolutionären Auflösung <strong>der</strong><br />

Armee nur zu beschleunigen und zu verschärfen. Die mißglückte und verbrecherische<br />

Offensive <strong>der</strong> Demokratie tat das übrige. Jetzt sagten die Soldaten bereits allgemein:<br />

»Genug des Blutvergießens! Wozu Freiheit und Boden, wenn wir nicht da sein werden?«<br />

Wenn die erleuchteten Pazifisten den Versuch unternehmen, den Krieg mittels rationalistischer<br />

Argumente abzuschaffen, wirken sie einfach lächerlich. Wenn aber die bewaffneten<br />

Massen beginnen, Argumente <strong>der</strong> Vernunft gegen den Krieg anzuführen, dann<br />

bedeutet dies das Ende des Krieges.<br />

Die Bauernschaft<br />

Das Fundament <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bildete die Agrarfrage. In den archaischen Rechtsverhältnissen<br />

auf dem Lande, die unmittelbar aus <strong>der</strong> Leibeigenschaft hervorgegangen<br />

waren, in <strong>der</strong> traditionellen Gewalt des Gutsbesitzers, in den engen Banden zwischen<br />

Gutsbesitzer, Lokaladministration und ständischer Landesverwaltung wurzelten die<br />

barbarischsten Erscheinungen des <strong>russischen</strong> Lebens, gekrönt durch die Rasputinsche<br />

Monarchie. Der Muschik, <strong>der</strong> die Stütze des jahrhun<strong>der</strong>tealten Asiatentums darstellte,<br />

war gleichzeitig eines seiner ersten Opfer.<br />

In den ersten Wochen nach <strong>der</strong> Februarumwälzung blieb das Dorf fast völlig reglos.<br />

Die aktivsten Jahrgänge befanden sich an <strong>der</strong> Front. Die älteren Generationen, die zu<br />

Hause geblieben waren, erinnerten sich nur zu gut an die Strafexpeditionen als das Ende<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Das Dorf schwieg, deshalb schwieg auch die Stadt über das Dorf. Doch<br />

das Gespenst des Bauernkrieges schwebte schon von den Märztagen an über den Gutsnestern.<br />

Aus den überwiegend adligen, das heißt rückständigsten und reaktionärsten<br />

Gouvernements erscholl <strong>der</strong> Hilferuf, bevor noch die wirkliche Gefahr sich offenbart<br />

hatte. Die Liberalen spiegelten trefflich die Ängste <strong>der</strong> Gutsbesitzer wi<strong>der</strong>. Die Versöhnler<br />

die Stimmung <strong>der</strong> Liberalen. »Das Agrarproblem in den nächsten Wochen zu forcieren«,<br />

räsonierte <strong>der</strong> "linke" Suchanow nach <strong>der</strong> Umwälzung, »ist schädlich, und es<br />

besteht nicht die geringste Notwendigkeit dafür.« Genauso wähnte Suchanow, wie wir<br />

wissen, daß es schädlich wäre, die Friedensfrage und den Achtstundentag zu forcieren.<br />

Sich vor Schwierigkeiten verkriechen war einfacher. Überdies schreckten die Gutsbesitzer<br />

noch damit, daß eine Erschütterung <strong>der</strong> Rechtszustände auf dem Lande sich auf<br />

Aussaat und Versorgung <strong>der</strong> Städte schädlich auswirken würde. Das Exekutivkomitee<br />

schickte warnende Telegramme ins Land, man möge sich »nicht zu Agrarakten zuungunsten<br />

<strong>der</strong> Städteversorgung hinreißen lassen«.<br />

An vielen Orten hielten die Gutsbesitzer, durch die <strong>Revolution</strong> erschrocken, mit <strong>der</strong><br />

Frühjahrsaussaat zurück. Bei <strong>der</strong> schwierigen Ernährungslage des Landes schrie <strong>der</strong><br />

unbestellte Boden gleichsam nach einem neuen Herrn. Die Bauernschaft rührte sich<br />

dumpf. Da sie <strong>der</strong> neuen Macht nicht vertrauten, schritten die Gutsbesitzer an die schleu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 253


nige Liquidierung ihrer Besitztümer. In <strong>der</strong> Berechnung, daß die Zwangsexpropriationen<br />

sich auf sie, als Bauern, nicht erstrecken würden, kauften die Kulaken in großem Maße<br />

Gutslän<strong>der</strong>eien auf. Zahlreiche Bodenverkäufe trugen vorsätzlich fiktiven Charakter.<br />

Man ging davon aus, daß <strong>der</strong> Privatbesitz unter einer bestimmten Norm verschont<br />

bleiben würde; in Anbetracht dessen teilten die Gutsbesitzer ihre Län<strong>der</strong>eien in kleine<br />

Reviere ein, die sie auf vorgeschobene Besitzer übertrugen. Nicht selten wurde <strong>der</strong><br />

Boden auf Auslän<strong>der</strong>, Bürger <strong>der</strong> alliierten o<strong>der</strong> neutralen Län<strong>der</strong>, überschrieben. Die<br />

Spekulationen <strong>der</strong> Kulaken und die Machenschaften <strong>der</strong> Gutsbesitzer drohten, vom<br />

Bodenfonds bis zur Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung nichts übrigzulassen.<br />

Das Dorf sah diese Manöver. Daher die For<strong>der</strong>ung: durch ein Dekret jeglichen Bodentransaktionen<br />

Einhalt zu gebieten. Von überall strömten Fürsprecher <strong>der</strong> Bauern in die<br />

Stadt, zu <strong>der</strong> neuen Behörde, Land und Wahrheit zu suchen. Nach erhabenen Disputen<br />

o<strong>der</strong> Ovationen stießen die Minister nicht selten beim Ausgang auf die grauen Gestalten<br />

<strong>der</strong> Bauerndeputierten. Suchanow erzählt, wie ein Bauernfürsprecher mit Tränen in den<br />

Augen die Bürger-Minister anflehte, ein Gesetz zu erlassen, das den Bodenfonds gegen<br />

Ausverkäufe schützen sollte. »Ungeduldig unterbrach ihn <strong>der</strong> erregte und blasse<br />

Kerenski: Ich habe gesagt, es wird gemacht, folglich wird es gemacht ... Und es ist nicht<br />

nötig, mich mit mißtrauischen Augen anzuschauen.« Suchanow, <strong>der</strong> dieser Szene<br />

beiwohnte, fügt hinzu: »Ich zitiere wörtlich, - und Kerenski hatte recht: mit mißtrauischen<br />

Augen blickten die Muschiks auf den berühmten Volksminister und Führer.« In<br />

diesem kurzen Dialog zwischen dem Bauern, <strong>der</strong> noch bittet, aber nicht mehr vertraut,<br />

und dem radikalen Minister, <strong>der</strong> das Mißtrauen des Bauern abwehrt, liegt die Unvermeidlichkeit<br />

des Zusammenbruchs des Februarregimes.<br />

Die Bestimmungen über die Landkomitees, als Vorbereitungsorgane für die Agrarreform,<br />

waren vom ersten Ackerbauminister, dem Kadetten Schingarow, erlassen worden.<br />

Das oberste Landkomitee, mit dem liberal-bürokratischen Professor Postnikow an <strong>der</strong><br />

Spitze, bestand hauptsächlich aus Narodniki, die sich beson<strong>der</strong>s davor fürchteten,<br />

weniger gemäßigt zu erscheinen als ihr Vorsitzen<strong>der</strong>. Die lokalen Landkomitees wurden<br />

in den Gouvernements, Kreisen und Bezirken errichtet. Galten die Sowjets, die sich im<br />

Dorfe nur schwer durchsetzten, als Privatorgane, so hatten die Landkomitees Regierungseharakter.<br />

Je unbestimmter <strong>der</strong> Lage nach ihre Funktionen waren, um so schwerer<br />

konnten sie dem Druck <strong>der</strong> Bauernschaft Wi<strong>der</strong>stand leisten. Je niedriger auf <strong>der</strong> hierarchischen<br />

Leiter ein Komitee stand, je näher es dem Lande war, um so eher wurde es zum<br />

Werkzeug <strong>der</strong> Bauernbewegung.<br />

Ende März tauchten in <strong>der</strong> Hauptstadt die ersten beunruhigenden Nachrichten auf über<br />

das Erscheinen von Bauern auf dem Schauplatz. Der Nowgoro<strong>der</strong> Kommissar gibt<br />

telegraphisch Nachricht über Unruhen, die ein Fähnrich Panasjuk stifte, über »unbegründete<br />

Verhaftungen von Gutsbesitzern« usw. Im Tambower Gouvernement wird von einer<br />

Bauernmenge mit einigen entlassenen Soldaten an <strong>der</strong> Spitze ein Gutshof geplün<strong>der</strong>t. Die<br />

ersten Meldungen sind zweifellos übertrieben, die Gutsbesitzer bauschen in ihren<br />

Beschwerden offensichtlich die Zusammenstöße auf und greifen den Ereignissen vor.<br />

Was aber keinem Zweifel unterliegt, ist die führende Teilnahme von Soldaten an <strong>der</strong><br />

Bauernbewegung, die von <strong>der</strong> Front und den Stadtgarnisonen Initiativgeist mitbringen.<br />

Ein Bezirkskomitee im Gouvernement Charkow beschließt am 5. April, bei den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 254


Bodenbesitzern Haussuchungen nach Waffen vorzunehmen. Dies ist bereits eine deutliche<br />

Vorahnung des Bürgerkrieges. Die Entstehung von Unruhen im Skopinski-Kreis,<br />

Gouvernement Rjasan, erklärt <strong>der</strong> Kommissar damit, daß das Exekutivkomitee des<br />

Nachbarkreises die Zwangsverpachtung des gutsherrlichen Bodens an die Bauern verfügte.<br />

»Die Agitation <strong>der</strong> Studenten für die Wahrung <strong>der</strong> Ruhe bis zur Einberufung <strong>der</strong><br />

Konstituierenden Versammlung hat keinen Erfolg.« So erfahren wir, daß "Studenten", die<br />

in <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> zum Agrarterror aufgerufen hatten - das war zu jener Zeit die<br />

Taktik <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre -, im Jahre 1917 dagegen Ruhe und Gesetzlichkeit, allerdings<br />

erfolglos predigten.<br />

Der Kommissar des Gouvernements Simbirsk zeichnet ein Bild <strong>der</strong> anschwellenden<br />

Bauernbewegung: die Bezirks- und Dorfkomitees - von ihnen wird noch im weiteren die<br />

Rede sein - verhaften Gutsbesitzer, weisen sie aus dem Gouvernement aus, entfernen die<br />

Arbeiter von den gutsherrlichen Fel<strong>der</strong>n, beschlagnahmen den Boden und bestimmen<br />

eigenmächtig den Pachtzins. »Die vom Exekutivkomitee entsandten Delegierten gehen<br />

auf die Seite <strong>der</strong> Bauern über.« Gleichzeitig setzt die Bewegung <strong>der</strong> Gemeindemitglie<strong>der</strong><br />

gegen die Siedler ein, das heißt gegen die Großbauern, die auf Grund des Stolypinschen<br />

Gesetzes vom 9. November 1906 sich mit selbständigen Landstücken ausgeson<strong>der</strong>t<br />

hatten. »Die Lage im Gouvernement gefährdet die Feldbestellung.« Der Simbirsker<br />

Gouvernementskommissar sieht bereits im April keinen an<strong>der</strong>en Ausweg, als die unverzügliche<br />

Proklamierung des Bodens zum Nationaleigentum mit <strong>der</strong> Bestimmung, daß die<br />

Art <strong>der</strong> Landbenutzung später von <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung festgelegt werden<br />

solle.<br />

Aus dem Kreise Kaschirski, dicht bei Moskau, kommen Klagen, das Exekutivkomitee<br />

verleite die Bevölkerung zur Aneignung kirchlicher, klösterlicher und gutsherrlicher<br />

Län<strong>der</strong>eien. Im Gouvernement Kursk holen die Bauern die Kriegsgefangenen von <strong>der</strong><br />

Arbeit auf den Gütern heraus und setzen sie sogar im Ortsgefängnis fest. Nach den<br />

Bauernkongressen beginnen die Bauern des Gouvernements Pensa - geneigt, die Resolutionen<br />

<strong>der</strong> Sozialrevolutionäre über Land und Freiheit wörtlich zu nehmen - die kürzlich<br />

mit den Bodenbesitzern abgeschlossenen Verträge zu verletzen. Gleichzeitig eröffnen sie<br />

einen Feldzug gegen die neuen Regierungsorgane. »Bei <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Bezirks- und<br />

Kreisexekutivkomitees im Monat März wurden in <strong>der</strong> Mehrzahl Vertreter <strong>der</strong> Intelligenz<br />

gewählt; später jedoch«, berichtet <strong>der</strong> Pensaer Kommissar, »wurden Stimmen gegen sie<br />

laut, und schon Mitte April bestanden die Komitees überall ausschließlich aus Bauern,<br />

die in <strong>der</strong> Bodenfrage offen ungesetzliche Tendenzen vertraten.«<br />

Eine Gruppe des benachbarten Kasaner Gouvernements erhob bei <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung Beschwerde über die Unmöglichkeit, die Wirtschaft fortzuführen, da die<br />

Bauern die Feldarbeiter verjagen, die Saat wegnehmen, an vielen Orten die ganze Habe<br />

von den Gehöften wegtragen, den Gutsbesitzer hin<strong>der</strong>n, in seinem Walde Holz zu fällen,<br />

mit Gewalt und Tod drohen. »Es gibt kein Recht, alle tun, was sie wollen, <strong>der</strong> vernünftige<br />

Teil wird terrorisiert.« Die Kasaner Gutsbesitzer wissen bereits, wer die Schuld an <strong>der</strong><br />

Anarchie hat: »Die Verfügungen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung sind im Dorfe unbekannt,<br />

dafür aber sind die Flugblätter <strong>der</strong> Bolschewiki sehr verbreitet.«<br />

Indes herrschte an Verfügungen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung kein Mangel. Durch ein<br />

Telegramm vom 20. März stellte Fürst Lwow den Kommissaren anheim, Bezirkskomitees<br />

als Organe <strong>der</strong> Ortsbehörde zu schaffen, und empfahl ihnen, zur Arbeit »die örtli-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 255


chen Bodenbesitzer und alle intellektuellen Kräfte des Dorfes hiazuzuziehen«. Es war<br />

beabsichtigt, das gesamte Staatsregime nach dem System <strong>der</strong> Friedenskammern zu<br />

organisieren. Die Kommissare jedoch waren bald gezwungen, über die Verdrängung <strong>der</strong><br />

»intellektuellen Kräfte« zu klagen, <strong>der</strong> Muschik miiltraute offensichtlich den Krei- und<br />

Dorfkerenskis.<br />

Am 3. April dekretiert Fürst Lwows Stellvertreter, Fürst Urussow - das Innenministerium<br />

war, wie wir sehen, mit hohen Titeln ausgestattet -, keine Willkür zu dulden und<br />

insbeson<strong>der</strong>e »die Freiheit jedes Bodenbesitzers, über sein Land unbeschränkt zu verfügen«,<br />

das heißt, die süßeste aller Freiheiten, zu schützen. Nach zehn Tagen hält es Fürst<br />

Lwow für nötig, sich selbst zu mühen und den Kommissaren anzuordnen, »mit <strong>der</strong><br />

ganzen Kraft des Gesetzes jegliche Äußerung von Gewalt und Plün<strong>der</strong>ung zu unterdrükken«.<br />

Nach weiteren zwei Tagen befiehlt Fürst Urussow einem Gouvernementskommissar,<br />

»Maßnahmen zu treffen zum Schutze <strong>der</strong> Gestüte gegen Willkürakte, indem man den<br />

Bauern auseinan<strong>der</strong>setzt« ... und so weiter. Am 18. April ist Fürst Urussow darüber<br />

besorgt, daß die Kriegsgefangenen, die auf den Gütern arbeiten, maßlose For<strong>der</strong>ungen zu<br />

stellen beginnen, und er schreibt den Kommissaren vor, die Vermessenen auf Grund <strong>der</strong><br />

Vollmachten, über die früher die zaristischen Gouverneure verfügten, zu bestrafen.<br />

Zirkulare, Verfügungen, telegraphische Anordnungen rinnen in ununterbrochenem<br />

Regen von oben nach unten. Am 12. Mai zählt Fürst Lwow in einem neuen Telegramm<br />

die Ausschreitungen auf, die »im ganzen Lande nicht aufhören wollen: willkürliche<br />

Verhaftungen, Haussuchungen, Entsetzung aus Ämtern, Besitzverwaltungen, Fabrikleitungen;<br />

Plün<strong>der</strong>ungen, Räubereien, Freibeutertum; Gewaltakte an Amtspersonen;<br />

Belegung <strong>der</strong> Bevölkerung mit Steuern; Aufhetzung eines Teiles <strong>der</strong> Bevölkerung gegen<br />

den an<strong>der</strong>en,« usw. usw. »Alle Akte solcher Art haben als offen rechtswidrig, in gewissen<br />

Fällen sogar als anarchistisch zu gelten« ... Die Qualifizierung ist nicht sehr klar, wohl<br />

aber die Schlußfolgerung: »die energischsten Maßnahmen zu treffen«. Die Gouvemementskommissare<br />

leiteten die Zirkulare energisch weiter an die Kreise, die Kreiskommissare<br />

drückten auf die Bezirkskomitees, und alle gemeinsam offenbarten sie ihre<br />

Ohnmacht vor dem Muschik.<br />

Fast überall greifen die in <strong>der</strong> Nähe liegenden Truppenteile ein. Sehr häufig machen sie<br />

den Anfang. Die Bewegung nimmt äußerst mannigfaltige Formen an, je nach den lokalen<br />

Verhältnissen und dem Grade <strong>der</strong> Kampfverschärfung. In Sibirien, wo es keine Gutsbesitzer<br />

gibt, eignen sich die Bauern Kirchen- und Klostergüter an. Übrigens ist die Geistlichkeit<br />

auch in an<strong>der</strong>en Landesteilen übel dran. Im frommen Gouvernement Smolensk<br />

setzt man, unter dem Einfluß von <strong>der</strong> Front zurückgekehrter Soldaten, die Popen und<br />

Mönche gefangen. Die örtlichen Organe sehen sich oft gezwungen, weiterzugehen, als<br />

sie es möchten, um <strong>der</strong> Anwendung radikalerer Maßnahmen seitens <strong>der</strong> Bauern vorzubeugen.<br />

Ein Kreisexekutivkomitee des Gouvernements Samara bestimmte Anfang Mai<br />

die öffentliche Vormundschaft über das Gut des Grafen Orlow-Dawydow, um diesen so<br />

gegen die Bauern zu schützen. Da das von Kerenski versprochene Dekret über das<br />

Verbot von Landverkäufen doch nicht herauskam, begannen die Bauern den Ausverkauf<br />

<strong>der</strong> Besitzungen auf eigene Faust zu verhin<strong>der</strong>n, indem sie Landvermessungen nicht<br />

zuließen. Die Beschlagnahme von Waffen, sogar Jagdgewehren, bei den Gutsbesitzern<br />

greift immer mehr um sich. Die Bauern des Gouvernements Minsk, klagt <strong>der</strong> Kommissar,<br />

»betrachten die Resolutionen des Bauernkongresses als Gesetz«. Wie konnte man sie<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 256


auch an<strong>der</strong>s verstehen? Waren doch diese Kongresse die einzige reale Macht auf dem<br />

Lande. So enthüllt sich das große Mißverständnis zwischen <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />

Intelligenz, die sich an Worten verschluckt, und <strong>der</strong> Bauernschaft, die Taten for<strong>der</strong>t.<br />

Ende Mai geriet die große asiatische Steppe in Bewegung. Die Kirgisen, denen die<br />

Zaren zugunsten ihrer Lakaien die besten Län<strong>der</strong>eien weggenommen hatten, erheben sich<br />

jetzt gegen die Gutsbesitzer, indem sie sie auffor<strong>der</strong>n, ihre Diebesgüter schnellstens zu<br />

liquidieren. »Diese Ansicht festigt sich in <strong>der</strong> Steppe«, meldet <strong>der</strong> Kommissar von<br />

Akmolinsk.<br />

Am an<strong>der</strong>en Ende des Landes, im Gouvernement Livland, entsandte das Kreis-Exekutivkomitee<br />

eine Untersuchungskommission in Sachen <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ung auf dem Gute des<br />

Barons Stahl von Holstein. Die Kommission fand die Unruhen unbedeutend, die<br />

Anwesenheit des Barons im Kreise die Ruhe gefährdend und verfügte: ihn mitsamt <strong>der</strong><br />

Baronin zur Verfügung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung nach Petrograd zu schaffen. So<br />

entstand einer <strong>der</strong> zahllosen Konflikte zwischen Ortsbehörde und Zentralmacht,<br />

zwischen Sozialrevolutionären unten und Sozialrevolurionären oben.<br />

Der Bericht vom 27. Mai aus dem Pawlogra<strong>der</strong> Kreise im Gouvernement Jekaterinoslaw<br />

schil<strong>der</strong>t fast idyllische Zustände: die Mitglie<strong>der</strong> des Landkomitees klären die<br />

Bevölkerung über alle Mißverständnisse auf, womit sie »jeglichen Exzessen vorbeugen«.<br />

Aber ach, dieses Idyll wird nur kurze Wochen währen.<br />

Der Vorsteher eines <strong>der</strong> Klöster in Kostroma beschwert sich Ende Mai bei <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung bitter über die Requisition eines Drittels des klösterlichen Hornviehs<br />

durch die Bauern. Der ehrwürdige Mönch sollte bescheidener sein: bald wird er auch von<br />

den übrigen zwei Dritteln Abschied nehmen müssen.<br />

Im Gouvernement Kursk beginnen Verfolgungen gegen die Siedler, die sich weigerten,<br />

in die Dorfgemeinschaft zurückzukehren. Die Bauernschaft will vor <strong>der</strong> großen<br />

Agrarumwälzung, vor <strong>der</strong> schwarzen Neuverteilung als ein Ganzes auftreten. Innere<br />

Scheidungen könnten ein Hin<strong>der</strong>nis werden. Der Mir 5 muß wie ein Mann auftreten. Der<br />

Kampf um das gutsherrliche Land wird deshalb von Gewaltakten gegen die Siedler, das<br />

heißt die Bodenindividualisten, begleitet.<br />

Am letzten Maitag wird im Gouvernement Perm <strong>der</strong> Soldat Samojlow verhaftet, <strong>der</strong><br />

zur Steuerverweigerung aufgefor<strong>der</strong>t hatte. Bald wird <strong>der</strong> Soldat Samojiow an<strong>der</strong>e<br />

verhaften. Bei <strong>der</strong> Kirchenprozession in einem Dorfe des Charkower Gouvernements<br />

zerhackte <strong>der</strong> Bauer Grizenko vor den Augen des ganzen Dorfes mit einem Beil das<br />

geweihte Bild des heiligen Nikolaus. So entstehen die verschiedenartigsten Formen des<br />

Protestes und verwandeln sich in Taten.<br />

Ein Seeofflzier und Gutsbesitzer gibt in den anonymen "Aufzeichnungen eines<br />

Weißgardisten" ein interessantes Bild <strong>der</strong> Evolution des Dorfes während <strong>der</strong> ersten<br />

Monate nach <strong>der</strong> Umwälzung. Auf alle Posten »wurden fast überall Menschen aus<br />

bürgerlichen Schichten gewählt. Alle waren nur um das eine bemüht, - die Ordnung<br />

aufrechtzuerhalten«. Zwar erhoben die Bauern die For<strong>der</strong>ung nach Land, aber in den<br />

ersten zwei, drei Monaten ohne Gewaltanwendung. Im Gegenteil, man konnte immer<br />

Worte hören wie »wir wollen nicht plün<strong>der</strong>n, wir wünschen im Einvernehmen zu bekom-<br />

5 "<br />

die "Dorfgemeinschaft" wie die "Welt".<br />

Mir" bedeutet Russisch sowohl<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 257


men« usw. In diesen beruhigen-den Versicherungen vernahm jedoch das Ohr des<br />

Leumants eine »versteckte Drohung«. In <strong>der</strong> Tat, wenn auch die Bauernschaft in <strong>der</strong><br />

ersten Periode nicht zur Gewalt grift so begann sie doch, den Kräften <strong>der</strong> sogenannten<br />

Intelligenz »mit einem Male ihre Mißachtung zu bezeigen«. Die halbabwartende<br />

Stimmung dauerte, nach den Worten des Weißgardisten, bis Mai/Juni, »wonach sich bald<br />

eine schroffe Wendung bemerkbar machte, die Tendenz auftauchte, den Gouvernementsbestimmungen<br />

zu wi<strong>der</strong>sprechen, die Angelegenheiten nach eigenem Ermessen zu erledigen«<br />

... Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Bauernschaft ließ <strong>der</strong> Februarrevolution eine Frist von<br />

ungefähr drei Monaten zur Begleichung <strong>der</strong> sozialrevolutionären Wechsel, um dann<br />

selbständig zur Eintreibung überzugehen.<br />

Der Soldat Tschinenow, <strong>der</strong> sich den Bolschewiki angeschlossen hatte, reiste nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung zweimal von Moskau nach seinem Heimatort im Gouvernement Orel. Im<br />

Mai herrschten im Bezirk die Sozialrevolutionäre. An vielen Orten zahlten die Muschiks<br />

den Gutsbesitzern noch die Pacht. Tschinenow organisierte eine bolschewistische Zelle<br />

aus Soldaten, Landarbeitern und Landarmen. Die Zelle predigte Einstellung <strong>der</strong> Steuerzahlungen<br />

und Zuteilung von Boden an Landlose. Man machte sofort eine Aufstellung<br />

<strong>der</strong> gutsherrlichen Wiesen, verteilte sie unter den Dörfern und mähte sie ab. »Die Sozialrevolutionäre,<br />

die im Bezirkskomitee saßen, schrien über die Ungesetzlichkeit unserer<br />

Handlungen, verzichteten aber nicht auf ihren Teil Heu.« Da die Bezirksvertreter aus<br />

Angst vor <strong>der</strong> Verantwortung ihre Vollmachten rie<strong>der</strong>legten, wählten die Bauern an<strong>der</strong>e,<br />

entschlossenere. Das waren bei weitern nicht immer Bolschewiki. Durch ihren unmittelbaren<br />

Druck spalteten die Bauern die sozialrevolutionäre Partei, indem sie die revolutionären<br />

Elemente von den Bürokraten und Karrieremachern trennten. Nachdem sie das<br />

Gras <strong>der</strong> Gutsherren abgemäht hatten, machten sich die Muschiks an die Brachlel<strong>der</strong> und<br />

verteilten den Boden für die Wintersaat. Die bolschewistische Zelle faßte den Beschluß,<br />

die Speicher <strong>der</strong> Gutsbesitzer zu untersuchen und die Brotvorräte in das hungernde<br />

Zentrum zu senden. Die Verfügungen <strong>der</strong> Zelle wurden ausgeführt, da sie den Stimmungen<br />

<strong>der</strong> Bauern entsprachen. Tschinenow brachte bolschewistische Literatur nach Hause,<br />

von <strong>der</strong> dort bisher niemand eine Ahnung gehabt hatte. »Die Ortsintelligenz und die<br />

Sozialrevolutionäre verbreiteten das Gerücht, ich brächte viel deutsches Gold mit und<br />

besteche die Bauern.« In verschiedenen Maßstäben entwickeln sich überall die gleichen<br />

Prozesse. Je<strong>der</strong> Bezirk hatte seine Miljukows, seine Kerenskis und - seine Lenins.<br />

Im Gouvernement Smolensk verstärkte sich <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre nach<br />

dem Gouvemementskongreß <strong>der</strong> Bauerndeputierten, <strong>der</strong> sich, wie üblich, für den<br />

Übergang des Bodens in die Hände des Volkes ausgesprochen hatte. Die Bauern nahmen<br />

diesen Beschluß restlos an, aber, zum Unterschiede von den Führern, ernsthaft. Nunmehr<br />

wächst die Zahl <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre im Dorfe ununterbrochen. »Wer bei irgendeinem<br />

Kongreß in <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre gewesen war«, berichtet ein Politiker<br />

jener Gegend, »hielt sich für einen Sozialrevolutionär o<strong>der</strong> ähnliches« ... In <strong>der</strong> Kreisstadt<br />

standen zwei Regimenter, die sich gleichfalls unter dem Einfluß <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

befanden. Die Bezirkskomitees begannen, den guts-herrlichen Acker zu bestellen<br />

und die Wiesen abzumähen. Der Gouvernementskommissar, <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />

Jefimow, schickte Drohbefehle. Das Dorf stutzte: <strong>der</strong> gleiche Kommissar hatte doch auf<br />

dem Gouvernementskongreß gesagt, die Bauern seien jetzt selbst die Macht, und<br />

Nutznießer des Bodens dürfe nur <strong>der</strong> sein, <strong>der</strong> ihn bearbeite. Aber man mußte den Tatsa-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 258


chen Rechnung tragen. Auf Anordnung des sozialrevolutionären Kommissars Jefimow<br />

wurden in den nächsten Monaten allein im Jelninski-Kreis von 17 Bezirkskomitees 16<br />

wegen Aneignung gutsherrlicher Län<strong>der</strong> vor Gericht gestellt. Auf diese eigenartige<br />

Weise ging <strong>der</strong> Roman <strong>der</strong> Volkstümler-Intelligenz mit dem Volke seiner Lösung entgegen.<br />

Im ganzen Kreise gab es drei, vier Bolschewiki, nicht mehr. Ihr Einfluß war jedoch<br />

im schnellen Wachsen und verdrängte o<strong>der</strong> spaltete die Sozialrevolutionäre.<br />

Anfang Mai wurde ein allrussischer Bauernkongreß nach Petrograd einberufen. Die<br />

Vertretung trug einen repräsentativen und in vielen Fällen rein zufälligen Charakter.<br />

Blieben schon die Arbeiter- und Soldatenkongresse hinter den Ereignissen und <strong>der</strong> politischen<br />

Evolution <strong>der</strong> Massen ständig zurück, so braucht nicht erst gesagt zu werden, wie<br />

weit die Vertretung <strong>der</strong> zersplitterten Bauernschaft hinter den wirklichen Stimmungen<br />

<strong>der</strong> Dörfer zurück war. Als Delegierte fungierten einerseits Narodniki-Intelligenzler<br />

rechtester Spielart, Menschen, die mit <strong>der</strong> Bauernschaft hauptsächlich durch Handelskooperation<br />

o<strong>der</strong> Jugen<strong>der</strong>innerungen verbunden waren. Das echte "Volk" war durch die<br />

wohlhaben<strong>der</strong>en Spitzen des Dorfes, Kulaken, Krämer, Bauerngenossenschaftler, vertreten.<br />

Die Sozialrevolutionäre herrschten auf diesem Kongreß uneingeschränkt, und zwar<br />

in Gestalt ihres rechtesten Flügels. Mitunter jedoch hielten auch sie inne, erschreckt<br />

durch die verblüffende Mischung von Landgier und politischem Schwarzhun<strong>der</strong>ttum <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Deputierten. In bezug auf den gutsherrlichen Landbesitz war die allgemeine<br />

Position des Kongresses sehr radikal: Ȇbergang des gesamten Bodens in den Besitz des<br />

Volkes zur ausgleichenden werktätigen Benutzung ohne jegliche Ablösung.« Natürlich<br />

verstanden die Kulaken unter Ausgleichung nur ihre Gleichstellung mit den Gutsbesitzern,<br />

keinesfalls aber mit den Landarbeitern. Dieses kleine Mißverständnis zwischen dem<br />

fiktiven Narodniki-Sozialismus <strong>der</strong> Narodniki und dem agrarischen Muschik-Demokratismus<br />

aufzudecken, war <strong>der</strong> Znkunft vorbehalten.<br />

Ackerbauminister Tschernow, <strong>der</strong> vor Verlangen brannte, dem Bauernkongreß ein<br />

Osterei zu schenken, trug sich vergeblich mit einem Dekretentwurf über das Verbot von<br />

Landverkäufen. Der Justizminister Perewersew, <strong>der</strong> ebenfalls für eine Art Sozialrevolutionär<br />

galt, hatte gerade in den Tagen des Kongresses verfügt, daß die Ortsbehörden den<br />

Landverkäufen keine Hin<strong>der</strong>nisse in den Weg legen dürften. Die Bauerndeputierten<br />

brummten deshalb ein wenig darüber. Die Sache kam aber keinen Schritt vorwärts. Die<br />

Provisorische Regierung des Fürsten Lwow war nicht gewillt, auf die gutsherrlichen<br />

Län<strong>der</strong> Hand zu legen. Die <strong>Sozialisten</strong> wollten nicht auf die Provisorische Regierung<br />

Hand legen Die Zusammensetzung des Kongresses war indes am allerwenigsten fähig,<br />

aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen zwischen ihrem Appetit auf Land und ihrem Reaktionarismus<br />

einen Ausweg zu finden.<br />

Am 20. Mai sprach auf dem Bauernkongreß Lenin. Es konnte scheinen, sagt<br />

Suchanow, daß Lenin in ein Lager von Krokodilen geraten sei. »Aber die Muschiks<br />

hörten aufmerksam und wohl nicht ohne Sympathie zu. Nur wagten sie sie nicht zu<br />

zeigen.« Das gleiche wie<strong>der</strong>holte sich in <strong>der</strong> den Bolschewiki äußerst feindlichen Soldatensektion.<br />

Nach den Sozialrevolutionären und Menschewiki versucht auch Suchanow,<br />

<strong>der</strong> Leninschen Taktik in <strong>der</strong> Agrarfrage eine anarchistische Färbung zu geben. Das ist<br />

gar nicht so fern vom Fürsten Lwow, <strong>der</strong> geneigt war, die Attentate auf die gutsherrlichen<br />

Rechte als anarchistische Handlungen anzusehen. Nach dieser Logik ist die <strong>Revolution</strong><br />

in ihrer Gesamtheit gleichbedeutend mit Anarchie. In Wirklichkeit war die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 259


Leninsche Fragestellung viel tiefer, als sie seinen Kritikern erschien. Organe <strong>der</strong> Agrarrevolution,<br />

in erster Linie zur Liquidierung des gutsherrlichen Bodenbesitzes, sollten die<br />

Sowjets <strong>der</strong> Bauerndeputierte mit den ihnen unterstellten Landkomitees werden. Lenin<br />

erblickte in den Sowjets Organe <strong>der</strong> morgigen Staatsmacht, und zwar <strong>der</strong> allerkonzentriertesten,<br />

nämlich <strong>der</strong> revolutionären Diktatur. Das ist jedenfalls von Anarchismus, das<br />

heißt von Theorie und Praxis <strong>der</strong> Herrschaftslosigkeit, weit entfernt. »Wir sind«, sagte<br />

Lenin am 23. April, »für die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern bei maximalster<br />

Organisiertheit. Wir sind absolut gegen anarchische Aneignungen.« Weshalb wir<br />

nicht auf die Konstituante warten wollen? »Für uns ist die revolutionäre Initiative<br />

wichtig, das Gesetz aber muß <strong>der</strong>en Resultat sein. Wen ihr warten werdet, bis das Gesetz<br />

geschrieben wird, selbst aber keine revolutionäre Energie entfaltet, werdet ihr we<strong>der</strong><br />

Gesetz noch Boden haben.« Ist in diesen einfachen Worten nicht die Stimme aller<br />

<strong>Revolution</strong>en?<br />

Nach einem Monat Verhandlungen wählte <strong>der</strong> Bauernkongress ein Exekutivkomitee<br />

als ständige Institution, bestehend aus zweihun<strong>der</strong>t robusten dörfischen Kleinbourgeois<br />

und Narodniki vom Professoren- o<strong>der</strong> Krämertyp und stellte vor diese Gesellschaft die<br />

dekorativen Gestalten <strong>der</strong> Breschkowskaja, Tschajkowski, Wera Figner und Kerenski.<br />

Zum Vorsitzenden wurde Awksentjew gewählt, geschaffen für Gouvernementsbankette,<br />

aber nicht für den Bauernkrieg.<br />

Von nun an wurden die wichtigsten Fragen in gemeinsamen Sitzungen zweier Exekutiven:<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauern behandelt. Diese Verbindung<br />

bedeutete eine außerordentliche Stärkung des rechten Flügels, <strong>der</strong> sich unmittelbar an die<br />

Kadetten anlehnte. In allen Fällen, wo man einen Druck auf die Arbeiter ausüben, über<br />

die Bolschewiki herfallen, <strong>der</strong> "unabhängigen Kronstädter Republik" mit Peitschen und<br />

Skorpionen drohen wollte, erhoben sich wie eine Mauer die zweihun<strong>der</strong>t Hände o<strong>der</strong><br />

richtiger Fäuste <strong>der</strong> Bauernexekutive. Diese Menschen stimmten mit Miljukow darin<br />

völlig überein, daß man mit den Bolschewiki »Schluß machen« müsse. Aber in Beziehung<br />

auf das gutsherrliche Land hatten sie Muschikansichten und nicht liberale Theorien,<br />

und dies brachte sie in einen Gegensatz zur Bourgeoisie und zur Provisorischen Regierung.<br />

Kaum hatte <strong>der</strong> Bauernkongreß Zeit gehabt auseinan<strong>der</strong>zugehen, als auch schon<br />

Beschwerden zu hageln begannen, man nehme auf dem Lande seine Resolutionen ernst,<br />

was zur Wegnahme von Boden und Inventar bei den Gutsbesitzern führe. Es war absolut<br />

unmöglich, den starrsinnigen Muschikschädeln den Unterschied zwischen Wort und Tat<br />

einzuhämmern.<br />

Die Sozialrevolutionäre gaben erschrocken Rückzugssignale. Auf ihrem Kongreß<br />

Anfang Mai in Moskau verurteilten sie feierlichst jede eigenmächtige Landaneignung:<br />

man müsse auf die Konstituierende Versammlung warten. Doch war diese Resolution<br />

außerstande, die Agrarbewegung aufzuhalten o<strong>der</strong> auch nur abzuschwächen. Die Sache<br />

wurde noch dadurch außerordentlich verzwickt, daß es in <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei<br />

nicht wenig Elemente gab, die tatsächlich bereit waren, bis zu Ende mit dem Muschik<br />

gegen den Gutsbesitzer zu gehen, wobei diese linken Sozialrevolutionäre, die sich noch<br />

nicht entschließen konnten, offiziell mit <strong>der</strong> Partei zu brechen, den Muschiks halfen, die<br />

Gesetze zu umgehen o<strong>der</strong> auf eigene Art zu deuten.<br />

Im Gouvernement Kasan, wo die Bauernbewegung einen beson<strong>der</strong>s stürmischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 260


Schwung erhielt, machten sich die linken Sozialrevolutionäre früher als an<strong>der</strong>swo<br />

unabhängig. An ihrer Spitze stand Kalegajew, <strong>der</strong> spätere Volkskommissar für Ackerbau<br />

in <strong>der</strong> Sowjetregierung während <strong>der</strong> Periode des Blockes <strong>der</strong> Bolschewiki mit den linken<br />

Sozialrevolutionären. Seit Mitte Mai beginnt im Gouvernement Kasan die systematische<br />

Übergabe des Bodens an die Bezirkskomitees. Am kühnsten wurde diese Maßnahme im<br />

Kreise Spassk durchgeführt, wo an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Bauernorganisationen ein Bolschewik<br />

stand. Die Gouvernementsbehörden führen bei <strong>der</strong> Zentralbehörde Beschwerde über die<br />

Agraragitation, die von den aus Kronstadt zugereisten Bolschewiki betrieben werde,<br />

wobei diese die fromme Nonne Tamara angeblich »wegen Wi<strong>der</strong>rede« verhaftet hatten.<br />

Aus dem Gouvernement Woronesch meldete <strong>der</strong> Kommissar am 2. Juni: »Fälle von<br />

Rechtsbeugungen und ungesetzlichen Akten häufen sich im Gouvernement mit jedem<br />

Tage mehr, besonden auf dem Agrargebiete.« Landaneignungen im Gouvernement Pensa<br />

mehrten sich. Ein Dorfkomitee im Gouvernement Kaluga nahm einem Kloster die Hälfte<br />

<strong>der</strong> Heuernte; auf Beschwerde des Vorstehers hin entschied das Kreiskomitee: die ganze<br />

Heuernte sei wegzunehmen. Das ist kein Son<strong>der</strong>fall, daß die obere Instanz radikaler ist<br />

als die untere. Die Äbtissin Maria aus dem Gouvernement Pensa klagte über Enteignung<br />

klösterlichen Besitzes. »Die Lokalbehörden sind ohnmächtig.« Im Gouvernement Wjatka<br />

belegten die Bauern das Gut <strong>der</strong> Skoropadskis, <strong>der</strong> Familie des späteren ukrainischen<br />

Hetmans, mit Beschlag und verfügten, »bis zur Lösung <strong>der</strong> Frage über den<br />

Bodenbesitz«: den Wald nicht anzutasten und die Einkünfte aus dem Gut an die Staatskasse<br />

abzuführen. An vielen an<strong>der</strong>en Orten setzen die Landkomitees nicht nur den Pachtzins<br />

um das Fünf- bis Sechsfache herab, son<strong>der</strong>n verfügten außerdem, ihn nicht an die<br />

Gutsbesitzer, son<strong>der</strong>n bis zur Lösung <strong>der</strong> Frage durch die Konstituierende Versammlung<br />

an die Komitees abzuführen. Das war keine Advokaten-, son<strong>der</strong>n eine Muschik-, das<br />

heißt ernste Antwort zur Frage des Nichtvorgreifens <strong>der</strong> Bodenreform bis zur Konstituierenden<br />

Versammlung. Im Gouvernement Saratow begannen die Bauern, die noch gestern<br />

den Gutsbesitzern Wald zu fällen verboten hatten, ihn selbst abzuholzen. Immer häufiger<br />

eignen sich die Bauern dort, wo es wenig gutsherrlichen Boden gibt, kirchliche und<br />

klösterliche Län<strong>der</strong>eien an. Gemeinsam mit den Soldaten des lettischen Bataillons griffen<br />

die lettischen Landarbeiter in Livland zur planmäßigen Aneignung <strong>der</strong> Güter <strong>der</strong> Barone.<br />

Im Gouvernement Witebsk jammem die Waldhändler, daß die Maßnahmen <strong>der</strong><br />

Landkomitees den Waldhandel ruinieren und die Versorgung <strong>der</strong> Front gefährden. Nicht<br />

min<strong>der</strong> uneigennützige Patrioten, die Gutsbesitzer des Gouvernements Poltawa, trauern,<br />

daß die Agrarunruhen sie hin<strong>der</strong>n, die Armee mit Proviant zu beliefern. Schließlich warnt<br />

<strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Pferdezüchter in Moskau, daß die Aneignungen <strong>der</strong> Bauern die vaterländische<br />

Pferdezüchterei unheilvoll bedrohen. Gleichzeitig beschwert sich <strong>der</strong> Oberprokureur<br />

des Synods, <strong>der</strong> nämliche, <strong>der</strong> die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> heiligen Institution als »Idioten<br />

und Schufte« bezeichnet hatte, bei <strong>der</strong> Regierung darüber, daß im Gouvernement Kasan<br />

die Bauern den Mönchen nicht nur Land und Vieh wegnehmen, son<strong>der</strong>n auch das für die<br />

Hostie nötige Mehl. Im Petrogra<strong>der</strong> Gouvernement, zwei Schritt von <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

entfernt, verjagten die Bauern den Pächter von einem Gut und übernahmen die Bewirtschaftung<br />

selbst. Der wachsame Fürst Urussow telegraphiert am 2. Juni wie<strong>der</strong> an alle<br />

Enden des Landes: »Trotz meinen For<strong>der</strong>ungen ...« usw., usw. »Ich ersuche erneut,<br />

entschiedenste Maßnahmen zu treffen.« Der Fürst vergaß nur anzugeben, welche.<br />

Während sich im ganzen Lande die gigantische Arbeit <strong>der</strong> Ausrodung <strong>der</strong> tiefsten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 261


Wurzeln von Mittelalter und Leibeigenschaft vollzog, sammelte Ackerbauminister<br />

Tschernow in seinen Kanzleien Material für die Konstituierende Versammlung. Er hatte<br />

sich vorgenommen, die Reform nicht an<strong>der</strong>s als auf Grund genauester Angaben über die<br />

Bodenverhältnisse und allerhand an<strong>der</strong>er Statistiken durchzuführen, und redete deshalb<br />

den Bauern mit süßester Stimme zu, das Ende seiner Exerzitien abzuwarten. Das hin<strong>der</strong>te<br />

übrigens die Gutsbesitzer nicht, den Bauernminister von seinem Posten zu stürzen, lange<br />

bevor er mit seinen sakramentalen Tabellen fertig war.<br />

Auf Grund <strong>der</strong> Archive <strong>der</strong> Provisorischen Regierung haben junge Forscher berechnet,<br />

daß die Agrarbewegung, die im Monat März mit größerer o<strong>der</strong> geringerer Heftigkeit nur<br />

in 34 Kreisen einsetzte, im April bereits 174, im Mai 236. im Juni 280, im Juli 325<br />

Kreise erfaßt hatte. Diese Zahlen geben jedoch kein vollständiges Bild von dem wirklichen<br />

Wachsen <strong>der</strong> Bewegung, da <strong>der</strong> Kampf in jedem Kreise von Monat zu Monat einen<br />

breiteren und hartnäckigeren Massencharakter annimmt.<br />

In dieser ersten Periode, von März bis Juli, enthalten sich die Bauern in ihrer überwiegenden<br />

Mehrheit noch <strong>der</strong> Gewaltanwendung gegen die Gutsbesitzer und offener<br />

Landaneignungen. Jakowlew, <strong>der</strong> die erwähnten Forschungen leitete, erklärt die verhältnismäßig<br />

friedliche Taktik <strong>der</strong> Bauern mit ihrer Vertrauensseligkeit zur Bourgeoisie.<br />

Diese Erklärung muß man als unzulänglich bezeichnen. Die Regierung Fürst Lwows<br />

konnte aber den Bauern keinesfalls Vertrauen einflößen, selbst wenn man von dem<br />

ständigen Argwohn <strong>der</strong> Muschiks gegen Stadt, Behörde, gebildete Gesellschaft absieht.<br />

Daß die Bauern in <strong>der</strong> ersten Periode noch keine Zuflucht in offenen Gewaltmaßnahmen<br />

suchen, son<strong>der</strong>n bestrebt sind, ihren Handlungen die Form des legalen o<strong>der</strong> fast legalen<br />

Druckes zu geben, läßt sich eben mit dem Mißtrauen gegen die Regierung bei mangelndem<br />

Vertrauen auf die eigenen Kräfte erklären. Die Bauern beginnen erst sich zu rühren,<br />

tasten den Boden ab, messen den Wi<strong>der</strong>stand des Feindes, und während sie den Gutsbesitzer<br />

auf <strong>der</strong> ganzen Linie bedrängen, sagen sie: »Wir wollen nicht plün<strong>der</strong>n, wir wollen<br />

alles gütlich ordnen.« Sie eignen sich die Wiesen nicht an, sie mähen nur ab. Sie nehmen<br />

den Boden zwangsweise in Pacht, bestimmen selbst den Pachtzins, o<strong>der</strong> "kaufen" ebenso<br />

zwangsweise, Boden zu gleichfalls von ihnen festgesetzten Preisen. Alle diese legalen<br />

Verschleierungen sind für den Gutsbesitzer wie für den liberalen Juristen wenig überzeugend<br />

und in Wirklichkeit von tiefem aber verstecktem Mißtrauen gegen die Regierung<br />

diktiert: im Guten erhältst du es nicht, denkt sich <strong>der</strong> Muschik, mit Gewalt ist es gefährlich,<br />

also muß man es mit List versuchen. Er hätte vorgezogen, den Gutsbesitzer mit<br />

dessen Zustimmung zu expropriieren.<br />

»In allen diesen Monaten«, schlußfolgerte Jakowlew, »überwogen ganz eigenartige, in<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> nicht dagewesene Mittel des "friedlichen" Kampfes gegen den Gutsbesitzer,<br />

die sich aus dem bäuerlichen Vertrauen zur Bourgeoisie und zur Regierung <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie ergaben.« Die Mittel, die hier als in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> noch nicht dagewesen<br />

proklamiert werden, sind in Wirklichkeit ganz typisch, unvermeidlich und geschichtlich<br />

allgemein gültig für das Anfangsstadium des Bauernkrieges unter allen Breitengraden.<br />

Das Bestreben, die ersten aufrührerischen Schritte durch Gesetzlichkeit, kirchliche o<strong>der</strong><br />

weltliche, zu decken, charakterisiert seit alters her den Kampf je<strong>der</strong> revolutionären<br />

Klasse, bevor sie genügend Kraft und Zuversicht gesammelt hat, um die Nabelschnur,<br />

die sie mit <strong>der</strong> alten Gesellschaft verbindet, zu zerreißen. Das bezieht sich auf die<br />

Bauernschaft in noch höherem Maße als auf jede an<strong>der</strong>e Klasse, denn selbst in ihren<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 262


esten Perioden bewegt sie sich im Halbdunkel vorwärts und betrachtet ihre städtischen<br />

Freunde mit mißtrauischen Augen. Sie hat dafür Gründe genug. Bei den ersten Schritten<br />

<strong>der</strong> Agrarbewegung sind <strong>der</strong>en Freunde Agenten <strong>der</strong> liberalen und radikalen<br />

Bourgeoisie. Während sie Teile <strong>der</strong> Bauernansprüche för<strong>der</strong>n, sind diese Freunde jedoch<br />

uni das Schicksal des bürgerlichen Besitztums besorgt und deshalb aus allen Kräften<br />

bemüht, den Bauernaufstand in das Bett bürgerlicher Legalität zu lenken.<br />

In gleicher Richtung wirkten lange vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> noch an<strong>der</strong>e Faktoren. Aus <strong>der</strong><br />

Mitte des Adels selbst erstehen Prediger <strong>der</strong> Versöhnung. Leo Tolstoi hat tiefer als sonst<br />

einer in die Seele des Muschiks geblickt. Seine Philosophie des dem Übel Nichtwi<strong>der</strong>strebens<br />

war die Verallgemeinerung <strong>der</strong> ersten Etappe <strong>der</strong> Muschik-<strong>Revolution</strong>. Tolstoi<br />

träumte davon, daß alles »ohne Raub, in bei<strong>der</strong>seitigem Einvernehmen« geschehen<br />

möge. Diese Taktik unterbaute er mit einem religiösen Fundament, in <strong>der</strong> Form eines<br />

geläuterten Christentums. Mahatma Ghandi erfüllte in Indien die gleiche Mission, nur in<br />

einer praktischeren Form. Gehen wir weit in die Vergangenheit zurück, dann finden wir<br />

mühelos eben diese angeblich in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> »nie dagewesenen« Erscheinungen unter<br />

den verschiedensten religiösen, nationalen, philosophischen und politischen Hüllen,<br />

angefangen mit <strong>der</strong> biblischen Zeit und vor ihr.<br />

Die Eigenart des Bauernaufstandes von 1917 bestand höchstens darin, daß als Agenten<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Gesetzlichkeit Menschen auftraten, die sich <strong>Sozialisten</strong>, ja sogar<br />

<strong>Revolution</strong>äre nannten.<br />

Doch nicht sie bestimmten den Charakter <strong>der</strong> Bauernbewegung und ihren Rhythmus.<br />

Die Bauern gingen mit den Soziafrevolutionären nur insofern, als sie von diesen fertige<br />

Formeln für die Abrechnung mit dem Gutsbesitzer entlehnten. Gleichzeitig dienten ihnen<br />

die Sozialrevolutionäre als juristische Deckung. War es doch die Partei Kerenskis, des<br />

Justiz- und dann Kriegsministers, und Tschernows, des Ackerbauministers. Die Verzögerung<br />

des Erlasses notwendiger Dekrete erklärten die Sozialrevolutionäre <strong>der</strong> Bezirksund<br />

Kreiskomitees mit dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Gutsbesitzer und Liberalen und versicherten<br />

den Bauern, daß "Unsere" in <strong>der</strong> Regierung sich alle Mühe gäben. Dagegen vermochte<br />

<strong>der</strong> Muschik natürlich nichts einzuwenden. Da er aber keinesfalls an rühren<strong>der</strong> Vertrauensseligkeit<br />

litt, hielt er es für nötig, den "Unseren" von unten nachzuhelfen, und er tat<br />

das so gründlich, daß "Unseren" oben bald alle Gelenke krachten.<br />

Die Schwäche <strong>der</strong> Bolschewiki in Beziehung zur Bauernschaft war vorübergehend und<br />

dadurch hervorgerufen, daß sie die Illusionen <strong>der</strong> Bauern nicht teilten. Das Dorf konnte<br />

nur durch Erfahrung und Enttäuschungen zum Bolschewismus kommen. Die Stärke <strong>der</strong><br />

Bolschewiki bestand darin, daß bei ihnen in <strong>der</strong> Agrarfrage, wie auch in den an<strong>der</strong>en,<br />

kein Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Wort und Tat herrschte.<br />

Allgemeine soziologische Erwägungen erlaubten nicht, a priori zu entscheiden, ob die<br />

Bauernschaft als Ganzes fähig sei, sich gegen die Gutsbesitzer zu erheben. Das Anwachsen<br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Tendenzen in <strong>der</strong> Landwirtschaft in <strong>der</strong> Periode zwischen den<br />

zwei <strong>Revolution</strong>en; die Ausson<strong>der</strong>ung einer festen Farmerschicht aus <strong>der</strong> Urgemeinschaft;<br />

die außerordentliche Zunahme <strong>der</strong> von wohlhabenden und reichen Bauern geleiteten<br />

Dorfkooperationen, all das erlaubte nicht, von vornherein mit Bestimmtheit zu sagen,<br />

welche <strong>der</strong> zwei Tendenzen in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> überwiegen werde: <strong>der</strong> ständisch-ländliche<br />

Antagonismus zwischen Bauernschaft und Adel o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klassenantagonismus innerhalb<br />

<strong>der</strong> Bauernschaft selbst.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 263


Lenin nahm nach seiner Ankunft eine äußerst vorsichtige Position in dieser Frage ein.<br />

»Die Agrarbewegung«, sagte er am 14. April, »ist nur Prognose, aber keine Tatsache ...<br />

Man muß aber mit <strong>der</strong> Möglichkeit rechnen, daß die Bauernschaft sich mit <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

verbündet.« Das ist kein zufällig hingeworfener Gedanke. Im Gegenteil, Lenin<br />

wie<strong>der</strong>holt ihn beharrlich, bei verschiedenen Anlässen: auf <strong>der</strong> Parteikonferenz äußert er<br />

sich am 24. April in seiner Rede gegen die »alten Bolschewiki«, die ihn <strong>der</strong> Unterschätzung<br />

<strong>der</strong> Bauernschaft beschuldigten: »Es ist einer proletarischen Partei nicht erlaubt,<br />

jetzt Hoffnungen auf die Gemeinsamkeit <strong>der</strong> Interessen mit <strong>der</strong> Bauernschaft zu setzen.<br />

Wir kämpfen dafür, daß die Bauernschaft auf unsere Seite trete, sie steht aber, bis zu<br />

einem gewissen Grade bewußt, auf seiten <strong>der</strong> Kapitalisten.« Das zeigt übrigens, wie weit<br />

Lenin entfernt war von <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> ewigen Interessenharmonie zwischen Proletariat<br />

und Bauernschaft, die die Epigonen ihm später zuschrieben. Indem er mit <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

rechnete, daß die Bauernschaft "als Stand" noch als revolutionärer Faktor auftreten<br />

werde, bereitete sich Lenin jedoch im April auf die schlimmere Variante, den stabilen<br />

Block <strong>der</strong> Gutsbesitzer, Bourgeoisie und breiten Bauernschichten vor. »Den Muschik<br />

jetzt gewinnen wollen«, sagte er, »heißt, sich <strong>der</strong> Gnade Miljukows ausliefern.« Daraus<br />

die Schlußfolgerung: »Das Schwergewicht auf die Sowjets <strong>der</strong> Landarbeiterdeputierten<br />

verlegen.«<br />

Doch es hat sich die bessere Variante verwirklicht. Die Agrarbewegung wurde aus<br />

einer Prognose Tatsache und zeigte für einen kurzen Augenblick, dafür aber mit außerordentlicher<br />

Schärfe, das Übergewicht <strong>der</strong> ständisch-bäuerlichen Beziehungen über den<br />

kapitalistischen Antagonismus. Die Sowjets <strong>der</strong> Landarbeiterdeputierten gewannen nur<br />

an wenigen Orten Bedeutung, hauptsächlich in den baltischen Provinzen. Dagegen<br />

wurden die Landkomitees zu Organen <strong>der</strong> gesamten Bauernschaft, die sie durch den<br />

Druck ihres Schwergewichts aus Friedenskammern in Werkzeuge <strong>der</strong> Agrarrevolution<br />

umwandelten.<br />

Die Tatsache, daß die Bauernschaft in ihrer Gesamtheit noch einmal, zum letztenmal in<br />

ihrer <strong>Geschichte</strong>, die Möglichkeit erhielt, als revolutionärer Faktor aufzutreten, beweist<br />

gleichzeitig sowohl die Schwäche <strong>der</strong> kapitalistischen Beziehungen im Dorfe, wie auch<br />

<strong>der</strong>en Stärke. Die bürgerliche Ökonomik hatte bei weitem noch nicht Zeit gefunden, die<br />

mittelalterlich-knechtischen Bodenbeziehungen aufzusaugen. Gleichzeitig aber schritt die<br />

kapitalistische Entwicklung so weit vorwärts, daß sie die alten Formen des Bodenbesitzes<br />

für alle Schichten des Dorfes gleichermaßen unerträglich gestaltete. Die Verflechtung <strong>der</strong><br />

gutsherrlichen Besitztümer mit den bäuerlichen, nicht selten mit Vorbedacht so konstruiert,<br />

daß die gutsherrlichen Rechte zu einer Falle für die ganze Gemeinde wurden, die<br />

erschreckende Zerrissenheit des Ackerlandes, schließlich <strong>der</strong> neue Antagonismus<br />

zwischen Bodengemeinschaft und Individualsiedlern, das alles zusammen schuf den<br />

unerträglichen Wirrwarr <strong>der</strong> Bodenbeziehungen, aus dem es auf dem Wege gesetzlicher<br />

Teilmaßnahmen kein Entrinnen gab. Die Bauern fühlten das besser als alle Agrartheoretiker.<br />

Die Lebenserfahrung, sich wandelnd in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Generationen, führte sie alle<br />

zum gleichen Schluß: man muß die ererbten und erworbenen Rechte auf Land austilgen,<br />

alle Marksteine umwerfen und diesen von historischen Uberlieferungen gereinigten<br />

Boden jenen übergeben, die ihn bearbeiten. Dies war <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> Muschik-Aphorismen:<br />

das Land gehört niemand, das Land ist Gott, - und im gleichen Sinne deutete die Bauernschaft<br />

das sozial-revolutionäre Programm <strong>der</strong> Sozialisierung des Bodens. Den Theorien<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 264


<strong>der</strong> Narodniki zuwi<strong>der</strong> gab es hier keine Spur von Sozialismus. Die kühnste Agrarrevolution<br />

ging an und für sich über den Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht<br />

hinaus. Die Sozialisierung, die angeblich jedem Werktätigen "Recht auf Land" sichern<br />

sollte, bildete bei Aufrechterhaltung uneingeschränkter Marktbeziehungen eine offensichtliche<br />

Utopie. Der Menschewismus kritisierte diese Utopie unter bürgerlich-liberalem<br />

Gesichtswinkel. Der Bolschewismus dagegen deckte jene progressiv-demokratische<br />

Tendenz auf, die in <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre einen utopischen Ausdruck fand.<br />

Die Aufdeckung des wahren historischen Sinnes des <strong>russischen</strong> Agrarpjoblerns bildet<br />

eines <strong>der</strong> größten Verdienste Lenins.<br />

Miljukow schrieb, daß für ihn, als »Soziologen und Forscher <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> historischen<br />

Evolution«, das heißt als Menschen, <strong>der</strong> die Geschehnisse von großen Höhen herab<br />

betrachtet, »Lenin und Trotzki eine Bewegung verkörpern, die Pugatschew, Rasin und<br />

Bolotnikow - dem 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t unserer <strong>Geschichte</strong> - viel näher steht als den<br />

letzten Worten des europäischen Anarchosyndikalismus«. Jenes Körnchen Wahrheit, das<br />

in dieser Behauptung des liberalen Soziologen enthalten ist - läßt man den unbekannt<br />

wozu herangezogenen "Anarchosyndikalismus" beiseite -, richtet sich nicht gegen die<br />

Bolschewiki, son<strong>der</strong>n eher schon gegen die russische Bourgeoisie, ihr Zuspätkommen,<br />

ihre politische Bedeutungslosigkeit. Es ist nicht Schuld <strong>der</strong> Bolschewiki, daß die<br />

grandiosen Bauernbewegungen <strong>der</strong> vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>te nicht zur Demokratisierung<br />

<strong>der</strong> sozialen Verhältnisse in Rußland geführt hatten - ohne die Führung <strong>der</strong> Städte<br />

konnte dies nicht verwirklicht werden! -, wie es nicht Schuld <strong>der</strong> Bolschewiki ist, daß die<br />

sogenannte Bauernbefreiung im Jahre 1861 durch Diebstahl von Gemeindeboden,<br />

Versklavung <strong>der</strong> Bauern an den Staat und völlige Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Ständeordnung<br />

vollzogen wurde. Eines ist richtig: die Bolschewiki waren gezwungen, im ersten Viertel<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts das zu. Ende zu führen, was im 17., 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht<br />

zu Ende geführt o<strong>der</strong> überhaupt nicht unternommen worden war. Bevor die Bolschewiki<br />

an ihre eigene große Aufgabe herangehen konnten, mußten sie den Boden vom historischen<br />

Schutt <strong>der</strong> alten herrschenden Klassen und alten Jahrhun<strong>der</strong>te säubern, wobei sie<br />

sich dieser dringenden Aufgabe jedenfalls sehr gewissenhaft entledigten. Dies wird wohl<br />

auch Miljukow jetzt kaum zu bestreiten wagen.<br />

Verschiebungen in den Massen<br />

Im vierten Monat seines Bestehens würgte das Februarregime bereits an seinen eigenen<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen. Der Juni begann mit dem All<strong>russischen</strong> Rätekongreß, <strong>der</strong> die Aufgabe<br />

hatte, politische Deckung für die Offensive an <strong>der</strong> Front zu schaffen. In Petrograd fiel <strong>der</strong><br />

Beginn <strong>der</strong> Offensive mit einer grandiosen Demonstration <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

zusammen, die von den Versöhnlern gegen die Bolschewiki organisiert worden war, aber<br />

in eine bolschewistische Demonstration gegen die Versöhnler umschlug. Die wachsende<br />

Empörung <strong>der</strong> Massen rief zwei Wochen später eine neue Demonstration hervor, die,<br />

ohne Auffor<strong>der</strong>ung von oben ausgebrochen, zu blutigen Zusammenstößen führte und<br />

unter dem Namen "Julitage" in die <strong>Geschichte</strong> eingegangen ist. Der halbe Aufstand vom<br />

Juli, <strong>der</strong> genau in <strong>der</strong> Mitte zwischen Februar- und Oktoberrevolution liegt, schließt die<br />

erstere ab und ist gewissermaßen die Generalprobe zur zweiten. An <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong><br />

"Julitage" beenden wir diesen Band. bevor wir aber zu den Ereignissen übergehen, <strong>der</strong>en<br />

Schauplatz Petrograd im Juni war, ist es notwendig, die Prozesse, die sich in den Massen<br />

vollzogen, zu untersuchen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 265


Einem Liberalen, <strong>der</strong> Anfang Mai behauptet hatte, daß je linker die Regierung, um so<br />

rechter das Land werde - unter Land verstand <strong>der</strong> Liberale selbstredend die besitzenden<br />

Klassen -, erwi<strong>der</strong>te Lenin: »Ich versichere Ihnen, Bürger, das "Land" <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

armen Bauern ist an die tausend Mai linker als die Tschernow und Zeretelli und an die<br />

hun<strong>der</strong>t Mal linker als wir. Wenn Sie leben werden, werden Sie es sehen.« Lenin war <strong>der</strong><br />

Meinung, daß die Arbeiter und Bauern »an die hun<strong>der</strong>t Mal« linker waren als die<br />

Bolschewiki. Das konnte zumindest unbegründet erscheinen: die Arbeiter und Soldaten<br />

unterstützten doch noch die Versöhnler und hielten sich in ihrer Mehrheit von den<br />

Bolschewiki zurück. Lenin aber schürfte tiefer. Die sozialen Interessen <strong>der</strong> Massen, ihr<br />

Haß und ihre Hoffnungen suchten erst einen Ausdruck. Das Versöhnlertum war für sie<br />

die erste Etappe. Die Massen waren unermeßlich linker als die Tschernow und Zeretelli,<br />

aber ihres Radikalismus' noch selbst nicht bewußt. Lenin hatte auch darin recht, daß die<br />

Massen linker waren als die Bolschewiki, denn in ihrer überwiegenden Mehrheit legte<br />

die Partei sich nicht Rechnung über die Wucht <strong>der</strong> revolutionären Leidenschaften ab, die<br />

in den Tiefen des erwachten Volkes brodelten. Die Empörung <strong>der</strong> Massen wurde durch<br />

die Verschleppung des Krieges, den Wirtschaftsverfall und die böswillige Untätigkeit <strong>der</strong><br />

Regierung genährt.<br />

Die unendliche europäisch-asiatische Ebene war nur dank den Eisenbahnen zu einem<br />

Lande geworden. Der Krieg hatte am aller-schwersten diese getroffen. Der Transport<br />

verfiel immer mehr. Die Zahl <strong>der</strong> kranken Lokomotiven erreichte auf gewissen Strecken<br />

50%. Im Hauptquartier wurden von gelehrten Ingenieuren Referate darüber gehalten, daß<br />

<strong>der</strong> Eisenbalintransport in spätestens einem halben Jahre den Zustand völliger Paralyse<br />

erreicht haben werde. Diese Berechnungen enthielten zu nicht geringem Teil die vorsätzliche<br />

Absicht, Panik zu säen. Immerhin hatte <strong>der</strong> Zerfall des Transportes bedrohliche<br />

Dimensionen erreicht, versperrte die Strecken, desorganisierte den Warenverkehr und<br />

schürte die Teuerung.<br />

Immer schwieriger gestaltete sich die Verpflegung <strong>der</strong> Städte Die Agrarbewegung<br />

hatte bereits 43 Gouvernements erfaßt. Der Brotzustrom für Armee und Stadt verringerte<br />

sich katastrophal. In den fruchtbarsten Landgebieten gab es allerdings noch Dutzende<br />

und Hun<strong>der</strong>te Millionen Pud überflüssigen Getreides. Doch die Einkaufsoperationen zu<br />

festen Preisen ergaben äußerst unzureichende Resultate; selbst das bereitgestellte<br />

Getreide war infolge <strong>der</strong> Transportzerrüttung schwer in die Zentren zu schaffen. Seit<br />

Herbst 1916 erhielt die Front durchschnittlich nur die Hälfte <strong>der</strong> festgelegten Proviantfrachten.<br />

Auf Petrograd, Moskau und an<strong>der</strong>e Industriezentren entfielen nicht mehr als<br />

10% des Notwendigen. Vorräte gab es fast nicht. Das Lebensniveau <strong>der</strong> städtischen<br />

Massen schwankte zwischen Unterernährung und Hunger. Der Antritt <strong>der</strong> Koalitionsregierung<br />

tat sich durch das demokratische Verbot kund, Weißbrot zu backen. Mehrere<br />

Jahre werden nun vergehen, bis das "französische Brot" wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

auftaucht. Es fehlte Butter. Im Juni wurde <strong>der</strong> Zuckerverbrauch durch Rationierung im<br />

ganzen Lande eingeschränkt.<br />

Der durch den Krieg zerschlagene Marktmechanismus war nicht durch jene staatliche<br />

Regulierung ersetzt worden, zu <strong>der</strong> die fortgeschrittensten kapitalistischen Staaten hatten<br />

Zuflucht nehmen müssen und die es allein Deutschland ermöglichte, die vier Kriegsjahre<br />

durchzuhalten.<br />

Katastrophale Symptome des Wirtschaftszerfalls zeigten sich bei jedem Schritt. Das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 266


Sinken <strong>der</strong> Prodnktivität <strong>der</strong> Betriebe wurde hervorgerufen, abgesehen von <strong>der</strong> Transportzerrüttung,<br />

durch Abnutzung <strong>der</strong> Maschinen, Mangel an Rohstoffen und Hilfsmaterial,<br />

Fluktuation des Menschenbestandes, unregelmäßige Finanzierung und schließlich<br />

durch allgemeine Unsicherheit. In alter Weise arbeiteten die wesentlichsten Betriebe für<br />

den Krieg. Die Aufträge. waren für zwei, drei Jahre im voraus verteilt worden. Die<br />

Arbeiter indes wollten nicht an eine Fortdauer des Krieges glauben. Zeitungen brachten<br />

schwindelerregende Zahlen über Kriegsgewinnc. Das Lehen verteuerte sich. Die Arbeiter<br />

erwarteten Än<strong>der</strong>ungen. Das technische und administrative Betriebspersonal schloß sich<br />

in Verbänden zusammen und stellte seine For<strong>der</strong>ungen auf; in diesen Kreisen herrschten<br />

die Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Die Ordnung in den Betrieben ging in die<br />

Brüche. Alle Bande erschlafften. Die Penpektiven des Krieges und <strong>der</strong> Wirtschaft<br />

wurden nebelhaft, die Eigentumsrechte unsicher, die Gewinne sanken, die Gefahren<br />

stiegen, die Unternehmer verloren unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Lust zur<br />

Produktion. In ihrer Gesamtheit beschritt die Bourgeoisie den Weg des ökonomischen<br />

Defätismus. Sie betrachtete die vorübergehenden Verluste und Nachteile durch die<br />

Wirtschaftsparalyse als Unkosten des Kampfes mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die die Grundlagen<br />

<strong>der</strong> "Kultur" bedrohte. Gleichzeitig beschuldigte die wohlgesinnte Presse die Arbeiter<br />

tagein tagaus, sie sabotierten böswillig die Industrie, plün<strong>der</strong>ten das Material, vergeudeten<br />

sinnlos den Heizstoff, um Stillegungen herbeizuführen. Die Lügenhaftigkeit <strong>der</strong><br />

Beschuldigungen überstieg alle Grenzen. Und da es die Presse <strong>der</strong> Partei war, die<br />

faktisch an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Koalitionsregierung stand, übertrug sich die Empörung <strong>der</strong><br />

Arbeiter natürlich auf die Provisorische Regierung.<br />

Die Industriellen hatten die Erfahrung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905 nicht vergessen, wo<br />

die richtig organisierte Aussperrung bei aktiver Unterstützung <strong>der</strong> Regierung nicht nur<br />

den Kampf <strong>der</strong> Arbeiter um den Achtstundentag zum Scheitern gebracht, son<strong>der</strong>n auch<br />

<strong>der</strong> Monarchie bei <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> unschätzbare Dienste geleistet<br />

hatte. Die Frage <strong>der</strong> Aussperrung wurde auch diesmal im Rat <strong>der</strong> Tagungen von Handel<br />

und Industrie - diesen harmlosen Namen trug das Kampforgan des Trust- und Syndikatkapitals<br />

- zur Diskussion gestellt. Einer <strong>der</strong> Industrieführer, Ingenieur Auerbach, erklärte<br />

später in seinen Memoiren, weshalb <strong>der</strong> Aussperrungsgedanke abgelehnt worden war:<br />

»Das hätte den Schein eines Dolchstoßes in den Rücken <strong>der</strong> Armee gehabt ... Die meisten<br />

sahen die Folgen eines solchen Schrittes bei fehlen<strong>der</strong> Unterstützung seitens <strong>der</strong> Regierung<br />

in recht düsteren Farben.« Das ganze Unglück bestand im Fehlen einer "richtigen"<br />

Macht. Die Provisorische Regierung war durch die Sowjets, die vernünftigen Sowjetführer<br />

durch die Massen paralysiert; die Arbeiter in den Betrieben waren bewaffnet; außerdem<br />

hatte fast jede Fabrik in <strong>der</strong> Nachbarschaft ein befreundetes Regiment o<strong>der</strong><br />

Bataillon. Unter solchen Bedingungen schien den Herren Industriellen die Aussperrung<br />

in »nationaler Beziehung odiös«. Doch verzichteten sie keinesfalls auf den Angritff,<br />

son<strong>der</strong>n paßten ihn nur den Umständen an, indem sie ihm nicht einen zeitlich-einheitlichen,<br />

son<strong>der</strong>n einen schleichenden Charakter verliehen. Nach Auerbachs diplomatischem<br />

Ausdruck kamen die Industriellen »schließlich zu dem Ergebnis, daß <strong>der</strong> Anschauungsunterricht<br />

vom Leben selber erteilt werden wird: durch die unvermeidliche, sukzessive<br />

Schließung <strong>der</strong> Fabriken, sozusagen nacheinan<strong>der</strong> - was man tatsächlich bald beobachten<br />

konnte«. Mit an<strong>der</strong>en Worten, indem <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> vereinigten Industriellen die<br />

Aussperrung, weil »mit riesiger Verantwortung« verbunden, ablehnte, empfahl er seinen<br />

Mitglie<strong>der</strong>n, die Betriebe unter passenden Vorwänden einzeln zu schließen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 267


Der Plan <strong>der</strong> schleichenden Aussperrung wurde mit bemerkenswerter Systematik<br />

durchgeführt. Die Vertreter des Kapitals, wie <strong>der</strong> Kadett Kutler, ehemals Minister im<br />

Kabinett Witte, hielten eindrucksvolle Referate über die Vernichtung <strong>der</strong> Industrie,<br />

wobei sie die Schuld nicht den drei Kriegsjahren, son<strong>der</strong>n den drei <strong>Revolution</strong>smonaten<br />

zuschoben. »Es werden zwei, drei Wochen vergehen«, prophezeite <strong>der</strong> ungeduldige<br />

'Rjetsch', »und die Fabriken und Werkstätten werden eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu schließen<br />

beginnen.« Hier war eine Drohung in die Form <strong>der</strong> Prophezeiung gehüllt Ingenieure,<br />

Professoren und Journalisten eröffneten in <strong>der</strong> allgemeinen Presse wie in den Fachorganen<br />

eine Kampagne, bei <strong>der</strong> die Zügelung <strong>der</strong> Arbeiter als Vorbedingung <strong>der</strong> Rettung<br />

dargestellt wurde. Der Minister Konowalow, Industrieller, erklärte am 17. Mai, dem<br />

Vorabend seines demonstrativen Austritts aus <strong>der</strong> Regierung: »Wenn in <strong>der</strong> allernächsten<br />

Zeit nicht eine Ernüchterung <strong>der</strong> benebelten Köpfe stattfinden wird, werden wir<br />

Zeugen dutzen<strong>der</strong> und hun<strong>der</strong>ter Betriebsschließungen sein.«<br />

Mitte Juni for<strong>der</strong>t die Tagung für Handel und Industrie von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

»radikalen Bruch mit dem System <strong>der</strong> Weitertreibung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Wir haben<br />

die For<strong>der</strong>ung schon seitens <strong>der</strong> Generale gehört: »Stellt die <strong>Revolution</strong> ein.« Die<br />

Industriellen aber präzisieren die Frage: »Die Wurzel des Übels liegt nicht nur bei den<br />

Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch bei den sozialistischen Parteien. Nur eine feste, eiserne Hand<br />

kann Rußland retten.«<br />

Nachdem sie die politische Situation vorbereitet hatten, gingen die Industriellen vom<br />

Wort zur Tat über. Im März und April wurden 129 kleinere Unternehmen mit 9.000<br />

Arbeitern geschlossen; im Mai 108 Unternehmen mit <strong>der</strong> gleichen Arbeiterzahl; im Juni<br />

bereits 125 Unternehmen mit 38.000 Arbeitern; im Juli werfen 206 Unternehmen 48.000<br />

Arbeiter auf die Straße. Die Aussperrung entwickelt sich in geometrischer Progression.<br />

Aber das war erst <strong>der</strong> Anfang. Das Textilmoskau folgte Petrograd; die Provinz Moskau.<br />

Die Unternehmer beriefen sich auf den Mangel an Brennstoff, Rohmaterial und Krediten.<br />

Die Betriebskomitees griffen ein und stellten in vielen Fällen böswillige Desorganisierung<br />

<strong>der</strong> Produktion zum Zwecke eines Druckes auf die Arbeiter o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erpressung<br />

von Staatssubsidien unbestritten fest. Beson<strong>der</strong>s unverschämt benahmen sich die ausländischen<br />

Kapitalisten, die durch Vermittlung ihrer Gesandtschaften vorgingen. In einigen<br />

Fällen war die Sabotage so offensichtlich, daß die Industriellen infolge <strong>der</strong> Enthüllungen<br />

<strong>der</strong> Betriebskomitees gezwungen wurden, die Fabriken wie<strong>der</strong> zu öffnen. So gelangte die<br />

<strong>Revolution</strong>, indem sie einen sozialen Wi<strong>der</strong>spruch nach dem an<strong>der</strong>en aufdeckte, bald zu<br />

dem wichtigsten: dem zwischen Gesellschaftscharakter <strong>der</strong> Produktion und Privatbesitz<br />

an den Produktionsmitteln. Im Interesse des Sieges über die Arbeiter schließt <strong>der</strong> Unternehmer<br />

die Fabrik, als handele es sich um seine Tabaksdose, nicht aber um ein für das<br />

Leben <strong>der</strong> gesamten Nation notwendiges Unternehmen. Die Banken, die erfolgreich die<br />

Freiheitsanleihe boykottierten, stellten sich in Kampfposition gegen die Attentate des<br />

Fiskus auf das Großkapital. In einem an den Finanzminister gerichteten Brief »prophezeiten«<br />

die Bankiers für den Fall radikaler Finanzreformen den Kapitalabfluß ins<br />

Ausland und die Abwan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Devisen in die Safes. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die<br />

Bankpatrioten drohten mit finanzieller Aussperrung als Ergänzung zur industriellen. Die<br />

Regierung zog sich eiligst aus dem Spiel: waren doch die Organisatoren <strong>der</strong> Sabotage<br />

solide Männer, die wegen Krieg und <strong>Revolution</strong> Kapital riskieren mußten, nicht aber<br />

irgendwelche Kronstädter Matrosen, die außer ihren eigenen Köpfen nichts zu riskieren<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 268


hatten.<br />

Das Exekutivkomitee mußte einsehen, daß die Verantwortung für die ökonomischen<br />

Geschicke des Landes, beson<strong>der</strong>s nach dem offenen Anschluß <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> an die<br />

Macht, in den Augen <strong>der</strong> Massen auf <strong>der</strong> regierenden Sowjetmacht ruhte. Die<br />

Wirtschaftsabteilung des Exekutivkomitees arbeitete ein weitgehendes Programm <strong>der</strong><br />

staatlichen Regulierung des Wirtschaftslebens aus. Unter dem Druck <strong>der</strong> bedrohlichen<br />

Lage erwiesen sich die Vorschläge <strong>der</strong> sehr gemäßigten Ökonomisten weit radikaler als<br />

ihre Autoren. »Für gewisse Industriezweige«, lautete das Programm »ist die Zeit für ein<br />

staatliches Handelsrnonopol (Brot, Fleisch, Salz, Le<strong>der</strong>) reif; die an<strong>der</strong>en sind reif für<br />

die Bildung staatlich regulierter Trusts (Kohle, Petroleum, Metall, Zucker, Papier), und<br />

schließlich erfor<strong>der</strong>n unter den heutigen Verhältnissen fast sämtliche Industriezweige die<br />

regulierende Beteiligung des Staates an <strong>der</strong> Verteilung des Rohstoffes und <strong>der</strong> zu<br />

bearbeitenden Produkte wie auch an <strong>der</strong> Preisfixierung ... Gleichzeitig ist erfor<strong>der</strong>lich,<br />

alle Kreditinstitutionen unter Kontrolle zu stellen.«<br />

Bei <strong>der</strong> Kopflosigkeit <strong>der</strong> politischen Führer nahm das Exekutivkomitee am i6. Mai die<br />

Vorschläge seiner Ökonomisten fast ohne Diskussion an und bekräftigte sie durch eine<br />

eigenartige Warnung an die Adresse <strong>der</strong> Regierung: sie müsse »die Aufgabe <strong>der</strong> planmäßigen<br />

Organisierung <strong>der</strong> Volkswirtschaft und <strong>der</strong> Arbeit« übernehmen, in Erinnerung<br />

daran, daß infolge <strong>der</strong> Nichterfüllung dieser Aufgabe »das alte Regime fallen und die<br />

Provisorische Regierung umgebildet werden mußte«. Um sich Mut zu machen, machten<br />

die Versöhnler sich Angst.<br />

»Das Programm ist großartig«, schrieb Lenin, »sowohl Kontrolle wie Verstaatlichung<br />

<strong>der</strong> Trusts, wie Bekämpfüng <strong>der</strong> Spekulation, wie Arbeitspflicht ... Man ist gezwungen,<br />

sich zum Programm des "schrecklichen" Bolschewismus zu bekennen, denn es kann kein<br />

an<strong>der</strong>es Programm, keinen Ausweg aus <strong>der</strong> tatsächlich drohenden schrecklichen<br />

Katastrophe geben ...« Die Frage war nur, wer dies großartige Programm verwirklichen<br />

sollte? Vielleicht die Koalition? Die Antwort erfolgte unverzüglich. Am Tage nach <strong>der</strong><br />

Annahme des ökonomischen Programms durch das Exekutivkomitee demissionierte, die<br />

Türe laut hinter sich zuschlagend, <strong>der</strong> Minister für Handel und Industrie, Konowalow.<br />

Ihn ersetzte vorübergehend <strong>der</strong> Ingenieur Paltschinski, ein nicht weniger getreuer, doch<br />

energischerer Vertreter des Großkapitals. Die Ministersozialisten wagten nicht einmal,<br />

ihren liberalen Kollegen das Programm des Exekutivkomitees ernstlich vorzuschlagen.<br />

Hatte doch Tschernow vergeblich versucht, das Verbot von Landverkäufen bei <strong>der</strong><br />

Regierung durchzusetzen!<br />

In Beantwortung <strong>der</strong> wachsenden Schwierigkeiten stellte die Regierung ihrerseits ein<br />

Programm zur Entlastung Petrograds auf, das heißt, Fabriken und Werkstätten ins Innere<br />

des Landes zu verlegen. Das Programm wurde sowohl mit militärischen Erwägungen -<br />

<strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Besetzung <strong>der</strong> Hauptstadt durch die Deutsthen - wie mit ökonomischen -<br />

<strong>der</strong> großen Entfernung Petrograds von den Brenn- und Rohstoffquellen - begründet. Die<br />

Entlastung hätte die Liquidierung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Industrie für eine Reihe von Monaten<br />

und Jahren bedeutet. Der politische Zweck bestand darin, die Avantgarde <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />

über das ganze Land zu zerstreuen. Parallel damit erfand die Militärbehörde<br />

Vorwand auf Vorwand für die Entfernung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile aus Petrograd.<br />

Paltschinski bemühte sich aus allen Kräften, die Arbeitersektion des Sowjets von den<br />

Vorzügen <strong>der</strong> Entlastung zu überzeugen. Diese Aufgabe ohne o<strong>der</strong> gegen die Arbeiter zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 269


verwirklichen, war unmöglich; die Arbeiter aber willigten nicht ein. Die Entlastung kam<br />

ebensowenig vorwärts wie die Regulierung <strong>der</strong> Industrie. Der Zerfall vertiefte sich, die<br />

Preise stiegen, die stille Aussperrung verbreiterte sich und gleichzeitig damit die Arbeitslosigkeit.<br />

Die Regierung kam nicht vom Fleck. Miljukow schrieb später: »Das Ministerium<br />

schwamm einfach mit dem Strom, <strong>der</strong> Strom aber führte in das bolschewistische<br />

Bett.« Ja, <strong>der</strong> Strom führte in das bolschewistische Bett.<br />

Das Proletariat war die hauptsächliche Triebkraft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Gleichzeitig formte<br />

die <strong>Revolution</strong> das Proletariat. Das aber brauchte es sehr notwendig.<br />

Vor uns hat sich die entscheidende Rolle <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter in den Februartagen<br />

abgespielt. Die stärksten Kampfpositionen nahmen die Bolschewikl ein. Nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung jedoch rücken sie plötzlich irgendwohin in den Hintergrund. Die politische<br />

Rampe besetzen die Versöhnlerparteien. Sie übergeben die Macht <strong>der</strong> liberalen<br />

Bourgeoisic. Das Banner des Blocks ist <strong>der</strong> Patriotismus. Sein Druck ist so stark, daß die<br />

Führung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, mindestens zur Hälfte, vor ihm kapituliert Mit <strong>der</strong><br />

Ankunft Lenins än<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong> Kurs <strong>der</strong> Partei schroff, und gleichzeitig wächst ihr<br />

Einfluß schnell. In <strong>der</strong> bewaffneten Aprildemonstration versuchen bereits die fortgeschrittenen<br />

Abteilungen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, die Ketten des Versöhnlertums zu<br />

sprengen. Doch nach <strong>der</strong> ersten Anstrengung ziehen sie sich zurück. Die Versöhnler<br />

bleiben am Steuer.<br />

Später, nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, wurde nicht wenig über das Thema geschrieben,<br />

die Bolschewiki verdankten ihren Sieg <strong>der</strong> kriegsmüden Bauernarmee. Das ist eine sehr<br />

oberflächliche Erklärung. Die entgegengesetzte Behauptung käme <strong>der</strong> Wahrheit näher:<br />

wenn die Versöhnler in <strong>der</strong> Februarrevolution den vorherrschenden Platz einzunehmen<br />

vermochten, so vor allem dank <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Stellung, die die Bauernarmee im Leben<br />

des Landes innehatte. Würde sich die <strong>Revolution</strong> in Friedenszeiten entwickelt haben, die<br />

führende Rolle des Proletariats hätte von Anfang an einen krasser ausgesprochenen<br />

Charakter erhalten. Ohne Krieg wäre <strong>der</strong> revolutionäre Sieg später gekommen und, sieht<br />

man von den Kriegsopfern ab, teurer erkauft worden. Doch für die Überschwemmung<br />

mit Versöhnler- und Patriotenstimmungen hätte er keinen Platz übriggelassen. Die <strong>russischen</strong><br />

Marxisten, die die Eroberung <strong>der</strong> Macht durch das Proletariat im Verlaufe <strong>der</strong><br />

bürgerlichen <strong>Revolution</strong> lange vor den Ereignissen vorausgesagt hatten, waren jedenfalls<br />

nicht von vorübergehenden Stimmungen <strong>der</strong> Bauernarmee, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> Klassenstruktur<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Gesellschaft ausgegangen. Diese Prognose hatte sich restlos<br />

bestätigt. Nur erlitt das grundlegende Klassenverhälmis eine Brechung durch den Krieg<br />

und verschob sich vorübergehend unter dem Druck <strong>der</strong> Armee, das heißt, <strong>der</strong> Organisation<br />

deklassierter und bewaffneter Bauern. Gerade diese künstliche soziale Formation<br />

hatte die Positionen des kleinbürgerlichen Versöhnlertums außerordentlich gefestigt und<br />

ihm die Möglichkeit zu acht Monate währenden Experimenten geschaffen, die Land und<br />

<strong>Revolution</strong> schwächten.<br />

Die Frage nach den Wurzeln des Versöhnlertums ist jedoch nicht mit dem Hinweis auf<br />

die Bauernarmee erschöpfend beantwortet. Im Proletariat selbst, in seiner Zusammensetzung,<br />

seinem politischen Niveau, muß man die ergänzenden Ursachen <strong>der</strong> vorübergehenden<br />

Übermacht <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre suchen. Der Krieg hatte<br />

ungeheure Verän<strong>der</strong>ungen in die Zusammensetzung und Stimmung <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />

hineingebracht. Waren die vorangegangenen Jahre eine Zeit steigen<strong>der</strong> revolutionärer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 270


Brandung, so hatte <strong>der</strong> Krieg diesen Prozeß jäh unterbrochen. Die Mobilisierung war<br />

nicht nur unter militärischem, son<strong>der</strong>n in erster Linie polizeilichem Gesichtspunkte<br />

ausgedacht und durchgeführt worden. Die Regierung hatte sich beeilt, die industriellen<br />

Bezirke von <strong>der</strong> aktivsten und unruhigsten Arbeiterschicht zu säubern. Man kann als<br />

feststehend betrachten, daß die Mobilisierung in den ersten Kriegsmonaten bis zu 40%<br />

hauptsächlich qualifizierter Arbeiter <strong>der</strong> Industrie entriß. Ihr Fehlen beeinflußte den<br />

Gang <strong>der</strong> Produktion sehr stark und rief um so leidenschaftlichere Proteste bei den<br />

Industriellen hervor, je höhere Gewinne die Kriegsindustrie eintrug. Der weiteren<br />

Vernichtung <strong>der</strong> Arbeiterka<strong>der</strong> wurde Einhalt getan. Von <strong>der</strong> Industrie benötigte Arbeiter<br />

stellte man als Kriegsdienstpfüchtige zurück. Die durch die Mobilisierung entstandene<br />

Bresche ersetzte man durch Zugewan<strong>der</strong>te aus dem Dorfe, städtisches Kleinvolk, wenig<br />

qualifizierte Arbeiter, Frauen, Halbwüchsige. Der Prozentsatz <strong>der</strong> Frauen in <strong>der</strong> Industrie<br />

stieg von 32 auf 40.<br />

Der Erneuerungs- und Verdünnungsprozeß des Proletariats vollzog sich gerade in <strong>der</strong><br />

Hauptstadt in beson<strong>der</strong>em Ausmaße. In den Kriegsjahren von 1914-1917 stieg die Zahl<br />

<strong>der</strong> Großbetriebe mit über 500 Arbeitern im Petrogra<strong>der</strong> Gouvernement fast um das<br />

Doppelte. Infolge <strong>der</strong> Liquidierung <strong>der</strong> Fabriken und Werkstätten in Polen und beson<strong>der</strong>s<br />

im Baltikum, hauptsächlich jedoch infolge <strong>der</strong> allgemeinen Zunahme <strong>der</strong> Kriegsindustrie,<br />

waren in Petrograd um 1917 in den Fabriken etwa 400.000 Arbeiter konzentriert. Davon<br />

entfielen 335.000 auf 140 Großbetriebe. Die kampffähigsten Elemente des Petrogra<strong>der</strong><br />

Proletariats haben an <strong>der</strong> Front bei Herausbildung <strong>der</strong> revolutionären Stimmung in <strong>der</strong><br />

Armee keine geringe Rolle gespielt. Doch die sie ersetzenden gestrigen Dörfler, häufig<br />

wohlhabende Bauern und Krämer, die sich in <strong>der</strong> Fabrik vor <strong>der</strong> Front drückten, ferner<br />

die Frauen und Jugendlichen waren viel zahmer als die Ka<strong>der</strong>arbeiter. Es muß noch<br />

hinzugefügt werden, daß die qualifizierten Arbeiter, in die Lage von Kriegsdienstpflichtigen<br />

geraten - und solcher gab es Hun<strong>der</strong>ttausende -, wegen <strong>der</strong> Gefahr, an die Front<br />

geworfen zu werden, äußerste Vorsicht übten. Dies ist die soziale Basis <strong>der</strong> patriotischen<br />

Stimmungen, die einen Teil <strong>der</strong> Arbeiter noch unter dem Zaren erfaßt hatte.<br />

Doch war dieser Patriotismus ohne Beständigkeit. Erbarmungsloser militärisch-polizeilicher<br />

Druck, verdoppelte Ausbeutung, Nie<strong>der</strong>lagen an <strong>der</strong> Front und Zerrüttung <strong>der</strong><br />

Wirtschaft stießen die Arbeiter in den Kampf. Aber während des Krieges trugen die<br />

Streiks hauptsächlich ökonomischen Charakter und zeichneten sich durch größere<br />

Mäßigkeit als vor dem Kriege aus. Die Schwächung <strong>der</strong> Klasse verschlimmerte sich noch<br />

durch die Schwächung ihrer Partei. Nach <strong>der</strong> Verhaftung und Verbannung <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Deputierten wurde mit Hilfe einer im voraus vorbereiteten Provokateurhierarchie<br />

die Zerstörung <strong>der</strong> bolschewistischen Organisationen vorgenommen, von <strong>der</strong> die<br />

Partei sich bis zur Februarumwälzung nicht zu erholen vermochte. Während <strong>der</strong> Jahre<br />

1915 und 1916 mußte die verdünnte Arbeiterklasse die Elementarschule des Kampfes<br />

durchmachen, bevor die ökonomsehen Teilstreiks und Demonstrationen hungern<strong>der</strong><br />

Frauen im Februar 1917 in einen Generalstreik münden und die Armee in den Aufstand<br />

hineinziehen konnten.<br />

Auf diese Weise ging das Petrogra<strong>der</strong> Proletariat in die Februar-revolution nicht nur in<br />

einer äußerst verschiedenartigen, noch nicht amalgamierten Zusammensetzung hinein,<br />

son<strong>der</strong>n auch mit einem herabgemin<strong>der</strong>ten politischen Niveau, sogar seiner fortgeschrittensten<br />

Schichten. In <strong>der</strong> Provinz stand die Sache noch schlimmer. Nur dieser durch den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 271


Krieg verursachte Rückfall in politischen Analphabetismus und Halbanalphabetisrnus<br />

des Proletariats schuf die zweite Bedingung für die vorübergehende Herrschaft <strong>der</strong><br />

Versöhnlerparteien.<br />

Eine <strong>Revolution</strong> lehrt, und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte<br />

den Massen etwas Neues. Je<strong>der</strong> zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar - <strong>der</strong><br />

Aufstand. Ende April - Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd!<br />

Anfang Juli - ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren<br />

Parolen. Ende August - <strong>der</strong> Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen.<br />

Ende Oktober - Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch<br />

die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe,<br />

molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile <strong>der</strong> Arbeiterklasse in ein politisches<br />

Ganzes verschmolzen. Die entscheidende Rolle spielte dabei wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Streik.<br />

Eingeschüchtert vom Donner <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> mitten in das Bacchanal von Kriegsgewinnen<br />

eingeschlagen hatte, ließen sich die Industriellen in den ersten Wochen auf<br />

Zugeständnisse an die Arbeiter ein. Die Petrogra<strong>der</strong> Fabrikbesitzer erklärten sich sogar<br />

unter Vorbehalten und Einschränkungen mit dem Achtstundentag einverstanden. Doch<br />

brachte das keine Beruhigung, da das Lebensniveau unablässig sank. Im Mai war das<br />

Exekutivkomitee gezwungen, festzustellen, daß die Lage <strong>der</strong> Arbeiter bei <strong>der</strong> wachsenden<br />

Teuerung »für viele Kategorien an chronischen Hunger grenzt«. In den Arbeitervierteln<br />

wurde die Stimmung nervöser und gespannter. Am meisten bedrückte das Fehlen<br />

einer Perspektive. Die Massen sind schwerste Entbehrungen zu tragen imstande, wenn<br />

sie wissen, wofür. Das neue Regime enthüllte sich ihnen aber immer mehr als<br />

Verschleierung <strong>der</strong> alten Verhältnisse, gegen die sie sich im Februar erhoben hatten. Dies<br />

wollten sie nicht dulden.<br />

Beson<strong>der</strong>s stürmischen Charakter nehmen die Streiks unter den rückständigsten und<br />

ausgebeutetsten Arbeiterschichten an. Waschfrauen, Anstreicher, Böttcher, Handelsangestellte,<br />

Bauarbeiter, Sattler, Maler, Tagelöhner, Schuhmacher, Papparbeiter, Wurstmacher,<br />

Schreiner streiken Schlag aufSchlag während des ganzen Juni. Die Metallarbeiter<br />

dagegen beginnen, eine bremsende Haltung einzunehmen. Die fortgeschrittenen Arbeiter<br />

kamen immer mehr zu <strong>der</strong> Einsicht, daß ökonomische Teilstreiks unter den Bedingungen<br />

von Krieg, Wirtschaftszerfall und Inflation keine ernstliche Besserung bringen können,<br />

daß irgendwelche Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Grundlagen selbst notwendig sind. Die Aussperrung<br />

machte die Arbeiter nicht nur für die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kontrolle über die Industrie<br />

empfänglich, son<strong>der</strong>n brachte sie auch auf den Gedanken von <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong><br />

Übernahme <strong>der</strong> Fabriken in Staatshände. Diese Schlußfolgerung erschien um so natürlicher,<br />

als die Mehrzahl <strong>der</strong> Privatbetriebe für den Krieg arbeitete und daneben bereits<br />

Staatsunternehmen solcher Art existierten. Schon im Sommer 1917 kommen aus allen<br />

Enden Rußlands Arbeiter-und Angestelltendelegationen in die Hauptstadt mit Gesuchen<br />

um Übernahme von Betrieben durch den Fiskus, da die Aktionäre die Zahlungen eingestellt<br />

hatten. Die Regierung wollte jedoch nichts davon hören. Folglich mußte man die<br />

Regierung auswechseln. Die Versöhnler wirkten dem entgegen. Die Arbeiter machten<br />

Front gegen die Versöhnler.<br />

Das Putilow-Werk mit seinen 40.000 Arbeitern schien in den ersten <strong>Revolution</strong>smonaten<br />

die Feste <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre zu sein. Doch hielt seine Garnison den Bolschewiki<br />

nicht lange stand. An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Angreifer konnte man am häufigsten Wolodarski<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 272


sehen. Früher Schnei<strong>der</strong>, Jude, <strong>der</strong> viele Jahre in Amerika verbracht und die englische<br />

Sprache gut erlernt hatte, war Wolodarski ein glänzen<strong>der</strong> Massenredner, logisch, schlagfertig<br />

und kühn. Die amerikanische Betonung machte seine klangvolle Stimme, die in<br />

vieltausendköpfigen Versammlungen klar ertönte, eigenartig ausdrucksvoll. »Mit seinem<br />

Erscheinen im Narwski-Bezirk«, erzählt <strong>der</strong> Arbeiter Minitschew, »begann im Putilow-<br />

Werk <strong>der</strong> Boden unter den Füßen <strong>der</strong> Herren Sozial-revolutionäre zu schwanken, und<br />

nach kaum zwei Monaten gingen die Putilow-Arbeiter mit den Bolschewiki.«<br />

Das Anwachsen <strong>der</strong> Streiks und des Klassenkampfes überhaupt steigerte fast automatisch<br />

den Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki. In allen Fällen, wo es sieh um Lebensinteressen<br />

handelte, mußten sich die Arbeiter überzeugen, daß die Bolschewiki keine Hintergedanken<br />

hatten, nichts verheimlichten und daß man sich auf sie verlassen konnte. In Stunden<br />

<strong>der</strong> Konflikte strebten alle Arbeiter, Parteilose, Sozialrevolutionäre, Menschewiki, den<br />

Bolschewiki zu. Dies erklärt jene Tatsache, daß die Betriebskomitees, die den Kampf für<br />

die Existenz ihrer Betriebe gegen die Sabotage <strong>der</strong> Administration und <strong>der</strong> Besitzer<br />

führten, lange vor dem Sowjet zu den Bolschewiki übergegangen waren. Auf <strong>der</strong> Konferenz<br />

<strong>der</strong> Betriebskomitees von Petrograd und Umgebung stimmten Anfang Juni von 421<br />

Delegierten 335 für die bolschewistische Resolution. Diese Tatsache blieb von <strong>der</strong><br />

großen Presse ganz unbemerkt. Indes bedeutete sie, daß das Petrogra<strong>der</strong> Proletariat,<br />

bevor es noch mit den Venöhnlern gebrochen hatte, in allen Kernfragen des ökonomischen<br />

Lebens faktisch auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki übergegangen war.<br />

Auf <strong>der</strong> Junikonferenz <strong>der</strong> Gewerkschaften wurde festgestellt, daß es in Petrograd über<br />

fünfzig Gewerkschaftsverbände mit einer Gesamtzahl von mindestens 250.000 Mitglie<strong>der</strong>n<br />

gab. Der Metallarbeiterverband zählte annähernd 100.000 Arbeiter. Im Laufe des<br />

einen Monats Mai hatte sich seine Mitglie<strong>der</strong>zahl verdoppelt. Noch schneller wuchs <strong>der</strong><br />

Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki in den Gewerkschaften.<br />

Alle partiellen Neuwahlen in die Sowjets brachten den Bolschewiki Siege. Am 1. Juni<br />

waren im Moskauer Sowjet bereits 206 Bolschewiki gegen 172 Menschewiki und 110<br />

Sozialrevolutionäre. Die gleichen Verschiebungen, wenn auch langsamer, vollzogen sich<br />

in <strong>der</strong> Provinz. Die Zahl <strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong> stieg ununterbrochen. Ende April zählte die<br />

Petrogra<strong>der</strong> Organisation etwa 15.000 Mitglie<strong>der</strong>, Ende Juni über 32.000.<br />

Die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjet besaß zu dieser Zeit bereits eine bolschewistische<br />

Mehrheit. Jedoch bei den vereinigten Sitzungen bei<strong>der</strong> Sektionen erdrückten<br />

die Soldatendeputierten die Bolschewiki. Die 'Prawda' for<strong>der</strong>te immer dringlicher allgemeine<br />

Neuwahlen: »500.000 Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter haben im Sowjet nur ein Viertel soviel<br />

Vertreter wie 150.000 Soldaten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison.«<br />

Auf dem Rätekongreß im Juni for<strong>der</strong>te Lenin ernste Maßnahmen gegen die Aussperrung,<br />

Ausplün<strong>der</strong>ung und die planmäßige Zersetzung des Wirtschaftslebens seitens <strong>der</strong><br />

Industriellen und Bankiers. »Veröffentlicht die Gewinne <strong>der</strong> Herren Kapitalisten, verhaftet<br />

fünfzig o<strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> reichsten Millionäre. Es genügt, sie einige Wochen in Haft<br />

zu halten - und sei es auch unter ebensolchen Vergünstigungen, wie sie Nikolai<br />

Romanow genießt -, mit dem einfachen Zwecke, sie zu zwingen, die Fäden, die<br />

Betrugsrnanöver, den Schmutz und Eigennutz aufzudecken, die auch unter <strong>der</strong> neuen<br />

Regierung unser Land Millionen kosten.« Lenins Vorschlag erschien den Sowjetiührern<br />

ungeheuerlich. »Ist es denn möglich, mit Hilfe von Gewalt an einzelnen Kapitalisten die<br />

Gesetze des ökonomischen Lebens zu än<strong>der</strong>n?« Der Umstand, daß die Industriellen mit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 273


Hilfe einer Verschwörung gegen die Nation ihre Gesetze diktierten, schien sie nicht zu<br />

stören. Kerenski, <strong>der</strong> Lenin mit poltern<strong>der</strong> Empörung überfiel, hatte vor einem Monat<br />

nicht davor zurückgescheut, viele Tausende Arbeiter zu verhaften, die über die »Gesetze<br />

des ökonomischen Lebens« an<strong>der</strong>er Meinung waren als die Industriellen.<br />

Die Verbindung zwischen Ökonomik und Politik kam immer stärker zum Vorschein.<br />

Der Staat, <strong>der</strong> als mystisches Prinzip aufzutreten gewohnt war, wirkte jetzt immer häufiger<br />

in seiner primitivsten Form, das heißt in Gestalt von Abteilungen bewaffneter<br />

Menschen. Unternehmer, die sich weigerten, Zugeständnisse zu machen o<strong>der</strong> auch nur in<br />

Verhandlungen einzutreten, wurden von den Arbeitern an verschiedenen Orten des<br />

Landes bald gewaltsamer Vorführung vor den Sowjet, bald dem Hausarrest unterworfen.<br />

Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß die Arbeitermiliz zum Gegenstand beson<strong>der</strong>en Hasses <strong>der</strong><br />

besitzenden Klassen wurde.<br />

Der ursprüngliche Beschluß des Exekutivkomitees über die Bewaffnung von zehn<br />

Prozent <strong>der</strong> Arbeiter war nicht erfüllt worden. Aber es gelang den Arbeitern dennoch,<br />

sich teilweise zu bewaffnen, wobei die aktivsten Elemente die Reihen <strong>der</strong> Miliz füllten.<br />

Die Leitung <strong>der</strong> Arbeiterrmiliz konzentrierte sich in den Händen <strong>der</strong> Betriebskomitees,<br />

und die Leitung <strong>der</strong> Betriebkomitees ging immer mehr in die Hände <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

über. Ein Arbeiter <strong>der</strong> Moskauer Fabrik "Postawschtschik" erzählt: »Am 1. Juni, gleich<br />

nachdem das neue Betriebskomitee, in <strong>der</strong> Mehrzahl aus Bolschewiki bestehend, gewählt<br />

war, wurde eine Abteilung von 80 Mann formiert, die unter Leitung eines alten Soldaten,<br />

des Genossen Lewakow, mangels Waffen mit Stöcken ausgebildet wurde.«<br />

Die Presse beschuldigte die Miliz <strong>der</strong> Gewaltakte, Requisitionen und ungesetzlicher<br />

Verhaftungen. Zweifellos wandte die Miliz Gewalt an: gerade dazu war sie ja gebildet<br />

worden. Ihr Verbrechen jedoch bestand darin, daß sie Gewalt gegen Vertreter jener<br />

Klasse anwandte, die nicht gewohnt war und sich nicht gewöhnen wollte, Objekt <strong>der</strong><br />

Gewalt zu sein.<br />

Auf dem Putilow-Werk, das im Kampfe um die Erhöhung des Arbeitslohnes die<br />

Führerrolle spielte, versammelte sich am 23. Juni eine Konferenz unter Beteiligung von<br />

Vertretern des Zentralsowjets <strong>der</strong> Betriebskomitees, des Zentralbüros <strong>der</strong> Gewerkschaften<br />

und 73 Fabriken. Unter dem Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki nahm die Konferenz eine<br />

Resolution an, wonach <strong>der</strong> Streik des Betriebes unter den gegebenen Verhältnissen zu<br />

einem »unorganisietten politischen Kampf <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter« führen könne, und<br />

schlug deshalb den Putilow-Arbeitern vor, »ihre berechtigte Empörung zurückzuhalten«<br />

und sich auf ein allgemeines Hervortreten vorzubereiten.<br />

Am Vorabend dieser wichtigen Konferenz warnte die bolschewistische Fraktion das<br />

Exekutivkomitee: »Eine vierzigtausendköpfige Masse ... kann jeden Tag in den Streik<br />

treten und auf die Straße gehen. Sie wäre bereits auf die Straße gegangen, wenn unsere<br />

Partei sie nicht davon zurückgehalten hätte, wobei keine Garantie besteht, daß es auch<br />

fernerhin gelingen wird, sie zurückzuhalten. Das Hervortreten <strong>der</strong> Putilow-Arbeiter<br />

würde unvameidlich - daran kann kein Zweifel bestehen - ,das Hervortreten <strong>der</strong> Mehrheit<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten zur Folge haben.«<br />

Die Führer des Exekutivkomitees betrachteten solche Warnungen als Demagogie o<strong>der</strong><br />

überhörten sie eintach; sie wollten in ihrer Ruhe nicht gestört werden. Sie selbst hatten<br />

fast völlig aufgehört, Fabriken und Kasernen zu besuchen, da die Arbeiter und Soldaten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 274


in ihnen nur noch feindselige Gestalten erblickten. Nur die Bolschewiki genossen jene<br />

Autorität, die ihnen gestattete, die Arbeiter und Soldaten von zersplitterten Aktionen<br />

zurückzuhalten. Doch die Ungeduld <strong>der</strong> Massen wandte sich manchmal auch schon<br />

gegen die Bolschewiki.<br />

In den Fabriken und in <strong>der</strong> Flotte tauchten Anarchisten auf. Wie immer angesichts<br />

großer Ereignisse und großer Massen, enthüllten sie ihre organische Unzulänglichkeit.<br />

Sie konnten um so leichter die Staatsmacht verneinen, da sie die Bedeutung <strong>der</strong> Sowjets<br />

als Organe des neuen Staates ganz und gar nicht begriffen. Übrigens schwiegen sie sich,<br />

von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> betäubt, zumeist über die Staatsfrage einfach aus. Ihre Selbständigkeit<br />

offenbarten sie hauptsächlich auf dem Gebiet kleiner Raketenschüsse. Die ökonomische<br />

Sackgasse und die wachsende Erbitterung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter verschafften den<br />

Anarchisten einige Stützpunkte. Unfähig, ernsthaft das Kräfteverhältnis im Staatsmaßstabe<br />

einzuschätzen, bereit, jeden Stoß von unten als den letzten rettenden Schlag zu<br />

betrachten, beschuldigten sie häufig die Bolschewiki <strong>der</strong> Zaghaftigkeit und sogar des<br />

Versöhnlertums. Doch über Murren gingen sie gewöhnlich nicht hinaus. Der Wi<strong>der</strong>hall<br />

<strong>der</strong> Massen auf die anarchistischen Aktionen diente den Bolschewiki mitunter als<br />

Gradmesser des Kräftedrucks des revolutionären Dampfes.<br />

Die Matrosen, die Lenin auf dem Finnländischen Bahnhof einen Empfang bereitet<br />

hatten, erklärten zwei Wochen später unter dem patriotischen Ansturm, <strong>der</strong> von allen<br />

Seiten auf sie eindrang: »Hätten wir gewußt ... auf welchem Wege er zu uns gelangt ist,<br />

es wären anstatt begeisterter "Hurra"-Schreie unsere empörten Rufe ertönt: "Nie<strong>der</strong>!<br />

Zurück in das Land, durch das du zu uns gekommen bist" ...« Die Soldatensowjets in <strong>der</strong><br />

Krim drohten einer nach dem an<strong>der</strong>en, das Eindringen Lenins auf die patriotische<br />

Halbinsel, wohin zu reisen er gar nicht beabsichtigte, mit bewaffneter Hand zu verhin<strong>der</strong>n.<br />

Das Wolynski-Regiment, <strong>der</strong> Koryphäe des 27. Februar, beschloß sogar in <strong>der</strong><br />

Erregung, Lenin zu verhaften, so daß das Exekutivkomitee sich veranlaßt fühlte,<br />

Maßnahmen dagegen zu treffen. Stimmungen dieser Art hatten sich bis zur Junioffensive<br />

nicht restlos verloren, und ihre Rückfälle flammten nach den Julitagen grell auf Gleichzeitig<br />

redeten die Soldaten <strong>der</strong> entlegensten Garnisonen und <strong>der</strong> fernsten Frontabschnitte<br />

immer kühner in <strong>der</strong> Sprache des Bolschewismus; zumeist, ohne es zu ahnen. Es gab bei<br />

den Regimentern nur vereinzelte Bolschewiki, doch die bolschewistischen Losungen<br />

drangen immer tiefer ein. Gleichsam von selbst erstanden sie in allen Teilen des Landes.<br />

Die liberalen Beobachter sahen darin nichts als Unbildung und Chaos. Die 'Rjetsch'<br />

schrieb: »Unsere Heimat verwandelt sich buchstäblich in irgendein Irrenhaus, wo Besessene<br />

das Heft und das Kommando in <strong>der</strong> Hand halten, Menschen aber, die den Verstand<br />

nicht verloren haben, treten erschrocken beiseite und drücken sich an die Wände.« Mit<br />

genau den gleichen Worten haben die "Gemäßigten" aller <strong>Revolution</strong>en ihre Seele<br />

erleichtert. Die Versöhnlerpresse tröstete sich damit, daß die Soldaten, trotz aller Mißverständnisse,<br />

von den Bolschewiki nichts wissen wollten. Indes bildete <strong>der</strong> unbewußte<br />

Bolschewismus <strong>der</strong> Massen, die Logik <strong>der</strong> Entwicklung wi<strong>der</strong>spiegelnd, die unverbrüchliche<br />

Kraft <strong>der</strong> Leninschen Partei.<br />

Der Soldat Pirejko erzählt, bei den Wahlen an <strong>der</strong> Front seien nach dreitägigen Diskussionen<br />

nur Sozialrevolutionäre zum Rätekongreß durchgekommen, die Soldatendeputierten<br />

hätten aber trotz <strong>der</strong> Proteste <strong>der</strong> Führer gleichzeitig eine Resolution angenommen<br />

über die Notwendigkeit, den gutsherrlichen Boden zu enteignen, ohne die Konstituie-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 275


ende Versammlung abzuwarten. Ȇberhaupt waren die Soldaten in Fragen, die sie<br />

begreifen konnten, linker gestimmt als die radikalsten <strong>der</strong> radikalen Bolschewiki.«<br />

Dasselbe meinte auch Lenin, als er sagte, die Massen seien »an die hun<strong>der</strong>t Mal linker<br />

als wir«.<br />

Der Schreiber einer Motorradwerkstatt irgendwo im Taurisehen Gouvernement erzählt,<br />

daß die Soldaten häufig nach <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> bürgerlichen Zeitungen auf die unbekannten<br />

Bolschewiki schimpften und gleich danach zu Diskussionen über die Notwendigkeit<br />

des Kriegsabbruchs und die Wegnahme des gutsherrliehen Bodens übergingen. Das<br />

waren die gleichen Patrioten, die geschworen hatten, Lenin nicht in die Krim zu lassen.<br />

Die Soldaten <strong>der</strong> riesigen Hinterlandgarnisonen waren ruhelos. Die große Anhäufung<br />

feiern<strong>der</strong>, ungeduldig die Än<strong>der</strong>ung ihres Schicksals erwarten<strong>der</strong> Menschen erzeugte<br />

eine Nervosität, die sich in <strong>der</strong> ständigen Bereitschaft, ihre Unzufriedenheit auf die<br />

Straße zu tragen, in massenweisem Herumfahren in den Straßenbahnen und in epidemischem<br />

Knabbern von Sonnenblumenkernen äußerte. Der Soldat mit umgehängtem<br />

Mantel und den Schalen von Sonnenblumenkernen auf den Lippen wurde zur verhaßtesten<br />

Gestalt <strong>der</strong> bürgerlichen Presse. Er, den man während des Krieges so grob<br />

umschmeichelt und immer nur Held genannt hatte - was nicht hin<strong>der</strong>te, an <strong>der</strong> Front den<br />

Helden auszupeitsehen -, er, den man nach <strong>der</strong> Februarumwälzung als Befreier verherrlichte,<br />

war plötzlich Drückeberger, Verräter, Gewalttäter und deutscher Mietling. Es gab<br />

tatsächlich keine Gemeinheit, die die patriotisehe Presse den <strong>russischen</strong> Soldaten und<br />

Matrosen nicht zugeschrieben hätte.<br />

Das Exekutivkomitee tat nichts an<strong>der</strong>es als sich rechtfertigen, gegen Anarchie<br />

kämpfen, Exzesse löschen, verängstigte Anfragen und Moralpredigten verschicken. Der<br />

Sowjetvorsitzende in Zarizyn - diese Stadt galt als das Nest des<br />

"Anarchobolschewismus" - beantwortete die Frage des Zentrums über die Lage mit dem<br />

lapidaren Satz: »Je linker die Garnison wird, um so rechter wird <strong>der</strong> Bürger.« Die<br />

Zarizyner Formel ließ sich auf das ganze Land anwenden. Der Soldat wird linker, <strong>der</strong><br />

Bourgeois rechter.<br />

Jeden Soldaten, <strong>der</strong> mutiger als die an<strong>der</strong>en äußerte, was alle fühlten, schalt man so<br />

lange von oben Bolschewik, bis er es schließlich selbst glauben mußte. Von Frieden und<br />

Land wandte sich <strong>der</strong> Gedanke des Soldaten <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Macht zu. Der Wi<strong>der</strong>hall auf<br />

verschiedene Losungen des Bolschewismus verwandelte sich in bewußte Sympathie für<br />

die bolschewistische Partei. Im Wolynski-Regiment, das sich im April angeschickt hatte,<br />

Lenin zu verhaften, schlug die Stimmung zwei Monate später zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

um. Desgleichen in dem Jäger- und dem Litauer-Regiment. Die lettischen Schützen<br />

waren vom Selbstherrschertum ins Leben gerufen worden, um den Haß <strong>der</strong> Parzellenbauern<br />

und Landarbeiter gegen die livländischen Barone auszunutzen. Die Regimenter<br />

schlugen sich ausgezeichnet. Aber <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Klassenfeindichaft, auf den sich die<br />

Monarchie stützen wollte, bahnte sich eigene Wege. Die lettischen Schützen waren unter<br />

den ersten, die mit <strong>der</strong> Monarchie gebrochen hatten und später mit den Versöhnlern.<br />

Schon am 17. Mai schlossen sich die Venreter acht lettischer Regimenter <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Losung "Alle Macht den Sowjets" an. Im weiteren Verlauf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

werden sie noch eine große Rolle spielen.<br />

Ein unbekannter Soldat schreibt von <strong>der</strong> Front: »Heute, am 13. Juni, hielt unser<br />

Kommando eine kleine Versammlung ab, und man sprach über Lenin und Kerenski: die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 276


Soldaten sind meistens für Lenin, aber die Offiziere sagen, daß Lenin selbst ein<br />

Bourgeois ist.« Nach <strong>der</strong> Katastrophe <strong>der</strong> Offensive wurde Kerenskis Name in <strong>der</strong><br />

Armee völlig verhaßt.<br />

Am 21. Juni marschierten durch die Straßen Peterhofs Junker mit Bannern und Plakaten:<br />

»Nie<strong>der</strong> mit den Spionen«, »Hoch Kerenski und Brussilow.« Die Junker waren<br />

selbstredend für Brussilow. Die Soldaten des 4. Bataillons überfielen die Junker, verprügelten<br />

sie und zerstreuten die Demonstration. Den stärksten Haß rief das Plakat zu Ehren<br />

Kerenskis hervor.<br />

Die Junioffensive hatte die politische Evolution <strong>der</strong> Armee außerordentlich beschleunigt.<br />

Die Popularität <strong>der</strong> Bolschewiki, <strong>der</strong> einzigen Partei, die im voraus die Stimme<br />

gegen die Offensive erhoben hatte, war in rapidem Steigen begriffen. Allerdings fanden<br />

die bolschewistischen Zeitungen nur unter großen Schwierigkeiten Eingang bei <strong>der</strong><br />

Armee. Ihre Auflage war sehr gering im Vergleich mit den Auflagen <strong>der</strong> liberalen und<br />

überhaupt <strong>der</strong> patriotischen Presse. »...Nirgendwo ist auch nur eine eurer Zeitungen zu<br />

sehen«, schreibt eine rauhe Soldatenhand nach Moskau, »es kommen nur Gerüchte von<br />

eurer Zeitung zu uns. Wir werden hier kostenlos mit bürgerlichen Zeitungen<br />

überschüttet, man trägt sie an <strong>der</strong> Front paketweise herum.« Aber gerade die patriotisehe<br />

Presse schuf den Bolschewiki eine unvergleichliche Popularität. Alle Rufe <strong>der</strong> Unterdrückten<br />

nach Landaneignung, nach Abrechnung mit den verhaßten Offizieren schrieben<br />

die Zeitungen den Bolschewiki zu. Die Soldaten zogen die Schlußfolgerung: die<br />

Bolschewiki sind ein gerechtes Volk.<br />

Anfang Juli berichtete <strong>der</strong> Kommissar <strong>der</strong> 12. Armee an Kerenski über die Stimmung<br />

<strong>der</strong> Soldaten: »Als Endresultat wird alles auf die Bourgeois-Minister und den Sowjet, <strong>der</strong><br />

sich den Bourgeois verkauft habe, geschoben. Aber im allgemeinen herrscht in <strong>der</strong><br />

großen Masse undurchdringliche Finsternis; ich muß lei<strong>der</strong> feststellen, daß in <strong>der</strong> letzten<br />

Zeit sogar Zeitungen schwach gelesen werden, absolutes Mißtrauen zum gedruckten<br />

Wort: "süß schreiben sie", "um den Mund gehen sie" ...« In den ersten Monaten waren<br />

die Berichte <strong>der</strong> patriotischen Kommissare gewöhnlich Hymnen auf die revolutionäre<br />

Armee, ihre Aufgeklärtheit und Disziplin. Als aber nach vier Monaten fortdauem<strong>der</strong><br />

Enttäuschungen die Armee das Vertrauen zu den Regierungsrednern und Zcitungsschreibern<br />

verloren hatte, entdeckten die gleichen Kommissare in ihr undurchdringliche<br />

Finsternis.<br />

Je linker die Garnison wird, um so rechter wird <strong>der</strong> Bürger. Unter dem Anstoß <strong>der</strong><br />

Offensive entstanden in Petrograd konterrevolutionäre Verbände wie Pilze nach dem<br />

Regen. Sie wählten sich Namen, einen klangvoller als den an<strong>der</strong>en: Bund <strong>der</strong><br />

Heimatehre, Bund <strong>der</strong> Kriegspflicht, Freiheitsbataillon, Organisierung des Geistes, und<br />

so weiter. Diese großartigen Schil<strong>der</strong> deckten Ambitionen und Ansprüche des Adels, des<br />

Offiziersstandes, <strong>der</strong> Bürokratie, <strong>der</strong> Bourgeoisie. Einige dieser Organisationen, wie die<br />

Kriegsliga, <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> Kavaliere des Georgskreuzes o<strong>der</strong> die Freiwilligen-Division,<br />

bildeten fertige Zellen militärischer Verschwörung. Indem sie als glühende Patrioten<br />

auftraten, öffneten die Ritter <strong>der</strong> "Ehre" und des "Geistes" nicht nur mit Leichtigkeit die<br />

Türen <strong>der</strong> alliierten Missionen, son<strong>der</strong>n erhielten mitunter auch Regierungssubsidien, die<br />

seinerzeit dem Sowjet als einer "Privatorganisation" abgelehnt worden waren.<br />

Ein Sprößling <strong>der</strong> Familie des Zeitungsmagnaten Suworin ging inzwischen an die<br />

Herausgabe <strong>der</strong> 'Kleinen Zeitung', die als das Organ des "unabhängigen Sozialismus"<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 277


eiserne Diktatur predigte und als Kandidaten den Admiral Koltschak empfahl. Die<br />

soli<strong>der</strong>e Presse sorgte, ohne den letzten Punkt auf das I zu setzen, auf jede Weise für die<br />

Popularität Koltschaks. Das weitere Schicksal des Admirals beweist, daß es sich schon<br />

seit dem Frühsommer 1917 um einen großangelegten Plan in Verbindung mit seinem<br />

Namen handelte und daß hinter Suworin einflußreiche Kreise standen.<br />

Der einfachsten taktischen Berechnung gehorchend, gab sich die Reaktion, rechnet<br />

man vereinzelte Schnitzer ab, den Anschein, als richte sie ihre Schläge ausschließlich<br />

gegen die Leninisten. Das Wort "Bolschewik" wurde das Synonym für alles höllischen<br />

Ursprungs. Wie die zaristischen Kommandeure vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Verantwortung<br />

für alle Mißgeschicke, darunter auch für die eigene Dummheit, auf deutsche Spione und<br />

beson<strong>der</strong>s auf die Juden abwälzten, so wurde jetzt, nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong><br />

Junioffensive, die Schuld für alle Mißerfolge und Nie<strong>der</strong>lagen auf die Bolschewiki<br />

geschoben. Darin unterschieden sich die Demokraten vorn Typ Kerenskis und Zeretellis<br />

fast nicht von den Liberalen vom Typ Miljukows und den offenen Leibeigenschaftsanhängem<br />

von <strong>der</strong> Art des Generals Denikin.<br />

Wie immer, wenn die Wi<strong>der</strong>sprüche bis zum äußersten gespannt sind, <strong>der</strong> Moment <strong>der</strong><br />

Explosion jedoch noch nicht gekommen ist, zeigte sich die politische Kräftegruppierung<br />

unverhüllter und krasser nicht an grundlegenden, son<strong>der</strong>n an zufälligen und nebensächlichen<br />

Fragen. Als einer <strong>der</strong> Blitzableiter <strong>der</strong> politischen Leidenschaften diente in jenen<br />

Wochen Kronstadt. Die alte Festung, die <strong>der</strong> treueste Wachtposten am Seetore <strong>der</strong><br />

kaiserlichen Hauptstadt sein sollte, hatte in <strong>der</strong> Vergangenheit mehr als einmal das<br />

Banner des Aufstandes erhoben. Trotz <strong>der</strong> unbarmherzigen Strafen erlosch in Kronstadt<br />

die Flamme des Aufruhrs nie. Sie entbrannte bedrohlich nach <strong>der</strong> Umwälzung. Der Name<br />

<strong>der</strong> Seefestung wurde in den Spalten <strong>der</strong> patriotischen Presse bald das Synonym für die<br />

schlechtesten Seiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, das heißt für Bolschewismus. In Wirklichkeit war<br />

<strong>der</strong> Kronstädter Sowjet noch nicht bolsehewistisch: im Mai setzte er sich aus 107<br />

Bolschewiki, 112 Sozialrevolutionären, 30 Menschewiki und 97 Partei-losen zusammen.<br />

Allerdings waren es Kronstädter Sozialrevolutionäre und Kronstädter Parteilose, die<br />

unter hohem Druck lebten: in ihrer Mehrzahl gingen sie in wichtigen Fragen mit den<br />

Bolschewiki.<br />

Auf dem Gebiete <strong>der</strong> Politik neigten die Kronstädter Matrosen we<strong>der</strong> zu Manövern<br />

noch zu Diplomatie. Sie hatten eine eigene Regel: gesagt - getan. Es ist darum nicht<br />

verwun<strong>der</strong>lich, daß sie in bezug auf die gespensterhafte Regierung für vereinfachte<br />

Aktionsmethoden waren. Am 13. Mai bestimmte <strong>der</strong> Sowjet: »Die einzige Macht in<br />

Kronstadt bildet <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten.«<br />

Die Entfernung des Regierungskommissars, des Kadetten Pepelajew, <strong>der</strong> die Rolle<br />

einei fünften Rades am Wagen spielte, vollzog sich in <strong>der</strong> Festung vollkommen unbeachtet.<br />

Musterhafte Ordnung blieb bewahrt. In <strong>der</strong> Stadt wurde das Kartenspiel verboten, die<br />

Spelunken geschlossen o<strong>der</strong> ausgehoben. Unter Strafe <strong>der</strong> »Konfiszierung des Eigentums<br />

und <strong>der</strong> sofortigen Abschiebung zur Front« verbot <strong>der</strong> Sowjet, in betrunkenem Zustande<br />

auf <strong>der</strong> Straße zu erscheinen. Diese Strafe wurde mehrmals angewandt.<br />

Unter dem schrecklichen Regime <strong>der</strong> zaristischen Flotte und <strong>der</strong> Seefestung gestählt,<br />

an schwere Arbeit, an Opfer, aber auch an Exzesse gewöhnt, spannten die Matrosen jetzt,<br />

wo sich vor ihnen <strong>der</strong> Vorhang eines neuen Lebens geöffnet hatte, in dem sie sich als die<br />

zukünftigen Herren fühlten, alle ihre Kräfte an, um sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> würdig zu erwei-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 278


sen. Gierig stürzten sie sich in Petrograd auf Freunde und Gegner und schleppten sie fast<br />

gewaltsam nach Kronstadt, um ihnen zu zeigen, wie revolutionäre Seeleute in Wirklichkeit<br />

sind. Eine solche moralische Anspannung konnte selbstverständlich nicht ewig<br />

dauern, aber sie reichte für lange Zeit. Die Kronstädter Seeleute verwandelten sich in<br />

eine Art Kampforden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Aber welcher? Jedenfalls nicht jener, die Minister<br />

Zeretelli mit seinem Kommissar Pepelajew verkörperte. Kronstadt stand da wie ein<br />

Verkün<strong>der</strong> <strong>der</strong> heranrückenden zweiten <strong>Revolution</strong>. Deshalb wurde es von all jenen<br />

gehaßt, die übergenug an <strong>der</strong> ersten hatten.<br />

Die friedliche und unauffällige Absetzung Pepelajews schil<strong>der</strong>te die Ordnungspresse<br />

fast wie einen bewaffneten Aufstand gegen die Staatseinheit. Die Regierung beschwerte<br />

sich beim Sowjet. Der Sowjet entsandte sofort zur Beeinflussung <strong>der</strong> Matrosen eine<br />

Delegation. Knarrend kam die Maschine <strong>der</strong> Doppelhenschaft in Bewegung. Unter<br />

Teilnahme von Zeretelli und Skobeljew erklärte sich <strong>der</strong> Kronstädter Sowjet am 24. Mai<br />

auf Drängen <strong>der</strong> Bolschewiki bereit, anzuerkennen, daß er, den Kampf um die Sowjetmacht<br />

fortsetzend, praktisch verpflichtet sei, sich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu fügen,<br />

solange die Sowjetmacht nicht im ganzen Lande errichtet sei. Aber bereits am nächsten<br />

Tage erklärte <strong>der</strong> Sowjet unter dem Druck <strong>der</strong> über diese Nachgiebigkeit empörten<br />

Matrosen, daß den Ministern nur eine "Erläuterung" des Standpunktes Kronstadts, <strong>der</strong><br />

unabän<strong>der</strong>lich bleibe, gegeben worden sei. Das war ein offensichtlich taktischer Fehler,<br />

hinter dem sich jedoch nichts an<strong>der</strong>es als revolutionäre Ambition verbarg.<br />

Die Spitzen beschlossen, den Glücksfall auszunutzen, den Kronstädtern eine Lektion<br />

zu erteilen und sie gleichzeitig für die früheren Sünden büßen zu lassen. Als Ankläger<br />

trat selbstverständlich Zeretelli auf. Mit pathetischer Berufung auf seine eigenen Gefängnisse<br />

zeterte er beson<strong>der</strong>s deshalb gegen die Kronstädter, weil sie in den Festungskasematten<br />

80 Offiziere festhielten. Die ganze wohlgesinnte Presse stimmte ihm bei. Jedoch<br />

mußten auch die Versöhnler-, das heißt die Ministerzeitungen zugeben, daß es sich »um<br />

richtige Staatsschatzräuber« handle und um »Menschen, die das Faustrecht bis zum<br />

Entsetzen ausgeübt hatten« ... Selbst nach den 'Iswestja' ('Mitteilungen'), dem Offiziosus<br />

Zeretellis, machten als Zeugen vernommene Matrosen »Angaben über die Unterdrükkung<br />

des Aufstandes von 1906 (durch die verhafteten Offiziere), über Massenerschießungen,<br />

über mit Leichen Hingerichteter vollgepfropfte und ins Meer versenkte Schaluppen<br />

und über an<strong>der</strong>e Greuel ... sie berichteten das so einfach, als handelte es sich um die<br />

geläufigsten Dinge«.<br />

Die Kronstädter weigerten sich hartnäckig, die Verhafteten einer Regierung auszuliefern,<br />

<strong>der</strong> die Henker und Staatsschatzräuber von adligem Stande viel näher waren als die<br />

im Jahre 1906 und in an<strong>der</strong>en Jahren zu Tode gequälten Matrosen. Nicht zufällig befreite<br />

<strong>der</strong> Justizminister Perewersew, den Suchanow milde »eine <strong>der</strong> verdächtigsten Gestalten<br />

<strong>der</strong> Koalitionsregierung« nennt, systematisch die nie<strong>der</strong>trächtigsten Vertreter <strong>der</strong> zaristischen<br />

Gendarmerie aus <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung. Die demokratischen Parvenus waren<br />

hauptsächlich bemüht, von <strong>der</strong> reaktionären Bürokratie als edelmütig anerkannt zu<br />

werden.<br />

Die Anklagen Zeretellis beantworteten die Kronstädter in ihrem Aufruf: »Die in den<br />

Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von uns verhafteten Offiziere, Gendarmen und Polizisten haben<br />

den Regierungsvertretem selbst erklärt, daß sie sich über die Behandlung durch die<br />

Gefängnisaufsicht nicht zu beklagen haben. Allerdings sind die Gefängnisgebäude in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 279


Kronstadt schrecklich. Es sind aber die gleichen Gefängnisse, die <strong>der</strong> Zarismus für uns<br />

erbaut hat. An<strong>der</strong>e haben wir nicht. Und wenn wir die Feinde des Volkes in diesen<br />

Gefängnissen festhalten, so nicht aus Rache, son<strong>der</strong>n aus Erwägungen revolutionärer<br />

Selbsterhaltung.«<br />

Am 27. Mai saß <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet über die Kronstädter zu Gericht. In einer Rede<br />

zu ihrer Verteidigung wies Trotzki Zeretelli warnend daraufhin, daß im Falle <strong>der</strong> Gefahr,<br />

das heißt, »wenn ein konterrevolutionärer General versuchen wird, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die<br />

Schlinge um den Hals zu werfen, die Kadetten den Strick, einseifen, während die<br />

Kronstädter Matrosen zur Stelle sein werden, um gemeinsam mit uns zu kämpfen und zu<br />

sterben«. Diese warnende Voraussage sollte sich nach drei Monaten mit überraschen<strong>der</strong><br />

Genauigkeit verwirklichen: als General Kornilow den Aufstand entfesselte und Truppen<br />

gegen die Hauptstadt heranführte, riefen Kerenski, Zeretelli und Skobeljew zum Schutz<br />

des Winterpalais die Kronstädter Matrosen herbei. Doch was folgt daraus? Jm Juni<br />

verteidigten die Herren Demokraten die Ordnung gegen Anarchie; keine Argumente und<br />

Warnungen hatten da Macht über sie. Mit einer Mehrheit von 580 gegen 162 Stimmen,<br />

bei 74 Stimmenthaltungen, setzte Zeretelli im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet die Resolution durch,<br />

die den Abfall des »anarchistischen« Kronstadts von <strong>der</strong> revolutionären Demokratie<br />

verkündete. Sobald das ungeduldig wartende Mariinski-Palais von <strong>der</strong> Annahme <strong>der</strong><br />

Lossagungsbulle benachrichtigt worden war, unterbrach die Regierung unverzüglich die<br />

telephonische Verbindung zwischen Hauptstadt und Festung für den Privatverkehr, um<br />

dem bolschewistischen Zentrum die Beeinflussung <strong>der</strong> Kronstädter unmöglich zu<br />

machen, befahl gleichzeitig, sofort alle Lehrschiffe aus Kronstadt zu entfernen und<br />

verlangte vom Sowjet »unbedingten Gehorsam«. Der zur gleichen Zeit tagende Kongreß<br />

<strong>der</strong> Bauerndeputierten versuchte es mit <strong>der</strong> Drohung, »den Kronstädtern die Bedarfsprodukte<br />

zu verweigern«. Die hinter dem Rücken <strong>der</strong> Versöhnler lauernde Reaktion suchte<br />

eine entscheidende und nach Möglichkeit blutige Lösung.<br />

»Der übereilte Schritt des Kronstädter Sowjets«, schreibt ein junger Historiker, Jugow,<br />

»konnte unerwünschte Folgen heraufbeschwören. Man mußte aus <strong>der</strong> entstandenen Lage<br />

einen passenden Ausweg finden. Zu eben diesem Zwecke reiste Trotzki nach Kronstadt,<br />

wo er im Sowjet auftrat und eine Deklaration verfaßte, die vom Sowjet und später, von<br />

Trotzki eingebracht, vom Meeting auf dem Ankerplatz einstimmig angenommen wurde.«<br />

Die Kronstädter wahrten ihre prinzipielle Position und gaben in praktischen Fragen nach.<br />

Die friedliche Beilegung des Konfliktes brachte die bürgerliche Presse ganz außer<br />

Rand und Band: in <strong>der</strong> Festung herrsche Anarchie, die Kronstädter druckten eigenes<br />

Geld - phantastische Abbildungen wurden in den Zeitungen reproduziert ~ Staatsgut<br />

werde gestohlen, Frauen vergesellschaftet, Plün<strong>der</strong>ungen und Trinker-Orgien<br />

veranstaltet. Die Seeleute, auf ihre strenge Ordnung stolz, ballten die schwieligen Fäuste<br />

beim Lesen <strong>der</strong> Zeitungen, die in Millionen Exemplaren die Verleumdungen gegen sie<br />

über ganz Rußland verbreiteten.<br />

Perewersews Gerichtsorgane entließen die ihnen übergebenen Kronstädter Offiziere<br />

einen nach dem an<strong>der</strong>en. Es wäre sehr lehrreich, festzustellen, wer von den Freigelassenen<br />

später am Bürgerkrieg teilnahm und wie viele Matrosen, Soldaten, Arbeiter und<br />

Bauern von ihnen erschossen und aufgehängt wurden. Lei<strong>der</strong> sind wir nicht in <strong>der</strong> Lage,<br />

diese lehrreiche Statistik hier aufzustellen.<br />

Die Autorität <strong>der</strong> Regierung war gerettet. Doch erhielten die Matrosen bald Genugtu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 280


ung für die erlittenen Kränkungen. Von allen Enden des Landes trafen Begrüßungsresolutionen<br />

an das rote Kronstadt ein: von einzelnen linkeren Sowjets, von Betrieben,<br />

Regimentern, Meetings. Das erste Maschinengewehrregiment demonstrierte in den<br />

Straßen Petrograds in voller Stärke seine Achtung für die Kronstädter, »für ihre standhafte<br />

Position des Mißtrauens gegen die Provisorische Regierung«.<br />

Kronstadt aber bereitete sich auf ernsthaftere Revanche vor. Die Hetze <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Presse machte es zu einem Faktor von gesamtstaatlicher Bedeutung. »In Kronstadt<br />

sich verschanzend«, schreibt Miljukow, »warf <strong>der</strong> Bolschewismus mit Hilfe sachgemäß<br />

ausgebildeter Agitatoren seine Propagandahetze weit über Rußland aus. Kronstädter<br />

Emissäre wurden auch an die Front geschickt, wo sie die Disziplin untergruben, in die<br />

Etappe und auß Land, wo sie Pogrome gegen die Güter anzettelten. Der Kronstädter<br />

Sowjet versah die Emissäre mit beson<strong>der</strong>en Legitimationen: "N. N. wird in das ...<br />

Gouvernement geschickt, um an den Sitzungen <strong>der</strong> Kreis-, Bezirks- und Dorfkomitees mit<br />

beschließen<strong>der</strong> Stimme teilzunehmen, wie auch Meetings zu besuchen und solche an<br />

beliebigem Ort nach eigenem Ermessen einzuberufen", mit "dem Recht des Waffentragens<br />

und freier und unentgeltlicher Fahrt auf allen Eisenbahnen und Dampfern". Wobei<br />

die "Unantastbarkeit <strong>der</strong> Person des bezeichneten Agitators vom Sowjet <strong>der</strong> Stadt<br />

Kronstadt garantiert wird".«<br />

Indem er die Wühlarbeit <strong>der</strong> baltischen Seeleute entlarvt, vergißt Miljukow nur, zu<br />

erklären, wie und weshalb es kommen konnte, daß einzelne Matrosen, ausgerüstet mit<br />

dem seltsamen Mandat des Kronstädter Sowjets, trotz des Vorhandenseins allweiser<br />

Behörden, Institutionen und Zeitungen unbehelligt im ganzen Lande herumreisten, allerorts<br />

Tisch und Herd fanden, zu jeglichen Volksversammlungen zugelassen, überall<br />

aufmerksam angehört wurden und den historischen Ereignissen den Stempel <strong>der</strong> Matrosenhand<br />

aufdrückten. Der die liberale Politik bedienende Historiker stellt sich diese<br />

einfache Frage erst gar nicht. Indes war das Kronstädter Wun<strong>der</strong> nur deshalb denkbar,<br />

weil die Matrosen viel tiefer die Bedürfnisse <strong>der</strong> historischen Entwicklung ausdrückten<br />

als die sehr gescheiten Professoren. Das halbanalphabetische Mandat erwies sich, um mit<br />

Hegel zu sprechen, wirksam, weil es vernünftig war. Die subjektiv klügsten Pläne<br />

dagegen erwiesen sich als illusorisch, denn die Vernunft <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> hatte in ihnen<br />

auch nicht einmal übernachtet.<br />

Die Sowjets blieben hinter den Betriebskomitees zurück. Die Betriebskomitees hinter<br />

den Massen. Die Soldaten hinter den Arbeitern. In noch höherem Maße blieb die Provinz<br />

hinter <strong>der</strong> Hauptstadt zurück. Dies ist die unvermeidliche Dynamik des revolutionären<br />

Prozesses, die tausend Wi<strong>der</strong>sprüche erzeugt, um sie dann gleichsam zufällig, im Vorbeigehen,<br />

spielend zu überwinden und sogleich neue zu erzeugen. Hinter <strong>der</strong> revolutionären<br />

Dynamik blieb auch die Partei zurück, das heißt jene Organisation, die am allerwenigsten<br />

das Recht besitzt, zurückzubleiben, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. In Arbeiterzentren wie<br />

Jekaterinburg, Perm, Tula, Nishnij-Nowgorod, Sormowo, Kolomna, Jusowka hatten sich<br />

die Bolschewiki erst Ende Mai von den Menschewiki getrennt. In Odessa, Nikolajew,<br />

Jelissawetgrad, Poltawa und an an<strong>der</strong>en Punkten <strong>der</strong> Ukraine besaßen die Bolschewiki<br />

auch Mitte Juni noch keine selbständigen Organisationen. In Baku, Slatoust, Beschezk,<br />

Kostroma trennten sich die Bolschewiki erst Ende Juni endgültig von den Menschewiki.<br />

Diese Tatsachen müssen erstaunlich erscheinen, berücksichtigt man, daß den Bolschewiki<br />

bevorstand, schon nach vier Monaten die Macht zu ergreifen. Wie weit war die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 281


Partei während des Krieges hinter dem Molekularprozeß in den Massen zurückgeblieben,<br />

und wie weit die Märzleitung Kamenew-Stalin hinter den großen historischen Aufgaben!<br />

Die revolutionärste Partei, die die menschliche <strong>Geschichte</strong> bis jetzt überhaupt gekannt<br />

hat, wurde dennoch von den <strong>Revolution</strong>sereignissen überrascht. Sie baute sich im Feuer<br />

um und ordnete ihre Reihen unter dem Ansturm <strong>der</strong> Ereignisse. Die Massen erwiesen<br />

sich im Augenblick <strong>der</strong> Wendung »an die hun<strong>der</strong>t Mal« linker als die linkste Partei.<br />

Das Steigen des Einflusses <strong>der</strong> Bolschewiki, das mit <strong>der</strong> Gewalt eines naturnotwendigen<br />

Prozesses vor sich ging, zeigt bei näherer Betrachtung seine Wi<strong>der</strong>sprüche und<br />

Zickzacks, seine Ebben und Fluten. Die Massen sind nicht homogen, und überdies lernen<br />

sie nicht an<strong>der</strong>s mit dem Feuer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> umzugehen, als daß sie sich die Hände<br />

daran verbrennen und zurückprallen. Die Bolschewiki vermochten nur den Lehrprozeß<br />

<strong>der</strong> Massen zu beschleunigen. Sie klärten geduldig auf. Im übrigen hat die <strong>Geschichte</strong><br />

diesmal ihre Geduld nicht lange mißbraucht.<br />

Während die Bolschewiki unaufhaltsam Werkstätten, Fabriken und Regimenter eroberten,<br />

ergaben die Wahlen zur demokratischen Duma ein großes und scheinbar wachsendes<br />

Übergewicht <strong>der</strong> Versöhnler. Das war einer <strong>der</strong> schärfsten und rätselhaftesten Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Allerdings war die Duma des rein proletarischen Wyborger<br />

Bezirks auf ihre bolschewistische Mehrheit stolz. Doch das war eine Ausnahme. Bei den<br />

Stadtwahlen in Moskau konnten die Sozialrevolutionäre im Juni noch über 60% <strong>der</strong><br />

Stimmen auf sich vereinigen. Diese Zahl verblüffte sie selbst es konnte ihnen nicht<br />

verborgen bleiben, daß ihr Einfluß im raschen Sinken war. Für das Verständnis des<br />

Verhälmisses zwischen <strong>der</strong> realen Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und ihrem Abbild im<br />

Spiegel <strong>der</strong> Demokratie sind die Moskauer Wahlen von höchstem Interesse. Die fortgeschrittenen<br />

Schichten <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten schüttelten bereits eilig die versöhnlerischen<br />

Illusionen von sich, während die breitesten Massen des städtischen Kleinvolkes<br />

erst begannen, sich in Bewegung zu setzen. Für diese zerstäubte Masse waren die<br />

demokratischen Wahlen vielleicht die erste, jedenfalls eine seltene Möglichkeit, sich<br />

politisch zu äußern. Während <strong>der</strong> Arbeiter, <strong>der</strong> gestrige Menschewik o<strong>der</strong> Sozialrevolutionär,<br />

seine Stimme <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong> Bolschewiki gab und den Soldaten mitriß, traten <strong>der</strong><br />

Droschkenkutscher, <strong>der</strong> Briefträger, <strong>der</strong> Portier, die Händlerin, <strong>der</strong> Krämer, dessen<br />

Kommis und <strong>der</strong> Lehrer durch einen so heroischen Akt wie die Stimmabgabe für den<br />

Sozialrevolutionär zum ersten Male aus ihrem politischen Nichtsein hervor. Mit Verspätung<br />

stimmten die kleinbürgerlichen Schichten für Kerenski, weil dieser in ihren Augen<br />

die Februarrevolution, die sie erst heute erreicht harte, verkörperte. Mit ihren 60 Prozent<br />

sozialrevolutionärer Mehrheit leuchtete die Moskauer Duma in dem letzten Lichte eines<br />

erlöschenden Gestirns. Ebenso verhielt es sich mit den an<strong>der</strong>en Organen <strong>der</strong> demokratischen<br />

Selbstverwaltung. Kaum entstanden, wurden sie von <strong>der</strong> Ohnmacht des Zuspätgekommenseins<br />

ereilt. Das bedeutet, daß <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von den Arbeitern und<br />

Soldaten abhing, nicht aber von dem menschlichen Staub, den die Stürme <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

erhoben und aufwirbelten.<br />

Das ist die tiefe und zugleich einfache Dialektik des revolutionären Erwachens <strong>der</strong><br />

unterdrückten Klassen. Die gefährlichste unter den Aberrationen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht<br />

darin, daß <strong>der</strong> mechanische Zähler <strong>der</strong> Demokratie den gestrigen, heutigen und morgigen<br />

Tag summiert und damit formelle Demokraten darauf stößt, den Kopf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

dort zu suchen, wo sich in Wirklichkeit ihr gewichtiger Schwanz befindet. Lenin lehrte<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 282


seine Partei, zwischen Kopf und Schwanz zu unterscheiden.<br />

Sowjetkongreß und Junidemonstration<br />

Der erste Sowjetkongreß, <strong>der</strong> Kerenski die Sanktion zur Offensive erteilte, versammelte<br />

sich am 3. Juni im Gebäude des Kadettenkorps zu Petrograd. Insgesamt gab es auf<br />

dem Kongreß 820 Delegierte mit beschlieflen<strong>der</strong> und 268 mit beraten<strong>der</strong> Stimme. Sie<br />

vertraten 305 Ortssowjets, 53 Bezirks- und Distriktssowjets, ferner Frontorganisationen,<br />

Armeeinstitutionen des Hinterlandes und einige Bauernorganisationen. Beschließende<br />

Stimme hatten Sowjets, die mindestens 25.000 Menschen vertraten. Sowjets, die<br />

10-000-25.000 vereinigten, hatten beratende Stimme. Auf Grund dieser Normen, die<br />

übrigens wohl kaum sehr streng gewahrt wurden, darf man folgern, daß hinter dem<br />

Kongreß über zwanzig Millionen Menschen standen. Von 777 Delegierten, die über ihre<br />

Parteizugehörigkeit Auskunft gaben, waren 285 Sozialrevolutionäre, 248 Menschewiki,<br />

l05 Bolschewiki; weiter folgten kleinere Gruppen. Der linke Flügel, das heißt Bolschewiki<br />

zusammen mit den ihnen eng angeschlossenen Internationalisten, bildete weniger<br />

als ein Fünftel <strong>der</strong> Delegierten. Der Kongreß bestand in seiner Mehrheit aus Personen,<br />

die sich im März als <strong>Sozialisten</strong> eingeschrieben hatten und im Juni bereits <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

müde waren. Petrograd mußte ihnen als eine Stadt von Besessenen erscheinen.<br />

Der Kongreß begann mit <strong>der</strong> Billigung dcr Ausweisung Grimms, des klüglichen<br />

Schweizer <strong>Sozialisten</strong>, <strong>der</strong> versucht hatte, durch Kulissenverhandlungen mit <strong>der</strong> Hohenzollerndiplomatie<br />

die Russische <strong>Revolution</strong> und die deutsche Sozialdemokratie zu retten.<br />

Die For<strong>der</strong>ung des linken Flügels, unverzüglich die Frage <strong>der</strong> sich vorbereitenden Offensive<br />

zur Diskussion zu stellen, wurde mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit abgelehnt. Die Bolschewiki<br />

sahen wie ein kleines Häuflein aus. Aber am gleichen Tage und vielleicht zur<br />

gleichen Stunde nahm die Konferenz <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Betriebskomitees, ebenfalls mit<br />

erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit, eine Resolution an, wonach nur die Sowjetmacht das Land retten<br />

könne.<br />

So kurzsichtig die Versöhnler auch waren, es konnte ihnen nicht verborgen bleiben,<br />

was sich täglich ringsherum abspielte. Der Bolschewikenhasser Liber brandmarkte,<br />

offenbar unter dem Einfluß <strong>der</strong> Provinzler, in <strong>der</strong> Sitzung vom 4. Juni die untauglichen<br />

Regierungskommissare, denen man im Lande die Macht nicht zugestehen wollte. »Eine<br />

Reihe von Funktionen <strong>der</strong> Regierungsorgane ging infolgedessen in die Hände <strong>der</strong><br />

Sowjets über, auch dann, wenn diese es nicht verlangten.« Die Versöhnler führten<br />

Beschwerde gegen sich selbst.<br />

Einer <strong>der</strong> Delegierten, ein Pädagoge, erzählte auf dem Kongreß, daß auf dem Gebiete<br />

<strong>der</strong> Volksbildung in den vier <strong>Revolution</strong>smonaten nicht die geringsten Än<strong>der</strong>ungen<br />

eingetreten seien. Alle alten Lehrer, Inspektoren, Direktoren, Kreisschulräte, nicht selten<br />

frühere Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>torganisationen, alle alten Schulpläne, reaktionären<br />

Lehrbücher, sogar die alten Ministergehilfen wären unbehelligt auf ihren Plätzen verblieben.<br />

Nur die Zarenporträts wären auf den Boden geschafft worden, könnten aber jeden<br />

Augenblick auf ihren früheren Platz zurückgebracht werden.<br />

Der Kongreß konnte sich nicht entschließen, die Hand gegen Reichsduma und Staatsrat<br />

zu erheben. Seine Schüchternheit vor <strong>der</strong> Reaktion verhüllte <strong>der</strong> menschewistische<br />

Redner Bogdanow damit, daß Duma und Staatsrat »ohnehin tote, nicht existierende Institutionen<br />

sind«. Mit dem ihm eigenen polemischen Witz antwortete darauf Martow:<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 283


»Bogdanow schlägt vor, die Duma als nicht existierend zu betrachten, aber ihre Existenz<br />

nicht anzutasten.«<br />

Trotz <strong>der</strong> so kompakten Regierungsmehrheit verlief <strong>der</strong> Kongreß in einer Atmosphäre<br />

von Unruhe und Unsicherheit. Das patriotische Stroh war feucht geworden und flackerte<br />

nur träge auf. Es war klar, daß die Massen unzufrieden und die Bolsehewiki im Lande,<br />

vor allem in <strong>der</strong> Hauptstadt, unermeßlich stärker waren als auf dem Kongreß. Auf seinen<br />

Ursprung zurückgeführt, drehte sich <strong>der</strong> Streit zwischen Bolschewiki und Versöhnlern<br />

unverän<strong>der</strong>t um die Frage: mit wem hat die Demokratie zu gehen, mit den Imperialisten<br />

o<strong>der</strong> mit den Arbeitern? Der Schatten <strong>der</strong> Entente schwebte über dem Kongreß. Die<br />

Entscheidung über die Offensive war bereits vorausbestimmt, <strong>der</strong> Demokratie blieb nur<br />

übrig, sich zu beugen.<br />

»In diesem kritischen Moment«, belehrte Zeretelli, »darf nicht eine einzige öffentliche<br />

Kraft, solange sie von <strong>der</strong> Volkssache auszunutzen ist, von <strong>der</strong> Waage hinuntergeworfen<br />

werden.« Dies war die Begründung <strong>der</strong> Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie. Da Proletariat,<br />

Armee und Bauernschaft mit jedem Schritt die Pläne <strong>der</strong> Demokraten störten, sah man<br />

sich gezwungen, unter dem Schein des Krieges gegen die Bolschewiki einen Krieg gegen<br />

das Volk zu eröffnen. So verhängte Zeretelli den Bann über die Kronstädter Matrosen,<br />

um von seiner Waage nicht den Kadetten Pepelajew hinunterwerfen zu müssen. Die<br />

Koalition wurde mit einer Mehrheit von 543 gegen 126 Stimmen bei 52 Enthaltungen<br />

gutgeheißen.<br />

Die Arbeit <strong>der</strong> großen und zähen Versammlung im Kadettenkorps-Gebäude war voller<br />

Schwung, was Deklarationen anbelangt, von konservativer Kargheit in Beziehung auf die<br />

praktischen Aufgaben. Das drückte allen Beschlüssen den Stempel <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit<br />

und Heuchelei auf. Der Kongreß erkannte allen Nationen Rußlands das Selbstbestimmungsrecht<br />

zu, den Schlüssel zu diesem problematischen Recht händigte er jedoch<br />

nicht den unterdrückten Nationen selbst, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> künftigen Konstituierenden<br />

Versammlung aus, in <strong>der</strong> die Versöhnler in <strong>der</strong> Mehrheit zu sein hofften und vor den<br />

Imperialisten genauso zu kapitulieren vorhatten, wie sie es jetzt in <strong>der</strong> Regierung taten.<br />

Der Kongreß lehnte es ab, das Dekret über den Achtstundentag anzunehmen. Das<br />

Herumstampfen <strong>der</strong> Koalition auf einer Stelle erklärte Zeretelli mit <strong>der</strong> Schwierigkeit, die<br />

Interessen <strong>der</strong> verschiedenen Bevölkerungsschichten in Einklang zu bringen. Als sei<br />

auch nur eine einzige große Sache in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> durch »das in Einklangliringen <strong>der</strong><br />

Interessen« und nicht durch den Sieg <strong>der</strong> fortschrittlichen Interessen über die reaktionären<br />

geschehen!<br />

Der Sowjetwirtschaftler Gromann brachte am Schluß seine unvermeidliche Resolution<br />

ein: über die heranrückende Wirt-schaftskatastrophe und die Notwendigkeit staatlicher<br />

Regulierung. Der Kongreß nahm diese Ritualresolution an, jedoch nur zu dem Zwecke,<br />

um alles beim alten zu belassen.<br />

»Grimm ist ausgewiesen worden«, schrieb Trotzki am 7. Juni, »<strong>der</strong> Kongreß ging zur<br />

Tagesordnung über. Der kapitalistische Profit aber bleibt für Skobeliew und dessen<br />

Kollegen in alter Weise unantastbar. Die Ernährungskrise verschärft sich mit je<strong>der</strong><br />

Stunde. Auf dem diplomatischen Gebiet erhält die Regierung einen Schlag nach dem<br />

an<strong>der</strong>en. Schließlich droht die so hysterisch verkündete Offensive allem Anschein nach<br />

bald als ungeheuerliches Abenteuer über das Volk zusammenzustürzen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 284


Wir sind geduldig und wären bereit, die sichtbare Tätigkeit des Ministeriums Lwow-<br />

Tereschtschenko-Zeretelli noch eine Reihevon Monaten ruhig weiter zu beobachten.<br />

Wir brauchen Zeit für unsere Vorbereitung. Doch <strong>der</strong> unterirdische Maulwurf wühlt<br />

gar schnell. Und unter Beihilfe <strong>der</strong> "sozialistischen" Minister kann das Problem <strong>der</strong><br />

Macht viel schneller über die Teilnehmer dieses Kongresses hereinbrechen, als wir<br />

alle es ahnen.«<br />

Bestrebt, sich vor den Massen mit einer höheren Autorität zu decken, zogen die Führer<br />

den Kongreß in alle schwebenden Konflikte hinein, wodurch sie ihn vor den Augen <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten schonungslos kompromittierten. Eine <strong>der</strong> lärmendsten<br />

Episoden dieser Art war die <strong>Geschichte</strong> mit <strong>der</strong> Villa Dumowos, eines alten zaristischen<br />

Würdenträgers, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Innenministers durch die Nie<strong>der</strong>schlagung<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905 berühmt geworden war. Die leerstehende Villa des verhaßten<br />

Bürokraten, dessen Hände obendrein nicht ganz sauber waren, hatten Arbeiterorganisationen<br />

des Wyborger Bezirkes besetzt, hauptsächlich des großen Gartens wegen, <strong>der</strong> ein<br />

beliebter Spielplatz <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> wurde. Die bürgerliche Presse schil<strong>der</strong>te die Villa als<br />

einen Schlupfwinkel von Pogromisten und Banditen, als ein Kronstadt des Wyborger<br />

Bezirks. Niemand unterzog sich <strong>der</strong> Mühe, nachzuprüfen, wie sich die Sache in<br />

Wirklichkeit verhielt. Die Regierung, die allen großen Fragen sorgsamst auswich, stürzte<br />

sich mit unverbrauchter Leidenschaft auf die Rettung <strong>der</strong> Villa. Vom Exekutivkomitee<br />

wurde eine Sanktion <strong>der</strong> heroischen Maßnahmen verlangt, die Zeretelli selbstverständlich<br />

nicht verweigerte. Der Staatsanwalt erließ einen Befehl, in 24 Stunden die Gruppe <strong>der</strong><br />

Anarchisten aus <strong>der</strong> Villa hinauszusetzen. Die Arbeiter, die von den bevorstehenden<br />

Kriegsoperationen erfuhren, schlugen Alarm. Die Anarchisten ihrerseits drohten mit<br />

bewaffnetem Wi<strong>der</strong>stand. 28 Werkstätten proklamierten einen Proteststreik. Das Exekutivkomitee<br />

erließ einen Aufruf, in dem es die Wyborger Arbeiter als Helfershelfer <strong>der</strong><br />

Konterrevolution brandmarkte. Nach dieser Vorbereitung drangen die Vertreter von<br />

Justiz und Miliz in die Löwenhöhle ein. Es zeigte sich jedoch, daß in <strong>der</strong> Villa, die eine<br />

Reihe kultureller Arbeiterorganisationen beherbergte, völlige Ordnung herrschte. Man<br />

mußte, und zwar nicht ohne Schmach, den Rückzug antreten. Diese <strong>Geschichte</strong> hatte<br />

aber noch eine weitere Entwicklung.<br />

Am 9. Juni platzte auf dem Kongreß eine Bombe: die Morgenausgabe <strong>der</strong> 'Prawda'<br />

hatte einen Aufruf zur Demonstration für den nächsten Tag gebracht. Tschcheidse, <strong>der</strong><br />

leicht zu erschrecken pflegte und deshalb an<strong>der</strong>e zu erschrecken geneigt war, verkündete<br />

mit Grabesstimme: »Wenn <strong>der</strong> Kongreß keine Maßnahmen ergreift, wird <strong>der</strong> morgige<br />

Tag verhängnisvoll werden.« Die Delegierten horchten unruhig auf<br />

Der Gedanke, die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten mit dem Kongreß zu konfrontieren,<br />

hatte sich durch die ganze Situation von selbst aufgedrängt. Die Massen bestürmten<br />

die Bolschewiki. Beson<strong>der</strong>s brodelte die Garnison, die befürchtete, man würde sie im<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> Offensive zerstückeln und an die Fronten verstreuen. Dazu kam<br />

die starke Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> "Deklaration <strong>der</strong> Rechte des Soldaten", die im<br />

Vergleich mit dem Befehl Nr. i und dem Regime, das sich in <strong>der</strong> Armee faktisch durchgesetzt<br />

hatte, einen großen Schritt rückwärts bedeutete. Die Initiative zur Demonstration<br />

ging von <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki aus. Ihre Leiter behaupteten,<br />

und wie die Ereignisse zeigen werden, durchaus mit Recht, daß die Soldaten von sich aus<br />

auf die Straße gehen würden, falls die Partei die Leitung nicht übernehme. Der schroffe<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 285


Umschwung <strong>der</strong> Massenstimmungen war jedoch nicht ohne weiteres zu berechnen, und<br />

dies erzeugte ein gewisses Schwanken bei den Bolschewiki selbst. Wolodarski war nicht<br />

überzeugt, daß die Arbeiter auf die Straße gehen würden. Es herrschten auch Befürchtungen<br />

über den Charakter, den die Demonstration annehmen könnte. Die Vertreter <strong>der</strong><br />

militärischen Organisation erklärten, daß die Soldaten, einen Überfall und eine Abrechnung<br />

befürchtend, nicht unbewaffnet auf die Straße gehen wollten. »Welche Formen<br />

wird die Demonstration annehmen?« fragte <strong>der</strong> vorsichtige Tomski und verlangte eine<br />

ergänzende Besprechung. Stalin meinte: »Die Gärung unter den Soldaten ist Tatsache;<br />

bei den Arbeitern aber herrscht eine so klar ausgesprochene Stimmung nicht«, dennoch<br />

fand er, daß es notwendig sei, <strong>der</strong> Regierung Wi<strong>der</strong>stand zu leisten. Der stets eher zum<br />

Ausweichen als zum Kampfe neigende Kalinin sprach sich entschieden gegen die<br />

Demonstration aus, wobei er sich auf das Fehlen eines zwingenden Vorwandes, beson<strong>der</strong>s<br />

bei den Arbeitern, berief: »Die Demonstration wird nur eine erklügelte Sache sein.«<br />

In <strong>der</strong> Beratung mit Vertretern <strong>der</strong> Bezirke erhoben sich am 8. Juni nach einer Reihe<br />

vorangegangener Abstimmungen schließlich 131 Hände für die Denionstration, 6<br />

dagegen, 22 enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung. Die Demonstration wurde auf Sonntag, den<br />

10. Juni, festgesetzt.<br />

Die Vorbereitungsarbeit war bis zum letzten Moment geheim geführt worden, um den<br />

Soziatrevolutionären und Menschewiki nicht die Möglichkeit zu verschaffen, eine<br />

Gegenagitation zu entfalten. Diese berechtigte Vorsichtsmaßnahme wurde später als<br />

Beweis für eine militärische Verschwörung gedeutet. Der Zentralsowjet <strong>der</strong> Betricbskomitees<br />

stimmte dem Beschluß, die Demonstration zu organisieren, zu. »Unter dem Druck<br />

Trotzkis und gegen den opponierenden Lunatscharski«, schreibt Jugow, »beschloß das<br />

Komitee <strong>der</strong> "Interrayonisten" ("Meschrayonzy" 6 ), an <strong>der</strong> Demonstration teilzunehmen.«<br />

Die Vorbereitung wurde mit glühendem Eifer durchgeführt.<br />

Die Kundgebung sollte das Banner <strong>der</strong> Sowjetmacht erheben. Die Kampflosung<br />

lautete: "Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten." Das war <strong>der</strong> einfachste Ausdruck<br />

für die For<strong>der</strong>ung des Bruches <strong>der</strong> Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie. Der Zug sollte zum<br />

Kadettenkorps, wo <strong>der</strong> Kongreß tagte, marschieren. Damit wollte man unterstreichen,<br />

daß es nicht um den Sturz <strong>der</strong> Regierung, son<strong>der</strong>n um einen Druck auf die Sowjetführer<br />

gehe.<br />

Freilich wurden bei den Vorberatungen <strong>der</strong> Bolschewiki auch an<strong>der</strong>e Stimmen laut. So<br />

beantragte Smilga, damals ein junges Mitglied des Zentralkomitees, »auf die Besetzung<br />

von Post, Telegraphenamt und Waffenlager nicht zu verzichten, falls sich die Ereignisse<br />

zu einem Zusammenstoß entwickeln«. Ein andaer Teilnehmer <strong>der</strong> Beratung, Lazis,<br />

Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees, trug über die Ablehnung des Antrages Smilga in sein<br />

Tagebuch ein »Ich kann mich nicht damit abfinden ... werde mich mit den Genossen<br />

Semaschko und Rachja verständigen, um nötigenfalls, gestützt auf das Maschinengewelrrregiment,<br />

gerüstet zu sein, Bahnhöfe, Waffenlager, Banken, Post- und Telegraphenamt<br />

zu besetzen.« Semaschko war Offizier des Maschinengewehrregirnents, Rachja ein<br />

Arbeiter und wahrer bolschewistischer Kämpfer.<br />

Daß solche Stimmungen vorhanden waren, ist selbstverständlich. Der gesamte Parteikurs<br />

ging auf die Machteroberung, die Frage bestand nur in <strong>der</strong> Einschätzung <strong>der</strong> Situation.<br />

In Petrograd vollzog sich ein offensichtlicher Umschwung zugunsten <strong>der</strong><br />

6 Siehe Fußnote vorne<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 286


Bolschewiki; in <strong>der</strong> Provinz entwickelte sich <strong>der</strong> gleiche Prozeß, nur langsamer; schließlich<br />

brauchte die Front noch die Lehre <strong>der</strong> Offensive, um das Mißtrauen gegen die<br />

Bolschewiki abzuschütteln. Lenin beharrte deshalb auf seiner Aprilposition: »Geduldig<br />

aufklären.«<br />

In seinen Aufzeichnungen schil<strong>der</strong>t Suchanow den Demonstrationspian vom 10. Juni<br />

als direkte Absicht Lenins, »unter günstigen Umständen« die Macht zu ergreifen. In<br />

Wirklichkeit hatten nur einzelne Bolschewiki, die, nach <strong>der</strong> ironischen Bemerkung<br />

Lenins, »ein bißchen linker« als notwendig steuerten, die Frage so zu stellen vepsucht.<br />

Merkwürdigerweise bemüht Suchanow sich nicht einmal, seine willkürlichen Vermutungen<br />

mit <strong>der</strong> politischen Linie Lenins, die in zahlreichen Reden und Artikeln festgelegt<br />

war, zu vergieichen. 7<br />

Das Büro des Exekutivkomitees verlangte sofort von den Bolschewiki, die Demonstration<br />

abzusagen. Mit welchem Recht? Formell konnte die Demonstration offenbar nur<br />

durch die Staatsmacht verboten werden. Die aber wagte nicht, auch nur daran zu denken.<br />

Wie aber konnte <strong>der</strong> Sowjet, eine vom Block zweier politischer Parteien geleitete "Privatorganisation",<br />

die Demonstration einer dritten Partei verbieten? Das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />

Bolschewiki weigerte sich, das Verlangen zu erfüllen, beschloß aber, den friedlichen<br />

Charakter <strong>der</strong> Demonstration noch schärfer zu betonen. Am 9. Juni wurde in den Arbeitervierteln<br />

eine Proklamation <strong>der</strong> Bolsehewiki angeschlagen: »Wir sind freie Bürger, wir<br />

haben das Recht zu protestieren, und wir müssen dieses Recht ausnutzen, solange es<br />

nicht zu spät ist. Das Recht <strong>der</strong> friedlichen Demonstration bleibt uns erhalten.«<br />

Die Versöhnler brachten die Frage vor den Kongreß. In diesem Augenblick sprach<br />

Tschcheidse die Worte vom verhängnisvollen Ausgang und betonte, daß es nötig sein<br />

werde1 die ganze Nacht zu tagen. Das Präsidiumsmitglied Gegetschkori, ebenfalls ein<br />

Sohn <strong>der</strong> Gironde, schloß seine Rede gegen die Bolschewiki mit dem plumpen Schrei;<br />

»Fort mit euren schmutzigen Händen von <strong>der</strong> großen Sache!« Trotz ihres Verlangens<br />

ließ man den Bolschewiki keine Zeit, in dieser Frage eine fraktionelle Beratung abzuhalten.<br />

Der Kongreß nahm einen Beschluß an, wonach für die Dauer von drei Tagen jegliche<br />

Demonstration verboten sei. Dieser Gewaltakt gegen die Bolschewiki war<br />

gleichzeitig ein Usurpationsakt gegen die Regierung: die Sowjets fuhren fort, sich selbst<br />

die Macht unter dem Kissen hervorzustehlen.<br />

In den gleichen Stunden sprach Miljukow auf dem Kosakenkongreß und nannte die<br />

Bolschewiki »Hauptfeinde <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong>«. Ihr Hauptfreund wurde nach <strong>der</strong><br />

Logik <strong>der</strong> Dinge Miljukow selbst; <strong>der</strong> am Vorabend <strong>der</strong> Februarrevolution bereit<br />

gewesen war, eher eine Nie<strong>der</strong>lage von den Deutschen als die <strong>Revolution</strong> vom <strong>russischen</strong><br />

Volke hinzunehmen. Auf die Frage <strong>der</strong> Kosaken, wie man sich den Leninisten gegenüber<br />

zu verhalten habe, antwortete Miljukow: »Es ist Zeit, mit diesen Herren Schluß zu<br />

machen.« Der Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie hatte es sehr eilig. Allerdings blieb ihm tatsächlich<br />

nicht viel Zeit zu verlieren.<br />

Unterdes fanden in den Fabriken und bei den Regimentern Meetings statt, auf denen<br />

beschlossen wurde, morgen unter <strong>der</strong> Losung "Alle Macht den Sowjets" auf die Straße<br />

zu gehen. Im Lärm des Sowjet- und des Kosakenkongresses blieb die Tatsache unbeachtet,<br />

daß in die Wyborger Bezirksduma von den Bolschewiki 37, vom Block <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki 22 und von den Kadetten 4 Vertreter gewählt worden<br />

7 Ausführlicheres über diese Frage im Anhang Nr.3.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 287


waren.<br />

Vor den kategorischen Beschluß des Kongresses gestellt und noch dazu mit dem<br />

geheimnisvollen Hinweis auf den drohenden Schlag von rechts, beschlossen die Bolschewiki,<br />

die Frage erneut zu prüfen. Sie hatten eine friedliche Demonstration, nicht aber<br />

einen Aufstand beabsichtigt und keine Veranlassung, die verbotene Demonstration in<br />

einen halben Aufstand zu verwandeln. Das Kongreßpräsidium seinerseits entschied,<br />

Vorkehrungen zu treffen. Einige hun<strong>der</strong>t Delegierte wurden in Zehnergruppen verteilt<br />

und in die Arbeiterviertel und Kasernen geschickt, um die Demonstration abzuwenden;<br />

gegen Morgen hatten sie im Taurischen Palais zu erscheinen und das Ergebnis zu prüfen.<br />

Dieser Expedition schloß sich das Exekutivkomitee <strong>der</strong> Bauerndeputierten an und stellte<br />

seinerseits 70 Mann.<br />

Wenn auch auf unerwartete Weise, so hatten die Bolschewiki doch das, was sie<br />

wollten, erreicht: die Kongreßdelegierten waren gezwungen, mit den Arbeitern und<br />

Soldaten <strong>der</strong> Hauptstadt Bekanntschaft zu machen. Man ließ den Berg nicht zu den<br />

Propheten kommen, also mußten die Propheten zum Berge gehen. Die Begegnung erwies<br />

sich als höchst lehrreich. In <strong>der</strong> 'Iswestja', <strong>der</strong> Zeitung des Moskauer Sowjets, gibt ein<br />

menschewikischer Korrespondent folgendes Bild: »Die Mehrheit des Kongresses, über<br />

500 seiner Mitglie<strong>der</strong>, hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, in Zehnergruppen<br />

zerschlagen besuchte sie die Petrogra<strong>der</strong> Fabriken und Truppenteile mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung,<br />

von <strong>der</strong> Demonstration abzusehen. Der Kongreß besitzt in einem großen Teil <strong>der</strong><br />

Fabriken und Werkstätten und auch bei gewissen Teilen <strong>der</strong> Garnison keine Autorität...<br />

Die Kongreßmitglie<strong>der</strong> wurden durchaus nicht immer freundlich, mitunter sogar feindselig<br />

empfangen und nicht selten im bösen verabschiedet.« Das offizielle Sowjetorgan<br />

übertreibt keinesfalls; im Gegenteil, es gibt ein sehr gemil<strong>der</strong>tes Bild <strong>der</strong> nächtlichen<br />

Begegnung zweier Welten.<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Massen ließen jedenfalls die Delegierten nicht im Zweifel darüber,<br />

wer von nun an Demonstrationen ansetzen und absagen konnte. Die Arbeiter des<br />

Putilow-Werkes erklärten sich erst dann bereit, den Aufruf des Kongresses gegen die<br />

Demonstration anzuschlagen, nachdem sie sich aus <strong>der</strong> 'Prawda' überzeugt haben<br />

würden, daß er dem Beschluß <strong>der</strong> Bolschewiki nicht wi<strong>der</strong>sprach. Das 1. Maschinengewehrregiment<br />

das, wie das Putilow-Werk bei den Arbeitern, in <strong>der</strong> Garnison die erste<br />

Geige spielte, nahm nach den Referaten Tschcheidses und Awksentjews, <strong>der</strong> Vorsitzenden<br />

zweier Exekutivkomitees, folgende Resolution an: »Im Einverständnis mit dem<br />

Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki und <strong>der</strong> Militärischen Organisation vertagt das<br />

Regiment sein Hervortreten ...«<br />

Die Zähmungsbrigaden kamen nach einer schlaflosen Nacht im Zustande völliger<br />

Demoralisierung im Taurischen Palais an. Sie hatten damit gerechnet, daß die Autorität<br />

des Kongresses unbestreitbar sei, waren aber auf eine Mauer von Mißtrauen und Feindseligkeit<br />

gestoßen. »Die Massen sind in <strong>der</strong> Gewalt <strong>der</strong> Bolschewiki.« »Gegen Menschewiki<br />

und Sozialrevolutionäre verhält man sich feindselig.« »Man glaubt nur <strong>der</strong><br />

'Prawda'.« Irgendwo hatte man gerufen: »Wir sind für euch keine Genossen.« So berichteten<br />

die Delegierten einer nach dem an<strong>der</strong>n, wie sie, obwohl die Schlacht abgesagt<br />

worden war, die schwerste Nie<strong>der</strong>lage erlitten hatten.<br />

Die Massen unterwarfen sich dem Beschluß <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch vollzog sich die<br />

Unterwerfug keinesfalls ohne Proteste und sogar Empörung. In einigen Betrieben<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 288


wurden Resolutionen angenommen, die dem Zentralkomitee eine Mißbilligung aussprachen.<br />

Die hitzigsten Parteimitglie<strong>der</strong> in den Bezirken zerrissen ihre Mitgliedskarten. Das<br />

war eine ernste Warnung.<br />

Die Versöhnler hatten das dreitägige Demonstrationsverbot mit dem Hinweis auf eine<br />

monarchistische Verschwörung motiviert, die an die Kundgebung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

anzuhaken beabsichtigte; man sprach davon, daß ein Teil des Kosakenkongresses in die<br />

Sache verwickelt sei und daß konterrevolutionäre Truppen sich Petrograd näherten. Es ist<br />

nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß die Bolschewiki nach <strong>der</strong> Absage <strong>der</strong> Demonstration<br />

Aufklärungen über die Verschwörung verlangten. Statt einer Antwort beschuldigten die<br />

Kongreßführer die Bolschewiki selbst <strong>der</strong> Verschwörung. So fand man einen glücklichen<br />

Ausweg aus <strong>der</strong> Lage.<br />

Es sei zugegeben, daß in <strong>der</strong> Nacht zum 10. Juni die Versöhnler tatsächlich eine<br />

Verschwörung entdeckt hatten, die sie stark erschütterte: die Verschwörung <strong>der</strong> Massen<br />

mit den Bolschewiki gegen die Versöhnler. Jedoch die Unterwerfung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

unter den Kongreßbeschluß ermutigte die Versöhnler und erlaubte ihnen, ihre Panik in<br />

Raserei umzuwandeln. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre beschlossen nun,<br />

eiserne Energie zu entfalten. Am 10. Juni schrieb die menschewistische Zeitung: »Es ist<br />

Zeit, die Leninisten als Abtrünnige und Verräter <strong>der</strong> Revoludon zu brandmarken.« Ein<br />

Vertreter des Exekutivkomitees trat auf dem Kosakenkongreß auf und bat die Kosaken,<br />

den Sowjet gegen die Bolschewiki zu unterstützen. Der Vorsitzende, <strong>der</strong> Uraler Ataman<br />

Dutow, antwortete ihm: »Wir Kosaken werden niemals gegen den Sowjet gehen.« Die<br />

Reaktionäre waren bereit, gegen die Bolschewiki sogar mit dem Sowjet zusammenzugehen,<br />

um ihn später um so sicherer erdrosseln zu können.<br />

Am 11. Juni versammelt sich ein dräuendes Tribunal: das Exekutivkomitee, die<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Kongreßpräsidiums, die Fraktionsführer, insgesamt etwa 100 Mann. Als<br />

Staatsanwalt tritt wie stets Zeretelli auf. Keuchend vor Wut for<strong>der</strong>t er strenges Gericht<br />

und wehrt Dan verächtlich ab, <strong>der</strong>, zur Hetze gegen die Bolschewiki stets bereit, sich<br />

noch nicht entschließen kann, gegen sie loszuschlagen. »Was die Bolschewiki jetzt<br />

treiben, ist nicht geistige Propaganda, son<strong>der</strong>n Verschwörung ... Die Bolschewiki mögen<br />

es uns nicht verübeln. Jetzt werden wir zu an<strong>der</strong>en Kampfmethoden greifen ... Man muß<br />

die Bolschewiki entwaffnen. Man darf jene großen technischen Mittel, über die sie bis<br />

jetzt verfügten, nicht länger in ihren Händen belassen. Man darf Maschinengewehre und<br />

Waffen nicht mehr in ihren Händen belassen. Wir werden Verschwörungen nicht<br />

dulden.« Das sind neue Töne. Was bedeutet das eigentlich, die Bolschewiki entwaffiien?<br />

Suchanow schreibt darüber: »Die Bolschewiki besitzen ja keine beson<strong>der</strong>en Waffenlager.<br />

Die gesamten Waffen sind ja bei den Soldaten und Arbeitern, die in ungeheurer Zahl mit<br />

den Bolschewiki gehen. Entwaffnung <strong>der</strong> Bolschewiki kann nur Entwaffnung des Proletariats<br />

bedeuten. Mehr noch - das ist die Entwaffnung <strong>der</strong> Truppen.«<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten, es rückte jener klassische Moment <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> heran, wo die<br />

bürgerliche Demokratie auf Geheiß <strong>der</strong> Reaktion die Arbeiter entwaffnen möchte, die<br />

den Sieg <strong>der</strong> Umwälzung gesichert hatten. Stets sind die Sympathien <strong>der</strong> Herren<br />

Demokraten, unter denen es auch belesene Leute gibt, mit den Entwaffneten und nicht<br />

mit den Entwaffnern, - sofern die Sache in alten Büchern spielt. Wenn aber die gleiche<br />

Frage in <strong>der</strong> Wirklichkeit vor ihnen steht, erkennensie sie nicht wie<strong>der</strong>. Doch schon die<br />

bloße Tatsache, daß Zeretelli, ein <strong>Revolution</strong>är, <strong>der</strong> viele Jahre in <strong>der</strong> Katorga verbracht<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 289


hatte, ein gestriger Zimmerwal<strong>der</strong>, sich anschickte, die Arbeiter zu entwaffnen, wollte<br />

nicht so ohne weiteres in die Köpfe hinein. Der Saal erstarrte. Die Provinzdelegierten<br />

überkam wohl doch die Ahnung, daß man sie in einen Abgrund stürzte. Ein Offizier<br />

bekam einen hysterischen Anfall.<br />

Nicht weniger bleich als Zeretelli, erhebt sich Kamenew von seinem Platz und ruft voll<br />

Würde, <strong>der</strong>en Kraft das ganze Auditorium fühlt: »Herr Minister, wenn Sie Ihre Worte<br />

nicht in den Wind streuen, haben Sie nicht das Recht, sich auf eine Rede zu beschränken.<br />

Verhaften Sie mich und lassen Sie mich aburteilen wegen Verschwörung gegen die<br />

<strong>Revolution</strong>.« Unter Protest verlassen die Bolschewiki die Sitzung und weigern sich, an<br />

<strong>der</strong> Verhöhnung ihrer eigenen Partei teilzunehmen. Die Spannung im Saal wird unerträglich.<br />

Liber eilt Zeretelli zu Hilfe. Die verhaltene Wut wird auf <strong>der</strong> Tribüne von hysterischer<br />

Raserei abgelöst. Liber for<strong>der</strong>t erbarmungslose Maßnahmen. »Wollt ihr die Masse<br />

bekommen, die zu den Bolschewiki geht, dann brecht mit dem Bolschewismus.« Doch<br />

man hört ihn ohne Sympathie an, sogar halb feindselig.<br />

Der wie immer empfindsame Lunatscharski versucht sofort mit <strong>der</strong> Mehrheit eine<br />

gemeinsame Sprache zu finden: obwohl die Bolschewiki ihm versichert hätten, nur eine<br />

friedliche Demonstration geplant zu haben, habe ihn die eigene Erfahrung überzeugt, daß<br />

es »ein Fehler war, die Demonstration zu veranstalten«. Man dürfe jedoch die Konflikte<br />

nicht überspitzen. Ohne die Gegner zu beruhigen, reizt Lunatscharski die Freunde.<br />

»Wir kämpfen nicht gegen die linke Strömung«, versichert jesuitisch Dan, <strong>der</strong> erfahrenste,<br />

aber auch unfruchtbarste Führer des Sumpfes, »wir kämpfen gegen die Konterrevolution.<br />

Es ist nicht unsere Schuld, wenn hinter eurem Rücken die Handlanger Deutschlands<br />

stehen.« Der Hinweis auf die Deutschen löste einfach jegliche Argumentation ab. Diese<br />

Herren konnten selbstverständlich keine Handlanger Deutschlands aufzeigen.<br />

Zeretellis Absicht war, einen Hieb zu versetzen. Dan riet, nur zum Schlage auszuholen.<br />

Das Exekutivkomitee in seiner Hilflosigkeit schloß sich Dan an. Die Resolution, die am<br />

nächsten Tag auf dem Kongreß eingebracht wurde, trug den Charakter eines Ausnahmegesetzes<br />

gegen die Bolschewiki, jedoch ohne unmittelbare praktische Folgerungen.<br />

»Nach dem Besuch <strong>der</strong> Fabriken und Regimenter durch eure Delegierten«, lautete die<br />

schriftliche Erklärung <strong>der</strong> Bolschewiki an den Kongreß, »könnt ihr darüber nicht im<br />

Zweifel sein, daß, wenn die Demonstration unterblieb, so nicht infolge eures Verbotes,<br />

son<strong>der</strong>n weil unsere Partei sie abgesagt hat ... Die Fiktion einer militärischen<br />

Verschwörung ist von dem Mitglied <strong>der</strong> Provisorischen Regierung nur vorgeschoben<br />

worden, um die Entwaffnung des Petrogra<strong>der</strong> Proletariats und die Auflösung <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Garnison durchzuführen ... Auch wenn die Staatsmacht bereits restlos in<br />

die Hände des Sowjets übergegangen wäre - was wir anstreben - und <strong>der</strong> Sowjet versuchen<br />

würde, unserer Agitation Ketten anzulegen, so könnte das uns nicht zu passiver<br />

Unterwerfung zwingen, son<strong>der</strong>n dazu, Gefängnis und an-<strong>der</strong>en Strafen entgegenzugehen<br />

im Namen <strong>der</strong> Ideen des internationalen Sozialismus, die uns von euch trennen.«<br />

Sowjetmehrheit und Sowjetmin<strong>der</strong>heit standen in diesen Tagen Brust an Brust, wie<br />

zum entscheidenden Kampfe. Aber beide Parteien machten im letzten Moment einen<br />

Schritt zurück. Die Bolschewiki verzichteten auf die Demonstration; die Versöhnler auf<br />

die Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 290


Zeretelli blieb unter den Seinen in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Indes hatte er auf seine Art recht.<br />

Die Bündnispolitik mit <strong>der</strong> Bourgeoisie hatte sich jenem Punkt genähert, wo es notwendig<br />

wurde, die Massen, die sich mit <strong>der</strong> Koalition nicht abfinden wollten, zu entkräften.<br />

Die Versöhnlerpolitik zum glücklichen Ende, das heißt zur Errichtung <strong>der</strong> parlamentarischen<br />

Herrschaft <strong>der</strong> Bourgeoisie zu führen, war nicht an<strong>der</strong>s möglich als durch Entwaffnung<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Zeretelli hatte also recht. Darüber hinaus war er<br />

machtlos. We<strong>der</strong> die Arbeiter noch die Soldaten hätten die Waffen abgegeben. Folglich<br />

hätte man Gewalt gegen sie anwenden müssen. Zeretelli besaß jedoch keine Macht mehr.<br />

Er konnte sie, wenn überhaupt, nur aus den Händen <strong>der</strong> Reaktion erhalten, die im Falle<br />

einer erfolgreichen Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki unverzüglich zur Nie<strong>der</strong>schlagung<br />

<strong>der</strong> Versöhnlersowjets geschritten wäre und nicht versäumt hätte, Zeretelli daran zu<br />

erinnern, daß er nur ein ehemaliger Zuchtbäusler sei und nichts mehr. Der weitere<br />

Verlauf <strong>der</strong> Dinge wird jedoch zeigen, daß auch die Reaktion eine solche Macht nicht<br />

besaß.<br />

Die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bolschewiki begründete Zeretelli politisch<br />

damit, daß sie das Proletariat von <strong>der</strong> Bauernschaft trennten. Martow erwi<strong>der</strong>te ihm:<br />

»Nicht aus den Tiefen <strong>der</strong> Bauernschaft« schöpfte Zeretelli seine Leitgedanken, »die<br />

Gruppe rechter Kadetten, die Kapitalistengruppe, die Gutsbesitzergruppe, die Gruppe<br />

<strong>der</strong> Imperialisten, die Bourgeoisie des Westens«, sie sind es, die die Entwaffnung <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldaten for<strong>der</strong>n. Martow hatte recht: die besitzenden Klassen hatten mehr<br />

als einmal in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> ihre Ansprüche hinter dem Rücken <strong>der</strong> Bauernschaft verborgen.<br />

Seit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Aprilthesen Lenins wurde die Berufung auf die Gefahr<br />

<strong>der</strong> Isolierung des Proletariats von <strong>der</strong> Bauernschaft das Hauptargument aller jener, die<br />

die <strong>Revolution</strong> zurückzerren wollten. Nicht zufällig hatte Lenin Zeretelli mit den "alten<br />

Bolschewiki" auf eine Stufe gestellt.<br />

In einer im Jahre 1917 veröffentlichten Arbeit schrieb Trotzki zu diesem Thema: »Die<br />

Isolierung unserer Partei von den Sozial-revolutionären und Menschewiki, selbst die<br />

äußerste, selbst auf dem Wege über Einzelzellen, bedeutet noch keinesfalls die Isolierung<br />

des Proletariats von den unterdrückten Bauern- und Stadtmassen. Im Gegenteil,<br />

nur die scharfe Gegenüberstellung <strong>der</strong> Politik des revolutionären Proletariats und <strong>der</strong><br />

treubrüchigen Abtrünnigkeit <strong>der</strong> heutigen Sowjetfülirer ist imstande, die rettende<br />

politische Differenzierung in die Bauernmillionen hineinzutragen, die Dorfarmut <strong>der</strong><br />

verräterischen Leitung <strong>der</strong> gesicherten sozialrevolutionären Bäuerlein zu entreißen<br />

und das sozialistische Proletariat in den wahren Führer <strong>der</strong> plebejischen, <strong>der</strong> Volksrevolution<br />

zu verwandeln.«<br />

Aber das durch und durch falsche Argument Zeretellis hatte ein zähes Leben. Es<br />

erstand am Vorabend <strong>der</strong> Oktoberrevolution mit verdoppelter Kraft wie<strong>der</strong> als Argument<br />

vieler "alter Bolschewiki" gegen die Umwälzung. Einige Jahre später, als die geistige<br />

Reaktion gegen den Oktober einsetzte, wurde Zeretellis Formel zur wichtigsten theoretischen<br />

Waffe <strong>der</strong> Epigonenschule.<br />

In <strong>der</strong> gleichen Kongreßsitzung, die über die Bolschewiki in <strong>der</strong>en Abwesenheit<br />

Gericht hielt, beantragte <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Menschewiki völlig überraschend, am nächsten<br />

Sonntag, dem 18. Juni, in Petrograd und den wichtigsten Städten eine Kundgebung <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldaten zu veranstalten, um den Feinden die Einheit und Macht <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 291


Demokratie zu zeigen. Der Antrag wurde, wenn auch nicht ohne Staunen, angenommen.<br />

Nach mehr als einem Monat erklärte Miljukow ziemlich eingehend die unerwartete<br />

Wendung <strong>der</strong> Versöhnler: »Während sie auf dem Sowjetkongreß kadettische Reden<br />

hielten und die bewaffnete Demonstration am 10. Juni zum Scheitern brachte ... fühlten<br />

die Minister-<strong>Sozialisten</strong>, daß sie in <strong>der</strong> Annäherung an uns zu weit gegangen waren und<br />

daß <strong>der</strong> Boden unter ihren Füßen zu schwinden begann. Sie bekamen Angst und machten<br />

schroff kehrt in die Richtung <strong>der</strong> Bolschewiki.« Der Beschluß zur Demonstration vom 18.<br />

Juni war selbstverständlich keine Wendung zu den Bolschewiki hin, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Versuch<br />

einer Wendung zu den Aufrüttelung <strong>der</strong> Sowjetspitzen geführt: so wurde, im Gegensatz<br />

zu dem, was beim Beginn des Kongresses geplant war, im Namen <strong>der</strong> Regierung eiligst<br />

eine Verfügung über die Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma und die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung für den 30. September erlassen. Die Parolen für die Demonstration<br />

wurden mit <strong>der</strong> Berechnung gewählt, die Massen nicht zu reizen: "Allgemeiner Friede",<br />

"Schnellste Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung", "Demokratische<br />

Republik". Sowohl über Offensive wie Koalition kein Wort. In <strong>der</strong> 'Prawda' fragte Lenin:<br />

»Und wo bleibt das volle Vertrauen zur Provisorischen Regierung, ihr Herren? ...<br />

Weshalb bleibt euch die Zunge am Gaumen kleben?« Diese Ironie traf das Ziel: die<br />

Versölinler hatten es nicht gewagt, von den Massen Vertrauen für jene Regierung zu<br />

for<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> sie angehörten.<br />

Sowjetdelegierte, die zum zweitenmal die Arbeiterviertel und Kasernen besuchten,<br />

erstatteten dem Exekutivkomitee am Vorabend <strong>der</strong> Demonstration zuversichtliche<br />

Berichte. Zeretelli, dem diese Berichte das Gleichgewicht und die Vorliebe für selbstzufriedene<br />

Belehrungen wie<strong>der</strong>gegeben hatten, wandte sich an die Bolschewiki: »Nunmehr<br />

stehen wir vor <strong>der</strong> offenen und ehrlichen Heeresschau <strong>der</strong> revolutionären Kräfte ... Jetzt<br />

werden wir alle sehen, mit wem die Mehrheit geht, mit uns o<strong>der</strong> mit euch.« Die Bolschewiki<br />

hatten die Herausfor<strong>der</strong>ung angenommen, noch ehe sie so unvorsichtig formuliert<br />

worden war. »Wir werden am 18. zur Demonstration gehen«, schrieb die 'Prawda', »um<br />

für die gleichen Ziele zu kämpfen, für die wir am 10. demonstrieren wollten.«<br />

Offenbar in Erinnerung an die Beerdigungsprozession vom März, die wenigstens<br />

äußerlich die größte Kundgebung für die Einheit <strong>der</strong> Demokratie gewesen war, führte die<br />

Marschroute auch diesmal zum Marsfeld, zu den Gräbern <strong>der</strong> Februaropfer. Außer <strong>der</strong><br />

Marschroute erinnerte aber nichts mehr an die fernen Märztage. Am Zuge beteiligten sich<br />

etwa 400.000 Menschen, das heißt bedeutend weniger als an <strong>der</strong> Beerdigung: bei dieser<br />

Sowjetdemonstration fehlte nicht nur die Bourgeoisie, mit <strong>der</strong> die Sowjets in einer Koalition<br />

waren, son<strong>der</strong>n auch die radikale Intelligenz, die an den früheren Paraden <strong>der</strong><br />

Demokratie so hervorragend beteiligt gewesen war. Es marschierten fast ausschließlich<br />

Betriebe und Kasernen.<br />

Die auf dem Marsfeld versammelten Sowjetdelegierten lasen und zählten die Plakate.<br />

Die ersten bolschewistischen Parolen wurden halb ironisch aufgenommen. Hatte doch<br />

Zeretelli am Vorabend seine Herausfor<strong>der</strong>ung so zuversichtlich hingeworlen. Doch die<br />

gleichen Parolen wie<strong>der</strong>holten sich fortwährend. "Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten",<br />

"Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Offensive", "Alle Macht den Sowjets", das ironische Lächeln<br />

erstarrte auf den Gesichtern, um später völlig zu verschwinden. Die bolschewistischen<br />

Banner nahmen kein Ende. Die Delegierten gaben das undankbare Zählen auf Der Sieg<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki war zu offensichtlich. »Ab und zu«, schreibt Suchanow, »wurde die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 292


Kette <strong>der</strong> bolschewistischen Banner und Kolonnen durch spezifisch sozial-revolutionäre<br />

o<strong>der</strong> offizielle Sowjetparolen unterbrochen. Sie gingen aber in <strong>der</strong> Masse unter.« Der<br />

Sowjetoffiziosus berichtete am nächsten Tag, mit welcher »Wut man hie und da Banner<br />

mit den Parolen des Vertrauens für die Provisorische Regierung in Stücke zerriß«. Diese<br />

Worte enthalten ein unverkennbares Element <strong>der</strong> Übertreibung. Plakate zu Ehren <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung wurden nur von drei kleineren Gruppen getragen: dem Kreis<br />

Plechanows, einer Kosakenabteilung und einem Häuflein jüdischer Intelligenz, das zum<br />

"Bund" gehörte. Dieses kombinierte Trio, das durch seine Zusammensetzung den<br />

Eindruck einer politischen Kuriosität machte, stellte sich gleichsam die Aufgabe, die<br />

Ohnmacht des Regimes zur Schau zu stellen. Die Plechanow-Leute und <strong>der</strong> "Bund"<br />

waren unter den feindlichen Rufen <strong>der</strong> Menge gezwungen, ihre Banner einzurollen. Den<br />

standhaft gebliebenen Kosaken hatten die Demonstranten das Banner tatsächlich entrissen<br />

und es vernichtet.<br />

»Der dahingleitende Fluß«, so schil<strong>der</strong>t es die 'Iswestja', »verwandelte sich in einen<br />

schwellenden, breiten Strom, <strong>der</strong> aus seinen Ufern zu treten drohte.« Das war <strong>der</strong><br />

Wyborger Bezirk - ganz unter bolschewistischen Bannern: "Nie<strong>der</strong> mit den zehn<br />

Minister-Kapitalisten." Ein Betrieb trug das Plakat: "Das Recht auf Leben steht über dem<br />

Recht auf Privatbesitz." Diese Losung war von keiner Partei diktiert worden.<br />

Die Augen <strong>der</strong> verängstigten Provinzler suchten die Führer. Diese hielten ihre Blicke<br />

gesenkt o<strong>der</strong> versteckten sich. Die Bolschewiki bedrängten die Provinzler. Ist denn das<br />

einem Häuflein Verschwörer ähnlich? Die Delegierten mußten zugeben: Nein, es sei<br />

nicht ähnlich. »In Petrograd seid ihr die Macht«, gestanden sie in einem von den offiziellen<br />

Sitzungen ganz verschiedenen Ton, »aber nicht in <strong>der</strong> Provinz und nicht an <strong>der</strong><br />

Front. Petrograd kann nicht gegen das ganze Land gehen.« »Wartet ab«, antworteten<br />

ihnen die Bolschewiki, »bald kommt auch ihr an die Reihe, auch bei euch wird man die<br />

gleichen Plakate hochheben.«<br />

»Während dieser Demonstration«, schrieb <strong>der</strong> Greis Plechanow, »stand ich neben<br />

Tschcheidse auf dem Marsfeld. Ich las auf seinem Gesicht, daß er sich über die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> verblüffend großen Zahl <strong>der</strong> Plakate, die die Absetzung <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Minister for<strong>der</strong>ten, keinen Illusionen hingab. Der befehishaberische Ton, in dem sich<br />

einige Vertreter <strong>der</strong> Leninisten, wie wahrhafte Geburtstagskin<strong>der</strong> vorbeigehend, an ihn<br />

wandten, unterstrich diese Bedeutung.«<br />

Die Bolschewiki hatten jedenfalls Grund für solch ein Selbstbewußtsein. »Nach den<br />

Plakaten und Parolen <strong>der</strong> Kundgebung zu urteilen«, schrieb Gorkis Zeitung, »erwies die<br />

Sonntagsdemonstration den völligen Triumph des Bolschewismus beim Petrogra<strong>der</strong><br />

Proletariat.« Das war ein großer Sieg, und dabei in jener Arena und mit jenen Waffen<br />

errungen, die vom Gegner gewfliit worden waren. Nachdem er die Offensive gutgeheißen,<br />

die Koalition anerkannt und die Bolschewiki verurteilt hatte, berief <strong>der</strong> Sowjetkongreß<br />

die Massen auf die Straße. Sie erklärten ihm: Wir wollen we<strong>der</strong> die Offensive noch<br />

die Koalition, wir sind für die Bolschewiki. Das war das politische Ergebnis <strong>der</strong> Demonstration.<br />

Ist es da verwun<strong>der</strong>lich, wenn die Zeitung <strong>der</strong> Menschewiki, <strong>der</strong> Initiatoren <strong>der</strong><br />

Demonstration, am nächsten Tag melancholisch fragte: wem ist dieser unglückselige<br />

Gedanke in den Sinn gekommen?<br />

Gewiß hatten nicht alle Arbeiter und Soldaten <strong>der</strong> Hauptstadt an <strong>der</strong> Demonstration<br />

teilgenommen, und nicht alle Demonstranten waren Bolschewiki. Aber schon wollte<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 293


keiner von ihnen die Koalition. Jene Arbeiter, die dem Bolschewismus noch feindlich<br />

gegenüberstanden, wußten ihm nichts entgegenzustellen. Das allein verwandelte ihre<br />

Feindseligkeit in abwartende Neutralität. Unter bolschewistischen Parolen marschierten<br />

nicht wenige Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die mit ihren Parteien noch nicht<br />

gebrochen, aber den Glauben an <strong>der</strong>en Parolen bereits verloren hatten.<br />

Die Demonstration vom 18. Juni übte einen gewaltigen Eindruck auf ihre Teilnehmer<br />

aus. Die Massen erkannten, daß <strong>der</strong> Bolschewismus eine Macht geworden war, und die<br />

Schwankenden fühlten sich von ihm angezogen. In Moskau, Kiew, Charkow, Jekaterinoslaw<br />

und vielen an<strong>der</strong>en Provinzstädten enthüllten die Demonstrationen das ungeheure<br />

Anwachsen des Einflusses <strong>der</strong> Bolschewiki. Überall wurden die gleichen Losungen<br />

aufgestellt, und sie trafen das Februarregime mitten ins Herz. Man mußte Schlußfolgerungen<br />

ziehen. Es schien, daß die Versöhnler keinen Ausweg hatten. Aber im letzten<br />

Augenblick half die Offensive.<br />

Am 19. Juni fand auf dem Newskij-Prospekt unter Leitung von Kadetten und mit<br />

Bil<strong>der</strong>n von Kerenski eine patriotische Kundgebung statt. Nach Miljukows Worten »sah<br />

das dem, was auf den gleichen Straßen am Tage zuvor geschehen war, so unähnlich, daß<br />

sich unwillkürlich dem Gefühl des Triumphes ein Gefühl des Mißtrauens zugesellte«. Ein<br />

berechtigtes Gefühl! Die Versöhiler aber atmeten erleichtert auf. Ihr Gedanke erhob sich<br />

sogleich als demokratische Synthese über beide Demonstrationen. Diese Menschen<br />

waren verurteilt, den Kelch <strong>der</strong> Illusionen und Erniedrigungen bis zur Neige zu leeren.<br />

Im April waren zwei Demonstrationen, die revolutionäre und die patriotische, einan<strong>der</strong><br />

entgegengegangen, und ihr Zusammenstoß hatte an Ort und Stelle zu Opiem geführt. Die<br />

feindlichen Demonstrationen vom 18. und 19. Juni lösten einan<strong>der</strong> ab. Zum unmittelbaren<br />

Zusammenstoß kam es diesmal nicht. Doch war es bereits nicht mehr möglich, ihn zu<br />

vermeiden. Er wurde um zwei Wochen verschoben.<br />

Die Anarchisten, die nicht wußten, wie sie ihre Selbständigkeit beweisen sollten,<br />

benutzten die Demonstration vom 18. Juni zu einem Überfall auf das Wyborger Gefängnis.<br />

Die Sträflinge, in <strong>der</strong> Mehrzahl Kriminelle, wurden ohne Kampf und Opfer, und<br />

zwar gleichzeitig aus mehreren Gefängnissen, befreit. Offenbar hatte <strong>der</strong> Überfall die<br />

Administration nicht überrascht, denn sie zeigte sich den wirklichen und angeblichen<br />

Anarchisten gleich willig. Diese ganze rätselhafte Episode hatte zur Demonstration nicht<br />

die geringste Beziehung. Die patriotische Presse jedoch verband beides miteinan<strong>der</strong>. Die<br />

Bolschewiki beantragten auf dem Sowjetkongreß strenge Untersuchung, auf welche<br />

Weise die 460 Kriminellen aus den verschiedenen Gefängnissen entlassen worden waren.<br />

Doch die Versöhnler konnten sich einen solchen Luxus nicht leisten, denn sie mußten<br />

befürchten, auf Vertreter <strong>der</strong> höheren Administration o<strong>der</strong> ihrer Blockverbündeten zu<br />

stoßen. Überdies verspürten sie nicht den geringsten Wunsch, die von ihnen veranstaltete<br />

Demonstration gegen böswillige Verleumdungen zu schützen.<br />

Justizminister Perewersew, <strong>der</strong> sich einige Tage zuvor die Blamage mit <strong>der</strong> Villa<br />

Durnowos zugezogen hatte, beschloß, Rache zu nehmen und machte unter dem<br />

Vorwand, nach flüchtigen Sträflingen zu fahnden, einen neuen Überfall auf die Villa. Die<br />

Anarchisten leisteten Wi<strong>der</strong>stand; im Feuergeplänkel wurde einer von ihnen getötet, die<br />

Villa demoliert. Die Arbeiter des Wyborger Bezirkes, die die Villa als ihr Eigentum<br />

betrachteten, wurden unruhig. Einige Betriebe stellten die Arbeit ein. Die Unruhe<br />

übertrug sich auf an<strong>der</strong>e Bezirke und auch auf die Kasernen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 294


Die letzten Junitage verlaufen in ununterbrochener Siedestimmung. Das Maschinengewehrregiment<br />

steht zum sofortigen Angriff auf die Provisorische Regierung bereit. Die<br />

Arbeiter <strong>der</strong> streikenden Betriebe besuchen die Regimenter mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, auf die<br />

Straße zu gehen. Bärtige, darunter viele schon ergraute Bauern in Soldatenuniformen<br />

durchziehen in protestierenden Prozessionen die Straßen: die 4ojährigen for<strong>der</strong>n ihre<br />

Entlassung zur Feldarbeit. Die Bolschewiki agitieren gegen das Hervortreten: die<br />

Demonstration vom 18. Juni hat alles gesagt, was zu sagen möglich war, um Än<strong>der</strong>ungen<br />

zu erreichen, genügt eine Demonstration nicht mehr, und die Stunde des Umsturzes hat<br />

noch nicht geschlagen. Am 22. Juni wenden sich die Bolschewiki schriftlich an die<br />

Garnison: »Folgt keinen Auffor<strong>der</strong>ungen, die euch im Namen <strong>der</strong> militärischen Organisation<br />

auf die Straße rufen.« Von <strong>der</strong> Front treffen Delegierte mit Beschwerden über<br />

Gewaltakte und Strafen ein. Die Drohungen, ungehorsame Truppenteile aufzulösen,<br />

gießen Öl ins Feuer. »In vielen Regimentern schlafen die Soldaten mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong><br />

Hand«, lautet die Erklärung <strong>der</strong> Bolschewiki an das Exekutivkomitee. Patriotische<br />

Kundgebungen, häufig bewaffnete, führen zu Straßenzusammenstößen. Das sind kleine<br />

Entladungen <strong>der</strong> angehäuften Elektrizität. Keine <strong>der</strong> Parteien plant offen anzugreifen: die<br />

Reaktion ist zu schwach; die <strong>Revolution</strong> ihrer Kräfte noch nicht ganz sicher Doch die<br />

Straßen <strong>der</strong> Stadt scheinen mit Sprengstoff gepflastert zu sein. Der Zusammenstoß hängt<br />

in <strong>der</strong> Luft. Die bolschewistische Presse klärt auf und bremst. Die patriotische Presse<br />

verrät ihre Unruhe in ungezähmter Bolschewikenhetze. Am 25. Juni schreibt Lenin:<br />

»Das allgemeine wilde Geheul <strong>der</strong> Wut und Raserei gegen die Bolschewiki ist die<br />

gemeinsame Klage <strong>der</strong> Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki über die eigene<br />

Zerfahrenheit. Sie sind die Mehrheit. Sie sind an <strong>der</strong> Macht. Sie bilden alle miteinan<strong>der</strong><br />

einen Block. Und sie sehen, daß nichts dabei herauskommt!! Wie soll man da nicht gegen<br />

die Bolschewiki wüten?«<br />

Schlußbetrachtung<br />

Auf den ersten Seiten dieser Arbeit haben wir uns bemüht zu zeigen, wie tief die<br />

Oktoberrevolution in den sozialen Verhältnissen Rußlands begründet war. Keinesfalls<br />

den vollzogenen Ereignissen nachträglich angepaßt, war unsere Analyse schon vor <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> und sogar schon vor ihrem Prolog im Jahre 1905 gegeben.<br />

Auf den weiteren Seiten waren wir bestrebt nachzuweisen, wie sich die sozialen Kräfte<br />

Rußlands in den <strong>Revolution</strong>sereignissen ausgewirkt haben. Wir registrierten die Tätigkeit<br />

<strong>der</strong> politischen Parteien in <strong>der</strong>en Verhältnis zu den Klassen. Die Sympathien und Antipathien<br />

des Autors können beiseite gelassen werden. Eine historische Darstellung hat das<br />

Recht, Anspruch auf Zuerkennung <strong>der</strong> Objektivität zu erheben, wenn sie, gestützt auf<br />

präzis festgestellte Tatsachen, <strong>der</strong>en inneren Zusammenhang auf Grundlage <strong>der</strong> realen<br />

Entwicklung <strong>der</strong> sozialen Beziehungen aufzeigt. Die innere Gesetzmäßigkeit des Prozesses,<br />

die dabei zum Vorschein kommt, ist an sich die beste Nachprüfung <strong>der</strong> Objektivität<br />

<strong>der</strong> Darstellung.<br />

Die an dem Leser vorübergezogenen Ereignisse <strong>der</strong> Februar-revolution bestätigten die<br />

theoretische Prognose, vorläufig wenigstens zur Hälfte, durch die Methode aufeinan<strong>der</strong>folgen<strong>der</strong><br />

Streichungen: noch bevor das Proletariat zur Macht kam, wurden alle an<strong>der</strong>en<br />

Varianten <strong>der</strong> politischen Entwicklung vom Leben nachgeprüft und als untauglich<br />

verworfen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 295


Die Regierung <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie mit <strong>der</strong> demokratischen Geisel Kerenski<br />

erweist sich als ein vollständiges Fiasko. Die "Apriltage" sind die erste offene Warnung<br />

seitens <strong>der</strong> Oktoberrevolution an die Adresse des Februar. Die bürgerliche Provisorische<br />

Regierung wird hierauf von <strong>der</strong> Koalition abgelöst, <strong>der</strong>en Fruchtlosigkeit sich mit jedem<br />

Tag ihres Bestehens neu enthüllt. In <strong>der</strong> vom Exekutivkomitee aus eigener Initiative,<br />

wenn auch nicht ganz freiwillig, anberaumten Junidemonstration, versucht die Februarrevolution<br />

mit <strong>der</strong> des Oktober ihre Kräfte zu messen und erleidet eine grausame Nie<strong>der</strong>lage.<br />

Diese war um so fataler, als sie sich in <strong>der</strong> Arena von Petrograd abspielte und von<br />

den gleichen Arbeitern und Soldaten bereitet wurde, die die Februarumwälzung<br />

vollbracht hatten, die dann vom übrigen Lande übernommen worden war. Die Junidemonstration<br />

hatte gezeigt, daß die Arbeiter und Soldaten Petrograds einer zweiten<br />

<strong>Revolution</strong> entgegengingen, <strong>der</strong>en Ziele auf ihren Bannern geschrieben waren. Untrügbare<br />

Anzeichen bewiesen, daß sich das ganze übrige Land, wenn auch mit unvermeidlicher<br />

Verspätung, Petrograd anpaßte. Somit hatte sich die Februarrevolution am Ende des<br />

vierten Monats politisch erschöpft. Die Versöhnler verloren das Vertrauen <strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten. Ein Zusammenstoß <strong>der</strong> führenden Sowjetparteien mit den Sowjetmassen<br />

wird von nun an unvermeidlich. Nach <strong>der</strong> Demonstration vom 18. Juni, die eine friedliche<br />

Nachprüfung des Kräfteverhältuisses zweier <strong>Revolution</strong>en war, mußte <strong>der</strong> Gegensatz<br />

unvermeidlich offenen und gewaltsamen Charakter annehmen.<br />

So erwuchsen die "Julitage". Zwei Wochen nach <strong>der</strong> von oben organisierten Demonstration<br />

gingen die gleichen Arbeiter und Soldaten, nun aus eigener initiative, auf die<br />

Straße und verlangten vom Zentral-Exekutivkomitee, daß es die Macht übernehme. Die<br />

Versöhnler lehnten rundweg ab. Die Julitage führten zu Straßenzusammenstößen und<br />

Opfern und endeten mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, die man für den Bankrott<br />

des Februarregimes verantwortlich erklärte. Der Antrag, die Bolschewiki außer Gesetz zu<br />

stellen und zu entwaffnen, den Zeretelli am 11. Juli eingebracht hatte und <strong>der</strong> damals<br />

abgelehnt worden war, wurde Anfang Juli restlos verwirklicht. Die bolschewistischen<br />

Zeitungen wurden verboten. Die bolschewistischen Truppenteile aufgelöst. Man nahm<br />

den Arbeitern die Waffen weg. Die Parteiführer wurden für Mietlinge des deutschen<br />

Generalstabs erklärt. Die einen mußten sich verbergen, die an<strong>der</strong>en saßen in Gefängnissen.<br />

Aber gerade <strong>der</strong> "Juli"-Sieg <strong>der</strong> Versöhnler über die Bolschewiki enthüllte restlos die<br />

Ohnmacht <strong>der</strong> Demokratie. Die Demokraten mußten gegen Arbeiter und Soldaten offen<br />

konterrevolutionäre, nicht nur den Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch den Sowjets feindliche<br />

Truppen werfen: über eigene Truppen verfügte das Exekutivkomitee bereits nicht mehr.<br />

Die Liberalen zogen daraus die richtige Schlußfolgerung, die Miljukow in <strong>der</strong> Alternative<br />

formulierte: Kornilow o<strong>der</strong> Lenin! Tatsächlich ließ die <strong>Revolution</strong> für die goldene<br />

Mitte keinen Platz mehr. Die Konterrevolution sagte sich: jetzt o<strong>der</strong> nie. Unter dem<br />

Vorwand eines Feldzuges gegen die Bolschewiki entfesselte <strong>der</strong> Oberkommandierende<br />

Kornilow die Rebellion gegen die <strong>Revolution</strong>. Wie vor <strong>der</strong> Umwälzung jede Form von<br />

legaler Opposition sich mit Patriotismus umhüllte, das heißt mit den Erfor<strong>der</strong>nissen des<br />

Kampfes gegen die Deutschen, so deckte sich nach <strong>der</strong> Umwälzung jede Form von<br />

legaler Konterrevolution mit Erfor<strong>der</strong>nissen des Kampfes gegen die Bolschewiki. Kornilow<br />

genoß die Unterstützung <strong>der</strong> besitzenden Klassen und <strong>der</strong>en Partei, <strong>der</strong> Kadetten.<br />

Dies hat nicht nur nicht verhin<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n im Gegenteil dazu beigetragen, daß die von<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 296


Kornilow gegen Petrograd gesandten Truppen ohne Kampf besiegt wurden, ohne Zusammenstoß<br />

kapitulierten, verdampften wie ein Wassertropfen auf einem glühenden Herd.<br />

Auf diese Weise wurde auch <strong>der</strong> Versuch einer Umwälzung von rechts ausprobiert, und<br />

zwar von einer Person, die an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Armee stand; das Kräfteverhälmis zwischen<br />

den besitzenden Klassen und dem Volke wurde durch die Aktion nachgeprüft, und bei<br />

<strong>der</strong> Alternative »Kornilow o<strong>der</strong> Lenin« fiel Kornilow wie eine faule Frucht ab, obwohl<br />

Lenin zu jener Zeit noch gezwungen war, sich in tiefstem Unterschlupf zu verbergen.<br />

Welche Variante blieb danach noch unausgenutzt, unerprobt, unversucht? Die Variante<br />

des Bolschewismus. Und in <strong>der</strong> Tat, nach dem Kornilowschen Versuch und dessen<br />

ruhmlosem Zusammenbruch wenden sich die Massen stürmisch und endgültig den<br />

Bolschewiki zu. Die Oktoberrevolution naht mit physischer Notwendigkeit. Zum Unterschiede<br />

von <strong>der</strong> Februarumwälzung, die man unblutig genannt hat, obwohl sie in Petrograd<br />

viele Opfer kostete, vollzieht sich die Oktoberumwälzung in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

tatsächlich unblutig. Haben wir da nicht das Recht zu fragen: welche Beweise für die<br />

tiefe Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Oktoberrevolution sind noch zu erbringen notwendig? Und ist<br />

es nicht klar, daß sie nur jenen als Frucht von Abenteuer o<strong>der</strong> Demogogie erscheinen<br />

konnte, die sie an <strong>der</strong> empfindlichsten Stelle traf: am Geldbeutel. Der blutige Kampf<br />

begann erst nach <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Macht durch die bolschewistischen Sowjets, als die<br />

gestürzten Klassen mit materieller Unterstützung <strong>der</strong> Ententeregierung verzweifelte<br />

Anstrengungen machten, das Verlorene zurückzugewinnen. Es beginnen die Jahre des<br />

Bürgerkrieges. Die Rote Armee wird aufgebaut. Das hungernde Land wird auf das<br />

Regime des Kriegskommunismus übergeleitet und in ein spartanisches Lager verwandelt.<br />

Schritt für Schritt bahnt sich die Oktoberrevolution den Weg, schlägt alle Feinde zurück,<br />

geht zur Lösung ihrer Wirtschaftsaufgaben über, heilt die schwersten Wunden des<br />

imperialistischen und des Bürgerkrieges, erringt größte Erfolge auf dem Gebiete <strong>der</strong><br />

Industrieentwicklung. Vor ihr erstehen jedoch neue Schwierigkeiten, die sich aus ihrer<br />

isolierten Lage in <strong>der</strong> Umkreisung mächtiger kapitalistischer Län<strong>der</strong> ergeben. Die<br />

verspätete Entwicklung, die das russische Proletariat an die Macht brachte, hat diese<br />

Macht vor Aufgaben gestellt, die ihrem Wesen nach im Rahmen eines isolierten Staates<br />

nicht restlos gelöst werden können. Das Schicksal dieses Staates ist folglich ganz und gar<br />

mit dem weiteren Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte verbunden.<br />

Dieser erste, <strong>der</strong> Februarrevolution gewidmete Band beweist, wie und weshalb sie in<br />

nichts verrinnen mußte. Der zweite Band wird zeigen, wie die Oktoberrevolution siegte.<br />

ENDE<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 297


<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 298


2. Teil: Oktoberrevolution<br />

Inhalt:<br />

Vorwort<br />

"Julitage": Vorbereitung und Beginn<br />

"Julitage": Kulminationspunkt und Zertrümmerung<br />

Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?<br />

Ein Monat <strong>der</strong> großen Verleumdung<br />

Die Konterrevolution erhebt das Haupt<br />

Kerenski und Kornilow<br />

Die Staatsberatung in Moskau<br />

Kerenskis Verschwörung<br />

Kornilows Aufstand<br />

Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit <strong>der</strong> Demokratie<br />

Die Massen unter den Schlägen<br />

Die Brandung<br />

Die Bolschewiki und die Sowjets<br />

Letzte Koalition<br />

Die Bauernschaft vor dem Oktober<br />

Die nationale Frage<br />

Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß<br />

Das militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

Lenin ruft zum Aufstand<br />

Die Kunst des Aufstandes<br />

Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

Einnahme des Winterpalais<br />

Oktoberaufstand<br />

Der Kongreß <strong>der</strong> Sowjetdiktatur<br />

Nachwort<br />

Anhänge<br />

Teil 1 und 2<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 299


<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 300


Vorwort<br />

Rußland hat seine bürgerliche <strong>Revolution</strong> so spät vollzogen, daß es gezwungen war,<br />

sie in die proletarische umzuwandeln. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Rußland war hinter den<br />

übrigen Län<strong>der</strong>n so weit zurückgeblieben, daß es, wenigstens auf gewissen Gebieten,<br />

diese überholen mußte. Das mag wi<strong>der</strong>sinnig erscheinen. Indes ist die <strong>Geschichte</strong> voll<br />

von solchen Paradoxen. Das kapitalistische England hatte an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> so weit<br />

überholt, daß es gezwungen war, hinter diesen zurückzubleiben. Pedanten glauben, die<br />

Dialektik sei müßiges Gedankenspiel. In Wirklichkeit reproduziert sie nur den Entwicklungsprozeß,<br />

<strong>der</strong> in Wi<strong>der</strong>sprüchen lebt und sich bewegt.<br />

Der erste Band dieser Arbeit sollte klarmachen, weshalb das historisch verspätete<br />

demokratische Regime, das den Zarismus abgelöst hat, sich als völlig lebensunfähig<br />

erwies. Der vorliegende Band behandelt die Machteroberung durch die Bolschewiki.<br />

Grundlage <strong>der</strong> Darstellung ist auch hier die Erzählung. Der Leser soll in den Tatsachen<br />

selbst einen ausreichenden Stützpunkt für Schlußfolgerungen finden.<br />

Der Autor will damit nicht sagen, daß er soziologische Verallgemeinerungen<br />

vermeidet. Die <strong>Geschichte</strong> hätte keinen Wert, wenn sie uns nichts lehren würde. Die<br />

machtvolle Planmäßigkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>, die Kontinuierlichkeit ihrer<br />

Etappen, die Unüberwindlichkeit des Massenvorstoßes, die Vollendung <strong>der</strong> politischen<br />

Gruppierungen, die Prägnanz <strong>der</strong> Parolen, all das erleichtert aufs äußerste das Verständnis<br />

für die <strong>Revolution</strong> im allgemeinen und damit auch für die menschliche Gesellschaft.<br />

Denn man darf durch den gesamten Verlauf <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> als erwiesen betrachten, daß<br />

eine von inneren Wi<strong>der</strong>sprüchen zerrissene Gesellschaft nicht nur ihre Anatomie,<br />

son<strong>der</strong>n auch ihre "Seele" gerade in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> restlos enthüllt.<br />

In einem unmittelbaren Sinne soll die vorliegende Arbeit beitragen zum Verständnis<br />

für den Charakter <strong>der</strong> Sowjetunion. Die Aktualität unseres Themas besteht nicht darin,<br />

daß die Oktoberumwälzung sich vor den Augen <strong>der</strong> heute noch lebenden Generation<br />

vollzogen hat - gewiß ist auch dies von nicht geringer Bedeutung -, son<strong>der</strong>n darin, daß<br />

das aus <strong>der</strong> Umwälzung hervorgegangene Regime lebt, sich weiter entwickelt und vor<br />

die Menschheit immer neue und neue Rätsel stellt. In <strong>der</strong> ganzen Welt verschwindet die<br />

Diskussion über das Land <strong>der</strong> Sowjets nicht von <strong>der</strong> Tagesordnung. Indes läßt sich das,<br />

was ist, nicht begreifen, bevor man sich nicht darüber klar wird, wie das Bestehende<br />

entstand. Für große politische Einschätzungen braucht man die historische Perspektive.<br />

Die acht <strong>Revolution</strong>smonate, vom Februar bis Oktober 1917, haben zwei starke Bände<br />

erfor<strong>der</strong>t. Die Kritik hat gegen uns im allgemeinen den Vorwurf <strong>der</strong> Weitschweifigkeit<br />

nicht erhoben. Der Maßstab <strong>der</strong> Arbeit läßt sich eher mit <strong>der</strong> Einstellung zum Material<br />

erklären. Man kann die photographische Aufnahme einer Hand geben: das füllt eine<br />

Seite. Um aber die Resultate einer mikroskopischen Untersuchung <strong>der</strong> Gewebe einer<br />

Hand darzustellen, braucht man einen ganzen Band. Der Autor macht sich keine Illusionen<br />

in bezug auf Fülle und Abgeschlossenheit <strong>der</strong> von ihm angestellten Untersuchung.<br />

Aber dennoch hatte er in vielen Fällen Methoden anzuwenden, die dem Mikroskop näher<br />

sind als dem photographischen Apparat.<br />

In jenen Augenblicken, wo uns schien, daß wir die Langmut des Lesers mißbrauchten,<br />

haben wir großzügig Zeugenangaben, Geständnisse von Teilnehmern, nebensächliche<br />

Episoden gestrichen; aber danach nicht selten vieles von dem Gestrichenen wie<strong>der</strong>-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 301


hergestellt. In diesem Ringen um Details leitete uns das Bestreben, so konkret wie<br />

möglich den Prozeß <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> selbst zu zeigen. Undenkbar war es im beson<strong>der</strong>en,<br />

nicht zu versuchen, den Vorzug restlos auszunutzen, daß diese <strong>Geschichte</strong> nach <strong>der</strong><br />

lebendigen Natur geschrieben wurde.<br />

Tausende und Abertausende von Büchern werden jährlich auf den Markt geworfen, um<br />

die neue Variante einer persönlichen Liebesgeschichte darzustellen, die Schwankungen<br />

eines Melancholikers o<strong>der</strong> die Karriere eines Ehrgeizigen zu schil<strong>der</strong>n. Prousts Heldin<br />

braucht mehrere auserlesene Seiten, um zu fühlen, daß sie nichts fühlt. Man sollte<br />

meinen, mindestens mit gleichem Recht Beachtung for<strong>der</strong>n zu dürfen für kollektive<br />

historische Dramen, die hun<strong>der</strong>te Millionen menschlicher Wesen aus dem Nichtsein<br />

emporheben, den Charakter von Nationen verän<strong>der</strong>n und für immer in das Leben <strong>der</strong><br />

Menschheit eindringen.<br />

Die Genauigkeit <strong>der</strong> Belege und Zitate des ersten Bandes wurde bisher von niemand<br />

bestritten: das wäre auch nicht leicht gewesen. Die Gegner beschränken sich zumeist auf<br />

Erwägungen über das Thema, persönliche Voreingenommenheit könne sich in künstlicher<br />

und einseitiger Auswahl <strong>der</strong> Tatsachen und Texte äußern. Unbestreitbar an sich,<br />

sagt diese Erwägung nichts aus über das gegebene Werk und noch weniger über dessen<br />

wissenschaftliche Methoden. Indes erlauben wir uns entschieden zu behaupten, daß <strong>der</strong><br />

Koeffizient des Subjektivismus bestimmt, beschränkt und kontrolliert wird weniger vom<br />

Temperament des Historikers als vom Charakter seiner Methode.<br />

Die rein psychologische Schule, die das Gewebe <strong>der</strong> Ereignisse als ein Geflecht freier<br />

Tätigkeit von einzelnen Personen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Gruppierungen betrachtet, läßt den größten<br />

Raum für Willkür, sogar bei den allerbesten Absichten des Forschers. Die materialistische<br />

Methode diszipliniert, indem sie verpflichtet, von den schwerwiegenden Tatsachen<br />

<strong>der</strong> sozialen Struktur auszugehen. Grundlegende Kräfte des historischen Prozesses bilden<br />

für uns die Klassen; auf sie stützen sich politische Parteien; Ideen und Parolen treten<br />

hervor als Umgangsmünze <strong>der</strong> objektiven Interessen. Der gesamte Weg <strong>der</strong> Untersuchung<br />

führt vom Objekti-ven zum Subjektiven, vom Sozialen zum Individuellen, vom<br />

Kapitalen zum Konjunkturmäßigen. Der Autorwillkür sind hier harte Grenzen gesetzt.<br />

Wenn ein Bergbauingenieur in unerforschtem Gebiet mittels Bohren Magneteisenerz<br />

entdeckt, darf man immer einen glücklichen Zufall annehmen: es empfiehlt sich noch<br />

nicht, ein Bergwerk zu bauen. Wenn aber <strong>der</strong> gleiche Ingenieur auf Grund, sagen wir,<br />

von Abweichungen <strong>der</strong> Magnetnadel zur Schlußfolgerung kommt, in <strong>der</strong> Erde müßten<br />

Erzlager verborgen sein, und dann tatsächlich an verschiedenen Stellen des Gebietes auf<br />

Eisenerz stößt, so wird auch <strong>der</strong> nörgelndste Skeptiker nicht wagen dürfen, dies Zufall zu<br />

nennen. Es überzeugt das System, welches das Allgemeine mit dem Einzelfall in<br />

Einklang bringt.<br />

Die Beweise für den wissenschaftlichen Objektivismus sind nicht in den Augen des<br />

Historikers zu suchen und nicht in dem Klang seiner Stimme, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> inneren<br />

Logik <strong>der</strong> Erzählung selbst: wenn Episoden, Zeugnisse, Ziffern, Zitate mit den allgemeinen<br />

Angaben <strong>der</strong> Magnetnadel <strong>der</strong> sozialen Analyse übereinstimmen, dann hat <strong>der</strong> Leser<br />

die ernsthafteste Garantie für die wissenschaftliche Fundierung <strong>der</strong> Schlußfolgerungen.<br />

Konkreter: <strong>der</strong> Autor ist in dem Maße dem Objektivismus treu, wie das vorliegende Buch<br />

die Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Oktoberumwälzung und die Ursachen ihres Sieges tatsächlich<br />

aufzeigt.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 302


Der Leser weiß, daß wir in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vor allem die unmittelbare Einmischung <strong>der</strong><br />

Massen in die Geschicke <strong>der</strong> Gesellschaft suchen. Hinter den Ereignissen sind wir<br />

Verän<strong>der</strong>ungen des Kollektivbewußtseins zu entdecken bestrebt. Wir lehnen summarische<br />

Hinweise auf das "Elementare" <strong>der</strong> Bewegung ab, die in den meisten Fällen nichts<br />

erklären und nichts lehren. <strong>Revolution</strong>en vollziehen sich nach bestimmten Gesetzen. Das<br />

heißt nicht, daß die handelnden Massen sich über die Gesetze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> klar<br />

Rechenschaft ablegen; aber es heißt, daß die Verän<strong>der</strong>ungen des Massenbewußtseins<br />

nicht zufällig sind, son<strong>der</strong>n einer objektiven Notwendigkeit untergeordnet, die sich<br />

theoretisch bestimmen läßt und damit eine Basis für Voraussicht und Führung schafft.<br />

Einige offizielle Sowjethistoriker haben versucht, so sehr das überraschen mag, unsere<br />

Konzeption als idealistisch zu kritisieren. Professor Pokrowski beispielsweise<br />

behauptete, daß wir die objektiven Faktoren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> unterschätzten: »Zwischen<br />

dem Februar und dem Oktober ging ein kolossaler ökonomischer Zerfall vor sich ... ;<br />

während dieser Zeit erhob sich die Bauernschaft ... gegen die Provisorische Regierung«;<br />

gerade in diesen »objektiven Verschiebungen« und nicht in den verän<strong>der</strong>lichen psychischen<br />

Prozessen sei die bewegende Kraft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu sehen. Dank einer lobenswerten<br />

Schroffheit <strong>der</strong> Fragestellungen enthüllt Pokrowski am besten die<br />

Unzulänglichkeit <strong>der</strong> vulgär-ökonomischen Erklärung <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, die nicht selten als<br />

Marxismus ausgegeben wird.<br />

Die im Verlauf einer <strong>Revolution</strong> stattfindenden radikalen Umwälzungen werden in<br />

Wirklichkeit hervorgerufen nicht durch jene episodischen Erschütterungen <strong>der</strong><br />

Wirtschaft, die während <strong>der</strong> Ereignisse selbst erfolgen, son<strong>der</strong>n durch jene kapitalen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen, die sich in den Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaft während <strong>der</strong> ganzen vorangegangenen<br />

Epoche angehäuft haben. Daß am Vorabend des Sturzes <strong>der</strong> Monarchie, wie<br />

auch zwischen dem Februar und dem Oktober, <strong>der</strong> ökonomische Zerfall sich beständig<br />

vertiefte und dadurch die Massenunzufriedenheit nährte und aufreizte, ist unbestreitbar<br />

und wurde von uns niemals außer acht gelassen. Doch wäre es <strong>der</strong> gröbste Fehler, zu<br />

glauben, die zweite <strong>Revolution</strong> habe acht Monate nach <strong>der</strong> ersten stattgefunden infolge<br />

des Umstandes, daß die Brotration in dieser Zeit von an<strong>der</strong>thalb auf dreiviertel Pfund<br />

gesunken war. In den auf die Oktoberumwälzung folgenden Jahren verschlechterte sich<br />

die Ernährungslage <strong>der</strong> Massen dauernd. Dennoch brachen die Hoffnungen <strong>der</strong> konterrevolutionären<br />

Politiker auf eine neue Umwälzung immer wie<strong>der</strong> zusammen. Rätselhaft<br />

kann diese Tatsache nur dem erscheinen, <strong>der</strong> einen Aufstand <strong>der</strong> Massen als »elementar«<br />

ansieht, das heißt als eine von Anführern geschickt ausgenutzte Herdenrebellion. In<br />

Wirklichkeit genügt allein das Vorhandensein von Entbehrungen für einen Aufstand<br />

nicht - an<strong>der</strong>nfalls könnten die Massen je<strong>der</strong>zeit in Aufstand treten -; es ist notwendig,<br />

daß die endgültig bloßgelegte Unzulänglichkeit des gesellschaftlichen Regimes diese<br />

Entbehrungeu unerträglich gestaltet und daß neue Bedingungen und neue Ideen die<br />

Perspektive eines revolutionären Ausweges eröffnen. Im Namen des großen Zieles,<br />

dessen sie sich bewußt geworden, erweisen sich dann die gleichen Massen fähig,<br />

doppelte und dreifache Entbehr-ungen zu ertragen.<br />

Der Hinweis auf den Bauernaufstand als den zweiten »objektiven Faktor« stellt noch<br />

ein augenfälligeres Mißverständnis dar. Für das Proletariat war <strong>der</strong> Bauernkrieg selbstverständlich<br />

ein objektiver Umstand, insofern überhaupt die Handlungen einer Klasse zu<br />

äußeren Antrieben für das Bewußtsein <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Klasse werden. Doch unmittelbare<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 303


Ursache des Bauernaufstandes selbst waren die Verän<strong>der</strong>ungen im Bewußtsein des<br />

Dorfes; die Aufdeckung ihres Charakters bildet den Inhalt eines Kapitels dieses Buches.<br />

Vergessen wir nicht, daß <strong>Revolution</strong>en vollbracht werden von Menschen, wenn auch von<br />

namenlosen. DerMateriahsmus ignoriert nicht den fühlenden, denkenden und handelnden<br />

Menschen, son<strong>der</strong>n erklärt ihn. Worin sonst besteht die Aufgabe des Historikers? 8<br />

Einige Kritiker aus dem demokratischen Lager, geneigt, mit indirekten Indizien zu<br />

arbeiten, erblickten im »ironischen« Verhalten des Autors zu den Versöhnlerführern den<br />

Ausdruck unzulässigen Subjektivismus', <strong>der</strong> die Wissenschaftlichkeit <strong>der</strong> Darstellung<br />

entehre. Wir gestatten uns, dieses Kriterium nicht als überzeugend zu betrachten. Das<br />

Spinozasche Prinzip: »Nicht weinen, nicht lachen, son<strong>der</strong>n verstehen«, warnt nur vor<br />

deplaciertem Lachen und unangebrachten Tränen; doch beraubt es den Menschen, sogar<br />

den Historiker, nicht des Rechts auf seinen Teil Tränen und Lachen, wenn sie durch das<br />

richtige Verständnis für die Materie selbst gerechtfertigt sind. Die rein individualistische<br />

Ironie, die sich wie ein Hauch <strong>der</strong> Gleichgültigkeit über alle Handhabungen und Gedanken<br />

<strong>der</strong> Menschheit ausbreitet, ist die schlimmste Art Snobismus: sie ist gleichermaßen<br />

unecht im künstlerischen Werk wie in <strong>der</strong> historischen Arbeit. Doch gibt es eine Ironie,<br />

die in den Lebensbeziehungen selbst enthalten ist. Die Pflicht des Historikers wie des<br />

Künstlers bleibt, sie nach außen zu kehren.<br />

Die Störung des Verhältnisses zwischen Subjektivem und Objektivem bildet, allgemein<br />

gesprochen, die Grundquelle des Komischen wie des Tragischen, im Leben wie in <strong>der</strong><br />

Kunst. Das Gebiet <strong>der</strong> Politik ist am allerwenigsten von <strong>der</strong> Wirkung dieses Gesetzes<br />

ausgenommen. Menschen und Parteien sind heroisch o<strong>der</strong> lächerlich nicht an und für<br />

sich, son<strong>der</strong>n in ihrem Verhältnis zu den Umständen. Als die Französische <strong>Revolution</strong> in<br />

das entscheidende Stadium eingetreten war, erwies sich <strong>der</strong> hervorragendste Girondist als<br />

kläglich und lächerlich neben dem einfachen Jakobiner Jean Marie Roland, eine ehrwürdige<br />

Figur als Lyoner Fabrikinspektor, sieht wie eine lebendige Karikatur aus auf dem<br />

Hintergrunde des Jahres 1792. Dagegen sind die Jakobiner den Ereignissen gewachsen.<br />

Sie mögen Feindschaft, Haß, Entsetzen hervorrufen, nicht aber Ironie.<br />

Jene Heldin bei Dickens, die versucht, mit einem Besen die Meeresflut aufzuhalten, ist<br />

wegen des fatalen Mißverhältnisses zwischen Mittel und Ziel eine unverkennbar<br />

komische Gestalt. Wollten wir sagen, daß diese Person die Politik <strong>der</strong> Versöhnlerparteien<br />

in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> symbolisiert, es würde als Übertreibung erscheinen. Und dennoch<br />

gestand Zeretelli, <strong>der</strong> tatsächliche Inspirator des Doppelherrschaftsregimes, nach <strong>der</strong><br />

Oktoberumwälzung Nabokow, einem <strong>der</strong> liberalen Führer: »Alles, was wir damals unternahmen,<br />

war <strong>der</strong> vergebliche Versuch, mit lächerlichen Holzspänchen einen vernichtenden<br />

Elementarstrom aufzuhalten.« Diese Worte klingen wie bittere Satire; indes sind es<br />

die wahrsten Worte, die die Versöhnler über sich selbst gesagt haben. Auf Ironie verzichten<br />

bei <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung von »<strong>Revolution</strong>ären«, die mit Holzspänchen eine <strong>Revolution</strong><br />

aufzuhalten versuchen, würde heißen, Pedanten zu Gefallen die Wirklichkeit bestehlen<br />

und den Objektivisnius verraten.<br />

8 Die Nachricht vom Tode M.N. Pokrowskis, mit dem wir auf den Seiten bei<strong>der</strong> Bände mehr als einmal zu<br />

polemisieren gezwungen waren, kam, als wir unsere Arbeit bereits abgeschlossen hatten. Zum Marxismus aus<br />

dem liberalen Lager schon als fertiger Gelehrter gekommen, bereicherte Pokrowski die neueste historische<br />

Literatur durch wertvolle Arbeiten und Unternehmen; doch die Methode des dialektischen Materialismus hat<br />

er sich nie restlos angeeignet. Es ist Sache einfachster Gerechtigkeit, hinzuzufügen, daß Pokrowski nicht nur<br />

ein Mensch von außerordentlichem Wissen und hoher Begabung war, son<strong>der</strong>n auch von tiefer Ergebenheit<br />

für die Sache, <strong>der</strong> er diente.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 304


Peter Struve, ein Monarchist aus <strong>der</strong> Mitte gewesener Marxisten, schrieb in <strong>der</strong><br />

Emigration: »Logisch in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und ihrem Wesen treu war nur <strong>der</strong> Bolschewismus,<br />

und deshalb hat er in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gesiegt.« Ähnlich urteilt über die Bolschewiki<br />

auch Mi1jukow, <strong>der</strong> Führer des Liberalismus: »Sie wußten, wohin sie gingen, und sie<br />

gingen die einmal eingeschlagene Richtung, auf ein Ziel los, das mit jedem neuen<br />

mißlungenen Experiment <strong>der</strong> Versöhnler imnier näher rückte.« Schließlich äußert sich<br />

einer von den weniger bekannten weißen Emigranten, <strong>der</strong> versuchte, auf seine Weise die<br />

<strong>Revolution</strong> zu begreifen, folgen<strong>der</strong>maßen: »Diesen Weg einschlagen konnten nur eiserne<br />

Menschen ... aus ihrem "Beruf" heraus <strong>Revolution</strong>äre, die keine Furcht hatten, den alles<br />

verzehrenden Rebellengeist ins Leben zu rufen.« Von den Bolschewiki kann man mit<br />

noch größerem Recht behaupten, was oben von den Jakobinern gesagt wurde: sie sind<br />

<strong>der</strong> Epoche und ihren Aufgaben adäquat: geflucht wurde an ihre Adresse genügend,<br />

Ironie aber traf sie nicht: sie konnte nirgendwo einhaken.<br />

Im Vorwort zum ersten Band ist erklärt, weshalb <strong>der</strong> Autor es für angebrachter hielt,<br />

von sich, als Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse, in dritter Person zu sprechen und nicht in erster:<br />

diese literarische Form, die auch im zweiten Band beibehalten ist, schützt an sich selbstverständlich<br />

vor Subjektivismus nicht; doch zwingt sie mindestens nicht dazu. Mehr<br />

noch, sie mahnt an die Notwendigkeit, ihn zu meiden.<br />

In vielen Fällen blieben wir zweifelnd davor stehen, ob das eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Urteil<br />

eines Zeitgenossen, das die Rolle des Autors dieses Buches im Gang <strong>der</strong> Ereignisse<br />

charakterisiert, anzuführen sei o<strong>der</strong> nicht. Man hätte mühelos auf manche Zitate verzichten<br />

können, ginge es nicht um etwas Größeres als um die konventionellen Regeln des<br />

guten Tones. Der Autor dieses Buches war Vorsitzen<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets,<br />

nachdem die Bolschewiki darin die Mehrheit erobert hatten; dann Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, das die Oktoberumwälzung organisierte. Diese<br />

Tatsachen kann und will er aus <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> nicht streichen. Die heute in <strong>der</strong> USSR<br />

regierende Fraktion hat in den letzten Jahren zahllose Artikel und nicht wenig Bücher<br />

dem Autor <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit gewidmet, wobei sie sich die Aufgabe stellte,<br />

nachzuweisen, daß seine Tätigkeit stets gegen die Interessen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gerichtet<br />

war: die Frage, weshalb die bolschewistische Partei einen so hartnäckigen »Gegner« in<br />

den kritischsten Jahren auf die verantwortlichsten Posten stellte, bleibt dabei offen. Die<br />

retrospektiven Streitigkeiten völlig zu verschweigen, hätte gewissermaßen bedeutet, auf<br />

die Wie<strong>der</strong>herstellung des tatsächlichen Verlaufs <strong>der</strong> Ereignisse zu verzichten. Zu<br />

welchem Zwecke? Die Vorspiegelung <strong>der</strong> Uninteressiertheit benötigt nur, wer sich zum<br />

Ziele stellt, dem Leser verstohlen Schlußfolgerungen zu suggerieren, die sich nicht aus<br />

Tatsachen ergeben. Wir ziehen es vor, die Dinge bei ihrem vollen Namen zu nennen, im<br />

Einklang mit dem Wörterbuch.<br />

Wir wollen nicht verheimlichen, daß es für uns dabei nicht nur um die Vergangenheit<br />

geht. Wie die Gegner, indem sie die Person angreifen, das Programm treffen wollen, so<br />

verpflichtet <strong>der</strong> Kampf um ein bestimmtes Programm die Person, ihren tatsächlichen<br />

Platz in den Ereignissen wie<strong>der</strong>herzustellen. Wer in dem Kampf um große Aufgaben und<br />

um den eigenen Platz unter dem Banner nichts zu sehen fähig ist als persönliche<br />

Eitelkeit, den können wir nur bedauern, ihn zu überzeugen versuchen wir nicht. Jedenfalls<br />

sind von uns alle Maßnahmen getroffen worden, damit »persönliche« Fragen in<br />

diesem Buche nicht mehr Raum einnehmen, als ihnen von Rechts wegen zukommt.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 305


Manche Freunde <strong>der</strong> Sowjetunion - nicht selten sind es nur Freunde <strong>der</strong> heutigen<br />

Sowjetbehörden und nur so lange, wie diese an <strong>der</strong> Macht bleiben - legten dem Autor<br />

seine kritische Stellung zur bolschewistischen Partei o<strong>der</strong> zu <strong>der</strong>en einzelnen Führern zur<br />

Last. Keiner jedoch hat auch nur den Versuch unternommen, das von uns gegebene Bild<br />

vom Zustand <strong>der</strong> Partei während <strong>der</strong> Ereignisse zu wi<strong>der</strong>legen o<strong>der</strong> zu korrigieren. Jene<br />

"Freunde", die sich berufen fühlen, die Rolle <strong>der</strong> Bolschewiki in <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

gegen uns zu verteidigen, seien gewarnt, daß unser Buch nicht lehrt, wie man eine<br />

siegreiche <strong>Revolution</strong> hinterher liebt in Gestalt <strong>der</strong> von ihr hervorgebrachten Bürokratie,<br />

son<strong>der</strong>n nur, wie eine <strong>Revolution</strong> vorbereitet wird, wie sie sich entwickelt und wie sie<br />

siegt. Die Partei ist für uns kein Apparat, dessen Unfehlbarkeit durch Staatsrepressalien<br />

geschützt wird, son<strong>der</strong>n ein komplizierter Organismus, <strong>der</strong>, wie alles Lebendige, sich in<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen entwickelt. Die Aufdeckung dieser Wi<strong>der</strong>sprüche, darunter auch <strong>der</strong><br />

Schwankungen und Fehler des Stabes, verringert, unserer Ansicht nach, nicht im geringsten<br />

die Bedeutung jener gigantischen historischen Arbeit, die die bolschewistische<br />

Partei ais erste in <strong>der</strong> Weltgeschichte auf ihre Schultern geladen hat.<br />

Prinkipo L. Trotzki<br />

"Julitage": Vorbereitung und Beginn<br />

Im Jahre 1915 kostete Rußland <strong>der</strong> Krieg zehn Milliarden Rubel, im Jahre 1916<br />

neunzehn Mi1iarden, im ersten Halbjahr 1917 bereits zehneinhalb Milliarden. Die Staatsschuld<br />

wäre zu Beginn des Jahres 1918 auf sechzig Mil1iarden angewachsen, das heißt<br />

fast dem gesamten Nationalvermögen gleichgekommen, das man auf siebzig Milliarden<br />

schätzte. Das Zentral-Exekutivkomtee entwarf einen Aufruf zur Kriegsanleihe unter dem<br />

sirupsüßen Namen »Freiheitsanleihe«, während die Regier-ung zu <strong>der</strong> simplen Schlußfolgerung<br />

gelangte, sie würde ohne eine neue grandiose Außenanleihe nicht nur die ausländischen<br />

Bestellungen nicht bezahlen können, son<strong>der</strong>n auch außerstande wäre, den<br />

inneren Verpflichtungen nachzukommen. Das Passivum <strong>der</strong> Handelsbilanz wuchs<br />

dauernd. Die Entente ging offenbar daran, den Rubel endgültig seinem eigenen Schicksal<br />

zu überlassen. Am gleichen Tage, als <strong>der</strong> Aufruf zur Freiheitsanleihe die erste Seite des<br />

Sowjetorgans 'Iswestja' füllte, berichtete <strong>der</strong> 'Regierungsanzeiger' über einen scharfen<br />

Kurssturz des Rubels. Die Druckpresse konnte nicht mehr Schritt halten mit dem Inflationstempo.<br />

Von den alten soliden Geldzeichen, auf denen noch <strong>der</strong> Abglanz ihrer einstigen<br />

Kaufkraft weilte, schickte man sich an, zu den fuchsroten Flaschenetiketten<br />

überzugehen, die in <strong>der</strong> Umgangssprache bald den Namen »Kerenski« erhielten.<br />

Bourgeois wie Arbeiter legten, je<strong>der</strong> auf seine Art, in diesen Namen eine Note des<br />

Abscheus hinein.<br />

In Worten akzeptierte die Regierung das Programm <strong>der</strong> staatlichen Wirtschaftsregulierung<br />

und schuf sogar zu diesem Zweck Ende Juni schwerfällige Verwaltungsorgane.<br />

Doch Wort und Tat des Februarregimes standen, wie Geist und Fleisch des frommen<br />

Christen, in ständigem Kampfe miteinan<strong>der</strong>. Die entsprechend zusammengesetzten<br />

Regulierungsorgane waren mehr besorgt um den Schutz <strong>der</strong> Unternehmer vor den<br />

Launen <strong>der</strong> schwankenden und wankenden Staatsmacht als um die Zähmung privater<br />

Interessen. Das administrative und technische Industriepersonal fiel Schicht um Schicht<br />

auseinan<strong>der</strong>; die Spitzen, erschreckt über die Gleichmachungstendenzen <strong>der</strong> Arbeiter,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 306


gingen entschlossen auf die Seite <strong>der</strong> Unternehmer über. Die Arbeiter standen den<br />

Kriegslieferungen, mit denen die wackligen Betriebe noch für ein bis zwei Jahre im<br />

voraus gedeckt waren, voller Wi<strong>der</strong>willen gegenüber. Doch auch die Unternehmer verloren<br />

den Geschmack an <strong>der</strong> Produktion, die mehr Sorgen als Gewinne versprach. Vorsätzliche<br />

Betriebseinstellungen von oben, nahmen systematischen Charakter an. Die<br />

Eisenindustrie hatte sich um vierzig Prozent verringert, die Textilindustrie um zwanzig<br />

Prozent. An allem Lebensnotwendigem herrschte Mangel. Die Preise stiegen zusammen<br />

mit Inflation und Wirtschaftsverfall. Die Arbeiter kämpften um die Kontrolle über den<br />

vor ihnen verborgenen administrativ-kommerziellen Mechanismus, von dem ihr Schicksal<br />

abhing. Der Arbeitsminister Skobeljew predigte den Arbeitern in wortreichen Manifesten<br />

die Unzulässigkeit einer Einmischung in die Betriebsverwaltung. Am 24. Juni<br />

berichteten die 'Iswestja', es sei abermals die Schließung einer Reihe von Betrieben<br />

geplant. Gleiche Nachrichten kamen aus <strong>der</strong> Provinz. Der Eisenbahntransport war noch<br />

schwerer getroffen als die Industrie. Die Hälfte <strong>der</strong> Lokomotiven erfor<strong>der</strong>te kapitale<br />

Reparaturen, ein großer Teil des rollenden Materials befand sich an <strong>der</strong> Front, es fehlte<br />

an Brennstoff. Das Verkehrsministerium kam aus dem Kriegszustande mit den Eisenbahnarbeitern<br />

und Angestellten nicht heraus. Die Lebensmittelversorgung verschlimmerte<br />

sich dauernd. In Petrograd gab es Brotvorräte nur noch für zehn bis fünfzehn Tage,<br />

in an<strong>der</strong>en Zentren stand es nicht viel besser. Bei <strong>der</strong> halben Paralyse des rollenden<br />

Materials und dem drohenden Eisenbahnstreik bedeutete dies ständig Hungergefahr. In<br />

<strong>der</strong> Perspektive öffnete sich kein Lichtblick. Nicht dies hatten die Arbeiter von <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> erwartet.<br />

Wenn möglich noch schlimmer stand es in <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> Politik. Unentschlossenheit<br />

ist <strong>der</strong> schwierigste Zustand im Leben von Regierungen, Nationen, Klassen, wie auch des<br />

einzelnen Menschen. Die <strong>Revolution</strong> ist die erbarmungsloseste von allen Lösungsarten<br />

historischer Fragen. Ausweichen ist in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die verheerendste aller denkbaren<br />

Politik. Die Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> darf nicht schwanken, ebensowenig wie <strong>der</strong> Chirurg,<br />

<strong>der</strong> das Messer in den kranken Körper eingeführt hat. Indes war das aus <strong>der</strong> Februarumwälzung<br />

entstandene Doppelregime organisierte Unentschlossenheit. Alles kehrte sich<br />

gegen die Regierung. Bedingte Freunde wurden Gegner, Gegner Feinde, die Feinde<br />

bewaffneten sich. Die Konterrevolution, inspiriert vom Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei,<br />

dem politischen Stab all jener, die etwas zu verlieren hatten, mobilisierte ganz offen.<br />

Das leitende Komitee des Offiziersverbandes beim Hauptquartier in Mohilew, <strong>der</strong> etwa<br />

hun<strong>der</strong>ttausend unzufriedene Kommandeure repräsentierte, und <strong>der</strong> Sowjet des Verbandes<br />

<strong>der</strong> Kosakentruppen in Petrograd bildeten zwei militärische Hebel <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />

Die Reichsduma beschloß, trotz Verfügung des Junikongresses <strong>der</strong> Sowjets, ihre<br />

»Privatberatungen« fortzusetzen. Ihr provisorisches Komitee bot legale Deckung für<br />

konterrevolutionäre Arbeit, die von Banken und Gesandtschaften <strong>der</strong> Entente weitestgehend<br />

finanziert wurde. Gefahren drohten den Versöhnlern von rechts und links. Beunruhigt<br />

nach allen Richtungen spähend, beschloß die Regierung insgeheim, Mttel zur<br />

Organisierung einer gesellschaftlichen Konterspionage, das heißt einer politischen<br />

Geheimpohzei, zu bewilligen. Ungefähr um die gleiche Zeit, Mitte Juni, setzte die Regierung<br />

die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung auf den 17. September fest. Die<br />

liberale Presse führte trotz Teilnahme <strong>der</strong> Kadetten an <strong>der</strong> Regierung eine hartnäckige<br />

Kampagne gegen den offiziell festgesetzten Termin, an den niemand glaubte und den<br />

niemand ernsthaft verteidigte. Das Bild <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung, so grell in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 307


den ersten Märztagen, verblaßte und verschwamm. Alles kehrte sich gegen die Regierung,<br />

sogar ihre blutarmen guten Absichten. Erst am 30. Juni faßte sie Mut, die adligen<br />

Dorfvormün<strong>der</strong>, die Semskije Natschalniki (Landvögte), <strong>der</strong>en Name allein schon seit<br />

ihrer Einführung durch Alexan<strong>der</strong> III. dem Lande verhaßt war, abzuschaffen. Und diese<br />

erzwungene und verspätete Teilreform drückte <strong>der</strong> Provisorischen Regierung den<br />

Stempel schmachvoller Feigheit auf Währenddessen erholte sich <strong>der</strong> Adel von seiner<br />

Angst, die Bodenbesitzer schlossen sich zusammen und begannen vorzustoßen. Das<br />

provisorische Dumakomitee wandte sich Ende Juni an die Regierung mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung,<br />

entschiedene Maßnahnien zum Schutze <strong>der</strong> Gutsbesitzer gegen die Bauern zu treffen, die<br />

von »verbrecherischen Elementen« aufgewiegelt wären. Am 1. Juli wurde in Moskau <strong>der</strong><br />

Allrussische Kongreß <strong>der</strong> Bodenbesitzer eröffnet, in seiner überwiegenden Mehrheit<br />

adlig. Die Regierung wand sich, bemüht, bald die Muschiks, bald die Gutsbesitzer durch<br />

Phrasen zu hypnotisieren. Am schlimmsten aber stand es an <strong>der</strong> Front. Die Offensive, die<br />

<strong>der</strong> entscheidende Einsatz Kerenskis auch im inneren Kampfe geworden war, zuckte in<br />

Konvulsionen. Der Soldat wollte nicht Krieg führen. Die Diplomaten des Fürsten Lwow<br />

fürchteten sich, den Diplomaten <strong>der</strong> Entente in die Augen zu schauen. Eine Anleihe<br />

brauchte man um jeden Preis. Um feste Hand zu zeigen, untemahm die ohnmächtige und<br />

gezeichnete Regierung eine Offensive gegen Finnland, die sie, wie alle ihre schmutzigsten<br />

Gechäfte, durch die Hände <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> verwirklichte. Gleichzeitig wuchs <strong>der</strong><br />

Konflikt mit <strong>der</strong> Ukraine stärker an und führte zum offenen Bruch.<br />

Weit zurück lagen die Tage, wo Albert Thomas Hymnen sang auf die strahlende<br />

<strong>Revolution</strong> und auf Kerenski. Anfang Juli löste den französischen Gesandten Paléologue,<br />

<strong>der</strong> allzu stark nach dem Aroma Rasputinscher Salons duftete, <strong>der</strong> "radikale" Noulens ab.<br />

Der Joumalist Claude Anet hielt dem neuen Gesandten einen einführenden Vortrag über<br />

Petrograd. Gegenüber <strong>der</strong> französischen Gesandtschaft, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Newa,<br />

läge <strong>der</strong> Wyborger Bezirk. »Das ist <strong>der</strong> Bezirk <strong>der</strong> großen Fabriken, <strong>der</strong> restlos den<br />

Bolschewiki gehört. Lenin und Trotzki walten dort wie die Herren.« Im gleichen Bezirk<br />

befänden sich die Kasernen des Maschinengewehrregiments, das etwa zehntausend Mann<br />

und über tausend Maschinengewehre zähle: we<strong>der</strong> Sozialrevolutionäre noch Menschewiki<br />

hätten Zutritt zu den Kasemen des Regiments. Die übrigen Regimenter seien entwe<strong>der</strong><br />

bolschewistisch o<strong>der</strong> neutral. »Wollten Lenin und Trotzki Petrograd besetzen, wer<br />

würde sie daran hin<strong>der</strong>n?« Noulens hörte staunend zu. »Weshalb aber duldet die Regierung<br />

einen solchen Zustand?« - »Was bleibt ihr an<strong>der</strong>es zu tun übrig?« antwortete <strong>der</strong><br />

Journalist. »Man muß begreifen, daß die Regierung über keine an<strong>der</strong>e Macht als über<br />

die moralische verfügt, und auch die scheint mir sehr schwach zu sein ... «<br />

Keinen Ausweg findend, zersplitterte die erwachte Energie <strong>der</strong> Massen in eigenmächtigen<br />

Aktionen, Partisanenerhebungen, gelegentlichen Expropriationen. Arbeiter,<br />

Soldaten, Bauern versuchten stückweise zu lösen, was zu lösen die von ihnen selbst<br />

geschaffene Macht sich weigerte. Unentschlossenheit <strong>der</strong> Führung erschöpft die Massen<br />

am stärksten. Fruchtloses Warten bewegt sie zu immer eindringlicheren Schlägen gegen<br />

die Pforte, die man vor ihnen nicht öffnen will, o<strong>der</strong> zu direkten Verzweiflungsausbrüchen.<br />

Bereits in den Tagen des Sowjetkongresses, als die Provinzler nur mit Mühe die<br />

über Petrograd erhobene Hand ihrer Führer zurückhalten konnten, hatten die Arbeiter<br />

und Soldaten hinreichende Gelegenheit gehabt, sich über die Gefühle und Absichten <strong>der</strong><br />

Sowjetspitzen ihnen gegenüber zu unterrichten. Nach Kerenski wurde Zeretelli nicht nur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 308


eine fremde, son<strong>der</strong>n auch verhaßte Gestalt für die Mehrheit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten. An <strong>der</strong> Peripherie <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wuchs <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Anarchisten, die<br />

im selbstherrlichen <strong>Revolution</strong>skomitee in <strong>der</strong> Villa Durnowo die Hauptrolle spielten.<br />

Aber auch diszipliniertere Arbeiterschichten, sogar weite Kreise <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Partei begannen die Geduld zu verlieren o<strong>der</strong> jenen Gehör zu schenken, die sie schon<br />

verloren hatten. Die Demonstration vom 18. Juni enthüllte allen, daß die Regierung keine<br />

Stütze besaß. »Was schauen sie dort oben zu?« fragten Soldaten und Arbeiter und<br />

meinten jetzt nicht nur die Versöhnler-Führer, sondem auch die leitenden Institutionen<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Der Kampf um den Arbeitslohn bei den Inflationspreisen entnervte und erschöpfte die<br />

Arbeiter. Beson<strong>der</strong>s scharf spitzte sich diese Frage während des Juni im Putilow-Gigant<br />

zu, wo sechsunddreißigtausend Menschen arbeiteten. Am 21. Juni entbrannte in einigen<br />

Werkstätten <strong>der</strong> Fabrik ein Streik. Die Unfruchtbarkeit solcher vereinzelter Ausbrüche<br />

war <strong>der</strong> Partei nur zu klar. Am nächsten Tage erklärte die von den Bolschewiki geleitete<br />

Versammlung, in <strong>der</strong> die wichtigsten Arbeiterorganisationen und siebzig Betriebe vertreten<br />

waren, »die Sache <strong>der</strong> Putilow-Arbeiter als Angelegenheit des gesamten Petrogra<strong>der</strong><br />

Proletariats« und for<strong>der</strong>te die Putilower auf, »ihre gerechte Empörung zurückzuhalten«.<br />

Der Streik wurde vertagt. Doch die nächsten zwölf Tage brachten keinerlei Verän<strong>der</strong>ungen.<br />

Die Massen in den Fabriken waren in tiefer Gärung und suchten einen Ausweg.<br />

Jedes Unternehmen hatte seinen Konflikt, und alle diese Konflikte führten nach oben, zur<br />

Regierung. Ein Memorandum des Gewerkschaftsverbandes <strong>der</strong> Lokomotivbrigaden an<br />

den Verkehrsminister lautete: »Wir erklären zum letztenmal: die Geduld hat eine Grenze.<br />

Weiter in solcher Lage zu leben, fehlt uns die Kraft...« Das war eine Beschwerde nicht<br />

nur über Not und Hunger, son<strong>der</strong>n auch über Zweideutigkeit, Charakterlosigkeit, Betrug.<br />

Die Eingabe protestierte beson<strong>der</strong>s zornig gegen »die an uns gerichteten endlosen<br />

Ermahnungen zu Bürgerpflicht und Enthaltsamkeit bei hungrigem Magen.«<br />

Die Machtübergabe im März an die Provisorische Regierung durch das Exekutivkomitee<br />

war unter <strong>der</strong> Bedingung erfolgt, daß die revolutionären Truppen nicht aus <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

entfernt würden. Aber jene Tage lagen weit zurück. Die Garnison bewegte sich<br />

nach links, die regierenden Sowjetkreise nach rechts. Der Kampf gegen die Garnison<br />

verschwand nicht von <strong>der</strong> Tagesordnung. Wenn auch nicht geschlossene Truppenteile<br />

aus <strong>der</strong> Hauptstadt hinausgeführt wurden, so schwächte man die revolutionäreren Teile<br />

unter dem Vorwand strategischer Notwendigkeit systematisch durch Herauspumpen von<br />

Marschkompanien. Gerüchte über Auflösung immer neuer und neuer Truppenteile an <strong>der</strong><br />

Front wegen Ungehorsam und Weigerung, Kampfbefehle auszuführen, drangen ununterbrochen<br />

in die Hauptstadt. Zwei sibirische Divisionen - ist es lange her, daß die sibirischen<br />

Schützen als die sichersten galten? - wurden unter Anwendung von Waffengewalt<br />

aufgelöst. Wegen Massenauflehnung gegen Kampfbefehle wurden allein in <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Hauptstadt nächstgelegenen 5. Armee siebenundachtzig Offiziere und<br />

zwölftausendsiebenhun<strong>der</strong>tundfünfundzwanzig Soldaten zur Verantwortung gezogen.<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Garnison, Akkumulator <strong>der</strong> Unzufriedenheit von Front, Dorf, Arbeitervierteln<br />

und Kasernen, war dauernd in Wallung. Bärtige Vierziger for<strong>der</strong>ten mit hysterischer<br />

Beharrlichkeit Entlassung nach Hause, zu den Feldarbeiten. Die Regimenter, die<br />

auf <strong>der</strong> Wyborger Seite lagen: das I. Maschinengewehr-, das I. Grenadier-, das<br />

Moskauer, das 180. Infanterieregiment und an<strong>der</strong>e wurden dauernd von den heißen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 309


Sprudeln <strong>der</strong> proletarischen Vorstadt umspült. Tausende Arbeiter gingen an den Kasernen<br />

vorbei, unter ihnen nicht wenige unermüdliche Agitatoren des Bolschewismus. Vor<br />

den schniutzigen, verhaßten Mauern fanden fast ununterbrochen fliegende Meetings statt.<br />

Am 22. Juni, bevor noch die durch die Offensive hervorgerufenen patriotischen Manifestationen<br />

erloschen waren, tauchte auf dem Sampsonjewski-Prospekt unvorsichtigerweise<br />

ein Automobil des Exekutivkomitees mit Plakaten auf: »Vorwärts für Kerenski.«<br />

Das Moskauer Regiment nahm die Agitatoren fest, zerriß die Aufrufe und schickte das<br />

patriotische Automobil zum Maschinengewehrregiment.<br />

Die Soldaten waren überhaupt ungeduldiger als die Arbeiter: sowohl, weil ihnen<br />

unmittelbare Entsendung an die Front drohte, als auch, weil sie Erwägungen politischer<br />

Strategie viel schwerer zugänglich waren. Außerdem hatte je<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Hand eine Flinte,<br />

und nach dem Februar neigte <strong>der</strong> Soldat dazu, <strong>der</strong>en selbständige Macht zu überschätzen.<br />

Ein alter Arbeiterbolschewik, Lisdin, erzählte später, wie die Soldaten des 180. Reserveregiments<br />

ihm sagten: »Was schlafen die Unseren dort im Kschessinskaja-Palais, gehen<br />

wir doch, Kerenski verjagen...« In den Regimentsversammlungen wurden fortwährend<br />

Resolutionen angenommen über die Notwendigkeit, sich endlich gegen die Regierung zu<br />

erheben. Delegationen von einzelnen Betrieben kamen zu den Regimentern mit <strong>der</strong><br />

Anfrage, ob die Soldaten auf die Straße gehen würden. Die Maschinengewehrschützen<br />

schickten ihre Vertreter zu an<strong>der</strong>en Garnisonteilen mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, gegen die<br />

Kriegsverlängerung zu protestieren. Ungeduldigere Delegierte fügen hinzu: das Pawlower<br />

und das Moskauer Regiment und vierzigtausend Putilower werden »morgen«<br />

hervortreten. Die offiziellen Ermahnungen des Exekutivkomitees wirken nicht. Immer<br />

schärfer gestaltet sich die Gefahr, daß Petrograd, von Front und Provinz nicht unterstützt,<br />

stückweise zerschlagen wird. Am 21. Juni for<strong>der</strong>te Lenin in <strong>der</strong> 'Prawda' die Petrogra<strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldaten auf, auszuharren, bis die Ereignisse die schweren Reserven auf die<br />

Seite Petrograds stoßen würden. »Wir begreifen die Erbitterung, wir begreifen die<br />

Erregung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter. Aber wir sagen ihnen: Genossen, ein Hervortreten<br />

jetzt wäre unzweckmäßig.« Am nächsten Tag kam eine private Beratung führen<strong>der</strong><br />

Bolschewiki, offenbar "linker" als Lenin, zu dem Entschluß, daß man trotz <strong>der</strong> Stimmung<br />

<strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatenmassen den Kampf noch nicht annehmen dürfe: »Es ist besser<br />

abzuwarten, damit sich die regierenden Parteien durch die begonnene Offensive endgültig<br />

mit Schmach bedecken. Dann ist das Spiel unser.« So gibt <strong>der</strong> Bezirksorganisator<br />

Lazis, einer <strong>der</strong> Ungeduldigsten jener Tage, die Sache wie<strong>der</strong>. Das Komitee ist immer<br />

häufiger gezwungen, Agitatoren zu Truppenteilen und Betrieben auszusenden, um von<br />

vorzeitigen Aktionen zurückzuhalten. Verlegen die Köpfe schüttelnd, beklagen sich die<br />

Wyborger Bolschewiki im eigenen Kreise: »Wir müssen Feuerwehr spielen.« Die Rufe:<br />

auf die Straße! verstummten jedoch nicht einen Tag. Darunter gab es auch offen provokatorische.<br />

Die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki war gezwungen, sich an die<br />

Soldaten und Arbeiter mit eineni Aufruf zu wenden: »Keinen Auffor<strong>der</strong>ungen, im Namen<br />

<strong>der</strong> Militärischen Organisation auf die Straße zu gehen, vertrauen. Zu einem Hervortreten<br />

ruft die Militärische Organisation nicht auf.« Und dann noch dringlicher:<br />

»For<strong>der</strong>t von jedem Agitator o<strong>der</strong> Redner, <strong>der</strong> euch im Namen <strong>der</strong> Militärischen<br />

Organisation auf die Straße ruft, eine mit den Unterschriften des Vorsitzenden und des<br />

Sekretärs versehene Legitimation.«<br />

Auf dem berühmten Ankerplatz in Kronstadt, wo die Anarchisten immer sicherer die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 310


Stimme erheben, wird ein Ultimatum nach dem an<strong>der</strong>en ausgearbeitet. Am 23. Juni<br />

for<strong>der</strong>ten die Delegierten des Ankerplatzes, den Kronstädter Sowjet übergehend, vom<br />

Justizministerium die Freilassung einer Gruppe Petrogra<strong>der</strong> Anarchisten und drohten<br />

an<strong>der</strong>nfalls mit einem Überfall <strong>der</strong> Matrosen auf das Gefängnis. Am nächsten Tage<br />

erklärten Vertreter aus Oranienbaum dem Justizminister, daß ihre Garnison über die<br />

Verhaftungen in <strong>der</strong> Villa Durnowo ebenso erregt sei wie Kronstadt und daß man bei<br />

ihnen »schon die Maschinengewehre putzt«. Die bürgerliche Presse griff diese Drohungen<br />

flugs auf und fuchtelte damit dicht vor <strong>der</strong> Nase ihrer verbündeten Versöhnler. Am<br />

26. Juni trafen Delegierte des Gardegrenadierregiments von <strong>der</strong> Front bei ihrem Reservebataillon<br />

mit <strong>der</strong> Erklärung ein: das Regiment sei gegen die Provisorische Regierung und<br />

for<strong>der</strong>e den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets; lehne die von Kerenski begonnene<br />

Offensive ab und hege die Befürchtung, das Exekutivkomitee sei zusammen mit den<br />

Ministern-<strong>Sozialisten</strong> auf die Seite <strong>der</strong> Bourgeois übergegangen. Das Organ des Exekutivkomitees<br />

veröffentlichte über diesen Besuch einen vorwurfsvollen Bericht.<br />

Wie ein Kessel brodelte nicht allein Kronstadt, son<strong>der</strong>n die ganze Baltische Flotte,<br />

<strong>der</strong>en Basis hauptsächlich Helsingfors war. Die Hauptkraft <strong>der</strong> Bolschewiki in <strong>der</strong> Flotte<br />

war zweifellos Antonow-Owssejenko, schon als junger Offizier Teilnehmer am Sewastopoler<br />

Aufstand von 1905, Menschewik in den Jahren <strong>der</strong> Reaktion, Emigrant-Internationalist<br />

in den Kriegsjahren, Mitarbeiter Trotzkis bei <strong>der</strong> Herausgabe <strong>der</strong> Zeitung 'Nasche<br />

Slowo' in Paris, nach Rückkehr aus <strong>der</strong> Emigration übergetreten zu den Bolschewiki.<br />

Politisch schwankend, aber persönlich mutig, impulsiv und zerfahren, jedoch fähig zur<br />

Initiative und Improvisation, nahm Antonow-Owssejenko, in jenen Tagen noch wenig<br />

bekannt, bei den weiteren <strong>Revolution</strong>sereignissen nicht den letzten Platz ein. »Wir im<br />

Helsingforser Parteikomitee«, erzählt er in seinen Erinnerungen, »begriffen die Notwendigkeit<br />

von Ausdauer und ernstlicher Vorbereitung. Wir hatten auch entsprechende<br />

Anweisungen vom Zentralkomitee. Doch wir waren uns <strong>der</strong> ganzer Unvermeidlichkeit<br />

des Ausbruches bewußt und blickten besorgt in die Richtung auf Petrograd.« Und dort<br />

häuften sich die Elemente <strong>der</strong> Explosion von Tag zu Tag. Das 2. Maschinengewehrregiment,<br />

rückständiger als das 1., for<strong>der</strong>te in einer Resolution die Übergabe <strong>der</strong> Macht an<br />

die Sowjets. Das 3. Infanterieregiment verweigerte die Ausson<strong>der</strong>ung von vierzehn<br />

Marschkompanien. Die Versammlungen in den Kasemen bekamen immer drohen<strong>der</strong>en<br />

Charakter. Am 1. Juli war ein Meeting beim Grenadierregiment von Verhaftung des<br />

Komiteevorsitzenden und Obstruktion gegen die menschewistischen Redner begleitet.<br />

Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Offensive! Nie<strong>der</strong> mit Kerenski! Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Garrüson standen die<br />

Maschinengewehrschützen, die auch dem Julistrom die Schleusen öffneten.<br />

Dem Namen des 1. Maschinengewehrregiments sind wir bereits bei den Ereignissen<br />

<strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>smonate begegnet. Bald nach <strong>der</strong> Umwälzung aus eigener Initiative<br />

von Oranienbaum in Petrograd »zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>« eingetroffen, stieß das<br />

Regiment sogleich auf den Wi<strong>der</strong>stand des Exekutivkomitees, welches beschloß, dem<br />

Regiment zu danken und es nach Oranienbaum zurückzuschicken. Die Maschinengewehrschützen<br />

weigerten sich kategorisch, die Hauptstadt zu verlassen: »Die Konterrevolutionäre<br />

könnten den Sowjet überfallen und das alte Regime wie<strong>der</strong> aufrichten.« Das<br />

Exekutivkomitee gab nach, und einige tausend Maschinengewehrschützen blieben in<br />

Petrograd zusammen mit ihren Maschinengewehren. Im Volkshause untergebracht,<br />

wußten sie nicht, was weiter mit ihnen geschehen werde. Unter ihnen waren jedoch nicht<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 311


wenig Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter, und nicht zufällig übernahm deshalb die Sorge um die<br />

Maschinengewehrschützen das Komitee <strong>der</strong> Bolschewiki. Sein Beistand sicherte den<br />

Bezug von Lebensmitteln aus <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung. Die Freundschaft war angebahnt.<br />

Bald wurde sie unerschütterlich. Am 21. Juni faßten die Maschinengewehrschützen in<br />

einer allgemeinen Versammlung den Beschluß: »Fernerhin sind Kommandos zur Front<br />

nur dann zu entsenden, wenn <strong>der</strong> Krieg einen revolutionären Charakter tragen wird.«<br />

Am 2. Juli ve-ranstaltete das Regiment im Volkshause ein Abschiedsmeeting zu Ehren<br />

<strong>der</strong> an die Front abkommandierten »letzten« Marschkompanie. Es sprachen Lunatscharski<br />

und Trotzki: dieser zufälligen Tatsache versuchten die Behörden später außergewöhnliche<br />

Bedeutung beizumessen. Im Namen des Regiments antworteten <strong>der</strong> Soldat<br />

Schilin und ein alter Bolschewik, <strong>der</strong> Unteroffizier Laschewitsch. Die Stimmung war<br />

sehr gehoben, man brandmarkte Kerenski, schwor Treue <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, doch niemand<br />

machte praktische Vorschläge für die nächste Zukunft. Indessen wartete man während<br />

<strong>der</strong> letzten Tage in <strong>der</strong> Stadt beharrlich auf Ereignisse. Die "Julitage" warfen ihre Schatten<br />

voraus. »Überall, in allen Winkeln«, erinnert sich Suchanow, »im Sowjet, im<br />

Mariinski-Palais, in den Bürgerwohnungen, auf den Plätzen und Boulevards, in Kasernen<br />

und Fabriken, sprach man von irgendeinem, heute, morgen zu er-wartenden Hervortreten.<br />

Niemand wußte Bestimmtes über das Wer, Wie und Wo. Aber die Stadt fühlte sich<br />

wie am Vorabend einer Explosion.« Eine Aktion kam auch wirklich zum Durchbruch.<br />

Der Anstoß dazu folgte von oben, aus den regierenden Sphären.<br />

Am gleichen Tage, als Trotzki und Lunatscharski bei den Maschinengewehrschützen<br />

über die Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Koalition sprachen, traten vier Minister-Kadetten, die<br />

Koalition sprengend, aus <strong>der</strong> Regierung aus. Als Vorwand wählten sie das für ihre<br />

Großmachtansprüche unannehmbare Kompromiß, das ihre Versöhnlerkollegen mit <strong>der</strong><br />

Ukraine abgeschlossen hatten. Der wirklichliche Grund des demonstrativen Bruchs lag<br />

darin, daß die Versöhnler mit <strong>der</strong> Zähmung <strong>der</strong> Massen zögerten. Die Wahl des Moments<br />

war durch das vorläufig offiziell noch nicht zugegebene, jedoch für alle Eingeweihten<br />

außer Zweifel stehende Fiasko <strong>der</strong> Offensive diktiert. Die Liberalen erachteten es an <strong>der</strong><br />

Zeit, ihre linken Verbündeten Aug' in Aug' mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage und den Bolschewiki zu<br />

lassen. Das Gerücht vom Rücktritt <strong>der</strong> Kadetten verbreitete sich unverzüglich in <strong>der</strong><br />

Hauptstadt und verallgemeinerte politisch alle offenen Konflikte in <strong>der</strong> einen Parole,<br />

richtiger dem einen Schrei: Schluß mit dem Hin und Her <strong>der</strong> Koalition! Soldaten und<br />

Arbeiter glaubten, von <strong>der</strong> Entscheidung <strong>der</strong> Frage, wer weiter das Land regieren werde,<br />

die Bourgeoisie o<strong>der</strong> die eigenen Sowjets, hingen alle an<strong>der</strong>en Fragen ab: sowohl die des<br />

Arbeitslohns wie die des Brotpreises wie auch jene, ob man an <strong>der</strong> Front unbekannt<br />

wofür, umzukommen habe. In diesen Erwartungen war ein gewisses Element von Illusion,<br />

sofern die Massen hofften, durch den Regierungswechsel die sofortige Lösung aller<br />

schmerzlichen Fragen zu erreichen. Doch letzten Endes hatten sie recht: die Machtfrage<br />

entschied die Richtung <strong>der</strong> gesamten <strong>Revolution</strong>, das heißt, sie bestimmte auch das<br />

Schicksal jedes einzelnen. Anzunehmen, die Kadetten hätten jene Wirkung, die ihr Akt<br />

offener Sabotage gegen die Sowjets hervorrufen würde, nicht vorauszusehen vermocht,<br />

hieße Miljukow entschieden unterschätzen. Der Führer des Liberalismus war sichtlich<br />

bestrebt, die Versöhnler in eine zugespitzte Situation hineinzutreiben, aus <strong>der</strong> nur das<br />

Bajonett einen Ausweg schaffen könnte: in jenen Tagen glaubte er fest, ein kühner<br />

A<strong>der</strong>laß würde die Lage retten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 312


Am Morgen des 3. Juli wählten einige tausend Maschinengewehrschützen, nachdem<br />

sie die Versammlung <strong>der</strong> Kompanie- und Regimentskomitees ihres Regiments gesprengt<br />

hatten, einen eigenen Vorsitzenden und verlangten sofortige Beratung <strong>der</strong> Frage über ein<br />

bewaffnetes Auftreten. Das Meeting nahm sogleich einen stürmischen Lauf. Die Frontfrage<br />

wurde von <strong>der</strong> Regierungskrise durchkreuzt. Der Versammlungsvorsitzende<br />

Golowin, Bolschewik, versuchte zu bremsen, indem er vorschlug, sich vorher mit<br />

an<strong>der</strong>en Truppenteilen und <strong>der</strong> Militärischen Organisation zu verständigen. Doch jedes<br />

Anzeichen von Verschleppung brachte die Soldaten außer sich. In <strong>der</strong> Versammlung<br />

tauchte <strong>der</strong> Anarchist Bleichmann auf, eine kleine, aber farbige Gestalt auf dem Hintergrunde<br />

des Jahres 1917. Mit sehr bescheidenem Ideengepäck, aber einem gewissen<br />

Instinkt für die Masse, aufrichtig in seiner ewig entzündbaren Beschränktheit, mit<br />

entblößter Brust und wildem Lockenhaar, fand Bleichmann in Versammlungen nicht<br />

wenig halbironische Sympathien. Die Arbeiter zwar verhielten sich ihm gegenüber<br />

zurückhaltend, etwas ungeduldig, beson<strong>der</strong>s die Metallarbeiter. Die Soldatenjedoch<br />

lächelten lustig über seine Reden, stießen einan<strong>der</strong> mit den Ellenbogen an, ermunterten<br />

den Sprecher durch kernige Wörtchen: sie standen sichtlich wohlwollend zu seinem<br />

exzentrischen Aussehen, seiner unüberlegten Entschlossenheit, seinem wie Essig beißenden<br />

jüdisch-amerikanischen Akzent. Ende Juni plätscherte Bleichmann in allerhand<br />

improvisierten Meetings, wie ein Fisch im Wasser. Seinen Entschluß hatte er stets bereit:<br />

heraus mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand. Organisation? »Uns organisiert die Straße.«<br />

Aufgabe? »Die Provisorische Regierung stürzen, wie man es mit dem Zaren gemacht<br />

hat, obwohl auch damals keine Partei dazu auffor<strong>der</strong>te.« Solche Reden entsprachen in<br />

jenem Augenblick am allerbesten <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen, und<br />

nicht nur ihrer. Auch viele <strong>der</strong> Bolschewiki verbargen ihre Befriedigung nicht, wenn die<br />

unteren Schichten ihre offiziellen Ermahnungen übergingen. Die aufgeklärten Arbeiter<br />

erinnerten sich noch, daß im Februar die Führer just am Vorabend des Sieges daran<br />

gewesen waren, zum Rückzug zu blasen; daß im März <strong>der</strong> Achtstundentag auf Initiative<br />

von unten erobert ward; daß im April eigenmächtig auf die Straße hinausgegangene<br />

Regimenter Miljukow gestürzt hatten. Die Erinnerung an diese Tatsachen kam den<br />

gespannten und ungeduldigen Massenstimmungen sehr entgegen.<br />

Die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, die man unverzüglich davon benachrichtigte,<br />

daß in dem Meeting <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen Siedetemperatur herrsche,<br />

schickte einen Agitator nach dem an<strong>der</strong>en hin. Bald erschien auch Newski selbst, <strong>der</strong> von<br />

den Soldaten hochgeachtete Leiter <strong>der</strong> Militärischen Organisation. Er fand scheinbar<br />

Gehör. Doch die Stimmung <strong>der</strong> sich endlos ausdehnenden Versammlung wechselte, wie<br />

ihre Zusamniensetzung. »Für uns war es die größte Überraschung«, erzählt Podwojski,<br />

ein an<strong>der</strong>er Führer <strong>der</strong> Militärischen Organisation, »als um 7 Uhr abends ein Berittener<br />

herangesprengt kam mit <strong>der</strong> Nachricht, ... die Maschinengewehrschützen hätten erneut<br />

beschlossen, hervorzutreten.« An Stelle des alten Regimentskomitees wählten sie ein<br />

Provisorisches <strong>Revolution</strong>skomitee, je zwei Mann pro Kompanie, unter dem Vorsitz des<br />

Fähnrichs Semaschko. Speziell dafür bestimmte Delegierte besuchten bereits Regimenter<br />

und Betriebe, um Unterstützung werbend. Die Maschinengewehrschützen hatten selbstverständlich<br />

nicht vergessen, ihre Leute auch nach Kronstadt zu senden. So spannten<br />

sich, ein Stockwerk unter den offiziellen Organisationen, teilweise mit <strong>der</strong>en Deckung,<br />

zeitweilig neue Fäden zwischen den erregteren Truppenteilen und den Fabriken. Die<br />

Massen beabsichtigten nicht, mit dem Sowjet zu brechen, im Gegenteil, sie wollten, daß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 313


er die Macht übernähme. Noch weniger dachten sie daran, mit <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Partei zu brechen. Doch schien es ihnen, sie sei zu unentschlossen. Sie wollten mit <strong>der</strong><br />

Schulter nachdrücken, das Exekutivkomitee verwarnen, die Bolschewiki vorwärtsstoßen.<br />

Es entstehen improvisierte Vertretungen, neue Verbindungsknoten und Aktionszentren,<br />

nicht dauernde, son<strong>der</strong>n für den gegebenen Fall. Wechsel von Lage und Stimmung<br />

vollziehen sich so schnell und schroff, daß selbst die elastischste Organisation, wie die<br />

<strong>der</strong> Sowjets, unvermeidlich zurückbleibt und die Massen gezwungen sind, jedesmal<br />

Hilfsorgane für die For<strong>der</strong>ungen des Augenblicks zu schaffen. Bei solchen Improvisationen<br />

schlüpfen nicht selten zufällige und nicht immer zuverlässige Elemente durch. Öl ins<br />

Feuer gießen die Anarchisten, desgleichen manche von den neuen und ungeduldigen<br />

Bolschewiken. Es schmieren sich zweifellos auch Provokateure heran, vielleicht auch<br />

deutsche Agenten, doch am ehesten Agenten <strong>der</strong> echt<strong>russischen</strong> Konterspionage. Wie<br />

das komplizierte Gewebe <strong>der</strong> Massenbewegungen in einzelne Fäden zerlegen? Der<br />

Gesamtcharakter <strong>der</strong> Ereignisse tritt immerhin in aller Klarheit hervor. Petrograd fühlt<br />

seine Kraft, will vorstürmen, ohne sich nach Provinz o<strong>der</strong> Front umzusehen, und sogar<br />

die bolschewistische Partei ist bereits unfähig, es zurückzuhalten. Hier konnte nur Erfahrung<br />

helfen.<br />

Während sie Regimenter und Betriebe auf die Straße riefen, vergaßen die Delegierten<br />

<strong>der</strong> Maschinengewehrschützen nicht hinzuzufügen, daß das Hervortreten ein bewaffnetes<br />

sein müsse. Wie auch an<strong>der</strong>s? Doch nicht sich waffenlos den Schlägen <strong>der</strong> Feinde aussetzen?<br />

Außerdem, und was vielleicht das wichtigste war, mußte man seine Macht zeigen,<br />

ein Soldat ohne Waffe aber ist keine Macht. In diesem Punkte waren alle Regimenter und<br />

alle Fabriken gleicher Meinung: Wenn hervortreten, dann nicht an<strong>der</strong>s als mit einem<br />

Vorrat an Blei. Die Maschinengewehrschützen verloren keine Zeit: indem sie das große<br />

Spiel unternahmen, mußten sie es so schnell wie möglich zu Ende fahren. Das Material<br />

<strong>der</strong> Voruntersuchung charakterisierte später mit folgenden Worten die Handlungen des<br />

Fähnrichs Semaschko, eines <strong>der</strong> Hauptführer des Regiments: »... for<strong>der</strong>te von den Fabriken<br />

Automobile an, rüstete sie mit Maschinengewehren aus, entsandte sie zum Taurischen<br />

Palais und an an<strong>der</strong>e Stellen, gab die Marschrouten an, führte persönlich das<br />

Regiment aus <strong>der</strong> Kaserne in die Stadt, fuhr zum Reservebataillon des Moskauer<br />

Regiments, um es zum Hervortreten zu bewegen, was er auch erreichte, versprach den<br />

Soldaten des Maschinengewehrregiments Unterstützung seitens <strong>der</strong> Regimenter <strong>der</strong><br />

Militärischen Organisation, unterhielt dauernde Verbindung mit dieser Organisation,<br />

die sich im Hause Kschessinskaja befand, sowie mit deni Führer <strong>der</strong> Bolschewik, Lenin,<br />

entsandte Wachen zum Schutze <strong>der</strong> Militärischen Organisation«. Der Hinweis auf Lenin<br />

ist hier zur Vervollständigung des Bildes gemacht: Lenin war we<strong>der</strong> an diesem, noch an<br />

den vorangegangenen Tagen in Petrograd: seit dem 29. Juni hielt er sich krankheitshalber<br />

in einer Sommerfrische in Finnland auf. Doch im übrigen gibt die gedrängte Sprache des<br />

Kriegsgerichtsbeamten gar nicht übel das Vorbereitungsfieber <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />

wie<strong>der</strong>. Im Kasernenhof ging eine nicht min<strong>der</strong> heiße Arbeit. Waffenlose<br />

Soldaten versorgte man mit Gewehren, manche mit Bomben, auf jedes Lastauto, das von<br />

den Betrieben geliefert wurde, stellte man drei Maschinengewehre mit Bedienung. Das<br />

Regiment sollte auf <strong>der</strong> Straße in Kampfordnung erscheinen.<br />

In den Betrieben spielte sich überall ungefähr das gleiche ab: es kamen Delegierte von<br />

den Maschinengewehrschützen o<strong>der</strong> den Nachbarbetrieben und riefen auf die Straße. Als<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 314


hätte man sie längst erwartet: die Arbeit wurde sofort eingestellt. Ein Arbeiter <strong>der</strong> Fabrik<br />

Reno erzählt: »Nach dem Mittagessen kamen einige Maschinengewehrschützen zu uns<br />

gelaufen mit <strong>der</strong> Bitte, ihnen Lastautos zu geben. Trotz des Protestes unseres Kollektivs<br />

(<strong>der</strong> Bolschewiki) mußte man die Wagen stellen ... Hastig luden sie auf die Autos die<br />

"Maxims" (Maschinengewehre) und sausten zum Newski. Da waren nun unsere Arbeiter<br />

nicht mehr zu halten ... Wie sie an <strong>der</strong> Arbeit standen, in ihren Schürzen, von <strong>der</strong><br />

Werkbank weg, gingen sie in den Hof ... « Die Proteste <strong>der</strong> Bolschewiki in den Betrieben<br />

hatten, wie wohl anzunehmen ist, nicht immer sehr eindringlichen Charakter. Der längste<br />

Kampf ging um das Putilowwerk. Gegen 2 Uhr mittags verbreitete sich in den Abteilungen<br />

die Nachricht, eine Delegation des Maschinengewehrkommandos sei erschienen und<br />

rufe zu einem Meeting. Etwa zehntausend Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor.<br />

Unter Beifalsrufen berichteten die Maschinengewehrschutzen, sie hätten den Befehl<br />

erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, »nicht an die deutsche<br />

Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, son<strong>der</strong>n gegen die eigenen Minister-Kapitalisten«.<br />

Die Stimmung stieg. »Gehen wir, gehen wir!« schrien die Arbeiter. Der<br />

Sekretär des Fabrikkomitees, ein Bolschewik, machte Einwände und schlug vor, die<br />

Partei zu befragen. Proteste von allen Seiten: »Nie<strong>der</strong>! wie<strong>der</strong> wollt ihr die Sache<br />

verschleppen ... so weiter zu leben ist nicht möglich ... « Gegen 6 Uhr erschienen Vertreter<br />

des Exekutivkomitees, doch diesen gelang es noch weniger, die Arbeiter zu beeinflussen.<br />

Das Meeting ging weiter, das endlose, entnervende, hartnäckige Meeting einer<br />

vieltausendköpfigen Masse, die einen Ausweg sucht und sich nicht suggerieren läßt, daß<br />

es ihn nicht gibt. Der Vorschlag, eine Delegation zum Exekutivkomitee zu entsenden:<br />

wie<strong>der</strong> eine Verschleppung. Die Versammlung geht immer noch nicht auseinan<strong>der</strong>.<br />

Inzwischen bringt eine Gruppe Arbeiter und Soldaten die Nachricht, die Wyborger Seite<br />

marschiere bereits zuin Taurischen Palais. Länger zurückzuhalten war nun unmöglich.<br />

Man beschloß, loszugehen. Der Putilowarbeiter Jefimow kam zum Bezirkskomitee <strong>der</strong><br />

Partei gerannt, um sich zu erkundigen: »Was werden wir tun?« Man antwortete: »Wir<br />

werden keine Aktionen beginnen, doch die Arbeiter ihrem Schicksal überlassen können<br />

wir nicht, deshalb gehen wir mit ihnen zusammen.« In diesem Augenblick erschien das<br />

Bezirkskomiteemitglied Tschudin mit <strong>der</strong> Kunde: in allen Bezirken gingen die Arbeiter<br />

auf die Straße, die Parteimitglie<strong>der</strong> seien gezwungen, »die Ordnung aufrechtzuerhalten«.<br />

So wurden die Bolschewiki von <strong>der</strong> Bewegung erfaßt und in sie hineingezogen, dabei<br />

bestrebt, eine Rechtfertigung für ihr Handeln zu finden, das dem offiziellen Parteibeschluß<br />

zuwi<strong>der</strong>lief<br />

Das industrielle Leben <strong>der</strong> Hauptstadt hörte gegen 7 Uhr abends völlig auf. Fabrik<br />

nach Fabrik erhob sich, machte sich marschbereit, Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde wurden<br />

ausgerüstet. »In <strong>der</strong> tausendköpfigen Arbeitermasse«, erzählt <strong>der</strong> Wyborger Metelew,<br />

»liefen mit den Gewehrschlössern knackend hun<strong>der</strong>te Junggardisten geschäftig hin und<br />

her. Die einen füllten die Magazintaschen mit Patronenpäckchen, die an<strong>der</strong>en zogen die<br />

Riemen stramm, die dritten schnallten sich die Patronentaschen um, die vierten paßten<br />

die Bajonette auf, und jene Arbeiter, die, keine Waffe hatten, halfen den Gardisten beim<br />

Ausrüsten...« Der Sampsonjewski-Prospekt, die Haupta<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wyborger Seite, ist von<br />

Volk überfüllt. Links und rechts dichte Arbeiterkolonnen. In <strong>der</strong> Nähe des Prospekts das<br />

Maschinengewehrregiment, das Rückgrat des Zuges. An <strong>der</strong> Spitze je<strong>der</strong> Kompanie -<br />

Lastautomobile mit "Maxims". Hinter dem Maschinengewehrregiment - Arbeiter; als<br />

Nachhut, die Demonstration deckend, Teile des Moskauer Regiments. Über je<strong>der</strong> Abtei-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 315


lung ein Banner: »Alle Macht den Sowjets.« Der Trauerzug im März o<strong>der</strong> die Maidemonstration<br />

waren wahrscheinlich massenreicher. Doch <strong>der</strong> Julizug ist wuchtiger, gefahrdrohen<strong>der</strong><br />

und - einheitlicher in <strong>der</strong> Zusammensetzung. »Unter roten Fahnen schreiten nur<br />

Arbeiter und Soldaten«, schreibt einer <strong>der</strong> Teilnehmer. »Es fehlen die Kokarden <strong>der</strong><br />

Beamten, die glänzenden Knöpfe <strong>der</strong> Studenten, die Hüte <strong>der</strong> "sympathisierenden<br />

Damen", all das gab es vor vier Monaten, im Februar, im heutigen Zuge ist nichts davon,<br />

heute gehen nur die schwarzen Sklaven des Kapitals.« Durch die Straßen jagen, wie<br />

einst, in verschiedene Richtungen Automobile mit bewaffneten Arbeitern und Soldaten:<br />

Delegierte, Agitatoren, Kundschafter, Verbindungsmänner, Abteilungen, um Arbeiter<br />

und Regimenter herauszuholen. Die Flinten sind bei allen nach vorn gerichtet. Die stachligen<br />

Lastwagen riefen das Bild <strong>der</strong> Februartage in Erinnerung, elektrisierten die einen,<br />

terrorisierten die an<strong>der</strong>en. Der Kadett Nabokow schreibt: »Die gleichen wahnwitzigen,<br />

stumpfen, tierischen Gesichter, die wir noch aus den Februartagen in Erinnerung<br />

haben«, das heißt aus den Tagen jener <strong>Revolution</strong>, die die Liberalen offiziell ruhmreich<br />

und unblutig genannt hatten. Gegen 9 Uhr bewegten sich bereits sieben Regimenter zum<br />

Taurischen Palais. Unterwegs schlossen sich Kolonnen aus Fabriken und neue Truppenteile<br />

an. Die Bewegung des Maschinengewehrregiments bewies gewaltige Ansteckungskraft.<br />

Die "Julitage" waren eingeleitet.<br />

Es begannen fliegende Meetings. Hier und dort hörte man Schüsse. Nach Schil<strong>der</strong>ung<br />

des Arbeiters Korotkow »holte man auf dem Litejny-Prospekt aus einem Keller ein<br />

Maschinengewehr mit einem Offizier heraus, <strong>der</strong> an Ort und Stelle nie<strong>der</strong>gemacht<br />

wurde«. Die verschiedensten Gerüchte eilen <strong>der</strong> Demonstration voraus, Angst verbreitet<br />

sich von ihr strahlenförmig in alle Richtungen. Was melden die Telephone <strong>der</strong> aufgescheuchten<br />

Zentrumviertel nicht alles! Man erzählt, gegen 8 Uhr abends sei ein bewaffnetes<br />

Automobil zum Warschauer Bahnhof herangejagt auf <strong>der</strong> Suche nach dem gerade<br />

an diesem Tage zur Front abreisenden Kerenski, in <strong>der</strong> Absicht, ihn zu verhaften, doch<br />

das Automobil hätte den Zug verpaßt und die Verhaftung sei mißglückt. Diese Episode<br />

wurde später mehr als einmal angeführt, als Beweis für die Verschwörung. Wer eigentlich<br />

in dem Automobil gewesen war und wer dessen geheimnisvolle Absichten aufgedeckt<br />

hat, ist allerdings unbekannt geblieben. An jenem Abend fuhren Automobile mit<br />

bewaffneten Menschen in allen Vierteln herum, wahrscheinlich auch im Umkreis des<br />

Warschauer Bahnhofs. Kräftige Worte an die Adresse Kerenskis ertönten vielerorts. Das<br />

diente wohl als Grundlage für die Mythe, nimmt man nicht an, daß sie überhaupt von<br />

Anfang bis zu Ende erfunden ist.<br />

Die 'Iswestja' entwarfen folgendes Schema <strong>der</strong> Ereignisse vom 3. Juli: »Um 5 Uhr<br />

nachmittags traten bewaffnet hervor: das I. Maschinengewehrregiment, Teile des<br />

Moskauer-, des Grenadier- und des Pawlowski-Regiments. Ihnen schlossen sich Arbeiterhaufen<br />

an ... Gegen 8 Uhr abends begannen am Kschessinskaja-Palais einzelne<br />

Truppenteile in voller Kampfausrüstung zusammenzuströmen, mit roten Bannern und<br />

Plakaten, die den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets for<strong>der</strong>ten. Vom Balkon ertönten<br />

Reden ... Uni 10½ Uhr findet auf dem Platze vor dem Gebäude des Taurischen Palais ein<br />

Meeting statt ... Die Truppenteile wählten eine Deputation, die dem Al<strong>russischen</strong><br />

Zentral-Exekutivkomitee in ihrem Namen folgende For<strong>der</strong>ungen überbrachte: Nie<strong>der</strong> mit<br />

den zehn bürgerlichen Ministern, alle Macht dem Sowjet, Einstellung <strong>der</strong> Offensive,<br />

Beschlagnahme <strong>der</strong> bürgerlichen Zeitungsdruckereien, Verstaatlichung von Grund und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 316


Boden, Produktionskontrolle,« Sieht man von einigen nebensächlichen Retuschen ab:<br />

»Teile von Regimentern« statt Regimenter, »Arbeiterhaufen« statt geschlossene Betriebe,<br />

dann kann man sagen, daß Zeretelli-Dans Offiziosus die Vorgänge im allgemeinen nicht<br />

entstellt, insbeson<strong>der</strong>e die zwei Brennpunkte <strong>der</strong> Demonstration richtig vermerkt: die<br />

Villa Kschessinskaja und das Taurische Palais. Geistig und physisch drehte sich die<br />

Bewegung um diese antagonistischen Zentren: zum Hause Kschessinskaja geht man <strong>der</strong><br />

Direktive, <strong>der</strong> Leitung, <strong>der</strong> begeisternden Rede wegen, zum Taurischen Palais, um<br />

For<strong>der</strong>ungen zu stellen und sogar um mit seiner Kraft zu drohen.<br />

Um 3 Uhr nachmittags erschienen in <strong>der</strong> Stadtkonferenz <strong>der</strong> Bolschewiki, die an<br />

diesem Tage in <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja stattfand, zwei Delegierte <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />

mit <strong>der</strong> Nachricht, ihr Regiment habe beschlossen, hervorzutreten. Keiner<br />

hatte dies erwartet und keiner es gewünscht. Tomski erklärte: »Die Regimenter, die auf<br />

die Straße gegangen sind, handelten unkameradschaftlich, indem sie das Komitee<br />

unserer Partei nicht zur Besprechung <strong>der</strong> Demonstrationsfrage eingeladen haben. Das<br />

Zentralkomitee schlägt <strong>der</strong> Konferenz vor: erstens, einen Aufruf, herauszugeben, um die<br />

Massen zurückzuhalten, zweitens, in einem Appell das Exekutivkomitee aufzufor<strong>der</strong>n, die<br />

Macht zu über-nehmen. Jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine<br />

neue <strong>Revolution</strong> zu wollen, ist unzulässig.« Tomski, ein alter Arbeiter-Bolschewik, <strong>der</strong><br />

seine Treue zur Partei durch Jahre Katorga besiegelt hatte, später als Gewerkschaftsführer<br />

bekannt, neigte seinem Charakter nach überhaupt eher dazu, von einer Demonstration<br />

abzuhalten, als dazu aufzurufen. Aber diesmal entwickelte er nur Lenins Gedanken:<br />

»jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine neue <strong>Revolution</strong> zu wollen,<br />

ist unzulässig.« Sogar <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> friedlichen Denionstration vom 10. Juni hatten ja<br />

die Versöhnler als Verschwörung verschrien! Die erdrückende Mehrheit <strong>der</strong> Konferenz<br />

war mit Tomski einverstanden. Man muß um jeden Preis die Lösung hinausziehen. Die<br />

Offensive an <strong>der</strong> Front hält das ganze Land in Spannung. Ihr Mißerfolg ist vorbestimmt,<br />

wie auch die Bereitschaft <strong>der</strong> Regierung, die Verantwortung für die Nie<strong>der</strong>lage auf die<br />

Bolschewiki abzuwälzen. Man muß den Versöhnlern Zeit lassen, sich endgültig zu<br />

kompromittieren. Wolodarski antwortete namens <strong>der</strong> Konferenz den Maschinengewehrschützen<br />

in dem Sinne, daß das Regiment sich dem Parteibeschluß zu fügen habe. Die<br />

Maschinengewehrschützen entfernen sich unter Protest. Um 4 Uhr bestätigt das Zentralkomitee<br />

den Beschluß <strong>der</strong> Konferenz. Ihre Teilnehmer gehen auseinan<strong>der</strong>, in die Bezirke<br />

und Betriebe, um die Massen von einer Demonstration abzuhalten. Ein entsprechen<strong>der</strong><br />

Aufruf wird <strong>der</strong> 'Prawda' geschickt zur Veröffentlichung am nächsten Morgen auf <strong>der</strong><br />

ersten Seite. Stalin wird beauftragt, die vereinigte Tagung des Exekutivkomitees von<br />

dein Parteibeschluß in Kenntnis zu setzen. Die Absichten <strong>der</strong> Bolschewiki lassen somit<br />

keinen Platz für Zweifel. Das Exekutivkomitee wandte sich an die Arbeiter und Soldaten<br />

mit einer Warnung: »Unbekannte Menschen ... rufen euch mit den Waffen auf die<br />

Straße«, und bestätigte damit, daß <strong>der</strong> Ruf von keiner einzigen Sowjetpartei stammte.<br />

Aber die Zentralkomitees, <strong>der</strong> Parteien wie <strong>der</strong> Sowjets, denken und die Maasen lenken.<br />

Gegen 8 Uhr abends kam das Maschinengewehr- und hinterher das Moskauer-Regiment<br />

zum Palais Kschessinskaja. Populäre Bolschewiki: Newski, Laschewitsch,<br />

Podwojski, versuchten vom Balkon aus, die Regimenter zur Umkehr zu bewegen. Man<br />

antwortete ihnen von unten: Nie<strong>der</strong>! Solche Rufe hatte <strong>der</strong> bolschewistische Balkon von<br />

den Soldaten noch nicht vernommen, und das war ein bedrohliches Anzeichen. Hinter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 317


dem Rücken <strong>der</strong> Regimenter tauchten die Betriebe auf: »Alle Macht den Sowjets!«<br />

»Nie<strong>der</strong> mit den zehn Ministern-Kapitalisten!« Das waren die Banner des 18. Juni. Aber<br />

jetzt waren sie von Bajonetten umgeben. Die Demonstration war eine machtvolle Tatsache.<br />

Was tun? Ist es für Bolschewiki denkbar, beiseite zu stehen? Die Mitglie<strong>der</strong> des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Komitees gemeinsam mit den Konferenzdelegierten und den Vertretern <strong>der</strong><br />

Regimenter und Betriebe beschließen: Die Frage zu revidieren, die unfruchtbaren<br />

Zurechtweisungen einzustellen, die zur Entfaltung gelangte Bewegung so zu lenken, daß<br />

die Regierungskrise im Interesse des Volkes gelöst werde; zu diesem Zwecke die Soldaten<br />

und Arbeiter aufzurufen, friedlich zum Taurischen Palais zu niarschieren, Delegierte<br />

zu wählen und durch sie ihre For<strong>der</strong>ungen dem Exekutivkomitee zu übergeben. Die<br />

anwesenden Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees sanktionierten diese Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Taktik.<br />

Der neue Beschluß, vom Balkon verkündet, wird mit Beifallrufen und Marseillaise<br />

begrüßt. Die Bewegung ist von <strong>der</strong> Partei legalisiert: die Maschinengewehrschützen<br />

können erleichtert aufatmen. Ein Teil des Regiments betritt sogleich die Peter-Paul-Festung,<br />

um <strong>der</strong>en Garnison zu beeinflussen und, wenn nötig, die von <strong>der</strong> Festung durch<br />

die schmale Kronwerksker Meerenge getrennte Villa Kschessinskaja gegen einen<br />

Anschlag zu schützen.<br />

Die Spitzenabteilungen <strong>der</strong> Demonstration betreten den Newski, die Pulsa<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie, Bürokratie und des Offizierskorps, wie ein fremdes Land. Von Bürgersteigen,<br />

Fenstern und Balkonen späht lauernd die Mißgunst tausen<strong>der</strong> Augen. Regiment<br />

wälzt sich auf Betrieb, Betrieb auf Regiment heran. Es kommen immer neue und neue<br />

Massen. Alle Banner, Gold auf Rot, schreien ein und dasselbe: Alle Macht den Sowjets!<br />

Der Zug beherrscht den Newski und ergießt sich in unüberwindlichem Strom zum Taurischen<br />

Palais. Plakate: »Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg!«, rufen die schärfste Feindseligkeit bei den<br />

Offizieren, darunter nicht wenig Invaliden, hervor. Mit den Armen fuchtelnd und sich<br />

überschreiend, mühen sich Student, Studentin, Beamter ab, den Soldaten auseinan<strong>der</strong>zusetzen,<br />

daß die hinter ihrem Rücken stehenden deutschen Agenten Wilhelms Truppen<br />

nach Petrograd hereinlassen wollen, um die Freiheit zu ersticken. Den Rednern scheinen<br />

ihre eigenen Argumente unwi<strong>der</strong>stehlich. »Von Spionen betrogen!« sagen Beamte von<br />

den Arbeitern, die sie düster abwehren. »Von Fanatikern hineingehetzt!« antworten<br />

Nachsichtigere. »Dunkelmänner!« stimmen die einen und die an<strong>der</strong>en überein. Doch die<br />

Arbeiter haben ihr eigenes Maß für die Dinge. Nicht bei deutschen Spionen haben sie<br />

jenen Gedanken gelemt, <strong>der</strong> sie heute auf die Straße führt. Die Demonstranten drängen<br />

unhöflich die lästigen Belehrer aus ihrer Mitte und bewegen sich vorwärts. Das bringt die<br />

Patrioten vom Newski in raserei. Stoßtrupps, am häufigsten von Invaliden und Georgsrittern<br />

angeführt, überfallen einzelne Demonstrantenreihen, um ein Banner zu entreißen. Da<br />

und dort kommt es zu Zusanimenstößen. Die Atmosphäre wird erhitzt. Schüsse ertönen,<br />

einer, noch einer. Aus einem Fenster? Aus dem Anitschkin-Palais? Vom Pflaster antwortet<br />

man mit einer Salve nach oben - ohne Adresse. Vorübergehend gerät die Straße in<br />

Verwirrung. Gegen Mittemacht, erzählt ein Arbeiter <strong>der</strong> Firma "Vulkan", während das<br />

Grenadierregiment den Newski passierte, setzte neben <strong>der</strong> Öffentlichen Bibliothek von<br />

irgendwoher eine Schießerei ein, die etliche Minuten andauerte. Eine Panik brach aus.<br />

Die Arbeiter zerstreuten sich in die Seitenstraßen. Die Soldaten warfen sich unter dem<br />

Feuer hin: nicht umsonst haben viele von ihnen die Schule des Krieges durchgemacht.<br />

Dieser mitternächtliche Newski-Prospekt mit den auf <strong>der</strong> Straße unter Feuer liegenden<br />

Gardegrenadieren bietet ein phantastisches Schauspiel. We<strong>der</strong> Puschkin noch Gogol, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 318


Sänger des Newski, haben sich ihn so vorgestellt! Indes war diese Phantastik Realität:<br />

auf dem Pflaster blieben Tote und Verwundete.<br />

Das Taurische Palais lebte an diesem Tage sein beson<strong>der</strong>es Leben. Angesichts des<br />

Austritts <strong>der</strong> Kadetten aus <strong>der</strong> Regierung berieten beide Exekutivkomitees, das <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldaten und das <strong>der</strong> Bauern, gemeinsam ein Referat Zeretellis über das<br />

Thema: wie ist <strong>der</strong> Pelz <strong>der</strong> Koalition zu waschen, ohne das Fell naß zu machen? Das<br />

Geheimnis einer solchen Operation wäre wohl schließlich entdeckt worden, wenn das die<br />

unruhigen Vorstädte nicht verhin<strong>der</strong>t hätten. Telephonische Berichte über das bevorstehende<br />

Auftreten des Maschinengewehrreginients rufen auf den Gesichtern <strong>der</strong> Führer<br />

Grimassen des Zorns und Ärgers hervor. Können denn die Soldaten und Arbeiter nicht<br />

abwarten, bis ihnen die Zeitungen rettende Entschlüsse bringen? Scheele Blicke <strong>der</strong><br />

Mehrheit in die Richtung <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch kam die Demonstration diesmal auch<br />

für diese überraschend. Kamenjew und an<strong>der</strong>e anwesende Vertreter <strong>der</strong> Partei erklären<br />

sich sogar bereit, nach <strong>der</strong> Tagessitzung in die Betriebe und Kasernen zu gehen, uni die<br />

Massen von einer Demonstration zurückzuhalten. Später deuteten die Versöhnler diese<br />

Geste als Kriegslist. Die Exekutivkomitees nehmen eiligst einen Aufruf an, <strong>der</strong>, wie<br />

üblich, jede Demonstration als <strong>Revolution</strong>sverrat erklärt. Was aber nun mit <strong>der</strong> Regierungskrise?<br />

Der Ausweg ist gefunden: das amputierte Kabinett bleibt, wie es ist, und die<br />

Gesamtfrage wird bis zum Zusammentritt <strong>der</strong> Provinzmitglie<strong>der</strong> des Exekutivkomitees<br />

vertagt. Verschleppen, Zeit gewinnen für die eigenen Schwankungen - ist das nicht die<br />

weiseste aller Politik?<br />

Nur im Kanipfe gegen die Massen hielten die Versöhnler Zeitverlust für unzulässig.<br />

Der offizielle Apparat wurde unverzüglich in Bewegung gesetzt, um gegen den Aufstand<br />

- so wurde die Demonstration von Anfang an bezeichnet - zu rüsten. Die Führer suchten<br />

überall bewaffnete Kräfte zum Schutze <strong>der</strong> Regierung und des Exekutivkomitees. Unterzeichnet<br />

von Tschcheidse und an<strong>der</strong>en Präsidiumsmitglie<strong>der</strong>n, ergingen an die verschiedensten<br />

militärischen Stellen Auffor<strong>der</strong>ungen, dem Taurischen Palais Panzerautos,<br />

Drei-Zoll-Geschütze und Geschosse zu liefern. Gleichzeitig erhielten fast sämtliche<br />

Regimenter Befehl, bewaffnete Abteilungen zur Verteidigung des Palais zu entsenden.<br />

Doch machte man dabei nicht halt. Das Büro beeilte sich noch am selben Tage, an die<br />

Front, und zwar an die <strong>der</strong> Hauptstadt nächstgelegene 5. Armee, telegraphisch Or<strong>der</strong> zu<br />

geben, »nach Petrograd eine Kavalleriedivision, eine Infanteriebrigade und Panzerwagen<br />

zu schicken«. Der Menschewik Wojtinski, <strong>der</strong> mit dem Schutz des Exekutivkomitees<br />

betraut war, gestand später in seinem retrospektiven Überblick: »Der ganze Tag des 3.<br />

Juh war ausgefüllt mit <strong>der</strong> Zusammenziehung von Truppen, mit <strong>der</strong> Befestigung des<br />

Taurischen Palais ... Wir hatten die Aufgabe, mindedstens einige Kompanien heranzuholen<br />

... Eine Zeitlang besaßen wir absolut keine militärischen Kräfte. An <strong>der</strong> Eingangstüre<br />

des Taurischen Palais standen sechs Mann Posten, die außerstande waren, die Menge<br />

aufzuhalten...« Dann wie<strong>der</strong>: »Am ersten Demonstrationstag waren zu unserer Verfügung<br />

nur hun<strong>der</strong>t Mann, - mehr Kräfte besaßen wir nicht. Wir entsandten Kommissare<br />

an alle Regimenter mit <strong>der</strong> Bitte, uns Soldaten für den Wachtdienst zu stellen ... Aber<br />

jedes Regiment blickte sich nach dem an<strong>der</strong>en um, - was dieses tun werde. Man mußte<br />

um jeden Prcis diesem Unwesen ein Ende bereiten, und wir for<strong>der</strong>ten Truppen von <strong>der</strong><br />

Front an.« Sogar vorsätzlich ließe sich schwer eine bösere Satire auf die Versöhnler<br />

ausdenken. Hun<strong>der</strong>ttausende Demonstranten for<strong>der</strong>n die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 319


Sowjets. Tschcheidse, <strong>der</strong> das Sowjetsystem repräsentiert, und schon allein damit Kandidat<br />

für den Premierposten, sucht Militärkräfte gegen die Demonstranten. Die grandiose<br />

Bewegung für die Macht <strong>der</strong> Demokratie wird von <strong>der</strong>en Führern erklärt als Überfall<br />

bewaffneter Banden auf die Demokratie.<br />

Im gleichen Taurischen Palais trat nach langer Pause die Arbeitersektion des Sowjets<br />

zusammen, die während <strong>der</strong> letzten zwei Monate durch partielle Neuwahlen in den<br />

Betrieben ihre Zusammensetzung <strong>der</strong>art hatte verän<strong>der</strong>n können, daß das Exekutivkomitee<br />

nicht ohne Grund dort eine Übermacht <strong>der</strong> Bolschewiki befürchtete. Die künstlich<br />

hinausgeschobene Sitzung <strong>der</strong> Sektion, die schließlich einige Tage vorher von den<br />

Versöhnlern selbst anberaumt worden war, fiel zufälligerweise mit <strong>der</strong> bewaffneten<br />

Demonstration zusammen: die Zeitungen erblickten auch darin die Hand <strong>der</strong><br />

Bolschewiki. Sinowjew entwickelte in seinem Referat vor <strong>der</strong> Sektion triftig den Gedanken,<br />

daß die Versöhnler, Verbündete <strong>der</strong> Bourgeoisie, gegen die Konterrevolution we<strong>der</strong><br />

kämpfen wollten noch könnten, denn unter diesem Namen verstünden sie nur vereinzelte<br />

Äußerungen des Schwarzhun<strong>der</strong>t-Hooliganentums, nicht aber den politischen Zusammenschluß<br />

<strong>der</strong> besitzenden Klassen mit dem Ziele, die Sowjets, als Wi<strong>der</strong>standszentren<br />

<strong>der</strong> Werktätigen, zu zermalmen. Das Referat traf den Kern. Die Menschewiki, die sich<br />

zum erstenmal auf sowjetistischem Boden in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit fühlten, schlagen vor, keine<br />

Beschlüsse zu fassen, son<strong>der</strong>n zum Schutze <strong>der</strong> Ordnung in die Bezirke auseinan<strong>der</strong>zugehen.<br />

Aber schon ist's zu spät! Die Kunde davon, daß vor dem Taurischen Palais<br />

bewaffnete Arbeiter und Maschinengewehrschützen aufmarschiert seien, ruft im Saal<br />

größte Erregung hervor. Die Tribüne besteigt Kamenjew. »Wir haben zur Demonstration<br />

nicht aufgerufen«, sagt er, »son<strong>der</strong>n die Volksmassen sind von selbst auf die Straße<br />

gegangen ... Wenn aber die Massen hinausgegangen sind, ist unser Platz unter ihnen ...<br />

Unsere Aufgabe ist jetzt, <strong>der</strong> Bewegung einen organisierten Charakter zu verleihen.«<br />

Kamenjew schließt mit dem Vorschlag, eine Kommission von fünfundzwanzig Mann zur<br />

Leitung <strong>der</strong> Bewegung zu wählen. Trotzki unterstützt diesen Vorschlag. Tschcheidse<br />

fürchtet die bolschewistische Kommission und dringt vergeblich darauf, die Frage an das<br />

Exekutivkomitee zu verweisen. Die Debatte nimmt stürmischen Charakter an. Sobald sie<br />

sich endgültig überzeugt haben, zusammen nicht mehr als ein Drittel <strong>der</strong> Versammlung<br />

zu bilden, verlassen Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Saal. Das wird nun<br />

überhaupt die beliebte Taktik <strong>der</strong> Demokraten: sie beginnen die Sowjets in dem Augenblick<br />

zu boykottieren, wo sie in ihnen die Mehrheit verlieren. Eine Resolution, die das<br />

Zentral-Exekutivkomitee auffor<strong>der</strong>t, die Macht in seine Hand zu nehmen, wird mit<br />

zweihun<strong>der</strong>tsechsundsiebzig Stimmen angenommen, in Abwesenheit <strong>der</strong> Opposition. Es<br />

werden auch sofort fünfzehn Mann in die Kommission gewählt; zehn Plätze hält man <strong>der</strong><br />

Min<strong>der</strong>heit frei; sie werden unbesetzt bleiben. Die Tatsache <strong>der</strong> Wahl einer bolschewistischen<br />

Kommission bedeutete für Freund und Feind, daß die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets von nun an die Basis des Bolschewismus geworden war. Ein großer<br />

Schritt vorwärts! Im April erstreckte sich <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki ungefähr auf ein<br />

Drittel <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter; im Sowjet bildeten sie in jenen Tagen einen unbedeutenden<br />

Sektor. jetzt, Anfang Juli stellen die Bolschewiki <strong>der</strong> Arbeitersektion etwa zwei<br />

Drittel <strong>der</strong> Delegierten: das bedeutet, daß ihr Einfluß in den Massen entscheidend geworden<br />

ist.<br />

Durch die zum Taurischen Palais führenden Straßen strömen Arbeiter-, Arbeiterinnen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 320


und Soldatenkolonnen mit Bannern, Gesang und Musik. Es zieht leichte Artillerie auf,<br />

<strong>der</strong>en Kommandeur Begeisterung auslöst durch die Mitteilung, sämtliche Batterien <strong>der</strong><br />

Division seien mit den Arbeitern. Durchfahrt und Garten am Taurischen Palais sind vom<br />

Volke überfüllt. Alle drängen sich vor <strong>der</strong> Tribüne bei <strong>der</strong> Haupteinfahrt des Palais<br />

zusammen. Zu den Demonstranten tritt Tschcheidse heraus mit <strong>der</strong> verdrießlichen Miene<br />

eines Menschen, den man unnütz bei <strong>der</strong> Arbeit gestört hat. Der populäre Sowjetvorsitzende<br />

wird von mißgünstigem Schweigen empfangen. Mit mü<strong>der</strong> und heiserer Stimme<br />

wie<strong>der</strong>holt Tschcheldse die allgemeinen Phrasen, <strong>der</strong>en alle schon überdrüssig sind.<br />

Nicht besser wird auch <strong>der</strong> ihm zu Hilfe auftauchende Wojtinsky aufgenommen.<br />

»Dagegen wurde Trotzki, <strong>der</strong>« - nach Miljukows Worten - »verkündete, nun sei <strong>der</strong><br />

Moment gekommen, wo die Macht an die Sowjets übergehen müsse, mit stürmischem<br />

Beifall begrüßt« ... Dieser Satz ist beabsichtigt zweideutig. Keiner <strong>der</strong> Bolschewiki sagte,<br />

»<strong>der</strong> Moment ist gekommen«, Ein Schlosser <strong>der</strong> kleinen Fabrik Duflon auf <strong>der</strong> Petersburger<br />

Seite erzählte später über das Meeting vor den Mauern des Taurischen Palais: »Ich<br />

erinnere mich an die Rede Trotzkis, <strong>der</strong> sagte, daß es noch nicht an <strong>der</strong> Zeit sei, die<br />

Macht zu übernehmen.« Der Schlosser gibt den Sinn <strong>der</strong> Rede richtiger wie<strong>der</strong> als <strong>der</strong><br />

Geschichtsprofessor. Aus dem Munde <strong>der</strong> bolschewistischen Redner erfuhren die<br />

Demonstranten von dem eben in <strong>der</strong> Arbeitersektion errungenen Sieg, und diese Tatsache<br />

gab ihnen eine fast greifbare Befriedigung - als Eintritt in die Epoche <strong>der</strong> Sowjetmacht.<br />

Die vereinigte Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees wurde kurz vor Mitternacht wie<strong>der</strong> eröffnet:<br />

um diese Zeit warfen sich die Grenadiere auf dem Newski hin. Auf Dans Antrag<br />

wird bestimmt, daß in <strong>der</strong> Versammlung nur jene bleiben dürfen, die sich im voraus<br />

verpflichten, angenommene Beschlüsse zu verteidigen und durchzuführen. Das ist ein<br />

neues Wort! Das Arbeiter- und Soldatenparlament, als welches die Menschewiki den<br />

Sowjet proklamiert hatten, versuchen sie nun in ein administratives Organ <strong>der</strong> Versöhnlermehrheit<br />

umzuwandeln. Wenn sie in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit bleiben werden - es sind nur noch<br />

zwei Monate bis dahin - werden die Versöhnler leidenschaftlich die Sowjetdemokratie<br />

verteidigen. Heute aber, wie auch sonst in allen entscheidenden Momenten des öffentlichen<br />

Lebens, wird die Demokratie zur Reserve entlassen. Einige Interrayonisten verließen<br />

unter Protest die Sitzung; Bolschewiki waren überhaupt nicht zugegen, sie berieten<br />

in <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja, was morgen zu tun. Im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Sitzung erscheinen<br />

die Interrayonisten und Bolschewiki im Saal mit <strong>der</strong> Erklärung, niemand könne<br />

ihnen das Mandat rauben, das ihnen die Wähler übertragen haben. Die Mehrheit<br />

schweigt sich aus, und Dans Resolution fällt unmerklich unter den Tisch. Die Sitzung<br />

schleppt sich hin wie eine Agonie. Mit welken Stimmen überzeugen die Versöhnler<br />

einan<strong>der</strong> von ihrem Recht. Zeretelli als Post- und Telegraphenminister beklagt sich über<br />

die unteren Beamten: »Von dem Post- und Telegraphenstreik habe ich erst soeben erfahren<br />

... Was die politischen For<strong>der</strong>unge trifft, so ist ihre Parole ebenfalls: Alle Macht den<br />

Sowjets!« ... Delegierte <strong>der</strong> das Palais von allen Seiten umlagernden Demonstranten<br />

for<strong>der</strong>n Zutritt zur Sitzung. Man läßt sie besorgt und feindselig ein. Indes glaubten die<br />

Delegierten aufrichtig, die Versöhnler könnten diesmal nicht an<strong>der</strong>s, als ihnen entgegenkommen.<br />

Enthüllten doch die durch den Austritt <strong>der</strong> Kadetten erhitzten Zeitungen <strong>der</strong><br />

Menschewiki und Sozialrevolutionäre heute selbst Intrigen und Sabotage ihrer bürgerlichen<br />

Verbündeten. Außerdem hat sich die Arbeitersektion für die Macht <strong>der</strong> Sowjets<br />

ausgesprochen. Worauf noch warten? Doch die leidenschaftlichen Appelle, in denen die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 321


Empörung noch Hoffnung atmet, fallen kraftlos und unangebracht in die abgestandene<br />

Atmosphäre des Versöhnlerparlaments. Die Führer beschäftigt nur ein Gedanke: wie die<br />

ungebetenen Gäste am schnellsten loswerden? Man bittet sie, sich auf die Galerie zu<br />

entfernen: sie auf die Straße zu jagen, zu den Demonstranten, wäre zu unvorsichtig. Von<br />

<strong>der</strong> Galerie herab hörten die Maschinengewehrschützen verwun<strong>der</strong>t die sich entwickelnden<br />

Debatten an, <strong>der</strong>en einziges Ziel war, Zeit zu gewinnen: die Versöhnler warteten auf<br />

zuverlässige Regimenter. »In den Straßen ist revolutionäres Volk«, sprach Dan, »aber<br />

dieses Volk verrichtet eine konterrevolutionäre Sache ... « Dan wird unterstützt von<br />

Abramowitsch, einem <strong>der</strong> Führer des jüdischen Bundes, einem konservativen Pedanten,<br />

dessen sämtliche Instinkte durch die <strong>Revolution</strong> verletzt sind. »Wir sind Zeugen einer<br />

Verschwörung«, behauptet er entgegen allem Augenschein und for<strong>der</strong>t die Bolschewiki<br />

auf, offen zuzugeben, daß »es ihre Arbeit ist«. Zeretelli vertieft das Problem: »Auf die<br />

Straße zu gehen mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung: Alle Macht den Sowjets, - ist das eine Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Sowjets? Wenn die Sowjets wollten, sie könnten die Macht haben. Hin<strong>der</strong>nisse stehen<br />

dem Willen <strong>der</strong> Sowjets von keiner Seite entgegen. Solche Aktionen aber gehen nicht den<br />

Weg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, son<strong>der</strong>n den Weg <strong>der</strong> Konterrevolution.« Diese Überlegungen<br />

konnten die Arbeiterdelegierten unmöglich begreifen. Es schien ihnen, die hohen Führer<br />

seien völlig übergeschnappt. Schließlich bestätigt die Versammlung noch einmal mit<br />

allen gegen elf Stimmen, daß das bewaffnete Auftreten ein Dolchstoß in den Rücken <strong>der</strong><br />

revolutionären Armee sei, und so weiter. Die Sitzung wird um 5 Uhr morgens geschlossen.<br />

Die Massen versickerten allmählich in ihre Bezirke. Bewaffnete Automobile waren<br />

die ganze Nacht unterwegs, Regimenter, Fabriken, Bezirkszentren miteinan<strong>der</strong> verbindend.<br />

Wie Ende Februar, zogen auch jetzt die Massen nachts das Fazit des verflossenen<br />

Kampftages. Aber nun taten sie es mit Hilfe eines komplizierten Systems von Organisationen:<br />

<strong>der</strong> Betriebe, <strong>der</strong> Partei, <strong>der</strong> Truppen, die dauemd miteinan<strong>der</strong> berieten. Es galt in<br />

den Bezirken als selbstverständlich, daß die Bewegung nicht beim halben Worte haltmachen<br />

durfte. Das Exekutivkomitee hatte den Beschluß über die Machtfrage vertagt. Die<br />

Massen deuteten es als Schwankung. Die Schlußfolgerung war klar: man muß weiter<br />

nachdrücken. Die Nachtsitzung <strong>der</strong> Bolschewiki und Interrayonisten, die im Taurischen<br />

Palais parallel mit <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees stattfand, zog ebenfalls das Fazit<br />

des vergangenen Tages und versuchte vorauszusehen, was <strong>der</strong> morgige Tag in sich<br />

berge. Die Berichte aus den Bezirken besagten, daß die heutige Demonstration die<br />

Massen erst in Bewegung gebracht und zum erstenmal die Machtfrage in aller Schärfe<br />

vor ihnen gestellt habe. Morgen werden die Fabriken und Regimenter auf Antwort<br />

drängen, und nichts wild sie in den Außenbezirken festhalten. Die Diskussionen drehten<br />

sich nicht um die Frage, ob man zur Machtergreifung aufrufen solle o<strong>der</strong> nicht, wie<br />

später die Gegner behaupteten, son<strong>der</strong>n darum, ob man versuchen müsse, die Demonstration<br />

zu liquidieren, o<strong>der</strong> aber sich am nächsten Morgen an ihre Spitze stellen soll.<br />

Spät in <strong>der</strong> Nacht, kurz vor 3 Uhr, marschierte das Putilowwerk, eine dreißigtausendköpfige<br />

Masse, viele mit Frauen und Kin<strong>der</strong>n, ans Taurische Palais heran. Der Zug hatte<br />

sich um 11 Uhr in Bewegung gesetzt, unterwegs hatten sich ihm an<strong>der</strong>e, saumseligere<br />

Betriebe angeschlossen. Am Narwaer Tor war trotz <strong>der</strong> späten Nachtstunde die Volksansammlung<br />

so groß, als sei niemand ini Bezirk zurückgeblieben. Die Frauen hatten<br />

geschrien: »Alle müssen gehen ... Wir werden die Wohnungen bewachen ... « Nach dem<br />

Läuten vom Glockenturm <strong>der</strong> Erlöserkirche fielen Schüsse, wie aus einem Maschinengewehr.<br />

Von unten gab man eine Salve gegen den Glockenturm »Beim Gostinyj Dwor<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 322


("Handelshofof") überfiel eine Gesellschaft von Junkern und Studenten die Demonstranten,<br />

und versuchte ihnen ein Plakat zu entreißen. Die Arbeiter leisteten Wi<strong>der</strong>stand, es<br />

kam zu einem Handgemenge, jemand schoß, dem Schreiber dieser Zeilen wurde <strong>der</strong> Kopf<br />

eingeschlagen, Hüften und Brust mit Füßen getreten.« Dies erzählt <strong>der</strong> uns schon<br />

bekannte Arbeiter Jefimow. Nachdem sie die ganze, schon in Schweigen gehüllt Stadt<br />

durchquert hatten, erreichten die Putilower schließlich das Taurische Palais. Dank <strong>der</strong><br />

energischen Vermittlung des damals mit den Gewerkschaften eng verbundenen Rjasanow<br />

wurde eine Betriebsdelegation zum Exekutivkomitee durchgelassen. Die Arbeitermasse,<br />

hungrig und todmüde, lagerte sich auf <strong>der</strong> Straße und im Garten, die meisten<br />

streckten sich hin in <strong>der</strong> Hoffnung, eine Antwort zu erlangen. Das Putilowwerk, um 3<br />

Uhr nachts auf <strong>der</strong> Erde lagernd, rings um das Taurische Palais, wo die demokratischen<br />

Führer die Ankunft <strong>der</strong> Truppen von <strong>der</strong> Front erwarteten - das ist eines <strong>der</strong> erschüttemdsten<br />

Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf dem scharfen Bergpaß vom Februar zum Oktober. Zwölf<br />

Jahre vorher haben nicht wenige dieser Arbeiter an <strong>der</strong> Januarprozession zum Winterpalais<br />

teilgenommen, unter Heiligenbildem und Kirchenfahnen; Jahrhun<strong>der</strong>te sind verstrichen<br />

seit jenem Sonntag. Neue Jahrhun<strong>der</strong>te werden verstreichen im Laufe <strong>der</strong> nächsten<br />

vier Monate.<br />

Auf die Beratung <strong>der</strong> bolschewistischen Führer und Organisatoren, die über den morgigen<br />

Tag streiten, legt sich <strong>der</strong> schwere Schatten des Putilowwerkes, das im Hofe lagert.<br />

Morgen werden die Putilower nicht zur Arbeit gehen: von welcher Arbeit könnte auch<br />

die Rede sein nach dem nächtlichen Wachen? Sinowjew wird unterdessen zum Telephon<br />

gerufen; aus Kronstadt telephoniert Raskolnikow, um zu melden: am frühen Morgen<br />

werde die Festungsgarnison nach Petrograd marschieren und niemand und nichts sie<br />

davon abbringen. Der junge Unterleutnant zur See bleibt am an<strong>der</strong>en Ende des<br />

Telephondrahtes hängen: ist es denkbar, daß das Zentralkomitee ihm befehlen wird, sich<br />

von den Matrosen zu trennen und sich in ihren Augen zu erledigen? Zu dem Bilde des<br />

Feldlager haltenden Putilowwerkes gesellt sich ein an<strong>der</strong>es, nicht weniger eindrucksvolles<br />

Bild <strong>der</strong> Matroseninsel, die in diesen schlaflosen Nachtstunden zur Hilfeleistung des<br />

Arbeiter- und Soldaten-Petrograd rüstet. Nein, die Lage ist zu klar. Für Schwankungen<br />

ist kein Raum mehr. Trotzki fragt zum letztenmal: vielleicht doch noch versuchen, <strong>der</strong><br />

Demonstration einen unbewaffneten Charakter zu verleihen? Nein, auch davon kann<br />

keine Rede sein. Eine Kolonne Junker würde zehntausende Unbewaffneter vor sich<br />

hertreiben wie eine Hammelherde. Die Soldaten und auch die Arbeiter würden einen<br />

solchen Vorschlag nüt Entrüstung aufnehmen wie eine Falle. Die Antwort ist kategorisch<br />

und überzeugend. Einmütig beschließen alle, die Massen morgen zur Fortsetzung <strong>der</strong><br />

Demonstration im Namen <strong>der</strong> Partei aufzurufen. Sinowjew befreit Raskolnikows Seele,<br />

<strong>der</strong> sich am Telephon abmartert. Es wird sogleich ein Aufruf an die Arbeiter und Soldaten<br />

verfaßt: Auf die Straße! Der Tagesaufruf des Zentralkomitees zum Abbruch <strong>der</strong><br />

Demonstration wird aus <strong>der</strong> Stereotypplatte herausgeschnitten; aber es ist bereits zu spät,<br />

ihn durch einen neuen Text zu ersetzen. Die weiße Seite <strong>der</strong> 'Prawda' wird morgen ein<br />

mör<strong>der</strong>isches Corpus delicti gegen die Bolschewiki werden: sie haben es wohl im letzten<br />

Moment mit <strong>der</strong> Angst gekriegt und den Aufruf zum Aufstands zurückgezogen; o<strong>der</strong><br />

vielleicht umgekehrt: haben auf den ursprünglichen Aufruf zur friedlichen Demonstration<br />

verzichtet, um die Sache zum Aufstand kommen zu lassen? Indes erschien <strong>der</strong> wahre<br />

Beschluß <strong>der</strong> Bolschewiki als Flugblatt. Es rief die Arbeiter und Soldaten auf, »ihren<br />

Willen durch eine friedliche und organisierte Demonstration den im Augenblick tagen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 323


den Exekutivkomitees kundzutun«. Nein, das ist kein Appell zum Aufstands!<br />

"Julitage": Kulminationspunkt und Zertrümmerung<br />

Die unmittelbare Leitung <strong>der</strong> Bewegung geht nunmehr endgültig in die Hände des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Parteikomitees über, dessen agitatorische Hauptkraft Wolodarski ist. Die<br />

Mobilisierung <strong>der</strong> Garnison obliegt <strong>der</strong> militärischen Organisation. An ihre Spitze waren<br />

bereits im März zwei alte Bolschewiki gestellt worden, denen die Organisation in ihrer<br />

weiteren Entwicklung vieles zu verdanken haben wird. Podwojski, eine grelle und eigenartige<br />

Figur in den Reihen des Bolschewismus, mit den Zügen des <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>ärs<br />

alten Typus vom Schlage ehemaliger Seminaristen, ein Mann von großer, wenn<br />

auch undisziplinierter Energie und schöpferischer Phantasie, die allerdings leicht auf<br />

Projektemacherei verfiel. Das Wort "Podwojskerei" erhielt später im Munde Lenins<br />

einen gutmütig-ironischen und warnenden Charakter. Doch sollten die schwachen Seiten<br />

dieser überschäumenden Natur sich hauptsächlich erst nach <strong>der</strong> Machteroberung zeigen,<br />

als <strong>der</strong> Reichtum an Möglichkeiten und Mitteln <strong>der</strong> verschwen<strong>der</strong>ischen Energie<br />

Podwojskis und seiner Leidenschaft für dekorative Unternehmungen allzu viele Antriebe<br />

bot. Unter den Bedingungen des revolutionären Machtkampfes war er durch seine<br />

optimistische Entschlossenheit, Selbstaufopferung, Unermüdlichkeit wie geschaffen zum<br />

unersetzbaren Führer <strong>der</strong> erwachenden Soldaten. Newski, früher Privatdozent, prosaischeren<br />

Schlages als Podwojski, <strong>der</strong> Partei jedoch nicht weniger ergeben als dieser,<br />

durchaus kein Organisator und nur dank einem unglücklichen Zufall ein Jahr später für<br />

kurze Zeit auf den Posten eines Sowjetverkehrsministers geraten, nahm die Soldaten<br />

durch Einfachheit, Umgänglichkeit und aufmerksame Weichheit ein. Um diese Fühhrer<br />

sammelte sich eine Gruppe engerer Mitarbeiter, Soldaten und junge Offiziere, von denen<br />

einigen bevorstand, später keine geringe Rolle zu spielen. In <strong>der</strong> Nacht zum 4. Juli rückt<br />

die Militärische Organisation jäh in den Vor<strong>der</strong>grund. Um Podwojski, <strong>der</strong> mühelos die<br />

Kommandofunktionen eroberte, entsteht ein improvisierter Stab. An alle Teile <strong>der</strong> Garnison<br />

werden kurze Aufrufe und Anrodnungeii verschickt. Um die Demonstranten gegen<br />

Überfälle zu schützen, wird befohlen, an Brücken, die von <strong>der</strong> Peripherie ins Zentrum<br />

führten, und an den Knotenpunkten <strong>der</strong> wichtigsten Verkehrsa<strong>der</strong>n Panzerwagen aufzustellen.<br />

Die Maschinengewehrschützen hatten schon in <strong>der</strong> Nacht bei <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung<br />

eine eigene Wache errichtet. Telephonisch sowie durch Boten werden die<br />

Garnisonen von Oranienbaum, Peterhof, Krassnoje Selo und an<strong>der</strong>en in <strong>der</strong> Umgebung<br />

<strong>der</strong> Hauptstadt liegenden Punkten von <strong>der</strong> morgigen Demonstration benachrichtigt. Die<br />

gesamte politische Leitung bleibt selbstverständlich in den Händen des Zentralkomitees.<br />

Die Maschinengewehrschützen kehrten erst gegen Morgen in ihre Baracken zurück,<br />

müde und trotz dem Juli fröstelnd. Der Nachtregen hat die Putilower bis auf den letzten<br />

Faden durchnäßt. Die Demonstranten versammeln sich erst gegen 11 Uhr vornüttags. Die<br />

Truppenteile rücken noch später aus. Das I. Maschinengewehrregiment ist auch heute<br />

vollzählig auf <strong>der</strong> Straße. Aber es spielt bereits nicht mehr die Rolle des Anstifters wie<br />

am Vorabend. In den Vor<strong>der</strong>grund sind die Betriebe gerückt. Der Bewegung haben sich<br />

auch jene Fabriken angeschlossen, die gestern abseits gestanden. Wo die Leitung<br />

schwankt o<strong>der</strong> sich wi<strong>der</strong>setzt, zwingt die Arbeiterjugend das wachdiensthabende<br />

Mitglied des Fabrikkomitees, zum Zeichen <strong>der</strong> Arbeitseinstellung die Fabriksirene<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 324


heulen zu lassen. Auf dem Baltischen Werk, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

überwogen, gingen von fünftausend Arbeitern viertausend auf die Straße. In <strong>der</strong> Schuhfabrik<br />

Skorochod, die lange als Feste <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre galt, hatte sich inzwischen<br />

ein so schroffer Stimmungsumschwung vollzogen, daß <strong>der</strong> alte Betriebsdeputierte, ein<br />

Sozialrevolutionär, einige Tage sich nicht zeigen durfte. Es streikten sämtliche Betriebe,<br />

Meetings fanden statt. Man wählte Demonstrationsführer und Delegierte zur Überreichung<br />

<strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen an das Exekutivkomitee. Wie<strong>der</strong> zogen Hun<strong>der</strong>ttausende strahlenförmig<br />

zum Taurischen Palais, und wie<strong>der</strong> bogen Aberzehntausende unterwegs zur<br />

Villa Kschessinskaja ab. Die heutige Bewegung ist imposanter und organisierter als die<br />

gestrige: man merkt die leitende Hand <strong>der</strong> Partei. Aber auch die Atmosphäre ist heute<br />

heißer: Soldaten und Arbeiter erstreben die Lösung <strong>der</strong> Krise. Die Regierung martert sich<br />

ab, denn heute, am zweiten Demonstrationstag, ist ihre Ohnmacht noch offensichtlicher<br />

als gestern. Das Exekutivkomitee wartet auf treue Truppen und erhält von überall<br />

Meldungen, gegen die Hauptstadt marschierten feindliche Teile. Aus Kronstadt, aus<br />

Nowyj Peterhof, aus Krassnoje Selo, aus dem Fort Krassnaja Gorka, aus <strong>der</strong> gesamten<br />

näheren Peripherie, zu Wasser und zu Lande bewegen sich Matrosen und Soldaten mit<br />

Musikorchester, Gewehren und, was das Schlimmste ist, mit bolschewistischen Plakaten.<br />

Einige Regimenter führen, ganz wie in den Februartagen, ihre Offiziere mit und tun so,<br />

als marschierten sie unter <strong>der</strong>en Kommando.<br />

»Die Regierungstagung war noch nicht beendet«, erzählt Miljukow, »als man aus dem<br />

Stab meldete, auf dem Newski gehe eine Schießerei vor sich. Es wurde beschlossen, die<br />

Tagung in den Stab zu verlegen. Dort befanden sich Fürst Lwow, Zeretelli, Justizminister<br />

Perewersew und zwei Gehilfen des Kriegsministers. Es war ein Moment, wo die Lage <strong>der</strong><br />

Regierung hoffnungslos schien. Die Preobraschensker, Semjonowsker und Ismajlowsker,<br />

die sich den Bolschewiki nicht angeschlossen hatten, erklärten auch <strong>der</strong> Regierung, sie<br />

würden "Neutralität" wahren. Auf dem Schloßplatz standen zur Verteidigung des Stabes<br />

nur Invaliden und einige Hun<strong>der</strong>tschaften Kosaken,« General Polowzew veröffentlichte<br />

am Morgen des 4. Juli eine Bekanntmachung über die bevorstehende Säuberung Petrograds<br />

von bewaffneten Haufen; die Bewohner wurden strengstens angehalten, die Tore<br />

zu schließen und nicht ohne dringende Notwendigkeit auf die Straße zu gehen. Der<br />

dräuende Befehl erwies sich als Blindgänzer. Der Kreiskommandierende <strong>der</strong> Truppen<br />

vermochte bloß, kreine Kosaken- und Junkerabteilungen gegen die Demonstranten zu<br />

werfen. Im Laufe des Tages riefen sie sinnlose Geplänkel und blutige Zusammenstoße<br />

hervor. Der Kornett des I. Don-Regiments, das das Winterpalais beschützte, berichtete<br />

<strong>der</strong> Untersuchungskommission: »Es war befohlen, vorbeikommende kleinere Menschengruppen,<br />

welcher Art immer, ebenso bewaffnete Automobile zu entwaffnen. In Ausführung<br />

dieses Befehls liefen wir von Zeit zu Zeit in Marschordnung vors Palais und<br />

nahmen Entwaffnungen vor ...« Die simple Darstellung des Kosakenfähnrichs schil<strong>der</strong>t<br />

fehlerlos sowohl das Kräfteverhältnis wie das Kampfbild. Die "meuternden" Truppen<br />

treten aus den Kasernen in Kompanien und Bataillonen heraus und beherrschen Straßen<br />

und Plätze. Die Regierungstruppen operieren aus dem Hinterhalt durch jähe Überfälle, in<br />

kleinen Abteilungen, das heißt gerade so, wie es sich für aufständische Partisanen<br />

geziemt. Der Rollenwechsel erklärt sich damit, daß fast die gesamte bewaffnete Macht<br />

<strong>der</strong> Regierung dieser feindlich, im günstigsten Falle neutral gegenübersteht. Die Regierung<br />

lebt von Gnaden des Exekutivkolnitees, das sich selbst nur hält durch die Hoffnung<br />

<strong>der</strong> Massen, es werde sich endlich besinnen und die Macht übernehmen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 325


Den höchsten Schwung verlieh <strong>der</strong> Demonstration das Erscheinen <strong>der</strong> Kronstädter<br />

Matrosen in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arena. Bereits am Vorabend hatten in <strong>der</strong> Garnison <strong>der</strong><br />

Seefestung Delegierte <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen gearbeitet. Für die lokalen Organisationen<br />

unerwartet, fand auf Initiative aus Petrograd eingetroffeiner Anarchisten auf<br />

dem Ankerplatz ein Meeting statt. Die Redner for<strong>der</strong>ten Hilfe für Petrograd. Roschal,<br />

Student <strong>der</strong> Medizin, einer <strong>der</strong> jungen Kronstädter Helden und Liebling des<br />

Ankerplatzes, versuchte mit einer mäßigenden Rede aufzutreten. Tausende Stimmen<br />

unterbrachen ihn. Roschal, an an<strong>der</strong>e Empfänge gewöhnt, mußte die Tribüne verlassen.<br />

Erst in <strong>der</strong> Nacht wurde bekannt, daß die Bolschewiki in Petrograd auf die Straße rufen.<br />

Das entschied die Frage. Die linken Sozialrevolutionäre in Kronstadt gab es und konnte<br />

es keine rechten geben - erklärten, auch sie seien entschlossen, an <strong>der</strong> Demonstration<br />

teilzunehmen. Diese Menschen gehörten <strong>der</strong> gleichen Partei wie Kerenski an, <strong>der</strong> zur<br />

gelben Zeit an <strong>der</strong> Front Truppen zur Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Demonstranten sammelte. Die<br />

Stimmung in <strong>der</strong> nächtlichen Sitzung <strong>der</strong> Kronstädter Organisationen ist <strong>der</strong>art, daß sogar<br />

<strong>der</strong> schüchterne Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Partschewski, für den Marsch<br />

auf Petrograd stimmt. Es wird ein Plan entworfen, die schwimmenden Hilfsmittel werden<br />

mobilisiert, für Bedürfnisse <strong>der</strong> politischen Landung aus dem Waffendepot fünfundsiebzig<br />

Pud Schießvorräte ausgegeben. Auf Schleppern und Passagierdampfern fahren<br />

annähernd zehntausend bewaffnete Matrosen, Soldaten und Arbeiter gegen 12 Uhr<br />

nachts in die Newamündung hinein. Auf beiden Flußufern landend, vereinigen sie sich<br />

zu einem Zuge und marschieren, Gewehre am Riemen, mit Musik. Hinter Matrosen- und<br />

Soldatenabteilungen Arbeiterkolonnen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und Wassiljiostrower Bezirke,<br />

abwechselnd mit Mannschaften <strong>der</strong> Roten Garde. An den Seiten Panzerwagen. Über den<br />

Häuptern zahllose Banner und Plakate.<br />

Zwei Schritt entfernt das Palais Kschessinskaja. Der kleine, schmächtige,<br />

pechschwarze Swerdlow, einer <strong>der</strong> Stammorganisatoren <strong>der</strong> Partei, in <strong>der</strong> Aprilkonferenz<br />

dem Zentralkomitee zugeteilt, stand auf dem Balkon und gab, sachlich wie immer, von<br />

oben mit mächtigem Baß Anweisungen: »Die Spitze des Zuges vorrücken, dichter zusammenschließen,<br />

die hinteren Reihen zusammenziehen.« Die Demonstranten begrüßte vom<br />

Balkon aus Lunatscharski, stets bereit, sich von <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Umgebung anstecken<br />

zu lassen, imponierend durch Aussehen und Organ, deklamatorisch beredsam, nicht sehr<br />

zuverlässig, aber häufig unersetzbar. Ihm wurde von unten stürmisch applaudiert. Aber<br />

die Demonstranten wünschten vor allem Lenin selbst zu hören - den man gerade an<br />

diesem Morgen aus seinem finnländischen Asyl herbeigerufen hatte -, und die Matrosen<br />

blieben so beharrlich bei ihrem Verlangen, daß Lenin, trotz einem Unwohlsein, sich dem<br />

nicht zu entziehen vermochte. Eine ungezügelte, rein kronstädtische Begeisterungswelle<br />

begrüßte das Erscheinen des Führers auf dem Balkon. Ungeduldig und wie stets halb<br />

verlegen die Begrüßung hinnehmend, begann Lenin, bevor noch die Stimmen verstummten.<br />

Seine Rede, die dann wochenlang von <strong>der</strong> feindlichen Presse in allen Tonarten<br />

zerzaust wurde, bestand aus einigen einfachen Sätzen: Begrüßung <strong>der</strong> Demonstranten;<br />

Worte <strong>der</strong> Gewißheit, daß die Parole »Alle Macht den Sowjets« schließlich siegen werde,<br />

Mahnung zu Ausdauer und Standhaftigkeit. Mit neuen Rufen formiert sich die Demonstration<br />

unter Orchesterklängen. Zwischen dieser festlichen Einleitung und <strong>der</strong> nächsten<br />

Etappe, wo Blut floß, keilt sich eine kuriose Episode ein. Die Führer <strong>der</strong> Kronstädter<br />

linken Sozialrevolutionäre entdeckten erst auf dem Marsfelde an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Demonstration<br />

ein Riesenplakat des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, das aufgetaucht war nach<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 326


dem Aufenthalt vor dem Hause Kschessinskaja; vor Parteieifersucht brennend, verlangten<br />

sie seine Entfernung. Die Bolschewiki weigerten sich. Darauf erklärten die Sozialrevolutionäre,<br />

dann gingen sie überhaupt weg. Von den Matrosen und Soldaten folgte<br />

jedoch niemand den Führern. Die gesamte Politik <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre bestand<br />

aus solchen launenhaften, bald komischen, bald tragischen Schwankungen.<br />

An <strong>der</strong> Ecke des Newski- und des Litejny-Prospektes wurde die Nachhut <strong>der</strong> Demonstration<br />

plötzlich beschossen, es gab einige Opfer. Eine erbitterte Beschießung folgte an<br />

<strong>der</strong> Ecke des Litejny-Prospektes und <strong>der</strong> Pantelejmonowskaja-Straße. Der Führer <strong>der</strong><br />

Kronstädter, Raskolnikow, erinnert sich, wie schwer die Demonstranten betroffen waren<br />

von <strong>der</strong> »Ungewißheit: wo ist <strong>der</strong> Feind? woher, von welcher Seite wird geschossen?«<br />

Die Matrosen griffen zu den Gewehren, es begann eine regellose Schießerei nach allen<br />

Richtungen, einige Mann wurden getötet, einige verwundet. Nur mit großer Mühe gelang<br />

es, so etwas wie Ordnung wie<strong>der</strong>herzustellen. Der Zug marschierte weiter unter Musikklängen,<br />

doch von <strong>der</strong> festlich gehobenen Stimmung war keine Spur mehr geblieben.<br />

Ȇberall schien <strong>der</strong> unsichtbare Feind zu lauern. Die Gewehre ruhten nicht mehr friedlich<br />

an <strong>der</strong> linken Schulter, son<strong>der</strong>n wurden in Bereitschaft gehalten.«<br />

Der blutigen Zusammenstöße gab es währvd des Tages in verschiedenen Stadtteilen<br />

nicht wenige. Ein gewisser Teil davon geht auf Konto von Mißverständnissen, Wirrwarr,<br />

abirrenden Kugeln und Panik. Solche tragischen Zufälle sind unvermeidliche Mehrausgaben<br />

einer <strong>Revolution</strong>, die selbst eine Mehrausgabe <strong>der</strong> historischen Entwicklung ist.<br />

Aber auch ein Element blutiger Provokation ist in den Juliereignissen ganz unbestreitbar,<br />

wurde in jenen Tagen festgestellt und später bestätigt. »... Als die demonstrierenden<br />

Soldaten«, erzählt Podwojski, »den Newski und die anliegenden, vorwiegend von<br />

Bourgeoisie bevölkerten Straßen passierten, tauchten unheilverkündende Anzeichen<br />

eines Zusammenstoßes auf, seltsame, unbekannt woher und von wem abgegebene<br />

Schüsse ... Durch die Kolonnen gings anfangs eine Verwirrung, dann eröffneten die<br />

wenigen Standhaften und Disziplinierten eine regellose Schießerei.« In den offiziellen<br />

'lswestja' beschrieb <strong>der</strong> Menschewiki Kantorowitsch die Beschießung einer Arbeiterkolonne<br />

mit folgenden Worten: »Auf <strong>der</strong> Sadowaja Straße marschierte eine sechzigtausendköpfige<br />

Menge Arbeiter verschiedener Betriebe. Während sie an <strong>der</strong> Kirche<br />

vorbeigingen, ertönte vom Glockenturm Geläut, und wie auf ein Signal hin begann von<br />

den Hausdächern eine Schießerei aus Gewehren und Maschinengewehren. Als die Arbeitermenge<br />

auf die an<strong>der</strong>e Straßenseite stürzte, ertönten auch von den Häusern <strong>der</strong> entgegengesetzten<br />

Seite Schüsse.« Von den Boden und Dächern aus, wo sich im Februar<br />

Protopopows "Pharaonen" mit Maschinengewehren eingenistet hatten, wirkten jetzt<br />

Mitglie<strong>der</strong> von Offiziersorganisationen. Durch Beschießung <strong>der</strong> Demonstranten suchten<br />

sie, nicht ohne Erfolg, Panik zu säen und Zusammenstöße zwischen den Truppenteilen<br />

hervorzurufen. Bei Durchsuchung <strong>der</strong> Häuser, aus denen geschossen worden war, fand<br />

man Maschinengewehrnester, mitunter auch die Schützen selbst.<br />

Hauptursache des Blutvergießens jedoch waren die Regierungsabteilungen, zwar<br />

ohnmächtig, mit <strong>der</strong> Bewegung fertigzuwerden, aber ausreichend für Provokation. Gegen<br />

8 Uhr abends, als die Demonstration in vollem Schwunge war, begaben sich zwei<br />

Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften mit leichtem Geschütz zur Verteidigung des Taurischen Palais.<br />

Unterwegs Verhandlungen mit den Demonstranten hartnäckig ablehnend, was an sich ein<br />

schlimmes Zeichen war, fingen die Kosaken, wo sie nur konnten, bewaffnete Automobile<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 327


ab und entwaffneten einzelne kleinere Gruppen. Kosakengeschütze in den von Arbeitern<br />

und Soldaten besetzten Straßen bedeuteten eine unerträgliche Herausfor<strong>der</strong>ung. Alles<br />

kündet Zusammenstöße an. An <strong>der</strong> Litejny-Brücke geraten die Kosaken auf kompakte<br />

Massen des Feindes, <strong>der</strong> hier Zeit gefunden hat, auf dem Wege zum Taurischen Palais<br />

einige Hin<strong>der</strong>nisse zu errichten. Eine Minute unheilvoller Stille, die durch Schüsse aus<br />

den Nachbarhäusern zerrissen wird. »Die Kosaken gehen mit Schnellfeuer vor«, schreibt<br />

<strong>der</strong> Arbeiter Metelew, »die Arbeiter und Soldaten, in Verstecken verstreut o<strong>der</strong> einfach<br />

unter Feuer auf dem Bürgersteig liegend, antworten mit gleichem.« Das Feuer <strong>der</strong> Soldaten<br />

zwingt die Kosaken zum Rückzug. Sie schlagen sich zum Newa-Kai durch und geben<br />

von dort aus Geschützen drei Salven ab die Kanonenschüsse sind ebenfalls von <strong>der</strong><br />

'Iswestja' registriert -, doch vom Gewehrfeuer erreicht, ziehen sie sich in Richtung des<br />

Taurischen Palais zurück. Eine ihnen entgegenkommende Arbeiterkolonne fügt den<br />

Kosaken den entscheidenden Schlag zu. Geschütze, Pferde und Gewehre preisgebend,<br />

verstecken sich die Kosaken in den Portalen <strong>der</strong> Bürgerhäuser und zerstreuen sich. Der<br />

Zusammenstoß auf dem Litejny, eine richtige kleine Schlacht, war die bedeutendste<br />

Kriegsepisode <strong>der</strong> Julitage, und seine Schil<strong>der</strong>ung geht durch die Erinnerungen vieler<br />

Demonstrationsteilnehmer. Burssin, ein Arbeiter <strong>der</strong> Erikson-Fabrik, <strong>der</strong> zusammen mit<br />

den Maschinengewehrschützen demonstrierte, erzählt, wie bei <strong>der</strong> Begegnung mit ihnen<br />

»die Kosaken sogleich Gewehrfeuer eröffneten. Viele Arbeiter blieben tot liegen. Auch<br />

mich durchbohrte eine Kugel, sie ging durch das eine Bein hindurch und blieb im<br />

an<strong>der</strong>en stecken ... Als lebendiges Andenken an die Julitage dienen mir mein steifes Bein<br />

und <strong>der</strong> Krückstock ... « Beim Zusammenstoß auf dem Litejny wurden sieben Kosaken<br />

getötet, Verletzungen und Konfusionen erlitten neunzehn. Bei den Demonstranten gab es<br />

sechs Tote und etwa zwanzig Verwundete. Hier und dort lagen Pferdeleichen umher.<br />

Wir besitzen ein interessantes Zeugnis aus dem gegnerischen Lager. Awerin, <strong>der</strong>selbe<br />

Kornett, <strong>der</strong> seit dem frühen Morgen Partisanenüberfälle auf die regulären Aufständischen<br />

unternahm, berichtet: »Gegen 8 Uhr abends erhielten wir den Befehl des Generals<br />

Polowzew, in Stärke von zwei Hun<strong>der</strong>tschaften mit zwei Schnellfeuergeschützen zum<br />

Taurischen Palais abzumarschieren ... Wir kamen an die Litejny-Brücke, wo ich bewaffnete<br />

Arbeiter, Soldaten und Matrosen erblickte ... mit meiner Spitzenabteilung ritt ich an<br />

sie heran und ersuchte sie, die Waffen abzugeben, doch wurde meine Bitte nicht erfüllt,<br />

und die ganze Bande flüchtete über die Brücke auf die Wyborger Seite. Bevor ich ihnen<br />

folgen konnte, drehte sich irgendein Soldat von kleinem Wuchs ohne Achselklappen nach<br />

mir um und schoß auf mich, verfehlte aber. Dieser Schuß wirkte wie ein Signal, von<br />

überall wurde auf uns ein regelloses Gewehrfeuer eröffnet. Aus <strong>der</strong> Menge ertönten<br />

Schreie: "Die Kosaken schießen." Tatsächlich war es auch so: die Kosaken stiegen von<br />

den Pferden und begannen zu schießen, es wurden sogar Versuche unternommen, aus<br />

den Geschützen zu feuern, doch die Soldaten eröffneten ein <strong>der</strong>artiges Trommelfeuer,<br />

daß die Kosaken gezwungen waren, sich zurückzuziehen; sie zerstreuten sich in <strong>der</strong><br />

Stadt.« Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ein Soldat auf den Kornett geschossen hat: ein<br />

Kosakenoffizier konnte eher eine Kugel als einen Gruß vou <strong>der</strong> Julimenge erwarten. Viel<br />

wahrscheinlicher jedoch sind die zahlreichen Zeugenaussagen, nach denen die ersten<br />

Schüsse nicht von <strong>der</strong> Straße, sondem aus dein Hinterhalt fielen. Ein einfacher Kosak aus<br />

<strong>der</strong>selben Hun<strong>der</strong>tschaft wie <strong>der</strong> Kornett sagte mit Bestimmtheit aus, daß die Kosaken<br />

von <strong>der</strong> Richtung des Kriegsgerichts her und dann aus an<strong>der</strong>en Häusern in <strong>der</strong> Samurskigasse<br />

und auf dem Litejny-Prospekt Feuer erhielten. Der Sowjetoffiziosus erwähnte, daß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 328


die Kosaken, bevor sie noch an <strong>der</strong> Litejny-Brücke anlangten, aus einem Steinhause mit<br />

Maschinengwehrfeuer beschossen wurden. Der Arbeiter Metelew behauptet, daß die<br />

Soldaten bei Durchsuchung dieses Hauses in <strong>der</strong> Wohnung eines Generals Vorräte an<br />

Schußwaffen, darunter zwei Maschinengewehre mit Munition, entdeckt hätten. Daran ist<br />

nichts Unwahrscheinliches. In den Händen des Kommandobestandes sammelte sich<br />

während des Krieges auf rechtmäßige und unrechtmäßige Weise eine Menge verschiedenster<br />

Waffen. Die Versuchung, ungestraft dieses ganze "Pack" von oben mit einem<br />

Bleiregen zu überschütten, war zu groß. Allerdings trafen die Schüsse die Kosaken.<br />

Doch in <strong>der</strong> Julimenge lebte die Überzeugung, die Konterrevolutionäre hätten absichtlich<br />

auf die Regierungstruppen geschossen, um diese zu einem erbarmungslosen Strafgericht<br />

zu provozieren. Die Offiziersklasse, die noch gestern uneingeschränkt geherrscht hat,<br />

kennt im Bürgerkrieg keine Grenze <strong>der</strong> Heimtücke und Grausamkeit. Petrograd<br />

wimmelte von geheimen und halbgeheimen Offiziersorganisationen, die hohe Gönnerschaft<br />

und freigebige Unterstützuni genossen. In einer Geheiminformation, die <strong>der</strong><br />

Menschewik Liber fast einen Monat vor den Julitagen erteilte, war erwähnt, daß<br />

Verschwörer-Offiziere einen beson<strong>der</strong>en Eingang zu Buchanan hatten. Konnten denn die<br />

Ententediplomaten etwa nicht besorgt sein um die schnellste Schaffung einer starken<br />

Macht?<br />

Liberale und Versöhnler suchten in allen Exzessen die Hand <strong>der</strong> "Anarcho-Bolschewiki"<br />

und <strong>der</strong> deutschen Agenten. Arbeiter und Soldaten schrieben in voller Überzeugung<br />

die Verantwortung für die Julizusammenstöße und -opfer den patriotischen Provokateuren<br />

zu. Auf wessen Seite ist die Wahrheit? Die Urteile <strong>der</strong> Masse sind natürlich nicht<br />

unfehlbar. Aber gröblichst irrt, wer glaubt, die Masse sei blind und leichtgläubig. Wo es<br />

sie am Nerv trifft, nimmt sie mit tausend Augen und Ohren Tatsachen und Vermutungen<br />

wahr, überprüft auf ihrem Rücken Gerüchte, wählt die einen aus, verwirft die an<strong>der</strong>en.<br />

Wo Versionen, die Massenbewegungen betreffen, auseinan<strong>der</strong>gehen, erweist sich als <strong>der</strong><br />

Wahrheit am nächsten jene, die die Masse selbst sich zu eigen gemacht hat. Deshalb sind<br />

für die Wissenschaft so unfruchtbar die internationalen Sykophanten vom Typus Hippolyte<br />

Taine, die beim Studium großer Volksbewegungen die Stimme <strong>der</strong> Straße ignorieren<br />

und sorgfältigst den leeren, aus Isoliertheit und Angst geborenen Salonklatsch<br />

auswählen.<br />

Demonstranten belagerten wie<strong>der</strong> das Taurische Palais und for<strong>der</strong>ten Antwort. Im<br />

Augenblick <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> Kronstädter ließ irgendeine Gruppe Tschernow zu ihnen<br />

herausrufen. Die Stimmung <strong>der</strong> Masse erfassend, hielt <strong>der</strong> redselige Minister diesmal nur<br />

eine kurze Ansprache, streifte die Regierungskrise und bemerkte über die aus <strong>der</strong> Regierung<br />

ausgetretenen Kadetten verächtlich: »Glückliche Reise!« Er wurde durch Zwischenrufe<br />

unterbrochen: »Warum habt ihr es nicht früher gesagt?« Miljukow erzählt sogar, es<br />

habe »ein großgewachsener Arbeiter mit <strong>der</strong> Faust dicht vor dem Gesicht des Ministers<br />

gefuchtelt und besessen geschrien: "Nimm, Hundesohn, die Macht, wenn man sie dir<br />

gibt."« Wenn dies auch nichts mehr als eine Anekdote ist, gibt sie doch mit rauher<br />

Schärfe das Wesen <strong>der</strong> Julisituation wie<strong>der</strong>. Die Antworten Tschemows bieten kein<br />

Interesse, jedenfalls haben sie ihm die Kronstädter Herzen nicht erobert ... Schon nach<br />

zwei, drei Minuten stürzte jemand in den Sitzungssaal des Exekutivkomitees hinein mit<br />

dem Geschrei, die Matrosen hätten Tschernow verhaftet und wollten mit ihm abrechnen.<br />

In unbeschreiblicher Erregung kommandierte das Exekutivkomitee einige seiner angese-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 329


henen Mitglie<strong>der</strong>, ausschließlich Internationalisten und Bolschewiki, dem Minister zu<br />

Hilfe. Tschernow gab später vor <strong>der</strong> Regieruligskommission an, daß er, beim Verlassen<br />

<strong>der</strong> Tribüne, hinter den Säulen am Eingang eine feindliche Bewegung einiger Personen<br />

wahrgenommen hätte. »Sie umringten mich und ließen mich nicht zur Türe ... Eine<br />

verdächtige Person, die über die Matrosen, die mich festhielten, das Kommando führte,<br />

zeigte fortwährend auf das in <strong>der</strong> Nähe stehende Automobil ... In diesem Augenblick kam<br />

aus dem Taurischen Palais Trotzki an das Automobil heran, bestieg den Vor<strong>der</strong>teil des<br />

Wagens, in dem ich mich befand, und hielt eine kurze Ansprache.« Indem er empfahl,<br />

Tscherrnow freizulassen, for<strong>der</strong>te Trotzki jene, die dagegen seien, auf, die Hand zu<br />

erheben. »Keine Hand erhob sich; nun ging die Gruppe, die mich zum Automobil begleitet<br />

hatte, mit unzufriedener Miene auseinan<strong>der</strong>. Trotzki sagte, glaube ich: "Bürger<br />

Tschernow, es hin<strong>der</strong>t Sie niemand, frei zurückzukehren" ... Das Gesamtbild hinterließ<br />

bei mir keinen Zweifel darüber, daß es sich hier um einen ohne Wissen <strong>der</strong> Gesamtmasse<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und Matrosen im voraus von Dunkelmännern angestifteten Versuch handelte,<br />

nach herauszurufen und zu verhaften.«<br />

Eine Woche vor seiner Verhaftung sagte Trotzki in einer vereinigten Sitzung <strong>der</strong><br />

Exekutivkomitees: »Diese Tatsachen werden in die <strong>Geschichte</strong> eingehen, und wir wollen<br />

versuchen, sie so festzuhalten, wie sie sich wirklich abgespielt haben ... Ich sah, daß am<br />

Eingang ein Häuflein Nichtsnutze stand. Ich sagte zu Lunatscharski und Rjasanow, daß<br />

dies Geheimpolizisten seien und daß sie versuchen, ins Taurische Palais einzudringen«<br />

(Lunatscharski vom Platze aus: »Richtig«). »... Ich könnte sie in einer zehntausendköpfigen<br />

Menge wie<strong>der</strong>erkennen.« In seinen Aussagen vom 4. Juli, bereits aus <strong>der</strong> Einzelzelle<br />

des Kresty-Gefängnisses, schrieb Trotzki: »... Ich hatte anfangs beschlossen, gemeinsam<br />

mit Tschernow und jenen, die ihn verhaften wollten, im Automobil aus <strong>der</strong> Menge<br />

hinauszufahren, um Konflikte und Panik zu vermeiden. Aber <strong>der</strong> an mich heranstürzende,<br />

sehr erregte Unterleutnant zur See, Raskolnikow, rief: "Das ist unmöglich ... Wenn Sie<br />

mit Tschernow abfahren, wird man morgen sagen, die Kronstädter hätten ihn verhaftet.<br />

Man muß Tschernow sofort befreien." Sobald <strong>der</strong> Hornist die Menge zur Ruhe gebracht<br />

und mir die Möglichkeit gegeben hatte, eine kurze Ansprache zu halten, die mit <strong>der</strong><br />

Frage schloß: "Wer ist hier für Gewalt, <strong>der</strong> erhebe die Hand?", bekam Tschernow sofort<br />

die Möglichkeit, unbehin<strong>der</strong>t ins Palais zurückzukehren.«<br />

Die Aussagen zweier Zeugen, die gleichzeitig die Hauptbeteiligten des Vorfalls waren,<br />

erschöpfen die faktische Seite <strong>der</strong> Sache. Das hat jedoch die den Bolschewiki feindliche<br />

Presse nicht im geringsten gehin<strong>der</strong>t, den Zwischenfall mit Tschernow und das "Attentat"<br />

auf die Freiheit Kerenskis hinzustellen als die überzeugendsten Beweise für die Organisierung<br />

des bewaffneten Aufstandes durch die Bolschewiki. Es mangelte, beson<strong>der</strong>s in<br />

<strong>der</strong> mündlichen Agitation, auch nicht an Hinweisen darauf, daß Tschernows Verhaftung<br />

Trotzki geleitet hätte. Diese Version drang sogar bis ins Taurische Palais. Tschernow<br />

selbst, <strong>der</strong> im geheimen Untersuchungsdokument die Umstände seiner halbstündigen<br />

Haft <strong>der</strong> Wahrheit recht nah geschil<strong>der</strong>t hatte, enthielt sich jedoch jeglicher öffentlicher<br />

Kundgebung über dieses Thema, um seine Partei nicht zu hin<strong>der</strong>n, Entrüstung gegen die<br />

Bolschewiki zu säen. Außerdem gehörte Tschernow zu <strong>der</strong> Regierung, die Trotzki ins<br />

Kresty-Gefängnis setzte. Die Versöhnler könnten sich allerdings darauf berufen, daß das<br />

Häuflein dunkler Verschwörer ein solch freches Unterfangen, wie die Verhaftung des<br />

Ministers am hellichten Tage aus <strong>der</strong> Menge heraus, nie gewagt haben würde, wenn es<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 330


nicht hätte hoffen können, daß ihm die Feindseligkeit <strong>der</strong> Massen gegen den "Leidtragenden"<br />

genügende Deckung bieten würde. So war es auch bis zu einem gewissen Grade. Im<br />

Umkreise des Automobils hatte niemand aus eigener Initiative versucht, Tschernow zu<br />

befreien. Hätte man zur Ergänzung irgendwo auch noch Kerenski verhaftet, we<strong>der</strong> die<br />

Arbeiter noch die Soldaten würden getrauert haben. In diesem Sinne war eine moralische<br />

Beteiligung <strong>der</strong> Massen an den tatsächlichen und angeblichen Attentaten auf die sozialistischen<br />

Minister vorhanden und bildete den Stützpunkt für die Anklagen gegen die<br />

Kronstädter. Doch dieses freimütige Argument auszusprechen, hin<strong>der</strong>te die Versöhnler<br />

die Sorge um die Reste ihres demokratischen Prestiges: während sie sich feindselig<br />

gegen die Demonstranten abgrenzten, fuhren sie dessenungeachtet fort, im belagerten<br />

Taurischen Palais das System <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets zu repräsentieren.<br />

Gegen 8 Uhr abends machte General Polowzew telephonisch dem Exekutivkomitee die<br />

hoffnungverheißende Mitteilung: zwei Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften seien mit Geschützen<br />

unterwegs zum Taurischen Palais. Endlich! Aber die Hoffnungen waren auch diesmal<br />

trügerisch. Das Hin und Her des Telephongeklingels verdichtete nur die Panik: die<br />

Kosaken waren spurlos verschwunden, gleichsam mitsamt den Pferden, Sätteln und<br />

Schnellfeuergeschützen verdampft. Miljukow schreibt, gegen Abend hätten sich die<br />

»ersten Folgen <strong>der</strong> Regierungsappelle an die Truppen« zu zeigen begonnen: so eilte das<br />

176. Regiment angeblich dem Taurischen Palais zu Hilfe. Dieser dem Anschein nach so<br />

präzise Hinweis ist sehr beachtenswert zur Charakteristik jener Quiproquo, die unvermeidlich<br />

in <strong>der</strong> ersten Periode des Bürgerkrieges entstehen, wenn die Lager sich erst zu<br />

scheiden beginnen. Vor dem Taurischen Palais war tatsächlich ein Regiment in<br />

Marschordnung angekommen: Tornister und zusammengerollte Mäntel auf dem Rücken,<br />

Feldflasche und Kochgeschirr an <strong>der</strong> Seite. Die Soldaten waren unterwegs durchnäßt<br />

worden und müde: sie kamen aus Krassnoje Selo. Das eben war das 176. Regiment. Aber<br />

es hatte gar nicht vor, die Regierung zu retten: Das zu den Interrayonisten in Beziehung<br />

stehende Regiment war unter Führung zweier Soldaten Bolschewiki, Lewinson und<br />

Medwedjew, ausmarschiert, um für die Macht <strong>der</strong> Sowjets einzutreten. Den Führern <strong>der</strong><br />

Exekutivkomitees, die wie auf Kohlen saßen, war sofort gemeldet worden, vor den<br />

Fenstern lagere sich zur verdienten Ruhe ein von weither in voller Marschordnung mit<br />

Offizieren eingetroffenes Regiment. Dan, <strong>der</strong> die Uniform eines Militärarztes trug,<br />

wandte sich an den Kommandeur mit <strong>der</strong> Bitte, Wachen zum Schutze des Palais zu<br />

stellen. Die Wachen wurden tatsächlich aufgestellt. Dan hat dies wohl mit Genugtuung<br />

dem Präsidium mitgeteilt, von wo aus <strong>der</strong> Vorfall in die Zeitungsberichte gelangte.<br />

Suchanow höhnt in seinen "Aufzeichnungen" über den Gehorsam, mit dem das bolschewistische<br />

Regiment <strong>der</strong> Or<strong>der</strong> des menschewistischen Führers Folge geleistet hätte: ein<br />

weiterer Beweis für die "Sinnlosigkeit" <strong>der</strong> Julidemonstration! In Wirklichkeit verhielt<br />

sich die Sache einfacher und zugleich komplizierter. Um Wachen ersucht, wandte sich<br />

<strong>der</strong> Regimentskommandeur an den diensthabenden Gehilfen des Kommandanten, den<br />

jungen Leutnant Prigorowski. Unglücklicherweise war Prigorowski Bolschewik,<br />

Mitglied <strong>der</strong> Interrayonisten-Organisation, und er suchte sofort Rat bei Trotzki, <strong>der</strong><br />

gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Bolschewiki einen Beobachtungsposten in einem<br />

<strong>der</strong> Seitenzimmer des Palais unterhielt. Prigorowski wurde selbstverständlich <strong>der</strong> Rat<br />

erteilt, unverzüglich überall Wachen aufzustellen: es ist ja viel vorteilhafter, an den<br />

Eingängen und Ausgängen Freunde zu haben als Feinde. So beschützte das 176.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 331


Regiment, das gegen die Macht zu demonstrieren gekommen war, diese Macht gegen die<br />

Denionstranten. Würde es sich tatsächlich um einen Aufstand gehandelt haben, Leutnant<br />

Prigorowski hätte mühelos mit vier Soldaten im Rücken das gesamte Exekutivkomitee<br />

verhaften können. Doch dachte niemand an Verhaftung, die Soldaten des bolschewistischen<br />

Regiments erfüllten gewissenhaft ihren Wachdienst.<br />

Nachdem die Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften, das einzige Hin<strong>der</strong>nis auf dem Wege zum<br />

Taurischen Palais, hinweggefegt waren, schien vielen Demonstranten <strong>der</strong> Sieg gesichert.<br />

In Wirklichkeit saß das Haupthindemis im Taurischen Palais selbst. In <strong>der</strong> vereinigten<br />

Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees, die um 6 Uhr abends begann, waren neunzig Vertreter<br />

von vierundfünfzig Fabriken und Werkstätten anwesend. Die fünf Redner, die nach<br />

Übereinkunft das Wort erhielten, begannen mit einem Protest dagegen, daß die Demonstranten<br />

in den Aufrufen des Exekutivkomitees als Konterrevolutionäre gebrandmarkt<br />

werden. »lhr seht, was auf den Plakaten geschrieben steht«, sagte einer. »Das sind die<br />

von den Arbeitern angenommenen Beschlüsse ... Wir for<strong>der</strong>n das Abtreten <strong>der</strong> zehn<br />

Minister-Kapitalisten. Wir vertrauen dem Sowjet, aber nicht jenen, denen <strong>der</strong> Sowjet<br />

vertraut ... Wir for<strong>der</strong>n, daß unverzüglich <strong>der</strong> Grund und Boden beschlagnahmt undunverzüglich<br />

die Produktionskontrolle eingeführt wird, wir for<strong>der</strong>n den Kampf gegen den<br />

uns bedrohenden Hunger ...« Ein an<strong>der</strong>er ergänzte: »Ihr seht hier nicht eine Meuterei,<br />

son<strong>der</strong>n eine durchaus organisierte Aktion. Wir for<strong>der</strong>n den Übergang des Bodens an<br />

die Bauern. Wir for<strong>der</strong>n die Aufhebung <strong>der</strong> gegen die revolutionäre Armee gerichteten<br />

Befehle ... jetzt, wo die Kadetten abgelehnt haben, mit euch zu arbeiten, fragen wir euch,<br />

mit wem werdet ihr noch paktieren? Wir for<strong>der</strong>n, daß die Macht in die Hände <strong>der</strong><br />

Sowjets übergeht.« Die propagandistischen Parolen <strong>der</strong> Demonstration vom 18. Juni<br />

waren nunmehr ein bewaffnetes Ultimatum <strong>der</strong> Massen geworden. Die Versöhnler aber<br />

waren bereits mit zu schweren Ketten an den Wagen <strong>der</strong> Besitzenden geschmiedet. Die<br />

Macht <strong>der</strong> Sowjets? Aber das bedeutet ja vor allem kühne Friedenspolitik, Bruch mit den<br />

Verbündeten, Bruch mit <strong>der</strong> eigenen Bourgeoisie, völlige Isolierung, Untergang nach<br />

wenigen Wochen., Nein, die pflichtbewußte Demokratie wird den Weg <strong>der</strong> Abenteuer<br />

nicht betreten! »Die gegenwärtigen Verhältnisse«, sagte Zeretelli, »machen es in <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Atmosphäre unmöglich, irgendwelche neuen Beschlüsse durchzuführen.« Es<br />

gäbe deshalb nur einen Ausweg: »Die Regierung in <strong>der</strong> Zusammensetzung, in <strong>der</strong> sie<br />

geblieben ist, anzuerkennen ... Einen außerordentlichen Sowjetkongreß in zwei Wochen<br />

anzuberaumen .. . an einem Ort, wo er ungehin<strong>der</strong>t arbeiten könnte, am besten in<br />

Moskau.«<br />

Doch <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Verhandlungen wird dauernd unterbrochen. An die Pforte des<br />

Taurischen Palais klopfen die Putilower: sie sind erst gegen Abend angelangt, müde,<br />

gereizt, in äußerster Erregung. »Zeretelli, her mit Zeretelli!« Die dreißigtausendköpfige<br />

Menge schickt ihre Vertreter ins Palais, einer ruft ihnen nach: kommt Zeretelli nicht<br />

freiwillig, wird man ihn mit Gewalt herausholen müssen. Von <strong>der</strong> Drohung zur Tat ist es<br />

noch weit, doch nimmt die Sache immerhin eine zu scharfe Wendung, und die Bolschewiki<br />

beeilen sich, anzugreifen. Sinowjew erzählte später: »Unsere Genossen schlugen<br />

mir vor, zu den Putilowern hinauszugehen ... Ein Meer von Köpfen, wie ich es noch nie<br />

gesehen hatte. Einige zehntausend Menschen drängten sich aneinan<strong>der</strong>. Schreie<br />

"Zeretelli" dauerten an ... Ich begann: "Für Zeretelli bin ich zu euch gekommen ..."<br />

Lachen. Das brachte die Stimmung zum Wenden. Ich konnte eine ziemlich große Rede<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 332


halten. Zum Schluß for<strong>der</strong>te ich auch dieses Auditorium auf, unverzüglich unter<br />

Wahrung völliger Ordnung friedlich auseinan<strong>der</strong>zugehen und sich unter keinen Umständen<br />

zu irgendwelchen aggressiven Handlungen provozieren zu lassen. Die Versammelten<br />

klatschten stürmisch Beifall, stellen sich in Reihen auf und beginnen abzumarschieren.«<br />

Diese Episode wi<strong>der</strong>spiegelt am besten sowohl die Schärfe <strong>der</strong> Unzufriedenheit <strong>der</strong><br />

Massen, wie das Fehlen eines Offensivplanes bei ihnen, wie auch die wirkliche Rolle <strong>der</strong><br />

Partei in den Juliereignissen.<br />

Während Sinowjew sich mit den Putilowern auf <strong>der</strong> Straße auseinan<strong>der</strong>setzte, stürmte<br />

eine zahlreiche Gruppe Putilow-Delegierter, etliche mit Gewehren, in den Sitzungssaal.<br />

Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutivkomitees springen von den Plätzen auf. »Manche offenbaren<br />

nicht genügend Mut und Selbstbeherrschung«, schreibt Suchanow, <strong>der</strong> eine grelle Schil<strong>der</strong>ung<br />

dieses dramatischen Moments hinterlassen hat. Einer <strong>der</strong> Arbeiter, »ein klassischer<br />

Sansculotte, in Mütze und kurzer blauer Bluse ohne Gürtel, die Flinte in <strong>der</strong><br />

Hand«, springt bebend vor Erregung und Zorn auf die Rednertribüne ... »Genossen!<br />

Sollen wir Arbeiter noch lange den Verrat über uns ergehen lassen? Ihr trefft Abmachungen<br />

mit <strong>der</strong> Bourgeoisie und den Gutsbesitzern ... Wir sind hier dreißigtausend Putilower<br />

Arbeiter ... Wir werden unseren Willen durchsetzen!« Tschcheidse, vor dessen Nase das<br />

Gewehr tanzt, bewahrt Haltung. Sich gefaßt von seinem Platze aus vorbeugend, steckte<br />

er in die bebende Hand des Arbeiters einen gedruckten Aufruf: »Hier, Genosse, bitte,<br />

nehmen Sie, und lesen Sie. Da ist gesagt, was die Putilower Genossen zu tun haben ... «<br />

In dem Aufruf war nichts an<strong>der</strong>es gesagt, als daß die Demonstranten sich heimzubegeben<br />

hätten, an<strong>der</strong>nfalls wären sie Verräter an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Was blieb den Menschewiki<br />

auch an<strong>der</strong>es zu sagen übrig?<br />

In <strong>der</strong> Agitation vor den Mauern des Taurischen Palais, wie überhaupt in dem Agitationswirbel<br />

jener Periode, nahm einen großen Platz Sinowjew ein, ein Redner von ausnehmen<strong>der</strong><br />

Stärke. Seine hohe Tenorstimme verblüffte im ersten Moment, bestach dann<br />

durch ihre eigenartige Musik. Sinowjew war geborener Agitator. Er war fähig, sich von<br />

<strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Massen anstecken zu lassen, ihre Wallungen mitzuerleben und für ihre<br />

Gefühle und Gedanken vielleicht einen etwas verschwommenen, aber hinreißenden<br />

Ausdruck zu finden. Die Gegner nannten Sinowjew den größten Demagogen unter den<br />

Bolschewiki. Das war <strong>der</strong> Tribut, den sie gewöhnlich seinem stärksten Zuge zollten, das<br />

heißt seiner Fähigkeit, in die Seele des Demos einzudringen und auf <strong>der</strong>en Saiten zu<br />

spielen, Es läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß Sinowjew, <strong>der</strong> nur Agitator und kein<br />

Theoretiker, kein revolutionärer Stratege war, hielt ihn äußere Disziplin nicht zurück,<br />

leicht auf den Weg <strong>der</strong> Demagogie hinabglitt, aber dann nicht im spießbürgerlichen,<br />

son<strong>der</strong>n im wissenschaftlichen Sinne dieses Wortes, das heißt er neigte dazu, dauernde<br />

Interessen im Namen von Augenblickserfolgen preiszugeben. Sinowjews agitatorische<br />

Feinfühligkeit machte ihn zu einem äußerst wertvollen Berater, wo es um konjunkturmäßige<br />

politische Bewertungen, aber nicht um Tieferes ging. In Parteiversammlungen<br />

konnte er überzeugen, gewinnen, bezaubern, kam er mit einer fertigen politischen, in<br />

Massenmeetings überprüften, gleichsam von Hoffnungen und Haß <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Soldaten gesättigten Idee. An<strong>der</strong>erseits besaß Sinowjew die Fähigkeit, in feindlicher<br />

Versammlung, sogar im damaligen Exekutivkomitee, dem extremsten und aufwühlendsten<br />

Gedanken nebelhafte, einschmeichelnde Form zu verleihen und in die Köpfe jener<br />

einzudringen, die ihm mit vorgefaßtem Mißtrauen begegneten. Um solche unschätzbare<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 333


Resultate zu erzielen, genügte ihm das bloße Bewußtsein seines Rechtesnicht: er<br />

brauchte die beruhigende Gewißheit, daß die politische Verantwortung durch eine<br />

sichere und feste Hand von ihm genommen war. Diese Gewißheit pflegte ihm Lenin zu<br />

geben. Mit einer fertigen strategischen Formel bewaffnet, die den Kern <strong>der</strong> Frage<br />

aufdeckte, füllte sie Sinowjew treffend und feinfühlig mit frischen, eben erst auf <strong>der</strong><br />

Straße, in <strong>der</strong> Fabrik o<strong>der</strong> Kaserne aufgegriffenen Rufen, Protesten, For<strong>der</strong>ungen. In<br />

solchen Momenten war er ein idealer Verniittlungsmechanismus zwischen Lenin und <strong>der</strong><br />

Masse, teils auch zwischen <strong>der</strong> Masse und Lenin. Seinein Lehrer folgte Sinowjew immer,<br />

mit Ausnahme weniger Fälle; doch die Stunde <strong>der</strong> Meinungsverschiedenheiten pflegte<br />

gerade dann einzutreten, wenn sich das Schicksal <strong>der</strong> Partei, <strong>der</strong> Klasse, des Landes<br />

entschied. Dem Agitator <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> fehlte revolutionärer Charakter. Sofern es um<br />

die Gewinnung von Köpfen und Seelen ging, blieb Sinowjew unermüdlicher Kämpfer.<br />

Doch verlor er sofort die Kampfsicherheit, war er von Angesicht zu Angesicht vor die<br />

Notwendigkeit einer Tat gestellt. Da prallte er vor <strong>der</strong> Masse zurück, wie auch vor Lenin,<br />

reagierte nur auf die Stimme <strong>der</strong> Unentschlossenheit, griff Zweifel auf, sah nur Hin<strong>der</strong>nisse,<br />

und seine einschmeichelnde, fast weibliche Stimme verlor die Überzeugungskraft<br />

und verriet innere Schwäche. Vor den Mauern des Taurischen Palais in den Julitagen war<br />

Sinowjew äußerst aktiv, findig und stark. Er steigerte bis zu den höchsten Noten die<br />

Erregung <strong>der</strong> Massen, - nicht um zu entscheidenden Taten aufzurufen, son<strong>der</strong>n im<br />

Gegenteil, um davon abzuhalten. Das entsprach dem Augenblick und <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong><br />

Partei. Sinowjew war da völlig in seinem Element.<br />

Die Schlacht auf dem Litejny brachte in die Entwicklung <strong>der</strong> Demonstration einen<br />

schroffen Umschwung. Niemand betrachtete mehr von Fenstern und Balkonen aus den<br />

Zug. Das soli<strong>der</strong>e Publikum verließ, die Bahnhöfe belagernd, die Stadt. Der Straßenkampf<br />

verwandelte sich in vereinzelte Zusammenstöße ohne bestimmte Ziele. In den<br />

Nachtstunden gab es Handgemenge zwischen Demonstranten und Patrioten, regellose<br />

Entwaffnungen, Wan<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gewehre von Hand zu Hand. Gruppen von Soldaten außer<br />

Ordnung geratener Regimenter gingen getrennt vor. »Dunkle Elemente und Provokateure<br />

machten sich an sie heran und ermunterten sie zu anarchischen Taten«, fügt Podwojski<br />

hinzu. Auf <strong>der</strong> Suche nach den Schuldigen <strong>der</strong> Schießerei aus den Häusern nahmen<br />

Matrosen- und Soldatengruppen allgemeine Haussuchungen vor. Unter dem Vorwand<br />

von Haussuchungen brachen hie und da Plün<strong>der</strong>ungen aus. An<strong>der</strong>erseits begannen auch<br />

Pogromhandlungen. Krämer stürzten sich in jenen Stadtteilen, wo sie sich sicher fühlten,<br />

wutentbrannt auf Arbeiter und verprügelten sie erbarmungslos. »Unter Rufen: "Schlag<br />

die Juden und die Bolschewiki! Ins Wasser nüt ihnen!"«, erzählt Afanassjew, ein Arbeiter<br />

<strong>der</strong> Fabrik Nowi Lessner, »stürzte sich auf uns eine Menge und verprügelte uns<br />

gehörig.« Eines <strong>der</strong> Opfer starb im Krankenhaus, den verprügelten und blutenden<br />

Afanassjew selbst zogen Matrosen aus dem Jekaterininski-Kanal heraus ...<br />

Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines<br />

praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

beschloß, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch <strong>der</strong> Demonstration aufzurufen.<br />

jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf fast keinen<br />

Wi<strong>der</strong>stand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück<br />

und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wie<strong>der</strong> aufzunehmen. Sie<br />

fühlten nun, daß es sich mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 334


gedacht.<br />

Die Belagerung des Taurischen Palais war endgültig aufgehoben, die anliegenden<br />

Straßen waren leer. Aber das Wachen <strong>der</strong> Exekutivkomitees dauerte an, mit Pausen,<br />

schleppenden Reden, ohne Sinn und Zweck. Erst später stellte sich heraus, daß die<br />

Versöhnler auf etwas warteten. In den Nebenräumen plagten sich noch immer Delegierte<br />

von Fabriken und Regimentem ab. »Es war schon lange nach Mittemacht«, erzählt<br />

Metelew, »und wir alle warteten noch immer auf "Beschlüsse" ... Gequält von Müdigkeit<br />

und Hunger wan<strong>der</strong>ten wir durch den Alexandrowski-Saal ... Um 4 Uhr morgens zum 5.<br />

Juli wird unserem Warten ein Ende bereitet ... Durch die geöffneten Tore <strong>der</strong> Haupteinfahrt<br />

des Palais stürzen unter Gepolter bewaffnete Offiziere und Soldaten.« Das ganze<br />

Gebäude erdröhnt von blechernen Tönen <strong>der</strong> Marseillaise. Das Stampfen <strong>der</strong> Füße und<br />

<strong>der</strong> Lärm <strong>der</strong> Instrumente in dieser frühen Dämmerstunde rufen im Saal außerordentliche<br />

Erregung hervor. Die Deputierten springen von ihren Plätzen auf Neue Gefahr? Aber auf<br />

<strong>der</strong> Tribüne ist Dan ... »Genossen«, verkündet er, »beruhigt euch! Keine Gefahr! Es sind<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> treue Regimenter angekommen.« Ja, es sind endlich die lang erwarteten<br />

treuen Truppen eingetroffen. Sie besetzen die Durchgänge, fallen wütend über die<br />

wenigen im Palais noch verbliebenen Arbeiter her, nehmen die Waffen denen weg, die<br />

noch welche haben, verhaften, führen ab. Die Tribüne besteigt Leutnant Kutschin, ein<br />

angesehener Menschewik, in Felduniform. Der Vorsitzende Dan umarmt ihn unter<br />

Siegesklängen des Orchesters. Japsend vor Begeisterung und die Linken mit triumphierenden<br />

Blicken in Staub verwandelnd, fassen die Versöhnler einan<strong>der</strong> bei den Händen,<br />

öffnen weit die Mün<strong>der</strong> und ergießen ihren Enthusiasmus in die Klänge <strong>der</strong> Marseillaise.<br />

»Eine klassische Szene des Beginns <strong>der</strong> Konterrevolution«, wirft zornig Martow hin, <strong>der</strong><br />

vieles zu beobachten und zu durchschauen wußte. Der politische Sinn <strong>der</strong> Szene, die<br />

Suchanow festgehalten hat, wird noch bedeutsamer, erinnert man daran, daß Martow <strong>der</strong><br />

gleichen Partei angehörte wie Dan, für den diese Szene <strong>der</strong> höchste Triumph <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

war.<br />

Erst jetzt, die sprudelnde Freude <strong>der</strong> Mehrheit beobachtend, begann <strong>der</strong> linke Flügel<br />

richtig zu erfassen, wie isoliert das oberste Organ <strong>der</strong> offiziellen Demokratie gewesen,<br />

als die wahre Demokratie auf die Straße hinausging. Im Laufe von sechsunddreißig<br />

Stunden verschwanden diese Menschen einer nach dem an<strong>der</strong>en hinter die Kulissen, um<br />

sich von <strong>der</strong> Telephonzelle aus mit dem Stab, mit Kerenski an <strong>der</strong> Front, in Verbindung<br />

zu setzen, Truppen anzufor<strong>der</strong>n, Hilfe zu rufen, zu überreden, zu flehen, wie<strong>der</strong> und<br />

wie<strong>der</strong> Agitatoren zu entsenden und wie<strong>der</strong> zu warten. Die Gefahr war vorüber, doch <strong>der</strong><br />

Bann <strong>der</strong> Angst geblieben. Und das Stampfen <strong>der</strong> "Treuen" um 5 Uhr morgens klang in<br />

ihren Ohren wie eine Befreiungssymphonie. Von <strong>der</strong> Tribüne ertönten endlich offenherzige<br />

Reden über die glücklich unterdrückte bewaffnete Meuterei und die Notwendigkeit,<br />

diesmal mit den Bolschewiki endgültig abzurechnen. Die Abteilung, die in das Taurische<br />

Palais einmarschierte, war nicht von <strong>der</strong> Front gekommen, wie es vielen in <strong>der</strong> Hitze<br />

schien: sie war aus <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison, hauptsächlich aus den drei rückständigsten<br />

Gardebataillonen, <strong>der</strong> Preobraschenski-, Semjonowski- und Ismajlowski-Regimenter,<br />

ausgeson<strong>der</strong>t worden. Am 3. Juli hatten sie sich für neutral erklärt. Vergebens hatte man<br />

versucht, sie mit <strong>der</strong> Autorität. <strong>der</strong> Regierung und des Exekutivkomitees einzufangen: die<br />

Soldaten saßen düster in den Kasemen, warteten. Erst in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 4. Juli<br />

entdeckten die Vorgesetzten ein stark wirkendes Mittel: man zeigte den Preobraschens-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 335


kern Dokumente, die klar wie zwei mal zwei nachwiesen, daß Lenin - ein deutscher<br />

Spion sei. Das wirkte. Die Kunde lief durch die Regimenter. Offiziere, Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Regimentskomitees, Agitatoren des Exekutivkomitees arbeiteten mit Volldampf. In <strong>der</strong><br />

Stimmung <strong>der</strong> neutralen Bataillone vollzog sich ein Umschwung. Gegen Morgengrauen,<br />

als man ihrer bereits nicht mehr bedurfte, gelang es, sie zu versammeln und durch die<br />

menschenleeren Straßen zum vereinsamten Taurischen Palais zu fuhren. Die Marseillaise<br />

spielte das Orchester des Ismajlowski-Regiments, desselben Regiments, dem als einem<br />

<strong>der</strong> reaktionärsten am 3. Dezember 1905 die Aufgabe übertragen worden war, den ersten<br />

Petrogra<strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten, <strong>der</strong> unter Trotzkis Vorsitz tagte, zu<br />

verhaften. Der blinde Regisseur historischer Inszenierungen erreicht auf Schritt und Tritt<br />

verblüffende Theatereffekte, ohne sie auch nur im geringsten zu suchen: er lockert<br />

einfach <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge die Zügel.<br />

Nachdem die Straßen sich von den Massen geleert hatten, reckte die junge <strong>Revolution</strong>sregierung<br />

ihre podagrischen Glie<strong>der</strong>: Arbeitervertreter wurden verhaftet, Waffen<br />

beschlagnahmt, ein Stadtteil nach dem an<strong>der</strong>en zerniert. Gegen 6 Uhr morgens hielt vor<br />

dem Redaktionsgebäude <strong>der</strong> 'Prawda' ein Automobil, beladen mit Junkern und Soldaten<br />

mit Maschinengewehr, das man sogleich in einem Fenster aufstellte. Nach dem Abzug<br />

<strong>der</strong> ungebetenen Gäste bot die Redaktion ein Bild <strong>der</strong> Verwüstutig dar: aufgebrochene<br />

Schubladen, mit zerfetzten Manuskripten bedeckter Fußboden, abgerissene Telephone.<br />

Die Diensthabenden und die Redaktions- und Büroangestellten hatte man verprügelt und<br />

verhaftet. Noch schlimmer war die Verwüstung in <strong>der</strong> Druckerei, für die die Arbeiter<br />

während <strong>der</strong> letzten drei Monate Geld gesammelt hatten: die Rotationsmaschinen<br />

demoliert, die Monotyps zerstört, die Setzmaschinen zertrümmert. Zu Unrecht hatten die<br />

Bolschewiki die Kerenski-Regierung des Mangels an Energie beschuldigt!<br />

»Die Straßen sahen, allgemein gesprochen, wie<strong>der</strong> normal aus«, schreibt Suchanow.<br />

»Zusammenrottungen und Straßenmeetings gab es fast nicht. Die Geschäfte waren<br />

beinah alle geöffnet.« Seit dem Morgen wird ein bolschewistischer Aufruf zum Abbruch<br />

<strong>der</strong> Demonstration verbreitet, das letzte Produkt <strong>der</strong> vernichteten Druckerei. Kosaken<br />

und Junker verhaften in den Straßen Matrosen, Soldaten und Arbeiter und schicken sie in<br />

Gefängnisse und Hauptwachen. In den Läden und auf den Bürgersteigen spricht man<br />

vom deutschen Geld. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> ein Wort zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki sagt, wird verhaftet.<br />

»Man darf schon nicht mehr erklären, daß Lenin ein ehrlicher Mann ist: man wird ins<br />

Kommissariat abgeführt.« Suchanow tritt, wie stets, als aufmerksamer Beobachter dessen<br />

auf, was in den Straßen <strong>der</strong> Bourgeoisie, <strong>der</strong> Intelligenz und des Kleinbürgertums sich<br />

abspielt. An<strong>der</strong>s aber sehen die Arbeiterviertel aus. Fabriken und Werkstätten arbeiten<br />

noch nicht. Die Stimmung ist gespannt. Es kursieren Gerüchte, von <strong>der</strong> Front seien<br />

Truppen angekommen. Die Straßen des Wyborger Bezirks sind von Truppen belagert,<br />

die darüber diskutieren, was im Falle eines Überfalls zu geschehen habe. »Rotgardisten<br />

und überhaupt Fabrikjugend«, erzählt Metelew, »bereiten sich darauf vor, in die Peter-<br />

Paul-Festung zur Unterstützung <strong>der</strong> dort belagerten Abteilungen einzudringen.<br />

Handgranaten in Taschen, Stiefeln, unter den Blusen verborgen, begeben sie sich in<br />

Booten, häufiger über die Brücken auf das an<strong>der</strong>e Ufer.« Der Setzer Smirnow aus dem<br />

Kolomenski-Viertel erinnert sich: »Ich sah, wie auf <strong>der</strong> Newa Schlepper mit Gardemarine<br />

aus Du<strong>der</strong>hof und Oranienbaum ankamen. Gegen 2 Uhr begann sich die Lage in<br />

schlimmer Richtung zu klären ... Ich sah, wie Matrosen einzeln durch Hintergassen nach<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 336


Kronstadt zurückkehrten ... Man verbreitete die Version, alle Bolschewiki seien deutsche<br />

Spione. Eine nie<strong>der</strong>trächtige Hetze setzte ein ...« Geschichtschreiber Miljukow resümiert<br />

mit Befriedigung: »Stimmung und Zusammensetzung des Publikums auf den Straßen<br />

hatten sich völlig verän<strong>der</strong>t. Gegen Abend war Petrograd völlig ruhig.«<br />

Solange die Truppen von <strong>der</strong> Front noch nicht eingetroffen waren, fuhr <strong>der</strong> Kreisstab<br />

unter politischer Mitwirkung <strong>der</strong> Versöhnler fort, seine Absichten zu verschleiem. Am<br />

Tage bemühten sich Mitglie<strong>der</strong> des Exekutivkomitees mit Liber an <strong>der</strong> Spitze ins Palais<br />

Kschessinskaja zur Beratung mit den bolschewistischen Führern: schon dieser Besuch<br />

allein sollte friedlichste Gefühle bezeugen. Das getroffene Übereinkommen verpflichtete<br />

die Bolschewiki, die Matrosen nach Kronstadt zurückzuführen, die Maschinengewehrkompanie<br />

aus <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung herauszubringen, die Panzerautos und Wachen von<br />

ihren Posten zu entfernen. Die Regierung ihrerseits versprach, keinerlei Pogrome, und<br />

Repressalien gegen die Bolschewiki zu dulden und alle Verhafteten mit Ausnahme <strong>der</strong><br />

wegen krimineller Vergehen festgenommenen freizulassen. Doch das Übereinkomnien<br />

währte nicht lange. Je mehr die Gerüchte über das deutsche Geld und die von <strong>der</strong> Front<br />

sich nähernden Truppen um sich griffen, um so mehr Truppenteile und -teilchen <strong>der</strong><br />

Garnison entsannen sich ihrer Treue zu Demokratie und Kerenski. Sie schickten<br />

Delegierte ins Taurische Palais o<strong>der</strong> in den Kreisstab. Endlich begannen wirklich Staffeln<br />

von <strong>der</strong> Front einzutreffen. Die Stimmung in den Versöhnlersphären wurde von Stunde<br />

zu Stunde rasen<strong>der</strong>. Die von <strong>der</strong> Front ankommenden Truppen waren darauf gefaßt, die<br />

Hauptstadt in blutigem Kampfe den Agenten des Kaisers entreißen zu müssen. Nun, da<br />

es sich herausstellte, daß an Truppen kein Bedürfnis bestand, mußte man <strong>der</strong>en Anfor<strong>der</strong>ung<br />

rechtfertigen. Um nicht selbst in Verdacht zu geraten, waren die Versöhnler aus<br />

allen Kräften beniüht, den Kommandeuren zu beweisen, daß Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

mit ihnen zum gleichen Lager gehörten und die Bolschewiki <strong>der</strong> gemeinsame<br />

Feind seien. Als Kamenjew den Versuch machte, die Mitglie<strong>der</strong> des Präsidiums des<br />

Exekutivkomitees an das vor wenigen Stunden getroffene Abkommen zu erinnern,<br />

antwortete Liber im Tone eines eisernen Staatsmannes: »Jetzt hat sich das Kräfteverhältnis<br />

geän<strong>der</strong>t.« Aus den populären Reden Lassalles wußte Liber, daß die Kanone ein<br />

wichtiger Bestandteil einer Konstitution ist. Eine Delegation Kronstädter mit Raskolnikow<br />

an <strong>der</strong> Spitze wurde wie<strong>der</strong>holt vor die Militärische Kommission des Exekutivkomitees<br />

geladen, wo die For<strong>der</strong>ungen, von Stunde zu Stunde sich steigernd, in einem<br />

Ultimatum Libers gipfelten: unverzüglich in die Entwaffnung <strong>der</strong> Kronstädter einzuwilligen.<br />

»Nachdem wir die Militärische Kommission verlassen hatten«, erzählt Raskolnikow,<br />

»nahmen wir unsere Beratungen mit Trotzki und Kamenjew wie<strong>der</strong> auf. Lew Davidowitsch<br />

(Trotzki) empfahl, unverzüglich und geheim die Kronstädter nach Hause zu schikken.<br />

Es wurde <strong>der</strong> Beschluß gefaßt, Genossen in die Kasernen zu entsenden und die<br />

Kronstädter vor <strong>der</strong> drohenden gewaltsamen Entwaffnung zu warnen.« Die Mehrzahl <strong>der</strong><br />

Kronstädter reiste rechtzeitig ab; es blieben nur kleine Abteilungen in <strong>der</strong> Villa<br />

Kschessinskaja und <strong>der</strong> Peter-PaulFestung.<br />

Mit Wissen und Zustimmung <strong>der</strong> Minister-<strong>Sozialisten</strong> erteilte Fürst Lwow schon ani 4.<br />

Juli dem General Polowzew den schriftlichen Befehl: »Die Bolscliewiki zu verhaften, die<br />

das Haus Kschessinskaja besetzt halten, es zu säubern und mit Truppen zu belegen.«<br />

jetzt, nach <strong>der</strong> Zertrümmerung <strong>der</strong> Redaktion und <strong>der</strong> Druckerei, erhob sich die Frage<br />

nach dem Schicksal des Zentralquartiers <strong>der</strong> Bolschewiki in aller Schärfe. Man mußte die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 337


Villa in Verteidigungszustand bringen. Zum Kommandanten des Gebäudes ernannte die<br />

Militärische Organisation Raskolnikow. Er verstand seine Aufgabe weitgehend auf<br />

Kronstädter Art, verschickte Auffor<strong>der</strong>ungen zur Lieferung von Kanonen und sogar zur<br />

Entsendung eines kleinen Kriegsschiffes in die Newamündung. Diesen seinen Schritt<br />

erklärte Raskolnikow später folgen<strong>der</strong>maßen: »Gewiß wurden meinerseits Kriegsvorbereitungen<br />

getroffen, aber nur zum Zwecke <strong>der</strong> Selbstverteidigung, da es in <strong>der</strong> Luft nicht<br />

nur nach Pulver, son<strong>der</strong>n auch nach Pogromen roch ... Ich glaube nicht ohne Grund<br />

angenommen zu haben, daß es genügte, ein gutes Schiff in die Newamündung zu bringen,<br />

damit die Entschlossenheit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bedeutend sinke.« Das alles ist<br />

ziemlich unklar und nicht sehr ernst. Man darf eher annehmen, daß in den Tagesstunden<br />

des 5. Juli die Führer <strong>der</strong> Militärischen Organisation und Raskolnikow mit ihren den<br />

Umschwung <strong>der</strong> Lage noch nicht völlig richtig eingeschätzt hatten und daß in dem<br />

Augenblick, wo die bewaffnete Demonstration eiligst den Rückzug antreten niußte, um<br />

sich nicht in einen vom Feinde aufgezwungeiien bewaffneten Aufstand zu verwandeln,<br />

manch einer von den militärischen Leitern einige zufällige und unüberlegte Schritte<br />

vorwärts versuchte. Die jungen Kronstädter Führer hatten nicht zuni erstenmal das Maß<br />

zu voll genommen. Aber kann man eine <strong>Revolution</strong> ohne Teilnahme von Menschen<br />

machen, die das Maß zu voll nehmen? Ünd bildet nicht ein gewisser Prozentsatz Leichtsinn<br />

einen notwendigen Bestandteil je<strong>der</strong> großen menschlichen Tat? Diesmal<br />

beschränkte sich alles nur auf Befehle, die außerdem von Raskolnikow selbst bald aufgehoben<br />

wurden. In <strong>der</strong> Villa liefen indes immer beunruhigen<strong>der</strong>e Nachrichten zusammen:<br />

jemand wollte in den Fenstern eines auf dem an<strong>der</strong>en Newaufer gelegenen Hauses gegen<br />

das Haus Kschessinskaja gerichtete Maschinengewehre bemerkt haben; ein an<strong>der</strong>er sah<br />

eine Panzerautokolonne in die gleiche Richtung fahren; ein dritter berichtete über<br />

nahende Kosakenpatrouillen. Zum Kreiskommandierenden wurden zwecks Verhandlungen<br />

zwei Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Militärischen Organisation entsandt. Polowzew versicherte den<br />

Parlamentären, die Zerstörung <strong>der</strong> »Prawda« sei ohne sein Wissen geschehen und er<br />

bereite gegen die Militärische Organisation keinerlei Repressalien vor. In Wirklichkeit<br />

wartete er nur auf genügende Verstärkung von <strong>der</strong> Front.<br />

Während Kronstadt schon den Rückzug antrat, bereitete sich die Baltische Flotte in<br />

ihrer Gesamtheit erst zum Angriff vor. In den finnischen Gewässern stand <strong>der</strong> Hauptteil<br />

<strong>der</strong> Flotte mit einer Gesamtzahl von annähernd siebzigtausend Seeleuten; in Finnland<br />

war außerdem ein Armeekorps untergebracht, auf einer Helsingforser Hafenwerft arbeiteten<br />

etwa zehntausend russische Arbeiter. Das war eine imposante Faust <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Der Druck <strong>der</strong> Matrosen und Soldaten war <strong>der</strong>art unüberwindlich, daß sich sogar das<br />

Helsingforser Komitee <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre gegen die Koalition aussprach. Infolgedessen<br />

for<strong>der</strong>ten sämtliche Sowjetorgane <strong>der</strong> Flotte und <strong>der</strong> Armee in Finnland einmütig,<br />

daß das Zentral-Exekutivkomitee die Macht in seine Hände nähme. Zur Unterstützung<br />

ihrer For<strong>der</strong>ung waren die baltischen Seeleute bereit, jeden Moment zur Newamündung<br />

auszurücken; es hielt sie indes davon die Befürchtung ab, die Linie <strong>der</strong> Meeresverteidigung<br />

zu schwächen und <strong>der</strong> deutschen Flotte den Überfall auf Kronstadt und Petrograd<br />

zu erleichtern. Doch da geschah etwas ganz Unvorhergesehenes. Das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />

Baltischen Flotte <strong>der</strong> sogenannte Zentrobalt - rief für den 4. Juli eine außerordentliche<br />

Sitzung <strong>der</strong> Schiffkomitees zusammen, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorsitzende, Dybenko, zwei soeben<br />

vom Flottenkommandeur erhaltene Geheimbefehle, versehen mit <strong>der</strong> Unterschrift des<br />

Gehilfen des Marineministers, Dudarew, bekanntgab: <strong>der</strong> erste verpflichtete Admiral<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 338


Wer<strong>der</strong>ewski, vier Torpedoboote nach Petrograd zu schicken, um mit Gewalt die<br />

Landung <strong>der</strong> Meuterer aus Kronstadt zu verhin<strong>der</strong>n; <strong>der</strong> zweite verlangte vom Flottenkommandeur,<br />

unter keinen Umständen die Ausfahrt <strong>der</strong> Schiffe aus Helsingfors nach<br />

Kronstadt zuzulassen und auch vor <strong>der</strong> Versenkung <strong>der</strong> ungehorsamen Schiffe durch<br />

Unterseeboote nicht zurückzuschrecken. Zwischen zwei Feuer geraten und vor allem um<br />

die Erhaltung des eigenen Kopfes besorgt, griff <strong>der</strong> Admiral vor und übergab dem<br />

Zentrobalt die Telegramme mit <strong>der</strong> Erklärung, den Befehl auch dann nicht erfüllen zu<br />

wollen, wenn <strong>der</strong> Zentrobalt seinen Stempel darauf geben würde. Das Verlesen <strong>der</strong><br />

Telegramme machte auf die Seeleute einen nie<strong>der</strong>schmettemden Eindruck. Zwar hatten<br />

sie bei verschiedenen Anlässen auf Kerenski und die Versöhnler geschinipft. Aber das<br />

war in ihren Augen ein innerer Sowjetkampf gewesen. Gehörte doch die Mehrheit des<br />

Zentral-Exekutivkomitees den gleichen Parteien an wie die des Distriktkomitees<br />

Finnlands, das sich soeben für die Macht <strong>der</strong> Sowjets ausgesprochen hatte. Es war klar:<br />

we<strong>der</strong> Menschewiki noch Sozialrevolutionäre konnten die Versenkung von Schiffen<br />

gutheißen, die für die Macht des Exekutivkomitees demonstrieren. Wie durfte <strong>der</strong> alte<br />

Seeoffizier Dudarew sich in den familiären Sowjetstreit einmischen, um diesen in eine<br />

Seeschlacht zu verwandeln? Gestern noch galten offiziell die großen Schiffe im Gegensatz<br />

zu den rückständigen Torpedobooten und den von <strong>der</strong> Propaganda kaum berührten<br />

Unterseebooten als die Stütze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Gehen etwa die Behörden jetzt ernsthaft<br />

daran, die Schiffe mit Hilfe von Unterseebooten zu versenken? Diese Tatsachen wollten<br />

in die harten Matrosenschädel nicht hinein. Der Befehl, <strong>der</strong> ihnen nicht ohne Grund ein<br />

Alpdruck schien, war jedoch die rechtmäßige Julifrucht <strong>der</strong> Märzsaat. Bereits seit April<br />

hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre an die Provinz gegen Petrograd zu appellieren<br />

begonnen, an die Soldaten gegen die Arbeiter, an die Kavallerie gegen die Maschinengewehrschützen.<br />

Sie gaben den Kompanien privilegiertere Vertretungen in den<br />

Sowjets als den Fabriken; begünstigten die kleinen, vereinzelten Betriebe gegenüber den<br />

Metallgiganten. Verkörperung des gestrigen Tages, suchten sie Schutz bei Rückständigkeitjeglicher<br />

Art. Den Boden unter ihren Füßen verlierend, hetzten sie die Arrieregarde<br />

gegen die Avantgarde. Die Politik hat ihre eigene Logik, beson<strong>der</strong>s in Zeiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Von allen Seiten bedrängt, sahen sich die Versöhnler gezwungen, General<br />

Wer<strong>der</strong>ewski zu beauftragen, die fortgeschrittensten Schiffe zu versenken. Zum Unglück<br />

für die Versöhnler waren die Zurückgebliebenen, auf die sie sich stützen wollten, immer<br />

mehr bestrebt, sich den Fortgeschnittenen anzugleichen: die Kommandos <strong>der</strong> Unterseeboote<br />

waren über Dudarews Befehl nicht weniger entrüstet als die Kommandos <strong>der</strong><br />

Panzerschiffe.<br />

An <strong>der</strong> Spitze des Zentrobalts standen Menschen von keinesfalls hamletischer Veranlagung:<br />

gemeinsam mit den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Schiffkomitees nahmen sie ohne Zeitverlust<br />

den Beschluß an: das Schwadronen-Torpedoboot "Orpheus", zur Versenkung <strong>der</strong><br />

Kronstädter bestimmt, eiligst nach Petrograd zu schicken, erstens um darüber Nachrichten<br />

zu erhalten, was dort vor sich gehe, zweitens »zur Verhaftung des Gehilfen des<br />

Marineministers Dudarew«. So verblüffend dieser Beschluß scheinen mag, legt er mit<br />

beson<strong>der</strong>em Nachdruck Zeugnis ab dafür, wie sehr noch die Baltischen geneigt waren,<br />

die Versöhnler als die internen Gegner zu betrachten, zum Unterschied von irgendeinem<br />

Dudarew, den sie für einen gemeinsamen Feind hielten. "Orpheus" kam in die<br />

Newamündung hinein vierundzwanzig Stunden, nachdem hier zehntausend bewaffnete<br />

Kronstädter gelandet waren. Aber »das Kräfteverhältnis hatte sich geän<strong>der</strong>t«. Einen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 339


ganzen Tag lang erlaubte man dem Kommando nicht zu landen. Erst abends wurde eine<br />

Delegation von siebenundsechzig Seeleuten des Zentrobalts und des Schiffskommandos<br />

zur vereinigten Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees zugelassen, die das erste Fazit aus den<br />

Julitagen zu ziehen im Begriffe war. Die Sieger badeten in ihrem frischen Sieg. Der<br />

Berichterstatter Wojtinsky schil<strong>der</strong>te nicht ohne Behagen die Stunden <strong>der</strong> Schwäche und<br />

<strong>der</strong> Erniedrigung, um den darauffolgenden Triumph noch greller darzustellen. »Der erste<br />

Truppenteil, <strong>der</strong> uns zu Hilfe kam«, sagt er, »waren die Panzerautos. Wir waren fest<br />

entschlossen, im Falle <strong>der</strong> Gewalt seitens <strong>der</strong> bewaffneten Banden Feuer zu eröffnen ...<br />

In Anbetracht <strong>der</strong> ganzen Gefahr, die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> drohte, erließen wir an einige<br />

Truppenteile (an <strong>der</strong> Front) den Befehl, sich zu verladen und hierherzukommen ...« Die<br />

Mehrheit <strong>der</strong> hohen Versammlung atmete Haß gegen die Bolschewiki, beson<strong>der</strong>s gegen<br />

die Matrosen. In diese Atmosphäre gerieten die baltischen Delegierten, ausgerüstet mit<br />

dem Befehl, Dudarew zu verhaften. Mit wildem Geheul, Faustgehämmer auf die Tische<br />

und Fußgetrampel nahmen die Sieger das Verlesen <strong>der</strong> Resolution <strong>der</strong> Baltischen Flotte<br />

auf. Dudarew verhaften? Aber <strong>der</strong> heldenmütige Kapitän ersten Ranges hat nur seine<br />

heilige Pflicht für die <strong>Revolution</strong> erfüllt, <strong>der</strong> sie, die Matrosen, diese Meuterer, diese<br />

Konterrevolutionäre, einen Dolchstoß in den Rücken versetzen wollen. Durch einen<br />

beson<strong>der</strong>en Beschluß solidarisierte sich die vereinigte Sitzung feierlichst mit Dudarew.<br />

Die Matrosen blickten auf die Redner und aufeinan<strong>der</strong> mit weit aufgerissenen Augen.<br />

Erst jetzt begannen sie zu begreifen, was da vor ihnen geschah. Die gesamte Delegation<br />

wurde am nächsten Tage verhaftet und vollendete ihre Politische Erziehung im Gefängnis.<br />

Hinterher wurde auch <strong>der</strong> ihnen nachgeeilte Vorsitzende des Zentrobalts, Unteroffizier<br />

zur See Dybenko, verhaftet und später dann <strong>der</strong> Admiral Wer<strong>der</strong>ewski, den man<br />

zwecks Aufklärung in die Hauptstadt befohlen hatte.<br />

Am Morgen des 6. nehmen die Arbeiter die Arbeit wie<strong>der</strong> auf. In den Straßen demonstrieren<br />

nur die von <strong>der</strong> Front herbeigeschafften Truppen. Agenten <strong>der</strong> Konterspionage<br />

kontrollieren die Pässe und nehmen nach rechts und links Verhaftungen vor. Der junge<br />

Arbeiter Woinow, <strong>der</strong> das an Stelle <strong>der</strong> am Vorabend demolierten bolschewistischen<br />

Zeitung erschienene Blatt 'Listok Prawdy' verbreitet, wird auf <strong>der</strong> Straße von einer Bande<br />

ermordet, vielleicht von den gleichen Agenten <strong>der</strong> Konterspionage. Die Schwarzhun<strong>der</strong>t-<br />

Eleniente gewinnen Geschmack an <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes. Plün<strong>der</strong>ungen,<br />

Gewaltakte und hie und da auch Schießereien dauern in verschiedenen Stadtteilen an.<br />

Während des Tages kommen Staffel auf Staffel an, das Donkosakenregiment, eine<br />

Kavalleriedivision, eine Ulanendivision, das Isborsker-, Malorossijsker-, das Dragonerregiment<br />

und an<strong>der</strong>e. »Die in großer Zahl eingetroffenen Kosakentruppenteile«, schreibt<br />

Gorkis Zeitung, »sind in sehr aggressiver Verfassung«. Das soeben angekommene<br />

Isborsker Regiment wird an zwei Stellen <strong>der</strong> Stadt mit Maschinengewehren beschossen.<br />

In beiden Fällen werden die Standorte <strong>der</strong> Maschinengewehre auf einem Dach festgestellt,<br />

die Täter nicht ermittelt. Man beschoß die angekommenen Truppenteile auch in<br />

an<strong>der</strong>en Gegenden. Der berechnete Wahnwitz dieser Schießerei erregte die Arbeiter tief.<br />

Es war klar, daß erfahrene Provokateure die Soldaten mit Blei empfingen, zwecks<br />

antibolschewistischer Impfung. Die Arbeiter boten alles auf, dies den ankommenden<br />

Soldaten zu erklären, doch man ließ sie an diese nicht heran: zum erstenmal seit den<br />

Februartagen stellte sich zwischen Arbeiter und Soldat <strong>der</strong> Junker o<strong>der</strong> Offizier.<br />

Die Versöhnler begrüßten freudestrahlend die ankommenden Regimenter. In einer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 340


Versammlung von Vertretern <strong>der</strong> Truppenteile deklamierte <strong>der</strong>selbe Wojtinsky in Gegenwart<br />

einer großen Anzahl von Offizieren und Junkern pathetisch: »Nun marschieren<br />

durch die Milljonnaja-Straße Truppen und Panzerwagen in die Richtung zum Schloßplatz,<br />

umsich unter den Befehl des Generals Polowzew zu stellen. Ds ist unsere reale<br />

Kraft, auf die wir uns stützen.« Als politische Deckung wurden dem Kreiskommandierenden<br />

vier sozialistische Assistenten beigeordnet: Awksentjew und Goz vom Exekutivkomitee,<br />

Skobelew und Tschernow von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. Aber dies rettete<br />

den Kommandierenden nicht. Kerenski prahlte später vor den Weißgardisten, er habe, in<br />

den Jlitagen von <strong>der</strong> Front zurckgekehrt, General Polowzew »wegen seiner Unentschlossenheit«<br />

entlassen.<br />

Jetzt konnte man endlich die so lange vertagte Aufgabe lösen: das Wespennest <strong>der</strong><br />

Bolschewiki im Hause Kschessinskaja auszuräuchern. Im öffentlichen Leben überhaupt<br />

und in Zeiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> insbeson<strong>der</strong>e erlangen mit unter große Wichtigkeit zweitrangige<br />

Tatsachen, die durch ihre symbolische Bedeutung auf die Phantasie wirken. So<br />

gewann einen unverhältnismäßig großen Platz im Kampfe gegen die Bolschewiki die<br />

Frage nach Lenins "Expropriation" <strong>der</strong> Villa <strong>der</strong> Kschessinskaja, einer Hofballerina,<br />

berühmt nicht so sehr durch ihre Kunst als durch ihre Bezieliungen zu den männlichen<br />

Vertretern <strong>der</strong> Romanowschen Dynastie. Ihre Villa war die Frucht dieser Beziehungen,<br />

<strong>der</strong>en Fundament offenbar Nikolaus II. noch in seiner Eigenschaft als Thronfolger gelegt<br />

hatte. Vor dem Kriege klatschten die Bürger über die dem Winterpalais gegenüberliegende<br />

Stätte des Luxus, <strong>der</strong> Sporen und Brillanten, mit einem Anflug neidischer<br />

Ehrfurcht; während des Krieges sagte man häufiger »zusammengestohlen«; die Soldaten<br />

drückten sich noch präziser aus. Sich <strong>der</strong> Altersgrenze nähernd, verlegte sich die Ballerina<br />

auf die patriotische Laufbahn. Der offenherzige Rodsjanko erzählt darüber: »... <strong>der</strong><br />

Höchstkommandierende (Großfürst Nikolai Nikolajewitsch) erwähnte, ihm seien Beteiligung<br />

und Einfluß <strong>der</strong> Ballerina Kschessinskaja in Angelegenheiten <strong>der</strong> Artillerie<br />

bekannt, durch sie hätten verschiedene Firmen Lieferungen erhalten.« Es ist nicht<br />

verwun<strong>der</strong>lich, daß nach <strong>der</strong> Umwälzung das vereinsamte Palais <strong>der</strong> Kschessinskaja im<br />

Volke keine freundlichen Gefühle auslöste. Während die <strong>Revolution</strong> eine unstillbare<br />

Nachfrage nach Räumen erzeugte, wagte die Regierung nicht, auf irgendein Privatgebäude<br />

Beschlag zu legen. Requisitionen von Bauernpferden für den Krieg ist eines.<br />

Requisition leerstehen<strong>der</strong> Villen für die <strong>Revolution</strong> - etwas ganz an<strong>der</strong>es. Aber die<br />

Volksmassen waren nicht dieser Meinung.<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach einem passenden Raum für sich stieß die Reserve-Panzerdivision<br />

in den ersten Märztagen auf die Villa Kschessinskaja und besetzte sie: die Ballerina<br />

besaß eine gute Garage. Dem Petrogra<strong>der</strong> Komitee <strong>der</strong> Bolschewiki überließ die Division<br />

gerne das obere Stockwerk. Die Freundschaft <strong>der</strong> Bolschewiki mit den Panzerautomobilisten<br />

ergänzte ihre Freundschaft mit den Maschinengewehrschützen. Die wenige<br />

Wochen vor Lenins Ankunft erfolgte Besetzung des Palais war anfangs kaum beachtet<br />

worden. Die Entrüstung über die Expropriateure wuchs mit dem Einfluß <strong>der</strong><br />

Bolschewiki. Die Zeitungsplau<strong>der</strong>eien, wonach Lenin sich im Boudoir <strong>der</strong> Ballerina<br />

nie<strong>der</strong>gelassen habe o<strong>der</strong> die gesamte Einrichtung <strong>der</strong> Villa ausgeplün<strong>der</strong>t und zerrissen<br />

sei, waren einfach Erfindungen. Lenin lebte in <strong>der</strong> bescheidenen Wohnung seiner Schwester,<br />

während die Einrichtung <strong>der</strong> Ballerina von dem Hauskommandanten weggeräumt<br />

und versiegelt worden war. Suchanow, <strong>der</strong> das Palais am Tage <strong>der</strong> Ankunft Lenins<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 341


esuchte, hinterließ eine nicht uninteressante Beschreibung des Hauses. »Die Gemächer<br />

<strong>der</strong> berühmten Ballerina hatten ein recht seltsames und ungereimtes Aussehen. Die<br />

auserlesenen Zimmerdecken und Wände harmonierten schlecht mit dem einfachen<br />

Mobiliar, priimtiven Tischen, Stühlen und Bänken, in aller Eile für Arbeitszwecke aufgestellt.<br />

Möbel gab es überhaupt nur wenig. Das Mobiliar <strong>der</strong> Kschessinskaja war irgendwohin<br />

weggeräumt worden ...« Behutsam die Frage <strong>der</strong> Panzerdivision umgehend,<br />

schil<strong>der</strong>te die Presse Lenin als den Schuldigen an <strong>der</strong> bewaffneten Einnahme des Hauses<br />

einer schutzlosen Dienerin <strong>der</strong> Kunst. Dieses Thema nährte Leitartikel und Feuilletons.<br />

Schmierige Arbeiter und Soldaten zwischen Samt, Seide und Teppichen! Alle Beletagen<br />

<strong>der</strong> Hauptstadt erschauerten vor sittlicher Entrüstung. Wie ehemals die Girondisten die<br />

Verantwortung für die Septembermorde, den Matratzendiebstahl aus einer Kaserne und<br />

die Predigt des Agrargesetzes auf die Jakobiner abschoben, so beschuldigten jetzt Kadetten<br />

und Demokraten die Bolschewiki, daß diese die Pfeiler <strong>der</strong> menschliclien Moral<br />

untergrüben und auf die Parkettboden <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja spuckten. Die dynastische<br />

Ballerina wurde das Symbol <strong>der</strong> von den Hufen <strong>der</strong> Barbarei zertretenen Kultur.<br />

Diese Apotheose beschwingte die Besitzerin, und sie wandte sich beschwerdeführend an<br />

das Gericht, das die Ausquartierung <strong>der</strong> Bolschewiki verfügte. Doch das war gar nicht so<br />

einfach. »Die im Hofe Wache haltenden Panzerwagen sahen recht Achtung gebietend<br />

aus«, erzählt das Mitglied des damaligen Petrogra<strong>der</strong> Komitees, Saleschski. Außerdem<br />

waren das Maschinengewehrregiment wie auch an<strong>der</strong>e Truppenteile bereit, im Notfalle<br />

die Panzerautos zu unterstützen. Am 25. Mai hatte das Büro des Exekutivkomitees auf<br />

die Beschwerde des Advokaten <strong>der</strong> Ballerina verfügt, »die Interessen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

verlangen die Unterwerfung unter rechtskräftige Gerichtsbeschlüsse«. Über diesen platonischen<br />

Aphorismus waren die Versöhnler jedoch nicht hinausgegangen, zum großen<br />

Ärger <strong>der</strong> nicht zum Platonismus neigenden Ballerina.<br />

In <strong>der</strong> Villa setzten Zentralkomitee, Petrogra<strong>der</strong> Komitee und Militärorganisation Seite<br />

an Seite ihre Arbeit fort. »Im Hause Kschessinskaja«, erzählt Raskolnikow, »drängte<br />

sich unaufhörlich eine Menge Volk. Die einen kamen geschäftlich in dies o<strong>der</strong> jenes<br />

Sekretariat, die an<strong>der</strong>en zum Bücherlager . . ., die dritten zur Redaktion <strong>der</strong> "Soldatskaja<br />

Prawda", die vierten zu irgendeiner Sitzung. Versammlungen fanden sehr häufig statt,<br />

manchmal ununterbrochen, entwe<strong>der</strong> unten in dem geräumigen breiten Saal o<strong>der</strong> oben<br />

im Zimmer mit dem langen Tisch, wohl dem ehemaligen Speisezimmer <strong>der</strong> Ballerina.«<br />

Vom Balkon <strong>der</strong> Villa, über dem die imposante Fahne des Zentralkomitees wehte, veranstalteten<br />

die Redner dauernd Kundgebungen, nicht nur tags, son<strong>der</strong>n auch nachts. Häufig<br />

kam in tiefer Dunkelheit irgendein Truppenteil o<strong>der</strong> eine Arbeitergruppe vor das Haus<br />

und verlangte nach einem Redner. Es blieben vor dem Balkon auch zufällige Bürgergruppen<br />

stehen, <strong>der</strong>en Neugier periodisch durch einen Zeitungslärm geweckt wurde. In<br />

den kritischen Tagen näherten sich dem Hause flüchtig auch feindselige Denionstrationen,<br />

die Lenins Verhaftung und die Vertreibung <strong>der</strong> Bolschewiki for<strong>der</strong>ten. Hinter den<br />

Menschenströmen, die das Palais umspülten, spürte man die aufgewirbelten Tiefen <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Den Gipfelpunkt erlebte das Haus Kschessinskaja in den Julitagen. »Als<br />

Hauptstab <strong>der</strong> Bewegung erwies sich nicht das Taurische Palais«, schreibt Mi1jukow,<br />

»son<strong>der</strong>n Lenins Zitadelle, das Haus Kschessinskaja mit dem klassichen Balkon.« Die<br />

Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Demonstration mußte zwangsläufig zur Nie<strong>der</strong>schlagung des Stabsquartiers<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki führen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 342


Gegen 3 Uhr nachts wurde gegen das Haus Kschessinskaja und die<br />

Peter-Paul-Festung, beide durch einen Wasserstreifen voneinan<strong>der</strong> getrennt, aufgeboten:<br />

das Reservebataillon des Petrogra<strong>der</strong> Regiments, ein Maschinengewehrkommando, eine<br />

Kompanie Semjonowsker, eine Kompanie Preobraschensker, das Lehrkommando des<br />

Wolynsker Regiments, zwei Geschütze und eine Panzerabteilung von acht Wagen. Um 7<br />

Uhr morgens for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Gehilfe des Kreiskommandierenden, <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />

Kusmin, die Räumung <strong>der</strong> Villa. Da sie die Waffen nicht abliefern wollten, begannen die<br />

Kronstädter, <strong>der</strong>en im Palais nicht mehr als hun<strong>der</strong>tundzwanzig Mann verblieben waren,<br />

in die Peter-Paul-Festung überzulaufen. Als die Regierungstruppen die Villa besetzten,<br />

fanden sie dort nur noch einige Angestellte vor ... Es blieb nun die Frage <strong>der</strong> Peter-Paul-<br />

Festung. Aus dem Wyborger Bezirk hatten sich, wie wir wissen, junge Rotgardisten zur<br />

Peter-Paul-Festung übergesetzt, um im Notfalle den Seeleuten beizustehen. »Auf den<br />

Festungsmauern«, erzählt einer von ihnen, »stehen einige Geschütze, wohl von den<br />

Matrosen für jeden Fall aufgestellt ... Es beginnt nach blutigen Ereignissen zu riechen.«<br />

Doch diplomatische Verhandlungen lösten die Frage friedlich. Im Auftrage des Zentralkomitees<br />

schlug Stalin den Versöhnlerführern vor, gemeinsam Maßnahmen zur unblutigen<br />

Liquidierung <strong>der</strong> Kronstädter Aktion zu treffen. Zusammen mit dem Menschewik<br />

Bogdanow überredeten sie ohne beson<strong>der</strong>e Mühe die Matrosen, das gestrige Ultimatum<br />

Libers anzunehmen. Als die Panzerwagen <strong>der</strong> Regierung vor <strong>der</strong> Festung erschienen, trat<br />

eine Deputation aus dem Tor mit <strong>der</strong> Erklärung, die Garnison unterwerfe sich dem<br />

Exekutivkomitee. Die von den Matrosen und Soldaten abgelieferten Waffen wurden auf<br />

Lastautos weggeschafft. Die waffenlosen Matrosen wurden zur Rückbeför<strong>der</strong>ung nach<br />

Kronstadt auf Schlepper gebracht. Die Übergabe <strong>der</strong> Festung darf man als Schlußperiode<br />

<strong>der</strong> Julibewegung betrachten. Von <strong>der</strong> Front angekommene Radfahrer bezogen die von<br />

den Bolschewiki verlassene Villa Kschessinskaja und die Peter-Paul-Festung, um am<br />

Vorabend <strong>der</strong> Oktoberrevolution ihrerseits auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki überzugehen.<br />

Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?<br />

Die von Regierung und Exekutivkomitee verbotene Demonstration trug grandiosen<br />

Charakter; am zweiten Tage nahmen an ihr nicht weniger als fünfhun<strong>der</strong>ttausend<br />

Menschen teil. Suchanow, <strong>der</strong> nicht genug starke Worte zur Verurteilung »des Blutes<br />

und Schmutzes« <strong>der</strong> Julitage findet, schreibt immerhin: »Unabhängig von den politischen<br />

Folgen konnte man nicht an<strong>der</strong>s als mit Entzücken diese erstaunliche Bewegung <strong>der</strong><br />

Volksmassen betrachten. Hielt man sie auch für verhängnisvoll, mußte man doch ihren<br />

gigantischen, elementaren Schwung bewun<strong>der</strong>n.« Nach den Feststellungen <strong>der</strong> Untersuchungskommission<br />

hat es insgesamt neunundzwanzig Tote und hun<strong>der</strong>tundvierzehn<br />

Verwundete gegeben, die Opfer waren auf beiden Seiten etwa gleich groß.<br />

Daß die Bewegung von unten begann, unabhängig von den Bolschewiki, in gewissem<br />

Grade gegen sie, wurde in den ersten Stunden auch von den Versöhnlern eingestanden.<br />

Aber schon in <strong>der</strong> Nacht zum 3. Juli, hauptsächlich jedoch am folgenden Tag, än<strong>der</strong>t sich<br />

die offizielle Beurteilung, Die Bewegung wird als Aufstand erklärt, die Bolschewiki als<br />

seine Organisatoren. »Unter <strong>der</strong> Parole "Alle Macht den Sowjets"«, schrieb <strong>der</strong> später<br />

Kerenski nahestehende Stankewitsch, »entwickelte sich in aller Form ein Aufstand <strong>der</strong><br />

Bolschewiki gegen die damalige Sowjetmehrheit, die aus Parteien <strong>der</strong> Landesverteidigung<br />

bestand.« Die Beschuldigung, einen Aufstand angestiftet zu haben, war nicht nur<br />

ein Kniff des politischen Kampfes: diese Menschen hatten während des Juni sich allzu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 343


gut von <strong>der</strong> Macht des Einflusses <strong>der</strong> Bolschewiki auf die Massen überzeugen können<br />

und weigerten sich jetzt einfach, zu glauben, die Bewegung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

könnte über die Köpfe <strong>der</strong> Bolschewiki hinweggegangen sein. Trotzki versuchte im<br />

Exekutivkomitee auseinan<strong>der</strong>zusetzen: »Man beschuldigt uns, daß wir die Stimmung <strong>der</strong><br />

Massen erzeugen; das ist eine Unwahrheit, wir versuchen nur, sie zu formulieren.« In<br />

den nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung erschienenen Büchern <strong>der</strong> Gegner, insbeson<strong>der</strong>e bei<br />

Suchanow, kann man die Behauptung finden, die Bolschewiki hätten angeblich nur<br />

infolge <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage des Juliaufstandes ihr wahres Ziel verheimlicht und sich hinter<br />

dem Elementaren <strong>der</strong> Massenbewegung versteckt. Aber kann man einem Schatz gleich<br />

den Plan eines bewaffneten Aufstandes verbergen, <strong>der</strong> in seinen Wirbel hun<strong>der</strong>ttausende<br />

Menschen hineinzieht? Waren denn die Bolschewiki vor dem Oktober nicht gezwungen,<br />

ganz offen zum Aufstand aufzurufen und sich vor aller Augen auf ihn vorzubereiten?<br />

Wenn niemand im Juli diesen Plan entdeckt hat, so deshalb, weil es ihn nicht gab. Der<br />

Einzug von Maschinengewehrschützen und Kronstädtern in die Peter-Paul-Festung mit<br />

Zustimmung ihrer ständigen Garnison auf diese Besetzung pochten die Versöhnler ganz<br />

beson<strong>der</strong>s! - war keinesfalls ein Akt des bewaffneten Aufstandes. Das auf <strong>der</strong> kleinen<br />

Insel liegende Gebäude - eher Gefängnis als militärischer Stützpunkt - konnte noch allenfalls<br />

den Zurückweichenden als Zufluchtsort dienen, bot aber nichts den Angreifern.<br />

Zum Taurischen Palais marschierend, gingen die Demonstranten gleichgültig an den<br />

wichtigsten Regierungsgebäuden vorbei, für <strong>der</strong>en Besetzung eine Putilowabteilung <strong>der</strong><br />

Roten Garde genügt haben würde. Die Peter-Paul-Festung besetzten sie ebenso, wie sie<br />

Straßen, Posten und Plätze besetzten. Einen Grund mehr dafür bildete die Nachbarschaft<br />

<strong>der</strong> Villa Kschessinskaja, <strong>der</strong> man, im Falle <strong>der</strong> Gefahr, von <strong>der</strong> Festung aus zu Hilfe<br />

kommen konnte.<br />

Die Bolschewiki taten alles, um die Julibewegung in eine Demonstration auslaufen zu<br />

lassen. Aber ging sie nicht trotzdem, kraft <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge, über diese Grenze<br />

hinaus? Auf diese politische Frage ist schwieriger zu antworten als auf eine kriminelle<br />

Beschuldigung. Als er die Julitage gleich nach ihrem Abschluß analysierte, schrieb<br />

Lenin: »Eine gegen die Regierung gerichtete Demonstration - das wäre formell die<br />

genaueste Bezeichnung <strong>der</strong> Ereignisse. Aber darum handelt es sich eben, daß es keine<br />

übliche Demonstration ist, son<strong>der</strong>n etwas bedeutend Größeres als eine Demonstration<br />

und Geringeres als eine <strong>Revolution</strong>.« Machen sich die Massen irgendeine Idee zu eigen,<br />

dann wollen sie sie ver-wirklichen. Der Partei <strong>der</strong> Bolschewiki vertrauend, hatten die<br />

Arbeiter und beson<strong>der</strong>s die Soldaten sich jedoch noch nicht die Überzeugung zu eigen<br />

gemacht, daß man eine Aktion nicht an<strong>der</strong>s beginnen dürfe als auf Auffor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Partei hin und unter ihrer Leitung. Die Erfahrung vom Februar und April lehrte eher das<br />

Gegenteil. Als Lenin im Mai sagte, die Arbeiter und Bauern wären hun<strong>der</strong>tmal revolutionärer<br />

als unsere Partei, verallgemeinerte er zweifellos die Februar- und Aprilerfahrung.<br />

Doch auch die Massen verallgemeinerten diese Erfahrung auf ihre Art. Sie sagten sich:<br />

sogar die Bolschewiki ziehen in die Länge und halten zurück. Die Demonstranten waren<br />

in den Julitagen durchaus willens - hätte <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Ereignisse es erfor<strong>der</strong>t -, die<br />

offizielle Macht zu liquidieren. Für den Fall des Wi<strong>der</strong>standes seitens <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

waren sie bereit, zur Waffe zu greifen. Insofern gab es hier ein Element des bewaffneten<br />

Aufstandes. Wenn er trotzdem nicht einmal bis zur Mitte, geschweige denn bis zu Ende<br />

durchgeführt wurde, so deshalb, weil die Versöhnler das Bild verwirrten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 344


Im ersten Band dieser Arbeit haben wir ausführlich das Paradoxon des Februarregimes<br />

charakterisiert. Die Macht war aus den Händen des revolutionären Volkes zu den kleinbürgerlichen<br />

Demokraten, Menschewiki und Sozialrevolutionären, übergegangen. Sie<br />

hatten diese Aufgabe sich nicht gestellt gehabt. Sie hatten die Macht nicht erobert. Gegen<br />

ihren Willen befanden sie sich an <strong>der</strong> Macht. Gegen den Willen <strong>der</strong> Massen waren sie<br />

bestrebt, die Macht an die imperialistische Bourgeoisie abzutreten. Das Volk traute den<br />

Liberalen nicht, traute jedoch den Versöhnlern, die indes sich selbst nicht trauten. Und<br />

sie hatten auf ihre Art recht. Sogar wenn sie die Macht restlos <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert<br />

hätten, die Demokraten hätten doch irgendeine Geltung behalten. Würden sie aber<br />

die Macht in ihre Hände genommien haben, sie hätten sich in nichts verwandeln müssen.<br />

Aus den Händen <strong>der</strong> Demokraten wäre die Macht fast automatisch in die Hände <strong>der</strong><br />

Bolschewiki hinübergeglitten. Das Unglück war nicht zu verhüten, denn es entsprang <strong>der</strong><br />

organischen Nichtigkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Demokratie.<br />

Die Julideiiionstranten wollten die Macht den Sowjets übergeben. Dazu war<br />

notwendig, daß die Sowjets bereit wären, sie zu nehmen. Indes gehörte sogar in <strong>der</strong><br />

Hauptstadt, wo die Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter und die aktiven Elemente <strong>der</strong> Garnison bereits<br />

mit den Bolschewiki gingen, kraft des Trägheitsgesetzes, das je<strong>der</strong> Vertretung eigen ist,<br />

die Mehrheit im Sowjet noch den kleinbürgerlichen Parteien an, die das Attentat auf die<br />

Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie als Attentat gegen sich selbst betrachteten. Arbeiter und Soldaten<br />

empfanden scharf den Wi<strong>der</strong>spruch zwischen ihren Stimmungen und <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong><br />

Sowjets, das heißt zwischen ihrem heutigen und ihrem gestrigen Tag. Indem sie sich für<br />

die Macht <strong>der</strong> Sowjets erhoben, brachten sie durchaus nicht <strong>der</strong> Versöhnlermehrheit<br />

Vertrauen dar. Aber sie wußten nicht, wie mit ihr fertigzuwerden. Sie mit Gewalt zu<br />

stürzen, hätte bedeutet, die Sowjets auseinan<strong>der</strong>zujagen, anstatt ihnen die Macht zu<br />

übergeben. Ehe sie den Weg fanden zur Erneuerung <strong>der</strong> Sowjets, versuchten die Arbeiter<br />

und Soldaten, diese Sowjets mit den Mitteln <strong>der</strong> direkten Aktion ihrem Willen gefügig zu<br />

machen.<br />

In <strong>der</strong> Proklamation <strong>der</strong> beiden Exekutivkomitees über die Julitage appellierten die<br />

Versöhnler entrüstet an die Arbeiter und Soldaten gegen die Demonstranten, die da »mit<br />

Waffengewalt versuchten, ihren Willen den von euch gewählten Vertretern<br />

aufzuzwingen«. Als wären die Demonstranten und die Wähler nicht zwei Bezeichnungen<br />

für die nämlichen Arbeiter und Soldaten! Als hätten die Wähler nicht das Recht, ihren<br />

Willen den Gewählten aufzuzwingen! Und als hätte dieser Wille in etwas an<strong>der</strong>em<br />

bestanden als <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, die Pflicht zu erfüllen: im Interesse des Volkes die Macht<br />

zu ergreifen. Sich um das Taurische Palais scharend, schrien die Massen in die Ohren des<br />

Exekutivkomitees den gleichen Satz, den ein namenloser Arbeiter zusammen mit <strong>der</strong><br />

schwieligen Faust Tschernow präsentierte: »Nimm die Macht, wenn man sie dir gibt.«<br />

Als Antwort holten die Versöhnler Kosaken. Die Herren Demokraten zogen den Bürgerkrieg<br />

gegen das Volk dem unblutigen Übergang <strong>der</strong> Macht in ihre eigenen Hände vor.<br />

Als erste schossen die Weißgardisten. Doch die politische Atmosphäre des Bürgerkrieges<br />

war geschaffen von den Menschewiki und Sozialrevolutionären.<br />

Auf den bewaffneten Wi<strong>der</strong>stand des gleichen Organs stoßend, dem sie die Macht<br />

übergeben wollten, verloren die Arbeiter und Soldaten den Sinn für das Ziel. Der gewaltigen<br />

Volksbewegung war die politische Achse herausgerissen. Der Julimarsch lief auf<br />

eine Demonstration hinaus, durchgeführt teilweise mit Mitteln des bewaffneten Aufstan-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 345


des. Mit gleichem Recht kann man auch sagen, es war ein halber Aufstand im Namen<br />

eines Zieles, das keine an<strong>der</strong>en Methoden außer <strong>der</strong> reinen Demonstration zuließ.<br />

Während sie auf die Macht verzichteten, gaben die Versöhnler sie gleichzeitig auch<br />

nicht restlos an die Liberalen ab: sowohl weil sie vor ihnen Angst hatten - <strong>der</strong> kleine<br />

Bougeois fürchtet den großen -, wie auch, weil sie um diese bangten -, ein reines Kadettenministerium<br />

wäre sofort von den Massen gestürzt worden. Mehr noch: wie Miljukow<br />

richtig bemerkt: »Im Kampfe gegen das eigenmächtig bewaffnete Auftreten sichert sich<br />

das Exekutivkomitee des Sowjets das in den Unruhetagen vom 20. bis 21. April verkündete<br />

Recht, nach eigenem Ermessen über die bewaffneten Kräfte <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison<br />

zu verfügen.« Die Versöhnler fahren in alter Weise fort, sich die Macht unter ihrem<br />

eigenen Kissen wegzustehlen. Um bewaffneten Wi<strong>der</strong>stand denen zu bieten, die auf<br />

ihren Plakaten die Macht <strong>der</strong> Sowjets for<strong>der</strong>n, ist <strong>der</strong> Sowjet gezwungen, tatsächlich die<br />

Macht in seinen Händen zu konzentrieren.<br />

Das Exekutivkomitee geht noch weiter: es verkündet in diesen Tagen formell seine<br />

Souveränität. »Würde die revolutionäre Demokratie den Übergang <strong>der</strong> gesamten Macht<br />

in die Hände des Sowjets für notwendig erachten«, lautet die Resolution vom 4. Juli, »so<br />

könnte über diese Frage nur die Vollversammlung <strong>der</strong> Exekutivkomitees beschließen.«<br />

Während es die Demonstration zugunsten <strong>der</strong> Sowjetmacht als konterrevolutionären<br />

Aufstand erklärte, konstituierte sich das Exekutivkomitee gleichzeitig als oberste Macht<br />

und entschied das Schicksal <strong>der</strong> Regierung.<br />

Als beim Morgengrauen des 5. Juli die »treuen« Truppen das Taurische<br />

Palais betraten, meldete ihr Kommandeur, seine Abteilung<br />

unter-werfe sich voll und ganz dem Zentral-Exekutivkomitee. Kein<br />

Wort von <strong>der</strong> Regierung! Aber auch die Rebellen warenja bereit, sich<br />

dem Exekutivkomitee als <strong>der</strong> Macht zu unterwerfen. Bei Obergabe<br />

<strong>der</strong> Peter-Paul-Festung hatte <strong>der</strong>en Garnison nur nötig, ihre Unterwerfung<br />

unter das Exekutivkomitee zu erklären. Niemand for<strong>der</strong>te<br />

Unterwerfung unter die offizielle Regierung. Auch die von <strong>der</strong> Front<br />

herbeigerufenen Tr@uppen stellten sich restlos dem Exekutivkomitee<br />

zur Verfügung. Weshalb aber floß dann Blut?<br />

Hätte <strong>der</strong> Kampf am Ausgang des Mittelalters stattgefunden, beide Parteien hätten<br />

einan<strong>der</strong> tötend, die gleichen Bibelsprüche zitiert. Fhstoriker-Formalisten wären später<br />

zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung gekommen, <strong>der</strong> Kampf sei um die Textauslegung geführt<br />

worden: die mittelalterlichen Handwerker und die unwissenden Bauern hatten bekanntlich<br />

die seltsame Leidenschaft, sich wegen philologischer Feüiheiten in <strong>der</strong> Offenbarung<br />

johannis töten zu lassen, wie die <strong>russischen</strong> Raskolniki sich <strong>der</strong> Ausrottung preisgaben<br />

<strong>der</strong> Frage wegen, ob die Bekreuzigung mit zwei o<strong>der</strong> drei Fingern auszuführen sei. In<br />

Wirklichkeit verbarg sich ini Mittelalter nicht min<strong>der</strong> als heute unter den symbolischen<br />

Formeln ein Kampf von Lebensinteressen, den man aufzudecken verstehen muß. Der<br />

gleiche evangelische Vers bedeutet für die einen Leibeigenschaft, für die an<strong>der</strong>en -<br />

Freiheit.<br />

Doch gibt es viel frischere und näherliegende Analogien. Während <strong>der</strong> junitage 1848<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 346


erscholl in Frankreich auf beiden Seiten <strong>der</strong> Barrikaden <strong>der</strong> gleiche Schrei: »Es lebe die<br />

Republik!« Den kleinbürgerlichen Idealisten erschienen deshalb diejunikämpfe als<br />

Mißverständnis, hervorgerufen durch die Fahrlässigkeit <strong>der</strong> einen und die Heißsportügkeit<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. In Wirklichkeit wollten die Bourgeois eine Republik für sich, die Arbeiter<br />

- eine Republik für alle. Politische Parolen dienen häufiger dazu, Interessen zu<br />

maskieren, als dazu, sie bei Namen zu nennen.<br />

Trotz dem ganzen Paradoxen des Februarregimes, das die Versöhnler obendrein mit<br />

marxistischen und volkstünilerischen Hieroglyphen bedeckten, sind die wirklichen<br />

Klassenbeziehungen hinreichend klar. Man darf nur die zwiespältige Natur <strong>der</strong><br />

Versöhnl(;rparteien nicht aus den Augen verlieren. Die aufgeklärten Kleinbourgeois<br />

stützten sich auf die Arbeiter und Bauern, verbrü<strong>der</strong>ten sich aber mii den hochbetitelten<br />

Gutsbesitzern und Zuckerfabrikanten. Bestandteil des Sowjetsystems, durch das die<br />

For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> unteren Schichten den offiziellen Staat erreichten, diente das Exekutivkomitee<br />

gleichzeitig als politische Hülle für die Bourgeoisie. Die besitzenden Klassen<br />

»unterwarfen«, sich dem Exekutivkoniitee, insofern es die Macht in ihre Richtung<br />

verschob. Die Massen unterwarfen sich dem Exekutivkomitee, insofern sie hofften, es<br />

würde zum Herrschaftsorgan <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern werden. Im Taurischen Palais<br />

kreuzten sich entgegengesetzte Klassentendenzen, wobei die eine wie die an<strong>der</strong>e sich mit<br />

dem Namen des Exekutivkoniitees deckte: die eine - aus Unaufgeklärtheit und Vertrauensseligkeit,<br />

die an<strong>der</strong>e aus kalter Berechnung. Der Kampf ging indes um nichts Geringeres<br />

als darum, wer dieses Land regiereq solle: Bourgeoisie o<strong>der</strong> Proletariat.<br />

Doch wenn die Versöhnler die Macht nicht nehmen wollten und die Bourgeoisie dazu<br />

nicht die Kraft besaß, vielleicht konnten imjuli die Bolschewiki das Steuer ergreifen?<br />

Während <strong>der</strong> zwei kritischen Tage entglitt die Macht in Petrograd vollständig den<br />

Händen <strong>der</strong> Regierungsäniter. 1)as Exekutivkomitee verspürte zuni erstenmal seine<br />

völlige Ohnmacht. Unter di'esen Umständen die Macht zu ergreifen, hätte die Bolschewiki<br />

keine Mühe gekostet. Man hätte die Macht auch an einzelnen Provinzpunkten<br />

erobern können. Tat die bolschewistische Partei somit recht, auf die Machtergreifung zu<br />

verzichten? Wäre es ihr nicht möglich gewesen, gestützt auf die Hauptstadt und einige<br />

Industriebezirke, später ihre Herrschaft über das ganze Land auszudehnen ? Das ist eii)e<br />

wichtige Frage. Nichts hat ani Ende des Krieges zum Triumph des liiiperialisnius und <strong>der</strong><br />

Reaktion in Europa mehr beigetragen als die kurzen Monate <strong>der</strong> Kerenskiade, die das<br />

revolutionäre Rußland zermürbten und seiner moralischen Autorität einen uneriiießlichen<br />

Schaden zufügten in den Augen <strong>der</strong> kämpfenden Armeen und werktätigen Massen<br />

Europas, die hoffnungsvoll von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ein neues Wort erwartet hatten. Die<br />

Geburtswehen <strong>der</strong> proletarischen Uniwälzung um vier Monate verkürzt - eine enorme<br />

Frist! -, die Bolschewiki würden das Land weniger<br />

461<br />

erschöpft, die Autorität <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Europa weniger untergraben vorgefunden<br />

haben. Das hätte den Sowjets nicht nur riesige Vorteile geboten bei den Verhandlungen<br />

mit Deutschland, son<strong>der</strong>n auch den größten Einfluß auf den Verlauf von Krieg und<br />

Frieden in Europa ausgeübt. Die Perspektive war zu verlockend! Und nichtsdestoweniger<br />

hatte die Parteileitung völlig recht, den Weg des bewaffneten Aufstandes nicht zu<br />

beschreiten. Es genügt nicht, die Macht zu ergreifen. Man muß sie halten. Als im<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 347


Oktober die Bolschewiki berechneten, daß ihre Stunde geschlagen hat, kam für sie die<br />

schwierigste Zeit nach <strong>der</strong> Machteroberung. Es war die höchste Kraftanspannung <strong>der</strong><br />

Arbeiterklasse notwendig, um den zahllosen Attacken <strong>der</strong> Feinde standzuhalten. Im Juli<br />

war die Bereitschaft zu diesem selbstlosen Kampfe sogar bei den Petrogra<strong>der</strong> Arbeitern<br />

noch nicht vorhanden. In <strong>der</strong> Lage, die Macht zu ergreifen, boten sie sie dem Exekutivkomitee<br />

an. In seiner überwiegenden Mehrheit bereits zu den Bolschewiki neigend, hatte<br />

das Proletariat <strong>der</strong> Hauptstadt noch die Nabelschnur des Februar nicht zerrissen, die es<br />

mit den Versöhnlern verband. Noch herrschten nicht wenige Illusionen, als ließe sich mit<br />

Wort und Demonstration alles erreichen; als ginge es darum, Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

ein wenig zu schrecken, um sie zu einer gemeinsamen Politik mit den<br />

Bolschewiki zu bewegen. Nicht einmal <strong>der</strong> fortgeschrittene Teil <strong>der</strong> Klasse gab sich<br />

Rechenschaft darüber, auf welchem Wege man zur Macht kommen könne. Lenin schrieb<br />

kurz danach: »Der tatsächliche Fehler unserer Partei in den Tagen des 3. bis 4. Juli, von<br />

den Ereignissen jetzt aufgedeckt, war nur, ... daß die Partei eine friedliche Entwicklung<br />

<strong>der</strong> politischen Umwandlungen auf dem Wege <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pohtik durch die<br />

Sowjets für möglich hielt, während in Wirklichkeit die Menschewiki und Sozialrevolutionare<br />

sich durch ihr Versöhnlertum bereits <strong>der</strong>art mit <strong>der</strong> Bourgeoisie verkoppelt und<br />

verbunden hatten und die Bourgeoisie <strong>der</strong>art konterrevolutionär geworden war, daß von<br />

keinerlei friedlicher Entwicklung mehr die Redesein konnte.«<br />

Als beim Morgengrauen des 5. Juli die "treuen" Truppen das Taurische Palais betraten,<br />

meldete ihr Kommandeur, seine Abteilung unterwerfe sich voll und ganz dem Zentral-Exekutivkomitee.<br />

Kein Wort von <strong>der</strong> Regierung! Aber auch die Rebellen waren ja bereit,<br />

sich dem Exekutivkomitee als <strong>der</strong> Macht zu unterwerfen. Bei Übergabe <strong>der</strong> Peter-Paul-<br />

Festung hatte <strong>der</strong>en Garnison nur nötig, ihre Unterwerfung unter das Exekutivkomitee zu<br />

erklären. Niemand for<strong>der</strong>te Unterwerfung unter die offizielle Regierung. Auch die von<br />

<strong>der</strong> Front herbeigerufenen Truppen stellten sich restlos dem Exekutivkomitee zur Verfügung.<br />

Weshalb aber floß dann Blut?<br />

Hätte <strong>der</strong> Kampf am Ausgang des Mittelalters stattgefunden, beide Parteien hätten<br />

einan<strong>der</strong> tötend, die gleichen Bibelsprüche zitiert. Historiker-Formalisten wären später zu<br />

<strong>der</strong> Schlußfolgerung gekommen, <strong>der</strong> Kampf sei um die Textauslegung geführt worden:<br />

die mittelalterlichen Handwerker und die unwissenden Bauern hatten bekanntlich die<br />

seltsame Leidenschaft, sich wegen philologischer Feiniheiten in <strong>der</strong> Offenbarung Johannis<br />

töten zu lassen, wie die <strong>russischen</strong> Raskolniki sich <strong>der</strong> Ausrottung preisgaben <strong>der</strong><br />

Frage wegen, ob die Bekreuzigung mit zwei o<strong>der</strong> drei Fingern auszuführen sei. In<br />

Wirklichkeit verbarg sich im Mittelalter nicht min<strong>der</strong> als heute unter den symbolischen<br />

Formeln ein Kampf von Lebensinteressen, den man aufzudecken verstehen muß. Der<br />

gleiche evangelische Vers bedeutet für die einen Leibeigenschaft, für die an<strong>der</strong>en -<br />

Freiheit.<br />

Doch gibt es viel frischere und näherliegende Analogien. Während <strong>der</strong> Junitage 1848<br />

erscholl in Frankreich auf beiden Seiten <strong>der</strong> Barrikaden <strong>der</strong> gleiche Schrei: »Es lebe die<br />

Republik!« Den kleinbürgerlichen Idealisten erschienen deshalb die Junikämpfe als<br />

Mißverständnis, hervorgerufen durch die Fahrlässigkeit <strong>der</strong> einen und die Heißspornigkeit<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. In Wirklichkeit wollten die Bourgeois eine Republik für sich, die Arbei-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 348


ter - eine Republik für alle. Politische Parolen dienen häufiger dazu, Interessen zu<br />

maskieren, als dazu, sie bei Namen zu nennen.<br />

Trotz dem ganzen Paradoxen des Februarregimes, das die Versöhnler obendrein mit<br />

marxistischen und volkstümlerischen Hieroglyphen bedeckten, sind die wirklichen<br />

Klassenbeziehungen hinreichend klar. Man darf nur die zwiespältige Natur <strong>der</strong> Versöhnlerparteien<br />

nicht aus den Augen verlieren. Die aufgeklärten Kleinbourgeois stützten sich<br />

auf die Arbeiter und Bauern, verbrü<strong>der</strong>ten sich aber mit den hochbetitelten Gutsbesitzern<br />

und Zuckerfabrikanten. Bestandteil des Sowjetsystems, durch das die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

unteren Schichten den offiziellen Staat erreichten, diente das Exekutivkomitee gleichzeitig<br />

als politische Hülle für die Bourgeoisie. Die besitzenden Klassen "unterwarfen", sich<br />

dem Exekutivkomitee, insofern es die Macht in ihre Richtung verschob. Die Massen<br />

unterwarfen sich dem Exekutivkomitee, insofern sie hofften, es würde zum Herrschaftsorgan<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und Bauern werden. Im Taurischen Palais kreuzten sich entgegengesetzte<br />

Klassentendenzen, wobei die eine wie die an<strong>der</strong>e sich mit dem Namen des<br />

Exekutivkomitees deckte: die eine - aus Unaufgeklärtheit und Vertrauensseligkeit, die<br />

an<strong>der</strong>e aus kalter Berechnung. Der Kampf ging indes um nichts Geringeres als darum,<br />

wer dieses Land regieren solle: Bourgeoisie o<strong>der</strong> Proletariat.<br />

Doch wenn die Versöhnler die Macht nicht nehmen wollten und die Bourgeoisie dazu<br />

nicht die Kraft besaß, vielleicht konnten im Juli die Bolschewiki das Steuer ergreifen?<br />

Während <strong>der</strong> zwei kritischen Tage entglitt die Macht in Petrograd vollständig den<br />

Händen <strong>der</strong> Regierungsämter. Das Exekutivkomitee verspürte zum erstenmal seine<br />

völlige Ohnmacht. Unter diesen Umständen die Macht zu ergreifen, hätte die Bolschewiki<br />

keine Mühe gekostet. Man hätte die Macht auch an einzelnen Provinzpunkten<br />

erobern können. Tat die bolschewistische Partei somit recht, auf die Machtergreifung zu<br />

verzichten? Wäre es ihr nicht möglich gewesen, gestützt auf die Hauptstadt und einige<br />

Industriebezirke, später ihre Herrschaft über das ganze Land auszudehnen ? Das ist eine<br />

wichtige Frage. Nichts hat am Ende des Krieges zum Triumph des Imiperialismus und<br />

<strong>der</strong> Reaktion in Europa mehr beigetragen als die kurzen Monate <strong>der</strong> Kerenskiade, die das<br />

revolutionäre Rußland zermürbten und seiner moralischen Autorität einen unermeßlichen<br />

Schaden zufügten in den Augen <strong>der</strong> kämpfenden Armeen und werktätigen Massen<br />

Europas, die hoffnungsvoll von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ein neues Wort erwartet hatten. Die<br />

Geburtswehen <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung um vier Monate verkürzt - eine enorme<br />

Frist! -, die Bolschewiki würden das Land weniger erschöpft, die Autorität <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

in Europa weniger untergraben vorgefunden haben. Das hätte den Sowjets nicht nur<br />

riesige Vorteile geboten bei den Verhandlungen mit Deutschland, son<strong>der</strong>n auch den<br />

größten Einfluß auf den Verlauf von Krieg und Frieden in Europa ausgeübt. Die<br />

Perspektive war zu verlockend! Und nichtsdestoweniger hatte die Parteileitung völlig<br />

recht, den Weg des bewaffneten Aufstandes nicht zu beschreiten. Es genügt nicht, die<br />

Macht zu ergreifen. Man muß sie halten. Als im Oktober die Bolschewiki berechneten,<br />

daß ihre Stunde geschlagen hat, kam für sie die schwierigste Zeit nach <strong>der</strong> Machteroberung.<br />

Es war die höchste Kraftanspannung <strong>der</strong> Arbeiterklasse notwendig, um den zahllosen<br />

Attacken <strong>der</strong> Feinde standzuhalten. Im Juli war die Bereitschaft zu diesem<br />

selbstlosen Kampfe sogar bei den Petrogra<strong>der</strong> Arbeitern noch nicht vorhanden. In <strong>der</strong><br />

Lage, die Macht zu ergreifen, boten sie sie dem Exekutivkomitee an. In seiner überwiegenden<br />

Mehrheit bereits zu den Bolschewiki neigend, hatte das Proletariat <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 349


noch die Nabelschnur des Februar nicht zerrissen, die es mit den Versöhnlern verband.<br />

Noch herrschten nicht wenige Illusionen, als ließe sich mit Wort und Demonstration alles<br />

erreichen; als ginge es darum, Menschewiki und Sozialrevolutionäre ein wenig zu<br />

schrecken, um sie zu einer gemeinsamen Politik mit den Bolschewiki zu bewegen. Nicht<br />

einmal <strong>der</strong> fortgeschrittene Teil <strong>der</strong> Klasse gab sich Rechenschaft darüber, auf welchem<br />

Wege man zur Macht kommen könne. Lenin schrieb kurz danach: »Der tatsächliche<br />

Fehler unserer Partei in den Tagen des 3. bis 4. Juli, von den Ereignissen jetzt aufgedeckt,<br />

war nur, ... daß die Partei eine friedliche Entwicklung <strong>der</strong> politischen Umwandlungen<br />

auf dem Wege <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pohtik durch die Sowjets für möglich hielt,<br />

während in Wirklichkeit die Menschewiki und Sozialrevolutionare sich durch ihr<br />

Versöhnlertum bereits <strong>der</strong>art mit <strong>der</strong> Bourgeoisie verkoppelt und verbunden hatten und<br />

die Bourgeoisie <strong>der</strong>art konterrevolutionär geworden war, daß von keinerlei friedlicher<br />

Entwicklung mehr die Redesein konnte.«<br />

War das Proletariat politisch uneinheitlich und nicht entschieden genug, um so weniger<br />

die Bauernarmee. Durch ihr Verhalten während des 3. bis 4. Juli hatte die Garnison den<br />

Bolschewiki die volle Möglichkeit geschaffen, die Macht zu ergreifen. Jedoch befanden<br />

sich ini Garnisonsbestand noch neutrale Teile, die bereits am Abend des 4. Juli entschieden<br />

in die Richtung <strong>der</strong> patriotischen Parteien einschwenkten. Am 5. Juli stellen sich die<br />

neutralen Regimenter auf seiten des Exekutivkomitees, und die zu den Bolschewiki<br />

neigenden Regimenter sind bestrebt, eine neutrale Färbung anzunehmen. Das hat den<br />

Behörden die Hände viel mehr gelöst als die verspätete Ankunft <strong>der</strong> Fronttruppen. Hätten<br />

die Bolschewiki am 4. Juli in <strong>der</strong> Hitze die Macht übernommen, die Petrogra<strong>der</strong> Garnison<br />

hätte nicht nur selbst sie nicht behalten, son<strong>der</strong>n auch die Arbeiter gehin<strong>der</strong>t, sie im<br />

Falle eines unvermeidlichen Anschlags von außen zu verteidigen.<br />

Noch ungünstiger sah die Lage in <strong>der</strong> aktiven Armee aus. Der Kampf um Frieden und<br />

Land hatte sie, beson<strong>der</strong>s seit <strong>der</strong> Junioffensive, sehr empfänglich gemacht für die<br />

Parolen <strong>der</strong> Bolschewiki. Aber <strong>der</strong> sogenannte "elementare" Bolschewismus <strong>der</strong> Soldaten<br />

identifizierte sich keinesfalls in ihrem Bewußtsein mit einer bestimmten Partei, <strong>der</strong>en<br />

Zentralkomitee und <strong>der</strong>en Führern. Soldatenbriefe aus jener Zeit geben diese Verfassung<br />

<strong>der</strong> Armee sehr grell wie<strong>der</strong>. »Bedenkt, ihr Herren Minister und obersten Führer«,<br />

schreibt eine rauhe Soldatenhand von <strong>der</strong> Front, »wir verstehen uns auf Parteien<br />

schlecht, aber nicht fern sind Zukunft und Vergangenheit, <strong>der</strong> Zar hat euch nach Sibirien<br />

geschickt und in Gefängnisse gesteckt, wir aber werden euch auf die Bajonette setzen.«<br />

Äußerster Grad <strong>der</strong> Erbitterung gegen die Spitzen, die betrügen, vermengt sich in diesen<br />

Zeilen mit dem Eingeständnis <strong>der</strong> eigenen Ohnmacht: »Wir verstehen uns auf Parteien<br />

schlecht.« Gegen Krieg und Offizierstand rebellierte die Armee dauernd, wobei sie die<br />

Parolen des bolschewistischen Vokabulars benutzte. Aber den Aufstand zu beginnen für<br />

die Machtübergabe an die bolschewistische Partei, dafür war die Armee noch längst nicht<br />

bereit. Die zuverlässigen Teile zur Unterdrückung Petrograds hatte die Regierung aus<br />

den <strong>der</strong> Hauptstadt nächstgelegenen Truppen ausgeson<strong>der</strong>t, ohne auf aktiven Wi<strong>der</strong>stand<br />

<strong>der</strong> übrigen Teile zu stoßen, und sie hatte die Staffeln herangeführt ohne Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong><br />

Eisenbahner. Die unzufriedene, rebellische, leicht entzündbare Armee verblieb politisch<br />

ungeformt; in ihrer Zusammensetzung gab es zu wenig festgefügte bolschewistische<br />

Kerne, fähig, den Gedanken und Handlungen <strong>der</strong> lockeren Soldatenmasse einheitliche<br />

Richtung zu geben.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 350


An<strong>der</strong>erseits benutzten die Versöhnler, um die Front gegen Petrograd und das bäuerliche<br />

Hinterland auszuspielen, nicht ohne Erfolg jene vergifteten Waffen, die die Reaktion<br />

iin März vergeblich versucht hatte, gegen die Sowjets anzuwenden. Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki sagten den Soldaten an <strong>der</strong> Front: die Petrogra<strong>der</strong> Garnison liefert<br />

euch, unter dem Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki, keinen Ersatz; die Arbeiter wollen für die<br />

Bedürfnisse <strong>der</strong> Front nicht arbeiten; hören jetzt die Bauern auf die Bolschewiki und<br />

eignen sich den Boden an, bleibt nichts übrig für die Frontler. Die Soldaten bedurften<br />

noch einer ergänzenden Erfahrung, um zu begreifen, für wen die Regierung den Boden<br />

beschützte: für die Frontsoldaten o<strong>der</strong> für die Gutsbesitzer.<br />

Zwischen Petrograd und <strong>der</strong> aktiven Armee stand die Provinz. Ihr Wi<strong>der</strong>hall auf die<br />

Juliereignisse kann an sich als wichtiges nachträgliches Kriterium dienen bei <strong>der</strong><br />

Entscheidung über die Frage, ob die Bolschewiki im Juli richtig handelten, als sie dem<br />

unmittelbaren Kampf um die Macht auswichen. Schon in Moskau pulsierte die <strong>Revolution</strong><br />

unvergleichlich schwächer als in Petrograd. In <strong>der</strong> Sitzung des Moskauer Komitees<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki fanden stürmische Debatten statt: einzelne zum äußersten linken Flügel<br />

gehörende Personen, wie zum Beispiel Bubnow, schlugen vor, Post, Telegraph, Telephonamt<br />

und die Redaktion des 'Russkoje Slowo' zu besetzen, das heißt den Weg des<br />

Aufstandes zu betreten. Das seinem gesamten Geiste nach sehr gemäßigte Komitee<br />

wehrte diese Vorschläge entschieden ab, mit <strong>der</strong> Begründung, die Moskauer Massen<br />

seien zu solchen Aktionen durchaus nicht bereit. Trotz dem Verbot des Sowjets wurde<br />

beschlossen, eine Demonstration zu veranstalten. Zum Skobeljew-Platz marschierten<br />

beträchtliche Arbeitermassen unter den gleichen Parolen wie in Petrograd, doch bei<br />

weitem nicht mit <strong>der</strong> gleichen Begeisterung. Der Wi<strong>der</strong>hall in <strong>der</strong> Garnison war nicht<br />

einmütig, wenige Teile schlossen sich an, nur einer davon in voller Ausrüstung. Der<br />

Artilleriesoldat Dawydowskil dem es bevorstand, an den Oktoberkämpfen ernsten Anteil<br />

zu nehmen, bezeugt in seinen Erinnerungen, #daß Moskau in den Julitagen unvorbereitet<br />

war und daß <strong>der</strong> Mißerfolg bei den Deinonstrationsführern »einen ungünstigen Nie<strong>der</strong>schlag«<br />

zurückließ.<br />

Nach lwanowo-Wosnessensk, <strong>der</strong> Textilresidenz, wo <strong>der</strong> Sowjet bereits unter Führung<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki stand, drangen die Berichte über die Ereignisse in Petrograd gleichzeitig<br />

mit einem Gerücht vom Sturze <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. In <strong>der</strong> Nachtsitzung des<br />

Exekutivkomitees wurde als vorbereitende Maßnahme beschlossen, eine Kontrolle über<br />

Telephon und Telegraph zu verhängen. Am 6. Juli wurde in den Fabriken die Arbeit<br />

eingestellt; an <strong>der</strong> Demonstration nahmen annähernd vierzigtausend Arbeiter teil, viele<br />

bewaffnet. Als bekannt wurde, daß die Petrogra<strong>der</strong> Demonstration nicht zum Siege<br />

geführt hatte, trat <strong>der</strong> lwanowoWolsnessensker Sowjet eiligst den Rückzug an.<br />

In Riga erfolgte unter dem Eindruck <strong>der</strong> Nachrichten über die Petrogradür Ereignisse<br />

in <strong>der</strong> Nacht zum 6. Juli ein Zusammenstoß zwischen den bolschewistisch gestimmten<br />

lettischen Schützen und dem "Todesbataillon", wobei das patriotische Bataillon zum<br />

Rückzug gezwungen wurde. Der Rigaer Sowjet nahm in <strong>der</strong> gleichen Nacht eine Resolution<br />

zugunsten <strong>der</strong> Sowjetmacht an. Zwei Tage später wurde eine gleiche Resolution in<br />

<strong>der</strong> Hauptstadt des Urals, Jekaterinburg, angemmen. Die Tatsache, daß die Parole <strong>der</strong><br />

Sowjetmacht, in den ersten Monaten nur im Namen <strong>der</strong> Partei erhoben, von nun an<br />

Programm einzelner Lokalsowjets wurde, bedeutete zweifellos einen großen Schritt<br />

vorwärts. Aber von <strong>der</strong> Resolution für die Sowjetmacht bis zum Aufstande unter dem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 351


Banner <strong>der</strong> Bolschewiki blieb noch ein weites Stück Weges.<br />

An einzelnen Punkten des Landes dienten die Petrogra<strong>der</strong> Ereignisse als Anstoß zur<br />

Entfachung scharfer Konflikte lokalen Charakters. In Nischni Nowgorod, wo sich die<br />

evakuierten Soldaten dem Abtransport zur Front lange wi<strong>der</strong>setzten, riefen die aus<br />

Moskau entsandten Junker durch ihre Gewalttaten die Empörung <strong>der</strong> beiden Platzregimenter<br />

hervor. Das Resultat eines Geplänkels, bei dem es Tote und Verwundete gab,<br />

war, daß die Junker sich ergaben und entwaffnet wurden. Die Behörden verschwanden.<br />

Von Moskau her rückte eine Strafexpedition aus drei Truppengattungen vor. An ihrer<br />

Spitze standen: <strong>der</strong> Befehlshaber des Moskauer Militärbezirks, <strong>der</strong> impulsive Oberst<br />

Werchowski, später Kerenskis Kriegsminister, und <strong>der</strong> Vorsitzende des Moskauer<br />

Sowjets, <strong>der</strong> alte Menschewik Chintschuk, ein Mann von wenig kriegerischer Wesensart,<br />

später Haupt <strong>der</strong> Kooperativen und dann Sowjetbotschafter in Berlin. Es gab jedoch für<br />

sie nichts mehr zu bestrafen, da das von den aufständischen Soldaten gewählte Komitee<br />

inzwischen die Ordnung völlig hergestellt hatte.<br />

Ungefähr in den gleichen Nachtstunden und aus dem gleichen Anlaß <strong>der</strong> Weigerung,<br />

an die Front zu gehen, meuterten in Kiew die Soldaten des Regiments Hetman Polubotjko<br />

in Stärke von fünftausend Mann, ergriffen Besitz vom Waffenlager, besetzten die<br />

Festung, den Kreisstab, verhafteten den Kommandanten und Milizchef. Die Panik in <strong>der</strong><br />

Stadt dauerte einige Stunden, bis es gelang, mit den kombinierten Kräften <strong>der</strong> Militärbehörden,<br />

<strong>der</strong> Komitees öffentlicher Organisationen und <strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Ukrainischen<br />

Zentralrada die Verhafteten zu befreien und den größten Teil <strong>der</strong> Aufständischen zu<br />

entwaffnen.<br />

Im fernen Krasnojarsk fühlten sich die Bolschewiki dank <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Garnison<br />

<strong>der</strong>art sicher, daß sie, trotz <strong>der</strong> im Lande bereits einsetzenden Reaktionswelle, am 9. Juli<br />

eine Demonstration veranstalteten, an <strong>der</strong> acht- bis zehntausend Menschen, meist Soldaten,<br />

teilnahmen. Gegen Krasnojarsk wurde aus Irkutsk eine Abteilung von vierhun<strong>der</strong>t<br />

Mann mit Artillerie unter Leitung des Kreiskriegskommissars, des Sozialrevolutionärs<br />

Krakowezki, entsandt. Während <strong>der</strong> beiden dem Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft für<br />

Beratungen und Unterhandlungen unentbehrlichen Tage wurde die Strafabteilung durch<br />

Soldatenagitation <strong>der</strong>art zersetzt, daß <strong>der</strong> Kommissar sich beeilen mußte, sie schleunigst<br />

nach Irkutsk zurückzuführen. Doch Krasnojarsk bildete eher eine Ausnahme.<br />

In den meisten Gouvernements- und Kreisstädten war die Lage viel ungünstiger. In<br />

Samara zum Beispiel hatte die bolschewistische Organisation bei <strong>der</strong> Nachricht von den<br />

Kämpfen in <strong>der</strong> Hauptstadt »auf ein Signal gewartet, obwohl man fast mit niemand<br />

rechnen konnte«. Eines <strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong> am Ort erzählt: »Die Arbeiter begannen, mit<br />

den Bolschewiki zu sympathisieren«, doch zu hoffen, sie würden sich in den Kampf<br />

stürzen, war unmöglich; mit den Soldaten konnte man noch weniger rechnen; was die<br />

Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki betraf, so »waren die Kräfte sehr schwach, - wir waren ein<br />

Häuflein; im Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten gab es <strong>der</strong> Bolschewiki nur wenige Mann<br />

und im Soldatensowjet scheinbar überhaupt keine, er bestand ja fast ausschließlich. aus<br />

Offizieren«. Die Hauptursache des schwachen und uneinheitlichen Wi<strong>der</strong>halls im Lande<br />

bestand darin, daß die Provinz, die ohne Kämpfe die Februarrevolution aus den Händen<br />

Petrograds, übemommen hatte, viel langsamer als die Hauptstadt die neuen Tatsachen<br />

und Ideen verdaute. Es war eine ergänzende Frist nötig, damit die Avantgarde die schweren<br />

Reserven politisch an sich heranziehen konnte.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 352


Der Stand des Bewußtseins <strong>der</strong> Volksmassen, als die entscheidende Instanz revolutionärer<br />

Politik, schloß somit im Juli die Möghchkeit <strong>der</strong> Machtergreifung durch die<br />

Bolschewiki aus. Zugleich bewog die Offensive an <strong>der</strong> Front die Partei, sich Demonstrationen<br />

zu wi<strong>der</strong>setzen. Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Offensive war völlig unvermeidlich.<br />

Faktisch hatte er schon begonnen. Aber das Land wußte es noch nicht. Die Gefahr<br />

bestand darin, daß die Regierung im Falle einer Unvorsichtigkeit <strong>der</strong> Partei versuchen<br />

würde, die Verantwortung für die Folgen ihres eigenen Wahnsinns auf die Bolschewiki<br />

abzuwälzen. Man mußte <strong>der</strong> Offensive Zeit lassen, sich zu erschöpfen. Die Bolschewiki<br />

zweifelten nicht daran, daß <strong>der</strong> Umschwung in den Massen sich sehr schroff gestalten<br />

würde. Dann konnte man sehen, was zu unternehmen. Die Berechnung war durchaus<br />

richtig. Jedoch besitzen die Ereignisse ihre eigene Logik, die nicht nach politischen<br />

Berechnungen fragt, und diesmal brach sie grausam über die Köpfe <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

herein.<br />

Der Mißerfolg <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front nahm am 6. Juli den Charakter einer<br />

Katastrophe an, als die deutschen Truppen die russische Front in einer Ausdehnung von<br />

zwölf Werst Breite und zehn Werst Tiefe durchbrachen. In <strong>der</strong> Hauptstadt wurde <strong>der</strong><br />

Durchbruch am 7. Juli bekannt, gerade als die Nie<strong>der</strong>schlagungs- und Strafaktionen auf<br />

dem Gipfel waren. Noch viele Monate später, als die Leidenschaften sich beruhigt o<strong>der</strong><br />

doch einen geklärteren Charakter angenommen haben sollten, schrieb Stankewitsch,<br />

nicht <strong>der</strong> bösartigste Gegner des Bolschewismus, dennoch von »<strong>der</strong> rätselhaften Konsequenz<br />

<strong>der</strong> Ereignisse«, - in Gestalt des Durchbruchs bei Tamopol unmittelbar nach den<br />

Julitagen in Petrograd. Diese Menschen sahen nicht o<strong>der</strong> wollten nicht sehen, die wirkliche<br />

Konsequenz <strong>der</strong> Ereignisse, die darin bestand, daß die unter dem Stock <strong>der</strong> Entente<br />

begonnene hoffnungslose Offensive zu nichts an<strong>der</strong>em als zu einer militärischen<br />

Katastrophe führen konnte und gleichzeitig den Empörungsausbruch <strong>der</strong> durch die<br />

<strong>Revolution</strong> betrogenen Massen hervorrufen mußte. Aber war es nicht gleich, wie es sich<br />

in Wirklichkeit verhielt? Die Petrogra<strong>der</strong> Demonstration mit dem Mißerfolg an <strong>der</strong> Front<br />

zu verbinden, war zu verlockend. Die patriotische Presse verheimlichte die Nie<strong>der</strong>lage<br />

nicht nur nicht, im Gegenteil, sie übertrieb sie aus allen Kräften, ohne vor Aufdeckung<br />

von Kriegsgeheimnissen haltzumachen: Divisionen und Regimenter wurden genannt,<br />

ihre Stellung angegeben. »Seit dem 8. Juli«, gesteht Milljukow, »druckten die Zeitungen.<br />

vorsätzlich offene Telegramme von <strong>der</strong> Front, die die russische Öffentlichkeit wie<br />

Donner trafen.« Darin eben bestand die Absicht: erschüttern, erschrecken, betäuben, um<br />

desto leichter die Bolschewiki mit den Deutschen in Verbindung bringen zu können.<br />

Provokation hat zweifellos eine gewisse Rolle gespielt bei den Ereignissen an <strong>der</strong><br />

Front, wie auch in den Straßen Petrograds. Nach <strong>der</strong> Februarumwälzung hatte die Regierung<br />

in die aktive Armee eine große Anzahl ehemaliger Gendarmen und Schutzleute<br />

geworfen. Keiner von ihnen wollte natürlich Krieg führen. Sie fürchteten die <strong>russischen</strong><br />

Soldaten mehr als die Deutschen. Um ihre Vergangenheit vergessen zu machen, imitierten<br />

sie die radikalsten Stimmungen <strong>der</strong> Armee, hetzten Soldaten gegen Offiziere auf,<br />

schrien am lautesten gegen Disziplin und Offensive und gaben sich nicht selten direkt für<br />

Bolschewiki aus. Indem sie die natürlichen Verbindungen von Komplicen zueinan<strong>der</strong><br />

unterhielten, bildeten sie einen eigenartigen Orden <strong>der</strong> Feigheit und Nie<strong>der</strong>tracht. Durch<br />

sie drangen in die Truppen und verbreiteten sich schnell die phantastischsten Gerüchte,<br />

in denen Ultrarevolutionarismus sich mit Schwarzhun<strong>der</strong>ttum vermengte. In kritischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 353


Stunden gaben diese Subjekte als erste Paniksignale. Auf die zersetzende Arbeit <strong>der</strong><br />

Polizisten und Gendarmen verwies die Presse mehr als einmal. Nicht weniger häufig sind<br />

solcher Art Hinweise in den Geheimdokumenten <strong>der</strong> Armee selbst. Doch das höhere<br />

Kommando verharrte in Schweigen und zog es vor, die Schwarzhun<strong>der</strong>t-Provokateure<br />

mit den Bolschewiki zu identifizieren. Jetzt, nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> Offensive,<br />

wurde dieser Kniff legalisiert, und die Zeitung <strong>der</strong> Menschewiki war besorgt, hinter den<br />

schmutzigsten chauvinistischen Blättchen zurückzubleiben. Mit dem Geschrei über<br />

»Anarcho-Bolschewiki«, deutsche Agenten, ehemalige Gendarmen übertönten die<br />

Patrioten eine Weile nicht ohne Erfolg die Frage nach dem Gegamtzustand <strong>der</strong> Armee<br />

und <strong>der</strong> Friedenspolitik. »Unser tiefer Durchbruch an Lenins Front«, prahlte Fürst<br />

Lwow offen, »hat meiner festen Überzeugung nach unermeßlich größere Bedeutung für<br />

Rußland als <strong>der</strong> Durchbruch <strong>der</strong> Deutschen an <strong>der</strong> Südwestfront ... « Das ehrwürdige<br />

Regierungsoberhaupt ähnelte dem Kammerherrn Rodsjanko in dem Sinne, daß er nicht<br />

zu unterscheiden wußte, wann es zu schweigen hieß.<br />

Wäre es am 3. bis 4. Juli gelungen, die Massen von <strong>der</strong> Demonstration zurückzuhalten,<br />

die Aktion wäre unvermeidlich als Folge des Tarnopoler Durchbruchs gekommen. Die<br />

Frist von nur wenigen Tagen hätte indes wichtige Än<strong>der</strong>ungen in die politische Lage<br />

gebracht. Die Bewegung würde sogleich größeren Schwung angenommen und nicht nur<br />

die Provinz, son<strong>der</strong>n auch in bedeutendem Maße die Front erfaßt haben. Die Regierung<br />

wäre politisch entblößt und es wäre für sie viel schwieriger gewesen, die Schuld auf die<br />

»Verräter« im Mutterlande abzuschieben. Die Lage <strong>der</strong> bolschewistischen Partei würde<br />

in je<strong>der</strong> Hinsicht vorteilhafter gewesen sein. Aber auch in diesem Falle hätte es sich nicht<br />

um die unmittelbare Machteroberung handeln können. Mit Sicherheit läßt sich nur das<br />

eine behaupten: wäre die Bewegung eine Woche später entbrannt, die Reaktion hätte sich<br />

im Juli nicht so siegreich zu entfalten vermocht. Gerade die »rätselhafte Konsequenz«<br />

<strong>der</strong> Fristen von Demonstration und Durchbruch wandte sich völlig gegen die Bolschewiki.<br />

Die Welle <strong>der</strong> Empörung und Verzweiflung, die von <strong>der</strong> Front heranrollte, stieß auf<br />

die Welle <strong>der</strong> zertrümmerten Hoffnungen, die aus Petrograd kam. Die Lehre, die die<br />

Massen in <strong>der</strong> Hauptstadt erhalten hatten, war zu hart, als daß man sofort an eine Wie<strong>der</strong>aufnahme<br />

des Kampfes hätte denken können. Indessen suchte das durch die sinnlose<br />

Nie<strong>der</strong>lage hervorgerufene heftige Gefühl nach einem Ausweg. Und den Patrioten gelang<br />

es bis zu einem gewissen Grade, diese Stimmung gegen die Bolschewiki zu lenken.<br />

Im April, Juni und Juli waren die wichtigsten handelnden Figuren die gleichen: Liberale,<br />

Versöhnler, Bolschewiki. Die Massen suchten auf all diesen Etappen die Bourgeoisie<br />

von <strong>der</strong> Macht zu verdrängen. Aber <strong>der</strong> Unterschied in den politischen Folgen <strong>der</strong> Einmischung<br />

<strong>der</strong> Massen in die Ereignisse war ungeheuer. Das Resultat <strong>der</strong> "Apriltage" ergab<br />

einen Verlust für die Bourgeoisie: Die annexionistische Politik wurde, mindestens in<br />

Worten, verurteilt, die Kadettenpartei gedemütigt, das Portefeuille des Auswärtigen ihr<br />

abgenommen. Im Juni blieb die Bewegung unentschieden: man holte gegen die Bolschewiki<br />

aus, schlug jedoch nicht zu. Im Juli wurde die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki des Verrats<br />

beschuldigt, nie<strong>der</strong>geschlagen, des Feuers und des Wassers beraubt. Flog im April Miljukow<br />

aus <strong>der</strong> Regierung, ging im Juli Lenin in die Illegalität.<br />

Was bestimmte einen so schroffen Umschwung im Verlauf von zehn Wochen? Es ist<br />

ganz offensichtlich, daß in den regierenden Kreisen eine ernste Verschiebung in die<br />

Richtung zur liberalen Bourgeoisie vor sich gegangen war. Indes hatte sich gerade in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 354


dieser Periode, April-Juli, die Stimmung <strong>der</strong> Massen schroff zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

gewandelt. Diese zwei wi<strong>der</strong>strebenden Prozesse entwickelten sich in engster Abhängigkeit<br />

voneinan<strong>der</strong>. je mehr sich die Arbeiter und Soldaten um die Bolschewiki zusammenschlossen,<br />

um so entschiedener mußten die Versöhnler die Bourgeoisie unterstützen. Im<br />

April hatten die Führer des Exekutivkomitees, um ihren Einfluß besorgt, den Massen<br />

noch einen Schritt entgegenkommen und Miljukow, allerdings mit einem soliden<br />

Rettungsgürtel versehen, über Bord werfen können. Im Juli schlugen die Versöhnler<br />

gemeinsam mit Bourgeoisie und Offizierskorps auf die Bolschewiki ein. Die Verän<strong>der</strong>ung<br />

im Kräfteverhältnis war folglich auch diesmal hervorgerufen worden durch die<br />

Schwenkung <strong>der</strong> politisch am wenigsten wi<strong>der</strong>standsfähigen Kraft, <strong>der</strong> kleinbürgerlichen<br />

Demokratie, durch <strong>der</strong>en schroffe Wendung in die Richtung zur bürgerlichen Konterrevolution.<br />

Doch wenn dem so ist, handelten dann die Bolschewiki richtig, als sie sich <strong>der</strong> Demonstration<br />

anschlossen und die Verantwortung für sie übernahmen? Am 3. Juli hatte<br />

Tomski Lenins Gedanken kommentiert: »Jetzt von bewaffneter Demonstration zu<br />

sprechen, ohne eine neue <strong>Revolution</strong> zu wollen, ist unzulässig.« Wie konnte dann die<br />

Partei schon wenige Stunden später sich an die Spitze <strong>der</strong> bewaffneten Demonstration<br />

stellen, wobei sie keineswegs zu einer neuen <strong>Revolution</strong> aufrief? Der Doktrinär wird<br />

darin Inkonsequenz, o<strong>der</strong> noch schlimmer, politischen Leichtsinn erblikken. So betrachtete<br />

die Sache zum Beispiel Suchanow, dessen "Aufzeichnungen" nicht wenige ironische<br />

Zeilen über die Schwankungen <strong>der</strong> bolschewistischen Leitung enthalten. Doch die<br />

Massen greifen in die Ereignisse nicht nach doktrinärer Vorschrift ein, sondem dann,<br />

wenn es sich aus ihrer eigenen politischen Entwicklung ergibt. Die bolschewistische<br />

Leitung hatte klar erkannt, daß die politische Situation zu än<strong>der</strong>n nur eine neue <strong>Revolution</strong><br />

vermochte. Die Arbeiter und Soldaten jedoch hatten das noch nicht erkannt. Die<br />

bolschewistische Leitung sah klar, daß man den schweren Reserven Zeit lassen müsse,<br />

ihre Schlußfolgerungen aus dem Abenteuer <strong>der</strong> Offensive zu ziehen. Doch die fortgeschrittenen<br />

Schichten drängten auf die Straße gerade unter dem Einfluß dieses Abenteuers.<br />

Tiefster Radikalismus <strong>der</strong> Aufgaben vermischte sich da bei ihnen mit Illusionen über<br />

die Methoden. Die Warnungen <strong>der</strong> Bolschewiki fruchteten nichts. Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten konnten die Lage nur mittels eigener Erfahrung überprüfen. Die bewaffnete<br />

Demonstration wurde zu einer solchen Überprüfung. Doch gegen den Willen <strong>der</strong><br />

Massen konnte die Überprüfung sich leicht in eine Entscheidungsschlacht verwandeln<br />

und damit in eine entscheidende Nie<strong>der</strong>lage. Unter diesen Umständen durfte die Partei<br />

nicht abseits bleiben. Die Hände im Wässerchen strategischer Moralpredigten zu<br />

waschen, hätte bedeutet, die Arbeiter und Soldaten einfach ihren Feinden auszuliefern.<br />

Die Partei <strong>der</strong> Massen mußte sich auf den Boden stellen, auf den sich die Massen gestellt<br />

hatten, um, ohne irgendwie <strong>der</strong>en Illusionen zu teilen, ihnen zu helfen, mit den kleinsten<br />

Verlusten die notwendigen Lehren zu ziehen. Trotzki antwortete in <strong>der</strong> Presse den<br />

zahllosen Kritkern jener Tage: »Wir erachten es nicht als notwendig, uns vor wem immer<br />

deshalb zu verantworten, daß wir nicht abwartend beiseite traten und es General<br />

Polowzew überließen, sich mit den Demonstranten zu "unterhalten". Jedenfalls konnte<br />

unsere Einmischung in keiner Weise die Zahl <strong>der</strong> Opfer vergrößern o<strong>der</strong> die chaotische<br />

bewaffnete Kundgebung in einen pohtischen Aufstand verwandeln.«<br />

Dem Vorbild <strong>der</strong> "Julitage" begegnen wir in aßen alten <strong>Revolution</strong>en, mit verschiede-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 355


nem, aber in <strong>der</strong> Regel ungünstigem, häufig katastrophalem Ausgang. Eine <strong>der</strong>artige<br />

Etappe ist in <strong>der</strong> inneren Mechanik <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> begründet, insofem die<br />

Klasse, die am meisten für ihren Erfolg opfert und die meisten Hoffnungen auf sie setzt,<br />

von ihr am wenigsten empfängt. Die Gesetzmäßigkeit des Prozesses ist durchaus klar.<br />

Die besitzende Klasse, die, durch die Umwälzung <strong>der</strong> Macht teilhaftig geworden, zu <strong>der</strong><br />

Ansicht neigt, die <strong>Revolution</strong> habe damit bereits ihre Mission erfüllt, ist vor allem darum<br />

besorgt, den Kräften <strong>der</strong> Reaktion ihre Zuverlässigkeit zu beweisen. Die "revolutionäre"<br />

Bourgeoisie ruft die Empörung <strong>der</strong> Volksmassen durch die gleichen Maßnahmen hervor,<br />

durch die sie sich das Wohlgefallen <strong>der</strong> gestürzten Klasse zu gewinnen bestrebt ist. Die<br />

Enttäuschung <strong>der</strong> Massen tritt sehr schnell ein, noch ehe die Avantgarde Zeit findet, von<br />

den <strong>Revolution</strong>skämpfen abzukühlen. Das Volk glaubt, es könne durch einen neuen<br />

Schlag das vollenden o<strong>der</strong> korrigieren, was es früher nicht entschlossen genug getan hat.<br />

Daher <strong>der</strong> Drang zu einer neuen <strong>Revolution</strong>, ohne Vorbereitung, ohne Programm, ohne<br />

Berücksichtigung <strong>der</strong> Reserven, ohne Überlegung <strong>der</strong> Folgen. An<strong>der</strong>erseits lauert die neu<br />

zur Macht gelangte Schicht <strong>der</strong> Bourgeoisie gleichsam auf einen stürmischen Ausbruch<br />

von unten, um zu versuchen, mit dem Volke endgültig fertigzuwerden. Dies ist die<br />

soziale und psychologische Basis jener ergänzenden Halbrevolution, die in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> mehr als einmal Ausgangspunkt <strong>der</strong> siegreichen Konterrevolution wurde.<br />

Am I7. Juli 1791 schoß Lafayette auf dem Marsfelde eine friedliche Demonstration<br />

von Republikanern zusammen, die versucht hatten, sich mit einer Petition an die Nationalversammlung<br />

zu wenden, die den Treubruch <strong>der</strong> Königsmacht deckte, wie die <strong>russischen</strong><br />

Versöhnler hun<strong>der</strong>tsechsundzwanzig Jahre später den Treubruch <strong>der</strong> Liberalen<br />

deckten. Die royalistische Bourgeoisie hoffte durch ein rechtzeitiges Blutbad mit <strong>der</strong><br />

Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> für immer fertigzuwerden. Die Republikaner, die sich noch nicht<br />

stark genug fühlten, zu siegen, wichen dem Kampfe aus, was durchaus vernünftig war.<br />

Sie beeilten sich sogar, von den Petitionären abzurücken, was jedenfalls würdelos und<br />

falsch war. Das Regime des bürgerlichen Terrors zwang die Jakobiner, sich einige<br />

Monate still zu verhalten. Robespierre fand Unterschlupf bei dem Tischler Duplay,<br />

Desmoulins hielt sich versteckt, Danton verbrachte einige Wochen in England. Doch die<br />

royalistische Provokation mißlang dennoch: das Blutgericht auf dem Marsfeld hin<strong>der</strong>te<br />

die republikanische Bewegung nicht, zum Siege zu gelangen. Die Große Französische<br />

<strong>Revolution</strong> hatte somit ihre "Julitage" sowohl im politischen wie im Kalen<strong>der</strong>sinne des<br />

Wortes.<br />

Nach siebenundfünfzig Jahren fielen in Frankreich die "Julitage" auf den Juni und<br />

nahmen einen unermeßlich grandioseren und tragischeren Charakter an. Die sogenannten<br />

"Junitage" von 1848 erwuchsen mit unüberwindlicher Kraft aus <strong>der</strong> Februarumwälzung.<br />

Die französische Bourgeoisie proklamierte in den Stunden ihres Sieges das "Recht auf<br />

Arbeit", wie sie seit 1789 viele herrliche Dinge verkündete, und wie sie 1914 beteuerte,<br />

sie führe ihren letzten Krieg. Aus dem prunkvollen Recht auf Arbeit entstanden die<br />

kläglichen Nationalwerkstätten, wo hun<strong>der</strong>ttausend Arbeiter, die für ihre Brotgeber die<br />

Macht erobert hatten, dreiundzwanzig Sous pro Tag bekamen. Bereits einige Wochen<br />

später fand die mit Phrasen so freigebige, aber mit Moneten so knickrige republikanische<br />

Bourgeoisie nicht genug beleidigen<strong>der</strong> Worte für die "Müßiggänger", die auf die nationale<br />

Hungerration gesetzt waren. In dem Überfluß an Februar-Versprechungen und <strong>der</strong><br />

Planmäßigkeit <strong>der</strong> Vorjuni-Provokationen zeigt sich <strong>der</strong> nationale Zug <strong>der</strong> französischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 356


Bourgeoisie. Aber auch sonst hätten die Pariser Arbeiter, mit <strong>der</strong> Februarflinte in <strong>der</strong><br />

Hand, nicht den Wi<strong>der</strong>spruch hinnehmen können zwischen dem prunkvollen Programm<br />

und <strong>der</strong> jämmerlichen Wirklichkeit, diesen unerträglichen Kontrast, <strong>der</strong> sie täglich an<br />

Magen und Gewissen traf. Mit welch kühler und fast unverhüllter Berechnung ließ<br />

Cavaignac vor den Augen <strong>der</strong> gesamten herrschenden Gesellschaft den Aufstand<br />

anwachsen, um desto entschiedener mit ihm abzurechnen. Nicht weniger als zwölftausend<br />

Arbeiter ermordete die republikanische Bourgeoisie, nicht weniger als zwanzigtausend<br />

verhaftete sie, um die übrigen von dem Glauben an das von ihr verkündete "Recht<br />

auf Arbeit" zu kurieren. Ohne Plan, ohne Programm, ohne Leitung ähneln die Junitage<br />

von 1848 einem mächtigen und unabwendbaren Reflex des in seinen elementarsten<br />

Bedürfnissen benachteiligten und in seinen höchsten Hoffnungen betrogenen Proletariats.<br />

Die aufständischen Arbeiter wurden nicht nur nie<strong>der</strong>geschlagen, son<strong>der</strong>n auch verleumdet.<br />

Der linke Demokrat Flocon, Gesinnungsgenosse Ledru Rollins, eines Vorläufers<br />

Zeretellis, versicherte <strong>der</strong> Nationalversammlung, die Aufständischen seien von Monarchisten<br />

und ausländischen Regierungen bestochen. Die Versöhnler von 1848 brauchten<br />

nicht einmal die Kriegsatmosphäre, um in den Taschen <strong>der</strong> Rebellen englisches und<br />

russisches Gold zu entdecken. So bereiteten die Demokraten dem Bonapartismus den<br />

Weg.<br />

Das gigantische Aufbranden <strong>der</strong> Kommune verhielt sich zur Septemberumwälzung<br />

1870 wie die Junitage zur Februarrevolution von 1848. Der Märzaufstand des Pariser<br />

Proletariats war am allerwenigsten Sache strategischer Berechnung. Er entstand aus einer<br />

tragischen Verquickung von Umständen, ergänzt durch eine jener Provokationen, an<br />

denen die französische Bourgeoisie, wenn Angst ihren bösen Willen anpeitscht, so erfin<strong>der</strong>isch<br />

ist. Entgegen den Plänen <strong>der</strong> regierenden Clique, die vor allem bestrebt war, das<br />

Volk zu entwaffnen, wollten die Arbeiter Paris, das sie zum erstenmal in ihr Paris<br />

umzuwandeln versuchten, verteidigen. Die Nationalgarde gab ihnen eine bewaffnete<br />

Organisation, sehr ähnlich dem Sowjettypus, und die politische Führung in Gestalt ihres<br />

Zentralkomitees. Infolge ungünstiger objektiver Verhältnisse und politischer Fehler sah<br />

sich Paris Frankreich gegenübergestellt; nicht verstanden, nicht unterstützt, zum Teil von<br />

<strong>der</strong> Provinz direkt verraten, fiel es in die Hände <strong>der</strong> wütenden Versailler, die im Rücken<br />

Bismarck und Moltke hatten. Die demoralisierten und geschlagenen Offiziere Napoleons<br />

III. erwiesen sich als unersetzliche Henker im Dienste <strong>der</strong> zärtlichen Marianne, die durch<br />

die Preußen in schweren Stiefeln eben erst aus den Umarmungen des Schein-Bonaparte<br />

befreit worden war. In <strong>der</strong> Pariser Kommune erklomm <strong>der</strong> reflexive Protest des Proletariats<br />

gegen den Betrug <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> zum erstenmal in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> die<br />

Stufe <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung, erklomm, um jedoch gleich wie<strong>der</strong> zu fallen.<br />

Die Spartakuswoche im Januar 1919 in Berlin gehört zum gleichen Typ zwischenstuflicher<br />

Halbrevolutionen wie die Julitage in Petrograd. Infolge <strong>der</strong> vorherrschenden<br />

Stellung des Proletariats innerhalb <strong>der</strong> deutschen Nation, beson<strong>der</strong>s ihrer Wirtschaft,<br />

hatte die Novemberumwälzung dem Arbeiter- und Soldatenrat automatisch die Staatssouveränität<br />

übergeben. Doch das Proletariat war politisch mit <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

identisch, die sich selbst mit dem bürgerlichen Regime identifizierte. Die Unabhängige<br />

Sozialdemokratische Partei nahm in <strong>der</strong> deutschen <strong>Revolution</strong> jenen Platz ein, <strong>der</strong> in<br />

Rußland den Sozialrevolutionären und Menschewiki gehörte. Was fehlte, war eine<br />

bolschewistische Partei.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 357


Je<strong>der</strong> Tag nach dem 9. November erzeugte bei den deutschen Arbeitern das lebendige<br />

Gefühl, es entgleite etwas ihren Händen, werde ihnen weggenommen, rinne zwischen<br />

den Fingern hindurch. Das Bestreben, die Errungenschaften festzuhalten, die Positionen<br />

zu stärken, Abwehr zu leisten, wuchs von Tag zu Tag. Diese defensive Tendenz lag auch<br />

bei den Januarkäinpfen von 1919 zugrunde. Die Spartakuswoche begann nicht als Folge<br />

strategischer Berechnung <strong>der</strong> Partei, son<strong>der</strong>n als Folge des Drucks <strong>der</strong> empörten unteren<br />

Schichten. Sie entwickelte sich um eine drittrangige Frage, um das Verbleiben des<br />

Polizeipräsidenten auf seinem Posten, obwohl sie ihren Tendenzen nach den Beginn<br />

einer neuen Umwälzung darstellte. Beide an <strong>der</strong> Leitung beteiligten Organisationen, die<br />

Spartakisten und die linken Unabhängigen, wurden von den Ereignissen überrascht,<br />

gingen weiter, als sie wollten, doch nicht bis zu Ende. Die Spartakisten waren zu einer<br />

selbständigen Führung noch zu schwach. Die linken Unabhängigen scheuten vor den<br />

Methoden zurück, die allein zum Ziele führen konnten, schwankten, spielten Aufstand,<br />

diesen mit diplomatischen Verhandlungen verbindend.<br />

Die Januarnie<strong>der</strong>lage erreicht nach <strong>der</strong> Zahl ihrer Opfer bei weitem nicht die gigantischen<br />

Zahlen <strong>der</strong> "Junitage" in Frankreich. Jedoch läßt sich die politische Bedeutung<br />

einer Nie<strong>der</strong>lage nicht allein mit <strong>der</strong> Statistik <strong>der</strong> Ermordeten und Erschossenen messen.<br />

Es genügt, daß die junge Kommunistische Partei dabei physisch enthauptet wurde und<br />

die Unabhängige Partei gezeigt hatte, daß sie schon dem Wesen ihrer Methoden nach<br />

unfähig war, das Proletariat zum Siege zu führen. Von einem weiteren Gesichtspunkte<br />

aus gesehen haben sich die "Julitage" in Deutschland in mehreren Etappen abgespielt:<br />

Januarwoche 1919, Märztage 1921, Oktoberrückzug 1923. Die gesamte weitere<br />

<strong>Geschichte</strong> Deutschlands ergibt sich aus diesen Ereignissen. Die nicht zu Ende geführte<br />

<strong>Revolution</strong> schaltete sich auf den Faschismus um.<br />

In dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden Anfang Mai 1931, bereitete<br />

die unblutige, friedliche, ruhmreiche (die Liste dieser Adjektive bleibt sich stets gleich)<br />

<strong>Revolution</strong> in Spanien vor unseren Augen ihre "Junitage" vor, nimmt man Frankreichs<br />

Kalen<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> ihre "Julitage" nach dem Kalen<strong>der</strong> Rußlands. In Phrasen plätschernd, die<br />

nicht selten wie eine Übersetzung aus dem Russischen erscheinen, verspricht die Madri<strong>der</strong><br />

Provisorische Regierung weitgehende Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und<br />

Landnot, wagt aber nicht, auch nur an eine <strong>der</strong> alten sozialen Wunden zu rühren. Die<br />

Koalitionssozialisten helfen den Republikanern die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu sabotieren.<br />

Ist es schwer, das fieberhafte Steigen <strong>der</strong> Empörung bei Arbeitern und Bauern<br />

vorauszusehen? Das Mißverhältnis zwischen dem Gang <strong>der</strong> Massenrevolution und <strong>der</strong><br />

Politik <strong>der</strong> neuen regierenden Klassen - das ist die Quelle jenes unversöhnlichen<br />

Konflikts, <strong>der</strong> in seiner Entwicklung entwe<strong>der</strong> die erste, die Aprilrevolution, begraben<br />

o<strong>der</strong> zur zweiten führen wird.<br />

Wenn auch die Kernmasse <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bolschewiki im Juli 1917 fühlte, daß man<br />

über eine gewisse Grenze noch nicht hinausgehen dürfe, war eine einheitliche Stimmung<br />

doch nicht vorhanden. Viele Arbeiter und Soldaten waren geneigt, die sich entwickelnden<br />

Aktionen als entscheidende Lösung einzuschätzen. In seinen Erinnerungen, die fünf<br />

Jahre später geschrieben sind, äußert sich Metelew über den Sinn <strong>der</strong> Ereignisse in<br />

folgenden Worten: »An diesem Aufstande war unser Hauptfehler, daß wir dem Versöhnler-Exekutivkomitee<br />

anboten, die Macht zu ergreifen ... Nicht anbieten sollte man,<br />

son<strong>der</strong>n selbst die Macht ergreifen. Unser zweiter Fehler war, daß wir fast zweimal<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 358


vierundzwanzig Stunden in den Straßen defilierten, anstatt sofort alle Ämter, Paläste,<br />

Banken, Bahnhöfe, Telegraphen zu besetzen, die gesamte Provisorische Regierung zu<br />

verhaften«, und so weiter. In bezug auf einen Aufstand wäre das zweifellos richtig. Doch<br />

die Julibewegung in einen Aufstand zu verwandeln, würde fast sicher bedeutet haben, die<br />

<strong>Revolution</strong> zu begraben.<br />

Die Anarchisten, die zum Kampf riefen, wiesen darauf hin, daß »auch <strong>der</strong> Februaraufstand<br />

ohne Führung von Parteien vollzogen wurde«. Aber <strong>der</strong> Februaraufstand hatte<br />

fertige, durch den Kampf von Generationen ausgearbeitete Aufgaben vor sich, und über<br />

dem Februaraufstand erhoben sich die oppositionelle liberale Gesellschaft und die patriotische<br />

Demokratie, vorbereitete Anwärter auf die Macht. Die Julibewegung dagegen<br />

mußte sich ein ganz neues historisches Bett bahnen. Die gesamte bürgerliche Gesellschaft,<br />

einschließlich Sowjetdemokratie, stand ihr mit unversöhnlicher Feindschaft<br />

gegenüber. Diesen Grundunterschied zwischen den Bedingungen <strong>der</strong> bürgerlichen und<br />

<strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> hatten die Anarchisten nicht gesehen o<strong>der</strong> nicht begriffen.<br />

Hätte die bolschewistische Partei sich auf <strong>der</strong> doktrinären Einschätzung <strong>der</strong> Julibewegung<br />

als einer "verfrühten" versteift, den Massen den Rücken gekehrt, <strong>der</strong> halbe<br />

Aufstand wäre unvermeidlich unter die zersplitterte und uneinige Leitung von Anarchisten,<br />

Abenteurern, zufälligen Exponenten <strong>der</strong> Massenempörung geraten und in fruchtlosen<br />

Konvulsionen verblutet. Aber auch umgekehrt: Hätte die Partei, sich an die Spitze<br />

<strong>der</strong> Maschinengewehrschützen und <strong>der</strong> Putilower stellend, auf ihre Gesamteinschätzung<br />

<strong>der</strong> Lage verzichtet und den Weg entscheiden<strong>der</strong> Kämpfe beschnitten, <strong>der</strong> Aufstand hätte<br />

zweifellos kühnen Schwung genommen, und die Arbeiter und Soldaten würden unter <strong>der</strong><br />

Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki die Macht erobert haben, aber nur, um den Zusammenbruch <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> vorzubereiten. Die Frage <strong>der</strong> Macht im nationalen Maßstabe wäre, im Gegensatz<br />

zum Februar, durch einen Sieg in Petrograd nicht entschieden worden. Die Provinz<br />

hätte mit <strong>der</strong> Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Front die Umwälzung nicht begriffen<br />

und nicht akzeptiert. Eisenbahn und Telegraph hätten den Versöhnlern gegen die<br />

Bolschewiki gedient. Kerenski und das Hauptquartier eine Regierung <strong>der</strong> Front und<br />

Provinz gebildet. Petrograd wäre blockiert worden. In seinen Mauern hätte Zersetzung<br />

Platz gegriffen. Der Regierung wäre es möglich gewesen, größere Soldatenmassen gegen<br />

Petrograd zu werfen. Der Aufstand hätte unter solchen Bedingungen mit einer Tragödie<br />

<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Kommune geendet.<br />

An <strong>der</strong> Juli-Kreuzung <strong>der</strong> historischen Wege hat nur die Einmischung <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong><br />

Bolschewiki beide Varianten <strong>der</strong> schicksalvollen Gefahr verhin<strong>der</strong>t: sowohl die im<br />

Geiste <strong>der</strong> junitage von 1848 wie die im Geiste <strong>der</strong> Pariser Kommune von 1871. Dank<br />

<strong>der</strong> Tatsache, daß die Partei sich kühn an die Spitze <strong>der</strong> Bewegung stellte, erhielt sie die<br />

Möglichkeit, die Massen in dem Moment anzuhalten, wo die Demonstration sich in ein<br />

bewaffnetes Kräftemessen zu verwandeln begann. Der Schlag, <strong>der</strong> im Juli den Massen<br />

und <strong>der</strong> Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheiden<strong>der</strong><br />

Schlag. Die Opfer zählten nach Zehnern, nicht nach Zehntausenden. Die Arbeiterklasse<br />

ging aus <strong>der</strong> Prüfung we<strong>der</strong> enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfka<strong>der</strong><br />

unversehrt erhalten, und diese Ka<strong>der</strong> hatten vieles gelernt.<br />

In jenen Tagen <strong>der</strong> Februarumwälzung hatte sich die gesamte vorangegangene langjährige<br />

Arbeit <strong>der</strong> Bolschewiki gezeigt, und die von <strong>der</strong> Partei erzogenen fortgeschrittenen<br />

Arbeiter hatten ihren Platz im Kampfe gefunden; doch eine unmittelbare Leitung seitens<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 359


<strong>der</strong> Partei gab es noch nicht. In den Aprilereignissen enthüllten die Parteiparolen ihre<br />

dynamische Kraft, die Bewegung jedoch entwickelte sich spontan. Im Juni offenbarte<br />

sich <strong>der</strong> riesige Einfluß <strong>der</strong> Partei, doch die Massen traten noch im Rahmen einer offiziell<br />

vom Gegner bestimmten Demonstration auf. Und erst im Juli erscheint die bolschewistische<br />

Partei, nachdem sie den Druck <strong>der</strong> Massen an sich erfahren hat, gegen alle übrigen<br />

Parteien auf <strong>der</strong> Straße und bestimnit nicht nur ihre Parolen, sondem auch durch ihre<br />

organisatorische Leitung den grundlegenden Charakter <strong>der</strong> Bewegung. Die Bedeutung<br />

einer geschlossenen Avantgarde zeigt sich zum erstenmal in ihrer ganzen Stärke während<br />

<strong>der</strong> Julitage, wo die Partei - um einen hohen Preis - das Proletariat vor Zerschmetterung<br />

bewahrt und die Zukunft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und ihre eigene Zukunft sichert.<br />

»Als technische Probe«, schrieb Miljukow über die Bedeutung <strong>der</strong> Julitage für die<br />

Bolschewiki, »war das Experiment für sie zweifellos außerordentlich nützlich. Es zeigte<br />

ihnen, mit welchen Elementen man es zu tun hat; wie diese Elemente zu organisieren,<br />

undschließlich, welchen Wi<strong>der</strong>stand Regierung, Sowjet und Truppenteile zu leisten<br />

imstande sind ... Es war klar, kommt die Zeit für die Wie<strong>der</strong>holung des Experiments, sie<br />

würden es systematischer und umsichtiger ausführen.« Diese Worte schätzen die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Julierfahrung für die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Bolschewiki richtig<br />

ein. Aber bevor sie die Julilehren ausnutzte, mußte die Partei noch einige äußerst<br />

schwere Wochen durchmachen, wo es kurzsichtigen Feinden schien, die Kraft des<br />

Bolschewismus sei endgültig gebrochen.<br />

Ein Monat <strong>der</strong> großen Verleumdung<br />

Am 4. Juli, bereits in den Nachtstunden, während die zweihun<strong>der</strong>t Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

beiden Exekutiven, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauern, sich zwischen<br />

zwei gleich fruchtlosen Sitzungen abmarterten, drang in ihre Mitte ein geheimnisvolles<br />

Gerücht: man habe Belege über Lenins Verbindung mit dem deutschen Generalstab<br />

aufgefunden; morgen würden die Zeitungen die enthüllenden Dokumente<br />

veröffentlichen. Die finsteren Auguren vom Präsidium, die den Saal auf dem Wege<br />

hinter die Kulissen durchqueren, wo unaufhörlich Beratungen stattfinden, beantworten<br />

unwillig und ausweichend die Fragen sogar ihnen befreundeter Personen. Über das<br />

Taurische Palais, das vom außenstehenden Publikum fast verlassen ist, legt sich ein<br />

Schauer. Lenin im Dienste des deutschen Generalstabs? Zweifel, Schrecken, Schadenfreude<br />

führen die Deputierten zu erregten Gruppen zusammen. »Selbstverständlich«,<br />

erinnert sich Suchanow, <strong>der</strong> in den Julitagen den Bolschewiki sehr feindlich gegenüberstand,<br />

»zweifelte von den <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wirklich verbundenen Menschen niemand auch<br />

nur einen Augenblick an <strong>der</strong> Unsinnigkeit dieser Gerüchte.« Doch Menschen mit revolutionärer<br />

Vergangenheit bildeten unter den Mitglie<strong>der</strong>n des Exekutivkomitees eine<br />

unbedeutende Min<strong>der</strong>heit. Märzrevolutionäre, zufällige Elemente, von <strong>der</strong> ersten Welle<br />

erfaßt, überwogen sogar in den leitenden Sowjetorganen. Unter den Provinzlern,<br />

Dorfschreibern, Krämern, Amtsvorstehern stieß man auf Deputierte mit unverkennbarem<br />

Geruch nach Schwarzhun<strong>der</strong>ttum. Die sind zuallererst aufgeknöpft: sie haben das vorausgesehen,<br />

so war's auch zu erwarten!<br />

Erschreckt durch die überraschende und allzu jähe Wendung <strong>der</strong> Sache, suchten die<br />

Führer Zeit zu gewinnen. Tschcheidse und Zeretelli empfahlen telephonisch den<br />

Zeitungsredaktionen, von <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> sensationellen Enthüllungen, weil<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 360


»ungeprüft«, abzusehen. Die Redaktionen wagten nicht, gegen eine aus dem Taurischen<br />

Palais kommende "Bitte" zu verstoßen; alle, außer einer: das kleine gelbe Blatt eines <strong>der</strong><br />

Söhne Suworins. des gewichtigen Verlegers <strong>der</strong> 'Nowoje Wremja', servierte am nächsten<br />

Morgen seinen Lesern das offiziös klingende Dokument über den Empfang von Direktiven<br />

und Geld <strong>der</strong> deutschen Regierung durch Lenin. Das Verbot war durchbrochen, und<br />

tags darauf war die gesamte Presse von dieser Sensation voll. So setzte die unglaublichste<br />

Episode des an Ereignissen reichen Jahres ein: Führer einer revolutionären Partei,<br />

<strong>der</strong>en Leben jahrzehntelang im Kampf mit gekrönten und ungekrönten Herrschern<br />

verlaufen war, wurden vor dem ganzen Lande und <strong>der</strong> ganzen Welt als gemietete<br />

Agenten <strong>der</strong> Hohenzollern hingestellt. Eine Verleumdung von nie dagewesenem<br />

Maßstabe wurde in die Tiefe <strong>der</strong> Volksmassen geschleu<strong>der</strong>t, die in ihrer überwiegenden<br />

Mehrheit zum erstenmal nach <strong>der</strong> Februarrevolution die Namen <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Führer vernahmen. Die Intrige wurde zum erstrangigen politischen Faktor. Das macht<br />

eine aufmerksamere Untersuchung ihrer Mechanik notwendig.<br />

Das sensationelle Dokument hatte zu seiner Urquelle die Aussagen eines gewissen<br />

Jermolenko. Die Physiognomie dieses Helden wird durch die offiziellen Angaben<br />

erschöpft: in <strong>der</strong> Periode nach dem Japanischen Krieg bis 1913 Agent <strong>der</strong> Konterspionage;<br />

1913 im Range eines Fähnrichs entlassen aus nicht festzustellenden Gründen; im<br />

Jahre 1914 zur aktiven Armee eingezogen; geriet ruhmreich in Gefangenschaft und<br />

beschäftigte sich mit polizeilicher Überwachung <strong>der</strong> Kriegsgefangenen. Doch entspricht<br />

das Regime des Konzentrationslagers nicht dem Geschmack des Spitzels, und er tritt »auf<br />

Drängen <strong>der</strong> Kameraden« - das sind seine Angaben - in Dienst <strong>der</strong> Deutschen, selbstverständlich<br />

zu patriotischen Zwecken. In seinem Leben begann ein neues Kapitel. Am<br />

25. April wurde <strong>der</strong> Fähnrich von den deutschen Militärbehörden über die russische<br />

Front »geworfen« zum Zwecke, Brücken zu sprengen, Spionageberichte zu liefern, für<br />

die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Ukraine zu kämpfen und für den Separatfrieden zu agitieren.<br />

Deutsche Offiziere, die Hauptleute Schidizki und Libers, die Jermolenko für diese<br />

Zwecke verpflichtet hatten, berichteten ihm darüber hinaus, so nebenbei, ohne jegliche<br />

praktische Notwendigkeit, offenbar nur zur Stärkung seines Mutes, außer dem Fähnrich<br />

werde in <strong>der</strong> gleichen Richtung in Rußland noch ... Lenin arbeiten. Das ist das Fundament<br />

<strong>der</strong> ganzen Sache.<br />

Was o<strong>der</strong> wer gab Jermolenko seine Aussagen über Lenin ein? Deutsche Offiziere<br />

jedenfalls nicht. Eine einfache Gegenüberstellung von Daten und Tatsachen führt uns in<br />

das geistige Laboratorium des Fähnrichs ein. Am 4. April veröffentlichte Lenin seine<br />

berühmten Thesen, die eine Kriegserklärung an das Februarregime bedeuteten. Am 20.<br />

bis 21. fand die bewaffnete Demonstration gegen die Verlängerung des Krieges statt. Die<br />

Hetze gegen Lenin nahm den Charakter eines Orkans an. Am 25. wurde Jermolenko über<br />

die russische Front »geworfen« und kam in <strong>der</strong> ersten Maihälfte in Führung mit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Spionage beim Hauptquartier. Die zweideutigen Zeitungsartikel, die nachwiesen,<br />

Lenins Politik nütze dem »Kaiser«, führten zu dem Gedanken, Lenin sei deutscher<br />

Agent. An <strong>der</strong> Front genierten sich die Offiziere und Kommissare im Kampfe mit dem<br />

unüberwindlichen »Bolschewismus« <strong>der</strong> Soldaten noch weniger bei <strong>der</strong> Wahl ihrer<br />

Äußerungen, wenn die Rede auf Lenin kam. Jermolenko tauchte sogleich in diesem<br />

Strome unter. Ob er selbst den bei den Haaren herbeigezogenen Satz über Lenin ausgedacht<br />

hat, ob ihn irgendein Inspirator ihm vertraulich zugeflüstert o<strong>der</strong> ihn die Beamten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 361


<strong>der</strong> Konterspionage mit Jermolenko zusammen verfertigt haben - ist ohne große Bedeutung.<br />

Die Nachfrage nach Verleumdungen gegen die Bolschewiki erreichte eine solche<br />

Spannung, daß das Angebot nicht ausbleiben konnte. Der Generalstabschef Denikin, <strong>der</strong><br />

spätere Generalissimus <strong>der</strong> Weißen im Bürgerkriege, <strong>der</strong> sich selbst nicht sehr über den<br />

Horizont <strong>der</strong> Agenten <strong>der</strong> zaristischen Konterspionage erhob, verlieh o<strong>der</strong> tat, als<br />

verleihe er, Jermolenkos Angaben große Bedeutung und übemittelte sie mit einem<br />

entsprechenden Brief am 16. Mai dem Kriegsminister. Kerenski besprach sich, wie<br />

anzunehmen ist, mit Zeretelli und Tschcheidse, die nicht umhin konnten, seinen edlen<br />

Eifer etwas zu hemmen; das erklärt offenbar, weshalb die Angelegenheit nicht weiter<br />

verfolgt wurde. Kerenski schrieb später, wenn auch Jermolenko auf Lenins Verbindung<br />

mit dem deutschen Generalstab hingewiesen habe, so doch »nicht mit ausreichen<strong>der</strong><br />

Bestimmtheit«. Der Bericht Jermolenko-Denikin blieb an<strong>der</strong>thalb Monate im Verborgenen<br />

liegen. Die Konterspionage entließ Jermolenko aus Mangel an Beschäftigung, und<br />

<strong>der</strong> Fähnrich machte sich nach dem Fernen Osten davon, das aus zweierlei Quellen erhaltene<br />

Geld zu vertrinken.<br />

Die Ereignisse <strong>der</strong> Julitage, die die drohende Gefahr des Bolschewismus in ihrer<br />

ganzen Größe gezeigt hatten, zwangen jedoch, sich <strong>der</strong> Enthüllungen Jermolenkos zu<br />

erinnern. Er wurde eiligst aus Blagowestschensk herbeigerufen, konnte aber infolge<br />

mangeln<strong>der</strong> Einbildungskraft, trotz allen Ermunterungen, seinen ursprünglichen Angaben<br />

kein Wort hinzufügen. Zu dieser Zeit arbeiteten indes Justiz und Konterspionage bereits<br />

mit Volldampf. Über eventuelle verbrecherische Verbindungen <strong>der</strong> Bolschewiki wurden<br />

Politiker, Generale, Gendarmen, Kaufleute und eine Menge Personen verschiedenster<br />

Berufe vernommen. Die soliden zaristischen Gendarmen verhielten sich bei diesen<br />

Untersuchungen bedeutend vorsichtiger als die nagelneuen Vertreter <strong>der</strong> demokratischen<br />

Justiz! »Über Berichte«, schrieb <strong>der</strong> ehemalige Chef <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Ochrana, <strong>der</strong><br />

würdige General Globatschew, »wonach Lenin in Rußland zu dessen Schaden und für<br />

deutsches Geld gearbeitet habe, verfügte die Ochrana, mindestens während meiner<br />

Dienstzeit, nicht.« Ein an<strong>der</strong>er Geheimpolizist, Jakubow, <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> Konterspionageabteilung<br />

des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirkes, sagte aus: »Mir ist über Verbindungen Lenins<br />

und seiner Gesinnungsgenossen mit dem deutschen Generalstab nichts bekannt, auch<br />

weiß ich nichts über die Geldmittel, die Lenin zur Verfügung standen.« Aus den Organen<br />

<strong>der</strong> zaristischen Geheimpolizei, die den Bolschewismus von seinen ersten Anfängen an<br />

überwacht hatten, war nichts Nützliches herauszupressen.<br />

Indes, wenn Menschen, beson<strong>der</strong>s mit <strong>der</strong> Regierungsmacht bewaffnete, lange suchen,<br />

finden sie schließlich doch etwas. Irgendein S. Burstein, seinem offiziellen Stande nach<br />

Kaufmann, öffnete <strong>der</strong> Provisorischen Regierung die Augen über die »deutsche Spionageorganisation<br />

in Stockholm, mit Parvus an <strong>der</strong> Spitze«, dem bekannten deutschen<br />

Sozialdemokraten russischer Herkunft. Nach Bursteins Angaben stand Lenin durch die<br />

polnischen <strong>Revolution</strong>äre Ganetzki und Koslowski mit dieser Organisation in Verbindung.<br />

Kerenski schrieb später: »Sehr ernsthafte Angaben, aber lei<strong>der</strong> nicht vom Gericht,<br />

son<strong>der</strong>n von Geheimagenten herrührend, sollten mit <strong>der</strong> Ankunft Ganetzkis in Rußland,<br />

<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Grenze zu verhaften war, eine völlig unwi<strong>der</strong>legbare Bestätigung erhalten<br />

und sich in ein zuverlässiges Gerichtsmaterial gegen den bolschewistischen Stab<br />

verwandeln.« Kerenski wußte im voraus, was sich in was zu verwandeln hatte.<br />

Die Angaben des Kaufmanns Burstein betrafen geschäftliche Operationen Ganetzkis<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 362


und Koslowskis zwischen Petrograd und Stockholm. Dieses Geschäft zur Kriegszeit, das<br />

sich wahrscheinlich bei <strong>der</strong> Korrespondenz einer Decksprache bediente, hatte keine<br />

Beziehung zur Politik. Die bolschewistische Partei hatte keine Beziehung zu diesen<br />

Geschäften. Lenin und Trotzki hatten Parvus, <strong>der</strong> gute Geschäfte mit schlechter Politik<br />

zu verbinden verstand, öffentlich entlarvt und die <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre aufgefor<strong>der</strong>t,<br />

alle Beziehungen zu ihm abzubrechen. Wer hatte aber die Möglichkeit, im Strudel <strong>der</strong><br />

Ereignisse sich in alledem zurechtzufinden? Eine Spionageorganisation in Stockholm -<br />

das klang einleuchtend. Und das Licht, erfolglos angezündet von <strong>der</strong> Hand des Fähnrichs<br />

Jermolenko, entbrannte vom an<strong>der</strong>en Ende. Zwar stieß man auch hier auf Schwierigkeiten.<br />

Der Chef <strong>der</strong> Konterspionageabteilung des Generalstabs, Fürst Turkestanow,<br />

antwortete auf die Anfrage des Untersuchungsrichters für beson<strong>der</strong>s wichtige Angelegenheiten,<br />

Alexandrow, daß »S. Burstein eine Person ist, die keinerlei Vertrauen<br />

verdient. Burstein stellte den Typus des dunklen Geschäftemachers dar, dem nichts zu<br />

schmutzig ist.« Aber konnte <strong>der</strong> schlechte Ruf Bursteins den Versuch vereiteln, Lenins<br />

Ruf zu ver<strong>der</strong>ben? Nein, Kerenski schwankte nicht, Bursteins Aussagen als »sehr ernsthaft«<br />

zu bezeichnen. Die Untersuchung folgte nunmehr den Stockholmer Spuren. Die<br />

Enthüllungen des Fähnrichs, <strong>der</strong> zwei Stäben diente, und des dunklen Geschäftemachers,<br />

<strong>der</strong> »kein Vertrauen verdient«, bildeten das Fundament <strong>der</strong> allerphantastischsten<br />

Beschuldigung gegen eine revolutionäre Partei, die das Hun<strong>der</strong>tsechzigmillionen-Volk<br />

an die Macht zu stellen sich anschickte.<br />

Auf welche Weise war indes das Material <strong>der</strong> Voruntersuchung in die Presse gelangt,<br />

dabei gerade in dem Augenblick, wo die zusammengebrochene Offensive Kerenskis an<br />

<strong>der</strong> Front in eine Katastrophe umzuschlagen begann, die Julidemonstration in Petrograd<br />

aber das unaufhaltsame Anwachsen <strong>der</strong> Bolschewiki offenbarte? Einer <strong>der</strong> Initiatoren des<br />

Unternehmens, Staatsanwalt Bessarabow, erzählte später in <strong>der</strong> Presse offen: als es sich<br />

herausstellte, daß die Provisorische Regierung über keinerlei zuverlässige bewaffnete<br />

Macht in Petrograd verfügte, wurde im Bezirksstab beschlossen, zu versuchen, mit Hilfe<br />

eines stark wirkenden Mittels in den Regimentern einen psychologischen Umschwung<br />

hervorzurufen. »Vertretern des Preobraschenski-Regiments, das dem Stabe am nächsten<br />

stand, wurde <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Dokumente mitgeteilt; die Anwesenden konnten sich<br />

überzeugen, welch erschütternden Eindruck diese Mitteilung machte. Von diesem<br />

Moment an war es klar, über welch mächtige Waffe die Regierung verfügte.« Nach einer<br />

so gelungenen experimentalen Prüfung eilten die Verschwörer aus Justiz, Stab und<br />

Konterspionage, von ihrer Entdeckung den Justizminister in Kenntnis zu setzen.<br />

Perewersew antwortete, eine offizielle Mitteilung könne nicht gemacht werden, doch<br />

würden seitens <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung »<strong>der</strong> privaten Initiative<br />

keine Hin<strong>der</strong>nisse bereitet werden«. Man hatte nicht ohne Grund erkannt, daß Namen<br />

von Stabs- o<strong>der</strong> Gerichtsbeamten den Interessen <strong>der</strong> Sache nicht entsprachen: um die<br />

sensationelle Verleumdung in Umlauf zu setzen, brauchte man einen »Politiker«. Im<br />

Wege <strong>der</strong> privaten Initiative fanden die Verschwörer mühelos gerade die Person, <strong>der</strong>en<br />

sie bedurften. Ehemaliger <strong>Revolution</strong>är, Deputierter <strong>der</strong> Zweiten Duma, lärmen<strong>der</strong><br />

Redner und leidenschaftlicher Intrigant, hatte Alexinski sich eine Zeitlang auf dem<br />

äußersten linken Flügel <strong>der</strong> Bolschewiki befunden. Lenin war in seinen Augen ein unverbesserlicher<br />

Opportunist. In den Jahren <strong>der</strong> Reaktion hatte Alexinski eine, ultralinke<br />

Son<strong>der</strong>gruppierung geschaffen, an <strong>der</strong>en Spitze er sich bis zum Kriege in <strong>der</strong> Emigration<br />

hielt, um mit dessen Beginn eine ultrapatriotische Position zu beziehen und sogleich zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 363


seiner Spezialität zu machen, alle und jeden als Mietling des deutschen Kaisers zu entlarven.<br />

Auf diesem Gebiete entfaltete er in Paris eine umfangreiche Spitzeltätigkeit im<br />

Bunde mit <strong>russischen</strong> und französischen Patrioten von gleichem Typ. Die Pariser Gesellschaft<br />

<strong>der</strong> ausländischen Journalisten, das heißt Korrespondenten <strong>der</strong> alliierten und<br />

neutralen Län<strong>der</strong> - sehr patriotisch und durchaus nicht rigoros -, sah sich gezwungen,<br />

durch beson<strong>der</strong>en Beschluß Alexinski für einen »ehrlosen Verleum<strong>der</strong>« zu erklären und<br />

aus ihrer Mitte zu weisen. Mit diesem Zeugnis nach <strong>der</strong> Februarumwälzung in Petrograd<br />

angekommen, versuchte Alexinski als ehemaliger Linker in das Exekutivkomitee einzudringen.<br />

Trotz all ihrer Nachsicht machten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

durch einen Beschluß vom 11. April vor ihm die Türe zu und gaben ihm anheim, vorerst<br />

seine Ehre wie<strong>der</strong>herzustellen. Das war leicht gesagt! In Erwägung, an<strong>der</strong>e zu verleumden<br />

sei weitaus erreichbarer, als sich selbst zu rehabilitieren, setzte sich Alexinski mit <strong>der</strong><br />

Konterspionage in Verbindung und sicherte seinen Intrigeninstinkten staatliches<br />

Ausmaß. Schon in <strong>der</strong> zweiten Julihälfte begann er in die Kreise seiner Verleumdung<br />

auch die Menschewiki einzubeziehen. Deren Führer Dan trat aus seiner abwartenden<br />

Haltung heraus und veröffentlichte im offiziellen Sowjetorgan 'Iswestja' (am 22. Juli) ein<br />

Protestschreiben: »... Es ist Zeit, den Heldentaten eines Menschen ein Ende zu setzen, <strong>der</strong><br />

offiziell als ehrloser Verleum<strong>der</strong> erklärt wurde.« Ist es nicht verständlich, daß die<br />

Themis, die Jermolenko und Burstein inspiriert hatte, keinen besseren Vermittler<br />

zwischen sich und <strong>der</strong> öffentlichen Meinung finden konnte als Alexinski? Seine Unterschrift<br />

zierte nun das Enthüllungsdokument.<br />

Hinter den Kulissen protestierten die Minister-<strong>Sozialisten</strong>, wie übrigens auch zwei<br />

bürgerliche Minister, Nekrassow und Tereschtschenko, gegen die Auslieferung des<br />

Dokuments an die Presse. Am Tage <strong>der</strong> Veröffentlichung, am 5. Juli, war Perewersew,<br />

den die Regierung schon vorher gerne hatte loswerden wollen, zu demissionieren<br />

gezwungen. Die Menschewiki deuteten an, daß es ihr Sieg sei. Kerenski behauptete<br />

später, <strong>der</strong> Minister sei entfernt worden wegen übermäßiger Voreiligkeit bei den Enthüllungen,<br />

die den Gang <strong>der</strong> Untersuchung gestört hätten. Wenn nicht mit seinem Verweilen<br />

an <strong>der</strong> Macht, so hat Perewersew jedenfalls mit seinem Verschwinden alle befriedigt.<br />

Am gleichen Tage erschien in <strong>der</strong> Sitzung des Büros des Exekutivkomitees Sinowjew<br />

und for<strong>der</strong>te im Namen des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, unverzüglich Maßnahmen<br />

zu treffen zur Rehabilitierung Lenins und zur Vorbeugung eventueller Verleumdung. Das<br />

Büro konnte die Einsetzung einer Untersuchungskommission nicht verweigern. Suchanow<br />

schreibt: »Die Kommission selbst begriff, daß hierbei nicht die Frage des Verkaufs<br />

Rußlands durch Lenin zu untersuchen war, son<strong>der</strong>n nur die Quellen <strong>der</strong> Verleumdung.«<br />

Doch stieß die Kommission mit <strong>der</strong> eifersüchtigen Rivalität <strong>der</strong> Justiz- und Konterspionage<br />

zusammen, die allen Grund hatten, fremde Einmischung in ihr Handwerk nicht zu<br />

wünschen. Allerdings waren die Sowietorgane bisher stets mit den Regierungsstellen<br />

mühelos fertiggeworden, wenn sie die Notwendigkeit hierzu verspürten. Die Julitage<br />

jedoch hatten eine ernstliche Verschiebung <strong>der</strong> Macht nach rechts vollbracht; außerdem<br />

eilte die Sowjetkommission nicht im geringsten, eine Aufgabe zu lösen, die den politischen<br />

Interessen ihrer Vertrauensleute offensichtlich wi<strong>der</strong>sprach. Die ernsthafteren von<br />

den Versöhnlerführern, eigentlich nur die Menschewiki, trugen Sorge, ihr formelles<br />

Unbeteiligtsein an <strong>der</strong> Verleumdung sicherzustellen, aber auch nicht mehr. In allen<br />

Fällen, wo einer direkten Antwort nicht auszuweichen war, grenzten sie sich mit einigen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 364


Worten von den Verleum<strong>der</strong>n ab; doch rührten sie keinen Finger, den vergifteten Dolch<br />

abzuwenden, <strong>der</strong> über dem Haupt <strong>der</strong> Bolschewiki schwebte. Ein populäres Beispiel<br />

solcher Politik gab einst <strong>der</strong> römische Prokonsul Pilatus. Konnten sie denn auch an<strong>der</strong>s<br />

handeln, ohne sich untreu zu werden? Nur die Verleumdung gegen Lenin hat in den<br />

Julitagen einen Teil <strong>der</strong> Garnison von den Bolschewiki abgestoßen. Würden die<br />

Versöhnler einen Kampf gegen die Verleumdung aufgenommen haben, das Bataillon des<br />

Ismajlowski-Regiments hätte, wie anzunehnien ist, den Gesang <strong>der</strong> Marseillaise zu Ehren<br />

des Exekutivkomitees abgebrochen und wäre in die Kasernen, wenn nicht zuni<br />

Kschessinskaja-Palais zurückgekehrt.<br />

In Übereinstinimung mit <strong>der</strong> Gesamtlinie <strong>der</strong> Menschewiki hielt es Innenminister<br />

Zeretelli, <strong>der</strong> die Verantwortung für die bald darauf erfolgten Verhaftungen <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

übernahm, für nötig, allerdings unter dem Druck <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion, in<br />

<strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees zu erklären, er persönlich verdächtige die bolschewistischen<br />

Führer <strong>der</strong> Spionage nicht, beschuldige sie aber <strong>der</strong> Verschwörung und des<br />

bewaffneten Aufstandes. Als am 13. Juli Liber eine Resolution einbrachte, die die<br />

bolschewistische Partei eigentlich außer Gesetz stellte, fand er den Vorbehalt notwendig:<br />

»Ich selbst halte die gegen Lenin und Sinowjew gerichtete Beschuldigung für völlig<br />

unbegründet.« Erklärungen solcher Art nahmen alle schweigend und finster auf: den<br />

Bolschewiki erschienen sie würdelos ausweichend, den Patrioten überflüssig, da unvorteilhaft.<br />

Bei seinem Auftreten in <strong>der</strong> Vereinigten Sitzung bei<strong>der</strong> Exekutivkomitees am I7. sagte<br />

Trotzki: »Es wird eine unerträgliche Atmosphäre geschaffen, in <strong>der</strong> ihr ebenso ersticken<br />

werdet wie wir. Man schleu<strong>der</strong>t schmutzige Beschuldigungen gegen Lenin und Sinowjew.<br />

[Eine Stimnie: »Mit Recht.« Lärm. Trotzki fährt fort:] Es gibt hier im Saale, wie sich<br />

herausstellt, Menschen, die mit den Beschuldigungen sympathisieren. Hier gibt es<br />

Menschen, die sich an die <strong>Revolution</strong> nur herangeschmiert haben. [Lärm. Die Glocke<br />

des Vorsitzenden braucht lange zur Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ruhe.] ... Lenin hat für die<br />

<strong>Revolution</strong> dreißig Jahre gekämpft. Ich kämpfe zwanzig Jahre gegen die Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Volksmassen. Und wir können nur Haß gegen den deutschen Militarismus hegen ...<br />

Auf diesem Gebiet gegen uns einen Verdacht aussprechen kann nur jemand, <strong>der</strong> nicht<br />

weiß, was ein <strong>Revolution</strong>är ist. Ich war vom deutschen Gericht zu acht Monaten Gefängnis<br />

verurteilt für den Kampf gegen den deutschen Militarismus ... und das wissen alle.<br />

Erlaubt keinem hier in diesem Saale auszusprechen, daß wir Mietlinge Deutschlands<br />

seien, denn dies ist nicht die Stimme überzeugter <strong>Revolution</strong>äre, son<strong>der</strong>n die Stimme <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>tracht.« (Beifall.) So ist die Episode in <strong>der</strong> antibolschewistischen Presse jener Zeit<br />

dargestellt, - die bolschewistische war bereits verboten. Es muß jedoch erklärt werden,<br />

daß <strong>der</strong> Beifall nur aus dem kleinen linken Sektor kam; ein Teil <strong>der</strong> Deputierten brüllte<br />

haßerfüllt, die Mehrheit schwieg sich aus. Doch niemand, auch nicht einer von den<br />

offenen Agenten Kerenskis, bestieg die Tribüne, um die offizielle Version <strong>der</strong> Beschuldigung<br />

zu unterstützen o<strong>der</strong> auch nur indirekt zu decken.<br />

In Moskau, wo <strong>der</strong> Kampf zwischen Bolschewiki und Versöhnlern überhaupt mil<strong>der</strong>en<br />

Charakter trug, um im Oktober um so erbittertere Formen anzunehmen, verfügte am 10.<br />

Juli die Vereinigte Sitzung bei<strong>der</strong> Sowjets, <strong>der</strong> Arbeiter und <strong>der</strong> Soldaten, »einen Aufruf<br />

herauszugeben und anuschlagen, in dem darauf verwiesen wird, daß die Beschuldigung<br />

<strong>der</strong> Spionage gegen die Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki Verleumdung und Intrige <strong>der</strong> Konter-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 365


evolution ist«. Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, von den Regierungskombinationen unmittelbarer<br />

abhängig, unternahm keinerlei Schritte, son<strong>der</strong>n wartete das Resultat <strong>der</strong> Untersuchungskommission<br />

ab, die indes nicht an die Arbeit heranging.<br />

Am 5. Juli stellte Lenin in einem Gespräch mit Trotzki die Frage: »Werden sie uns<br />

nicht einen nach dem an<strong>der</strong>en abschießen?« Nur mit solchen Absichten war ja überhaupt<br />

<strong>der</strong> offiziöse Stempel auf <strong>der</strong> ungeheuerlichen Verleumdung zu erklären. Lenin hielt die<br />

Feinde für fähig, die von ihnen angezettelte Sache bis zu Ende zu führen, und kam zu <strong>der</strong><br />

Schlußfolgerung: sich ihnen nicht in die Hände geben. Am 6. abends traf von <strong>der</strong> Front<br />

Kerenski ein, vollgepfropft von Eingebungen <strong>der</strong> Generale, und verlangte entschiedene<br />

Maßnahmen gegen die Bolschewiki. Etwa um 2 Uhr nachts beschloß die Regierung, alle<br />

Führer des »bewaffneten Aufstandes« zur Verantwortung zu ziehen und die Regimenter,<br />

die an <strong>der</strong> Meuterei teilgenommen, aufzulösen. Das Militärdetachement, das in die<br />

Wohnung Lenins geschickt wurde, eine Haussuchung und die Verhaftung vorzunehmen,<br />

mußte sich mit <strong>der</strong> Haussuchung begnügen, da <strong>der</strong> Wohnungsinhaber bereits nicht mehr<br />

zu Hause war. Lenin hielt sich noch in Petrograd auf, verbarg sich aber in einer Arbeiterwohnung<br />

und verlangte, daß die Untersuchungskommission des Sowjets ihn und<br />

Sinowjew unter Bedingungen vernehme, die eine Falle seitens <strong>der</strong> Konterrevolution<br />

ausschlössen. In einer an die Kommission gerichteten Erklärung schrieben Lenin und<br />

Sinowjew: »Morgens [Freitag, den 7. Juli] wurde Kamenjew von <strong>der</strong> Duma aus<br />

mitgeteilt, die Kommission werde heute um 12 Uhr in die verabredete Wohnung kommen.<br />

Wir schreiben diese Zeilen um 6½ Uhr abends des 7. Juli und stellen fest, daß die<br />

Kommission bis jetzt nicht erschienen ist und nichts von sich hat hören lassen ... Die<br />

Verantwortung für die Verzögerung <strong>der</strong> Vemehmung fällt nicht auf uns.« Das Ausweichen<br />

<strong>der</strong> Sowjetkommission vor <strong>der</strong> versprochenen Untersuchung überzeugte Lenin<br />

endgültig davon, daß die Versöhnler ihre Hände in Unschuld wuschen und die Abrechnung<br />

den Weißgardisten überließen. Offiziere und Junker, die inzwischen Zeit gefunden<br />

hatten, die Parteidruckerei zu demolieren, verprügelten und verhafteten in den Straßen<br />

jeden, <strong>der</strong> gegen die Beschuldigung protestierte, die Bolschewiki seien Spione. Da<br />

beschloß Lenin endgültig, sich zu verbergen, nicht vor <strong>der</strong> Untersuchung, son<strong>der</strong>n vor<br />

<strong>der</strong> möglichen Abrechnung.<br />

Am 15. gaben Lenin und Sinowjew in <strong>der</strong> Kronstädter bolschewistischen Zeitung, die<br />

zu verbieten die Behörden nicht gewagt hatten, eine Erklärung ab, weshalb sie es nicht<br />

für angängig hielten, sich den Händen <strong>der</strong> Behörden auszuliefern: »Aus dem in <strong>der</strong><br />

Sonntagnummer <strong>der</strong> Zeitung 'Nowoje Wremja' veröffentlichten Brief des früheren Justizministers<br />

Perewersew geht ganz klar hervor, daß die "Sache" gegen Lenin und Genossen<br />

wegen Spionage völhg überlegt, von <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong> Konterrevolution angezettelt ist.<br />

Perewersew gesteht ganz offen, daß er ungeprüfte Beschuldigungen in Umlauf gebracht<br />

hat, um die Wut (wörtlicher Ausdruck) <strong>der</strong> Soldaten gegen unsere Partei auszulösen. Das<br />

gesteht <strong>der</strong> gestrige Justizminister! ... In Rußland gibt es zur Zeit keinerlei Rechtsgarantien.<br />

Sich den Händen <strong>der</strong> Behörden ausliefern, hieße sich den Händen <strong>der</strong> Miljukow,<br />

Alexinski, Perewersew, den Händen wutschnauben<strong>der</strong> Konterrevolutionäre ausliefern,<br />

für die alle Beschuldigungen gegen uns nur eine einfache Episode im Bürgerkriege<br />

sind.« Um heute den Sinn <strong>der</strong> Worte von <strong>der</strong> "Episode" im Bürgerkriege zu erfassen,<br />

genügt es, an das Schicksal Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs zu erinnern. Lenin<br />

vermochte vorauszusehen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 366


Während die Agitatoren des feindlichen Lagers in allen Tonarten erzählten, Lenin sei,<br />

bald auf einem Torpedoboot, bald auf einem Unterseeboot, nach Deutschland geflüchtet,<br />

beeilte sich die Mehrheit des Exekutivkomitees, Lenin wegen seines Ausweichens vor<br />

<strong>der</strong> Untersuchung zu verurteilen. Indem sie die Frage des politischen Sinns <strong>der</strong> Pogromstimmung<br />

umgingen, in <strong>der</strong> und <strong>der</strong>etwegen die Beschuldigung erhoben worden war,<br />

traten die Versöhnler als Verfechter <strong>der</strong> reinen Gerechtigkeit auf. Das war die am wenigsten<br />

ungünstige von allen Positionen, die ihnen noch übriggeblieben waren. Die Resolution<br />

des Exekutivkomitees vom 13. Juli bezeichnete die Haltung von Lenin und<br />

Sinowjew nicht nur als »ganz unzulässig«, sondem for<strong>der</strong>te auch von <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Fraktion »die unverzügliche, kategorische und klare Verurteilung« ihrer Führer.<br />

Die Fraktion lehnte einmütig die For<strong>der</strong>ung des Exekutivkomitees ab. Indes gab es bei<br />

den Bolschewiki, mindestens bei den Spitzen, Schwankungen wegen Lenins Ausweichen<br />

vor <strong>der</strong> Untersuchung. Bei den Versöhnlern, auch den allerlinksten, rief Lenins<br />

Verschwinden einmütige Entrüstung hervor, nicht immer heuchlerische, wie Suchanows<br />

Beispiel zeigt. Der verleum<strong>der</strong>ische Charakter des Materials <strong>der</strong> Konterspionage hatte bei<br />

ihm, wie wir wissen, von Anfang an außer Zweifel gestanden. »Die sinnlose Beschuldigung«,<br />

schrieb er, »verflüchtigte sich wie Dunst. Durch nichts und von niemand wurde<br />

sie bestätigt, und man hörte auf, ihr zu glauben.« Doch für Suchanow blieb es ein Rätsel,<br />

wie Lenin sich hatte entschließen können, <strong>der</strong> Untersuchung auszuweichen. »Das war<br />

etwas ganz Außerordentliches, Beispielloses, Unbegreifliches. Je<strong>der</strong> gewöhnliche Sterbliche<br />

hätte unter den ungünstigsten Bedingungen Gericht und Untersuchung verlangt.«<br />

Ja, je<strong>der</strong> gewöhnliche Sterbliche. Aber ein gewöhnlicher Sterblicher hätte auch nicht<br />

Gegenstand wildesten Hasses <strong>der</strong> regierenden Klassen werden können. Lenin war kein<br />

gewöhnlicher Sterblicher und vergaß keine Minute die auf ihm lastende Verantwortung.<br />

Er wußte aus <strong>der</strong> Lage alle Schlußfolgerungen zu ziehen und die Schwankungen <strong>der</strong><br />

"öffentlichen Meinung" zu ignorieren, im Namen <strong>der</strong> Aufgaben, denen sein Leben untergeordnet<br />

war. Donquichotterie und Pose waren ihm in gleicher Weise fremd.<br />

Zusammen mit Sinowjew verbrachte Lenin einige Wochen in <strong>der</strong> Umgebung Petrograds;<br />

nahe bei Sestroretzk, im Walde in einem Heuschober, mußten sie übernachten und<br />

vor Regen Schutz suchen. Als Heizer verkleidet, passierte Lenin auf einer Lokomotive<br />

die finnländische Grenze und hielt sich in <strong>der</strong> Wohnung des Helsingforser Polizeimeisters,<br />

eines früheren Petrogra<strong>der</strong> Arbeiters, verborgen; später übersiedelte er näher an die<br />

russische Grenze nach Wyborg. Seit Ende September lebte er illegal in Petrograd, um am<br />

Tage des Aufstandes, nach fast viermonatiger Abwesenheit, in <strong>der</strong> offenen Arena zu<br />

erscheinen.<br />

Der Juli gestaltete sich zu einem Monat ausschweifen<strong>der</strong>, schamloser und triuniphieren<strong>der</strong><br />

Verleumdung; im August schon begann sie sich zu verflüchtigen. Genau einen<br />

Monat, nachdem die Verleumdung in Umlauf gesetzt worden war, hielt <strong>der</strong> sich treue<br />

Zeretelli es für nötig, in <strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees zu wie<strong>der</strong>holen: »Ich habe<br />

gleich am Tage nach den Verhaftungen auf die Anfrage <strong>der</strong> Bolschewiki öffentlich<br />

Antwort gegeben und gesagt: die <strong>der</strong> Anstiftung zum Aufstands vom 3. bis 5. Juli<br />

angeklagten Führer <strong>der</strong> Bolschewiki verdächtige ich <strong>der</strong> Verbindung mit dem deutschen<br />

Generalstab nicht.« Weniger konnte man nicht sagen. Mehr zu sagen war unvorteilhaft.<br />

Die Presse <strong>der</strong> Versöhnlerparteien ging über Zeretellis Worte nicht hinaus. Da sie aber<br />

gleichzeitig erbittert die Bolschewiki als Helfershelfer des deutschen Militarismus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 367


entlarvte, so verschmolz die Stimme <strong>der</strong> Versölinlerzeitungen politisch mit dem Geheul<br />

<strong>der</strong> übrigen Presse, die von den Bolschewiki nicht als »Helfershelfern« Ludendorffs,<br />

sondem als dessen Mietlingen sprach. Die höchsten Töne in diesem Chor kamen von den<br />

Kadetten. 'Russkije Wedomosti', das Blatt <strong>der</strong> liberalen Moskauer Professoren,<br />

berichtete, bei <strong>der</strong> Haussuchung in <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' sei angeblich ein<br />

deutscher Brief gefunden worden, in dem ein Baron aus Haparanda »das Vorgehen <strong>der</strong><br />

Bolschewiki begrüßt«, und »die Freude, die es in Berlin hervorrufen wird«, voraussieht.<br />

Der deutsche Baron von <strong>der</strong> finnländischen Grenze wußte gut, welche Briefe die <strong>russischen</strong><br />

Patrioten benötigten. Von solchen Berichten war die Presse <strong>der</strong> gebildeten Gesellschaft<br />

voll, die sich gegen die bolschewistische Barbarei verteidigte.<br />

Glaubten die Professoren und Advokaten ihren eigenen Worten? Dies anzunehmen,<br />

mindestens was die wichtigsten Führer betrifft, hieße, ihre politische Urteilskraft gar zu<br />

niedrig einschätzen. Wenn nicht prinzipielle und psychologische, so mußten allein schon<br />

sachliche Erwägungen ihnen die Sinnlosigkeit <strong>der</strong> Beschuldigung beweisen, - und vor<br />

allem finanzielle Erwägungen. Die deutsche Regierung hätte doch sicher den Bolschewiki<br />

nicht mit Ideen, son<strong>der</strong>n mit Geld helfen können. Aber gerade Geld hatten die<br />

Bolschewiki nicht. Das ausländische Zentrum <strong>der</strong> Partei kämpfte während des Krieges<br />

mit <strong>der</strong> bittersten Not, hun<strong>der</strong>t Franken waren eine Riesensumme, das Zentralorgan<br />

erschien einmal im Monat o<strong>der</strong> gar in zwei Monaten, und Lenin zählte sorgfältig die<br />

Zeilen, um das Budget nicht zu überschreiten. Die Ausgaben <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Organisation<br />

in den Kriegsjahren belaufen sich auf wenige tausend Rubel, die hauptsächlich für<br />

den Druck illegaler Flugblätter verwandt wurden: während zweieinhalbjahren sind in<br />

Petrograd insgesamt nur dreihun<strong>der</strong>ttausend Exemplare erschienen. Nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />

war <strong>der</strong> Zustrom von Mitglie<strong>der</strong>n und Mitteln natürlich sehr gewachsen. Die Arbeiter<br />

machten mit großer Bereitwilligkeit Lohnabzüge für den Sowjet und die<br />

Sowjetparteien. »Spenden, allerhand Beiträge, Sammlungen und Abzüge zugunsten des<br />

Sowjets«, berichtete auf dem ersten Sowjetkongreß <strong>der</strong> Advokat Bramson, ein Trudowik,<br />

»gingen gleich am ersten Tage nach unserer <strong>Revolution</strong> ein ... Man konnte das äußerst<br />

rührende Bild einer ununterbrochenen Wallfahrt mit diesen Spenden zu uns ins Taurische<br />

Palais vom frühen Morgen bis zum späten Abend beobachten.« Je weiter, um so<br />

bereitwilliger machten die Arbeiter Lohnabzüge zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki. Jedoch war<br />

die 'Prawda' trotz dem schnellen Anwachsen <strong>der</strong> Partei und <strong>der</strong> Geldeingänge dem<br />

Umfang nach die kleinste von allen Parteizeitungen. Bald nach seiner Ankunft in<br />

Rußland schrieb Lenin an Radek nach Stockholm: »Schreiben Sie Artikel für die<br />

'Prawda' über Außenpolitik, das Allerkürzeste, im Geist <strong>der</strong> 'Prawda' (wenig, wenig<br />

Raum, plagen uns mit Erweiterungen ab).« Trotz dem von Lenin durchgeführten spartanischen<br />

Sparregime kam die Partei aus <strong>der</strong> Not nicht heraus. Die Zuweisung von zweibis<br />

dreitausend Kriegsrubeln an eine Lokalorganisation bildete jedesmal ein ernstes<br />

Problem für das Zentralkomitee. Für den Versand <strong>der</strong> Zeitungen an die Front mußte man<br />

immer neue und neue Sammlungen unter <strong>der</strong> Arbeiterschaft veranstalten. Und doch<br />

erreichten die bolschewistischen Zeitungen die Schützengräben in viel geringerer Anzahl<br />

als die Zeitungen <strong>der</strong> Versöhnler und Liberalen. Klagen darüber kamen dauernd. »Wir<br />

leben nur von Gerüchten über eure Zeitung«, schrieben Soldaten. Im April hatte die<br />

Stadtkonferenz <strong>der</strong> Partei die Arbeiter Petrograds aufgerufen, in drei Tagen die fehlenden<br />

fünfundsiebzigtausend Rubel für den Kauf einer Druckerei zu sammeln. Diese Summe<br />

kam mit Überschuß ein, und die Partei erwarb endlich eine eigene Druckerei, jene, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 368


die Junker dann im Juli bis auf den Grund deinolierten. Der Einfluß <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Parolen wuchs wie ein Steppenbrand. Doch blieben die materiellen Propagandamittel<br />

sehr kärglich. Das persönliche Leben <strong>der</strong> Bolschewiki gab noch weniger<br />

Anhaltspunkte zur Verleumdung. Was blieb da? Nichts letzten Endes als Lenins Reise<br />

durch Deutschland. Doch gerade diese Tatsache, die vor unerfahrenen Auditorien am<br />

häufigsten als Beweis für Lenins Freundschaft mit <strong>der</strong> deutschen Regierung in den<br />

Vor<strong>der</strong>grund gestellt wurde, bewies in Wirklichkeit das Gegenteil: ein Agent würde<br />

durch das feindliche Land geheim und voller Sicherheit gefahren sein; offen die Gesetze<br />

des Patriotismus im Krieg verletzen, dazu konnte sich nur ein seiner selbst völlig sicherer<br />

<strong>Revolution</strong>är entschließen.<br />

Das Justizministerium machte jedoch vor <strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> undankbaren Aufgabe<br />

nicht halt: nicht umsonst hatte es von <strong>der</strong> Vergangenheit Ka<strong>der</strong> geerbt, die erzogen waren<br />

in <strong>der</strong> letzten Periode des Selbstherrschertums, als die Morde an liberalen Deputierten,<br />

von Schwarzhun<strong>der</strong>t verübt, die dem ganzen Lande namentlich bekannt waren, systematisch<br />

unaufgedeckt blieben, während ein jüdischer Handlungsgehilfe aus Kiew beschuldigt<br />

wurde, Blut eines Christenknabens gebraucht zu haben. Unterzeichnet vom<br />

Untersuchungsrichter für beson<strong>der</strong>s wichtige Angelegenheiten, Alexandrow, und dem<br />

Staatsanwalt des Obersten Gerichtshofes, Karinski, wurde am 21. Juli die Eröffnung<br />

eines Gerichtsverfahrens wegen Hochverrates gegen Lenin, Sinowjew, Kollontay und<br />

eine Reihe an<strong>der</strong>er Personen, darunter <strong>der</strong> deutsche Sozialdemokrat Helphand (Parvus),<br />

bekanntgegeben. Die gleichen Artikel des Strafgesetzbuchs 51, 10 und 108 dehnte man<br />

dann auf Trotzki und Lunatscharski aus, die am 23. Juli durch Militärabteilungen verhaftet<br />

wurden. Nach dem Text des Eröffnungsbeschlusses waren die Führer <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

»als russische Bürger nach vorheriger Verabredung untereinan<strong>der</strong> und mit an<strong>der</strong>en<br />

Personen zum Zwecke <strong>der</strong> Unterstützung von mit Rußland in feindlichen Handlungen<br />

befindfichen Staaten mit Agenten <strong>der</strong> genannten Staaten übereingekommen, an <strong>der</strong><br />

Desorganisierung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee und des Hinterlandes zur Schwächung <strong>der</strong><br />

Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee mitzuwirken. Zu welchem Zwecke sie mit den von diesen<br />

Staaten erhaltenen Geldmitteln unter Bevölkerung und Truppen eine Propaganda mit <strong>der</strong><br />

Auffor<strong>der</strong>ung zur sofortigen Verweigerung von Kriegshandlungen gegen den Feind<br />

organisierten; mit den gleichen Absichten organisierten sie in <strong>der</strong> Zeit vom 3. bis 5. Juli<br />

1917 in Petrograd einen bewaffneten Aufstand!« Obwohl je<strong>der</strong> des Lesens kundige<br />

Mensch mindestens in <strong>der</strong> Hauptstadt in jenen Tagen wußte, unter welchen Umständen<br />

Trotzki aus New York über Christiania und Stockholm nach Petrograd gekommen war,<br />

legte auch ihm <strong>der</strong> Untersuchungsrichter die Reise durch Deutschland zur Last. Die<br />

Justiz wollte offenbar keinen Zweifel übriglassen an <strong>der</strong> Solidität jenes Materials, das ihr<br />

die Konterspionage zur Verfügung gestellt hatte.<br />

Diese Institution ist nirgendwo eine Pflanzstätte <strong>der</strong> Moral. In Rußland indes bildete<br />

die Konterspionage die Kloake des Rasputinschen Regimes. Der Auswurf des Offizierstandes,<br />

<strong>der</strong> Polizei, Gendarmerie, davongejagte Agenten <strong>der</strong> Ochrana - das waren die<br />

Ka<strong>der</strong> dieser talentlosen, nie<strong>der</strong>trächtigen und anmächtigen Institution. Oberste, Hauptleute<br />

und Fähnriche, untauglich zu kriegerischen Heldentaten, bezogen in ihr Ressort alle<br />

Zweige des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens ein, indem sie im ganzen Lande ein<br />

System des Konterspionage-Feudalismus errichteten. »Die Lage wurde direkt katastrophal«,<br />

klagt <strong>der</strong> ehemalige Polizeidirektor Kurlow, »als an den Angelegenheiten <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 369


Zivilverwaltung die berühmt gewordene Konterspionage teilzunehmen begann.« Kurlow<br />

selbst hatte nicht wenig dunkle Angelegenheiten auf dem Kerbholz, darunter auch die<br />

indirekte Beteiligung an <strong>der</strong> Ermordung des Premier Stolypin; nichtsdestoweniger ließ<br />

die Tätigkeit <strong>der</strong> Konterspionage sogar seine erprobte Phantasie erschauern. Während<br />

»<strong>der</strong> Kampf gegen die feindliche Spionage ... sehr schwach geführt wurde«, schreibt er,<br />

wurden fortwährend bewußt erfundene Verfahren inszeniert gegen völlig unschuldige<br />

Personen nur zum Zwecke <strong>der</strong> Erpressung. Auf eine solche Sache stieß Kurlow: »Zu<br />

meinem Entsetzen«, sagte er, »vernahm [ich] das Pseudonym eines mir aus meinem<br />

früheren Dienst im Polizeidepartement bekannten, wegen Erpressung davongejagten<br />

Geheimagenten.« Einer <strong>der</strong> Provinzchefs <strong>der</strong> Konterspionage, ein gewisser Ustinow, vor<br />

dem Kriege Notar, schil<strong>der</strong>t in seinen Erinnerungen die Sitten <strong>der</strong> Konterspionage<br />

ungefähr in den gleichen Farben wie Kurlow: »lm Suchen nach Verfahren fabrizierte die<br />

Agentur selbst das Material.« Um so lehrreicher ist es, das Niveau <strong>der</strong> Institution am<br />

Enthüller selbst nachzuprüfen: »Rußland ging zugrunde«, schreibt Ustinow über die<br />

Februarrevolution, »indem es das Opfer einer <strong>Revolution</strong> wurde, die deutsche Agenten<br />

mit deutschem Golde machten.« Das Verhalten des patriotischen Notars zu den Bolschewiki<br />

bedarf keiner Erklärungen. »Berichte <strong>der</strong> Konterspionage über die frühere Tätigkeit<br />

Lenins, über seine Verbindung mit dem deutschen Generalstab, über das von ihm<br />

empfangene deutsche Gold waren <strong>der</strong>art überzeugend, um ihn sofort aufzuhängen.«<br />

Kerenski hatte dies, wie sich erweist, nur deshalb nicht getan, weil er selbst ein Verräter<br />

war. »Beson<strong>der</strong>s erstaunte und empörte die Rädelsführerschaft des armseligen Advokaten,<br />

des Jüdchen Saschka Kerenski.« Ustinow bezeugt, daß Kerenski »als Provokateur,<br />

<strong>der</strong> seine Genossen verriet, gut bekannt war«. Der französische General Anselme verließ<br />

ini März 1919 Odessa, wie sich weiter ergibt, nicht unter dem Drucke <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />

son<strong>der</strong>n weil er eine beträchtliche Bestechung empfangen hatte. Von den Bolschewiki?<br />

Nein, »die Bolschewiki haben damit nichts zu tun. Hier sind die Freimaurer am Werk«.<br />

So ist diese Welt.<br />

Bald nach <strong>der</strong> Februarumwälzung wurde die Überwachung <strong>der</strong> Institution, die aus<br />

Gaunern, Fälschern und Erpressern bestand, dem aus <strong>der</strong> Emigration angelangten patriotischen<br />

Sozialrevolutionär Mironow übertragen, den <strong>der</strong> Ministergehilfe Demjanow, ein<br />

"Volkssozialist", mit folgenden Worten charakterisiert: »Äußerlich machte Mirnow einen<br />

guten Eindruck ... Doch würde ich mich nicht wun<strong>der</strong>n, wenn ich erfahren sollte, daß es<br />

kein ganz normaler Mensch war.« Dem kann man beipflichten: ein normaler Mensch<br />

wäre wohl kaum bereit gewesen, ein Amt zu repräsentieren, das man einfach auseinandejagen<br />

und dessen Wände man mit Sublimat begießen mußte. Infolge des durch die<br />

Umwälzung hervorgerufenen administrativen Wirrwarrs ward die Konterspionage dem<br />

Justizminister Perewersew unterstellt, einem Menschen von unbegreiflichein Leichtsinn<br />

und völliger Unbedenklichkeit in den Mitteln. Der gleiche Demjanow sagt in seinen<br />

Erinnerungen, daß sein Minister »im Sowjet fast gar kein Ansehen genoß«. Gedeckt<br />

durch Mironow und Perewersew erholten sich die über die <strong>Revolution</strong> erschrockenen<br />

Agenten bald und paßten ihre alte Tätigkeit <strong>der</strong> neuen politischen Situation an. Im Juni<br />

begann sogar <strong>der</strong> linke Flügel <strong>der</strong> Regierungspresse Nachrichten zu veröffentlichen über<br />

Gel<strong>der</strong>pressungen und an<strong>der</strong>e Verbrechen <strong>der</strong> höheren Beamten <strong>der</strong> Konterspionage,<br />

zwei Leiter <strong>der</strong> Institution, Schtschukin und Broy, die nächsten Gehilfen des unglückseligen<br />

Mironow, nicht ausgenommen. Eine Woche vor <strong>der</strong> Julikrise hatte das Exekutivkomitee<br />

unter dem Drucke <strong>der</strong> Bolschewiki sich an die Regierung mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 370


gewandt, eine sofortige Revision <strong>der</strong> Konterspionage unter Beteiligung von Sowjetvertretern<br />

vorzunehmen. Die Geheimagenten hatten folglich ihre amtlichen, o<strong>der</strong> richtiger,<br />

ihre selbstsüchtigen Gründe, gegen die Bolschewiki einen möglichst schnellen und<br />

<strong>der</strong>ben Schlag zu führen. Fürst Lwow hatte noch rechtzeitig ein Gesetz unterschrieben,<br />

das die Konterspionage berechtigte, einen Verhafteten drei Monate lang hinter Schloß<br />

und Riegel zu halten.<br />

Aus dem Charakter <strong>der</strong> Anklage und <strong>der</strong> Ankläger selbst ergibt sich unvermeidlich die<br />

Frage: wie konnten überhaupt normal denkende Menschen glauben o<strong>der</strong> auch nur tun, als<br />

glaubten sie einer bewußten und durch und durch sinnlosen Lüge? Der Erfolg <strong>der</strong><br />

Konterspionage wäre tatsächlich undenkbar gewesen außerhalb <strong>der</strong> durch Krieg, Nie<strong>der</strong>lagen,<br />

Desorganisation, <strong>Revolution</strong> und erbitterten sozialen Kampf geschaffenen Gesamtatmosphäre.<br />

Nichts war seit dem Herbst des Jahres 1914 den herrschenden Klassen<br />

Rußlands gelungen, <strong>der</strong> Boden stürzte unter den Füßen ein, alles fiel aus den Händen, ein<br />

Unheil löste das an<strong>der</strong>e ab - mußte man da nicht nach einem Schuldigen suchen? Der<br />

ehemalige Staatsanwalt des Obergerichtshofs, Sawadski, erinnert sich später, daß »ganz<br />

gesunde Menschen in den unruhigen Kriegsjahren dazu neigten, Verrat dort zu wittern,<br />

wo er offenbar und manchmal auch zweifellos nicht existierte. Die Mehrzahl solcher<br />

Verfahren, die während meiner Amtstätigkeit als Staatsanwalt eingeleitet wurden, erwiesen<br />

sich als unhaltbar.« Neben dem bösartigen Agenten trat als Urheber solcher Verfahren<br />

<strong>der</strong> Spießer auf, <strong>der</strong> den Kopf verloren hatte. Aber sehr bald schon verband sich die<br />

Kriegspsychose mit dem vorrevolutionären politischen Fieber und zeitigte um so<br />

wun<strong>der</strong>lichere Früchte. Gemeinsam mit den erfolglosen Generalen suchten die Liberalen<br />

überall und in allem die deutsche Hand. Die Kamarilla galt als germanophil. Die ganze<br />

Rasputin-Clique handelte nach Instruktionen aus Potsdam, glaubten die Liberalen o<strong>der</strong><br />

verkündeten es mindestens. Die Zarin beschuldigte man weit und breit offen <strong>der</strong> Spionage;<br />

ihr schrieb man selbst in Hofkreisen die Verantwortung zu für die durch die<br />

Deutschen erfolgte Versenkung des Schiffes, auf dem General Kitchener nach Rußland<br />

fuhr. Die Rechten blieben selbstverständlich nichts schuldig. Sawadski erzählt, daß <strong>der</strong><br />

Gehilfe des Innenministers, Beletzki, zu Beginn des Jahres 1916 versucht hätte, gegen<br />

den nationalliberalen Industriellen Gutschkow ein Verfahren zu konstruieren, wobei er<br />

ihn »Handlungen, die in Kriegszeiten an Hochverrat grenzen« - beschuldigte ... Indem er<br />

die Heldentaten Beletzkis enthüllt, stellt Kurlow, gleichfalls ein ehemaliger Gehilfe des<br />

Innenministers, seinerseits die Frage an Mi]jukow: »Für welche vom Standpunkte des<br />

Vaterlandes ehrenhafte Arbeit hat er zweitausend Rubel "finnländischen" Geldes erhalten,<br />

die ihm per Post auf den Namen seines Hauspförtners überwiesen wurden?« Die<br />

Anführungszeichen bei dem "finnländischen" Geld sollen sagen, daß es sich um<br />

deutsches Geld handelte. Dabei hatte Miljukow den vollauf verdienten Ruf des<br />

Deutschenhassers! In Regierungskreisen galt es überhaupt als erwiesen, daß alle oppositionellen<br />

Parteien mit deutschem Gelde arbeiteten. Im August 1915, als man im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> beabsichtigten Dumaauflösung Unruhen erwartete, sagte <strong>der</strong><br />

Marineminister Grigorowitsch, <strong>der</strong> als Beinah-Liberaler galt, in einer Regierungssitzung:<br />

»Die Deutschen führen eine verschärfte Propaganda und überschütten mit Geld die<br />

regierungsfeindlichen Organisationen.« Die Oktobristen und Kadetten, entrüstet über<br />

diese Insinuation, trugen indes kein Bedenken, sie von sich nach links abzuschieben.<br />

Anläßlich <strong>der</strong> halbpatriotischen Rede des Menschewiken Tschcheidse zu Beginn des<br />

Krieges schrieb <strong>der</strong> Dumavorsitzende Rodsjanko: »Die Folgen haben später<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 371


Tschcheidses Nähe zu deutschen Kreisen bestätigt.« Vergeblich wäre, auch nur den<br />

Schatten eines Beweises zu erwarten!<br />

In seiner "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> zweiten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>" sagt Miljukow: »Die Rolle<br />

<strong>der</strong> "dunklen Quellen" in <strong>der</strong> Umwälzung vom 27. Februar ist ganz unklar, doch nach<br />

allein Weiteren zu folgern, ist sie schwer abzuleugnen.« Entschiedener äußert sich <strong>der</strong><br />

frühere Marxist, jetzt reaktionäre Slawophile deutscher Abstammung Peter von Struve:<br />

»Als die russische <strong>Revolution</strong>, vorbereitet und ausgedacht von den Deutschen, glückte,<br />

schied Rußland eigentlich aus dem Kriege aus.« Bei Struve wie bei Miljukow ist die<br />

Rede nicht von <strong>der</strong> Oktober-, sondem von <strong>der</strong> Februarrevolution. Änläßlich des berühmten<br />

"Befehls Nr. I", <strong>der</strong> großen Charte <strong>der</strong> Soldatenfreiheiten, ausgearbeitet von den<br />

Delegierten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison, schrieb Rodsjanko: »Ich zweifle keine Minute an<br />

dem deutschen Ursprung des Befehls Nr. I.« Der Chef einer <strong>der</strong> Divisionen, General<br />

Barkowski, erzählte Rodsjanko, daß <strong>der</strong> Befehl Nr. I, »in riesigen Mengen in den Bereich<br />

seiner Truppen aus den deutschen Schützengräben geliefert wurde«. Nachdem er Kriegsminister<br />

geworden war, beeilte sich auch Gutschkow, den man unter dem Zaren des<br />

Hochverrats zu beschuldigen versucht hatte, diese Beschuldigung nach links abzuschieben.<br />

Der Aprilbefehl Gutschkows an die Armee lautete: »Personen, die Rußland hassen<br />

und zweifellos im Dienste unserer Feinde stehen, sind in die aktive Armee mit einer<br />

Beharrlichkeit eingedrungen, die unsere Gegner charakterisiert, und propagieren, wohl<br />

um <strong>der</strong>en For<strong>der</strong>ungen zu erfüllen, die Notwendigkeit eines möglichst raschen Kriegsendes.«<br />

Anläßlich <strong>der</strong> gegen die imperialistische Politik gerichteten Aprilmanifestation<br />

schreibt Miljukow: »Die Aufgabe <strong>der</strong> Beseitigung bei<strong>der</strong> Minister (Miljukow und<br />

Gutschkow) war direkt in Deutschland gestellt worden«; die Arbeiter hätten für die<br />

Beteiligung an <strong>der</strong> Demonstration von den Bolschewiki fünfzehn Rubel pro Tag erhalten.<br />

Mit dem deutschen Goldschlüssel löste <strong>der</strong> liberale Historiker alle Rätsel, an denen er als<br />

Politiker sich den Kopf zerschlug.<br />

Die patriotischen <strong>Sozialisten</strong>, die gegen die Bolschewiki als die unfreiwilligen Verbündeten,<br />

wenn nicht Agenten des regierenden Deutschland hetzten, standen selbst unter<br />

ähnlicher Beschuldigung von rechts. Wir haben Rodsjankos Äußerungen über<br />

Tschcheidse gehört. Auch Kerenski fand vor seinen Augen keine Gnade: »Sicherlich hat<br />

er aus geheimer Sympathie mit den Bolschewiki, vielleicht aber auch infolge an<strong>der</strong>er<br />

Erwägungen, die Provisorische Regierung veranlaßt«, die Bolschewiki nach Rußland<br />

hereinzulassen. Die »an<strong>der</strong>en Erwägungen« können nichts an<strong>der</strong>es bedeuten als die<br />

Leidenschaft für das deutsche Geld. In seinen kuriosen, auch in fremde Sprachen<br />

übersetzten Memoiren fügt <strong>der</strong> Gendarmeriegeneral Spiridowitsch, nachdem er die Fülle<br />

von Juden unter den regierenden sozialrevolutionären Kreisen vermerkt hat, hinzu:<br />

»Unter ihnen glänzten auch russische Namen, in <strong>der</strong> Art des späteren Bauernministers<br />

und deutschen Spions Victor Tschernow.« Der Parteiführer <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre stand<br />

unter Verdacht durchaus nicht nur bei dem Gendarmen. Nach dem Julipogrom gegen die<br />

Bolschewiki begannen die Kadetten, ohne Zeit zu verlieren, eine Hetze gegen den Ackerbauminister<br />

Tschernow, als <strong>der</strong> Verbindung mit Berlin verdächtig, und <strong>der</strong> unglückselige<br />

Patriot mußte vorübergehend zurücktreten, um sich von den Beschuldigungen zu reinigen.<br />

Im Herbst 1917, als Miljukow über den Auftrag sprach, durch den das patriotische<br />

Exekutivkomitee den Menschewiken Skobeljew ermächtigt hatte, an <strong>der</strong> intemationalen<br />

sozialistischen Konferenz teilzunehmen, versuchte er von <strong>der</strong> Tribüne des Vorparlaments<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 372


herab mittels einer skrupulösen Syntaxanalyse des Textes den offensichtlich »deutschen<br />

Ursprung« des Dokumentes zu beweisen. Der Stil des Auftrages, wie übrigens <strong>der</strong><br />

gesamten Versöhnlerliteratur, war tatsächlich schlecht. Die verspätete Demokratie, ohne<br />

Gedanken, ohne Wilen, ängstlich sich nach allen Seiten umschauend, häufte in ihren<br />

Schriften Ausreden auf Ausreden und verwandelte sie in eine schlechte Übersetzung aus<br />

einer fremden Sprache, wie sie ja selbst nur <strong>der</strong> Schatten einer fremden Vergangenheit<br />

war. Ludendorff indes trifft dafür gar keine Schuld.<br />

Die Reise Lenins durch Deutschland eröffnete <strong>der</strong> chauvinistischen Demagogie<br />

unerschöpfliche Möglichkeiten. Aber gleichsam um die dienende Rolle des Patriotismus<br />

in ihrer Politik grell zu beweisen, begann die bürgerliche Presse, die anfangs Lenin mit<br />

erkünsteltem Wohlwollen begegnet war, eine zügellose Hetze gegen sein »Germanophilentum«<br />

erst, nachdem sie sich seines sozialen Programms bewußt geworden war. "Land,<br />

Brot und Frieden?" Diese Parole konnte er nur aus Deutschland eingeführt haben. Zu<br />

dieser Zeit war noch nicht einmal die Rede von Jermolenkos Enthüllungen.<br />

Nachdem Trotzki und einige an<strong>der</strong>e Emigranten, die sich auf <strong>der</strong> Rückkehr aus<br />

Amerika befanden, von <strong>der</strong> Militärkontrolle König Georgs in Halifax verhaftet waren,<br />

erstattete die britische Gesandtschaft in Petrograd <strong>der</strong> Presse einen offizielleil Bericht in<br />

einer unnachahmlichen anglo-<strong>russischen</strong> Sprache: »jene <strong>russischen</strong> Bürger auf dem<br />

Dampfer "Christianiafjord" sind in Halifax angehalten worden, weil <strong>der</strong> englischen<br />

Regierung mitgeteilt wurde, daß sie mit einem von <strong>der</strong> deutschen Regierung subsidierten<br />

Plan, die russische Provisorische Regierung zu stürzen, in Verbindung ständen ...« Die<br />

Mitteilung des Sir Buchanan datierte vom 14. April: zu dieser Zeit war nicht nur<br />

Burstein, sondem auch Jermolenko auf dem Horizont noch nicht aufgetaucht. In seiner<br />

Eigenschaft als Außenminister war jedoch Miljukow gezwungen, durch den <strong>russischen</strong><br />

Gesandten Nabokow die englische Regierung zu ersuchen, Trotzki aus <strong>der</strong> Haft freizugeben<br />

und nach Rußland durchzulassen. »Informiert über Trotzki nach dessen Tätigkeit in<br />

Amerika«, schreibt Nabokow, »konnte es die englische Regierung nicht fassen: "Was ist<br />

es, böser Wille o<strong>der</strong> Blindheit?" Die Englän<strong>der</strong> zuckten die Achseln, begriffen die<br />

Gefahr, warnten uns.« Lloyd George mußte aber nachgeben. In <strong>der</strong> Antwort auf die<br />

Frage, die Trotzki in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Presse an den britischen Gesandten richtete, nahm<br />

Buchanan verlegen seine ursprüngliche Erklärung zurück und verkündete diesmal:<br />

»Meine Regierung hielt die Emigrantengruppe in Halifax zurück nur zwecks und bis zur<br />

Feststellung ihrer Persönlichkeit durch die russische Regierung ... Darauf läuft die<br />

ganze Sache mit dem Zurückhalten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Emigranten hinaus.« Buchanan war<br />

nicht nur Gentleman, son<strong>der</strong>n auch Diplomat.<br />

In einer Beratung <strong>der</strong> Reichsdumamitglie<strong>der</strong> Anfang Juni for<strong>der</strong>te Miljukow, <strong>der</strong> durch<br />

die Aprildemonstration aus <strong>der</strong> Regierung geschleu<strong>der</strong>t worden war, die Verhaftung<br />

Lenins und Trotzkis, wobei er unzweideutig auf <strong>der</strong>en Verbindung mit Deutschland<br />

anspielte. Trotzki erklärte am nächsten Tage auf dem Sowjetkongreß: »Solange Miljukow<br />

diese Beschuldigung nicht beweist o<strong>der</strong> zurücknimmt, bleibt auf seiner Stirn das Brandmal<br />

des ehrlosen Verleum<strong>der</strong>s.« Miljukow antwortete darauf in <strong>der</strong> 'Rjetsch', er sei<br />

»tatsächlich damit unzufrieden«, »daß die Herren Lenin und Trotzki frei herumlaufen«,<br />

die Notwendigkeit ihrer Verhaftung aber begründet er »nicht damit, daß sie Agenten<br />

Deutschlands seien, son<strong>der</strong>n damit, daß sie sich gegen das Strafgesetzbuch hinreichend<br />

versündigt hätten«. Miljukow war Diplomat, ohne Gentleman zu sein. Die Notwendig-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 373


keit <strong>der</strong> Verhaftung Lenins und Trotzkis war ihm schon vor den Enthüllungen Jermolenskos<br />

klar; die juridische Aufmachung <strong>der</strong> Verhaftung stellte eine Frage <strong>der</strong> Technik dar.<br />

Der Führer <strong>der</strong> Liberalen spielte politisch mit <strong>der</strong> scharfen Beschuldigung, lange bevor<br />

sie in »juridischer« Form in Umlauf gesetzt worden war.<br />

Die Rolle des Mythos vom deutschen Golde tritt am plastischsten in <strong>der</strong> farbigen<br />

Episode hervor, die <strong>der</strong> Geschäftsführer <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, <strong>der</strong> Kadett<br />

Nabokow (nicht zu verwechseln mit dem eben zitierten <strong>russischen</strong> Gesandten in<br />

London), erzählt. In einer <strong>der</strong> Regierungssitzungen bemerkte Miljukow bei irgendeinem<br />

an<strong>der</strong>en Anlasse: »Es ist für niemand ein Geheimnis, daß das deutsche Geld unter den<br />

Faktoren, die zur Umwälzung beigetragen haben, seine Rolle spielte ... « Das sieht<br />

Miljukow sehr ähnlich, obwohl seine Formulierung deutlich gemil<strong>der</strong>t ist. Nach<br />

Nabokows Darstellung benahm sich Kerenski, als sei <strong>der</strong> Teufel in ihn gefahren. Er riß<br />

seine Aktenmappe an sich, schlug damit auf den Tisch und schrie: »Nachdem Miljukow<br />

es gewagt hat, in meiner Gegenwart die heilige Sache <strong>der</strong> großen <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />

zu verleumden, wünsche ich keinen Moment länger hierzubleiben.« Das sieht Kerenski<br />

sehr ähnlich, obwohl seine Geste vielleicht stark aufgetragen ist. Ein russisches Sprichwort<br />

empfiehlt, nicht in den Brunnen zu spucken, aus dem man eventuell wird trinken<br />

müssen. Durch die Oktoberrevolution beleidigt, fand Kerenski nichts Besseres, als den<br />

Mythos vom deutschen Golde gegen sie zu richten. Was bei Miljukow eine »Verleumdung<br />

<strong>der</strong> heiligen Sache« war, verwandelte sich bei Burstein-Kerenski in eine heilige<br />

Sache <strong>der</strong> Verleumdung gegen die Bolschewiki.<br />

Die ununterbrochene Kette von Verdächtigungen wegen Germanophilentum und<br />

Spionage, die sich von Zarin, Rasputin und Hofkreisen über Ministerien, Stäbe, Duma,<br />

liberale Redaktionen bis zu Kerenski und einem Teil <strong>der</strong> Sowjetspitzen zog, verblüfft am<br />

meisten durch ihre Einförmigkeit. Die politischen Gegner scheinen gleichsam fest<br />

beschlossen zu haben, ihre Einbildungskraft nicht zu überanstrengen: sie rollen einfach<br />

die gleiche Beschuldigung von Ort zu Ort, vorwiegend von rechts nach links. Die<br />

Juliverleumdung war auf die Bolschewiki am allerwenigsten aus heiterem Hinitnel<br />

herabgestürzt, sie war die natürliche Frucht von Panik und Haß, das letzte Glied einer<br />

schändlichen Kette, die Verschiebung <strong>der</strong> fertigen Verleumdungsformel an eine neue,<br />

endgültige Adresse, die die gestrigen Ankläger und Angeklagten versöhnte. Alle<br />

Kränkungen <strong>der</strong> Regierenden, alle Ängste, all ihre Erbitterung richteten sich gegen jene<br />

Partei, die die äußerste von links war und am vollendetsten die zerschmetternde Kraft <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> verkörperte. Konnten denn in <strong>der</strong> Tat die besitzenden Klassen ihren Platz den<br />

Bolschewiki räumen, ohne den letzten verzweifelten Versuch gemacht zu haben, sie in<br />

Blut und Schmutz zu treten? Der durch langen Gebrauch verworrene Knäuel <strong>der</strong><br />

Verleumdung mußte zwangsläufig auf das Haupt <strong>der</strong> Bolschewiki nie<strong>der</strong>fallen. Die<br />

Enthüllungen des Fähnrichs von <strong>der</strong> Konterspionage waren nur eine Materialisation des<br />

Fieberwahns <strong>der</strong> besitzenden Klassen, die sich in einer Sackgasse erblickten. Deshalb<br />

gewann auch die Verleumdung solch schreckliche Kraft.<br />

Die deutsche Agentur an sich war selbstverständlich kein Fieberwahn. Die deutsche<br />

Spionage in Rußland war unermeßlich besser organisiert als die russische in<br />

Deutschland. Es genügt, daran zu erinnern, daß <strong>der</strong> Kriegsminister Suchomlinow noch<br />

unter dem alten Regime verhaftet wurde als Vertrauensperson Berlins. Es ist auch<br />

unzweifelhaft, daß deutsche Agenten sich nicht nur an die Hof- und Schwarzhun<strong>der</strong>t-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 374


kreise anzuschmieren wußten, sondem auch an Linkskreise. Die österreichischen und<br />

deutschen Behörden liebäugelten von den ersten Kriegstagen an stark mit separatistischen<br />

Tendenzen, beginnend mit <strong>der</strong> ukrainischen und kaukasischen Emigration. Es ist<br />

bemerkenswert, daß auch Jermolenko, angeworben im April 1917, in den Kampf<br />

geschickt wurde für die Lostrennung <strong>der</strong> Ukraine. Schon im Herbst 1914 for<strong>der</strong>n sowohl<br />

Lenin wie auch Trotzki in <strong>der</strong> Schweiz öffentlich auf, mit jenen <strong>Revolution</strong>ären zu<br />

brechen, die auf die Angel des deutsch-österreichischen Militarismus gehen. Anfang<br />

19I7 warnte Trotzki von New York aus öffentlich die linken deutschen<br />

Sozialdemokraten, Liebknecht-Anhänger, an <strong>der</strong>en Reihen sich Agenten <strong>der</strong> britischen<br />

Gesandtschaft heranzumachen suchten. Jedoch bei allem Liebäugeln mit den Separatisten<br />

in <strong>der</strong> Absicht, Rußland zu schwächen und den Zaren einzuschüchtern, war die deutsche<br />

Regierung vom Gedanken an den Sturz des Zarismus weit entfernt. Das beweist am<br />

besten eine Proklamation, die die Deutschen nach <strong>der</strong> Februarumwälzung in den <strong>russischen</strong><br />

Schützengräben verbreiteten und die am 11. März in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets bekanntgegeben wurde. »Anfangs gingen die Englän<strong>der</strong> mit eurem Zaren, jetzt<br />

aber haben sie sich gegen ihn erhoben, weil er ihren eigennützigen For<strong>der</strong>ungen nicht<br />

zugestimmt hatte. Sie haben euren euch von Gott gegebenen Zaren vom Throne gestürzt.<br />

Weshalb aber ist das geschehen? Weil er dcn heuchlerischen und heimtückischen Streich<br />

Englands durchschaut und bekanntgegeben hat.« Form wie Inhalt dieses Dokumentes<br />

bieten die innere Garantie für dessen Echtheit. Wie man den preußischen Leutnant nicht<br />

nachahmen kann, so kann man auch seine historische Philosophie nicht nachahmen.<br />

Hoffmann, ein preußischer Leutnant im Generalsrange, war <strong>der</strong> Meinung, die russische<br />

<strong>Revolution</strong> sei in England ausgedacht und inszeniert worden. Darin liegt immerhin<br />

weniger Unsinn als in <strong>der</strong> Theorie Miljukow-Struve, denn Potsdam fuhr bis zum Schluß<br />

fort, auf einen Separatfrieden mit Zarskoje Selo zu hoffen, während man in England am<br />

meisten diesen Separatfrieden fürchtete. Erst als sich die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einsetzung<br />

des Zaren restlos offenbart hatte, setzte <strong>der</strong> deutsche Stab seine Hoffnungen auf<br />

die zersetzende Kraft des revolutionären Prozesses. Aber selbst in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Reise<br />

Lenins durch Deutschland ging die Initiative nicht von deutschen Kreisen aus, son<strong>der</strong>n<br />

von Lenin selbst und in ihrer ursprünglichen Form von dem Menschewiken Martow. Der<br />

deutsche Generalstab kam dem nur entgegen, vermutlich nicht ohne Schwanken. Ludendorff<br />

sagte sich: vielleicht kommt eine Erleichterung von dieser Seite.<br />

Während <strong>der</strong> Juliereignisse suchten sogar die Bolschewiki hinter den einzelnen<br />

unerwarteten und mit klarem Vorbedacht ausgelösten Exzessen die Arbeit einer fremden<br />

und verbrecherischen Hand. Trotzki schrieb in jenen Tagen: »Welche Rolle hat dabei die<br />

konterrevolutionäre Provokation o<strong>der</strong> die deutsche Agentur gespielt? Es ist schwer, jetzt<br />

etwas Bestimmtes darüber zu sagen ... Es bleibt nur übrig, die Ergebnisse einer ernsthaften<br />

Untersuchung abzuwarten ... Aber schon jetzt läßt sich mit Sicherheit aussprechen:<br />

die Resultate einer solchen Untersuchung könnten ein grelles Licht werfen auf die Arbeit<br />

<strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>tbanden und auf die unterirdische Rolle deutschen, englischen o<strong>der</strong><br />

echt <strong>russischen</strong> Goldes o<strong>der</strong> schließlich des einen, des an<strong>der</strong>n und des dritten zusammen;<br />

doch den politischen Sinn <strong>der</strong> Ereignisse könnte keine gerichtliche Untersuchung<br />

än<strong>der</strong>n. Die Arbeiter- und Soldatenmassen Petrograds waren nicht bestochen und<br />

konnten nicht bestochen sein. Sie stehen we<strong>der</strong> bei Wilhelm noch bei Buchanan noch bei<br />

Miljukow im Dienste ... Die Bewegung war vorbereitet worden durch Krieg, Kopflosigkeit<br />

<strong>der</strong> Regierung, abenteuerliche Offensive, politisches Mißtrauen und revolutionäre<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 375


Unruhe <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten ... « Alle nach dem Krieg und den zwei Umwälzungen<br />

bekanntgewordenen Archivmaterialien, Dokumente, Memoiren beweisen unzweifelhaft,<br />

daß die Beteiligung <strong>der</strong> deutschen Agentur an den revolutionären Prozessen in Rußland<br />

sich nicht für eine Stunde aus <strong>der</strong> militär-polizeilichen Sphäre in das Gebiet <strong>der</strong> großen<br />

Politik erhob. Ist es übrigens noch notwendig, nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Deutschland auf<br />

dieser Behauptung zu beharren? Wie kläglich und ohnmächtig erwies sich diese angeblich<br />

allmächtige hohenzollernsche Spionageagentur im Herbst 1918 vor dem Angesicht<br />

<strong>der</strong> deutschen Arbeiter und Soldaten! »Die Berechnung unserer Feinde, die Lenin nach<br />

Rußland geschickt hatten, erwies sich als vollkommen richtig«, sagt Miljukow. Ganz<br />

an<strong>der</strong>s schätzt die Ergebnisse des Untemehmens Ludendorff selbst ein: »Ich konnte das<br />

damals nicht für möglich halten«, rechtfertigt er sich, von <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />

sprechend, »daß sie später auch unsere Kraft untergraben würde.« Das will nur sagen,<br />

daß von den zwei Strategen: Ludendorf, <strong>der</strong> Lenin die Durchreise erlaubte, und Lenin,<br />

<strong>der</strong> diese Erlaubnis annahm, Lenin besser und weiter gesehen hat.<br />

»Die feindliche Propaganda und <strong>der</strong> Bolschewismus«, klagt Ludendorff in seinen<br />

Kriegserinnerungen, »verfolgten auf deutschem Boden die gleichen Ziele. England gab<br />

China das Opium, die Feinde uns die <strong>Revolution</strong> ...« Ludendorff sagt <strong>der</strong> Entente<br />

dasselbe nach, dessen Miljukow und Kerenski Deutschland beschuldigten. So grausam<br />

rächt sich <strong>der</strong> geachtete historische Sinn! Aber Ludendorff blieb dabei nicht stehen. Im<br />

Februar 1931 gab er <strong>der</strong> Welt kund, daß hinter dem Rücken <strong>der</strong> Bolschewiki das internationale,<br />

beson<strong>der</strong>s jüdische Finanzkapital stand, geeint durch den Kampf gegen das<br />

zaristische Rußland und das imperialistische Deutschland. »Trotzki war von Amerika<br />

über Schweden nach Petersburg gelangt, mit reichen Geldmitteln <strong>der</strong> Weltkapitalisten<br />

ausgestattet. An<strong>der</strong>es Geld war vom Juden Solmssen aus Deutschland den Bolschewiken<br />

zugeflossen.« ('Ludendorffs Volkswarte', 15. Februar 1931.) So sehr die Aussagen<br />

Ludendorffs und Jermolenkos auseinan<strong>der</strong>gehen, in einem Punkte decken sie sich indes:<br />

ein Teil des Geldes floß, wie sich herausstellt, doch aus Deutschland, zwar nicht von<br />

Ludendorff, son<strong>der</strong>n von dessen Todfeind Solmssen. Nur dieses Zeugnis hatte noch<br />

gefehlt, um <strong>der</strong> ganzen Frage eine ästhetische Vollendung zu verleihen.<br />

Doch we<strong>der</strong> Ludendorff noch Miljukow noch Kerenski haben das Pulver erfunden,<br />

wenn auch <strong>der</strong> erstere eine weitgehende Anwendung von ihm gemacht hat. "Solmssen"<br />

hatte viele Vorläufer in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, sowohl als Jude wie als deutscher Agent. Graf<br />

Fersen, schwedischer Gesandter in Frankreich während <strong>der</strong> Großen <strong>Revolution</strong>, ein<br />

leidenschaftlicher Anhänger <strong>der</strong> Königsmacht, des Königs und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Königin,<br />

hat mehr als einmal seiner Regierung nach Stockholm Berichte folgen<strong>der</strong> Art erstattet:<br />

»Der Jude Efraim, <strong>der</strong> Emissär des Herrn Herzberg aus Berlin (des preußischen<br />

Ministers des Auswärtigen), liefert ihnen (den Jakobinern) Geld; vor kurzem hat er<br />

wie<strong>der</strong> sechshun<strong>der</strong>ttausend Pfund bekommen.« Die gemäßigte Zeitung 'Pariser <strong>Revolution</strong>en'<br />

sprach die Vermutung aus, daß während <strong>der</strong> republik Umwälzung »Emissäre <strong>der</strong><br />

europäischen Diplomatie, zum Beispiel in <strong>der</strong> Art des Juden Efraim, eines Agenten des<br />

preußischen Königs, in die bewegte und wandelbare Menge eindrangen ...« Der gleiche<br />

Fersen meldete: »Die Jakobiner ... würden zugrunde gehen ohne die Hilfe des von ihnen<br />

bestochenen Pöbels.« Wenn die Bolschewiki den Teilnehmern <strong>der</strong> Demonstrationen<br />

Taglohn zahlten, folgten sie nur dem Beispiel <strong>der</strong> Jakobiner, wobei das Geld für die<br />

Bestechung des "Pöbels" in beiden Fällen Berliner Quellen entstammte. Die Überein-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 376


stimmung <strong>der</strong> Handlungsweise <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre des XX. und des XVIII. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

müßte verblüffen, wenn sie nicht durch die noch verblüffen<strong>der</strong>e Identität <strong>der</strong> Verleumdung<br />

seitens ihrer Feinde verdeckt wäre. Doch man braucht sich nicht mit den Jakobinern<br />

zu begnügen. Die <strong>Geschichte</strong> aller <strong>Revolution</strong>en und Bürgerkriege zeigt<br />

unverän<strong>der</strong>lich, daß die bedrohte o<strong>der</strong> gestürzte Klasse dazu neigt, den Grund ihres<br />

Mißgeschickes nicht bei sich, son<strong>der</strong>n bei ausländischen Agenten und Emissären zu<br />

suchen. Nicht nur Miljukow in seiner Eigenschaft als gelehrter Historiker, son<strong>der</strong>n auch<br />

Kerenski in seiner Eigenschaft als oberflächlicher Leser hätten das wissen müssen.<br />

Jedoch in ihrer Eigenschaft als Politiker wurden beide Opfer <strong>der</strong> eigenen konterrevolutionären<br />

Funktion.<br />

Den Theorien von <strong>der</strong> revolutiouären Rolle ausländischer Agenten wie überhaupt allen<br />

typischen und Massen-Verirrungen liegt jedoch ein indirektes historisches Fundament<br />

zugrunde. Bewußt o<strong>der</strong> unbewußt macht jedes Volk in kritischen Perioden seines<br />

Daseins beson<strong>der</strong>s große und kühne Anleihen in den Schatzkammern <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Völker. Nicht selten spielen überdies die führende Rolle in <strong>der</strong> Fortschrittbewegung<br />

Personen, die im Ausland gelebt haben, o<strong>der</strong> in die Heimat zurückgekehrte Emigranten.<br />

Neue Ideen und Institutionen erscheinen deshalb den konservativen Schichten vor allem<br />

als fremdartige, als ausländische Produkte. Dorf gegen Stadt, Provinznest gegen Metropole,<br />

Kleinbürger gegen Arbeiter verteidigen sich als nationale Kräfte gegen ausländische<br />

Einflüsse. Die Bewegung <strong>der</strong> Bolschewiki erschien Miljukow als »deutsche« letzten<br />

Endes aus denselben Gründen, aus denen <strong>der</strong> russische Muschik jahrhun<strong>der</strong>telang jeden<br />

städtisch gekleideten Menschen für einen Deutschen hielt. Nur mit dem Unterschiede,<br />

daß <strong>der</strong> Muschik dabei rechtschaffen blieb.<br />

lin Jahre 1918, also bereits nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, veröffentlichte das Pressebüro<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Regierung feierlich eine Sammlung von Dokumenten über die<br />

Verbindung <strong>der</strong> Bolschewiki mit den Deutschen. Dieser plumpen Falsifikation, die nicht<br />

einmal dem Hauche einer Kritik wi<strong>der</strong>stand, glaubten viele gebildete und scharfsichtige<br />

Menschen, solange nicht nachgewiesen wurde, daß die angeblich aus verschiedenen<br />

Län<strong>der</strong>n stammenden Originale <strong>der</strong> Dokumente sämtlich auf ein und <strong>der</strong>selben Schreibmaschine<br />

angefertigt worden waren. Die Fälscher machten mit den Konsumenten keine<br />

Umstände: sie waren offenbar sicher, daß <strong>der</strong> politische Bedarf an Enthüllungen über die<br />

Bolschewiki sich als stärker erweisen würde als die Stimme <strong>der</strong> Kritik. Und sie gingen<br />

nicht fehl, denn sie wurden für die Dokumente gut bezahlt. Indes war die amerikanische<br />

Regierung, vom Kampfschauplatz durch einen Ozean getrennt, erst in zweiter und dritter<br />

Linie an den Ereignissen interessiert.<br />

Aber weshalb ist die politische Verleumdung denn doch so dürftig und eintönig?<br />

Deshalb, weil die Gesellschaftspsyche sparsam und konservativ ist. Sie verausgabt nicht<br />

mehr Kraft, als für ihre Zwecke unbedingt erfor<strong>der</strong>lich ist. Sie zieht vor, Altes zu entlehnen,<br />

sobald sie nicht gezwungen ist, Neues zu bauen, aber auch in diesem Falle kombiniert<br />

sie die Elemente des Alten. jede nachfolgende Religion pflegte ihre Mythologie<br />

nicht neu zu schaffen, son<strong>der</strong>n den Aberglauben <strong>der</strong> Vergangenheit umzuformen. Nach<br />

dem gleichen Typus wurden auch die philosophischen Systeme geschaffen, die Doktrinen<br />

des Rechts und <strong>der</strong> Moral. Einzelne Menschen, sogar auch geniale, entwickeln sich<br />

ebenso unharmonisch wie die Gesellschaft, die sie erzieht. Kühne Phantasie findet im<br />

gleichen Schädel Platz neben sklavischer Anhänglichkeit an überkommene Muster.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 377


Verwegene Höhenflüge vertragen sich mit grobem Aberglauben. Shakespeare nährte<br />

seine Schöpfung mit Sujets, die aus <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te zu ihm drangen. Pascal<br />

bewies die Existenz Gottes mit Hilfe <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitstheorie. Newton entdeckte<br />

die Anziehungsgesetze und glaubte an die Apokalypse. Nachdem Marconi eine Radiosendestation<br />

in <strong>der</strong> Residenz des Papstes errichtet hat, verbreitet <strong>der</strong> Stellvertreter Christi<br />

seinen mystischen Segen durch Radio. In gewöhnlichen Zeiten gehen diese Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

aus dem Schlummerzustande nicht heraus. Aber in Zeiten von Katastrophen gewinnen<br />

sie Explosivkraft. Wo es um Bedrohung <strong>der</strong> materiellen Interessen geht, bringen die<br />

gebildeten Klassen alle Vorurteile und Verirrungen in Bewegung, die die Menschheit im<br />

Troß hinter sich herschleppt. Kann man den gestürzten Herren des alten Rußland allzusehr<br />

zürnen, wenn sie die Mythologie ihres Sturzes wahllos von jenen Klassen übernahmen,<br />

die vor ihnen gestürzt worden waren? Gewiß, die Tatsache, daß Kerenski viele<br />

Jahre nach den Ereignissen in seinen Memoiren Jermolenkos Version wie<strong>der</strong> auferstehen<br />

läßt, ist jedenfalls eine Verschwendung.<br />

Die Verleumdung <strong>der</strong> Kriegs- und <strong>Revolution</strong>sjahre verblüfft, sagten wir, durch ihre<br />

Einförmigkeit. Aber es gibt einen Unterschied. Aus <strong>der</strong> Anhäufung von Quantität<br />

entsteht neue Qualität. Der Kampf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Parteien untereinan<strong>der</strong> ähnelte fast einem<br />

Familienzwist im Vergleich mit ihrer gemeinsamen Hetze gegen die Bolschewiki. In<br />

ihren Zusammenstößen untereinan<strong>der</strong> traainierten sie gleichsam nur für den an<strong>der</strong>en,<br />

entscheidenden Kompf. Selbst wenn sie gegeneinan<strong>der</strong> die scharfe Beschuldigung <strong>der</strong><br />

Verbindung mit den Deutschen erhoben, führten sie die Sache niemals bis zum Ende<br />

durch. Der Juli bietet ein an<strong>der</strong>es Bild. In ihrem Vorstoß gegen die Bolschewiki stellen<br />

alle herrschenden Kräfte: Regierung, Justiz, Konterspionage, Stäbe, Beamte, Munizipalitäten,<br />

Parteien <strong>der</strong> Sowjetmehrheit, ihre Presse und Redner, ein grandioses Ganzes dar.<br />

Selbst die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen verstärken, wie <strong>der</strong> Unterschied <strong>der</strong><br />

Instrumente im Orchester, nur den Gesamteffekt. Die unsinnige Erfindung zweier<br />

verächtlicher Subjekte wird auf die Höhe eines historischen Faktors erhoben. Die<br />

Verleumdung stürzt herab wie ein Niagara. Zieht man die Situation in Betracht - Krieg<br />

und <strong>Revolution</strong>-und den Charakter <strong>der</strong> Beschuldigten - revolutionäre Führer von Millionen,<br />

die ihre Partei zur Macht gebracht haben -, so kann man ohne Übertreibung sagen,<br />

daß <strong>der</strong> Juli I917 ein Monat <strong>der</strong> größten Verleumdung in <strong>der</strong> Weltgeschichte war.<br />

Die Konterrevolution erhebt das Haupt<br />

In den ersten zwei Monaten, als die Regierung formell Gutschkow-Miljukow gehörte,<br />

konzentrierte sich die Macht faktisch vollständig in den Händen des Sowjets. In den<br />

folgenden zwei Monaten erlitt <strong>der</strong> Sowjet eine Schwächung: ein Teil des Einflusses auf<br />

die Massen ging an die Bolschewiki über, ein Teilchen <strong>der</strong> Macht brachten die Minister-<br />

<strong>Sozialisten</strong> in ihren Portefeuilles <strong>der</strong> Koahtionsregierung. Mit Beginn <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Offensive verstärkte sich automatisch die Bedeutung des Kommandostabes, <strong>der</strong><br />

Organe des Finanzkapitals und <strong>der</strong> Kadettenpartei. Ehe es daran ging, das Blut <strong>der</strong> Soldaten<br />

zu vergießen, unternahm das Exekutivkomitee eine solide Transfusion eigenen Blutes<br />

in die A<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bourgeoisie. Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den<br />

Händen <strong>der</strong> Gesandtschaften und Regierungen! <strong>der</strong> Entente.<br />

Zu <strong>der</strong> in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde<br />

"vergessen", den <strong>russischen</strong> Gesandten einzuladen; erst nachdem er sich selbst in Erinne-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 378


ung gebracht, rief man ihn, zehn Minuten vor Eröffnung <strong>der</strong> Tagung, wobei sich für ihn<br />

am Tische kein Platz fand und er sich zwischen die Franzosen hineinzwängen mußte. Die<br />

Verhöhnung des Gesandten <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und <strong>der</strong> demonstrative Austritt<br />

<strong>der</strong> Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten<br />

das gleiche Ziel: die Versöhnler nie<strong>der</strong>zuducken. Die gleich danach zur Entladung<br />

gekommene bewaffnete Demonstration mußte die Sowjetführer um so mehr außer sich<br />

bringen als, unter dem doppelten Schlag, ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen gerade<br />

entgegengesetzten Weg gerichtet war. Ist man gezwungen, das blutige Joch im Bunde<br />

mit <strong>der</strong> Entente zu tragen, so lassen sich doch keine besseren Vermittler finden als die<br />

Kadetten. Tschaikowski, einer <strong>der</strong> ältesten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre, während <strong>der</strong> langen<br />

Emigrationsjahre zu einem gemäßigten britischen Liberalen geworden, sprach belehrend:<br />

»Für den Krieg braucht man Geld, aber den <strong>Sozialisten</strong> werden die Alliierten kein Geld<br />

geben.« Den Versöhnlern war dieses Argument peinlich, doch begriffen sie sein ganzes<br />

Gewicht.<br />

Das Kräfteverhältnis verän<strong>der</strong>te sich offensichtlich zuungunsten des Volkes, doch<br />

konnte niemand sagen, in welchem Grade. Die Appetite <strong>der</strong> Bourgeoisie waren jedenfalls<br />

viel stärker gewachsen als ihre Möglichkeiten. In dieser Unbestimmtheit lag die Quelle<br />

<strong>der</strong> Zusammenstöße, denn die Klassenkräfte werden in <strong>der</strong> Aktion überprüft, und Ereignisse<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> laufen auf solche wie<strong>der</strong>holte Nachprüfungen hinaus. Jedoch wie<br />

groß dem Umfang nach die Verschiebung <strong>der</strong> Macht von links nach rechts auch sein<br />

mochte, sie berührte wenig die Provisorische Regierung, die ein leerer Fleck blieb. Die<br />

Menschen, die sich in den kritischen Julitagen für das Ministerium des Fürsten Lwow<br />

interessierten, kann man an den Fingern abzählen. General Krymow, <strong>der</strong> nämliche, <strong>der</strong><br />

einstmals mit Gutschkow über die Entthronung Nikolaus' II. verhandelt hatte - wir<br />

werden diesem General bald zum letztenmal begegnen -, richtete an die Adresse des<br />

Fürsten ein Telegramm, das mit <strong>der</strong> Belehrung schloß: »Es ist an <strong>der</strong> Zeit, von Worten<br />

zur Tat überzugehen.« Der Rat klang wie Hohn und unterstrich nur noch schärfer die<br />

Ohnmacht <strong>der</strong> Regierung.<br />

»Anfang Juli«, schrieb später <strong>der</strong> Liberale Nabokow, »gab es einen kurzen Moment,<br />

wo die Autorität <strong>der</strong> Regierung gleichsam wie<strong>der</strong> gestiegen war; das war nach <strong>der</strong><br />

Unterdrückung des ersten bolschewistischen Auftretens. Doch diesen Moment verstand<br />

die Provisorische Regierung. nicht auszunutzen, und die damaligen günstigen Bedingungen<br />

wurden verpaßt. Sie kehrten nicht mehr wie<strong>der</strong>.« In gleichem Sinne äußerten sich<br />

auch an<strong>der</strong>e Vertreter des rechten Lagers. In Wirklichkeit haben in den Julitagen, wie in<br />

allen kritischen Augenblicken überhaupt, die einzelnen Bestandteile <strong>der</strong> Koalition<br />

verschiedene Zwecke verfolgt. Die Versöhnler wären durchaus bereit gewesen, die<br />

endgültige Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu dulden, würde es nicht augenscheinlich<br />

gewesen sein, daß die Offiziere, Kosaken, Georgsritter und Stoßtrupps nach <strong>der</strong> Abrechnung<br />

mit den Bolschewiki die Versöhnler selbst zerschmettert hätten. Die Kadetten<br />

wollten bis ans Ende gehen, um nicht nur die Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch die Sowjets<br />

hinwegzufegen. Allein nicht zufällig standen die Kadetten in aller scharfen Momenten<br />

außerhalb <strong>der</strong> Regierung. Letzten Endes vertrieb sie von dort <strong>der</strong> trotz allen versöhnlerischen<br />

Purem unüberwindfiche Druck <strong>der</strong> Massen. Auch wenn es den Liberalen gelungen<br />

wäre, die Macht zu ergreifen, sie hätten sie nicht zu halten vermocht. Die Ereignisse<br />

haben das nachträglich erschöpfend bewiesen. Der Gedanke von <strong>der</strong> angeblich im Juli<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 379


versäumten Möglichkeit ist eine retrospektive Illusion. Jedenfalls hat <strong>der</strong> Julisieg die<br />

Macht nicht nur gefestigt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die Periode <strong>der</strong> schleichenden Regierungskrise<br />

eingeleitet, die formell erst am 24. Juli gelöst wurde, tatsächlich aber den<br />

Eintritt <strong>der</strong> vier Monate währenden Agonie des Februarregimes darstellte.<br />

Die Versöhnler zerrissen sich zwischen <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Halbfreundschaft mit<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie wie<strong>der</strong>herzustellen, und dem Bedürfnis, die Feindseligkeit <strong>der</strong> Massen<br />

zu mil<strong>der</strong>n. Lavieren wird für sie Daseinsform, die Zickzacks verwandeln sich in ein<br />

fieberhaftes Hin und Her, doch die Grundlinie nimmt schroff die Richtung nach rechts.<br />

Am 7. Juli ordnet die Regierung eine ganze Reihe von Repressivmaßregeln an. Aber in<br />

<strong>der</strong>selben Sitzung, gleichsam im Verstohlenen, die Abwesenheit <strong>der</strong> "Erwachsenen", das<br />

heißt <strong>der</strong> Kadetten, ausnutzend, schlugen die Minister-<strong>Sozialisten</strong> <strong>der</strong> Regierung vor, an<br />

die Verwirklichung des Programms des Sowjetkongresses vom Juni heranzugehen. Das<br />

führte unverzüglich zum weiteren Zerfall <strong>der</strong> Regierung. Der Großgrundbesitzer und<br />

ehemalige Vorsitzende des Semstwo-Verbandes, Fürst Lwow, beschuldigt die<br />

Regierung, ihre Agrarpolitik »untergräbt das Rechtsbewußtsein des Volkes«. Die Gutsbesitzer<br />

beunruhigte nicht <strong>der</strong> Umstand, daß sie ihre Erbgüter verlieren könnten, son<strong>der</strong>n<br />

daß die Versöhnler »bestrebt sind, die Konstituierende Versammlung vor die Tatsache<br />

<strong>der</strong> bereits gelösten Frage zu stellen«. Sämtliche Säulen <strong>der</strong> monarchistischen Reaktion<br />

wurden nun flammende Anhänger <strong>der</strong> reinen Demokratie! Die Regierung beschloß,<br />

Kerenski den Posten des Ministerpräsidenten zu übertragen bei Belassung seiner Kriegsund<br />

Marineportefeuilles. Zeretelli, <strong>der</strong> neue Innenminister, mußte dem Exekutivkomitee<br />

Rede stehen wegen <strong>der</strong> Verhaftungen <strong>der</strong> Bolschewiki. Die protestierende Anfrage ging<br />

von Martow aus, und Zeretelli antwortete ohne Zeremonie seinem älteren<br />

Parteigenossen, er ziehe vor, mit Lenin und nicht mit Martow zu tun zu haben: bei dem<br />

einen wisse er, wie zu verfahren, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ihm die Hände binde ... »Ich nehme<br />

die Verantwortung für diese Verhaftungen auf mich«, warf <strong>der</strong> Minister herausfor<strong>der</strong>nd<br />

in den gespannt lauemden Saal.<br />

Die Schläge nach links austeilend, decken sich die Versöhnler mit <strong>der</strong> Gefahr von<br />

rechts. »Rußland steht vor einer Militärdiktatur«, berichtet Dan in <strong>der</strong> Sitzung vom 9.<br />

Juli. »Wir müssen <strong>der</strong> Militärdiktatur das Bajonett aus den Händen winden. Und dies<br />

können wir nur, indem wir die Provisorische Regierung als ein Komitee zur öffentlichen<br />

Rettung anerkennen. Wir müssen ihr uneingeschränkte Vollmachten erteilen, damit sie<br />

die Anarchie von links und die Konterrevolution von rechts an <strong>der</strong> Wurzel untergrabe ...«<br />

Als hätte in den Händen <strong>der</strong> gegen Arbeiter, Soldaten und Bauern kämpfenden Regierung<br />

ein an<strong>der</strong>es Bajonett sein können als das Bajonett <strong>der</strong> Konterrevolution! Mit<br />

zweihun<strong>der</strong>tzweiundfünfzig Stimmen bei siebenundvierzig Stimmenthaltungen beschloß<br />

die vereinigte Versammlung: »1., Land und <strong>Revolution</strong> sind in Gefahr. 2., Die Provisorische<br />

Regierung wird als Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> proklamiert. 3., Sie erhält<br />

uneingeschränkte Vollmachten.« Der Beschluß klang dröhnend wie ein leeres Faß. Die in<br />

<strong>der</strong> Sitzung anwesenden Bolschewiki enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung, was unzweifelhaft<br />

von <strong>der</strong> Verwirrung bei den Parteispitzen in jenen Tagen zeugt.<br />

Massenbewegungen, auch geschlagene, gehen niemals spurlos vorüber. Den Platz des<br />

hochbetitelten Herrn nahm an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> radikale Advokat ein-, das<br />

Innenministerium repräsentierte ein ehemaliger Katorgasträfling. Die plebejische Erneuerung<br />

<strong>der</strong> Macht war offenkundig. Kerenski, Zeretelli, Tschernow, Skobeljew, die Führer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 380


des Exekutivkomitees, bestimmten nun die Physiognomie <strong>der</strong> Regierung. War das nicht<br />

die Verwirklichung des Lösungswortes <strong>der</strong> Junitage: »Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten«?<br />

Nein, das war nur die Enthüllung seiner Unzulänglichkeit. Die Minister-Demokraten<br />

übernahmen die Macht nur, um sie den Minister-Kapitalisten zurückzugeben.<br />

La coalition est morte, vive la coalition!<br />

Es entwickelt sich die feierlich-schändliche Komödie <strong>der</strong> Entwaffnung <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />

auf dem Schloßplatz. Eine Reihe Regimenter wird aufgelöst. Die Soldaten<br />

werden in kleinen Abteilungen zur Nachfüllung <strong>der</strong> Front abtransportiert.<br />

Vierzigjährige werden zum Gehorsam gezwungen und in Schützengräben getrieben. Das<br />

alles sind Agitatoren gegen das Regime <strong>der</strong> Kerenskiade. Ihrer sind Zehntausende, und<br />

sie werden bis zum Herbst große Arbeit leisten. Parallel werden Arbeiter entwaffnet,<br />

wenn auch mit kleinerem Erfolg. Unter dem Druck <strong>der</strong> Generale - wir werden bald<br />

sehen, welche Formen er annahm - wird an <strong>der</strong> Front die Todesstrafe eingeführt. Aber<br />

am gleichen Tage, dem 12. Juli, wird ein Dekret erlassen, das den Abschluß von Bodentransaktionen<br />

einschränkt. Diese verspätete Halbmaßnahme, angenommen unter <strong>der</strong> Axt<br />

des Muschiks, rief links Hohn, rechts Zähneknirschen hervor. Wehrend er alle Straßenumzüge<br />

verbot - eine Drohung nach links erhob Zeretelli die Hand gegen eigenmächtige<br />

Verhaftungen Versuch einer Zurechtweisung nach rechts. Die Absetzung des Oberbefehlshabers<br />

des Militärbezirks erläuterte Kerenski nach links: wegen <strong>der</strong> Zertrümmerung<br />

von Arbeiterorganisationen, nach rechts: wegen mangeln<strong>der</strong> Entschlossenheit.<br />

Die Kosaken wurden dic wahren Helden des bürgerlichen Petrograd. »Es kamen Fälle<br />

vor«, erzählt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Grekow, »daß, wenn jemand einen öffentlichen Ort,<br />

etwa ein Restaurant, wo viele Menschen waren, in Kosakenuniform betrat, sich alle<br />

erhoben und den Eiiitretendcn mit Hindeklatschen begrüßten.« Theater, Kinos, öffentliche<br />

Gärten veranstalteten Wohltätigkeitsabende zugunsten <strong>der</strong> verwundeten Kosaken<br />

und <strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Getöteten. Das Büro des Exekutivkomitees war gezwungen, eine<br />

Kommission zu wählen mit Tscheidse an <strong>der</strong> Spitze zur Teilnahme an den Vorbereitungen<br />

für die Beerdigung <strong>der</strong> »bei Erfüllung <strong>der</strong> revolutionären Pflicht in den Tagen vom<br />

3. bis 5. Juli gefallenen Krieger«. Den Kelch <strong>der</strong> Erniedrigung mußten die Versöhnler<br />

bis zur Neige leeren. Das Zeremoniell begann mit einer Liturgie in <strong>der</strong> Isaak-Kathedrale.<br />

Die Särge wurden von Rodsjanko, Miljukow, Fürst Lwow und Kerenski auf den Händen<br />

hinausgetragen und im Prozessionszug zur Beisetzung in das Alexandro-Newski-Kloster<br />

gebracht. Auf dem ganzen Weg des Zuges war die Miliz entfernt worden, den Ordnungsdienst<br />

hatten die Kosaken übernommen: <strong>der</strong> Begräbnistag war ein Tag ihrer absoluten<br />

Herrschaft über Petrograd. Die von den Kosaken ermordeten Arbeiter und Soldaten,<br />

Blutsbrü<strong>der</strong> <strong>der</strong> Februaropfer, wurden ganz im stillen beerdigt, wie man einst unter dem<br />

Zarismus die Opfer des 9. Januar begrub.<br />

An das Kronstädter Exekutivkomitee stellte die Regierung, unter Androhung, die Insel<br />

zu blockieren, die For<strong>der</strong>ung, Raskolnikow, Roschal und den Fähnrich Remnew unverzüglich<br />

den Untersuchungsbehörden auszuliefern. In Helsingfors wurden neben den<br />

Bolschewiki zum erstenmal auch linke Sozialrevolutionäre verhaftet. Der zurückgctretene<br />

Fürst Lwow beklagte sich in den Zeitungen darüber, daß »die Sowjets tief unter dem<br />

Niveau <strong>der</strong> Staatsmoral stehen und sich von den Leninisten, diesen Agenten <strong>der</strong><br />

Deutschen, nicht gesäubert haben«. Ehrensache für die Versöhnler wurde es, ihre Staatsmoral<br />

zu beweisen! Am 13. Juli nehmen die Exekutivkomitees in gemeinsamer Sitzung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 381


eine von Dan eingebrachte Resolution an: »Alle Personen, gegen die von <strong>der</strong> Gerichtsbehörde<br />

Anklage erhoben ist, werden bis zur gerichtlichen Entscheidung von <strong>der</strong><br />

Teilnahme an den Exekutivkomitees ausgeschlossen.« Die Bolschewiki wurden damit<br />

faktisch außerhalb des Gesetzes gestellt. Kerenski verbot die gesamte bolschewistische<br />

Presse. In <strong>der</strong> Provinz fanden Verhaftungen <strong>der</strong> Landeskomitees statt. Die 'Iswestja'<br />

jammerten ohnmächtig: »Noch vor wenigen Tagen waren wir Zeugen <strong>der</strong> Orgie <strong>der</strong><br />

Anarchie in den Straßen von Petrogaid. Heute fließen in denselben Straßen unaufhaltsam<br />

konterrevolutionäre und Schwarzhun<strong>der</strong>t-Reden.«<br />

Nach Auflösung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile und Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter<br />

verschob sich das Gleichgewicht noch mehr nach rechts. In den Händen <strong>der</strong> Militärspitzen,<br />

<strong>der</strong> Bank- und Industrie- wie <strong>der</strong> Kadettengruppen konzentrierte sich unverhüllt ein<br />

beträchtlicher Teil <strong>der</strong> realen Macht. Der übrige Teil blieb nach wie vor in den Händen<br />

<strong>der</strong> Sowjets. Die Doppelherrschaft war offensichtlich, aber nicht mehr die legalisierte<br />

Kontakt- o<strong>der</strong> Koaltionsdoppelherrschaft <strong>der</strong> vorangegangenen Monate, son<strong>der</strong>n die<br />

explosive Doppelherrschaft von Cliquen, <strong>der</strong> militärisch-bürgerlichen und <strong>der</strong> versöhnlerischen,<br />

die einan<strong>der</strong> fürchteten, aber gleichzeitig einan<strong>der</strong> brauchten. Was blieb übrig?<br />

Die Koalition wie<strong>der</strong>herzustellen. »Nach dem Aufstand vom 3. bis 5. Juli«, sagt Miljukow<br />

mit Recht, »verschwand die Koalitionsidee nicht nur nicht, son<strong>der</strong>n gewann, im<br />

Gegenteil, vorübergehend stärkere Kraft und Bedeutung als früher.«<br />

Das Provisorische Komitee <strong>der</strong> Reichsduma erlebte plötzlich seine Auferstehung und<br />

nahm eine scharfe Resolution gegen die Rettungsregierung an. Das war <strong>der</strong> letzte Stoß.<br />

Sämtliche Minister händigten ihre Portefeuilles Kerenski aus und verwandelten ihn damit<br />

allein schon in den Mittelpunkt <strong>der</strong> nationalen Souveränität. Für das weitere Schicksal<br />

des Februarregimes wie für das persönhche Schicksal Kerenskis erhielt dieses Moment<br />

große Bedeutung: im Chaos <strong>der</strong> Gruppierungen, Verabschiedungen und Ernennungen<br />

zeichnete sich nun so etwas wie ein unverrückbarer Punkt ab, um den sich alle an<strong>der</strong>en<br />

drehten. Die Verabschiedung <strong>der</strong> Minister war nur <strong>der</strong> Auftakt zu Unterhandlungen mit<br />

den Kadetten und Industriellen. Die Kadetten stellten ihre Bedingungen: Verantwortlichkeit<br />

<strong>der</strong> Regierungsmitglie<strong>der</strong> »ausschließlich vor ihrem Gewissen«; restlose Einigung<br />

mit den Alliierten; Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Disziplin in <strong>der</strong> Armee; keinerlei soziale Reformen<br />

vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung. Einen ungeschriebenen Punkt bildete die<br />

For<strong>der</strong>ung, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu vertagen. Das nannte man<br />

»überparteiliches und nationales Programm«. Im gleichen Geiste antworteten die<br />

Vertreter von Handel und Industrie, die gegen die Kadetten auszuspielen die Versöhnler<br />

sich vergeblich bemüht hatten. Das Exekutivkomitee bestätigte erneut seine Resolution,<br />

die die Rettungsregierung »mit allen Vollmachten« ausstattete: das bedeutete die Einwilligung<br />

in die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Regierung von den Sowjets. Am gleichen Tage<br />

versandte Zeretelli in seiner Eigenschaft als Minister des Innem ein Zirkular über die<br />

Ergreifung "schneller und entschiedener Maßnahmen zur Unterbindung aller eigenmächtigen<br />

Handlungen auf dem Gebiete des Bodenbesitzes". Der Ernährungsminister Peschechonow<br />

seinerseits for<strong>der</strong>te die Unterbindung »des gewaltsamen und verbrecherischen<br />

Vorgehens gegen die Bodenbesitzer«. Die Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> empfahl<br />

sich in erster Linie als Regierung zur Rettung des gutsherrlichen Eigentums. Doch nicht<br />

dessen allein. Der Industriegewaltige Ingenieur Paltschinski verfolgte in seiner dreifachen<br />

Eigenschaft, als Leiter des Ministeriums für Handel und Industrie, als Hauptbevoll-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 382


mächtigter für Heizstoff und Metall und als Leiter <strong>der</strong> Landesverteidigungskommission,<br />

energisch die Politik des Syndikatkapitals. Der menschewistische Nationalökonom<br />

Tscherewarin beklagte sich vor <strong>der</strong> Wirtschaftsabteilung des Sowjets, daß alle guten<br />

Vorsätze <strong>der</strong> Demokratie an <strong>der</strong> Sabotage Paltschinskis zerschellten. Ackerbauminister<br />

Tschernow, auf den die Kadetten die Beschuldigung <strong>der</strong> Verbindung mit den Deutschen<br />

ausdehnten, sah sich gezwungen, »zum Zwecke <strong>der</strong> Rehabilitierung« zu demissionieren.<br />

Am 18. Juli erläßt die Regierung, in <strong>der</strong> die <strong>Sozialisten</strong> überwiegen, ein Manifest über<br />

die Auflösung des ungehorsamen finnländischen Sejm mit dessen sozialdemokratischer<br />

Mehrheit. In <strong>der</strong> feierlichen Note an die Alliierten anläßlich des dreijährigen Jubiläums<br />

des Weltkrieges wie<strong>der</strong>holt die Regierung nicht nur den rituellen Treuschwur, son<strong>der</strong>n<br />

berichtet auch von <strong>der</strong> glücklichen Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> durch feindliche Agenten angezettelten<br />

Meuterei. Ein unerhörtes Dokument <strong>der</strong> Kriecherei! Gleichzeitig wird ein drakonisches<br />

Gesetz gegen Disziplinverletzung bei den Eisenbahnen erlassen. Nachdem die<br />

Regierung somit ihre Staatsreife vordemonstriert hatte, entschloß sich Kerenski endlich,<br />

das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei in dem Sinne zu beantworten, daß die von ihr gestellten<br />

For<strong>der</strong>ungen »kein Hin<strong>der</strong>nis für den Eintritt in die Provisorische Regierung bilden<br />

können«. Eine verschleierte Kapitulation genügte jedoch den Liberalen schon nicht mehr.<br />

Sie wollten die Versöhnler in die Knie zwingen. Das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />

erklärte, daß die nach Auflösung <strong>der</strong> Koalition am 8. Juli erlassene Regierungsdeklaration<br />

- ein Sammelsurium demokratischer Gemeinplätze - für die Kadetten unannehmbar<br />

sei, und - brach die Verhandlungen ab.<br />

Die Attacke hatte konzentrischen Charakter. Die Kadetten handelten nicht nur in enger<br />

Verbindung mit den Industriellen und alliierten Diplomaten, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong><br />

Generalität. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stand faktisch<br />

unter Leitung <strong>der</strong> Kadettenpartei. Durch den obersten Kommandobestand drückten die<br />

Kadetten auf die Versöhnler von <strong>der</strong> empfindlichsten Seite. Am 8. Juli erließ <strong>der</strong> Oberbefehlshaber<br />

<strong>der</strong> Südwestfront, General Kornilow, einen Befehl, gegen zurückweichende<br />

Soldaten mit Maschinengewehr- und Artilleriefeuer vorzugehen. Unterstützt vom Frontkommissar<br />

Sawinkow, dem ehemaligen Haupt <strong>der</strong> terroristischen Organisation <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionäre, hatte Kornilow vorher die Einführ-ung <strong>der</strong> Todesstrafe an <strong>der</strong> Frotit<br />

gefor<strong>der</strong>t und gedroht, an<strong>der</strong>nfalls das Kommando nie<strong>der</strong>zulegen. Das Geheimtelegramm<br />

wurde sofort in <strong>der</strong> Presse veröffentlicht: Kornilow hatte dafür gesorgt, daß es bekannt<br />

wurde. Der Höchstkommandierende Brjussilow, mehr zu Vorsicht und Lavieren neigend,<br />

schrieb schulmeisternd an Kerenski: »Die Lehren <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong>,<br />

von uns häufig vergessen, bringen sich dennoch gebieterisch in Erinnerung ...« Diese<br />

Lehren bestanden darin, daß die französischen <strong>Revolution</strong>äre, nachdem sie vergeblich<br />

versucht hatten, die Armee »auf den Prinzipien <strong>der</strong> Humanität« aufzubauen, den Weg<br />

<strong>der</strong> Todesstrafe beschnitten, »und ihre siegreichen Fahnen sind durch die halbe Welt<br />

gegangen«. An<strong>der</strong>es hatten die Generale aus dem Buche <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht herausgelesen.<br />

Am 12. Juli führte die Regierung die Todestrafe wie<strong>der</strong> ein »während <strong>der</strong> Kriegszeit<br />

für Militärdienstpflichtige für einige, schwerste Verbrechen«. Allein <strong>der</strong><br />

Befehlshaber <strong>der</strong> Nordfront, General Klembowski, schrieb nach drei Tagen: »Die Erfahrung<br />

hat gezeigt, daß jene Truppenteile sich als völlig kampfunfähig erwiesen, die häufig<br />

Ersatz erhielten. Die Armee kann nicht gesund sein, wenn die Quelle ihres Ersatzes<br />

verfault ist.« Diese verfaulte Ersatzquelle war das russische Volk.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 383


Am 16. Juli berief Kerenski im Hauptquartier eine Beratung <strong>der</strong> älteren Heerführer ein<br />

unter Beteiligung von Tereschtschenko und Sawinkow. Kornilow fehlte: <strong>der</strong> Rückzug an<br />

seiner Front war in vollem Gange und kam erst nach einigen Tagen zum Stillstand, als<br />

die Deutschen selbst an <strong>der</strong> alten Staatengrenze haltmachten. Die Namen <strong>der</strong> Teilnehmer<br />

an <strong>der</strong> Beratung: Brjussilow, Alexejew, Russki, Klembowski, Denikin, Roiiianowski<br />

klangen wie das Echo einer in den Abgrund versunkenen Epoche. Vier Monate lang<br />

hatten sich die hohen Generale als halbe Leichen gefühlt. Jetzt wurden sie lebendig und<br />

bedachten den Ministerpräsidenten, <strong>der</strong> für sie die Verkörperung <strong>der</strong> sie belästigenden<br />

<strong>Revolution</strong> war, ungestraft mit boshaften Nasenstübern.<br />

Nach Angaben des Hauptquartiers verlor die Armee <strong>der</strong> Südwestfront in <strong>der</strong> Zeit vom<br />

18. Juni bis zum 6. Juli etwa sechsundfünfzigtausend Mann. Unbeträchtliche Opfer im<br />

Kriegsmaßstabe! Aber die zwei Umwälzungen vom Februar und vom Oktober haben viel<br />

weniger gekostet. Was brachte die Offensive <strong>der</strong> Liberalen und Versöhnler außer Tod,<br />

Vernichtung und Elend? Die sozialen Erschütterungen vom Jahre 1917 haben das<br />

Gesicht eines Sechstels <strong>der</strong> Erde verän<strong>der</strong>t und vor <strong>der</strong> Menschheit neue Möglichkeiten<br />

eröffnet. Grausamkeiten und Schrecken <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die wir we<strong>der</strong> bestreiten noch<br />

herabmin<strong>der</strong>n wollen, fallen nicht vom Himmel: sie sind nicht zu trennen von <strong>der</strong> gesamten<br />

historischen Entwicklung.<br />

Brjussilow berichtete über die Resultate <strong>der</strong> vor einem Monat begonnenen Offensive:<br />

»Völliger Mißerfolg.« Die Ursache besteht darin, daß »die Vorgesetzten, vom Kompaniechef<br />

bis zum Oberbefehlshaber, über keine Macht verfügen«. Wie und weshalb sie sie<br />

verloren haben, sagte er nicht. Was die weiteren Operationen beträfe, so »können wir<br />

hierzu nicht vor dem Frühling bereit sein«. Gemeinsam mit den an<strong>der</strong>en auf Repressalien<br />

pochend, sprach Klembowski zugleich Zweifel an <strong>der</strong>en Wirksamkeit aus. »Todesstrafe?<br />

Aber kann man denn ganze Divisionen hinrichten? Gerichtliche Strafverfolgungen? Aber<br />

dann säße die halbe Armee in Sibirien ...« Der Generalstabschef berichtete: »Fünf<br />

Regimenter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sind aufgelöst. Die Anstifter dem Gericht übergeben<br />

... Insgesamt sollen aus Petrograd etwa neunzigtausend Mann herausgeschafft<br />

werden.« Das nahm man befriedigt zur Kenntnis. Niemand dachte darüber nach, welche<br />

Folgen die Evakuation <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison nach sich ziehen würde.<br />

Die Komitees? fragte Alexejew. »Sie müssen vernichtet werden ... Die nach Jahrtausenden<br />

zählende Kriegsgeschichte hat ihre Gesetze geschaffen. Wir wollten sie verletzen<br />

und haben ein Fiasko erlitten.« Dieser Mensch verstand unter den Gesetzen <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> die Dienstordnung. »Den alten Fahnen«, prahlte Russki, »folgten die<br />

Menschen wie einem Heiligtum, starben dafür. Wozu aber haben es die roten Fahnen<br />

gebracht? Dazu, daß die Truppen sich jetzt korpsweise ergeben.« Der hinfällige General<br />

hatte vergessen, daß er selbst im August I915 dem Ministerrat meldete: »Die mo<strong>der</strong>nen<br />

Ansprüche <strong>der</strong> Kriegstechnik gehen über unsere Kraft; jedenfalls können wir mit den<br />

Deutschen nicht Schritt halten.« Klembowski unterstrich schadenfroh, daß eigentlich<br />

nicht die Bolschewiki die Armee zugrunde gerichtet hätten, son<strong>der</strong>n »an<strong>der</strong>e«, die eine<br />

untaugliche Kriegsgesetzgebung anwandten, »Menschen, die Lebensform und Daseinsbedingungen<br />

<strong>der</strong> Armee nicht begreifen«. Das war direkt auf Kerenski gemünzt. Denikin<br />

griff die Minister noch entschiedener an: »Ihr habt sie in den Schmutz getreten, unsere<br />

ruhmreichen Kriegsfahnen, hebt ihr sie nun auch empor, wenn euch das Gewissen<br />

schlägt ...« Und Kerenski? Mangelnden Gewissens verdächtigt, dankte er demütig den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 384


Soldaten für »die offen und freimütig ausgesprochene Meinung«. Die Deklaration <strong>der</strong><br />

Soldatenrechte? »Wenn ich damals, als sie entstand, Minister gewesen wäre, die Deklaration<br />

wäre nicht erlassen worden. Wer hat als erster die Sibirischen Schützen bezwungen?<br />

Wer als erster zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Unbotmäßigen Blut vergossen? Mein<br />

Beauftragter, mein Kommissar.« Außenminister Tereschtschenko tröstet verbindlich:<br />

»Sogar mißglückt, hat unsere Offensive das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten zu uns gestärkt.«<br />

Das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten! Dreht sich nicht zu diesem Zwecke die Erde um ihre<br />

Achse?<br />

»Gegenwärtig sind die Offiziere die einzige Stütze <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«,<br />

belehrt Klembowski. »Der Offizier ist kein Bourgeois«, erläuterte Brjussilow, »er ist <strong>der</strong><br />

echteste Proletarier.« General Russki ergänzt: »Auch die Generale sind Proletarier.«<br />

Die Komitees vernichten, die Macht <strong>der</strong> alten Vorgesetzten wie<strong>der</strong>herstellen, die Politik<br />

aus <strong>der</strong> Armee treiben - das heißt die <strong>Revolution</strong> -, das ist das Programm <strong>der</strong> Proletarier<br />

im Generalsrange. Kerenski hat gegen das Programm nichts einzuwenden, es beunruhigt<br />

ihn nur die Frage <strong>der</strong> Fristen. »Was die vorgeschlagenen Maßnahmen betrifft«, sagte er,<br />

»so glaube ich, daß auch General Denikin nicht auf ihre sofortige Durchführung bestehen<br />

wird ...« Die Generale waren durchweg graue Mittelmäßigkeiten. Aber sie konnten<br />

nicht umhin sich zu sagen: »Das ist die Sprache, die man mit diesen Herrschaften<br />

sprechen muß!«<br />

Als Folge <strong>der</strong> Beratung fand ein Wechsel im obersten Kommandobestande statt. Der<br />

nachgiebige und geschmeidige Brjussilow, eingesetzt an Stelle des vorsichtigen Kanzleibeamten<br />

Alexejew, <strong>der</strong> gegen die Offensive gewesen war, wurde jetzt durch Kornilow<br />

abgelöst. Diesen Wechsel motivierte man verschieden: den Kadetten versprach man,<br />

Kornilow werde eiseme Disziplin einführen; den Versöhnlern versicherte man, Kornilow<br />

sei ein Freund <strong>der</strong> Komitees und <strong>der</strong> Kommissare: Sawinkow selbst bürge für dessen<br />

republikanische Gefühle. In Beantwortung <strong>der</strong> hohen Ernennung schickte <strong>der</strong> General an<br />

die Regierung ein neues Ultimatum: Er, Kornilow, nehme seine Ernennung nur an unter<br />

den Bedingungen: »Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen und dem Volke; Nichteinmischung<br />

in die Ernennung des höheren Kommandobestandes; Wie<strong>der</strong>einführuhg <strong>der</strong><br />

Todesstrafe im Hinterlande.« Der erste Punkt schuf Schwierigkeiten: »Verantwortlichkeit<br />

vor dem eigenen Gewissen und dem Volke«, damit hatte schon Kerenski begonnen,<br />

und diese Sache duldete keine Rivalität. Kornilows Telegramm wurde in <strong>der</strong> verbreitetsten<br />

liberalen Zeitung veröffentlicht. Die vorsichtigen Politiker <strong>der</strong> Reaktion runzelten<br />

die Stirn. Kornilows Ultimatum war das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei, nur in die unverhüllte<br />

Sprache des Kosakengenerals übersetzt. Aber Kornilows Berechnung war richtig:<br />

die Übermäßigkeit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen und die Vermessenheit des Tones im Ultimatum<br />

löste das Entzücken aller Feinde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> gesamten Ka<strong>der</strong>offiziere<br />

aus. Kerenski geriet in Erregung und wollte Kornilow unverzüglich entlassen, fand<br />

aber keine Unterstützung bei seiner Regierung. Letzten Endes willigte auf Anraten seiner<br />

Inspiratoren Kornilow ein, in einer mündlichen Erklärung festzustellen, daß er die<br />

Verantwortlichkeit vor dem Volke als Verantwortlichkeit vor <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

verstehe. Im übrigen wurde das Ultimatum mit kleinen Vorbehalten angenommen.<br />

Kornilow ward Höchstkommandieren<strong>der</strong>. Gleichzeitig wurde ihm <strong>der</strong> Kriegsingenieur<br />

Filonenko als Kommissar beigeordnet und <strong>der</strong> frühere Kommissar <strong>der</strong> Südwestfront,<br />

Sawinkow, zum Leiter des Kriegsministeriums ernannt. Der eine - eine zufällige Figur,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 385


Emporkömmling; <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e - mit einer großen revolutionären Vergangenheit; beide<br />

vollendete Abenteurer, zu allem bereit, wie Filonenko, o<strong>der</strong> mindestens zu vielem, wie<br />

Sawinkow. Ihr enges Bündnis mit Kornilow hat die schnelle Karriere des Generals geför<strong>der</strong>t<br />

und, wie wir sehen werden, in <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse eine Rolle<br />

gespielt.<br />

Die Versöhnler ergaben sich auf <strong>der</strong> ganzen Linie. Zeretelli wie<strong>der</strong>holte: »Die Koalition,<br />

das ist das Rettungsbündnis.« Hinter den Kulissen waren die Verhandlungen trotz<br />

formellem Bruche in vollem Gange. Zur Beschleunigung <strong>der</strong> Lösung nimmt Kerenski, in<br />

offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten, Zuflucht zu einer rein<br />

theatralischen, das heißt ganz dem Geiste seiner Politik entsprechenden und gleichzeitig<br />

für seine Ziele sehr wirksamen Maßnahme: er demissioniert und reist aus <strong>der</strong> Stadt weg,<br />

die Versöhnler ihrer eigenen Verzweiflung überlassend. Miljukow sagt darüber: »Durch<br />

sein demonstratives Abtreten ... bewies er sowohl seinen Gegnern wie seinen Rivalen wie<br />

auch seinen Anhängern, daß er, wie man zu seinen persönlichen Qualititen auch stehen<br />

mochte, einfach wegen <strong>der</strong> von ihm eingenommenen politischen Haltung - zwischen zwei<br />

kämpfenden Lagern im gegebenen Moment unentbehrlich war.« Die Partie war, nach<br />

dem System des Schlagdamespieles, gewonnen. Die Versöhnler stürzten zum »Genossen<br />

Kerenski« mit unterdrückten Flüchen und offenem Flehen. Beide Parteien, Kadetten und<br />

<strong>Sozialisten</strong>, zwangen mühelos dem enthaupteten Ministerium den Beschluß auf, sich<br />

selbst zu liquidieren und Kerenski zu beauftragen, nach seinein persönlichen Ermessen<br />

die Regierung neu zu bilden.<br />

Um die ohnehin erschrockenen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutivkomitees völlig einzuschüchtern,<br />

serviert man ihnen die letzten Berichte über die sich verschlechternde Lage an <strong>der</strong><br />

Front. Die Deutschen bedrängen die <strong>russischen</strong> Truppen, die 1iberalen bedrängen<br />

Kerenski, Kerenski bedrängt die Versöhnler. Die Fraktionen <strong>der</strong> Menschewiki und<br />

Sozialrevolutionäre beraten die ganze Nacht zum 24. Juli, von Hilflosigkeit gequält.<br />

Endlich billigen die Exekutivkomitees mit einer Mehrheit von hün<strong>der</strong>tsiebenundvierzig<br />

gegen sechsundvierzig Stimmen bei zweiundvierzig Stimmenthaltungen eine nie<br />

dagewesene Opposition! - die Machtübergabe an Kerenski, ohne Bedingungen und ohne<br />

Einschränkungen. Auf dem gleichzeitig stattfindenden Parteitag <strong>der</strong> Kadetten ertönen<br />

Stimnien zum Sturze Kerenskis, doch Miljukow weist die Ungeduldigen zurecht und<br />

empfiehlt, sich vorläufig auf einen Druck zu beschränken. Das bedeutet nicht, daß Miljukow<br />

sich in bezug auf Kerenski Illusionen hingab. Doch sah er in ihm den Punkt zum<br />

Einsetzen <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Die Regierung, von den Sowjets befreit,<br />

würde dann ohne Schwierigkeiten von Kerenski zu befreien sein.<br />

Unterdessen dürsteten die Götter <strong>der</strong> Koalition weiter. Die Verfügung über Lenins<br />

Verhaftung war <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Übergangsregierung vom 7. Juli vorausgegangen. Jetzt<br />

hieß es, durch einen Akt <strong>der</strong> Festigkeit die Auferstehung <strong>der</strong> Koalition auszuzeichnen.<br />

Bereits am 13. Juli erschien in Gorkis Zeitung - eine bolschewistische Presse gab es nicht<br />

inehr - ein offener Brief Trotzkis an die Provisorische Regierung. Er lautete: »Sie besitzen<br />

keine logischen Gründe, mich von <strong>der</strong> Wirkung des Dekrets, kraft dessen die Genossen<br />

Lenin, Sinowjew und Kamenjew zu verhaften sind, auszunehmen. Was die politische<br />

Seite <strong>der</strong> Sache betrifft, so können Sie nicht darüber im Zweifel sein, daß ich ein ebenso<br />

unversöhnhcher Gegner <strong>der</strong> Gesamtpolitik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bin wie die<br />

genannten Genossen.« In <strong>der</strong> Nacht, als das neue Ministerium gebildet ward, wurden in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 386


Petrograd Trotzki und Lunatscharski und an <strong>der</strong> Front Fähnrich Krylenko, <strong>der</strong> spätere<br />

Höchstkommandierende <strong>der</strong> Bolschewiki, verhaftet.<br />

Die Regierung, die nach <strong>der</strong> dreiwöchigen Krise das Licht <strong>der</strong> Welt erblickte, sah wie<br />

ein verhutzeltes Kind aus. Sie bestand aus Figuren zweiten und dritten Aufgebots, ausgewählt<br />

nach dem Prinzip des kleinsten Übels. Stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> wurde<br />

Ingenieur Nekrassow, ein linker Kadett, <strong>der</strong> am 27. Februar vorgeschlagen hatte, zur<br />

Unterdrückung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Macht einem <strong>der</strong> zaristischen Generale auszuliefern.<br />

Der parteilose und farblose Schriftsteller Prokopowitsch, <strong>der</strong> sich am Raine zwischen<br />

Kadetten und Menschewiki aufhielt, wurde Minister für Handel und Industrie. Ein<br />

ehemaliger Staatsanwalt, später radikaler Advokat, Sarudniy, Sohn des "liberalen"<br />

Ministers Alexan<strong>der</strong>s II., wurde zur Leitung <strong>der</strong> Justiz berufen. Der Vorsitzende des<br />

Bauern-Exekutivkomitees, Awksentjew, erhielt das Portefeuille des Innenministers.<br />

Arbeitsminister blieb <strong>der</strong> Menschewik Skobeljew, Ernährungsminister <strong>der</strong> Volkssozialist<br />

Peschechonow. Von den Liberalen gerieten ebenso zweitrangige-Figuren in das Kabinett,<br />

die we<strong>der</strong> vorher noch nachher eine führende Rolle spielten. Auf den Posten des Ackerbauministers<br />

kehrte recht unerwartet Tschernow zurück: in den vier Tagen, die zwischen<br />

seinem Rücktritt und seiner neuen Ernennung verstrichen waren, hatte er bereits Zeit<br />

gehabt, sich zu rehabilitieren. In seiner "<strong>Geschichte</strong>" bemerkt Miljukow gelassen, daß <strong>der</strong><br />

Charakter von Tschernows Beziehungen zu den deutschen Behörden »unaufgeklärt<br />

blieb; es ist auch möglich«, fügt er hinzu, »daß sowohl die Angaben <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Konterspionage wie die Verdächtigungen Kerenskis, Tereschtschenkos und an<strong>der</strong>er in<br />

dieser Hinsicht zu weit gegangen waren.« Die Wie<strong>der</strong>einsetzung Tschernows in das Amt<br />

des Ackerbauministers war nichts an<strong>der</strong>es als ein Tribut an das Prestige <strong>der</strong> regierenden<br />

Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, wo Tschernow allerdings immer mehr an Einfluß verlor.<br />

Zeretelli dagegen blieb umsichtigerweise außerhalb des Ministeriums: im Mai hieß es, er<br />

würde innerhalb <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nützlich sein; jetzt schickte er sich an,<br />

innerhalb des Sowjets <strong>der</strong> Regierung nützlich zu sein. Von nun an erfüllt Zeretelli<br />

tatsächlich die Pflichten eines Kommissars <strong>der</strong> Bourgeoisie im Sowjetsystem. »Wären<br />

die Interessen des Landes durch die Koalition verletzt«, sagte er in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets, »es wäre unsere Pflicht, die Genossen aus <strong>der</strong> Regierung abzurufen.«<br />

Nicht mehr davon war die Rede, die Liberalen auszuschöpfen und sie dann aus dem Weg<br />

zu räumen, wie Dan es noch vor kurzem versprochen hatte, son<strong>der</strong>n davon, nachdem<br />

man sich ausgeschöpft fühlen würde rechtzeitig selbst vom Steuer zurückzutreten.<br />

Zeretelli bereitete die restlose Machtübergabe an die Bourgeoisie vor.<br />

In <strong>der</strong> ersten, am 6. Mai gebildeten Koalition waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit;<br />

aber sie waren faktisch die wirklichen Herren <strong>der</strong> Lage; im Ministerium vom 24. Juli<br />

waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Mehrheit, aber sie waren nur ein Schatten <strong>der</strong> Liberalen ...<br />

»Bei einem kleinen nominellen Übergewicht <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong>«, gesteht Miljukow,<br />

»gehörte das tatsächliche Übergewicht Uli Kabinett zweifellos den überzeugten Anhängem<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie.« Es wäre richtiger zu sagen: des bürgerlichen Eigentums.<br />

Mit <strong>der</strong> Demokratie verhielt sich die Sache weniger klar. Im gleichen Geiste, wenn<br />

auch mit einer überraschenden Motivierung, verglich Minister Peschechonow die Koalition<br />

vom Juli mit <strong>der</strong> vom Mai: damals habe die Bourgeoisie eine Stütze von links<br />

gebraucht; jetzt, wo die Konterrevolution drohe, brauche man eine Stütze von rechts: »Je<br />

mehr Kräfte von rechts wir hinzuziehen, um so weniger werden von jenen übrigbleiben,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 387


die die Regierung angreifen könnten.« Eine unvergleichliche Regel politischer Strategie:<br />

um die Belagerung einer Festung zu brechen, ist es das beste - die Tore von innen zu<br />

öffnen. Dies eben war die Formel <strong>der</strong> neuen Koalition.<br />

Die Reaktion griff an, die Demokratie wich zurück. Die in <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>speriode<br />

eingeschüchterten Klassen und Gruppen erhoben das Haupt. Interessen, die man<br />

noch gestern verbarg, traten heute nach außen. Händler und Spekulanten for<strong>der</strong>ten die<br />

Ausrottung <strong>der</strong> Bolschewiki und - Handelsfreiheit; sie erhoben ihre Stimme gegen alle<br />

Einschränkungen des Umsatzes, sogar auch jene, die bereits unter dem Zarismus eingeführt<br />

worden waren. Ernährungsämter, die gegen Spekulation zu kämpfen versuchten,<br />

wurden als die Schuldigen an <strong>der</strong> Lebensmittelknappheit erklärt. Man übertrug den Haß<br />

von den Ernährungsämtern auf die Sowjets. Der menschewistische Nationalökonom<br />

Gromann berichtete, daß <strong>der</strong> Feldzug <strong>der</strong> Kaufleute »sich beson<strong>der</strong>s nach den Ereignissen<br />

des 3. bis 4. Juli verstärkte«. Die Sowjets wurden verantwortlich gemacht für<br />

Nie<strong>der</strong>lagen, Teuerung und nächtliche Plün<strong>der</strong>ungen.<br />

Beunruhigt durch die monarchistischen Ränke und in Befürchtung einer Abwehrexplosion<br />

von links schob die Regierung am 1. August Nikolaus Romanow nebst Familie nach<br />

Tobolsk ab. Am folgenden Tage wurde die neue Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki 'Rabotschij i<br />

Soldat' ('Arbeiter und Soldat') verboten. Von überall trafen Nachrichten ein über Massenverhaftungen<br />

von Truppenkomitees. Die Bolschewiki konnten Ende Juli ihren Parteitag<br />

nur halb illegal versammeln. Armeekongresse wurden verboten. Kongresse hielten nur<br />

jene ab, die früher still zu Hause saßen: Bodenbesitzer, Kaufleute und Industrielle,<br />

Spitzen <strong>der</strong> Kosakenschaft, Geistlichkeit, Georgsritter. Ihre Stimmen klangen einheitlich<br />

und unterschieden sich nur im Grade <strong>der</strong> Vermessenheit. Die unbestreitbare, wenn auch<br />

nicht immer sichtbare Leitung gehörte <strong>der</strong> Kadettenpartei.<br />

Auf dem Handels- und Industriekongreß, <strong>der</strong> Anfang August etwa dreihun<strong>der</strong>t Vertreter<br />

<strong>der</strong> wichtigsten Börsen- und Unternehmerorganisationen versammelte, hielt die<br />

Programmrede <strong>der</strong> Textilkönig Rjabuschinski, <strong>der</strong> sein Lämpchen nicht im verborgenen<br />

leuchten ließ. »Die Provisorische Regierung besaß nur den Schein <strong>der</strong> Macht ... Faktisch<br />

hatte sich eine Bande von politischen Scharlatanen breitgemacht ... Die Regierung übt<br />

einen Steuerdruck aus und besteuert in erster Linie die Handels- und Industrieklasse hart<br />

... Ist es zweckmäßig, dem Verschwen<strong>der</strong> zu geben? Ist es nicht besser, zur Rettung des<br />

Vaterlandes die Verschwen<strong>der</strong> unter Vormundschaft zu stellen? ...« Und endlich die<br />

Schlußdrohung: »Der knochige Arm des Hungers und <strong>der</strong> Volksverelendung wird die<br />

Freunde <strong>der</strong> Nation bei <strong>der</strong> Gurgel packen!« Der Satz vom knochigen Arm des Hungers,<br />

womit die Aussperrungspolitik verallgemeinert wurde, ist seit jener Zeit fest in das politische<br />

Vokabularium <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eingegangen. Er kam den Kapitalisten teuer zu<br />

stehen.<br />

In Petrograd wurde <strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Gouvernements-Kommissare eröffnet. Agenten<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die planmäßig vor ihr wie eine Mauer hätten stehen<br />

sollen, schlossen sich in Wirklichkeit gegen sie zusammen und nahmen, unter Führung<br />

ihres kadettischen Kerns, den unglückseligen Innenininister Awksentjew aufs Korn. »Es<br />

ist unmöglich, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: die Regierung muß regieren, nicht aber<br />

eine Marionette sein.« Die Versöhnler verteidigten sich und protestierten halblaut, in<br />

Angst, ihren Streit mit den Verbündeten könnten die Bolschewiki belauschen. Der<br />

Minister-Sozialist verließ den Kongreß wie verbrüht.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 388


Die sozialrevolutionäre und die menschewistische Presse begann allmählich eine<br />

Sprache des Wehklagens und Gekränktseins zu führen. Auf ihren Seiten begannen<br />

überraschende Enthüllungen zu erscheinen. Am 6. August veröffentlichte das sozialrevolutionäre<br />

Blatt 'Djelo Naroda' ('Volkssache') den Brief einer Gruppe linker Junker, den<br />

diese, unterwegs zur Front, abgeschickt hatten: die Autoren »waren über die Rolle<br />

erstaunt, in <strong>der</strong> die Junker sich betätigten ... systematisches Ohrfeigen, Beteiligung <strong>der</strong><br />

Junker an Strafexpeditionen begleitet von Erschießungen ohne Gericht und Untersuchung,<br />

nur auf Befehl eines Bataillonskommandeurs ... Die erbitterten Soldaten schießen<br />

hinterrücks auf einzelne Junker ...« So sah die Arbeit zur Gesundung <strong>der</strong> Armee aus.<br />

Die Reaktion griff an, die Regierung wich zurück. Am 7. August wurden die populärsten<br />

Schwarzhun<strong>der</strong>tführer, die Rasputinschen Kreisen angehörten und an jüdischen<br />

Pogromen beteiligt gewesen waren, aus dem Gefängnis entlassen. Die Bolschewiki<br />

blieben im Krestygefängnis, wo ein Hungerstreik <strong>der</strong> verhafteten Arbeiter, Soldaten und<br />

Matrosen drohte. Die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets schickte an jenem Tage<br />

eine Begrüßung an Trotzki, Lunatscharski, Kollontay und die übrigen Häftlinge.<br />

Industrielle, Gouvernements-Kommissare, <strong>der</strong> Kosakenkongreß in Nowotscherkassk,<br />

die patriotische Presse, Generale, Liberale, alle waren <strong>der</strong> Ansicht, die Wahlen zur<br />

Konstituierenden Versammlung im September vorzunehmen sei völhg unmöglich; am<br />

besten wäre es, sie bis zum Kriegsende zu vertagen. Darauf konnte die Regierung jedoch<br />

nicht eingehen. Aber ein Kompromiß kam zustande: die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung wurde auf den 28. November vertagt. Nicht ohne Murren nahmen die<br />

Kadetten diese Frist an: sie rechneten fest damit, daß in den verbleibenden drei Monaten<br />

entscheidende Ereignisse geschehen niüßten, die die Frage <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung selbst, auf eine an<strong>der</strong>e Ebene hinüberleiten würden. Diese Hoffnungen<br />

wurden immer offener mit Kornilows Namen verknüpft.<br />

Die Reklame für die Figur des neuen "Ober" stand von nun an im Zentrum <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Politik. Die Biographie »des ersten Volks-Oberbefehlshabers« wurde unter aktiver<br />

Mitwirkung des Hauptquartiers in unzähligen Exemplaren verbreitet. Wenn Sawinkow in<br />

seiner Eigenschaft als Leiter des Kriegsministeriums Journalisten gegenüber sagte: »Wir<br />

glauben«, dann bedeutete das »Wir« nicht Sawinkow und Kerenski, son<strong>der</strong>n Sawinkow<br />

und Kornilow. Der Lärm um Kornilow zwang Kerenski, die Ohren zu spitzen. Es gingen<br />

immer hartnäckigere Gerüchte über eineVerschwörung, in <strong>der</strong>en Zentrum das Komitee<br />

des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stände. Die persönliche Zusammenkunft von<br />

Regierungsoberhaupt und Armeeoberhaupt Anfang August schürte nur <strong>der</strong>en Antipathie.<br />

»Dieser leichtfertige Schwätzer will über mich kommandieren«, mußte Kornilow sich<br />

sagen. - »Dieser beschränkte und unwissende Kosak will Rußland retten?« mochte wohl<br />

Kerenski denken. Beide hatten auf ihre Weise recht. Kornilows Programm, das Militarisierung<br />

<strong>der</strong> Betriebe und Eisenbahnen, Ausdehnung <strong>der</strong> Todesstrafe auf das Hinterland<br />

und Unterordnung des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks mit Einschluß <strong>der</strong> Residenzgarnison<br />

unter das Hauptquartier umfaßte, wurde inzwischen in Versöhnlerkreisen bekannt. Hinter<br />

dem offiziellen Programm erriet man mühelos das an<strong>der</strong>e, nicht ausgesprochene, aber<br />

desto realere. Die linke Presse schlug Alarm. Das Exekutivkomitee stellte eine neue<br />

Kandidatur für den Posten des Oberbefehlshabers in Person des Generals Tscheremissow<br />

auf. Von <strong>der</strong> bevorstehenden Entlassung<br />

Kornilows begann man offen zu sprechen. Die Reaktion wurde unruhig.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 389


Am 6. August beschloß <strong>der</strong> Sowjet des Verbandes <strong>der</strong> zwölf Kosakenarmeen, <strong>der</strong><br />

Doner, Kubaner, Tersker und an<strong>der</strong>er, nicht ohne Mitwirkung Sawinkows, »laut und<br />

entschieden« zur Kenntnis <strong>der</strong> Regierung und des Volkes zu bringen, er lehne die<br />

Verantwortung ab für das Verhalten <strong>der</strong> Kosakentruppen an <strong>der</strong> Front Generals<br />

Kornilow. Die Konferenz des Verbandes <strong>der</strong> Georgsritter drohte <strong>der</strong> Regierung noch<br />

entschiedener: sollte Kornilow abgesetzt werden, so werde <strong>der</strong> Verband sofort »einen<br />

Kampfruf an alle Georgsritter zum gemeinsamen Auftreten mit dem Kosakentum« erlassen.<br />

Kein einziger <strong>der</strong> Generale protestierte gegen diese Verletzung <strong>der</strong> Subordination,<br />

und die Ordnungspresse druckte mit Begeisterung die Beschlüsse ab, die eine Androhung<br />

des Bürgerkrieges bedeuteten. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes <strong>der</strong> Armee und<br />

Flotte versandte ein Telegramm, in dem es alle seine Hoffnungen »auf den geliebten<br />

Führer, General Kornilow«, setzte, und »alle ehrlichen Menschen« aufrief, diesem ihr<br />

Vertrauen auszusprechen. Die zur selben Zeit in Moskau tagende Konferenz »öffentlicher<br />

Persönlichkeiten« des rechten Lagers sandte an Kornilow ein Telegramm, in dem<br />

sie einstimmte in den Chor <strong>der</strong> Offiziere, Georgsritter und des Kosakentums: »Das<br />

gesamte denkende Rußland blickt auf Sie mit Hoffnung und Vertrauen.« Klarer konnte<br />

man's nicht sagen. An <strong>der</strong> Konferenz beteiligten sich Industrielle und Bankiers, wie<br />

Rjabuschinski und Tretjakow, die Generale Alexejew und Brjussilow, Vertreter <strong>der</strong><br />

Geistlichkeit und <strong>der</strong> Professur und die Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei mit Miljukow an <strong>der</strong><br />

Spitze. Als Hülle figurierten Vertreter des halbfiktiven "Bauernbundes", <strong>der</strong> den Kadetten<br />

eine Stütze bei den Spitzen <strong>der</strong> Bauernschaft sein sollte. Aus dem Vorsitzendenstuhl<br />

ragte die Monumentalfigur Rodsjankos hervor, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Delegation eines Kosakenregimentes<br />

für die Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Bolschewiki dankte. Die Kandidatur Kornilows für die<br />

Rolle des Landesretters war somit von den autoritärsten Vertretern <strong>der</strong> besitzenden und<br />

gebildeten Klassen Rußlands offiziell aufgestellt.<br />

Nach dieser Vorbereitung erscheint <strong>der</strong> Oberbefehlshaber zum zweitenmal beim<br />

Kriegsminister, um über das von ihm eingereichte Programm zur Rettung des Landes zu<br />

verhandeln. »Nach Ankunft in Petrograd«, erzählt über diesen Besuch Kornilows dessen<br />

Stabschef, General Lukomski, »begab er sich in Begleitung <strong>der</strong> Tekiner mit zwei Maschinengewehren<br />

in das Winterpalais. Diese Maschinengewehre wurden vom Automobil<br />

heruntergeholt, sobald General Kornilow das Winterpalais betreten hatte, und die<br />

Tekiner hielten vor dem Portal des Palais Wache, um dem Oberbefehlshaber nötigenfalls<br />

zu Hilfe zu kommen.« Man rechnete damit, diese Hilfe könnte dem Oberbcfehlshaber<br />

gegen den Ministerpräsidenten notwendig werden. Die Maschinengewehre <strong>der</strong> Tekiner<br />

waren die Maschinengewehre <strong>der</strong> Bourgeoisie, gerichtet auf die zwischen den Beinen<br />

herumirrenden Versöhnler. So sah die - von den Sowjets unabhängige - Regierung <strong>der</strong><br />

Rettung aus!<br />

Sogleich nach dem Kornilowschen Besuch erklärte Kokoschkin, ein Mitglied <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung, dem Ministerpräsidenten Kerenski, die Kadetten würden<br />

demissionieren, »falls nicht noch heute Kornilows Programm akzeptiert wird«. Wenn<br />

auch ohne Maschinengewehre, so sprachen dic Kadetten mit <strong>der</strong> Regierung doch die<br />

ultimative Sprache Kornilows. Und dies half. Die Provisorische Regierung beeilte sich,<br />

den Bericht des Oberbefehlshabers zu prüfen, und kam zu dem Ergebnis, die Durchführung<br />

<strong>der</strong> vorgeschlagenen Maßnahmen sei im Prinzip möglich, »einschließlich <strong>der</strong><br />

Todesstrafe für das Hinterland«.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 390


Der Mobilisierung <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> Reaktion schloß sich naturgemäß die Allrussische<br />

Kirchenversaninilung an, die, ihrem offiziellen Zweck nach, die volle Befreiung <strong>der</strong><br />

rechtgläubigen Kirche aus bürokratischen Fesseln durchzuführen hatte, sie in Wirklichkeit<br />

jedoch vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> schützen sollte. Mit <strong>der</strong> Beseitigung <strong>der</strong> Monarchie hatte<br />

die Kirche ihr offizielles Haupt verloren. Ihr Verhältnis zum Staate, ihrem Beschützer<br />

und Gönner von altersher, war in <strong>der</strong> Luft hängen geblieben. Allerdings hatte <strong>der</strong> Heilige<br />

Synod in einer Botschaft vom 9. März sich beeilt, die vollzogene Uniwälzung zu segnen,<br />

und das Volk auigerufen, »sich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung anzuvertrauen«. Aber dic<br />

Zukunft war doch von Gefahren bedroht. Die Regierung hatte sich wie über alle an<strong>der</strong>en<br />

Fragen auch über die <strong>der</strong> Kirche ausgeschwiegen. Die Geistlichkeit war völlig fassungslos.<br />

Mitunter traf aus irgendeinem Randgebiet, so von <strong>der</strong> Geistlichkeit <strong>der</strong> Stadt Werny<br />

an <strong>der</strong> chinesischen Grenze, ein Telegramm ein, das dem Fürsten Lwow versicherte,<br />

seine Politik stehe durchaus im Einklang mit den Geboten des Evangeliums. Sich <strong>der</strong><br />

Umwälzung anpassend, hatte die Kirche nicht gewagt, in die Ereignisse einzugreifen.<br />

Am schroffsten hatte sich das an <strong>der</strong> Front gezeigt, wo <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Geistlichkeit<br />

gleichzeitig mit <strong>der</strong> Angstdisziplin zusammenstürzte. Denikin gesteht: »Wenn das<br />

Offizierskorps immerhin längere Zeit um seine Kommandomacht und militärische Autorität<br />

kämpfte, so verstummte in den ersten <strong>Revolution</strong>stagen die Stimme <strong>der</strong> Seelenhirten,<br />

und jegliche Anteilnahme ihrerseits am Leben <strong>der</strong> Truppen hörte auf.« Kongresse <strong>der</strong><br />

Geistlichkeit im Hauptquartier und in den Armeestäben verliefen völlig unbeachtet.<br />

Die Kirchenversammlung, vor allem Kastenangelegenheit <strong>der</strong> Geistlichkeit, beson<strong>der</strong>s<br />

ihrer oberen Schichten, blieb jedoch nicht auf den Rahmen <strong>der</strong> Kirchenbürokratie<br />

beschränkt: an sie klammerte sich mit aller Kraft die liberale Gesellschaft. Die Kadettenpartei,<br />

die im Volk keine politischen Wurzeln fand, träumte davon, die reformierte<br />

Kirche würde <strong>der</strong> Partei als Transmission zu den Massen dienen. Bei <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Kirchenversammlung spielten eine aktive Rolle neben den Kirchenfürsten und diesen<br />

voran weltliche Politiker verschiedener Schattierungen, wie Fürst Trubetzkoi, Graf<br />

Olssufjew, Rodsjanko, Samarin, liberale Professoren und Schriftsteller. Die Kadettenpartei<br />

war vergeblich bemüht, eine Atmosphäre kirchlicher Reformation um die Versammlung<br />

zu schaffen, wobei sie gleichzeitig fürchtete, durch eine unvorsichtige Bewegung<br />

das angefaulte Gebäude ins Wanken zu bringen. Ober Trennung von Kirche und Staat<br />

war keine Rede, we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Geistlichkeit noch bei den weltlichen Reformatoren. Die<br />

Kirchenfürsten neigten natürlich dazu, die Kontrolle des Staates über ihre inneren<br />

Angelegenheiten abzuschwächen, sie wollten jedoch, daß <strong>der</strong> Staat in alter Weise nicht<br />

nur ihre privilegierte Lage, ihre Län<strong>der</strong>eien und Einkäufe schütze, son<strong>der</strong>n auch fernerhin<br />

den Löwenanteil ihrer Ausgaben decke. Ihrerseits war die liberale Bourgeoisie bereit,<br />

<strong>der</strong> Orthodoxie die Stellung <strong>der</strong> herrschenden Kirche zu sichern, jedoch unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />

daß sie es lerne, auf neue Art in den Massen die Interessen <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klassen zu wahren.<br />

Hier aber setzten die Hauptschwierigkeiten erst ein. Derselbe Denikin bemerkt<br />

zerknirscht, daß die russische <strong>Revolution</strong> »keine irgendwie bemerkenswerte volksreligiöse<br />

Bewegung geschaffen hat«. Richtiger wäre zu sagen, daß in dem Maße <strong>der</strong> Einbeziehung<br />

neuer Volksschichten in die <strong>Revolution</strong> diese Schichten fast automatisch <strong>der</strong><br />

Kirche den Rücken kehrten, auch wenn sie früher mit ihr verbunden waren. Auf dem<br />

Lande konnten noch einzelne Geistliche persönlichen Einfluß ausüben, je nach ihrem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 391


Verhalten zur Bodenfrage. In <strong>der</strong> Stadt kam es nicht nur in Arbeiter-, son<strong>der</strong>n auch in<br />

Kleinbürgerkreisen keinem in den Sinn, sich um Lösung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erhobenen<br />

Fragen an die Geisthchkeit zu wenden. Die Vorbereitung <strong>der</strong> Kirchenversaninilung<br />

stieß auf völlige Teilnahmslosigkeit des Volkes. Die Interessen und Leidenschaften <strong>der</strong><br />

Massen fanden ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Sprache sozialistischer Parolen, nicht aber in<br />

theologischen Texten. Das verspätete Rußland machte seine <strong>Geschichte</strong> nach einem<br />

gekürzten Lehrkursus durch: es war gezwungen, nicht nur über die Epoche <strong>der</strong> Reformation,<br />

son<strong>der</strong>n auch über die des bürgerlichen Parlamentarismus hinwegzuschreiten.<br />

Die in den Monaten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sflut in Aussicht genommene Kirchenversammlung<br />

fiel zusammen mit den Wochen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sebbe. Dies hat ihre reaktionäre Färbung<br />

nur noch verdichtet. Die Zusammensetzung, <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> von ihr berührten Fragen,<br />

sogar ihr Eröffnungszeremoniell - alles zeugte von den grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen<br />

im Verhältnis <strong>der</strong> verschiedenen Klassen zur Kirche. Bei dem Gottesdienst im Uspensski<br />

Sobor (Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale) waren neben Rodsjanko und den Kadetten auch<br />

Kerenski und Awksentjew anwesend. Der Moskauer Oberbürgermeister, Sozialrevolutionär<br />

Rudnjew, sagte in <strong>der</strong> Begrüßung: »Solange das russische Volk leben wird, wird in<br />

seinem Herzen <strong>der</strong> christliche Glaube brennen.« Noch gestern hatten diese Menschen<br />

sich für direkte Nachkommen des <strong>russischen</strong> Aufklärers Tschernyschewski gehalten.<br />

Die Kirchenversammlung versandte gedruckte Appelle in alle Ecken und Enden, rief<br />

nach einer starken Regierung, entlarvte die Bolschewiki und beschwor im Einklang mit<br />

dem Arbeitsminister Skobeljew: »Arbeiter, schaffet, ohne eure Kräfte zu schonen, und<br />

stellt eure For<strong>der</strong>ungen dem Wohle des Vaterlandes hintan.« Doch ganz beson<strong>der</strong>e<br />

Aufmerksamkeit widmete die Versammlung <strong>der</strong> Bodenfrage. Metropoliten und Bischöfe<br />

waren nicht weniger als die Gutsbesitzer über die Wucht <strong>der</strong> Bauernbewegung erschrokken<br />

und erbittert, und Angst um die Kirchen- und Klösterlän<strong>der</strong>eien ergriff von ihren<br />

Seelen viel stärker Besitz als die Frage nach <strong>der</strong> Demokratisierung <strong>der</strong> Pfarrgemeinden.<br />

Unter Androhung göttlichen Zorns und des Kirchenbanns for<strong>der</strong>t die Botschaft,<br />

»Kirchen, Klöster, Klerus und Privatbesitzern die ihnen geraubten Län<strong>der</strong>, Wäl<strong>der</strong> und<br />

Ernten unverzüglich zurückzugeben«. Hier wäre es angebracht, an die Stimme des Predigers<br />

in <strong>der</strong> Wüste zu erinnern! Die Kirchenversammlung zog sich von Woche zu Woche<br />

hin und erreichte den Höhepunkt ihrer Arbeit, die Wie<strong>der</strong>herstellung des von Peter dem<br />

Großen zwei jahrhun<strong>der</strong>te zuvor aufgehobenen Patriarchats, erst nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />

Ende Juli faßte die Regierung den Beschluß, zum 13. August nach Moskau eine Staatsberatung<br />

von Vertretern sämtlicher Klassen und öffentlichen Institutionen des Landes<br />

einzuberufen. Im völligen Wi<strong>der</strong>spruch zu den Resultaten aller im Lande stattgefundenen<br />

demokratischen Wahlen traf die Regierung Maßnahmen, um für die Beratung von<br />

vornherein die gleiche Zahl Vertreter <strong>der</strong> besitzenden Klassen wie des Volkes zu sichern.<br />

Nur auf <strong>der</strong> Grundlage eines solchen künstlichen Gleichgewichts hoffte die Regierung<br />

zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sich selbst noch zu retten. Mit irgendwelchen festgelegten<br />

Rechten wurde dieses Konzil nicht ausgestattet. »Die Beratung ... erhielt«, nach Milljukows<br />

Worten, »allenfalls nur beratende Stimme«: die besitzenden Klassen wollten <strong>der</strong><br />

Demokratie ein Beispiel von Selbstverleugnung geben, um sich später desto sicherer die<br />

ganze Macht anzueignen. Offiziell wurde als Ziel <strong>der</strong> Beratung verkündet: »Die<br />

Einigung <strong>der</strong> Staatsmacht mit allen organisierten Kräften des Landes.« Die Presse<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 392


sprach von <strong>der</strong> Notwendigkeit, zusammenzuschließen, zu versöhnen, aufzumuntern, zu<br />

ermutigen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die einen waren nicht willens, die an<strong>der</strong>en niclit fähig,<br />

klar auszusprechen, zu welchem Zwecke eigentlich die Beratung zusammentrete. Die<br />

Dinge bei Namen zu nennen, wurde auch hier Aufgabe <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Die Konterrevolution erhebt das Haupt<br />

In den ersten zwei Monaten, als die Regierung formell Gutschkow-Miljukow gehörte,<br />

konzentrierte sich die Macht faktisch vollständig in den Händen des Sowjets. In den<br />

folgenden zwei Monaten erlitt <strong>der</strong> Sowjet eine Schwächung: ein Teil des Einflusses auf<br />

die Massen ging an die Bolschewiki über, ein Teilchen <strong>der</strong> Macht brachten die Minister-<br />

<strong>Sozialisten</strong> in ihren Portefeuilles <strong>der</strong> Koahtionsregierung. Mit Beginn <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Offensive verstärkte sich automatisch die Bedeutung des Kommandostabes, <strong>der</strong><br />

Organe des Finanzkapitals und <strong>der</strong> Kadettenpartei. Ehe es daran ging, das Blut <strong>der</strong> Soldaten<br />

zu vergießen, unternahm das Exekutivkomitee eine solide Transfusion eigenen Blutes<br />

in die A<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bourgeoisie. Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den<br />

Händen <strong>der</strong> Gesandtschaften und Regierungen! <strong>der</strong> Entente.<br />

Zu <strong>der</strong> in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde<br />

"vergessen", den <strong>russischen</strong> Gesandten einzuladen; erst nachdem er sich selbst in Erinnerung<br />

gebracht, rief man ihn, zehn Minuten vor Eröffnung <strong>der</strong> Tagung, wobei sich für ihn<br />

am Tische kein Platz fand und er sich zwischen die Franzosen hineinzwängen mußte. Die<br />

Verhöhnung des Gesandten <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und <strong>der</strong> demonstrative Austritt<br />

<strong>der</strong> Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten<br />

das gleiche Ziel: die Versöhnler nie<strong>der</strong>zuducken. Die gleich danach zur Entladung<br />

gekommene bewaffnete Demonstration mußte die Sowjetführer um so mehr außer sich<br />

bringen als, unter dem doppelten Schlag, ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen gerade<br />

entgegengesetzten Weg gerichtet war. Ist man gezwungen, das blutige Joch im Bunde<br />

mit <strong>der</strong> Entente zu tragen, so lassen sich doch keine besseren Vermittler finden als die<br />

Kadetten. Tschaikowski, einer <strong>der</strong> ältesten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre, während <strong>der</strong> langen<br />

Emigrationsjahre zu einem gemäßigten britischen Liberalen geworden, sprach belehrend:<br />

»Für den Krieg braucht man Geld, aber den <strong>Sozialisten</strong> werden die Alliierten kein Geld<br />

geben.« Den Versöhnlern war dieses Argument peinlich, doch begriffen sie sein ganzes<br />

Gewicht.<br />

Das Kräfteverhältnis verän<strong>der</strong>te sich offensichtlich zuungunsten des Volkes, doch<br />

konnte niemand sagen, in welchem Grade. Die Appetite <strong>der</strong> Bourgeoisie waren jedenfalls<br />

viel stärker gewachsen als ihre Möglichkeiten. In dieser Unbestimmtheit lag die Quelle<br />

<strong>der</strong> Zusammenstöße, denn die Klassenkräfte werden in <strong>der</strong> Aktion überprüft, und Ereignisse<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> laufen auf solche wie<strong>der</strong>holte Nachprüfungen hinaus. Jedoch wie<br />

groß dem Umfang nach die Verschiebung <strong>der</strong> Macht von links nach rechts auch sein<br />

mochte, sie berührte wenig die Provisorische Regierung, die ein leerer Fleck blieb. Die<br />

Menschen, die sich in den kritischen Julitagen für das Ministerium des Fürsten Lwow<br />

interessierten, kann man an den Fingern abzählen. General Krymow, <strong>der</strong> nämliche, <strong>der</strong><br />

einstmals mit Gutschkow über die Entthronung Nikolaus' II. verhandelt hatte - wir<br />

werden diesem General bald zum letztenmal begegnen -, richtete an die Adresse des<br />

Fürsten ein Telegramm, das mit <strong>der</strong> Belehrung schloß: »Es ist an <strong>der</strong> Zeit, von Worten<br />

zur Tat überzugehen.« Der Rat klang wie Hohn und unterstrich nur noch schärfer die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 393


Ohnmacht <strong>der</strong> Regierung.<br />

»Anfang Juli«, schrieb später <strong>der</strong> Liberale Nabokow, »gab es einen kurzen Moment,<br />

wo die Autorität <strong>der</strong> Regierung gleichsam wie<strong>der</strong> gestiegen war; das war nach <strong>der</strong><br />

Unterdrückung des ersten bolschewistischen Auftretens. Doch diesen Moment verstand<br />

die Provisorische Regierung. nicht auszunutzen, und die damaligen günstigen Bedingungen<br />

wurden verpaßt. Sie kehrten nicht mehr wie<strong>der</strong>.« In gleichem Sinne äußerten sich<br />

auch an<strong>der</strong>e Vertreter des rechten Lagers. In Wirklichkeit haben in den Julitagen, wie in<br />

allen kritischen Augenblicken überhaupt, die einzelnen Bestandteile <strong>der</strong> Koalition<br />

verschiedene Zwecke verfolgt. Die Versöhnler wären durchaus bereit gewesen, die<br />

endgültige Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu dulden, würde es nicht augenscheinlich<br />

gewesen sein, daß die Offiziere, Kosaken, Georgsritter und Stoßtrupps nach <strong>der</strong> Abrechnung<br />

mit den Bolschewiki die Versöhnler selbst zerschmettert hätten. Die Kadetten<br />

wollten bis ans Ende gehen, um nicht nur die Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch die Sowjets<br />

hinwegzufegen. Allein nicht zufällig standen die Kadetten in aller scharfen Momenten<br />

außerhalb <strong>der</strong> Regierung. Letzten Endes vertrieb sie von dort <strong>der</strong> trotz allen versöhnlerischen<br />

Purem unüberwindfiche Druck <strong>der</strong> Massen. Auch wenn es den Liberalen gelungen<br />

wäre, die Macht zu ergreifen, sie hätten sie nicht zu halten vermocht. Die Ereignisse<br />

haben das nachträglich erschöpfend bewiesen. Der Gedanke von <strong>der</strong> angeblich im Juli<br />

versäumten Möglichkeit ist eine retrospektive Illusion. Jedenfalls hat <strong>der</strong> Julisieg die<br />

Macht nicht nur gefestigt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die Periode <strong>der</strong> schleichenden Regierungskrise<br />

eingeleitet, die formell erst am 24. Juli gelöst wurde, tatsächlich aber den<br />

Eintritt <strong>der</strong> vier Monate währenden Agonie des Februarregimes darstellte.<br />

Die Versöhnler zerrissen sich zwischen <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Halbfreundschaft mit<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie wie<strong>der</strong>herzustellen, und dem Bedürfnis, die Feindseligkeit <strong>der</strong> Massen<br />

zu mil<strong>der</strong>n. Lavieren wird für sie Daseinsform, die Zickzacks verwandeln sich in ein<br />

fieberhaftes Hin und Her, doch die Grundlinie nimmt schroff die Richtung nach rechts.<br />

Am 7. Juli ordnet die Regierung eine ganze Reihe von Repressivmaßregeln an. Aber in<br />

<strong>der</strong>selben Sitzung, gleichsam im Verstohlenen, die Abwesenheit <strong>der</strong> "Erwachsenen", das<br />

heißt <strong>der</strong> Kadetten, ausnutzend, schlugen die Minister-<strong>Sozialisten</strong> <strong>der</strong> Regierung vor, an<br />

die Verwirklichung des Programms des Sowjetkongresses vom Juni heranzugehen. Das<br />

führte unverzüglich zum weiteren Zerfall <strong>der</strong> Regierung. Der Großgrundbesitzer und<br />

ehemalige Vorsitzende des Semstwo-Verbandes, Fürst Lwow, beschuldigt die<br />

Regierung, ihre Agrarpolitik »untergräbt das Rechtsbewußtsein des Volkes«. Die Gutsbesitzer<br />

beunruhigte nicht <strong>der</strong> Umstand, daß sie ihre Erbgüter verlieren könnten, son<strong>der</strong>n<br />

daß die Versöhnler »bestrebt sind, die Konstituierende Versammlung vor die Tatsache<br />

<strong>der</strong> bereits gelösten Frage zu stellen«. Sämtliche Säulen <strong>der</strong> monarchistischen Reaktion<br />

wurden nun flammende Anhänger <strong>der</strong> reinen Demokratie! Die Regierung beschloß,<br />

Kerenski den Posten des Ministerpräsidenten zu übertragen bei Belassung seiner Kriegsund<br />

Marineportefeuilles. Zeretelli, <strong>der</strong> neue Innenminister, mußte dem Exekutivkomitee<br />

Rede stehen wegen <strong>der</strong> Verhaftungen <strong>der</strong> Bolschewiki. Die protestierende Anfrage ging<br />

von Martow aus, und Zeretelli antwortete ohne Zeremonie seinem älteren<br />

Parteigenossen, er ziehe vor, mit Lenin und nicht mit Martow zu tun zu haben: bei dem<br />

einen wisse er, wie zu verfahren, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ihm die Hände binde ... »Ich nehme<br />

die Verantwortung für diese Verhaftungen auf mich«, warf <strong>der</strong> Minister herausfor<strong>der</strong>nd<br />

in den gespannt lauemden Saal.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 394


Die Schläge nach links austeilend, decken sich die Versöhnler mit <strong>der</strong> Gefahr von<br />

rechts. »Rußland steht vor einer Militärdiktatur«, berichtet Dan in <strong>der</strong> Sitzung vom 9.<br />

Juli. »Wir müssen <strong>der</strong> Militärdiktatur das Bajonett aus den Händen winden. Und dies<br />

können wir nur, indem wir die Provisorische Regierung als ein Komitee zur öffentlichen<br />

Rettung anerkennen. Wir müssen ihr uneingeschränkte Vollmachten erteilen, damit sie<br />

die Anarchie von links und die Konterrevolution von rechts an <strong>der</strong> Wurzel untergrabe ...«<br />

Als hätte in den Händen <strong>der</strong> gegen Arbeiter, Soldaten und Bauern kämpfenden Regierung<br />

ein an<strong>der</strong>es Bajonett sein können als das Bajonett <strong>der</strong> Konterrevolution! Mit<br />

zweihun<strong>der</strong>tzweiundfünfzig Stimmen bei siebenundvierzig Stimmenthaltungen beschloß<br />

die vereinigte Versammlung: »1., Land und <strong>Revolution</strong> sind in Gefahr. 2., Die Provisorische<br />

Regierung wird als Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> proklamiert. 3., Sie erhält<br />

uneingeschränkte Vollmachten.« Der Beschluß klang dröhnend wie ein leeres Faß. Die in<br />

<strong>der</strong> Sitzung anwesenden Bolschewiki enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung, was unzweifelhaft<br />

von <strong>der</strong> Verwirrung bei den Parteispitzen in jenen Tagen zeugt.<br />

Massenbewegungen, auch geschlagene, gehen niemals spurlos vorüber. Den Platz des<br />

hochbetitelten Herrn nahm an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> radikale Advokat ein-, das<br />

Innenministerium repräsentierte ein ehemaliger Katorgasträfling. Die plebejische Erneuerung<br />

<strong>der</strong> Macht war offenkundig. Kerenski, Zeretelli, Tschernow, Skobeljew, die Führer<br />

des Exekutivkomitees, bestimmten nun die Physiognomie <strong>der</strong> Regierung. War das nicht<br />

die Verwirklichung des Lösungswortes <strong>der</strong> Junitage: »Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten«?<br />

Nein, das war nur die Enthüllung seiner Unzulänglichkeit. Die Minister-Demokraten<br />

übernahmen die Macht nur, um sie den Minister-Kapitalisten zurückzugeben.<br />

La coalition est morte, vive la coalition!<br />

Es entwickelt sich die feierlich-schändliche Komödie <strong>der</strong> Entwaffnung <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />

auf dem Schloßplatz. Eine Reihe Regimenter wird aufgelöst. Die Soldaten<br />

werden in kleinen Abteilungen zur Nachfüllung <strong>der</strong> Front abtransportiert.<br />

Vierzigjährige werden zum Gehorsam gezwungen und in Schützengräben getrieben. Das<br />

alles sind Agitatoren gegen das Regime <strong>der</strong> Kerenskiade. Ihrer sind Zehntausende, und<br />

sie werden bis zum Herbst große Arbeit leisten. Parallel werden Arbeiter entwaffnet,<br />

wenn auch mit kleinerem Erfolg. Unter dem Druck <strong>der</strong> Generale - wir werden bald<br />

sehen, welche Formen er annahm - wird an <strong>der</strong> Front die Todesstrafe eingeführt. Aber<br />

am gleichen Tage, dem 12. Juli, wird ein Dekret erlassen, das den Abschluß von Bodentransaktionen<br />

einschränkt. Diese verspätete Halbmaßnahme, angenommen unter <strong>der</strong> Axt<br />

des Muschiks, rief links Hohn, rechts Zähneknirschen hervor. Wehrend er alle Straßenumzüge<br />

verbot - eine Drohung nach links erhob Zeretelli die Hand gegen eigenmächtige<br />

Verhaftungen Versuch einer Zurechtweisung nach rechts. Die Absetzung des Oberbefehlshabers<br />

des Militärbezirks erläuterte Kerenski nach links: wegen <strong>der</strong> Zertrümmerung<br />

von Arbeiterorganisationen, nach rechts: wegen mangeln<strong>der</strong> Entschlossenheit.<br />

Die Kosaken wurden dic wahren Helden des bürgerlichen Petrograd. »Es kamen Fälle<br />

vor«, erzählt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Grekow, »daß, wenn jemand einen öffentlichen Ort,<br />

etwa ein Restaurant, wo viele Menschen waren, in Kosakenuniform betrat, sich alle<br />

erhoben und den Eiiitretendcn mit Hindeklatschen begrüßten.« Theater, Kinos, öffentliche<br />

Gärten veranstalteten Wohltätigkeitsabende zugunsten <strong>der</strong> verwundeten Kosaken<br />

und <strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Getöteten. Das Büro des Exekutivkomitees war gezwungen, eine<br />

Kommission zu wählen mit Tscheidse an <strong>der</strong> Spitze zur Teilnahme an den Vorbereitun-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 395


gen für die Beerdigung <strong>der</strong> »bei Erfüllung <strong>der</strong> revolutionären Pflicht in den Tagen vom<br />

3. bis 5. Juli gefallenen Krieger«. Den Kelch <strong>der</strong> Erniedrigung mußten die Versöhnler<br />

bis zur Neige leeren. Das Zeremoniell begann mit einer Liturgie in <strong>der</strong> Isaak-Kathedrale.<br />

Die Särge wurden von Rodsjanko, Miljukow, Fürst Lwow und Kerenski auf den Händen<br />

hinausgetragen und im Prozessionszug zur Beisetzung in das Alexandro-Newski-Kloster<br />

gebracht. Auf dem ganzen Weg des Zuges war die Miliz entfernt worden, den Ordnungsdienst<br />

hatten die Kosaken übernommen: <strong>der</strong> Begräbnistag war ein Tag ihrer absoluten<br />

Herrschaft über Petrograd. Die von den Kosaken ermordeten Arbeiter und Soldaten,<br />

Blutsbrü<strong>der</strong> <strong>der</strong> Februaropfer, wurden ganz im stillen beerdigt, wie man einst unter dem<br />

Zarismus die Opfer des 9. Januar begrub.<br />

An das Kronstädter Exekutivkomitee stellte die Regierung, unter Androhung, die Insel<br />

zu blockieren, die For<strong>der</strong>ung, Raskolnikow, Roschal und den Fähnrich Remnew unverzüglich<br />

den Untersuchungsbehörden auszuliefern. In Helsingfors wurden neben den<br />

Bolschewiki zum erstenmal auch linke Sozialrevolutionäre verhaftet. Der zurückgctretene<br />

Fürst Lwow beklagte sich in den Zeitungen darüber, daß »die Sowjets tief unter dem<br />

Niveau <strong>der</strong> Staatsmoral stehen und sich von den Leninisten, diesen Agenten <strong>der</strong><br />

Deutschen, nicht gesäubert haben«. Ehrensache für die Versöhnler wurde es, ihre Staatsmoral<br />

zu beweisen! Am 13. Juli nehmen die Exekutivkomitees in gemeinsamer Sitzung<br />

eine von Dan eingebrachte Resolution an: »Alle Personen, gegen die von <strong>der</strong> Gerichtsbehörde<br />

Anklage erhoben ist, werden bis zur gerichtlichen Entscheidung von <strong>der</strong><br />

Teilnahme an den Exekutivkomitees ausgeschlossen.« Die Bolschewiki wurden damit<br />

faktisch außerhalb des Gesetzes gestellt. Kerenski verbot die gesamte bolschewistische<br />

Presse. In <strong>der</strong> Provinz fanden Verhaftungen <strong>der</strong> Landeskomitees statt. Die 'Iswestja'<br />

jammerten ohnmächtig: »Noch vor wenigen Tagen waren wir Zeugen <strong>der</strong> Orgie <strong>der</strong><br />

Anarchie in den Straßen von Petrogaid. Heute fließen in denselben Straßen unaufhaltsam<br />

konterrevolutionäre und Schwarzhun<strong>der</strong>t-Reden.«<br />

Nach Auflösung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile und Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter<br />

verschob sich das Gleichgewicht noch mehr nach rechts. In den Händen <strong>der</strong> Militärspitzen,<br />

<strong>der</strong> Bank- und Industrie- wie <strong>der</strong> Kadettengruppen konzentrierte sich unverhüllt ein<br />

beträchtlicher Teil <strong>der</strong> realen Macht. Der übrige Teil blieb nach wie vor in den Händen<br />

<strong>der</strong> Sowjets. Die Doppelherrschaft war offensichtlich, aber nicht mehr die legalisierte<br />

Kontakt- o<strong>der</strong> Koaltionsdoppelherrschaft <strong>der</strong> vorangegangenen Monate, son<strong>der</strong>n die<br />

explosive Doppelherrschaft von Cliquen, <strong>der</strong> militärisch-bürgerlichen und <strong>der</strong> versöhnlerischen,<br />

die einan<strong>der</strong> fürchteten, aber gleichzeitig einan<strong>der</strong> brauchten. Was blieb übrig?<br />

Die Koalition wie<strong>der</strong>herzustellen. »Nach dem Aufstand vom 3. bis 5. Juli«, sagt Miljukow<br />

mit Recht, »verschwand die Koalitionsidee nicht nur nicht, son<strong>der</strong>n gewann, im<br />

Gegenteil, vorübergehend stärkere Kraft und Bedeutung als früher.«<br />

Das Provisorische Komitee <strong>der</strong> Reichsduma erlebte plötzlich seine Auferstehung und<br />

nahm eine scharfe Resolution gegen die Rettungsregierung an. Das war <strong>der</strong> letzte Stoß.<br />

Sämtliche Minister händigten ihre Portefeuilles Kerenski aus und verwandelten ihn damit<br />

allein schon in den Mittelpunkt <strong>der</strong> nationalen Souveränität. Für das weitere Schicksal<br />

des Februarregimes wie für das persönhche Schicksal Kerenskis erhielt dieses Moment<br />

große Bedeutung: im Chaos <strong>der</strong> Gruppierungen, Verabschiedungen und Ernennungen<br />

zeichnete sich nun so etwas wie ein unverrückbarer Punkt ab, um den sich alle an<strong>der</strong>en<br />

drehten. Die Verabschiedung <strong>der</strong> Minister war nur <strong>der</strong> Auftakt zu Unterhandlungen mit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 396


den Kadetten und Industriellen. Die Kadetten stellten ihre Bedingungen: Verantwortlichkeit<br />

<strong>der</strong> Regierungsmitglie<strong>der</strong> »ausschließlich vor ihrem Gewissen«; restlose Einigung<br />

mit den Alliierten; Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Disziplin in <strong>der</strong> Armee; keinerlei soziale Reformen<br />

vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung. Einen ungeschriebenen Punkt bildete die<br />

For<strong>der</strong>ung, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu vertagen. Das nannte man<br />

»überparteiliches und nationales Programm«. Im gleichen Geiste antworteten die<br />

Vertreter von Handel und Industrie, die gegen die Kadetten auszuspielen die Versöhnler<br />

sich vergeblich bemüht hatten. Das Exekutivkomitee bestätigte erneut seine Resolution,<br />

die die Rettungsregierung »mit allen Vollmachten« ausstattete: das bedeutete die Einwilligung<br />

in die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Regierung von den Sowjets. Am gleichen Tage<br />

versandte Zeretelli in seiner Eigenschaft als Minister des Innem ein Zirkular über die<br />

Ergreifung "schneller und entschiedener Maßnahmen zur Unterbindung aller eigenmächtigen<br />

Handlungen auf dem Gebiete des Bodenbesitzes". Der Ernährungsminister Peschechonow<br />

seinerseits for<strong>der</strong>te die Unterbindung »des gewaltsamen und verbrecherischen<br />

Vorgehens gegen die Bodenbesitzer«. Die Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> empfahl<br />

sich in erster Linie als Regierung zur Rettung des gutsherrlichen Eigentums. Doch nicht<br />

dessen allein. Der Industriegewaltige Ingenieur Paltschinski verfolgte in seiner dreifachen<br />

Eigenschaft, als Leiter des Ministeriums für Handel und Industrie, als Hauptbevollmächtigter<br />

für Heizstoff und Metall und als Leiter <strong>der</strong> Landesverteidigungskommission,<br />

energisch die Politik des Syndikatkapitals. Der menschewistische Nationalökonom<br />

Tscherewarin beklagte sich vor <strong>der</strong> Wirtschaftsabteilung des Sowjets, daß alle guten<br />

Vorsätze <strong>der</strong> Demokratie an <strong>der</strong> Sabotage Paltschinskis zerschellten. Ackerbauminister<br />

Tschernow, auf den die Kadetten die Beschuldigung <strong>der</strong> Verbindung mit den Deutschen<br />

ausdehnten, sah sich gezwungen, »zum Zwecke <strong>der</strong> Rehabilitierung« zu demissionieren.<br />

Am 18. Juli erläßt die Regierung, in <strong>der</strong> die <strong>Sozialisten</strong> überwiegen, ein Manifest über<br />

die Auflösung des ungehorsamen finnländischen Sejm mit dessen sozialdemokratischer<br />

Mehrheit. In <strong>der</strong> feierlichen Note an die Alliierten anläßlich des dreijährigen Jubiläums<br />

des Weltkrieges wie<strong>der</strong>holt die Regierung nicht nur den rituellen Treuschwur, son<strong>der</strong>n<br />

berichtet auch von <strong>der</strong> glücklichen Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> durch feindliche Agenten angezettelten<br />

Meuterei. Ein unerhörtes Dokument <strong>der</strong> Kriecherei! Gleichzeitig wird ein drakonisches<br />

Gesetz gegen Disziplinverletzung bei den Eisenbahnen erlassen. Nachdem die<br />

Regierung somit ihre Staatsreife vordemonstriert hatte, entschloß sich Kerenski endlich,<br />

das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei in dem Sinne zu beantworten, daß die von ihr gestellten<br />

For<strong>der</strong>ungen »kein Hin<strong>der</strong>nis für den Eintritt in die Provisorische Regierung bilden<br />

können«. Eine verschleierte Kapitulation genügte jedoch den Liberalen schon nicht mehr.<br />

Sie wollten die Versöhnler in die Knie zwingen. Das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />

erklärte, daß die nach Auflösung <strong>der</strong> Koalition am 8. Juli erlassene Regierungsdeklaration<br />

- ein Sammelsurium demokratischer Gemeinplätze - für die Kadetten unannehmbar<br />

sei, und - brach die Verhandlungen ab.<br />

Die Attacke hatte konzentrischen Charakter. Die Kadetten handelten nicht nur in enger<br />

Verbindung mit den Industriellen und alliierten Diplomaten, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong><br />

Generalität. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stand faktisch<br />

unter Leitung <strong>der</strong> Kadettenpartei. Durch den obersten Kommandobestand drückten die<br />

Kadetten auf die Versöhnler von <strong>der</strong> empfindlichsten Seite. Am 8. Juli erließ <strong>der</strong> Oberbefehlshaber<br />

<strong>der</strong> Südwestfront, General Kornilow, einen Befehl, gegen zurückweichende<br />

Soldaten mit Maschinengewehr- und Artilleriefeuer vorzugehen. Unterstützt vom Front-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 397


kommissar Sawinkow, dem ehemaligen Haupt <strong>der</strong> terroristischen Organisation <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionäre, hatte Kornilow vorher die Einführ-ung <strong>der</strong> Todesstrafe an <strong>der</strong> Frotit<br />

gefor<strong>der</strong>t und gedroht, an<strong>der</strong>nfalls das Kommando nie<strong>der</strong>zulegen. Das Geheimtelegramm<br />

wurde sofort in <strong>der</strong> Presse veröffentlicht: Kornilow hatte dafür gesorgt, daß es bekannt<br />

wurde. Der Höchstkommandierende Brjussilow, mehr zu Vorsicht und Lavieren neigend,<br />

schrieb schulmeisternd an Kerenski: »Die Lehren <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong>,<br />

von uns häufig vergessen, bringen sich dennoch gebieterisch in Erinnerung ...« Diese<br />

Lehren bestanden darin, daß die französischen <strong>Revolution</strong>äre, nachdem sie vergeblich<br />

versucht hatten, die Armee »auf den Prinzipien <strong>der</strong> Humanität« aufzubauen, den Weg<br />

<strong>der</strong> Todesstrafe beschnitten, »und ihre siegreichen Fahnen sind durch die halbe Welt<br />

gegangen«. An<strong>der</strong>es hatten die Generale aus dem Buche <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht herausgelesen.<br />

Am 12. Juli führte die Regierung die Todestrafe wie<strong>der</strong> ein »während <strong>der</strong> Kriegszeit<br />

für Militärdienstpflichtige für einige, schwerste Verbrechen«. Allein <strong>der</strong><br />

Befehlshaber <strong>der</strong> Nordfront, General Klembowski, schrieb nach drei Tagen: »Die Erfahrung<br />

hat gezeigt, daß jene Truppenteile sich als völlig kampfunfähig erwiesen, die häufig<br />

Ersatz erhielten. Die Armee kann nicht gesund sein, wenn die Quelle ihres Ersatzes<br />

verfault ist.« Diese verfaulte Ersatzquelle war das russische Volk.<br />

Am 16. Juli berief Kerenski im Hauptquartier eine Beratung <strong>der</strong> älteren Heerführer ein<br />

unter Beteiligung von Tereschtschenko und Sawinkow. Kornilow fehlte: <strong>der</strong> Rückzug an<br />

seiner Front war in vollem Gange und kam erst nach einigen Tagen zum Stillstand, als<br />

die Deutschen selbst an <strong>der</strong> alten Staatengrenze haltmachten. Die Namen <strong>der</strong> Teilnehmer<br />

an <strong>der</strong> Beratung: Brjussilow, Alexejew, Russki, Klembowski, Denikin, Roiiianowski<br />

klangen wie das Echo einer in den Abgrund versunkenen Epoche. Vier Monate lang<br />

hatten sich die hohen Generale als halbe Leichen gefühlt. Jetzt wurden sie lebendig und<br />

bedachten den Ministerpräsidenten, <strong>der</strong> für sie die Verkörperung <strong>der</strong> sie belästigenden<br />

<strong>Revolution</strong> war, ungestraft mit boshaften Nasenstübern.<br />

Nach Angaben des Hauptquartiers verlor die Armee <strong>der</strong> Südwestfront in <strong>der</strong> Zeit vom<br />

18. Juni bis zum 6. Juli etwa sechsundfünfzigtausend Mann. Unbeträchtliche Opfer im<br />

Kriegsmaßstabe! Aber die zwei Umwälzungen vom Februar und vom Oktober haben viel<br />

weniger gekostet. Was brachte die Offensive <strong>der</strong> Liberalen und Versöhnler außer Tod,<br />

Vernichtung und Elend? Die sozialen Erschütterungen vom Jahre 1917 haben das<br />

Gesicht eines Sechstels <strong>der</strong> Erde verän<strong>der</strong>t und vor <strong>der</strong> Menschheit neue Möglichkeiten<br />

eröffnet. Grausamkeiten und Schrecken <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die wir we<strong>der</strong> bestreiten noch<br />

herabmin<strong>der</strong>n wollen, fallen nicht vom Himmel: sie sind nicht zu trennen von <strong>der</strong> gesamten<br />

historischen Entwicklung.<br />

Brjussilow berichtete über die Resultate <strong>der</strong> vor einem Monat begonnenen Offensive:<br />

»Völliger Mißerfolg.« Die Ursache besteht darin, daß »die Vorgesetzten, vom Kompaniechef<br />

bis zum Oberbefehlshaber, über keine Macht verfügen«. Wie und weshalb sie sie<br />

verloren haben, sagte er nicht. Was die weiteren Operationen beträfe, so »können wir<br />

hierzu nicht vor dem Frühling bereit sein«. Gemeinsam mit den an<strong>der</strong>en auf Repressalien<br />

pochend, sprach Klembowski zugleich Zweifel an <strong>der</strong>en Wirksamkeit aus. »Todesstrafe?<br />

Aber kann man denn ganze Divisionen hinrichten? Gerichtliche Strafverfolgungen? Aber<br />

dann säße die halbe Armee in Sibirien ...« Der Generalstabschef berichtete: »Fünf<br />

Regimenter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sind aufgelöst. Die Anstifter dem Gericht übergeben<br />

... Insgesamt sollen aus Petrograd etwa neunzigtausend Mann herausgeschafft<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 398


werden.« Das nahm man befriedigt zur Kenntnis. Niemand dachte darüber nach, welche<br />

Folgen die Evakuation <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison nach sich ziehen würde.<br />

Die Komitees? fragte Alexejew. »Sie müssen vernichtet werden ... Die nach Jahrtausenden<br />

zählende Kriegsgeschichte hat ihre Gesetze geschaffen. Wir wollten sie verletzen<br />

und haben ein Fiasko erlitten.« Dieser Mensch verstand unter den Gesetzen <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> die Dienstordnung. »Den alten Fahnen«, prahlte Russki, »folgten die<br />

Menschen wie einem Heiligtum, starben dafür. Wozu aber haben es die roten Fahnen<br />

gebracht? Dazu, daß die Truppen sich jetzt korpsweise ergeben.« Der hinfällige General<br />

hatte vergessen, daß er selbst im August I915 dem Ministerrat meldete: »Die mo<strong>der</strong>nen<br />

Ansprüche <strong>der</strong> Kriegstechnik gehen über unsere Kraft; jedenfalls können wir mit den<br />

Deutschen nicht Schritt halten.« Klembowski unterstrich schadenfroh, daß eigentlich<br />

nicht die Bolschewiki die Armee zugrunde gerichtet hätten, son<strong>der</strong>n »an<strong>der</strong>e«, die eine<br />

untaugliche Kriegsgesetzgebung anwandten, »Menschen, die Lebensform und Daseinsbedingungen<br />

<strong>der</strong> Armee nicht begreifen«. Das war direkt auf Kerenski gemünzt. Denikin<br />

griff die Minister noch entschiedener an: »Ihr habt sie in den Schmutz getreten, unsere<br />

ruhmreichen Kriegsfahnen, hebt ihr sie nun auch empor, wenn euch das Gewissen<br />

schlägt ...« Und Kerenski? Mangelnden Gewissens verdächtigt, dankte er demütig den<br />

Soldaten für »die offen und freimütig ausgesprochene Meinung«. Die Deklaration <strong>der</strong><br />

Soldatenrechte? »Wenn ich damals, als sie entstand, Minister gewesen wäre, die Deklaration<br />

wäre nicht erlassen worden. Wer hat als erster die Sibirischen Schützen bezwungen?<br />

Wer als erster zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Unbotmäßigen Blut vergossen? Mein<br />

Beauftragter, mein Kommissar.« Außenminister Tereschtschenko tröstet verbindlich:<br />

»Sogar mißglückt, hat unsere Offensive das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten zu uns gestärkt.«<br />

Das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten! Dreht sich nicht zu diesem Zwecke die Erde um ihre<br />

Achse?<br />

»Gegenwärtig sind die Offiziere die einzige Stütze <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«,<br />

belehrt Klembowski. »Der Offizier ist kein Bourgeois«, erläuterte Brjussilow, »er ist <strong>der</strong><br />

echteste Proletarier.« General Russki ergänzt: »Auch die Generale sind Proletarier.«<br />

Die Komitees vernichten, die Macht <strong>der</strong> alten Vorgesetzten wie<strong>der</strong>herstellen, die Politik<br />

aus <strong>der</strong> Armee treiben - das heißt die <strong>Revolution</strong> -, das ist das Programm <strong>der</strong> Proletarier<br />

im Generalsrange. Kerenski hat gegen das Programm nichts einzuwenden, es beunruhigt<br />

ihn nur die Frage <strong>der</strong> Fristen. »Was die vorgeschlagenen Maßnahmen betrifft«, sagte er,<br />

»so glaube ich, daß auch General Denikin nicht auf ihre sofortige Durchführung bestehen<br />

wird ...« Die Generale waren durchweg graue Mittelmäßigkeiten. Aber sie konnten<br />

nicht umhin sich zu sagen: »Das ist die Sprache, die man mit diesen Herrschaften<br />

sprechen muß!«<br />

Als Folge <strong>der</strong> Beratung fand ein Wechsel im obersten Kommandobestande statt. Der<br />

nachgiebige und geschmeidige Brjussilow, eingesetzt an Stelle des vorsichtigen Kanzleibeamten<br />

Alexejew, <strong>der</strong> gegen die Offensive gewesen war, wurde jetzt durch Kornilow<br />

abgelöst. Diesen Wechsel motivierte man verschieden: den Kadetten versprach man,<br />

Kornilow werde eiseme Disziplin einführen; den Versöhnlern versicherte man, Kornilow<br />

sei ein Freund <strong>der</strong> Komitees und <strong>der</strong> Kommissare: Sawinkow selbst bürge für dessen<br />

republikanische Gefühle. In Beantwortung <strong>der</strong> hohen Ernennung schickte <strong>der</strong> General an<br />

die Regierung ein neues Ultimatum: Er, Kornilow, nehme seine Ernennung nur an unter<br />

den Bedingungen: »Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen und dem Volke; Nicht-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 399


einmischung in die Ernennung des höheren Kommandobestandes; Wie<strong>der</strong>einführuhg <strong>der</strong><br />

Todesstrafe im Hinterlande.« Der erste Punkt schuf Schwierigkeiten: »Verantwortlichkeit<br />

vor dem eigenen Gewissen und dem Volke«, damit hatte schon Kerenski begonnen,<br />

und diese Sache duldete keine Rivalität. Kornilows Telegramm wurde in <strong>der</strong> verbreitetsten<br />

liberalen Zeitung veröffentlicht. Die vorsichtigen Politiker <strong>der</strong> Reaktion runzelten<br />

die Stirn. Kornilows Ultimatum war das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei, nur in die unverhüllte<br />

Sprache des Kosakengenerals übersetzt. Aber Kornilows Berechnung war richtig:<br />

die Übermäßigkeit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen und die Vermessenheit des Tones im Ultimatum<br />

löste das Entzücken aller Feinde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> gesamten Ka<strong>der</strong>offiziere<br />

aus. Kerenski geriet in Erregung und wollte Kornilow unverzüglich entlassen, fand<br />

aber keine Unterstützung bei seiner Regierung. Letzten Endes willigte auf Anraten seiner<br />

Inspiratoren Kornilow ein, in einer mündlichen Erklärung festzustellen, daß er die<br />

Verantwortlichkeit vor dem Volke als Verantwortlichkeit vor <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

verstehe. Im übrigen wurde das Ultimatum mit kleinen Vorbehalten angenommen.<br />

Kornilow ward Höchstkommandieren<strong>der</strong>. Gleichzeitig wurde ihm <strong>der</strong> Kriegsingenieur<br />

Filonenko als Kommissar beigeordnet und <strong>der</strong> frühere Kommissar <strong>der</strong> Südwestfront,<br />

Sawinkow, zum Leiter des Kriegsministeriums ernannt. Der eine - eine zufällige Figur,<br />

Emporkömmling; <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e - mit einer großen revolutionären Vergangenheit; beide<br />

vollendete Abenteurer, zu allem bereit, wie Filonenko, o<strong>der</strong> mindestens zu vielem, wie<br />

Sawinkow. Ihr enges Bündnis mit Kornilow hat die schnelle Karriere des Generals geför<strong>der</strong>t<br />

und, wie wir sehen werden, in <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse eine Rolle<br />

gespielt.<br />

Die Versöhnler ergaben sich auf <strong>der</strong> ganzen Linie. Zeretelli wie<strong>der</strong>holte: »Die Koalition,<br />

das ist das Rettungsbündnis.« Hinter den Kulissen waren die Verhandlungen trotz<br />

formellem Bruche in vollem Gange. Zur Beschleunigung <strong>der</strong> Lösung nimmt Kerenski, in<br />

offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten, Zuflucht zu einer rein<br />

theatralischen, das heißt ganz dem Geiste seiner Politik entsprechenden und gleichzeitig<br />

für seine Ziele sehr wirksamen Maßnahme: er demissioniert und reist aus <strong>der</strong> Stadt weg,<br />

die Versöhnler ihrer eigenen Verzweiflung überlassend. Miljukow sagt darüber: »Durch<br />

sein demonstratives Abtreten ... bewies er sowohl seinen Gegnern wie seinen Rivalen wie<br />

auch seinen Anhängern, daß er, wie man zu seinen persönlichen Qualititen auch stehen<br />

mochte, einfach wegen <strong>der</strong> von ihm eingenommenen politischen Haltung - zwischen zwei<br />

kämpfenden Lagern im gegebenen Moment unentbehrlich war.« Die Partie war, nach<br />

dem System des Schlagdamespieles, gewonnen. Die Versöhnler stürzten zum »Genossen<br />

Kerenski« mit unterdrückten Flüchen und offenem Flehen. Beide Parteien, Kadetten und<br />

<strong>Sozialisten</strong>, zwangen mühelos dem enthaupteten Ministerium den Beschluß auf, sich<br />

selbst zu liquidieren und Kerenski zu beauftragen, nach seinein persönlichen Ermessen<br />

die Regierung neu zu bilden.<br />

Um die ohnehin erschrockenen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutivkomitees völlig einzuschüchtern,<br />

serviert man ihnen die letzten Berichte über die sich verschlechternde Lage an <strong>der</strong><br />

Front. Die Deutschen bedrängen die <strong>russischen</strong> Truppen, die 1iberalen bedrängen<br />

Kerenski, Kerenski bedrängt die Versöhnler. Die Fraktionen <strong>der</strong> Menschewiki und<br />

Sozialrevolutionäre beraten die ganze Nacht zum 24. Juli, von Hilflosigkeit gequält.<br />

Endlich billigen die Exekutivkomitees mit einer Mehrheit von hün<strong>der</strong>tsiebenundvierzig<br />

gegen sechsundvierzig Stimmen bei zweiundvierzig Stimmenthaltungen eine nie<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 400


dagewesene Opposition! - die Machtübergabe an Kerenski, ohne Bedingungen und ohne<br />

Einschränkungen. Auf dem gleichzeitig stattfindenden Parteitag <strong>der</strong> Kadetten ertönen<br />

Stimnien zum Sturze Kerenskis, doch Miljukow weist die Ungeduldigen zurecht und<br />

empfiehlt, sich vorläufig auf einen Druck zu beschränken. Das bedeutet nicht, daß Miljukow<br />

sich in bezug auf Kerenski Illusionen hingab. Doch sah er in ihm den Punkt zum<br />

Einsetzen <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Die Regierung, von den Sowjets befreit,<br />

würde dann ohne Schwierigkeiten von Kerenski zu befreien sein.<br />

Unterdessen dürsteten die Götter <strong>der</strong> Koalition weiter. Die Verfügung über Lenins<br />

Verhaftung war <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Übergangsregierung vom 7. Juli vorausgegangen. Jetzt<br />

hieß es, durch einen Akt <strong>der</strong> Festigkeit die Auferstehung <strong>der</strong> Koalition auszuzeichnen.<br />

Bereits am 13. Juli erschien in Gorkis Zeitung - eine bolschewistische Presse gab es nicht<br />

inehr - ein offener Brief Trotzkis an die Provisorische Regierung. Er lautete: »Sie besitzen<br />

keine logischen Gründe, mich von <strong>der</strong> Wirkung des Dekrets, kraft dessen die Genossen<br />

Lenin, Sinowjew und Kamenjew zu verhaften sind, auszunehmen. Was die politische<br />

Seite <strong>der</strong> Sache betrifft, so können Sie nicht darüber im Zweifel sein, daß ich ein ebenso<br />

unversöhnhcher Gegner <strong>der</strong> Gesamtpolitik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bin wie die<br />

genannten Genossen.« In <strong>der</strong> Nacht, als das neue Ministerium gebildet ward, wurden in<br />

Petrograd Trotzki und Lunatscharski und an <strong>der</strong> Front Fähnrich Krylenko, <strong>der</strong> spätere<br />

Höchstkommandierende <strong>der</strong> Bolschewiki, verhaftet.<br />

Die Regierung, die nach <strong>der</strong> dreiwöchigen Krise das Licht <strong>der</strong> Welt erblickte, sah wie<br />

ein verhutzeltes Kind aus. Sie bestand aus Figuren zweiten und dritten Aufgebots, ausgewählt<br />

nach dem Prinzip des kleinsten Übels. Stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> wurde<br />

Ingenieur Nekrassow, ein linker Kadett, <strong>der</strong> am 27. Februar vorgeschlagen hatte, zur<br />

Unterdrückung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Macht einem <strong>der</strong> zaristischen Generale auszuliefern.<br />

Der parteilose und farblose Schriftsteller Prokopowitsch, <strong>der</strong> sich am Raine zwischen<br />

Kadetten und Menschewiki aufhielt, wurde Minister für Handel und Industrie. Ein<br />

ehemaliger Staatsanwalt, später radikaler Advokat, Sarudniy, Sohn des "liberalen"<br />

Ministers Alexan<strong>der</strong>s II., wurde zur Leitung <strong>der</strong> Justiz berufen. Der Vorsitzende des<br />

Bauern-Exekutivkomitees, Awksentjew, erhielt das Portefeuille des Innenministers.<br />

Arbeitsminister blieb <strong>der</strong> Menschewik Skobeljew, Ernährungsminister <strong>der</strong> Volkssozialist<br />

Peschechonow. Von den Liberalen gerieten ebenso zweitrangige-Figuren in das Kabinett,<br />

die we<strong>der</strong> vorher noch nachher eine führende Rolle spielten. Auf den Posten des Ackerbauministers<br />

kehrte recht unerwartet Tschernow zurück: in den vier Tagen, die zwischen<br />

seinem Rücktritt und seiner neuen Ernennung verstrichen waren, hatte er bereits Zeit<br />

gehabt, sich zu rehabilitieren. In seiner "<strong>Geschichte</strong>" bemerkt Miljukow gelassen, daß <strong>der</strong><br />

Charakter von Tschernows Beziehungen zu den deutschen Behörden »unaufgeklärt<br />

blieb; es ist auch möglich«, fügt er hinzu, »daß sowohl die Angaben <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Konterspionage wie die Verdächtigungen Kerenskis, Tereschtschenkos und an<strong>der</strong>er in<br />

dieser Hinsicht zu weit gegangen waren.« Die Wie<strong>der</strong>einsetzung Tschernows in das Amt<br />

des Ackerbauministers war nichts an<strong>der</strong>es als ein Tribut an das Prestige <strong>der</strong> regierenden<br />

Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, wo Tschernow allerdings immer mehr an Einfluß verlor.<br />

Zeretelli dagegen blieb umsichtigerweise außerhalb des Ministeriums: im Mai hieß es, er<br />

würde innerhalb <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nützlich sein; jetzt schickte er sich an,<br />

innerhalb des Sowjets <strong>der</strong> Regierung nützlich zu sein. Von nun an erfüllt Zeretelli<br />

tatsächlich die Pflichten eines Kommissars <strong>der</strong> Bourgeoisie im Sowjetsystem. »Wären<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 401


die Interessen des Landes durch die Koalition verletzt«, sagte er in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets, »es wäre unsere Pflicht, die Genossen aus <strong>der</strong> Regierung abzurufen.«<br />

Nicht mehr davon war die Rede, die Liberalen auszuschöpfen und sie dann aus dem Weg<br />

zu räumen, wie Dan es noch vor kurzem versprochen hatte, son<strong>der</strong>n davon, nachdem<br />

man sich ausgeschöpft fühlen würde rechtzeitig selbst vom Steuer zurückzutreten.<br />

Zeretelli bereitete die restlose Machtübergabe an die Bourgeoisie vor.<br />

In <strong>der</strong> ersten, am 6. Mai gebildeten Koalition waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit;<br />

aber sie waren faktisch die wirklichen Herren <strong>der</strong> Lage; im Ministerium vom 24. Juli<br />

waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Mehrheit, aber sie waren nur ein Schatten <strong>der</strong> Liberalen ...<br />

»Bei einem kleinen nominellen Übergewicht <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong>«, gesteht Miljukow,<br />

»gehörte das tatsächliche Übergewicht Uli Kabinett zweifellos den überzeugten Anhängem<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie.« Es wäre richtiger zu sagen: des bürgerlichen Eigentums.<br />

Mit <strong>der</strong> Demokratie verhielt sich die Sache weniger klar. Im gleichen Geiste, wenn<br />

auch mit einer überraschenden Motivierung, verglich Minister Peschechonow die Koalition<br />

vom Juli mit <strong>der</strong> vom Mai: damals habe die Bourgeoisie eine Stütze von links<br />

gebraucht; jetzt, wo die Konterrevolution drohe, brauche man eine Stütze von rechts: »Je<br />

mehr Kräfte von rechts wir hinzuziehen, um so weniger werden von jenen übrigbleiben,<br />

die die Regierung angreifen könnten.« Eine unvergleichliche Regel politischer Strategie:<br />

um die Belagerung einer Festung zu brechen, ist es das beste - die Tore von innen zu<br />

öffnen. Dies eben war die Formel <strong>der</strong> neuen Koalition.<br />

Die Reaktion griff an, die Demokratie wich zurück. Die in <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>speriode<br />

eingeschüchterten Klassen und Gruppen erhoben das Haupt. Interessen, die man<br />

noch gestern verbarg, traten heute nach außen. Händler und Spekulanten for<strong>der</strong>ten die<br />

Ausrottung <strong>der</strong> Bolschewiki und - Handelsfreiheit; sie erhoben ihre Stimme gegen alle<br />

Einschränkungen des Umsatzes, sogar auch jene, die bereits unter dem Zarismus eingeführt<br />

worden waren. Ernährungsämter, die gegen Spekulation zu kämpfen versuchten,<br />

wurden als die Schuldigen an <strong>der</strong> Lebensmittelknappheit erklärt. Man übertrug den Haß<br />

von den Ernährungsämtern auf die Sowjets. Der menschewistische Nationalökonom<br />

Gromann berichtete, daß <strong>der</strong> Feldzug <strong>der</strong> Kaufleute »sich beson<strong>der</strong>s nach den Ereignissen<br />

des 3. bis 4. Juli verstärkte«. Die Sowjets wurden verantwortlich gemacht für<br />

Nie<strong>der</strong>lagen, Teuerung und nächtliche Plün<strong>der</strong>ungen.<br />

Beunruhigt durch die monarchistischen Ränke und in Befürchtung einer Abwehrexplosion<br />

von links schob die Regierung am 1. August Nikolaus Romanow nebst Familie nach<br />

Tobolsk ab. Am folgenden Tage wurde die neue Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki 'Rabotschij i<br />

Soldat' ('Arbeiter und Soldat') verboten. Von überall trafen Nachrichten ein über Massenverhaftungen<br />

von Truppenkomitees. Die Bolschewiki konnten Ende Juli ihren Parteitag<br />

nur halb illegal versammeln. Armeekongresse wurden verboten. Kongresse hielten nur<br />

jene ab, die früher still zu Hause saßen: Bodenbesitzer, Kaufleute und Industrielle,<br />

Spitzen <strong>der</strong> Kosakenschaft, Geistlichkeit, Georgsritter. Ihre Stimmen klangen einheitlich<br />

und unterschieden sich nur im Grade <strong>der</strong> Vermessenheit. Die unbestreitbare, wenn auch<br />

nicht immer sichtbare Leitung gehörte <strong>der</strong> Kadettenpartei.<br />

Auf dem Handels- und Industriekongreß, <strong>der</strong> Anfang August etwa dreihun<strong>der</strong>t Vertreter<br />

<strong>der</strong> wichtigsten Börsen- und Unternehmerorganisationen versammelte, hielt die<br />

Programmrede <strong>der</strong> Textilkönig Rjabuschinski, <strong>der</strong> sein Lämpchen nicht im verborgenen<br />

leuchten ließ. »Die Provisorische Regierung besaß nur den Schein <strong>der</strong> Macht ... Faktisch<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 402


hatte sich eine Bande von politischen Scharlatanen breitgemacht ... Die Regierung übt<br />

einen Steuerdruck aus und besteuert in erster Linie die Handels- und Industrieklasse hart<br />

... Ist es zweckmäßig, dem Verschwen<strong>der</strong> zu geben? Ist es nicht besser, zur Rettung des<br />

Vaterlandes die Verschwen<strong>der</strong> unter Vormundschaft zu stellen? ...« Und endlich die<br />

Schlußdrohung: »Der knochige Arm des Hungers und <strong>der</strong> Volksverelendung wird die<br />

Freunde <strong>der</strong> Nation bei <strong>der</strong> Gurgel packen!« Der Satz vom knochigen Arm des Hungers,<br />

womit die Aussperrungspolitik verallgemeinert wurde, ist seit jener Zeit fest in das politische<br />

Vokabularium <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eingegangen. Er kam den Kapitalisten teuer zu<br />

stehen.<br />

In Petrograd wurde <strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Gouvernements-Kommissare eröffnet. Agenten<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die planmäßig vor ihr wie eine Mauer hätten stehen<br />

sollen, schlossen sich in Wirklichkeit gegen sie zusammen und nahmen, unter Führung<br />

ihres kadettischen Kerns, den unglückseligen Innenininister Awksentjew aufs Korn. »Es<br />

ist unmöglich, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: die Regierung muß regieren, nicht aber<br />

eine Marionette sein.« Die Versöhnler verteidigten sich und protestierten halblaut, in<br />

Angst, ihren Streit mit den Verbündeten könnten die Bolschewiki belauschen. Der<br />

Minister-Sozialist verließ den Kongreß wie verbrüht.<br />

Die sozialrevolutionäre und die menschewistische Presse begann allmählich eine<br />

Sprache des Wehklagens und Gekränktseins zu führen. Auf ihren Seiten begannen<br />

überraschende Enthüllungen zu erscheinen. Am 6. August veröffentlichte das sozialrevolutionäre<br />

Blatt 'Djelo Naroda' ('Volkssache') den Brief einer Gruppe linker Junker, den<br />

diese, unterwegs zur Front, abgeschickt hatten: die Autoren »waren über die Rolle<br />

erstaunt, in <strong>der</strong> die Junker sich betätigten ... systematisches Ohrfeigen, Beteiligung <strong>der</strong><br />

Junker an Strafexpeditionen begleitet von Erschießungen ohne Gericht und Untersuchung,<br />

nur auf Befehl eines Bataillonskommandeurs ... Die erbitterten Soldaten schießen<br />

hinterrücks auf einzelne Junker ...« So sah die Arbeit zur Gesundung <strong>der</strong> Armee aus.<br />

Die Reaktion griff an, die Regierung wich zurück. Am 7. August wurden die populärsten<br />

Schwarzhun<strong>der</strong>tführer, die Rasputinschen Kreisen angehörten und an jüdischen<br />

Pogromen beteiligt gewesen waren, aus dem Gefängnis entlassen. Die Bolschewiki<br />

blieben im Krestygefängnis, wo ein Hungerstreik <strong>der</strong> verhafteten Arbeiter, Soldaten und<br />

Matrosen drohte. Die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets schickte an jenem Tage<br />

eine Begrüßung an Trotzki, Lunatscharski, Kollontay und die übrigen Häftlinge.<br />

Industrielle, Gouvernements-Kommissare, <strong>der</strong> Kosakenkongreß in Nowotscherkassk,<br />

die patriotische Presse, Generale, Liberale, alle waren <strong>der</strong> Ansicht, die Wahlen zur<br />

Konstituierenden Versammlung im September vorzunehmen sei völhg unmöglich; am<br />

besten wäre es, sie bis zum Kriegsende zu vertagen. Darauf konnte die Regierung jedoch<br />

nicht eingehen. Aber ein Kompromiß kam zustande: die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung wurde auf den 28. November vertagt. Nicht ohne Murren nahmen die<br />

Kadetten diese Frist an: sie rechneten fest damit, daß in den verbleibenden drei Monaten<br />

entscheidende Ereignisse geschehen niüßten, die die Frage <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung selbst, auf eine an<strong>der</strong>e Ebene hinüberleiten würden. Diese Hoffnungen<br />

wurden immer offener mit Kornilows Namen verknüpft.<br />

Die Reklame für die Figur des neuen "Ober" stand von nun an im Zentrum <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Politik. Die Biographie »des ersten Volks-Oberbefehlshabers« wurde unter aktiver<br />

Mitwirkung des Hauptquartiers in unzähligen Exemplaren verbreitet. Wenn Sawinkow in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 403


seiner Eigenschaft als Leiter des Kriegsministeriums Journalisten gegenüber sagte: »Wir<br />

glauben«, dann bedeutete das »Wir« nicht Sawinkow und Kerenski, son<strong>der</strong>n Sawinkow<br />

und Kornilow. Der Lärm um Kornilow zwang Kerenski, die Ohren zu spitzen. Es gingen<br />

immer hartnäckigere Gerüchte über eineVerschwörung, in <strong>der</strong>en Zentrum das Komitee<br />

des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stände. Die persönliche Zusammenkunft von<br />

Regierungsoberhaupt und Armeeoberhaupt Anfang August schürte nur <strong>der</strong>en Antipathie.<br />

»Dieser leichtfertige Schwätzer will über mich kommandieren«, mußte Kornilow sich<br />

sagen. - »Dieser beschränkte und unwissende Kosak will Rußland retten?« mochte wohl<br />

Kerenski denken. Beide hatten auf ihre Weise recht. Kornilows Programm, das Militarisierung<br />

<strong>der</strong> Betriebe und Eisenbahnen, Ausdehnung <strong>der</strong> Todesstrafe auf das Hinterland<br />

und Unterordnung des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks mit Einschluß <strong>der</strong> Residenzgarnison<br />

unter das Hauptquartier umfaßte, wurde inzwischen in Versöhnlerkreisen bekannt. Hinter<br />

dem offiziellen Programm erriet man mühelos das an<strong>der</strong>e, nicht ausgesprochene, aber<br />

desto realere. Die linke Presse schlug Alarm. Das Exekutivkomitee stellte eine neue<br />

Kandidatur für den Posten des Oberbefehlshabers in Person des Generals Tscheremissow<br />

auf. Von <strong>der</strong> bevorstehenden Entlassung<br />

Kornilows begann man offen zu sprechen. Die Reaktion wurde unruhig.<br />

Am 6. August beschloß <strong>der</strong> Sowjet des Verbandes <strong>der</strong> zwölf Kosakenarmeen, <strong>der</strong><br />

Doner, Kubaner, Tersker und an<strong>der</strong>er, nicht ohne Mitwirkung Sawinkows, »laut und<br />

entschieden« zur Kenntnis <strong>der</strong> Regierung und des Volkes zu bringen, er lehne die<br />

Verantwortung ab für das Verhalten <strong>der</strong> Kosakentruppen an <strong>der</strong> Front Generals<br />

Kornilow. Die Konferenz des Verbandes <strong>der</strong> Georgsritter drohte <strong>der</strong> Regierung noch<br />

entschiedener: sollte Kornilow abgesetzt werden, so werde <strong>der</strong> Verband sofort »einen<br />

Kampfruf an alle Georgsritter zum gemeinsamen Auftreten mit dem Kosakentum« erlassen.<br />

Kein einziger <strong>der</strong> Generale protestierte gegen diese Verletzung <strong>der</strong> Subordination,<br />

und die Ordnungspresse druckte mit Begeisterung die Beschlüsse ab, die eine Androhung<br />

des Bürgerkrieges bedeuteten. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes <strong>der</strong> Armee und<br />

Flotte versandte ein Telegramm, in dem es alle seine Hoffnungen »auf den geliebten<br />

Führer, General Kornilow«, setzte, und »alle ehrlichen Menschen« aufrief, diesem ihr<br />

Vertrauen auszusprechen. Die zur selben Zeit in Moskau tagende Konferenz »öffentlicher<br />

Persönlichkeiten« des rechten Lagers sandte an Kornilow ein Telegramm, in dem<br />

sie einstimmte in den Chor <strong>der</strong> Offiziere, Georgsritter und des Kosakentums: »Das<br />

gesamte denkende Rußland blickt auf Sie mit Hoffnung und Vertrauen.« Klarer konnte<br />

man's nicht sagen. An <strong>der</strong> Konferenz beteiligten sich Industrielle und Bankiers, wie<br />

Rjabuschinski und Tretjakow, die Generale Alexejew und Brjussilow, Vertreter <strong>der</strong><br />

Geistlichkeit und <strong>der</strong> Professur und die Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei mit Miljukow an <strong>der</strong><br />

Spitze. Als Hülle figurierten Vertreter des halbfiktiven "Bauernbundes", <strong>der</strong> den Kadetten<br />

eine Stütze bei den Spitzen <strong>der</strong> Bauernschaft sein sollte. Aus dem Vorsitzendenstuhl<br />

ragte die Monumentalfigur Rodsjankos hervor, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Delegation eines Kosakenregimentes<br />

für die Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Bolschewiki dankte. Die Kandidatur Kornilows für die<br />

Rolle des Landesretters war somit von den autoritärsten Vertretern <strong>der</strong> besitzenden und<br />

gebildeten Klassen Rußlands offiziell aufgestellt.<br />

Nach dieser Vorbereitung erscheint <strong>der</strong> Oberbefehlshaber zum zweitenmal beim<br />

Kriegsminister, um über das von ihm eingereichte Programm zur Rettung des Landes zu<br />

verhandeln. »Nach Ankunft in Petrograd«, erzählt über diesen Besuch Kornilows dessen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 404


Stabschef, General Lukomski, »begab er sich in Begleitung <strong>der</strong> Tekiner mit zwei Maschinengewehren<br />

in das Winterpalais. Diese Maschinengewehre wurden vom Automobil<br />

heruntergeholt, sobald General Kornilow das Winterpalais betreten hatte, und die<br />

Tekiner hielten vor dem Portal des Palais Wache, um dem Oberbefehlshaber nötigenfalls<br />

zu Hilfe zu kommen.« Man rechnete damit, diese Hilfe könnte dem Oberbcfehlshaber<br />

gegen den Ministerpräsidenten notwendig werden. Die Maschinengewehre <strong>der</strong> Tekiner<br />

waren die Maschinengewehre <strong>der</strong> Bourgeoisie, gerichtet auf die zwischen den Beinen<br />

herumirrenden Versöhnler. So sah die - von den Sowjets unabhängige - Regierung <strong>der</strong><br />

Rettung aus!<br />

Sogleich nach dem Kornilowschen Besuch erklärte Kokoschkin, ein Mitglied <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung, dem Ministerpräsidenten Kerenski, die Kadetten würden<br />

demissionieren, »falls nicht noch heute Kornilows Programm akzeptiert wird«. Wenn<br />

auch ohne Maschinengewehre, so sprachen dic Kadetten mit <strong>der</strong> Regierung doch die<br />

ultimative Sprache Kornilows. Und dies half. Die Provisorische Regierung beeilte sich,<br />

den Bericht des Oberbefehlshabers zu prüfen, und kam zu dem Ergebnis, die Durchführung<br />

<strong>der</strong> vorgeschlagenen Maßnahmen sei im Prinzip möglich, »einschließlich <strong>der</strong><br />

Todesstrafe für das Hinterland«.<br />

Der Mobilisierung <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> Reaktion schloß sich naturgemäß die Allrussische<br />

Kirchenversaninilung an, die, ihrem offiziellen Zweck nach, die volle Befreiung <strong>der</strong><br />

rechtgläubigen Kirche aus bürokratischen Fesseln durchzuführen hatte, sie in Wirklichkeit<br />

jedoch vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> schützen sollte. Mit <strong>der</strong> Beseitigung <strong>der</strong> Monarchie hatte<br />

die Kirche ihr offizielles Haupt verloren. Ihr Verhältnis zum Staate, ihrem Beschützer<br />

und Gönner von altersher, war in <strong>der</strong> Luft hängen geblieben. Allerdings hatte <strong>der</strong> Heilige<br />

Synod in einer Botschaft vom 9. März sich beeilt, die vollzogene Uniwälzung zu segnen,<br />

und das Volk auigerufen, »sich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung anzuvertrauen«. Aber dic<br />

Zukunft war doch von Gefahren bedroht. Die Regierung hatte sich wie über alle an<strong>der</strong>en<br />

Fragen auch über die <strong>der</strong> Kirche ausgeschwiegen. Die Geistlichkeit war völlig fassungslos.<br />

Mitunter traf aus irgendeinem Randgebiet, so von <strong>der</strong> Geistlichkeit <strong>der</strong> Stadt Werny<br />

an <strong>der</strong> chinesischen Grenze, ein Telegramm ein, das dem Fürsten Lwow versicherte,<br />

seine Politik stehe durchaus im Einklang mit den Geboten des Evangeliums. Sich <strong>der</strong><br />

Umwälzung anpassend, hatte die Kirche nicht gewagt, in die Ereignisse einzugreifen.<br />

Am schroffsten hatte sich das an <strong>der</strong> Front gezeigt, wo <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Geistlichkeit<br />

gleichzeitig mit <strong>der</strong> Angstdisziplin zusammenstürzte. Denikin gesteht: »Wenn das<br />

Offizierskorps immerhin längere Zeit um seine Kommandomacht und militärische Autorität<br />

kämpfte, so verstummte in den ersten <strong>Revolution</strong>stagen die Stimme <strong>der</strong> Seelenhirten,<br />

und jegliche Anteilnahme ihrerseits am Leben <strong>der</strong> Truppen hörte auf.« Kongresse <strong>der</strong><br />

Geistlichkeit im Hauptquartier und in den Armeestäben verliefen völlig unbeachtet.<br />

Die Kirchenversammlung, vor allem Kastenangelegenheit <strong>der</strong> Geistlichkeit, beson<strong>der</strong>s<br />

ihrer oberen Schichten, blieb jedoch nicht auf den Rahmen <strong>der</strong> Kirchenbürokratie<br />

beschränkt: an sie klammerte sich mit aller Kraft die liberale Gesellschaft. Die Kadettenpartei,<br />

die im Volk keine politischen Wurzeln fand, träumte davon, die reformierte<br />

Kirche würde <strong>der</strong> Partei als Transmission zu den Massen dienen. Bei <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Kirchenversammlung spielten eine aktive Rolle neben den Kirchenfürsten und diesen<br />

voran weltliche Politiker verschiedener Schattierungen, wie Fürst Trubetzkoi, Graf<br />

Olssufjew, Rodsjanko, Samarin, liberale Professoren und Schriftsteller. Die Kadettenpar-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 405


tei war vergeblich bemüht, eine Atmosphäre kirchlicher Reformation um die Versammlung<br />

zu schaffen, wobei sie gleichzeitig fürchtete, durch eine unvorsichtige Bewegung<br />

das angefaulte Gebäude ins Wanken zu bringen. Ober Trennung von Kirche und Staat<br />

war keine Rede, we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Geistlichkeit noch bei den weltlichen Reformatoren. Die<br />

Kirchenfürsten neigten natürlich dazu, die Kontrolle des Staates über ihre inneren<br />

Angelegenheiten abzuschwächen, sie wollten jedoch, daß <strong>der</strong> Staat in alter Weise nicht<br />

nur ihre privilegierte Lage, ihre Län<strong>der</strong>eien und Einkäufe schütze, son<strong>der</strong>n auch fernerhin<br />

den Löwenanteil ihrer Ausgaben decke. Ihrerseits war die liberale Bourgeoisie bereit,<br />

<strong>der</strong> Orthodoxie die Stellung <strong>der</strong> herrschenden Kirche zu sichern, jedoch unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />

daß sie es lerne, auf neue Art in den Massen die Interessen <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klassen zu wahren.<br />

Hier aber setzten die Hauptschwierigkeiten erst ein. Derselbe Denikin bemerkt<br />

zerknirscht, daß die russische <strong>Revolution</strong> »keine irgendwie bemerkenswerte volksreligiöse<br />

Bewegung geschaffen hat«. Richtiger wäre zu sagen, daß in dem Maße <strong>der</strong> Einbeziehung<br />

neuer Volksschichten in die <strong>Revolution</strong> diese Schichten fast automatisch <strong>der</strong><br />

Kirche den Rücken kehrten, auch wenn sie früher mit ihr verbunden waren. Auf dem<br />

Lande konnten noch einzelne Geistliche persönlichen Einfluß ausüben, je nach ihrem<br />

Verhalten zur Bodenfrage. In <strong>der</strong> Stadt kam es nicht nur in Arbeiter-, son<strong>der</strong>n auch in<br />

Kleinbürgerkreisen keinem in den Sinn, sich um Lösung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erhobenen<br />

Fragen an die Geisthchkeit zu wenden. Die Vorbereitung <strong>der</strong> Kirchenversaninilung<br />

stieß auf völlige Teilnahmslosigkeit des Volkes. Die Interessen und Leidenschaften <strong>der</strong><br />

Massen fanden ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Sprache sozialistischer Parolen, nicht aber in<br />

theologischen Texten. Das verspätete Rußland machte seine <strong>Geschichte</strong> nach einem<br />

gekürzten Lehrkursus durch: es war gezwungen, nicht nur über die Epoche <strong>der</strong> Reformation,<br />

son<strong>der</strong>n auch über die des bürgerlichen Parlamentarismus hinwegzuschreiten.<br />

Die in den Monaten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sflut in Aussicht genommene Kirchenversammlung<br />

fiel zusammen mit den Wochen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sebbe. Dies hat ihre reaktionäre Färbung<br />

nur noch verdichtet. Die Zusammensetzung, <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> von ihr berührten Fragen,<br />

sogar ihr Eröffnungszeremoniell - alles zeugte von den grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen<br />

im Verhältnis <strong>der</strong> verschiedenen Klassen zur Kirche. Bei dem Gottesdienst im Uspensski<br />

Sobor (Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale) waren neben Rodsjanko und den Kadetten auch<br />

Kerenski und Awksentjew anwesend. Der Moskauer Oberbürgermeister, Sozialrevolutionär<br />

Rudnjew, sagte in <strong>der</strong> Begrüßung: »Solange das russische Volk leben wird, wird in<br />

seinem Herzen <strong>der</strong> christliche Glaube brennen.« Noch gestern hatten diese Menschen<br />

sich für direkte Nachkommen des <strong>russischen</strong> Aufklärers Tschernyschewski gehalten.<br />

Die Kirchenversammlung versandte gedruckte Appelle in alle Ecken und Enden, rief<br />

nach einer starken Regierung, entlarvte die Bolschewiki und beschwor im Einklang mit<br />

dem Arbeitsminister Skobeljew: »Arbeiter, schaffet, ohne eure Kräfte zu schonen, und<br />

stellt eure For<strong>der</strong>ungen dem Wohle des Vaterlandes hintan.« Doch ganz beson<strong>der</strong>e<br />

Aufmerksamkeit widmete die Versammlung <strong>der</strong> Bodenfrage. Metropoliten und Bischöfe<br />

waren nicht weniger als die Gutsbesitzer über die Wucht <strong>der</strong> Bauernbewegung erschrokken<br />

und erbittert, und Angst um die Kirchen- und Klösterlän<strong>der</strong>eien ergriff von ihren<br />

Seelen viel stärker Besitz als die Frage nach <strong>der</strong> Demokratisierung <strong>der</strong> Pfarrgemeinden.<br />

Unter Androhung göttlichen Zorns und des Kirchenbanns for<strong>der</strong>t die Botschaft,<br />

»Kirchen, Klöster, Klerus und Privatbesitzern die ihnen geraubten Län<strong>der</strong>, Wäl<strong>der</strong> und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 406


Ernten unverzüglich zurückzugeben«. Hier wäre es angebracht, an die Stimme des Predigers<br />

in <strong>der</strong> Wüste zu erinnern! Die Kirchenversammlung zog sich von Woche zu Woche<br />

hin und erreichte den Höhepunkt ihrer Arbeit, die Wie<strong>der</strong>herstellung des von Peter dem<br />

Großen zwei jahrhun<strong>der</strong>te zuvor aufgehobenen Patriarchats, erst nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />

Ende Juli faßte die Regierung den Beschluß, zum 13. August nach Moskau eine Staatsberatung<br />

von Vertretern sämtlicher Klassen und öffentlichen Institutionen des Landes<br />

einzuberufen. Im völligen Wi<strong>der</strong>spruch zu den Resultaten aller im Lande stattgefundenen<br />

demokratischen Wahlen traf die Regierung Maßnahmen, um für die Beratung von<br />

vornherein die gleiche Zahl Vertreter <strong>der</strong> besitzenden Klassen wie des Volkes zu sichern.<br />

Nur auf <strong>der</strong> Grundlage eines solchen künstlichen Gleichgewichts hoffte die Regierung<br />

zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sich selbst noch zu retten. Mit irgendwelchen festgelegten<br />

Rechten wurde dieses Konzil nicht ausgestattet. »Die Beratung ... erhielt«, nach Milljukows<br />

Worten, »allenfalls nur beratende Stimme«: die besitzenden Klassen wollten <strong>der</strong><br />

Demokratie ein Beispiel von Selbstverleugnung geben, um sich später desto sicherer die<br />

ganze Macht anzueignen. Offiziell wurde als Ziel <strong>der</strong> Beratung verkündet: »Die<br />

Einigung <strong>der</strong> Staatsmacht mit allen organisierten Kräften des Landes.« Die Presse<br />

sprach von <strong>der</strong> Notwendigkeit, zusammenzuschließen, zu versöhnen, aufzumuntern, zu<br />

ermutigen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die einen waren nicht willens, die an<strong>der</strong>en niclit fähig,<br />

klar auszusprechen, zu welchem Zwecke eigentlich die Beratung zusammentrete. Die<br />

Dinge bei Namen zu nennen, wurde auch hier Aufgabe <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Kerenski und Kornilow<br />

(Elemente des Bonapartismus in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>)<br />

Es ist nicht wenig darüber geschrieben worden, daß alles weitere Unheil, einschließlich<br />

<strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> Bolschewiki, zu vermeiden gewesen wäre, wenn an Stelle Kerenskis an<br />

<strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung ein Mann von klarem Sinn und festem Charakter gestanden<br />

haben würde. Unbestreitbar fehlte Kerenski das eine wie das an<strong>der</strong>e. Weshalb aber sahen<br />

sich bestimmte Gesellschaftsklassen gezwungen, gerade Kerenski auf ihren Schultern<br />

emporzuhehen?<br />

Gleichsam um unser historisches Gedächtnis aufzufrischen, zeigen uns die spanischen<br />

Ereignisse aufs neue, wie eine <strong>Revolution</strong>, die gewohnten politischen Scheidungsgrenzen<br />

verwischend, bei ihrem Beginn alles in rosige Nebel taucht. Sogar die Feinde sind in<br />

diesem Stadium bestrebt, ihre Farbe anzunehmen: in dieser Mimikry liegt ein halb<br />

instinktives Bestreben <strong>der</strong> konservativen Klassen, sich dem drohenden Umschwung<br />

anzupassen, um aus ihm mit geringstem Verlust herauszukommen. Die Solidarität <strong>der</strong><br />

Nation, auf hohlen Phrasen begründet, verwandelt das Versöhnlertum in eine notwendige<br />

politische Funktion. Kleinbürgerliche Idealisten, die über die Klassen hinwegblicken, in<br />

fertigen Schablonen denken, nicht wissen, was sie wollen, und allen das Allerbeste<br />

wünschen, sind in diesem Stadium die einzig denkbaren Führer <strong>der</strong> Mehrheit. Hätte<br />

Kerenski klaren Sinn und festen Willen gehabt, er hätte sich für seine historische Rolle<br />

ganz untauglich erwiesen. Das ist keine retrospektive Einschätzung. So dachten die<br />

Bolschewiki auch in <strong>der</strong> Hitze <strong>der</strong> Ereignisse. »Anwalt in politischen Prozessen, Sozialrevolutionär,<br />

<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Trudowiki stand, Radikaler ohne jegliche sozialistische<br />

Schule - war Kerenski die vollkommenste Wi<strong>der</strong>spiegelung <strong>der</strong> ersten Epoche <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 407


<strong>Revolution</strong>, ihrer "nationalen" Formlosigkeit, des zündenden Idealismus ihrer Hoffnungen<br />

und Erwartungen«, so schrieb nach den Julitagen, im Gefängnis Kerenskis, <strong>der</strong><br />

Autor dieser Zeilen, »Kerenski sprach von Land und Freiheit, von Ordnung, Völkerfrieden,<br />

Vaterlandsverteidigung, von Liebknechts Heroismus, davon, daß die russische<br />

<strong>Revolution</strong> durch ihre Großmut die Welt in Erstaunen setzen müsse, und fächelte dabei<br />

mit einem roten Seidentücheichen. Der aus dem Schlaf erwachte Spießbürger lauschte<br />

verzückt diesen Reden: es war ihm, als spräche er selbst von <strong>der</strong> Tribüne herab. Die<br />

Armee empfing Kerenski als den Befreier von Gutschkow. Die Bauern hatten von ihm als<br />

von einem Trudowiken, einem Muschik-Deputierten gehört. Die Liberalen bestach die<br />

äußerste Mäßigung <strong>der</strong> Ideen unter formlosem Phrasenradikalismus ...«<br />

Doch die Periode allgemeiner Umarmungen währt nicht lange. Der Kampf <strong>der</strong> Klassen<br />

erstirbt zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nur um später als Bürgerkrieg aufzuleben. Im märchenhaften<br />

Aufstieg des Versöhnlertums ist von vornherein sein unvermeidlicher Zusammenbruch<br />

enthalten. Das rasche Hinschwinden von Kerenskis Popularität erklärt <strong>der</strong> offiziöse<br />

französische Journalist Claude Anet damit, daß Taktmangel den sozialistischen Politiker<br />

zu Handlungen trieb, die mit seiner Rolle »wenig harmonierten«. »Er sitzt in kaiserlichen<br />

Logen. Lebt in Winterpalais o<strong>der</strong> im Zarskoselsker-Palais. Schläft im Bett <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Imperatoren. Ein wenig zu viel und dazu noch zu sichtbare Prunksucht; das chokiert das<br />

Land, das einfachste Land <strong>der</strong> Welt.« Takt setzt im Kleinen wie im Großen Verständnis<br />

voraus für die Situation den Platz, den sie anweist. Davon war bei Kerenski nicht die<br />

Spur. Von den Massen vertrauensselig emporgehoben, blieb er ihnen völlig frenid,<br />

verstand sie nicht und war durchaus uninteressiert daran, wie sie die <strong>Revolution</strong> aufnehmen<br />

und welche Schlußfolgerungen sie aus ihr ziehen. Die Massen erwarteten von<br />

Kerenski kühne Taten, er aber for<strong>der</strong>te von ihnen, seine Großmut und Schönre<strong>der</strong>ei nicht<br />

zu stören. Während er <strong>der</strong> verhafteten Zarenfamihe einen theatralischen Besuch abstattete,<br />

sagten die am Palais wachtbabenden Soldaten dem Kommandanten: »Wir müssen auf<br />

Pritschen schlafen, unser Auskommen ist schlecht; aber bei Nikolaschka, wenngleich er<br />

verhaftet ist, wird Fleisch in den Müllkübel geschüttet.« Das waren nicht »großmütige«<br />

Worte, aber sie drückten aus, was die Soldaten fühlten.<br />

Das Volk, das sich aus jahrhun<strong>der</strong>tealten Fesseln befreit hatte, übertrat auf Schritt und<br />

Tritt die Grenze, die ihm die gebildeten Führer steckten. Kerenski wehklagte deshalb<br />

Ende April: »Ist denn <strong>der</strong> freie russische Staat ein Staat meutern<strong>der</strong> Sklaven? ... Ich<br />

bedaure, nicht vor zwei Monaten gestorben zu sein: ich wäre mit einem großen Traum<br />

gestorben«, und so weiter. Durch solche üble Rhetorik hoffte er Arbeiter, Soldaten,<br />

Matrosen und Bauern zu beeinflussen. Admiral Koltschak erzählte später vor dem<br />

Sowjettribunal, wie <strong>der</strong> radikale Kriegsminister im Mai die Schwarzmeerflotte bereiste,<br />

um die Matrosen mit den Offizieren zu versöhnen. Nach jedem Auftreten wähnte <strong>der</strong><br />

Redner, das Ziel sei erreicht: »Nun sehen Sie, Admiral, es ist alles in Ordnung gebracht<br />

...« Doch nichts war in Ordnung gebracht: <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> Flotte begann erst.<br />

Je länger, um so schärfer erregte Kerenski durch seine Ziersucht, Hoffart, Eigendünkel<br />

den Unmut <strong>der</strong> Massen. Während seiner Frontreisen schrie er im Waggon gereizt seinen<br />

Adjutanten zu, wohl in Berechnung, daß die Generale es hören würden: »Jagt doch die<br />

verfluchten Komitees davon!« Als er die Baltische Flotte besuchte, befahl Kerenski dem<br />

Zentralkomitee <strong>der</strong> Seeleute, zu ihm auf das Admiralschiff zu kommen. Der<br />

»Zentrobalt«, <strong>der</strong> als Sowjetorgan dem Minister nicht unterstand, empfand den Befehl<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 408


als eine Beleidigung. Der Komiteevorsitzende, Matrose Dybenko, gab die Antwort:<br />

»Wenn Kerenski mit dem Zentrobalt zu sprechen wünscht, dann mag er zu uns kommen.«<br />

War dies nicht eine unerträgliche Frechheit! Auf den Schiffen, wo Kerenski mit den<br />

Matrosen in politische Gespräche kam, verhielt es sich nicht besser, beson<strong>der</strong>s auf dem<br />

bolschewistisch gestimmten Schiff "Republik", wo man den Minister Punkt für Punkt<br />

verhörte: weshalb habe er in <strong>der</strong> Reichsduma für den Krieg gestimmt?, weshalb die<br />

imperialistische Note Miljukows vom 21. April unterzeichnet?, weshalb den zaristischen<br />

Senatoren 6.000 Rubel Jahrespension bewilligt? Kerenski lehnte es ab, auf diese<br />

heimtückischen, von »Übelwollenden« gestellten Fragen zu antworten. Die Schiffsbesatzung<br />

betrachtete die Erklärungen des Ministers als »unbefriedigend« ... Unter Grabesstille<br />

<strong>der</strong> Matrosen verließ Kerenski das Schiff. »Meuternde Sklaven!« sagte<br />

zähneknirschend <strong>der</strong> radikale Advokat. Die Matrosen aber fühlten voller Stolz: »Ja, wir<br />

waren Sklaven, und wir haben uns erhoben!«<br />

Durch die Ungeniertheit, mit <strong>der</strong> er die demokratische öffentliche Meinung behandelte,<br />

rief Kerenski dauernd halbe Konflikte mit den Sowjetführern hervor, die zwar den<br />

gleichen Weg gingen wie er, aber doch mehr auf die Massen abgestimmt. Bereits am 8.<br />

März erklärte das über die Proteste von unten erschrockene Exekutivkomitee Kerenski,<br />

die Freilassung verhafteter Polizisten sei unzulässig. Einige Tage später sahen sich die<br />

Versöhnler gezwungen, zu protestieren gegen die Absicht des Justizministers, die Zarenfamilie<br />

nach England hinauszulassen. Nach weiteren zwei, drei Wochen erhob das<br />

Exekutivkomitee allgemein die Frage nach »Regulierung <strong>der</strong> Beziehungen« zu Kerenski.<br />

Aber diese Beziehungen wurden nicht reguliert und konnten nicht reguliert werden.<br />

Ebenso unglückselig gestaltete sich die Sache mit <strong>der</strong> Parteilinie. Auf dem Kongreß <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionäre Anfang Juli fiel Kerenski bei <strong>der</strong> Wahl zum Zentralkomitee durch; er<br />

erhielt 135 von 270 Stimmen. Wie wanden sich die Führer nach links und nach rechts,<br />

um klarzumachen, daß »für den Genossen Kerenski viele nicht gestimmt haben, weil er<br />

schon zu sehr überlastet ist«. In Wirklichkeit vergötterten zwar die Stabs- und Departements-Sozialrevolutionäre<br />

Kerenski als die Quelle allen Segens, aber bei den alten, mit<br />

den Massen verbundenen Sozialrevolutionären genoß er we<strong>der</strong> Achtung noch Vertrauen.<br />

Ohne Kerenski konnte indes we<strong>der</strong> das Exekutivkomitee noch die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

auskommen: er war unentbehrlich als Bindeglied <strong>der</strong> Koalition.<br />

Im Sowjetblock gehörte die führende Rolle den Mcnschewiki: sie erfanden die<br />

Beschlüsse, das heißt die Mittel, Taten auszuweichen. Doch im Staatsapparat waren die<br />

Narodnlki den Menschewiki offensichtlich überlegen, was in <strong>der</strong> dominierenden Stellung<br />

Kerenskis zum Ausdruck kam. Halb Kadett, halb Sozialrevolutionär, war Kerenski in <strong>der</strong><br />

Regierung nicht Vertreter <strong>der</strong> Sowjets wie Zeretelli o<strong>der</strong> Tschernow, son<strong>der</strong>n das lebendige<br />

Bindeglied zwischen Bourgeoisie und Demokratie. Zeretelli-Tschernow verkörperten<br />

eine Seite <strong>der</strong> Koalition. Kerenski war die personelle Verkörperung <strong>der</strong> Koalition<br />

selbst. Zeretelli klagte wegen des Überwiegens »persönlicher Momente« bei Kerenski,<br />

ohne zu begreifen, daß sie nicht zu trennen waren von seiner politischen Funktion.<br />

Zeretelli erließ als Innenminister ein Rundschreiben, wonach <strong>der</strong> Gouvernements-Kommissar<br />

sich auf alle lokalen »lebendigen Kräfte«, das heißt auf Bourgeoisie und die<br />

Sowjets zu stützen und die Politik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung durchzuffihren hätte,<br />

ohne »Parteieinflüssen« nachzugehen. Dieser ideale, sich über feindliche Klassen und<br />

Parteien erhebende Kommissar, <strong>der</strong> nur aus sich selbst und aus dem Rundschreiben seine<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 409


Berufung schöpfen sollte - das eben ist <strong>der</strong> Kerenski im Gouvernements- o<strong>der</strong> Kreismaßstabe.<br />

Zur Krönung des Systems war ein unabhängiger Allrussischer Kommissar im<br />

Winterpalais nötig. Ohne Kerenski wäre das Versöhnlertum dasselbe gewesen wie eine<br />

Kirchenkuppel ohne Kreuz.<br />

Die <strong>Geschichte</strong> von Kerenskis Aufstieg ist sehr belehrend. Justizminister wurde er<br />

dank dem Februaraufstande, den er gefürchtet hatte. Die Aprildemonstration <strong>der</strong><br />

»meuternden Sklaven« machte ihn zum Kriegs- und Marineminister. Die Julikämpfe,<br />

hervorgerufen von »deutschen Agenten«, stellten ihn an die Spitze <strong>der</strong> Regierung.<br />

Anfang September wird die Massenbewegung das Regierungshaupt auch noch zum<br />

Höchstkommandierenden machen. Die Dialektik des Versöhnlerregimes, und zugleich<br />

dessen böse Ironie, bestand darin, daß die Massen durch ihren Druck Kerenski auf den<br />

höchsten Punkt emporheben mußten, bevor sie ihn stürzten.<br />

Während er verächtlich das Volk abwehrte, das ihm die Macht gegeben hatte, haschte<br />

Kerenski um so gieriger nach Zeichen <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> gebildeten Gesellschaft.<br />

Bereits in den ersten <strong>Revolution</strong>stagen erzählte <strong>der</strong> Arzt Kisclikin, Führer <strong>der</strong> Moskauer<br />

Kadetten, bei seiner Rückkehr aus Petrograd: »Ohne Kerenski würde das, was wir haben,<br />

nicht existieren. Mit goldenen Lettern wird sein Name aufden Tafeln <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

eingetragen werden.« Liberale Lobpreisungen zählten flir Kerenski zu den wichtigsten<br />

politischen Kriterien. Aber er konnte und wollte nicht seine Popularität <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

einfach zu Füßen legen. Im Gegenteil, er gewann immer mehr Geschmack daran, alle<br />

Klassen zu seinen eigenen Füßen zu sehen. »Der Gedanke, die Vertretung <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

und <strong>der</strong> Demokratie gegenüberzustellen und ins Gleichgewicht zu bringen«, bekundet<br />

Miljukow, »war Kerenski vom Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an nicht fremd.« Dieser Kurs<br />

ergab sich naturgemäß aus Kerenskis gesamtem Lebensweg, <strong>der</strong> zwischen liberaler<br />

Advokatur und illegalen Zirkeln verlaufen war. Während er Buchanan ehrerbietigst<br />

versicherte, daß »<strong>der</strong> Sowjet eines natürlichen Todes sterben« werde, schreckte Kerenski<br />

seine bürgerlichen Kollegen auf Schritt und Tritt mit dem Zorn des Sowjets. Und in den<br />

nicht seltenen Fällen, wo die Führer des Exekutivkomitees mit Kerenski uneinig waren,<br />

ängstigte er sie mit <strong>der</strong> furchtbarsten aller Katastrophen: dem Rücktritt <strong>der</strong> Liberalen.<br />

Wenn Kerenski immer erneut wie<strong>der</strong>holte, er wolle nicht <strong>der</strong> Marat <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

<strong>Revolution</strong> sein, so bedeutete dies, er lehne es ab, strenge Maßnahmen gegen die Reaktion,<br />

keinesfalls aber gegen die "Anarchie" anzuwenden. Dies ist übrigens gewöhnlich die<br />

Moral <strong>der</strong> Gegner <strong>der</strong> Gewalt in <strong>der</strong> Politik: sie lehnen sie ab, insofern es sich um die<br />

Än<strong>der</strong>ung des Bestehenden handelt; doch scheuen sie zur Verteidigung <strong>der</strong> Ordnung vor<br />

erbarmungslosem Strafgericht nicht zurück.<br />

In <strong>der</strong> Vorbereitungsperiode <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front wurde Kerenski eine beson<strong>der</strong>s<br />

beliebte Figur <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Tereschtschenko erzählte nach rechts und nach<br />

links, wie hoch unsere Alliierten die »Mühen Kerenskis« einschätzten; die gegen die<br />

Versöhnler sehr strenge "Rjetsch" unterstrich beständig ihr Wohlwollen für den Kriegsminister;<br />

Rodsjanko selbst gestand, daß »dieser junge Mann ... tagtaglich mit verdoppelter<br />

Kraft aufersteht zum Wohle <strong>der</strong> Heimat und zu schöpferischer Arbeit«. Mit solchen<br />

Äußerungen wollten die Liberalen Kerenski zu Tode liebkosen. Konnte es ihnen doch<br />

nicht verborgen bleiben, daß er für sie arbeitete. »Bedenkt doch«, sagte Lenin, »was<br />

wäre, wenn Gutschkow anfangen wollte, Befehle zur Offensive zu erteilen, Regimenter<br />

aufzulösen, Soldaten zu verhaften, Kongresse zu verbieten, Soldaten mit "du" anzuschrei-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 410


en, sie "Feiglinge" zu nennen, und so weiter. Kerenski aber darf sich diesen "Luxus"<br />

noch erlauben, solange er das allerdings schwindelerregend schnell dahinsinkende<br />

Vertrauen, das ihm das Volk kreditierte, nicht vertan hat ... «<br />

Die Offensive, die Kerenskis Reputation in den Reihen <strong>der</strong> Bourgeoisie hob, untergrub<br />

endgültig seine Popularität im Volke. Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Offensive war im wesentlichen<br />

<strong>der</strong> Zusammenbruch Kerenskis in beiden Lagern. Aber eine erstaunliche Sache:<br />

»unentbehrlich« machte ihn von nun an gerade dies Kompromittiertsein auf beiden<br />

Seiten. Über Kerenskis Rolle bei Schaffung <strong>der</strong> zweiten Koalition äußert sich Miljukow<br />

folgen<strong>der</strong>maßen: »Der einzige Mensch, <strong>der</strong> möglich war«, aber lei<strong>der</strong> »nicht <strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

notwendig war ...« Die führenden liberalen Politiker haben übrigens Kerenski niemals<br />

allzu erust genommen. Und die breiten Kreise <strong>der</strong> Bourgeoisie schoben ihm immer mehr<br />

die Verantwortung für alle Schicksalsschläge zu. »Die Ungeduld <strong>der</strong> patriotisch<br />

gestimmten Gruppen« zwang, nach Miljukows Zeugnis, einen starken Mann zu suchen.<br />

Eine Zeitlang war Admiral Koltschak für diese Rolle ausersehen. Die Besetzung des<br />

Steuers mit einem starken Manne »dachte man sich an<strong>der</strong>s als auf dem Wege <strong>der</strong><br />

Verhandlungen und Vereinbarungen«. Das ist nicht schwer zu glauben. »Die Hoffnungen<br />

auf Demokratie, auf Volkswillen, auf die Konstituierende Versammlung«, schreibt<br />

Stankewitsch über die Kadettenpartei, »waren bereits aufgegeben: hatten doch die<br />

Munizipalwahlen in ganz Rußland eine erdrückende Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> ergeben ...<br />

So begann das krampfhafte Suchen nach einer Macht, die imstande gewesen wäre, nicht<br />

zu überzeugen, son<strong>der</strong>n zu befehlen.« Genauer ausgedrückt: nach einer Macht, die die<br />

<strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Gurgel packen konnte.<br />

Es ist nicht leicht, in Kornilows Biographie und den Eigenschaften seiner Persönlichkeit<br />

Züge zu finden, die seine Kandidatur für den Posten des Retters rechtfertigten.<br />

General Martynow, <strong>der</strong> in Friedenszeit Kornilows Dienstvorgesetzter gewesen war und<br />

während des Krieges mit diesem in einem österreichischen Schloß die Gefangenschaft<br />

geteilt hatte, charakterisiert Kornilow mit folgenden Worten: »Sich durch beharrlichen<br />

Fleiß und großes Selbstvertrauen auszeichnend, war er seinen geistigen Fähigkeiten<br />

nach ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch, bar jedes breiteren Horizontes.«<br />

Martynow zeichnet in Kornilows Aktivum zwei Charakterzüge ein: persönlichen Mut<br />

und Uneigennützigkeit. In jenem Milieu, wo man vor allem um persönliche Sicherheit<br />

besorgt war und hemmungslos stahl, stachen solche Eigenschaften in die Augen. Von<br />

strategischen Fähigkeiten, vor allem <strong>der</strong> Fähigkeit, eine Situation in ihrer Gesamtheit, in<br />

ihren materiellen und moralischen Elementen einzuschätzen, besaß Kornilow nicht die<br />

Spur. »Es fehlte ihm außerdem organisatorische Begabung«, sagte Martynow, »und<br />

seines Jähzornes und <strong>der</strong> Unausgeglichenheit seines Charakters wegen war er für<br />

planmäßige Handlungen überhaupt wenig geeignet.« Brjussilow, <strong>der</strong> während des<br />

Weltkrieges die gesamte Kampftätigkeit seines Untergebenen beobachtet hatte, äußerte<br />

sich über ihn mit völliger Geringschätzung: »<strong>der</strong> Chef einer verwegenen Partisanenabteilung<br />

nichts weiter ...« Die offizielle Legende, die um die Kornilowsche Division<br />

geschaffen wurde, war diktiert von dem Bedürfnis <strong>der</strong> patriotischen öffentlichen<br />

Meinung, heile Flecke auf dem düsteren Hintergrunde zu finden. »Die 48. Division«,<br />

schreibt Martynow, »ist nur infolge <strong>der</strong> skandalösen Führung ... Kornilows umgekommen,<br />

<strong>der</strong> es nicht vermocht hatte, den Rückzug zu organisieren, und <strong>der</strong> vor allem seine<br />

Beschlüsse unablässig wechselte und Zeit verlor ...« Im letzten Augenblick überließ<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 411


Kornilow die von ihm in eine Falle hineingeführte Division ihrem Schicksal, um zu<br />

versuchen, selbst <strong>der</strong> Gefangenschaft zu entrinnen. Nachdem er jedoch vier Tage und<br />

Nächte herumgeirrt war, ergab sich <strong>der</strong> wenig erfolgreiche General den Österreichern<br />

und floh erst später aus <strong>der</strong> Gefangenschaft. »Nach Rußland zurückgekehrt, schmückte<br />

Kornilow in Gesprächen mit verschiedenen Zeitungskorrespondenten die <strong>Geschichte</strong><br />

seiner Flucht mit bunten Farben <strong>der</strong> Phantasie.« Bei den prosaischen Korrekturen zu<br />

verweilen, die gut informierte Zeugen in die Legende hineinbringen, haben wir keine<br />

Veranlassung. Offensichtlich gewinnt Kornilow in dieser Zeit Geschmack an Zeitungsreklame.<br />

Vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war Kornilow Monarchist von Schwarzhun<strong>der</strong>t-Schattierung. In<br />

<strong>der</strong> Gefangenschaft äußerte er beim Zeitungslesen wie<strong>der</strong>holt, »alle diese Gutschkows<br />

und Miljukows würde ich mit Vergnügen aufhängen«. Doch politische Ideen beschäftigten<br />

ihn, wie im allgemeinen Menschen dieses Schlages, nur, sofern sie ihn selbst unmittelbar<br />

berührten. Nach <strong>der</strong> Februarumwälzung proklamierte sich Kornilow sehr flink als<br />

Republikaner. »Er kannte sich«, nach Äußerung desselben Martynow, »herzlich schlecht<br />

aus in den sich kreuzenden Interessen <strong>der</strong> verschiedenen Schichten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Gesellschaft, kannte we<strong>der</strong> Parteigruppierungen noch einzelne Politiker.« Menschewiki,<br />

Sozialrevolutionäre und Bolschewiki verschwammen für ihn in eine einzige feindliche<br />

Masse, die die Kommandeure am Kommandieren, die Gutsbesitzer am Genuß <strong>der</strong> Güter,<br />

die Fabrikanten an <strong>der</strong> Produktion, die Kaufleute am Handeln hin<strong>der</strong>te.<br />

Das Komitee <strong>der</strong> Reichsduma verfiel bereits am 2. März auf General Kornilow und<br />

drängte, in einem von Rodsjanko unterzeichneten Telegramm, heim Hauptquartier auf<br />

die Ernennung »des ruhmreichen und ganz Rußland bekannten Helden« zum Hauptkommandierenden<br />

des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks. Auf dem Telegramm Rodsjankos<br />

vermerkte <strong>der</strong> Zar, <strong>der</strong> bereits aufgehört hatte Zar zu sein: »Ausführen«. So erhielt die<br />

revolutionäre Residenz ihren ersten roten General. Im Protokoll des Exekutivkomitees<br />

vom 10. März steht über Kornilow folgen<strong>der</strong> Satz: »Ein General vom alten Schlag, <strong>der</strong><br />

mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Schluß machen will.« In den ersten Tagen gab <strong>der</strong> General sich<br />

übrigens Mühe, im besten Lichte zu erscheinen, und führte nicht ohne Lärm das Ritual<br />

<strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Zarin durch: das wurde ihm als Plus angerechnet. Aus den Erinnerungen<br />

des von ihm zum Kommandanten von Zarskoje Selo ernannten Oberst Kobylinski<br />

ergibt sich jedoch, daß Kornilow auf zwei Fronten gesetzt hatte. »Nachdem er <strong>der</strong> Zarin<br />

vorgestellt worden war«, erzählt zurückhaltend Kobylinski, »sagte mir Kornilow:<br />

"Oberst, lassen Sie uns allein. Gehen Sie, und stellen Sie sich hinter die Tür." Ich ging<br />

hinaus. Nach etwa fünf Minuten rief mich Kornilow. Ich trat wie<strong>der</strong> ein. Die Kaiserin<br />

reichte mir die Hand.« Es ist klar: Kornilow hatte den Oberst als Freund empfohlen. Im<br />

weiteren Verlauf werden wir von den Umarmungsszenen zwischen dem Zaren und<br />

seinem "Gefängniswärter" Kobylinski erfahren. Als Administrator bewies Kornilow auf<br />

seinem neuen Posten völlige Untauglichkeit. »Seine nächsten Mitarbeiter in Petrograd«,<br />

schreibt Stankewitsch, »klagten ständig über seine Unfähigkeit zur Arbeit wie zur<br />

Leitung <strong>der</strong> Geschäfte.« Kornilow hielt sich jedoch in <strong>der</strong> Hauptstadt nicht auf. In den<br />

Apriltagen versuchte er, nicht ohne Miljukows Inspiration, an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den ersten<br />

A<strong>der</strong>laß vorzunehmen, stieß aber auf den Wi<strong>der</strong>stand des Exekutivkomitees, demissionierte,<br />

bekam das Kommando über eine Armee, später über die Südwestfront. Ohne die<br />

legale Einfiihrung <strong>der</strong> Todesstrafe abzuwarten, erteilte Kornilow den Befehl, Deserteure<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 412


zu erschießen und die Leichen mit entsprechenden Aufschriften an den Wegen aufzustellen,<br />

drohte den Bauern mit strengen Strafen wegen Verletzung <strong>der</strong> gutsherrlichen Besitzrechte,<br />

stellte Stoßbataillone auf und drohte bei je<strong>der</strong> passenden Gelegenheit Petrograd<br />

mit <strong>der</strong> Faust. Das umgab seinen Namen in den Augen <strong>der</strong> Offiziere und besitzenden<br />

Klassen sogleich mit einer Aureole. Aber auch viele Kommissare Kerenskis sagten sich:<br />

keine an<strong>der</strong>e Hoffnung außer Kornilow ist mehr geblieben. Einige Wochen später wurde<br />

<strong>der</strong> kriegerische General mit <strong>der</strong> kläglichen Erfahrung seines Divisionskommandos<br />

Oberbefehlshaber <strong>der</strong> in Auflösung befindlichen Vielmillionenarmee, die von <strong>der</strong><br />

Entente gezwungen werden sollte, sich bis zum vollen Siege zu schlagen.<br />

Kornilow schwindelte <strong>der</strong> Kopf. Politisches Analphabetentum und Enge des Horizonts<br />

machten ihn zur leichten Beute von Abenteurern. Eigensinnig seine persönlichen<br />

Vorrechte verteidigend, verfiel <strong>der</strong> »Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Gehirn<br />

eines Hammels«, sie General Alexejew und nach ihm Werchowski Kornilow charakterisierten,<br />

sehr leicht fremden Einflüssen, wenn sie nur <strong>der</strong> Stimme seines Ehrgeizes<br />

entsprachen. Der Kornilow freundlich gesinnte Miljukow vermerkt an ihm »kindliche<br />

Vertrauensseligkeit gegen Menschen, die ihm zu schmeicheln verstanden.« Vertrautester<br />

Inspirator des Höchstkommandierenden, im bescheidenen Range einer Ordonnanz, war<br />

irgendein Sawojko - eine dunkle Persönlichkeit aus einer ehemaligen<br />

Gutsbesitzerfamilie, Petroleumspekulant und Abenteurer -, <strong>der</strong> Kornilow beson<strong>der</strong>s<br />

durch seine Fe<strong>der</strong> imponierte: Sawojko besaß tatsächlich den flotten Stil eines vor nichts<br />

zurückschreckenden Hochstaplers. Die Ordonnanz war Reklameregisseur, Autor <strong>der</strong><br />

Kornilowschen "Volks"biographie, Verfasser von Denkschriften, Ultimata und überhaupt<br />

all jenen Dokumenten, die, nach dem Ausdruck des Generals, »starken, künstlerischen<br />

Stil« erfor<strong>der</strong>ten. Zu Sawojko gesellte sich ein zweiter Abenteurer, Aladjin, ehemaliger<br />

Deputierter <strong>der</strong> ersten Duma, <strong>der</strong> einige Jahre in <strong>der</strong> Emigration verbracht hatte, die<br />

englische Pfeife nicht aus dem Munde ließ und sich deshalb für einen Fachmann in internationalen<br />

Fragen hielt. Diese zwei standen zur Rechten Kornilows und verbanden ihn<br />

mit den Zentren <strong>der</strong> Konterrevolution. Seine linke Flanke deckten Sawinkow und<br />

Filonenko: während sie mit allen Mitteln die übertrieben hohe Seibsteinschätzung des<br />

Generals stützten, waren sie darum besorgt, daß er sich nicht vorzeitig bei <strong>der</strong> Demokratie<br />

unmöglich mache. »Zu ihm kamen Ehrliche und Ehrlose, Aufrichtige und Intriganten,<br />

politische Führer, Krieger und Abenteurer«, schreibt pathetisch General Denikin, »und<br />

alle riefen mit einer Stimme: Rette!.« Wie das Verhältnis von Ehrlichen und Ehrlosen<br />

war, ist nicht leicht festzustellen. Jedenfalls wähnte sich Kornilow ernstlich berufen, zu<br />

"retten", und wurde so direkter Konkurrent Kerenskis.<br />

Die Rivalen haßten einan<strong>der</strong> aufrichtig. »Kerenski hatte sich«, nach den Worten<br />

Martynows, »im Verkehr mit den älteren Generalen einen hochmütigen Ton angeeignet.<br />

Der bescheidene und arbeitsame Alexejew und <strong>der</strong> diplomatische Brjussilow duldeten die<br />

Geringschätzung, doch war diese Taktik unangebracht in bezug auf den selbstgefalligen<br />

und leicht verletzbaren Kornilow, <strong>der</strong> ... seinerseits von oben herab auf den Advokaten<br />

Kerenski blickte.« Der Schwächere von beiden war zu Konzessionen bereit und bot ernstliche<br />

Avancen. Mindestens sagte Ende Juli Kornilow zu Denikin, aus Regierungskreisen<br />

sei ihm vorgeschlagen worden, dem Kabinett beizutreten. »Aber nein! Diese Herren sind<br />

zu sehr mit den Sowjets verbunden ... Ich sagte ihnen: geben Sie mir die Macht, und ich<br />

werde einen entscheidenden Kampf führen.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 413


Unter Kerenskis Füßen schwankte <strong>der</strong> Boden wie Torfmoor. Einen Ausweg suchte er,<br />

wie immer, auf dem Gebiet <strong>der</strong> Wort-improvisationen: sammeln, verkünden, erklären.<br />

Der persönliche Erfolg am 21. Juli, <strong>der</strong> ihn in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Unersetzlichen über<br />

die kämpfrnden Lager <strong>der</strong> Demokratie und Bourgeoisie erhoben hatte, gab Kerenski die<br />

Idee <strong>der</strong> Staatsberatung in Moskau ein. Was im geschlossenen Saal des Winterpalais vor<br />

sich ging, sollte auf die offene Bühne übertragen werden. Möge das Land mit eigenen<br />

Augen sehen, daß alles auseinan<strong>der</strong>fällt, wenn Kerenski nicht Zügel und Peitsche in die<br />

Hand nimmt!<br />

Zur Teilnahme an <strong>der</strong> Staatsberatung wurden - nach <strong>der</strong> offiziellen Liste - hinzugezogen<br />

»Vertreter politischer, öffentlicher, demokratischer, nationaler Organisationen,<br />

Handels-, Industrie-und Kooperativverbände, Leiter <strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Demokratie, höhere<br />

Vertreter <strong>der</strong> Armee, wissenschaftliche Institutionen und Universitäten sowie die Mitglie<strong>der</strong><br />

aller vier Reichsdumas.« Man hatte mit etwa 1.500 Teilnehmern gerechnet, etwa<br />

2.500 versammelten sich, wobei die Erweiterung ausschließlich zugunsten des rechten<br />

Flügels erfolgt war. Die Moskauer Zeitung <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre schrieb vorwurfsvoll<br />

an die Adresse ihrer Regierung: »150 Vertretern <strong>der</strong> Arbeit stehen 120 Vertreter <strong>der</strong><br />

Handels- und Industrieklasse gegenüber. Auf 100 Bauerndeputierte werden 100 Vertreter<br />

<strong>der</strong> Bodenhesitzer eingeladen. Auf 100 Sowjetvertreter kommen 300 Reichsdumamitglie<strong>der</strong><br />

...« Die Zeitung <strong>der</strong> Partei Kerenskis äußerte Zweifel, daß eine solche Beratung<br />

<strong>der</strong> Regierung »jene Stütze, die sie sucht«, bieten könne.<br />

Die Versöhnler fuhren zur Beratung schweren Herzens: Man muß, trösteten sie einan<strong>der</strong>,<br />

den ehrlichen Versuch einer Verständigung machen. Aber was mit den Bolschewiki<br />

tun? Man mußte um jeden Preis ihre Einmischung in den Dialog <strong>der</strong> Demokratie mit den<br />

besitzenden Klassen verhin<strong>der</strong>n. Durch eine beson<strong>der</strong>e Verfügung des Exekutivkornitees<br />

wurden die Parteifraktionen des Rechts beraubt, ohne Zustimmung des Präsidiums aufzutreten.<br />

Die Bolschewiki hatten beschlossen, namens ihrer Partei eine Deklaration abzugeben<br />

und die Beratung zu verlassen. Das Präsidium, das jede ihrer Bewegungen scharf<br />

überwachte, verlangte von ihnen Verzicht auf dieses verbrecherische Vorhaben. Daraufhin<br />

gaben die Bolschewiki ohne Zau<strong>der</strong>n die Eintrittskarten zurück. Sie bereiteten eine<br />

an<strong>der</strong>e, eindrucksvollere Antwort vor: das Wort hatte das proletarische Moskau.<br />

Fast von den ersten <strong>Revolution</strong>stagen an stellten die Ordnungsanhänger bei je<strong>der</strong><br />

passenden Gelegenheit das ruhige "Land" dem unruhigen Petrograd gegenüber. Die<br />

Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung nach Moskau war eine <strong>der</strong> Parolen <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie. Der nationalliberale "Marxist" Potressow sandte Flüche gegen Petrograd,<br />

das sich einbilde, »ein neues Paris« zu sein. Als hätten nicht die Girondisten gegen das<br />

alte Paris gewettert und ihm nahegelegt, seine Rolle auf ein Dreiundachtzigstel zu<br />

beschränken Ein Provinzmenschewik sagte im Juni auf dem Sowjetkongreß: »Irgendein<br />

Nowotscherkassk spiegelt viel wahrheitsgetreuer die Lebensbedingungen des gesamten<br />

Rußland wi<strong>der</strong> als Petrograd.« Im Grunde suchten Versöhnler wie Bourgeoisie eine<br />

Stütze nicht in den wirklichen Stimmungen des "Landes" son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> von ihnen selbst<br />

geschaffenen tröstlichen Illusion. Jetzt, wo es bevorstand, den politischen Puls Moskaus<br />

zu prüfen, erwartete die Organisatoren <strong>der</strong> Beratung bitterste Enttäuschung.<br />

Die seit den ersten Augusttagen einan<strong>der</strong> ablösenden konterrevolutionären Beratungen,<br />

beginnend mit dem Kongreß <strong>der</strong> Bodenbesitzer bis zur Kirchenversammlung, hatten<br />

nicht nur die besitzenden Kreise Moskaus mobilisiert, son<strong>der</strong>n auch die Arbeiter und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 414


Soldaten auf die Beine gebracht. Rjabuschinskis Drohungen, Rodsjankos Aufrufe, die<br />

Verbrü<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kadetten mit den Kosakengeneralen - das alles spielte sich vor den<br />

Augen <strong>der</strong> unteren Schichten Moskaus ab, das alles wurde von den bolschewistischen<br />

Agitatoren nach den heißen Spuren <strong>der</strong> Zeitungsberichte ausgedeutet. Die Gefahr <strong>der</strong><br />

Konterrevolution nahm diesmal greifbare, sogar personelle Formen an. Durch Fabriken<br />

und Werkstätten ging eine Empörungswelle. »Wenn die Sowjets ohnmächtig sind«,<br />

schrieb das Moskauer Blatt <strong>der</strong> Bolschewiki, »dann muß sich das Proletariat um seine<br />

lebensfahigen Organisationen zusammenschließen.« Auf den ersten Platz rückten die<br />

Gewerkschaften, die bereits in ihrer Mehrheit unter bolschewistischer Leitung standen.<br />

Die Stimmung in den Betrieben war <strong>der</strong> Staatsberatung <strong>der</strong>art feindlich, daß <strong>der</strong> von<br />

unten aufgetauchte Gedanke des Generalstreiks in <strong>der</strong> Versammlung sämtlicher Zellenvertreter<br />

<strong>der</strong> Moskauer bolschewistischen Organisation fast wi<strong>der</strong>spruchslos angenommen<br />

wurde. Die Gewerkschaften ergriffen die Initiative. Der Moskauer Sowjet sprach<br />

sich mit einer Mehrheit von dreihun<strong>der</strong>tvierundsechzig zu dreihun<strong>der</strong>tvier Stimmen<br />

gegen den Streik aus. Da aber in den Fraktionssitzungen die menschewistischen und<br />

sozialrevolurionären Arbeiter für den Streik gestimmt und sich nur <strong>der</strong> Parteidisziplin<br />

unterworfen hatten, so konnte <strong>der</strong> Beschluß des seit langem nicht mehr neu gewählten<br />

Sowjets, überdies gegen den Willen <strong>der</strong> faktischen Mehrheit angenommen, die Moskauer<br />

Arbeiter am allerwenigsten zurückhalten. Eine Versammlung <strong>der</strong> Verwaltungsmitglie<strong>der</strong><br />

von einundvierzig Gewerkschaften beschloß, die Arbeiter zu einem eintägigen Proteststreik<br />

aufzurufen. Die Bezirkssowjets waren in <strong>der</strong> Mehrzahl auf seiten <strong>der</strong> Partei und<br />

<strong>der</strong> Gewerkschaften. Die Betriebe stellten sogleich die For<strong>der</strong>ung nach einer Neuwahl<br />

des Moskauer Sowjets, <strong>der</strong> nicht nur hinter den Massen zurückgeblieben, son<strong>der</strong>n auch<br />

in scharfen Gegensatz zu ihnen geraten war. Im Samoskworetzker Bezirkssowjet und den<br />

dortigen Fabrikkomitees vereinigte die For<strong>der</strong>ung nach Ersetzung <strong>der</strong> Deputierten, »die<br />

gegen den Willen <strong>der</strong> Arbeiterklasse« handelten, hun<strong>der</strong>tfünfundsiebzig gegen vier<br />

Stimmen bei neunzehn Stimmenthaltungen!<br />

Die Nacht vor dem Streik war für die Moskauer Bolschewiki nichtsdestoweniger eine<br />

unruhige Nacht. Das Land ging den Weg Petrograds, blieb aber hinter Petrograd zurück.<br />

Die Julidemonstration in Moskau hatte mit einem Mißerfolg geendet: die Mehrheit nicht<br />

nur <strong>der</strong> Garnison, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Arbeiter hatte nicht gewagt, gegen die Stimme des<br />

Sowjets auf die Straße zu gehen. Wie wird es diesmal werden? Der Morgen brachte die<br />

Antwort. Der Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Versöhnler hatte nicht verhin<strong>der</strong>n können, daß <strong>der</strong> Streik<br />

zu einer machtvollen Demonstration <strong>der</strong> Feindschaft gegen Koalition und Regierung<br />

wurde. Zwei Tage zuvor hatte die Zeitung <strong>der</strong> Moskauer Industriellen selbstsicher<br />

geschrieben: »Mag doch die Petrogra<strong>der</strong> Regierung so schnell wie möglich nach Moskau<br />

kommen, mag sie die Stimme <strong>der</strong> Heiligtümer, <strong>der</strong> Glocken <strong>der</strong> heiligen Kremltürme<br />

vernehmen« ... Heute war die Stimme <strong>der</strong> Heiligtümer übertönt von <strong>der</strong> Stille vor dem<br />

Sturm.<br />

Das Mitglied des Moskauer Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki Pjatnitzki, schrieb später: »Der<br />

Streik ... verlief großartig. Es gab kein Licht, keine Trambahn; Fabriken, Betriebe,<br />

Eisenbahnwerkstätten und -depots feierten, sogar die Kellner in den Restaurants streikten.«<br />

Miljukow brachte in das Bild einen grellen Strich hinein: »Die zur Beratung eingetroffenen<br />

Delegierten ... konnten we<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Tram fahren, noch im Restaurant<br />

frühstücken«: das gestattete ihnen, nach dem Geständnis des liberalen Historikers, um so<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 415


esser die Macht <strong>der</strong> zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki einzuschätzen. Die<br />

'Iswestja' des Moskauer Sowjets kennzeichnete erschöpfend die Bedeutung <strong>der</strong> Manifestation<br />

vom 12. August: »Entgegen dem Beschluß des Sowjets ... folgten die Massen den<br />

Bolschewiki.« Vierhun<strong>der</strong>ttausend Arbeiter streikten in Moskau und Umgebung auf<br />

Auffor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Partei, die seit fünf Wochen dauernd Schlägen ausgesetzt gewesen und<br />

<strong>der</strong>en Führer sich noch immer verborgen hielten o<strong>der</strong> in Gefängnissen saßen. Das neue<br />

Petrogra<strong>der</strong> Parteiorgan 'Proletarij' konnte noch, bevor es verboten wurde, an die<br />

Versöhnler die Frage richten: »Aus Petrograd nach Moskau, und aus Moskau wohin?«<br />

Die Herren <strong>der</strong> Lage mußten sich wohl selbst diese Frage stellen. In Kiew, Kostroma,<br />

Zarizyn wurden eintägige Proteststreiks, allgemeine o<strong>der</strong> Teilstreiks, durchgeführt. Die<br />

Agitation ergriff das ganze Land. Überall, auch in den entferntesten Winkeln, warnten<br />

die Bolschewiki, die Staatsberatung trage »den ausgesprochenen Charakter einer konterrevolutionären<br />

Verschwörung«: gegen Ende August offenbarte sich die Richtigkeit<br />

dieser Formel restlos vor den Augen des ganzen Volkes.<br />

Die Delegierten <strong>der</strong> Beratung sowie das bürgerliche Moskau erwarteten bewaffnete<br />

Massenaufmärsche, Zusammenstöße, Kämpfe, "Augusttage". Aber auf die Straße zu<br />

gehen, hätte für die Arbeiter geheißen, sich den Schlägen <strong>der</strong> Georgsritter, Offiziersabteilungen,<br />

Junker, einzelner Kavallerieteile auszusetzen, die vor Revancheverlangen wegen<br />

des Streiks brannten. Die Garnison auf die Straße zu rufen, hätte bedeutet, Spaltung in sie<br />

hineinzutragen und <strong>der</strong> Konterrevolution die Sache zu erleichtern, die mit gespanntem<br />

Hahn dastand. Die Partei rief nicht auf die Straße, und die Arbeiter, von einem richtigen<br />

Instinkt geleitet, mieden offene Zusammenstöße. Der eintägige Streik entsprach, wie es<br />

besser nicht möglich war, <strong>der</strong> Situation: man konnte ihn nicht unter das grüne Tuch<br />

verstecken, wie es die Beratung mit <strong>der</strong> Deklaration <strong>der</strong> Bolschewiki getan hatte. Als die<br />

Stadt sich in Dunkelheit hüllte, erkannte ganz Rußland die bolschewistische Hand am<br />

Stromschalter. Nein, Petrograd ist nicht isoliert »In Moskau, auf dessen patriarchalisches<br />

Wesen und dessen Demut so viele gehofft hatten, fletschten die Arbeiterbezirke ganz<br />

unerwartet die Zähne«, so kennzeichnete die Bedeutung des Tages Suchanow. In<br />

Abwesenheit <strong>der</strong> Bolschewiki, aber im Zeichen <strong>der</strong> gefletschten Zähne <strong>der</strong> proletarischen<br />

<strong>Revolution</strong> war die Koalitionsberatung zu tagen gezwungen.<br />

Die Moskauer spotteten: Kerenski sei zu ihnen »zur Krönung« gekommen. Doch am<br />

nächsten Tage traf aus dem Hauptquartier mit dem gleichen Ziele Kornilow ein, empfangen<br />

von zahlreichen Delegationen, darunter auch einer <strong>der</strong> Kirchenversammlung. Auf<br />

den Perron sprangen aus dem einlaufenden Zuge Tekiner in langen grellroten Mänteln<br />

mit gezückten Krummsäbeln und stellten sich in Doppelreihen auf. Begeisterte Damen<br />

bewarfen den Helden, <strong>der</strong> Wachen und Deputationen abschritt, mit Blumen. Der Kadett<br />

Roditschew schloß seine Begrüßungsrede mit dem Ruf: »Retten Sie Rußland, und das<br />

dankbare Volk wird Sie krönen.« Patriotische Schluchzer ertönten. Die vielfache Millionärin<br />

und Kaufmannsfrau Morosow fiel in die Knie. Offiziere trugen Kornilow auf den<br />

Händen zum Volke. Während <strong>der</strong> Höchstkommandierende die Front <strong>der</strong><br />

Georgskavaliere, Junker, Fähnrichsschüler, Kosakenhun<strong>der</strong>tschaft auf dem Platz vor dem<br />

Bahnhof abschritt, nahm Kerenski als Kriegsminister und Rivale die Truppenparade <strong>der</strong><br />

Moskauer Garnison ab. Vom Bahnhof begab sich Kornilow, den Spuren <strong>der</strong> Zaren<br />

folgend, zum Iwerschen Heiligenbild, vor dem ein Gottesdienst abgehalten wurde in<br />

Gegenwart einer Eskorte von muselmanischen Tekinern mit gigantischen kaukasischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 416


Pelzmützen. »Dieser Umstand«, schreibt über den Gottesdienst <strong>der</strong> Kosakenoffizier<br />

Grekow, »hat das gesamte gläubige Moskau noch mehr für Kornilow eingenommen.«<br />

Die Konterrevolution war unterdessen bemüht, die Straße für sich zu gewinnen. Aus<br />

Automobilen verteilte man großzügig Kornilows Biographie mit seinem Porträt. Die<br />

Mauern waren mit Plakaten beklebt, die das Volk zur Hilfeleistung für den Helden<br />

aufriefen. Wie ein Herrscher empfing Kornilow in seinem Waggon Politiker, Industrielle<br />

und Finanzleute. Vertreter <strong>der</strong> Banken erstatteten ihm Bericht über die Finanzlage des<br />

Landes. »Von allen Dumamitglie<strong>der</strong>n«, schreibt bedeutungsvoll <strong>der</strong> Oktobrist Schidlowski,<br />

»begab sich zu Kornilow in den Zug nur Miljukow, <strong>der</strong> mit ihm eine Unterredung<br />

hatte, <strong>der</strong>en Inhalt mir nicht bekannt ist.« Über dieses Gespräch werden wir später durch<br />

Miljukow selbst erfahren, was zu berichten er für notwendig halten wird.<br />

Die Vorbereitung <strong>der</strong> Militärumwälzung war zu dieser Zeit bereits in vollem Gange.<br />

Einige Tage vor <strong>der</strong> Beratung hatte Kornilow, unter dem Vorwand <strong>der</strong> Hilfeleistung für<br />

Riga, befohlen, für den Marsch auf Petrograd vier Kavalleriedivisionen in Bereitschaft zu<br />

halten. Das Orenburger Kosakenregiment war vom Hauptquartier nach Moskau entsandt<br />

worden »zur Sicherung <strong>der</strong> Ordnung«, wurde aber auf Kerenskis Befehl unterwegs<br />

aufgehalten. In seinen späteren Angaben vor <strong>der</strong> Untersuchungskommission in Sachen<br />

Kornilow sagte Kerenski aus: »Wir erhielten die Nachricht, daß während <strong>der</strong> Moskauer<br />

Beratung die Diktatur proklamiert werden würde.« So beschäftigten sich in den feierlichen<br />

Tagen <strong>der</strong> nationalen Einheit Kriegsminister und Höchstkommandieren<strong>der</strong> mit<br />

strategischen Truppenverschiebungen gegegeneinan<strong>der</strong>. Doch das Dekorum wurde nach<br />

Möglichkeit gewahrt. Die Beziehungen <strong>der</strong> beiden Lager schwankten zwischen offiziell<br />

freundschaftlichen Versicherungen und Bürgerkrieg.<br />

In Petrograd wurden trotz <strong>der</strong> Zurückhaltung <strong>der</strong> Massen - die Juli-erfahrung war nicht<br />

spurlos geblieben - von oben, aus Stäben und Redaktionen, mit toller Beharrlichkeit<br />

Gerüchte verbreitet über einen bevorstehenden Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Petrogra<strong>der</strong><br />

Parteiorganisationen wamten in einem offenen Aufruf die Massen vor <strong>der</strong> Möglichkeit<br />

provokatorischer Appelle seitens <strong>der</strong> Feinde. Der Moskauer Sowjet traf inzwischen<br />

seine Maßnahmen. Es wurde ein nichtöffentliches revolutionäres Komitee aus sechs<br />

Personen geschaffen, je zwei Delegierte von je<strong>der</strong> Sowjetpartei einschließlich <strong>der</strong><br />

Bolschewiki. Durch einen Geheimbefehl wurde verboten, auf dem Weg, den Kornilow<br />

zu passieren hatte, Spaliere aus Georgsrittern, Offizieren und Junkern aufzustellen. Den<br />

Bolschewiki, denen seit den Julitagen <strong>der</strong> Zutritt zu den Kasernen offiziell verboten war,<br />

stellte man jetzt bereitwillig Passierscheine aus: ohne Bolschewiki konnte man die Soldaten<br />

nicht gewinnen. Während auf offener Bühne Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

mit <strong>der</strong> Bourgeoisie über Schaffung einer festen Macht gegen die von den Bolschewiki<br />

geleiteten Massen verhandelten, bereiteten hinter den Kulissen die gleichen Menschewiki<br />

und Sozial-revolutionäre gemeinsam mit den von ihnen zur Beratung nicht zugelassenen<br />

Bolschewiki die Massen auf den Kampf gegen die Verschwörung <strong>der</strong> Bourgeoisie vor.<br />

Die Versöhnler, die sich noch gestern dem Demonstrationsstreik wi<strong>der</strong>setzt hatten, riefen<br />

heute die Arbeiter und Soldaten auf, zum Kampfe zu rüsten. Die verachtungsvolle<br />

Empörung <strong>der</strong> Massen hin<strong>der</strong>te diese nicht, auf die Auffor<strong>der</strong>ung mit einer Kampfbereitschaft<br />

zu reagieren, die die Versöhnler mehr erschreckte als erfreute. Die schreiend<br />

krasse Zwiespältigkeit, die den Charakter eines fast offenen Treubruches nach zwei<br />

Richtungen hin annahm, wäre unbegreiflich, würden die Versöhnler ihre Politik bewußt<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 417


getrieben haben; in Wirklichkeit hatten sie nur <strong>der</strong>en Folgen zu erdulden.<br />

Große Ereignisse hingen merklich in <strong>der</strong> Luft. Aber in den Tagen <strong>der</strong> Beratung war die<br />

Umwälzung offenbar von niemand geplant gewesen. Jedenfalls findet sich keine Bestätigung<br />

<strong>der</strong> Gerüchte, auf die sich Kerenski später berief, we<strong>der</strong> in Dokumenten, noch in<br />

<strong>der</strong> Versöhnlerliteratur, noch in den Memoiren des rechten Flügels. Es handelte sich<br />

einstweilen nur um die Vorbereitungen. Nach Miljukows Worten - und seine Angaben<br />

decken sich mit <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse - hatte Kornilow selbst bereits<br />

vor <strong>der</strong> Beratung das Datum seines Vorgehens gewählt: den 27. August. Dieses Datum<br />

war selbstverständlich nur wenigen bekannt. Die Halbeingeweihten rückten, wie stets in<br />

solchen Fällen, den Tag <strong>der</strong> großen Ereignisse näher heran, und die vorauseilenden<br />

Gerüchte liefen von allen Seiten bei den Behörden ein: es schien, als müsse sich <strong>der</strong><br />

Schlag die nächste Stunde entladen.<br />

Aber gerade die erregte Stimmung <strong>der</strong> Bourgeoisie und Offizierskreise hätte in<br />

Moskau leicht, wenn nicht zum Versuch einer Umwälzung, so doch zu einer konterrevolutionären<br />

Demonstration zwecks Kraftprobe führen können. Noch wahrscheinlicher<br />

wäre <strong>der</strong> Versuch gewesen, aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Beratung heraus irgendein mit den Sowjets<br />

konkurrierendes Zentrum für die Rettung des Vaterlandes zu schaffen: davon sprach die<br />

rechte Presse ganz offen. Aber auch hierzu kam es nicht: die Massen verhin<strong>der</strong>ten es.<br />

Mochte auch manchem <strong>der</strong> Gedanke vorgeschwebt haben, die Entscheidungsstunde zu<br />

beschleunigen, so mußte man sich unter dem Schlag des Streiks doch sagen: die <strong>Revolution</strong><br />

zu überraschen, wird nicht gelingen, die Arbeiter und Soldaten sind auf <strong>der</strong> Hut, man<br />

muß es vertagen. Sogar die Volksprozession zum Iwerschen Heiligenbild, von Popen und<br />

Liberalen im Einverständnis mit Kornilow geplant wurde abgesagt.<br />

Sobald sie erkannten, daß keine unmittelbare Gefahr bestand, beeilten sich Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki so zu tun, als sei nichts Beson<strong>der</strong>es geschehen. Sie weigerten<br />

sich sogar, den Bolschewiki die Passierscheine für die Kasernen zu erneuern, obwohl<br />

man von dort dringend bolschewistische Redner verlangte. »Der Mohr hat seine Schuldigkeit<br />

getan«, dürften sich mit pfiffiger Miene Zeretelli, Dan und Chintschuk, <strong>der</strong><br />

damalige Vorsitzende des Moskauer Sowjets, gesagt haben. Die Bolschewiki gedachten<br />

aber gar nicht in die Lage des Mohren überzugehen. Sie waren erst daran, ihre Schuldigkeit<br />

zu tun.<br />

Jede Klassengesellschaft benötigt einen einheitlichen Regierungs~ willen. Die Doppelherrschaft<br />

ist dem Wesen nach das Regime <strong>der</strong> sozialen Krise: die höchste Zerklüftung<br />

einer Nation darstellend, birgt sie in sich den offenen o<strong>der</strong> potentiellen Bürgerkrieg<br />

Keiner wollte länger die Doppelherrschaft. Im Gegenteil, alle sehnten sich nach einer<br />

starken, einigen "eisernen" Macht. Die Juliregierung Kerenskis war ausgestattet mit<br />

unbeschränkten Vollmachten Die stille Absicht war, über Demokratie und Bourgeoisie,<br />

die einan<strong>der</strong> paralysierten, mit bei<strong>der</strong>seitigem Einverständnis eine "richtige" Macht zu<br />

stellen. Die Idee eines über den Klassen stehenden Schicksallenkers ist nichts an<strong>der</strong>es als<br />

die Idee des Bonapartismus<br />

Steckt man symmetrisch zwei Gabeln in einen Korken, dann kann er bei starken<br />

Schwankungen nach beiden Seiten sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten: das eben<br />

ist das mechanische Modell des bonapartistischen Superarbiters. Der Grad <strong>der</strong> Solidarität<br />

einer solchen Macht, sieht man von internationalen Bedingungen ab, wird bestimmt<br />

durch die Stabilität des Gleichgewichts <strong>der</strong> antagonistischen Klassen im Innern des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 418


Landes. Mitte Mai bezeichnete Trotzki in einer Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets<br />

Kerenski als den »mathematischen Punkt des <strong>russischen</strong> Bonapartismus«. Die Körperlosigkeit<br />

bei <strong>der</strong> Charakteristik beweist, daß dabei nicht die Person, son<strong>der</strong>n die Funktion<br />

gemeint war. Anfang Juli hatten, wie wir uns erinnern, sämtliche Minister auf Anweisung<br />

ihrer Parteien demissioniert und Kerenski die Schaffung einer neuen Regierung<br />

überlassen. Am 21. Juli wie<strong>der</strong>holte sich dieses Experiment in demonstrativer Form. Die<br />

feindlichen Parteien appellierten an Kerenski, jede sah in ihm einen Teil ihrer selbst,<br />

beide schworen ihm Treue. Trotzki schrieb aus dem Gefängnis: »Geleitet von Politikern,<br />

die vor je<strong>der</strong> Sache Angst haben, wagte <strong>der</strong> Sowjet nicht, die Macht zu übernehmen. Die<br />

Vertreterin aller Cliquen des Besitzes, die Kadettenpartei, konnte die Macht noch nicht<br />

ergreifen. Es blieb nur übrig, einen großen Versöhnler, Vermittler, Schiedsrichter zu<br />

suchen.«<br />

In dem von Kereriski im eigenen Namen veröffentlichten Manifest an das Volk wurde<br />

verkündet: »Ich, als Regierungshaupt ... glaube mich nicht berechtigt, davor zurückzuscheuen,<br />

daß Verän<strong>der</strong>ungen [in <strong>der</strong> Machtkonstruktion] ... meine Verantwortung in<br />

Sachen <strong>der</strong> obersten Verwaltung steigern würden.« Das ist die unverfälschliche Phraseologie<br />

des Bonapartismus. Und doch ging die Sache, trotz <strong>der</strong> Unterstützung von rechts<br />

und von links, über diese Phraseologie nicht hinaus. Was war <strong>der</strong> Grund?<br />

Damit <strong>der</strong> kleine Korse sich über die junge bürgerliche Nation erheben konnte, war es<br />

notwendig, daß die <strong>Revolution</strong> zuvor ihre grundlegende Aufgabe, Zuteilung von Land an<br />

die Bauern, löste und daß auf <strong>der</strong> neuen sozialen Basis eine siegreiche Armee entstand.<br />

Weiter konnte eine <strong>Revolution</strong> im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht gehen: sie konnte danach nur<br />

zurückrollen. Bei diesem Zurückrollen kamen allerdings ihre grundlegenden Eroberungen<br />

in Gefahr. Die mußten um jeden Preis geschützt werden. Der sich vertiefende, aber<br />

noch unreife Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat hielt die bis in ihre<br />

Festen erschütterte Nation in höchster Spannung. Ein nationaler "Richter" war unter<br />

diesen Umständen unentbehrlich. Napoleon sicherte dem Großbourgeois die Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Bereicherung, den Bauern ihren Bodenbesitz, den Bauernsöhnen und Landstreichern<br />

die Gelegenheit, im Kriege zu plün<strong>der</strong>n. Der Richter hielt in den Händen den Säbel und<br />

erfüllte selbst die Pflichten des Gerichtsvollziehers. Der Bonapartismus des ersten<br />

Bonaparte war solide fundiert.<br />

Die Umwälzung von 1848 gab den Bauern kein Land und konnte es ihnen nicht geben:<br />

es war nicht eine große <strong>Revolution</strong>, die ein soziales Regime durch ein an<strong>der</strong>es ablöste,<br />

son<strong>der</strong>n eine politische Umschichtung auf <strong>der</strong> Basis des gleichen sozialen Regimes.<br />

Napoleon III. hatte hinter sich keine siegreiche Armee. Die beiden wichtigsten Elemente<br />

des klassischen Bonapartismus waren nicht vorhanden. Doch es gab an<strong>der</strong>e günstige,<br />

nicht weniger wirksame Momente. Das während eines halben Jahrhun<strong>der</strong>ts herangewachsene<br />

Proletariat zeigte im Juni seine dräuende Kraft; jedoch zur Machtergreifung erwies<br />

es sich noch nicht fähig. Die Bourgeoisie fürchtete das Proletariat und fürchtete ihren<br />

blutigen Sieg über das Proletariat. Der bäuerliche Besitzer erschrak vor dem Juniaufstand<br />

und wollte durch den Staat gegen den Teiler geschützt sein. Scbließlich eröffnete <strong>der</strong><br />

mächtige Industrieaufstieg, <strong>der</strong> mit kleinen Stockungen sich über zwei Jahrzehnte<br />

erstreckte, <strong>der</strong> Bourgeoisie ungeahnte Bereicherungsquellen. Diese Bedingungen waren<br />

nicht ausreichend ftir den epigonenhaften Bonapartismus.<br />

Die Politik Bismarcks, <strong>der</strong> sich ebenfalls "über die Klassen" erhob, enthielt, worauf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 419


wie<strong>der</strong>holt hingewiesen wurde, zweifellos bonapartistische Züge, wenn auch unter <strong>der</strong><br />

Hülle des Legitimismus. Die Stabilität des Bismarckschen Regimes wurde dadurch<br />

gesichert, daß es, entstanden nach <strong>der</strong> impotenten <strong>Revolution</strong> zur Lösung o<strong>der</strong> Halblösung<br />

einer so großen nationalen Aufgabe wie <strong>der</strong> deutschen Einheit führte, in drei<br />

Kriegen Siege, Kontributinnen und die mächtige kapitalistische Blüte brachte. Dies<br />

genügte für Jahrzehnte.<br />

Das Unglück <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bonapartekandidaten bestand nicht darin, daß sie we<strong>der</strong><br />

dem ersten Napoleon noch auch nur Bismarck ähnelten: die <strong>Geschichte</strong> vermag sich auch<br />

mit Surrogaten zu begnügen. Aber sie hatten gegen sich eine große <strong>Revolution</strong>, die ihre<br />

Aufgaben noch nicht gelöst und ihre Kräfte noch nicht erschöpft hatte. Den Bauer, <strong>der</strong><br />

noch keinen Boden erhalten hatte, zwang die Bourgeoisie, für den gutsherrlichen Boden<br />

Krieg zu führen. Der Krieg brachte nur Nie<strong>der</strong>lagen. Von einem industriellen Aufstieg<br />

war nicht die Rede im Gegenteil, <strong>der</strong> Zerfall schuf immer neue Verwüstungen. Wenn das<br />

Proletariat zurückwich, dann nur, um seine Reihen fester zusammenzuschließen. Die<br />

Bauernschaft setzte sich erst in Schwung für den letzten Ansturm auf die Herren. Die<br />

unterdrückten Nationalitäten ergriffen die Offensive gegen den russifizierenden Despotismus.<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach Frieden schloß sich die Armee immer enger den Arbeitern<br />

und <strong>der</strong>en Partei an. Die unteren Schichten verschmolzen, die Spitzen wurden<br />

schwächer. Ein Gleichgewicht bestand nicht. Die <strong>Revolution</strong> blieb vollblütig. Da ist es<br />

nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß sich <strong>der</strong> Bonapartismus als blutarm erwies.<br />

Marx und Engels verglichen die Rolle des bonapartistischen Regimes im Kampfe<br />

zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> alten absolutistischen Monarchie<br />

im Kampfe zwischen Feudalen und Bourgeoisie. Ähnlichkeitszüge sind unbestreitbar,<br />

doch hören sie gerade dort auf, wo <strong>der</strong> soziale Inhalt <strong>der</strong> Macht hervortritt. Die Rolle des<br />

Schiedrichters zwischen den Elementen <strong>der</strong> alten und <strong>der</strong> neuen Gesellschaft konnte in<br />

einer gewissen Periode sich als nötig erweisen, insofern beide Ausbeutungsregime eines<br />

Schutzes gegen die Ausgebeuteten bedurften. Doch schon zwischen den Feudalen und<br />

den leibeigenen Bauern konnte es keine "unparteiische" Vermittlung geben. Zwischen<br />

den Interessen des gutsherrlichen Bodenbesitzes und des jungen Kapitalismus ausgleichend,<br />

trat das zaristische Selbstherrschertum in bezug auf die Bauern nicht als Vermittler<br />

auf, son<strong>der</strong>n als Bevollmächtigter <strong>der</strong> ausbeutenden Klassen.<br />

Auch <strong>der</strong> Bonapartismus war nicht Schiedsrichter zwischen Proletariat und Bourgeoisie:<br />

er war in Wirklichkeit die konzentrierteste Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie über das Proletariat.<br />

Indem er mit den Stiefeln auf den Nacken <strong>der</strong> Nation steigt, kann <strong>der</strong> jeweilige<br />

Bonaparte keine an<strong>der</strong>e Politik verfolgen als die des Schutzes von Eigentum, Rente und<br />

Profit. Die Beson<strong>der</strong>heiten des Regimes erstrecken sich nur auf die Mittel des Schutzes.<br />

Der Wächter steht nicht am Tore, son<strong>der</strong>n sitzt auf dem Dache des Hauses; aber seine<br />

Funktion ist die gleiche. Die Unabhängigkeit des Bonapartismus ist im großen Maße eine<br />

äußerliche, zur Schau gestellte, dekorative: ihr Symbol ist <strong>der</strong> Imperatorenmantel.<br />

Wenngleich er geschickt die Angst des Bourgeois vor dem Arbeiter ausnutzte, blieb<br />

Bismarck in allen seinen politischen und sozialen Reformen unabän<strong>der</strong>lich Bevollmächtigter<br />

<strong>der</strong> besitzenden Klassen, denen er niemals untreu wurde. Dagegen erlaubte ihm <strong>der</strong><br />

wachsende Druck des Proletariats zweifellos, sich über Junkertum und Kapitalismus als<br />

gewichtiger bürokratischer Schiedsrichter zu erheben: darin eben bestand seine Funktion.<br />

Das Sowjetsystem duldet eine bedeutende Unabhängigkeit <strong>der</strong> Macht gegenüber Prole-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 420


tariat und Bauernschaft, folglich auch die "Vermittlung" zwischen ihnen, insofern bei<strong>der</strong><br />

Interessen, wenn sie auch Reibungen und Konflikte erzeugen, in ihrer Grundlage jedoch<br />

nicht unversöhnlich sind. Aber es wäre nicht leicht, einen "unparteiischen" Schiedsrichter<br />

zu finden zwischen Sowjetstaat und Bourgeoisie, zumindest in <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> grundlegenden<br />

Interessen bei<strong>der</strong> Parteien. Sich dem Völkerbund anzuschließen, hin<strong>der</strong>n die<br />

Sowjetunion in <strong>der</strong> internationalen Arena die gleichen sozialen Ursachen, die im nationalen<br />

Rahmen die Möglichkeit einer wirklichen, nicht bloß zur Schau gestellten "Unparteilichkeit"<br />

<strong>der</strong> Macht im Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausschließen.<br />

Ohne die Macht des Bonapartismus zu besitzen, besaß die Kerenskiade alle seine<br />

Laster. Sie erhob sich über die Nation nur, um sie durch die eigene Ohnmacht zu<br />

ersetzen. Wenn in Worten die Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie und <strong>der</strong> Demokratie auch versprachen,<br />

Kerenski zu "gehorchen", so gehorchte <strong>der</strong> allmächtige Schiedsrichter in Wirklichkeit<br />

Miljukow und beson<strong>der</strong>s Buchanan. Kerenski führte den imperialistischen Krieg,<br />

schützte den gutsherrlichen Besitz gegen Attentate, vertagte die sozialen Reformen auf<br />

bessere Zeiten. War seine Regierung schwach, so aus dem gleichen Grunde, aus dem die<br />

Bourgeoisie ihre eigenen Männer nicht an die Macht zu stellen vermochte. Doch bei aller<br />

Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> "Rettungsregierung" wuchs ihr konservativ-kapitalistischer<br />

Charakter sichtlich zugleich mit ihrer "Unabhängigkeit".<br />

Die Einsicht, daß das Kerenski-Regime die für die gegebene Periode unvermeidliche<br />

Form <strong>der</strong> bürgerlichen Herrschaft darstellte, schloß bei den bürgerlichen Politikern we<strong>der</strong><br />

höchste Unzufriedenlieit mit Kerenski aus, noch die Vorbereitung darauf, sich von ihm<br />

so schnell wie möglich zu befreien. Unter den besitzenden Klassen herrschten keine<br />

Meinungsverschiedenheiten darüber, daß dem von <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie<br />

emporgehobenen nationalen Schiedsrichter eine Figur aus den eigenen Reihen gegenübergestellt<br />

werden müsse. Weshalb gerade Kornilow? Der Kandidat für den Bonaparte<br />

mußte dem Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie, <strong>der</strong> verspäteten, vom Volke<br />

getrennten, verfallenden, talentlosen Bourgeoisie, entsprechen. In <strong>der</strong> Armee, die fast nur<br />

entwürdigende Nie<strong>der</strong>lagen kannte, war es nicht leicht, einen populären General zu<br />

finden. Kornilow wurde in den Vor<strong>der</strong>grund geschoben nach Ausscheidung <strong>der</strong> übrigen<br />

Kandidaten, die noch unfähiger waren.<br />

Somit konnten die Versöhnler sich mit den Liberalen we<strong>der</strong> ernsthaft in einer Koalition<br />

zusanimenschließen noch auf einen Retterkandidaten einigen: es hin<strong>der</strong>ten sie die<br />

ungelösten Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die Liberalen trauten den Demokraten nicht. Die<br />

Demokraten trauten den Liberalen nicht. Kerenski öffnete zwar <strong>der</strong> Bourgeoisie weit<br />

seine Arme; aber Kornilow gab unzweideutig zu verstehen, daß er bei <strong>der</strong> ersten<br />

Gelegenheit <strong>der</strong> Demokratie das Genick umdrehen werde. Der Zusammenstoß zwischen<br />

Kornilow und Kerenski, <strong>der</strong> sich unabwendbar aus <strong>der</strong> vorangegangenen Entwicklung<br />

ergab, war die Übersetzung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> Doppelherrschaft in die explosive<br />

Sprache persönlichen Ehrgeizes.<br />

Wie sich in Petrograd Anfang Juli in Proletariat und Garnison eine ungeduldige, mit<br />

<strong>der</strong> zu vorsichtigen Politik <strong>der</strong> Bolschewiki unzufriedene Phalanx bildete, so häufte sich<br />

in den besitzenden Klassen Anfang August eine ungeduldige Stimmung gegen die<br />

abwartende Politik <strong>der</strong> kadettischen Leitung an. Diese Stimmung kam beispielsweise auf<br />

dem Kadettenkongreß zum Ausdruck wo For<strong>der</strong>ungen laut wurden, Kerenski zu stürzen.<br />

Noch schroffer äußerte sich die politische Ungeduld außerhalb des Rahmens <strong>der</strong> Kadet-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 421


tenpartei, in den Militärstäben, wo man in ständiger Angst vor den Soldaten lebte, in den<br />

Banken, wo man in Infiationswellen ertrank, auf den Gütern, wo über den adligen<br />

Häuptern die Dächer auflo<strong>der</strong>ten. »Es lebe Kornilow!« wurde die Parole <strong>der</strong> Hoffnung,<br />

Verzweiflung und Rachgier.<br />

In allem dem Programm Kornilows zustimmend, opponierte Kerenski bezüglich <strong>der</strong><br />

Fristen: »Es geht nicht alles auf einmal.« Die Notwendigkeit, sich Kerenskis zu entledigen,<br />

zugebend, erwi<strong>der</strong>te Miljukow den Ungeduldigen: »Jetzt ist es vielleicht noch zu<br />

früh.« Wie aus dem Drängen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Massen ein halber Aufstand im Juli<br />

erwuchs, so erwuchs aus <strong>der</strong> Ungeduld <strong>der</strong> Besitzenden <strong>der</strong> Kornilowsche Aufstand im<br />

August. Und wie sich die Bolschewiki gezwungen sahen, den Boden <strong>der</strong> bewaffneten<br />

Demonstration zu betreten, um, wenn möglich, <strong>der</strong>en Erfolg zu sichern und jedenfalls sie<br />

vor einer Zertrümmerung zu bewahren, sahen sich die Kadetten gezwungen, mit den<br />

gleichen Zielen Boden des Kornilowschen Aufstandes zu betreten. Innerhalb dieser<br />

Grenzen läßt sich eine erstaunliche Symmetrie beobachten. Aber im Rahmen dieser<br />

Symmetrie herrscht völliger Gegensatz <strong>der</strong> Ziele, Methoden und - Resultate. Er wird sich<br />

vor uns vollends im Laufe <strong>der</strong> Ereignisse entrollen.<br />

Die Staatsberatung in Moskau<br />

Bedeutet Symbol ein konzentriertes Bild, so ist die <strong>Revolution</strong> die größte Meisterin <strong>der</strong><br />

Symbole, denn sie bietet alle Erscheinungen und Beziehungen in konzentrierter Form<br />

dar. Nur ist die Symbolik <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu grandios und fügt sich schlecht in den<br />

Rahmen individueller Schöpfung. Daher die Armut an künstlerischer Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong><br />

massivsten Dramen <strong>der</strong> Menschheit.<br />

Die Moskauer Staatsberatung endete mit dem von vornherein sicheren Fiasko. Sie<br />

schuf nichts und löste nichts. Dafür aber hinterließ sie dem Historiker einen unschätzbaren,<br />

wenn auch negativen Abdruck <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, auf dem Licht aussieht wie Schatten,<br />

Schwäche als Kraft paradiert, Gier - als Selbsdosigkeit, Treubruch - als höchste Tugend.<br />

Die mächtigste Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die schon nach zehn Wochen zur Macht kommen<br />

sollte, wurde jenseits <strong>der</strong> Schwelle gelassen als eine nicht <strong>der</strong> Beachtung werte Größe.<br />

Dafür wurde ernst genommen die völlig unbekannte "Partei des evolutionären Sozialismus".<br />

Kerenski trat auf als Verkörperung von Macht und Willen. Von <strong>der</strong> Koalition, die<br />

sich in <strong>der</strong> Vergangenheit restlos erschöpft hatte, sprach man wie von einem Rettungsmittel<br />

<strong>der</strong> Zukunft. Der von den Soldatenmillionen gehaßte Kornilow wurde begrüßt als<br />

<strong>der</strong> beliebte Armee- und Volksführer. Monarchisten und Schwarzhun<strong>der</strong>t beteuerten ihre<br />

Liebe zur Konstituierenden Versammlung. Alle jene, denen bald bevorstand, aus <strong>der</strong><br />

politischen Arena zu verschwinden, hatten sich gleichsam verabredet, zum letztenmal<br />

ihre besten Rollen auf den Theaterbrettern zu spielen. Mit aller Kraft drängte es sie, zu<br />

sagen: dies möchten wir sein, dies wären wir, wenn man uns nicht hin<strong>der</strong>n würde. Aber<br />

man hin<strong>der</strong>te sie: Arbeiter, Soldaten, Bauern, unterdrückte Nationalitäten. Dutzende<br />

Millionen »meutern<strong>der</strong> Sklaven« wehrten ihnen, ihre Treue zur <strong>Revolution</strong> zu bekunden.<br />

In Moskau, wo sie Zuflucht suchten, folgte ihnen <strong>der</strong> Streik auf den Fersen. Gehetzt von<br />

"Finsternis", "Unbildung", "Demagogie", verpflichteten die zwejeinhalbtausend<br />

Menschen, die das Theater füllten, einan<strong>der</strong> stillschweigend, die Bühnenillusion nicht zu<br />

stören. Vom Streik wurde nicht gesprochen. Man war bemüht, die Bolschewiki nicht bei<br />

Namen zu nennen. Nur Plechanow gedachte so nebenbei »des Lenin traurigen Angeden-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 422


kens«, als wäre die Rede von einem völlig erledigten Gegner. Der Charakter des<br />

Negativs war somit restlos durchgehalten: im Reiche <strong>der</strong> Schatten, die halb schon dem<br />

Jenseits angehörten, sich aber als die »lebendigen Kräfte des Landes« ausgaben, konnte<br />

ein wirklicher Volksführer nicht an<strong>der</strong>s figurieren denn als politische Leiche.<br />

»Der glänzende Zuschauerraum«, schreibt Suchanow, »war ziemlich scharf in zwei<br />

Hälften geteilt, rechts Bourgeoisie, links Demokratie. Rechts, im Parterre und in den<br />

Logen, konnte man nicht wenig Generalsuniform sehen, links - Fähnriche und Gemeine.<br />

Der Bühne gegenüber, in <strong>der</strong> ehemaligen Zarenloge, saßen die höheren diplomatischen<br />

Vertreter <strong>der</strong> alliierten und befreundeten Mächte ... Unsere Gruppe, die äußerste<br />

Linke, nahm einen kleinen Winkel des Parterres ein.« Die äußerste Linke bildeten, bei<br />

Abwesenheit <strong>der</strong> Bolschewiki, die Gesinnungsgenossen Martows.<br />

Gegen vier Uhr erschien auf <strong>der</strong> offenen Bühne Kerenski in Begleitung zweier junger<br />

Offiziere, von Armee und Marine; Sinnbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stärke <strong>der</strong> revolutionären Macht,<br />

standen sie die ganze Zeit wie festgewurzelt, hinter dem Rücken des Vorsitzenden. Um<br />

die Rechten durch das Wort Republik nicht zu reizen - so war es vorher verabredet<br />

worden -, begrüßte Kerenski die »Vertreter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Erde« im Namen <strong>der</strong> Regierung<br />

des »<strong>russischen</strong> Reiches«. »Der Grundton <strong>der</strong> Rede«, schreibt ein liberaler Historiker,<br />

»war statt des Tones <strong>der</strong> Würde und Sicherheit, unter dem Einfluß <strong>der</strong> letzten Tage<br />

... <strong>der</strong> Ton schlecht verhüllter Angst, die <strong>der</strong> Redner gleichsam in seinem Innern durch<br />

hohe Töne <strong>der</strong> Drohung zu beschwichtigen suchte.« Ohne die Bolschewiki direkt zu<br />

nennen, begann Kerenski mit einer Warnung an ihre Adresse: Neue Versuche, die Macht<br />

anzutasten, »werden mit Eisen und Stahl unterdrückt werden«. Im stürmischen Beifall<br />

verschmolzen beide Flügel <strong>der</strong> Beratung. Die ergänzende Drohung an die Adresse des<br />

noch nicht eingetroffenen Kornilow: »Welche Seite mir auch Ultimata stellen sollte, ich<br />

werde in <strong>der</strong> Lage sein, sie dem Willen <strong>der</strong> obersten Staatsgewalt und mir, ihrem<br />

Oberhaupt, unterzuordnen«, fand zwar ebenso begeisteiten Beifall, doch jetzt ausschließlich<br />

bei <strong>der</strong> linken Hälfte <strong>der</strong> Beratung. Kerenski kommt immer wie<strong>der</strong> auf sich, als das<br />

»Oberhaupt«, zurück: er bedarf dieser Selbstbestätigung. »Euch da, die ihr von <strong>der</strong><br />

Front gekommen seid, euch sage ich, euer Kriegsminister und Oberster Führer ..., es gibt<br />

in <strong>der</strong> Armee keine Macht und keinen Willen, die höher sind als Wille und Macht <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung.« Die Demokratie ist begeistert über diese dräuenden Blindgänger,<br />

denn sie glaubt auf diese Weise <strong>der</strong> Notwendigkeit zu entgehen, zu Blei Zuflucht<br />

nehmen zu müssen.<br />

»Alle besten Kräfte des Volkes und <strong>der</strong> Armee«, versichert das Regierungshaupt,<br />

»haben den Triumph <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> mit unserem Triumph an <strong>der</strong> Front<br />

verknüpft. Aber unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde bespien.«<br />

Das ist das lyrische Fazit <strong>der</strong> Junioffensive. Er, Kerenski, beabsichtigt jedenfalls, bis zum<br />

Siege zu kämpfen. Angesichts <strong>der</strong> Gefahr eines Friedens auf Kosten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Interessen<br />

- diesen Weg wies das Friedensangebot des Papstes vom 4. August - preist<br />

Kerenski die vornehme Treue <strong>der</strong> Alliierten. »Und ich kann im Namen des großen <strong>russischen</strong><br />

Volkes nur das eine sagen: an<strong>der</strong>es haben wir nicht erwartet und nicht erwarten<br />

können.« Die Ovation an die Adresse <strong>der</strong> Loge <strong>der</strong> alliierten Diplomaten stellt alle auf<br />

die Beine, außer einigen Internationalisten und jenen vereinzelten Bolschewiki, die als<br />

Vertreter <strong>der</strong> Gewerkschaften anwesend sind. Aus einer Offiziersloge erschallt <strong>der</strong> Ruf:<br />

»Martow aufstehen!« Martow, zu seiner Ehre sei's gesagt, blieb fest genug, vor <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 423


Selbstlosigkeit <strong>der</strong> Entente nicht in die Knie zu sinken.<br />

An die Adresse <strong>der</strong> unterdrückten Völker Rußlands, die ihr Schicksal auf eine neue<br />

Weise einzurichten strebten, richtete Kerenski mit Drohungen gespickte Moralpredigten.<br />

»Schmachtend und zugrunde gehend in den Ketten des zaristischen<br />

Selbstherrschertums«, prahlte er mit fremden Ketten, »haben wir nicht mit unserem Blut<br />

gegeizt für das Wohl aller Völker.« Den unterdrückten Nationalitäten wurde anempfohlen,<br />

aus Dankbarkeitsgefühl das Regime <strong>der</strong> Rechtlosigkeit zu erdulden.<br />

Wo <strong>der</strong> Ausweg? »... Fühlt ihr das große Brennen in euch ... fühlt ihr Kraft und Willen<br />

zu Ordnung, zu Opfern und Arbeit? werdet ihr hier den Anblick einer geschlossenen<br />

großen nationalen Kraft bieten? ... « Diese Worte wurden gesprochen am Tage des<br />

Moskauer Proteststreiks und in den Stunden <strong>der</strong> geheimnisvollen Verschiebung von<br />

Kornilows Reiterei. »Wir werden unsere Seele töten, aber den Staat retten.« Mehr<br />

vermochte dem Volke die Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht zu bieten.<br />

»Viele Provinzler in diesem Saale«, schreibt Miljukow, »sahen Kerenski zum erstenmal,<br />

- und sie gingen teils enttäuscht, teils empört fort. Vor ihnen stand ein junger<br />

Mensch mit zerquältern, blassem Gesicht in einer angelernten Schauspielerpose ...<br />

Dieser Mensch wollte gleichsam jemand einschüchtern und bei allen den Eindruck von<br />

Kraft und Macht im alten Stile erwecken. In Wirklichkeit erregte er nur Mitleid.«<br />

Das Auftreten <strong>der</strong> übrigen Regierungsmitglie<strong>der</strong> offenbarte weniger <strong>der</strong>en persönliche<br />

Unzulänglichkeit als den Bankrott des Versöhnlersystems. Die große Idee, die Innenminister<br />

Awksentjew vor das Forum des Landes stellte, war die Institution umherfahren<strong>der</strong><br />

Kommissare. Der Minister für Indusrrie redete den Unternehmern zu, sich auf bescheidene<br />

Gewinne zu beschränken. Der Finanzminister versprach Herabsetzung <strong>der</strong> direkten<br />

Besteuerung <strong>der</strong> besitzenden Klassen bei Erhöhung <strong>der</strong> indirekten Abgaben. Der rechte<br />

Flügel hatte die Unvorsichtigkeit, diese Worte mit stürmischem Applaus zu bedenken,<br />

den Zeretelli nicht ohne Verlegenheit als Mangel an Opfersinn enthüllte. Dem Ackerbauminister<br />

Tschernow war befohlen worden, überhaupt zu schweigen, um die Verbündeten<br />

von rechts nicht mit dem Gespenst <strong>der</strong> Bodenenteignung zu reizen. Im Interesse<br />

<strong>der</strong> nationalen Einheit hatte man beschlossen, zu tun, als existiere keine Agrarfrage. Die<br />

Versöhnler störten nicht. Die wahre Stimme des Muschiks wurde von <strong>der</strong> Tribüne herab<br />

nicht laut. Indes kam gerade in diesen Augustwochen die Agrarbewegung im ganzen<br />

Lande in Schwung, um sich im Herbst in einen unüberwindlichen Bauernkrieg zu<br />

verwandeln.<br />

Nach eintägiger Pause, die von beiden Seiten mit Auskundschaftung und Mobilisierung<br />

<strong>der</strong> Kräfte ausgefüllt war, wurde die Sitzung vom 14. in einer Atmosphäre äußerster<br />

Spannung eröffnet. Beim Erscheinen Kornilows in einer Loge bereitet ihm <strong>der</strong> rechte<br />

Teil <strong>der</strong> Beratung stürmischen Empfang. Der linke Teil bleibt fast vollzählig sitzen. Rufe<br />

»Aufstehen« werden durch rohe Schimpfworte aus <strong>der</strong> Offiziersloge ergänzt. Beim<br />

Erscheinen <strong>der</strong> Regierung bereitet die Linke Kerenski eine lange Ovation, an <strong>der</strong> sich,<br />

wie Miljukow bezeugt, »diesmal die Rechte, die sitzenblieb, demonstrativ nicht<br />

beteiligt«. In diesen feindlich zusammenstoßenden Beifallswellen konnte man die nahen<br />

Zusammenstöße des Bürgerkrieges vernehmen. Auf <strong>der</strong> Bühne aber saßen auch weiterhin<br />

unter dem Namen Regierung Vertreter bei<strong>der</strong> Hälften des gespaltenen Saales, indes <strong>der</strong><br />

Vorsitzende, <strong>der</strong> insgeheim Kriegsmaßnahmen gegen den Höchstkommandierenden traf,<br />

nicht für einen Augenblick vergaß, in seiner Figur »die Einheit des <strong>russischen</strong> Volkes« zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 424


verkörpern. Im Stil dieser Rolle verkündete Kerenski: »Ich schlage allen vor, in <strong>der</strong><br />

Person des hier anwesenden Höchstkommandierenden die für Freiheit und Heimat mutig<br />

sich opfernde Armee zu begrüßen.« An die Adresse <strong>der</strong> gleichen Armee war in <strong>der</strong> ersten<br />

Sitzung gesagt worden: »Unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde<br />

bespien.« Aber gleich, wie, die rettende Phrase ist gefunden: <strong>der</strong> Saal erhebt sich und<br />

klatscht stürmisch Beifall, - Kornilow wie Kerenski. Die Einheit <strong>der</strong> Nation ist wie<strong>der</strong><br />

einmal gerettet!<br />

Von <strong>der</strong> historischen Ausweglosigkeit an <strong>der</strong> Gurgel gepackt, entschlossen sich die<br />

herrschenden Klassen, zu den Mitteln <strong>der</strong> historischen Maskerade zu greifen. Sie glaubten<br />

offenbar, wenn sie noch einmal in allen ihren Verwandlungen vor dem Volke<br />

erscheinen, dadurch bedeuten<strong>der</strong> und stärker zu werden. Als Sachverständige für nationales<br />

Gewissen wurden die Vertreter aller vier Reichsdumas auf die Bühne gebracht. Die<br />

ehemals so scharfen inneren Differenzen waren verschwunden, alle Parteien <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie vereinigten sich mühelos auf dem »über Parteien und Klassen stehenden<br />

Programm« <strong>der</strong> im öffentlichen Lehen tätigen Männer, die einige Tage zuvor ein Begrüßungstelegramm<br />

Kornilow gesandt hatten. Im Namen <strong>der</strong> ersten Duma - 1906! - wies <strong>der</strong><br />

Kadett Nabokow »schon den Gedanken an die Möglichkeit eines Separatfriedens« weit<br />

von sich. Das hin<strong>der</strong>te den liberalen Politiker nicht, in seinen Erinnerungen zu erzählen,<br />

daß er und mit ihm viele führende Kadetten im Separatfrieden den einzigen Rettungsweg<br />

gesehen hatten. Ebenso for<strong>der</strong>ten auch die Vertreter <strong>der</strong> übrigen Zaren-Dumas von <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> in erster Linie den Bluttribut.<br />

»Ihr Wort, General!« Die Sitzung nähert sich dem kritische Moment. Was wird <strong>der</strong><br />

Höchstkommandierende sagen, dem Kerenski beharrlich, aber vergeblich zuredet, sich<br />

lediglich auf eine Skizzierung <strong>der</strong> Kriegslage zu beschränken? Miljukow berichtet als<br />

Augenzeuge: »Die kleine, untersetzte, aber gedrunger Gestalt des Mannes mit <strong>der</strong><br />

Kalmückenphysiognomie, dem scharfen, durchdringenden Blick <strong>der</strong> kleinen, schwarzen<br />

Augen, denen böse Feuerchen auffiammten, erschien auf <strong>der</strong> Rampe. Der Saal erbebt von<br />

Applaus. Alle stehen, mit Ausnahme ... <strong>der</strong> Soldaten. An die Adresse <strong>der</strong> sitzengebliebenen<br />

Delegierte erschallen von rechts mit Schimpfworten vermischte Entrüstungsschreie.<br />

»Knoten! ... Aufstehen!« Von den Bänken, wo man nicht aufsteht, antworten Stimmen:<br />

»Knechte!« Der Lärm geht in Sturm über. Kerenski beantragt, »den Ersten Soldaten <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung« ruhig anzuhören. Scharf, kurz, befehlend, wie es sich für<br />

einen General geziemt, <strong>der</strong> im Begriff ist, ein Land zu retten, verliest Kornilow einen<br />

Zettel, den <strong>der</strong> Abenteure Sawojko unter dem Diktat des Abenteurers Filonenko für ihn<br />

nie<strong>der</strong>geschrieben hat. Nach dem aufgestellten Programm war <strong>der</strong> Zettel jedoch viel<br />

gemäßigter als jener Plan, zu dem er den Auftakt bilden sollte. Den Zustand <strong>der</strong> Armee<br />

und die Lage an <strong>der</strong> Front genierte Kornilow sich nicht in den düstersten Farben zu schil<strong>der</strong>n<br />

mit <strong>der</strong> durchsichtigen Berechnung, zu schrecken. Den Kernpunkt <strong>der</strong> Rede bildete<br />

die Kriegsprognose: »... Der Feind klopft bereits an Rigas Tore, und wenn nicht die<br />

Standhaftigkeit unserer Armee die Möglichkeit schafft, uns an <strong>der</strong> Rigaer Küste zu<br />

halten, wird <strong>der</strong> Weg nach Petrograd offen sein. Kornilow versetzt hier <strong>der</strong> Regierung<br />

einen wuchtigen Hieb »Durch eine ganze Reihe gesetzgeben<strong>der</strong> Maßnahmen, nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung durchgeführt von Menschen, denen <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Armee und das Verständnis<br />

für sie fremd, ist diese Armee in einen Haufen Wahnsinniger verwandelt worden, dem<br />

ausschließlich sein Leben wertvoll ist.« Es ist klar: für Riga gibt's keine Rettung, und <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 425


Höchstkommandierende sagt es offen, herausfor<strong>der</strong>nd, vor <strong>der</strong> ganzen Welt, gleichsam<br />

die Deutschen einladend, die schutzlose Stadt zu nehmen. Und Petrograd? Kornilows<br />

Gedanke ist <strong>der</strong>: Erhalte ich die Möglichkeit, mein Programm durchzuführen, so ist<br />

Petrograd vielleicht noch zu retten; aber sputet euch! Die Moskauer Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

schrieb: »Was ist das - Warnung o<strong>der</strong> Drohung? Die Tarnopoler Nie<strong>der</strong>lage hatte<br />

Kornilow zum Höchstkommandierenden gemacht. Die Preisgabe Rigas kann ihn zum<br />

Diktator machen.« Dieser Gedanke deckt sich mit <strong>der</strong> Absicht <strong>der</strong> Verschwörer vollständiger,<br />

als es <strong>der</strong> argwöhnischste Bolschewik ahnen konnte.<br />

Die Kirchenversammlung entsandte jetzt eines ihrer reaktionärsten Mitglie<strong>der</strong>, den<br />

Erzbischof Platon, dem Höchstkommandierenden zu Hilfe. »Ihr habt soeben ein mör<strong>der</strong>isches<br />

Bild von <strong>der</strong> Armee gesehen«, sagte dieser Vertreter <strong>der</strong> »lebendigen Kräfte«,<br />

»und ich bin hier heraufgekommen, um von dieser Stelle aus Rußland zuzurufen: Gerate<br />

nicht in Verwirrung, Teures, fürchte dich nicht, Geliebtes. Sollte für Rußlands Rettung<br />

ein Wun<strong>der</strong> nötig sein, dann wird auf die Gebete <strong>der</strong> Kirche hin Gott ein Wun<strong>der</strong> tun.«<br />

Zum Schutze <strong>der</strong> Kirchengüter bevorzugten die rechtgläubigen Herrscher Kosakenkommandos.<br />

Der Kern <strong>der</strong> Rede bestand jedoch nicht darin. Der Erzbischof beklagte sich<br />

darüber, »er habe in den Referaten <strong>der</strong> Regierungsmitglie<strong>der</strong> nicht ein einziges Mal,<br />

auch nicht versehentlich, das Wort Gott vernommen«. Wie Kornilow die <strong>Revolution</strong>sregierung<br />

<strong>der</strong> Zersetzung <strong>der</strong> Armee beschuldigte, so überführte Platon »jene, die heute<br />

unser gottliebendes Volk verkörpern«, des verbrecherischen Unglaubens. Die Kirchenmänner,<br />

die sich vor Rasputin im Staube gekrümmt hatten, wagten es jetzt öffentlich, <strong>der</strong><br />

Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Gott zu predigen.<br />

Eine Deklararion von zwölf Kosakenarmeen verlas General Kaledin, dessen Name in<br />

jener Periode beharrlich unter den gewichtigsten Namen <strong>der</strong> Militärpartei genannt wurde.<br />

Kaledin, <strong>der</strong>, nach den Worten eines seiner Panegyriker, »nicht mochte und nicht<br />

verstand, <strong>der</strong> Menge nach dem Mund zu reden«, »entzweite sich deshalb mit General<br />

Brjussilow und wurde als dem Geiste <strong>der</strong> Zeit nicht entsprechend seines Armeekommandos<br />

enthoben«. Anfang Mai nach dem Don zurückgekehrt, war <strong>der</strong> Kosakengeneral bald<br />

danach zum Ataman <strong>der</strong> Dontruppen gewählt worden. Er hatte als Haupt des ältesten und<br />

stärksten <strong>der</strong> Kosakenheere den Auftrag, das Programm <strong>der</strong> privilegierten Kosakenspitzen<br />

zu präsentieren. Den Verdacht, konterrevolutionär zu sein, zurückweisend, erinnerte<br />

die Deklaration unsere Minister-<strong>Sozialisten</strong> unhöflich daran, daß sie in <strong>der</strong> Minute <strong>der</strong><br />

Gefahr zu den Kosaken gekommen waren, Hilfe zu suchen gegen die Bolschewiki. Der<br />

barsche General bestach unerwartet die Herzen <strong>der</strong> Demokraten, indem er weit vernehmbar<br />

das Wort aussprach, das laut zu nennen Kerenski nicht gewagt hatte: Republik. Die<br />

Mehrheit des Saales und beson<strong>der</strong>s eifrig Mmister Tschernow applaudierte dem<br />

Kosakengeneral, <strong>der</strong> ganz ernstlich von <strong>der</strong> Republik das for<strong>der</strong>te, was zu geben das<br />

Selbstherrschertum nicht mehr die Kraft gehabt hatte. Einst prophezeite Napoleon,<br />

Europa werde kosakisch o<strong>der</strong> republikanisch sein. Kaledin war willens, Rußland republikanisch<br />

zu sehen unter <strong>der</strong> Bedingung, daß es nicht aufhöre, kosakisch zu sein. Nachdem<br />

er die Worte verlesen: »Für Defätisten darf es keinen Platz in <strong>der</strong> Regierung geben«,<br />

wandte sich <strong>der</strong> undankbare General dreist dem unglückseligen Tschernow zu. Der<br />

Bericht einer liberalen Zeitung vermerkt: »Alle Blicke sind auf den tief über den Tisch<br />

gebeugten Tschernow gerichtet.« Durch keinerlei offizielle Stellung gebunden, entwikkelte<br />

Kaledin das Kriegsprogramm <strong>der</strong> Reaktion restlos: Komitees abschaffen, Macht <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 426


Vorgesetzten wie<strong>der</strong>herstellen, Hinterland <strong>der</strong> Front angleichen, Soldatenrechte revidieren,<br />

das heißt zunichte machen. Beifall von rechts vermischt sich mit Protesten und sogar<br />

Pfeifen von links. Die Konstituierende Versammlung müsse »im Interesse ruhiger und<br />

planmäßiger Arbeit« nach Moskau einberufen werden. Die vor <strong>der</strong> Beratung ausgearbeitete<br />

Rede hielt Kaledin einen Tag nach dem Generalstreik, so daß <strong>der</strong> Satz von <strong>der</strong><br />

»ruhigen Arbeit« in Moskau wie Hohn klang. Das Auftreten des Kosakenrepublikaners<br />

brachte schließlich die Temperatur im Saale zur Siedehitze und bewog Kerenski, Autorität<br />

zu entwickeln: »Es steht in dieser Versammlung niemand zu, sich mit For<strong>der</strong>ungen an<br />

die Regierung zu wenden.« Weshalb aber war dann die Beratung einberufen worden?<br />

Purischkewitsch, ein populärer Schwarzhun<strong>der</strong>tler, schrie von seinem Platze aus: »Wir<br />

spielen die Rolle von Regierungsassistenten!« Zwei Monate zuvor hatte dieser Pogromheld<br />

noch nicht gewagt, den Kopf vorzustecken.<br />

Die offizielle Deklaration <strong>der</strong> Demokratie, ein endloses Dokument, das auf alle Fragen<br />

Antwort zu geben suchte, ohne auch nur eine einzige zu beantworten, verlas<br />

Tschcheidse, <strong>der</strong> von links mit heißem Beifall begrüßt wurde. Rufe: »Es lebe <strong>der</strong> Führer<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>!« mußten den bescheidenen Kaukasier verlegen machen, <strong>der</strong><br />

sich am wenigsten als Führer fühlte. Im Tone einer Selbstverteidigung verkündete die<br />

Demokratie, daß sie »die Macht nicht angestrebt, kein Monopol für sich gewollt« habe.<br />

Sie sei bereit, jede Regierung zu unterstützen, die fähig wäre, die Interessen des Landes<br />

und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu schützen. Doch man dürfe die Sowjets nicht abschaffen: nur sie<br />

hätten das Land vor Anarchie bewahrt. Man dürfe die Armeekomitees nicht abschaffen:<br />

nur sie wären fähig, die Fortsetzung des Krieges zu sichern, Die privilegierten Klassen<br />

müßten auf manches verzichten im Interesse <strong>der</strong> Gesamtheit. Jedoch seien die Interessen<br />

<strong>der</strong> Gutsbesitzer vor Expropriationen zu schützen. Die Lösung nationaler Fragen müsse<br />

man bis zur Konstituierenden Versammlung vertagen. Die unaufsehiebbarsten Reformen<br />

indes müsse man durchführen. Von aktiver Friedenspolitik sagte die Deklaration kein<br />

Wort. Überhaupt war das Dokument gleichsam speziell darauf berechnet, ohne die<br />

Bourgeoisie zufriedenzustellen, die Empörung <strong>der</strong> Massen hervorzurufen.<br />

In einer ausweichenden und farblosen Rede erinnerte <strong>der</strong> Vertreter des Bauern-Exekutivkomitees<br />

an die Parole "Land und Freiheit", unter <strong>der</strong> »unsere besten Streiter<br />

umgekommen sind«. Der Bericht einer Moskauer Zeitung vermerkt eine Episode, die aus<br />

dem offiziellen Stenogramm herausgeblieben ist: »Der ganze Saal erhebt sich und bringt<br />

eine stürmische Ovation den in einer Loge sitzenden Schlüsselburgern dar.« Eine<br />

merkwürdige Grimasse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>! »Der ganze Saal« ehrt jene ehemaligen politischen<br />

Katorgasträflinge, die Alexejews, Kornilows, Kaledins, die des Bischofs Platon,<br />

Rodsjankos, Gutschkows und im Grunde auch Miljukows Monarchie in ihren Gefängnissen<br />

zu erdrosseln noch nicht Zeit gefunden hatte. Die Henker o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Komplicen<br />

möchten sich mit <strong>der</strong> Märtyreraureole <strong>der</strong> eigenen Opfer schmücken.<br />

Fünfzehn Jahre zuvor hatten die Führer <strong>der</strong> rechten Saalhälfte das zweihun<strong>der</strong>tjährige<br />

Jubiläum <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Festung Schlüsselburg durch Peter 1. gefeiert. Die 'Iskra',<br />

das Blatt des revolutionären Flügels <strong>der</strong> Sozialdemokratie, schrieb in jenen Tagen:<br />

»Wieviel Empörung weckt in <strong>der</strong> Brust diese patriotische Feier auf <strong>der</strong> verfluchten Insel,<br />

die <strong>der</strong> Hinrichtungsplatz von Minakow, Myschkin, Rogatschew, Stromberg, Uljanow,<br />

Generalow, Ossipanow, Andrjuschkin und Schewyrew gewesen ist; angesichts <strong>der</strong><br />

steinernen Särge, in denen Klimenko sich mit einem Strick erdrosselte, Gratschewski sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 427


mit Petroleum begoß und verbrannte, Sofia Ginsburg sich mit einer Schere erstach;<br />

unter den Mauern, hinter denen Schtschedrin, Juwatschew Konaschewitseh, Pochitinow,<br />

lgnatij Iwanow, Arontschik und Tichonowitsch in die endlose Nacht des Wahnsinns<br />

versanken und Dutzende an<strong>der</strong>er vor Erschöpfung, Skorbut und Schwindsucht umkamen.<br />

Gebt euch patriotischen Bacchanalen hin, denn heute seid ihr noch die Herren in Schlüsselburg!«<br />

Das Motto <strong>der</strong> 'lskra' waren Worte aus einem Briefe <strong>der</strong> Katorga-Dekabristen<br />

an Puschkin: »Aus dem Funken wird die Flamme auflo<strong>der</strong>n.« Sie ist aufgelo<strong>der</strong>t. Sie hat<br />

die Monarchie und ihr Schlüsselburger Zuchthaus in Asche verwandelt. Und heute bereiten<br />

im Saale <strong>der</strong> Staatsberatung die gestrigen Zuchthauswärter eine Ovation den durch<br />

die <strong>Revolution</strong> ihren Krallen entrissenen Opfern. Doch das Paradoxeste war immerhin,<br />

daß Gefängniswärter und Arrestanten sich vereinen im Gefühl gemeinsamen Hasses<br />

gegen die Bolschewiki, gegen Lenin, den einstigen Inspirator <strong>der</strong> 'lskra', gegen Trotzki,<br />

den Autor <strong>der</strong> oben zitierten Zeilen, gegen die rebellischen Arbeiter und ungehorsamen<br />

Soldaten, die die Gefängnisse <strong>der</strong> Republik füllten.<br />

Der Nationalliberale Gutschkow, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> dritter Duma, <strong>der</strong> seinerzeit die<br />

Zulassung <strong>der</strong> linken Deputierten zur Kommission <strong>der</strong> Landesverteidigung verhin<strong>der</strong>t<br />

hatte und dafür von den Versöhnlern zum ersten Kriegsminister <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ernannt<br />

worden war, hielt die interessanteste Rede, in <strong>der</strong> Ironie allerdings erfolglos, mit<br />

Verzweiflung rang. »Weshalb aber ... weshalb«, sagte er, auf Kerenskis Worte anspielend,<br />

»kamen zu uns die Vertreter <strong>der</strong> Macht in "tödlicher Bangigkeit" und im "tödlichen<br />

Entsetzen", mit krankhaften, ich würde sagen hysterischen Verzweiflungsschreien,<br />

weshalb fmden diese Unruhe, dieses Entsetzen und diese Schreie, ja weshalb finden sie<br />

auch in unserer Seele den gleichen beklemmenden Schmerz <strong>der</strong> Todesangst?« Im Namen<br />

jener, die früher geherrscht, kommandiert, Gnade geübt und gestraft, beichtete <strong>der</strong><br />

Moskauer Großkaufmann öffentlich Gefühle <strong>der</strong> »Todesangst«. »Diese Macht«, rief er,<br />

»ist <strong>der</strong> Schatten einer Macht.« Gutschkow hatte recht. Auch er selbst, ehemaliger<br />

Partner Stolypins, war nur noch ein Schatten seiner selbst.<br />

Just am Eröffnungstage <strong>der</strong> Beratung erschien in Gorkis Zeitung eine Darstellung, wie<br />

Rodsjanko sich an <strong>der</strong> Lieferung unbrauchbarer Kolben für Gewehrschäfte bereichert<br />

hatte. Die unzeitgemäße Enthüllung, die von Karachan, dem damals noch ganz<br />

unbekannten späteren Sowjetdiplomaten, stammte, hin<strong>der</strong>te den Kammerherrn nicht, in<br />

<strong>der</strong> Beratung würdevoll zur Verteidigung des patriotischen Programms <strong>der</strong> Kriegslieferanten<br />

aufzutreten. Das ganze Unglück sei daher gekommen, weil die Proviiorische<br />

Regierung nicht Hand in Hand mit <strong>der</strong> Reichsduma, »<strong>der</strong> einzigen in Rußland völlig<br />

rechtmäßigen Volksvertretung«, gearbeitet hatte. Das schien zu viel. Auf den linken<br />

Bänken lachte man. Es ertönten Rufe: »Dritter Juni!« Einstmals brannte dieses Datum -<br />

<strong>der</strong> 3. Juni 1907, wo die oktroyierte Konstitution zertrümmert wurde - wie ein Zuchthausmal<br />

an <strong>der</strong> Stirn <strong>der</strong> Monarchie und <strong>der</strong> sie stützenden Parteien. Jetzt hatte es sich in<br />

eine blasse Erinnerung verwandelt. Aber auch <strong>der</strong> mit seinem Baß polternde Rodsjanko,<br />

riesig und imposant, schien auf <strong>der</strong> Tribüne eher ein lebendes Monument <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

zu sein als eine politische Figur.<br />

Den Attacken von innen stellt die Regierung die gerade zur rechten Zeit eingetroffene<br />

Ermunterung von außen entgegen. Kerenski verliest das Begrüßungstelegramm des<br />

amerikanischen Präsidenten Wilson, welcher verspricht, »jegliche materielle und moralische<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Regierung Rußlands für den Erfolg <strong>der</strong> beide Völker vereinigen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 428


den, gemeinsamen Sache, mit <strong>der</strong> sie keine egoistischen Ziele verfolgen«. Der neue<br />

Beifall vor <strong>der</strong> diplomatischen Loge kann die Sorge nicht verscheuchen, die das<br />

Washingtoner Telegramm in <strong>der</strong> rechten Saalhälfte hervorruft: das Loblied auf die<br />

Selbstlosigkeit bedeutete für die <strong>russischen</strong> Imperialisten nur zu klar das Rezept <strong>der</strong><br />

Hungerdiät.<br />

Im Namen <strong>der</strong> Versöhnlerdemokratie verteidigte Zeretelli, ihr anerkannter Führer, die<br />

Sowjets und die Armeekomitees, wie man ehrenhalber eine im voraus verlorene Sache<br />

verteidigt. »Man darf dieses Gerüst noch nicht entfernen, solange das Gebäude des<br />

freien revolutionären Rußland noch nicht fertiggebaut ist.« Nach <strong>der</strong> Umwälzung hätten<br />

»die Volksmassen eigentlich niemand außer sich selbst vertraut«: nur die Bemühungen<br />

<strong>der</strong> Versöhnlersowjets hätten den besitzenden Klassen ermöglicht, sich oben zu halten,<br />

wenn auch in <strong>der</strong> ersten Zeit ohne den gewohnten Komfort. Zeretelli rechnete den<br />

Sowjets die »Übergabe sämtlicher Staatsfunktionen an die Koalitionsregierung« als<br />

beson<strong>der</strong>es Verdienst an: war etwa dieses Opfer »<strong>der</strong> Demokratie mit Gewalt entrissen«?<br />

Der Redner ähnelte einem Festungskommandanten, <strong>der</strong> sich öffentlich rühmt, die ihm<br />

anvertraute Festung kampflos ausgeliefert zu haben ... Und in den Julitagen - »wer hat<br />

damals mit seiner Brust das Land gegen Anarchie verteidigt?« Von rechts ertönte eine<br />

Stimme: »Kosaken und Junker.« Wie ein Peitschenhieb durchschnitten diese zwei Worte<br />

den demokratischen Strom von Gememplätzen. Der bürgerliche Flügel <strong>der</strong> Beratung<br />

begriff sehr wohl den von den Versöhnlem erwiesenen rettenden Dienst. Doch Dankbarkeit<br />

ist kein politisches Gefühl. Die Bourgeoisie beeilte sich, ihre Schlußfolgerungen aus<br />

den von <strong>der</strong> Demokratie ihr erwiesenen Diensten zu ziehen: das Kapitel <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki war abgeschlossen; auf die Tagesordnung kam das Kapitel <strong>der</strong><br />

Kosaken und Junker.<br />

Mit beson<strong>der</strong>er Behutsamkeit ging Zeretelli an das Problem <strong>der</strong> Macht heran. In den<br />

letzten Monaten hatten auf <strong>der</strong> Basis des allgemeinen Wahlrechts Wahlen zu Stadtdumas<br />

und teilweise auch zu Semstwos stattgefunden. Und nun? Die Vertreter <strong>der</strong> demokratischen<br />

Selbstverwaltungen standen in <strong>der</strong> Staatsberatung bei <strong>der</strong> linken Gruppe, gemeinsam<br />

mit den Sowjets und unter Leitung <strong>der</strong> gleichen Parteien, <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki. Beabsichtigen die Kadetten auf <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung zu bestehen: jegliche<br />

Abhängigkeit <strong>der</strong> Regierung von <strong>der</strong> Demokratie zu liquidieren, wozu dann die Konstituierende<br />

Versammlung? Zeretelli entwarf hier nur die Konturen dieser Erwägung; denn,<br />

zu Ende geführt, verurteilte sie die Politik <strong>der</strong> Koalition mit den Kadetten als sogar <strong>der</strong><br />

formalen Demokratie wi<strong>der</strong>sprechend. Die <strong>Revolution</strong> wird des Mißbrauchs von Reden<br />

über den Frieden beschuldigt? Aber haben denn die besitzenden Klassen nicht begriffen,<br />

daß die Friedensparole gegenwärtig das einzige Mittel des Kriegführens ist? Die<br />

Bourgeoisie begriff es; sie wollte nur, zusammen mit <strong>der</strong> Macht, auch dieses Mittel in die<br />

eigene Hand nehmen. Zeretelli schloß nur einem Hyrunus zu Ehren <strong>der</strong> Koalition. In <strong>der</strong><br />

zerspaltenen Versammlung, die keinen Ausweg sah, ertönten die versöhnlerischen<br />

Gememplätze noch ein letztes Mal als Hoffnungsmotiv. Aber auch Zeretelli war im<br />

Grunde genommen bereits sein eigenes Gespenst.<br />

Im Namen <strong>der</strong> rechten Saalhälfte antwortete <strong>der</strong> Demokratie Miljukow, <strong>der</strong> hoffnungslos<br />

nüchterne Vertreter <strong>der</strong> Klassen, denen die <strong>Geschichte</strong> den Weg <strong>der</strong> nüchternen<br />

Politik abgeschnitten hatte. In seiner "<strong>Geschichte</strong>" gibt <strong>der</strong> Führer des Liberalismus<br />

genügend ausdrucksvoll die eigene Rede in <strong>der</strong> Staatsberatung wie<strong>der</strong>. »Miljukow gab ...<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 429


eine gedrängte, auf Tatsachen gestützte Übersicht <strong>der</strong> Fehler <strong>der</strong> "revolutionären<br />

Demokratie" und zog das Fazit: ... Kapitulation in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> "Demokratisierung <strong>der</strong><br />

Armee", begleitet von Gutschkows Rücktritt; Kapitulation in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> "Zimmerwal<strong>der</strong>"<br />

Außenpolitik, begleitet vom Rücktritt des Ministers des Auswärtigen (Miljukow);<br />

Kapitulation vor den utopischen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Arbeiterklasse, begleitet vom Rücktritt<br />

Konowalows (Minister für Handel und Industrie); Kapitulation vor den radikalen For<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Nationalitäten, begleitet vom Rücktritt <strong>der</strong> übrigen Kadetten. Die fünfte<br />

Kapitulation, vor den Expropriationshestrebungen <strong>der</strong> Massen in <strong>der</strong> Agrarfrage ...<br />

führte zum Rücktritt des ersten Vorsitzenden <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Fürsten<br />

Lwow.« Das ist keine üble Krankheitsgeschichte. Was die Kur betrifft, ging Miljukow<br />

über Polizeimaßnahmen nicht hinaus: man muß die Bolschewiki erdrosseln. »Angesichts<br />

<strong>der</strong> augenscheinlichen Tatsachen«, entlarvte er die Versöhnler, »waren diese gemäßigteren<br />

Gruppen gezwungen, zuzugeben, daß es unter den Bolschewiki Verbrecher und<br />

Verräter gibt. Doch wollen sie bis jetzt noch immer nicht zugeben, daß <strong>der</strong> Grundgedanke,<br />

<strong>der</strong> diese Anhänger anarcho-syndikalistischer Kampfhandlungen verbindet, an sich<br />

verbrecherisch ist.« (Beifall.)<br />

Der allerdemütigste Tschernow erschien noch immer als ein Bindeglied, das die Koalition<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zusammenhielt. Fast sämtliche Redner des rechten Flügels:<br />

Kaledin, die Kadetten Maklakow und Astrow, versetzten Tschernow Schläge, dem im<br />

voraus befohlen worden war, zu schweigen, und den niemand unter seinen Schutz nahm.<br />

Miljukow seinerseits erinnerte daran, daß <strong>der</strong> Ackerbauminister »selbst in Zimmerwald<br />

und in Kienthal gewesen und dort die schärfsten Resolutionen befürwortete«. Das traf<br />

nicht die Augenbraue, son<strong>der</strong>n das Auge: bevor er Minister des imperialistischen Krieges<br />

ward, hatte Tschernow tatsächlich seine Unterschrift unter einige Dokumente <strong>der</strong><br />

Zimmerwal<strong>der</strong> Linken, das heißt <strong>der</strong> Fraktion Lenins, gesetzt.<br />

Miljukow verheimlichte <strong>der</strong> Beratung nicht, daß er von Anfang an Gegner <strong>der</strong> Koalition<br />

gewesen, weil er <strong>der</strong> Ansicht war, sie »werde nicht stärker, son<strong>der</strong>n schwächer sein<br />

als die aus <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hervorgegangene Regierung«, das heißt die Regierung<br />

Gutschkow-Miljukow. Und auch jetzt befürchte er »sehr, daß die gegenwärtige Zusammensetzung<br />

<strong>der</strong> Exekutoren ... keine Garantie für die Sicherheit <strong>der</strong> Person und des<br />

Eigentums bietet«. Wie dem auch sei, er, Miljukow, verspreche <strong>der</strong> Regierung Unterstützung<br />

»freiwillig und ohne Streit«. Die Treubrüchigkeit dieses großmütigen Versprechens<br />

wird sich nach zwei Wochen vollends enthüllen. Im Augenblick rief die Rede bei<br />

niemand Begeisterung hervor, gab aber auch keine Veranlassung zu stürmischen Protesten.<br />

Der Redner wurde mit recht trockenem Beifall empfangen und entlassen.<br />

Die zweite Rede Zeretellis lief hinaus auf Versicherungen, Schwüre, Wehklagen: das<br />

alles ist doch für euch: Sowjets, Komitees, demokratische Programme, pazifistische<br />

Parolen - all das schützt euch: »Wem war es leichter, die Truppen des <strong>russischen</strong> revolutionären<br />

Staates in Bewegung zu setzen - dem Kriegsminister Gutschkow o<strong>der</strong> dem<br />

Kriegsminister Kerenski?« Zeretelli wie<strong>der</strong>holte fast wörtlich Lenin, nur sah <strong>der</strong> Führer<br />

des Versöhnlertums dort Verdienst, wo <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Verrat brandmarkte.<br />

Der Redner entschuldigte sich ferner wegen <strong>der</strong> übermäßigen Milde in bezug auf die<br />

Bolschewiki: »Ich sage euch: die <strong>Revolution</strong> war unerfahren im Kampfe mit <strong>der</strong><br />

Anarchie, die von links kam.« (Stürmischer Beifall rechts.) Aber nachdem »die ersten<br />

Lehren empfangen wurden«, hat die <strong>Revolution</strong> ihren Fehler korrigiert: »das Ausnahme-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 430


gesetz ist bereits durchgeführt«. In den gleichen Stunden wurde Moskau insgeheim vom<br />

Sechser-Komitee geleitet - zwei Menschewild, zwei Sozialrevolutionäre, zwei Bolschewiki<br />

-, das die Stadt vor <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Umwälzung seitens jener schützte, denen gegenüber<br />

die Versöhnler sich verpflichteten, die Bolschewiki nie<strong>der</strong>zuschlagen.<br />

Den Clou des letzten Tages bildete das Auftreten des Generals Alexejew, dessen<br />

Autorität die Unfähigkeit <strong>der</strong> alten Militärkanzlei verkörperte. Unter maßlosem Beifall<br />

von rechts sprach <strong>der</strong> ehemalige Stabschef Nikolaus' II. und Organisator <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee von jenen Zerstörern, »in <strong>der</strong>en Taschen melodisch die deutsche<br />

Mark klingt«. Für die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Armee sei Disziplin nötig, für die Disziplin<br />

die Autorität <strong>der</strong> Vorgesetzten, wofür wie<strong>der</strong>um Disziplin nötig sei. »Nennen Sie die<br />

Disziplin die eiserne, nennen Sie sie die zielbewußte, nennen Sie sie die wahre ... die<br />

Fundamente dieser Disziplin sind die gleichen.« Für Alexejew endete die <strong>Geschichte</strong> mit<br />

dem Reglement des Innendienstes. »Ist es, meine Herren, tatsächlich so schwer, irgendein<br />

illusorisches Vorrecht - die Existenz von Organisationen [Lachen links] - für eine<br />

gewisse Zeit zu opfern.« (Lärm und Rufe links.) Der General redete gut zu, ihm die<br />

entwaffnete <strong>Revolution</strong> zur Benutzung auszuliefern, aber nicht für immer, Gott bewahre,<br />

nur »für eine gewisse Zeit«: nach Beendigung des Krieges wollte er den Gegenstand<br />

guterhalten zurückgeben. Doch Alexejew schloß mit einem nicht üblen Aphorismus:<br />

»Maßnahmen tun not, nicht halbe Maßnahmen.« Diese Worte trafen Tschcheidses<br />

Deklaration, die Provisorische Regierung, die Koalition, das gesamte Februarregime.<br />

Maßnahmen, nicht halbe Maßnahmen! - damit waren auch die Bolschewiki einverstanden.<br />

General Alexejew wurden sogleich Delegierte <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Moskauer<br />

linken Offiziere entgegengestellt, die »unseren höchsten Vorgesetzten, den Kriegsminister«,<br />

unterstützten. Nach ihnen sprach Leutnant Kutschin, ein alter Menschewik, als<br />

Redner »<strong>der</strong> Frontgruppe <strong>der</strong> Staatsberatung« im Namen <strong>der</strong> Soldatenmillionen, die sich<br />

jedoch wohl kaum im Spiegel des Versöhnlertums wie<strong>der</strong>erkannt haben dürften. »Wir<br />

alle haben das Interview des Generals Lukomski in den Zeitungen gelesen, wo es heißt:<br />

Wenn die Alliierten nicht helfen, wird Riga preisgegeben werden ...« Weshalb hat das<br />

höhere Kommando, das Mißerfolge und Nie<strong>der</strong>lagen stets verheimlichte, plötzlich das<br />

Bedürfnis verspürt, die Farben so düster aufzutragen? Die Zwischenrufe »Schande!« von<br />

links zielten auf General Kornilow, <strong>der</strong> am Vorabend in <strong>der</strong> Beratung den gleichen<br />

Gedanken entwickelt hatte. Kutschin berührte hier die empfindlichste Stelle <strong>der</strong> besitzenden<br />

Klassen: die Spitzen <strong>der</strong> Bourgeoisie, <strong>der</strong> Kommandobestand, die gesamte rechte<br />

Saalhälfte waren durch und durch von defätistischen Tendenzen durchdrungen, auf<br />

ökonomischem, politischem und militärischem Gebiet. Die Devise dieser soliden, ausgeglichenen<br />

Patrioten war geworden: je schlimmer je besser! Doch <strong>der</strong> Versöhnlerredner<br />

beeilte sich an dem Thema vorbeizugehen, das ihm selbst den Boden unter den Füßen<br />

entzog. »Ob wir die Armee retten werden, wissen wir nicht«, sagte Kutschin, »aber wenn<br />

wir sie nicht retten, wird auch das Kommando sie nicht retten ...« - »Es wird retten !«<br />

ruft man von den Offiziersbänken. Kutschin: »Nein, es wird nicht retten!« Beifallsausbruch<br />

bei <strong>der</strong> Linken. So tauschten Kommandeure und Komitees, auf <strong>der</strong>en Scheinsolidarität<br />

das Programm <strong>der</strong> Gesundung <strong>der</strong> Armee aufgebaut war, Feindseligkeiten aus. So<br />

tauschten die zwei Hälften <strong>der</strong> Beratung, die das Fundament <strong>der</strong> »ehrlichen Koalition«<br />

bildeten, gegeneinan<strong>der</strong> Rufe aus. Diese Zusammenstöße waren nur das schwache, unter-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 431


drückte, parlamentarisierte Echo jener Gegensätze, unter denen das Land erbebte.<br />

Der bonapartistischen Inszenierung gehorchend, wechselten Redner von rechts und<br />

links sich ab, nach Möglichkeit einan<strong>der</strong> ausgleichend. Wenn die Hierarchen <strong>der</strong> rechtgläubigen<br />

Kirchenversammlung Kornilow unterstützten, dann stellten sich die Vertreter<br />

<strong>der</strong> evangelischen Christen auf seiten <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. Die Delegierten <strong>der</strong><br />

Semstwos und <strong>der</strong> Stadtdumas traten paarweise auf: <strong>der</strong> eine, von <strong>der</strong> Mehrheit, schloß<br />

sich Tschcheidses Deklaration an, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Deklaration <strong>der</strong> Reichsduma.<br />

Die Wortführer <strong>der</strong> unterdrückten Nationalitäten beteuerten nacheinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung<br />

ihren Patriotismus, flehten jedoch, sie nicht länger zu betrügen: allerorts herrschen<br />

die gleichen Beamten, die gleichen Gesetze und die gleiche Bedrückung. »Zögern ist<br />

unmöglich. Von bloßen Versprechungen kann kein Volk leben.« Das revolutionäre<br />

Rußland müsse zeigen, daß es »Mutter«, nicht »Stiefmutter aller Völker« sei. Die<br />

erschütternden Vorwürfe und demütigen Beschwörungen fanden fast keinen mitfühlenden<br />

Wi<strong>der</strong>hall, auch nicht bei <strong>der</strong> linken Saalhälfte. Der Geist des imperialistischen<br />

Krieges ist am wenigsten vereinbar mit einer ehrlichen Politik in <strong>der</strong> Nationalitätenfrage.<br />

»Bisher haben die Nationalitäten Transkaukasiens keinen einzigen Schritt zum Separatismus<br />

unternommen«, erklärte <strong>der</strong> Menschewik Tschenkeli im Namen <strong>der</strong> Georgier,<br />

»und sie werden es auch fernerhin nicht tnn.« Diese mit Beifall aufgenommene<br />

Verpflichtung wird sich bald als unhaltbar erweisen: mit dem Moment <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

wird Tschenkeli einer <strong>der</strong> Führer des Separatismus werden. Ein Wi<strong>der</strong>spruch ist<br />

hier jedoch nicht enthalten: <strong>der</strong> Patriotismus <strong>der</strong> Demokratie geht nicht über den Rahmen<br />

des bürgerlichen Regimes hinaus.<br />

Unterdes betreten neue, tragischste Gespenster des Vergangenen die Bühne. Die<br />

Kriegskrüppel erheben ihre Stimme. Auch die sind nicht einig. Armlose, Beinlose,<br />

Blinde besitzen ihre Aristokratie und ihren Plebs. Im Namen des "gewaltigen" und<br />

mächtigen Verbandes <strong>der</strong> Georgsritter, seiner hun<strong>der</strong>tachtundzwanzig Zweigverbände an<br />

allen Orten Rußlands, unterstützt ein in seinem Patriotismus beleidigter Offizier den<br />

General Kornilow (Zustimmung rechts). Der Allrussische Kriegsinvalidenverband<br />

schließt sich durch seinen Delegierten Tschcheidses Deklaration an (Zustimmung links).<br />

Das Exekutivkomitee des soeben gegründeten Eisenbahnerverbandes, dem es (unter<br />

dem abgekürzten Namen "Wikschel") beschieden sein wird, in den nächsten Monaten<br />

eine bedeutende Rolle zu spielen, gibt seine Stimme <strong>der</strong> Versöhnlerdeklaration. Der<br />

Vorsitzende des Verbandes, gemäßigter Demokrat und äußerster Patriot, entwarf ein<br />

grelles Bild <strong>der</strong> konterrevolutionären Ränke bei <strong>der</strong> Eisenbahn: böswillige Angriffe auf<br />

Arbeiter, Massenentlassungen, willkürliche Abschaffung des Acht-Stunden-Tages,<br />

gerichtliche Verfolgungen. Geheime Mächte, geleitet aus verborgenen, aber einflußreichen<br />

Zentren, sind offensichtlich bestrebt, die hungrigen Eisenbahner zum Kampfe<br />

herauszufor<strong>der</strong>n. Der Feind ist unfaßbar. »Die Konterspionage schlummert, die Staatsanwaltschaft<br />

schläft.« Und dieser Gemäßigte <strong>der</strong> Gemäßigten schloß mit <strong>der</strong> Drohung:<br />

»Wenn die Hydra <strong>der</strong> Konterrevolution ihr Haupt erheben sollte, wer<strong>der</strong> wir aufstehen<br />

und sie mit unseren Händen erwürgen.«<br />

Unverzüglich tritt eine gewichtige Eisenbahnerleuchte mit Gegenbeschuldigungen auf:<br />

»Die reine Quelle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist vergiftet worden.« Weshalb? »Weil die idealisti-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 432


schen Ziele <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch materielle ersetzt wurden.« (Beifall rechts.) Im<br />

gleichen Geiste entlarvt <strong>der</strong> Kadett und Gutsbesitzer Roditschew die Arbeiter, welche<br />

sich die aus Frankreich gekommene »beschämende Parole: bereichert euch!« zu eigen<br />

gemacht hätten. Die Bolschewiki werden <strong>der</strong> Formel Roditschews bald einen außergewöhnlichen<br />

Erfolg bereiten, wenn auch einen an<strong>der</strong>en als den, auf den <strong>der</strong> Redner hoffte.<br />

Professor Oserow, ein Mann <strong>der</strong> reinen Wissenschaft und Delegierter <strong>der</strong> Bodenbanken,<br />

ruft aus: »Der Soldat im Schützengraben hat an den Krieg zu denken und nicht an<br />

Landaufteilung.« Nicht verwun<strong>der</strong>lich: die Konfiskation des Privatbodens würde die<br />

Konfiskation des Bankkapitals bedeuten: am 1. Januar 1915 betrug die Verschuldung des<br />

privaten Bodenbesitzes über dreieinviertel Milliarden Rubel!<br />

Rechts marschierten auf: die Vertreter von hohen Stäben, Industrieverbänden, Handelskammern<br />

und Banken, von dem Bund <strong>der</strong> Gestütbesitzer und an<strong>der</strong>en Organisationen,<br />

die Hun<strong>der</strong>te namhafter Persönlichkeiten umfaßten. Links Vertreter von Sowjets, Armeekomitees,<br />

Gewerkschaften, demokratischen Munizipalitäten, Kooperativen, hinter denen<br />

auf dem weiten Fond namenlose Millionen und Abermillionen sichtbar wurden. Zu<br />

normaler Zeit war das Übergewicht ständig auf seiten des kurzen Armes vom Hebel.<br />

»Man kann«, beson<strong>der</strong>s in einem solchen Moment, belehrte Zeretelli, »das spezifische<br />

Gewicht und die Bedeutung jener, die durch das Gewicht ihres Besitzes stark sind, nicht<br />

bestreiten.« Ja, es handelte sich aber darum, daß dies Gewicht immer ... unwägbarer<br />

wurde. Wie die Schwere nicht eine innere Eigenschaft <strong>der</strong> einzelnen Gegenstände ist,<br />

son<strong>der</strong>n nur das gegenseitige Verhältnis zwischen ihnen, so ist das soziale Gewicht keine<br />

angeborene Eigenschaft einer Person, son<strong>der</strong>n nur jene Klasseneigenschaft, die an<strong>der</strong>e<br />

Klassen ihr zuzuerkennen gezwungen sind. Die <strong>Revolution</strong> war jedoch dicht an die<br />

Grenze herangekommen, wo die Aberkennung <strong>der</strong> "grundlegendsten" Eigenschaften <strong>der</strong><br />

herrschenden Klassen beginnt. Darum wurde die Lage <strong>der</strong> namhaften Min<strong>der</strong>heit auf<br />

dem kurzen Hebelarm so unbequem. Die Versöhnler waren aus allen Kräften bestrebt,<br />

das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Aber auch sie hatten nicht mehr die Kraft: zu<br />

ungestüm drückten die Massens auf den langen Hebelarm. Wie behutsam verteidigten die<br />

Großagrarier, Bankiers und Industriellen ihre Interessen. Ja, verteidigten sie sie<br />

überhaupt noch? Fast nicht mehr. Sie schützten die Rechte des Idealismus, die Interessen<br />

<strong>der</strong> Kultur, die Vorrechte <strong>der</strong> zukünftigen Konstituierenden Versammlung. Ein Führer<br />

<strong>der</strong> Schwerindustrie, von Ditmar, schloß sogar mit einem Hymnus auf "Freiheit, Gleichheit<br />

und Brü<strong>der</strong>lichkeit". Wo waren sie hin, die metallischen Baritone des Profits, die<br />

heiseren Bässe <strong>der</strong> Bodenrente? Von <strong>der</strong> Bühne flossen nur noch die süßesten Tenöre <strong>der</strong><br />

Selbstlosigkeit. Aber Achtung: wieviel Galle und Essig unter dem Honigseim! Wie<br />

unerwartet schlagen die lyrischen Rouladen in wütendes Falsett um. Der Vertreter <strong>der</strong><br />

All<strong>russischen</strong> Landwirtschaftskammer, Kapazinski, aus ganzer Seele für eine spätere<br />

Agrarreform, vergißt nicht, »unserem reinen Zeretelli« für das Zirkular zu danken,<br />

welches das Recht verteidigt gegen die Anarchie. Aber Landkomitees? Die doch die<br />

Macht unmittelbar den Bauern geben? lhm, »dem Finsteren, kaum des Schreibens und<br />

Lesens Kundigen, <strong>der</strong> vor Glück darüber, daß er endlich ... Boden erhält, den Verstand<br />

verliert, diesem Menschen wird die Rechtsausübung im Lande übertragen«? Wenn die<br />

Gutsbesitzer im Kampf mit dein finsteren Bauern das Eigentum verteidigen, so nicht aus<br />

Selbstsucht, bewahre, nur um es später auf den Altar <strong>der</strong> Freiheit zu legen.<br />

Es sollte nun scheinen, die soziale Symbolik hätte sich fast erschöpft. Doch hier<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 433


überkommt Kerenski eine glückliche Inspiration. Er schlägt vor, noch einer Gruppe das<br />

Wort zu erteilen, »<strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>, und zwar: Breschko-<br />

Breschkowskaja, Krapotkin und Plechanow«. Die russische sozialrevolutionäre<br />

Bewegung, <strong>der</strong> russische Anarchismus und die russische Sozialdemokratie treten in<br />

Person <strong>der</strong> alten Generation auf; Anarchismus und Marxismus in Person ihrer angesehensten<br />

Begrün<strong>der</strong>.<br />

Krapotkin bittet, seine Stimme »anzuschließen jenen Stimmen, die das gesamte russische<br />

Volk aufriefen, ein für allemal mit dem Zimmerwaldismus zu brechen«. Der Apostel<br />

<strong>der</strong> Gewaltlosigkeit verbindet sich sogleich mit dem rechten Flügel <strong>der</strong> Beratung. Die<br />

Nie<strong>der</strong>lage droht nicht nur mit dem Verlust großer Territorien und mit Kontributionen:<br />

»Wißt, Genossen, es gibt etwas noch Schlimmeres als all dies: das ist die Psychologie<br />

des besiegten Landes.« Der alte Internationalist zieht die Psychologie des besiegten<br />

Landes ... jenseits <strong>der</strong> Grenze vor. Daran erinnernd, wie das besiegte Frankreich sich vor<br />

dem <strong>russischen</strong> Zaren erniedrigte - er sieht nicht voraus, wie sich das siegreiche Frankreich<br />

vor den amerikanischen Bankiers erniedrigen wird -, ruft Krapotkin aus: »Sollen<br />

auch wir das durchmachen? Um keinen Preis!« Es antwortet ihm Beifall des ganzen<br />

Saales. Welch rosige Perspektiven eröffnet dagegen <strong>der</strong> Krieg: »Alle beginnen zu begreifen,<br />

daß <strong>der</strong> Aufbau eines neuen Lebens, auf neuen sozialistischen Grundlagen, nottut ...<br />

Lloyd George hält vom sozialistischen Geist durchdrungene Reden ... - In England, in<br />

Frankreich, in Italien entsteht ein neues Verständnis für das Dasein, durchdrungen vom<br />

Sozialismus, lei<strong>der</strong> vom Staatssozialismus.« Wenn auch Lloyd George und Poincaré sich<br />

»lei<strong>der</strong>« vom Staatsprinzip noch nicht losgesagt haben, so hat sich Krapotkin ihnen<br />

ziemlich offen genähert. »Ich glaube«, sagt er, »daß wir den Rechten <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung nichts vorwegnehmen - ich anerkenne vollauf, daß in dieser Frage<br />

<strong>der</strong> souveräne Beschluß ihr gehören muß -, wenn wir, die Versammlung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Erde, laut unseren Wunsch aussprechen, daß Rußland als Republik proklamiertwerden<br />

möge.« Krapotkin besteht auf einer fö<strong>der</strong>ativen Republik: »Wir brauchen eine Fö<strong>der</strong>ation,<br />

wie wir sie in den Vereinigten Staaten sehen.« Derart hat sich die bakuninsche<br />

"Fö<strong>der</strong>ation freier Gemeinden" verwandelt! »Versprechen wir nun einan<strong>der</strong>«, beschwört<br />

Krapotkin zum Schluß, »daß wir uns nicht mehr in eine linke Hälfte dieses Theaters und<br />

in eine rechte teilen wollen ... Wir alle haben doch die gleiche Heimat, und zu ihr müssen<br />

wir stehen und, wenn notwendig, für sie fallen, wir alle, Rechte und Linke.« Gutsbesitzer,<br />

Industrielle, Generale, Georgsritter, alle, die Zimmerwald nicht anerkennen, bereiten dem<br />

Apostel des Anarchismus die verdiente Ovation.<br />

Die Prinzipien des Liberalismus existieren in <strong>der</strong> Wirklichkeit nicht an<strong>der</strong>s als in<br />

Verbindung mit dem Polizeigeist. Der Anarchismus ist <strong>der</strong> Versuch, den Liberalismus<br />

von Polizeigeist zu säubern. Aber wie Sauerstoff im reinen Zustande für die Atmung<br />

unerträglich ist, so bedeuten die vom Polizeigeist gereinigten Prinzipien des Liberalismus<br />

den Tod <strong>der</strong> Gesellschaft. Als karikaturenhafter Schatten des Liberalismus teilt <strong>der</strong><br />

Anarchismus im allgemeinen dessen Schicksal. Die Entwicklung <strong>der</strong> Klassengegensätze,<br />

die den Liberalismus tötet, tötet auch den Anarchismus. Wie jede Sekte, die ihre Lehre<br />

nicht auf die wirkliche Entwicklung <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft stützt, son<strong>der</strong>n auf<br />

die ad-adsurdum-Führung einer ihrer Eigenschaften, verflüchtigt sich <strong>der</strong> Anarchismus<br />

wie eine Seifenblase in dem Augenblick in die Luft, wo die sozialen Gegensätze zu<br />

Krieg o<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> führen. Der von Krapotkin verkörperte Anarchismus war<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 434


vielleicht das gespensterhafteste von allen Gespenstern <strong>der</strong> Staatsberatung.<br />

In Spanien, dem klassischen Lande des Bakunismus, wie<strong>der</strong>holen die Anarchosyndikalisten<br />

und die sogenannten "spezifischen" o<strong>der</strong> reinen Anarchisten, während sie auf<br />

Politik verzichten, in Wirklichkeit die Politik <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Menschewiki. Die pathetischen<br />

Verneiner des Staates verbeugen sich ehrfurchtsvoll vor ihm, sobald er ein wenig<br />

seine Haut erneuert. Während sie das Proletariat vor den Versuchungen <strong>der</strong> Macht<br />

warnen, unterstützen sie selbstlos die Macht <strong>der</strong> "linken" Bourgeoisie. Während sie die<br />

Gangräne des Parlamentarismus verfluchen, spielen sie insgeheim ihren Anhängern die<br />

Wahlflugblätter <strong>der</strong> Vulgärrepublikaner in die Hand. Welche Lösung die spanische<br />

<strong>Revolution</strong> auch bringen wird, den Anarchismus wird sie jedenfalls ein für allemal<br />

erledigen.<br />

Durch den Mund des vom ganzen Saal stürmisch begrüßten Plechanow - die Linken<br />

ehrten den alten Lehrer, die Rechten den neuen Verbündeten sprach <strong>der</strong> frühe russische<br />

Marxismus, dessen Perspektive jahrzehntelang in <strong>der</strong> politischen Freiheit mündete. Wo<br />

für die Bolschewiki die <strong>Revolution</strong> erst begann, war sie für Plechanow abgeschlossen.<br />

Während er den Industriellen empfahl, »Annäherung an die Arbeiterklasse zu suchen«,<br />

suggerierte Plechanow den Demokraten: »Ihr müßt euch unbedingt mit den Vertretern<br />

<strong>der</strong> Handels- und Industrieklasse verständigen.« Als abschreckendes Beispiel führte<br />

Plechanow »Lenin traurigen Angedenkens« an, <strong>der</strong> so tief gesunken sei, daß er das Proletariat<br />

aufrufe, »die politische Macht sofort zu ergreifen«. Eben um vor dem Machtkampf<br />

zu warnen, brauchte die Beratung Plechanow, <strong>der</strong> auch das letzte Rüstzeug des <strong>Revolution</strong>ärs<br />

an <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> abgelegt hatte.<br />

Am Abend des Tages, an dem die Delegierten im Namen »<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>«<br />

gesprochen hatten, erteilte Kerenski das Wort dem Vertreter <strong>der</strong> Landwirtschaftskammern<br />

und des Verbandes <strong>der</strong> Pferdezüchter, gleichfalls einem Krapotkin, einem an<strong>der</strong>en<br />

Mitghed <strong>der</strong> alten fürstlichen Familie, die, wenn man den Stammbaumlisten Glauben<br />

schenken soll, mehr Anrecht auf den <strong>russischen</strong> Thron besaß als die Romanows. »Ich bin<br />

kein Sozialist«, sagte <strong>der</strong> feudale Aristokrat, »doch ich achte den wahren Sozialismus.<br />

Wenn ich aber Expropriationen, Plün<strong>der</strong>ungen, Gewaltanmaßung sehe, dann muß ich<br />

sagen, daß die Regierung Menschen, die sich an den Sozialismus herangemacht haben,<br />

zwingen muß, <strong>der</strong> Sache des Aufhaus des Landes fernzubleiben.« Dieser zweite Krapotkin,<br />

<strong>der</strong> offen einen Pfeil gegen Tschernow abschoß, hatte gegen solche <strong>Sozialisten</strong> wie<br />

Lloyd George o<strong>der</strong> Poincaré nichts einzuwenden. Gemeinsam mit dem Antipoden aus<br />

seiner Familie, dem Anarchisten, verurteilte <strong>der</strong> Monarchist Krapotkin Zimmerwald,<br />

Klassenkampf, Landexpropriationen - ach, er war gewohnt, dies "Anarchie" zu nennen -,<br />

und er for<strong>der</strong>te gleichfalls Einigkeit und Sieg. Die Protokolle stellen lei<strong>der</strong> nicht fest, ob<br />

die Krapotkins einan<strong>der</strong> applaudierten.<br />

In <strong>der</strong> durch Haß zerspaltenen Beratung war so viel von Einigkeit gesprochen worden,<br />

daß sie sich, wenn auch für einen Augenblick, in dem unvermeidlichen symbolischen<br />

Händedruck verkörpern mußte. Über dieses Ereignis berichtete in beseelten Worten die<br />

Zeitung <strong>der</strong> Menschcwiki: »Während des Auftretens Bublikows spielt sich ein Vorfall ab,<br />

<strong>der</strong> einen tiefen Eindruck auf alle Teilnehmer <strong>der</strong> Beratung macht ... "Wenn gestern",<br />

erklärte Bublikow, "<strong>der</strong> edle Führer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, Zeretelli, seine Hand <strong>der</strong> Industriewelt<br />

entgegengestreckt hat, so mag er wissen, daß diese Hand nicht in <strong>der</strong> Luft hängenbleiben<br />

wird ..." Als Bublikow schließt, geht Zeretelli an ihn heran und drückt ihm die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 435


Hand. Stürmische Ovationen.«<br />

Wieviel Ovationen! Zuviel Ovationen. Acht Tage vor <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>ten Szene hatte <strong>der</strong><br />

gleiche Bublikow, eine gewichtige Gestalt im Eisenbahnwesen, auf dem Industriellenkongreß<br />

an die Adresse <strong>der</strong> Sowjetführer geschrien: »Weg ihr Unehrlichen,<br />

Unwissenden, alle jene, die ... in den Abgrund gestoßen haben!«, und seine Worte waren<br />

in <strong>der</strong> Moskauer Atmosphäre noch nicht verklungen. Der alte Marxist Rjasanow, <strong>der</strong> als<br />

Mitglied einer Gewerkschaftsdelegation an <strong>der</strong> Beratung teilnahm, erinnerte sehr zur<br />

rechten Zeit an den Kuß des Lyoner Bischofs Lamourette: »an jenen Kuß, den zwei Teile<br />

<strong>der</strong> Nationalversammlung austauschten - nicht Arbeiter und Bourgeoisie, son<strong>der</strong>n zwei<br />

Teile <strong>der</strong> Bourgeoisie -, und ihr wißt, daß <strong>der</strong> Kampf niemals so wild entbrannte als nach<br />

diesem Kuß«. Mit ungewöhnlicher Offenheit gesteht Miljukow, die »Einigkeit war<br />

seitens <strong>der</strong> Industriellen unaufrichtig - aber praktisch notwendig für die Klasse, die<br />

soviel zu verlieren hatte. Eine solche Versöhnung mit Hintergedanken war auch <strong>der</strong><br />

berühmt gewordene Händedruck Bublikows.«<br />

Hat die Mehrheit <strong>der</strong> Teilnehmer an die Kraft von Händedruck und politischen Küssen<br />

geglaubt? Hat sie an sich selbst geglaubt? Ihre Gefühle waren wi<strong>der</strong>sprechend wie ihre<br />

Pläne. Zwar verspürte man in den einzelnen Reden, beson<strong>der</strong>s bei Sprechern <strong>der</strong> Randgebiete,<br />

noch das Zittern <strong>der</strong> ersten Begeisterungen, Hoffnungen und Illusionen. Jedoch<br />

ballten in <strong>der</strong> Versammlung, wo die linke Hälfte enttäuscht und demoralisiert, die rechte<br />

erbittert war, die Nachklänge <strong>der</strong> Märztage wie ein beim Scheidungsprozeß verlesener<br />

Briefwechsel von Verlobten. Die ins Reich <strong>der</strong> Gespenster entschwindenden Politiker<br />

versuchten mit gespensterhaften Mitteln ein gespenstisches Regime zu retten. Eine<br />

Todeskühle <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit wehte über <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> »Lebendigen<br />

Kräfte«, über <strong>der</strong> Parade <strong>der</strong> Gezeichneten.<br />

Ganz am Schluß <strong>der</strong> Beratung ereignete sich ein Zwischenfall, <strong>der</strong> die tiefe Kluft auch<br />

in <strong>der</strong> Gruppe zeigte, die als Muster staatlicher Geschlossenheit galt: im Kosakentum.<br />

Nagajew, ein junger Kosakenoffizier, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Sowjetdelegation angehörte, erklärte, das<br />

werktätige Kosakentum gehe nicht mit Kaledin: die Frontkämpfer hätten kein Vertrauen<br />

zu den Kosakenspitzen. Das war richtig und traf die empfindlichste Stelle. Der Zeitungsbericht<br />

schil<strong>der</strong>t weiter die stürmischste aller Szenen <strong>der</strong> Beratung. Die Linke klatscht<br />

Nagajew begeistert Beifall. Es werden Stimmen laut: »Ehre dem revolutionären<br />

Kosakentum.« Entrüstete Proteste von rechts: »Ihr werdet dafür Rede stehen!« Eine<br />

Stimme aus <strong>der</strong> Offiziersloge: »Die deutsche Mark.« Unvermeidlich als letztes patriotisches<br />

Argument haben diese Worte die Wirkung einer geplatzten Bombe. Im Saal<br />

entsteht höllischer Lärm. Die Sowjetdelegierten springen von ihren Plätzen auf und<br />

drohen mit den Fäusten gegen die Offiziersloge. Rufe: »Provokateure!« ... Unaufhörlich<br />

tönt die Glocke des Vorsitzenden. »Es scheint - noch ein Augenblick, und ein Handgemenge<br />

beginnt.«<br />

Nach all dem Vorgefallenen versicherte Kerenski in seiner Schlußrede: »Ich glaube<br />

und weiß sogar ... es ist ein großes Verständnis füreinan<strong>der</strong> erreicht worden, es ist eine<br />

große Achtung füreinan<strong>der</strong> erreicht worden ...« Noch nie zuvor hatte sich das Doppelwesen<br />

des Februarregimes zu solch wi<strong>der</strong>licher und zweckloser Verlogenheit erhoben. Die<br />

Stimme des Redners, <strong>der</strong> selbst nicht imstande ist, diesen Ton durchzuhalten, schlägt<br />

plötzlich bei den letzten Sätzen um in einen Schrei <strong>der</strong> Verzweiflung und Drohung. »Mit<br />

versagen<strong>der</strong> Stimme, die vom hysterischen Schrei bis zum tragischen Flüstern sinkt,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 436


droht Kerenski«, nach Miljukows Schil<strong>der</strong>ung, »dem eingebildeten Gegner, den er mit<br />

flackerndem Blick im Saale sucht ...« In Wahrheit wußte Miljukow besser als sonst<br />

jemand, daß <strong>der</strong> Gegner kein eingebildeter war. »Heute, Bürger <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Erde, will<br />

ich nicht mehr träumen ... Mag das Herz steinern werden .. «, raste Kerenski, »mögen<br />

alle jene Blumen und Träume vom Menschen verdorren (eine Frauenstimme von oben:<br />

"Nicht doch!"), die man heute, von diesem Kathe<strong>der</strong> hinab, mit Füßen trat. So werde ich<br />

selbst zu treten beginnen. Sie sollen nicht mehr sein. (Eine Frauenstimme von oben: "Sie<br />

dürfen das nicht tun, Ihr Herz wird es Ihnen nicht erlauben!") Ich werde die Schlüssel<br />

zum Herzen, das die Menschen liebt, weit wegwerfen, ich werde nur an den Staat<br />

denken.«<br />

Im Saal stand ein Schau<strong>der</strong>, <strong>der</strong> diesmal beide Hälften erfaßt hatte. Die soziale Symbolik<br />

<strong>der</strong> Staatsberatung endete mit einem unerträglichen Monolog aus einem Melodrama.<br />

Die Frauenstimme, die sich zur Verteidigung <strong>der</strong> Blumen des Herzens erhob, erklang wie<br />

ein Notschrei, wie SOS-Rufe <strong>der</strong> friedlichen, sonnigen, unblutigen Februarrevolution.<br />

Über die Staatsberatung fiel endlich <strong>der</strong> Theatervorhang.<br />

Kerenskis Verschwörung<br />

Die Moskauer Beratung hatte die Lage <strong>der</strong> Regierung nur verschlechtert, indem sie,<br />

nach Miljukows richtiger Definierung, offenbarte, daß »das Land in zwei Lager geteilt<br />

ist, zwischen denen es dem Wesen nach keine Versöhnung und Verständigung geben<br />

kann.« Die Beratung hob das Selbstgefühl <strong>der</strong> Bourgeoisie und verschärfte ihre<br />

Ungeduld. An<strong>der</strong>erseits gab sie <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Massen neuen Anstoß. Der Moskauer<br />

Streik eröffnete eine Periode beschleunigter Umgruppierung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

nach links. Die Bolschewiki wachsen von nun an unaufhaltsam. In den Massen halten<br />

sich nur noch die linken Sozialrevolutionäre und teilweise die linken Menschewiki. Die<br />

Petrogra<strong>der</strong> Organisation <strong>der</strong> Menschewiki kennzeichnet ihre politische Wandlung durch<br />

Streichung Zeretellis von <strong>der</strong> Kandidatenliste für die Stadtduma. Am 16. August verlangt<br />

die Petrogra<strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre mit zweiundzwanzig gegen eine<br />

Stimme die Auseinan<strong>der</strong>jagung des Offiziersverbandes beim Hauptquartier und sonstige<br />

entschiedene Maßnahmen gegen die Konterrevolution. Am 18. August stellt <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet, trotz Wi<strong>der</strong>spruch seines Vorsitzenden Tschcheidse, die Frage <strong>der</strong><br />

Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe auf die Tagesordnung. Vor <strong>der</strong> Abstimmung über die<br />

Resolution fragt Zeretelli herausfor<strong>der</strong>nd: »Und wenn eurem Beschluß die Abschaffung<br />

<strong>der</strong> Todesstrafe nicht folgen wird, werdet ihr etwa die Menge auf die Straße rufen, um<br />

den Sturz <strong>der</strong> Regierung zu for<strong>der</strong>n? ... « - »Ja«, rufen als Antwort die Bolschewiki, »ja,<br />

wir werden die Menge aufrufen und werden den Sturz <strong>der</strong> Regierung herbeizuführen<br />

suchen.« - »Ihr tragt jetzt den Kopf hoch«, sagt Zeretelli. Die Bolschewiki trugen mit den<br />

Massen den Kopf hoch. Die Versöhnler ließen den Kopf hängen, wenn die Massen ihn<br />

erhoben. Die For<strong>der</strong>ung nach Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe wird mit allen Stimmen, etwa<br />

900 gegen 4 Stimmen angenommen. Diese vier sind; ZeretelL Tschcheidse, Dan, Liber!<br />

Vier Tage später, auf dem Vereinigungskongreß <strong>der</strong> Menschcwiki und <strong>der</strong> ihnen nahestehenden<br />

Gruppen, wo, bei Opposition Martows, in den grundlegenden Fragen Zeretellis<br />

Resolutionen durchgingen, wurde die For<strong>der</strong>ung nach sofortiger Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe<br />

ohne Debatte angenommen: Zeretelli schwieg, bereits ohnmächtig, sich dem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 437


Ansturm zu wi<strong>der</strong>setzen.<br />

In die sich verdichtende politische Atmosphäre schnitten die Ereignisse an <strong>der</strong> Front<br />

ein. Am 19. August durchbrachen die Deutschen die russische Linie bei Üxküll, am 21.<br />

besetzten sie Riga. Die Erfüllung <strong>der</strong> Kornilowschen Prophezeiung bildete, wie vorher<br />

verabredet, das Signal zur politischen Offensive <strong>der</strong> Bourgeoisie. Die Presse verzehnfachte<br />

die Kampagne gegen die »nichtarbeitenden Arbeiter« und »nichtkämpfenden<br />

Soldaten«. Die <strong>Revolution</strong> wird für alles verantwortlich gemacht: sie hat Riga übergeben,<br />

sie ist bereit, Petrograd preiszugeben. Die Hetze gegen die Armee, ebenso wütend wie<br />

an<strong>der</strong>thalb bis zwei Monate zuvor, hatte diesmal nicht den Schatten einer Berechtigung.<br />

Im Juni hatten sich die Soldaten tatsächlich geweigert, vorzugehen: sie wollten nicht die<br />

Front aufwühlen, die Deutschen aus <strong>der</strong> Passivität heraustreiben, Kämpfe aufleben<br />

lassen. Bei Riga jedoch gehörte die Initiative des Angriffs dem Feinde, und die Soldaten<br />

waren an<strong>der</strong>er Stimmung. Gerade die am meisten durchpropagierten Teile <strong>der</strong> 12. Armee<br />

erlagen Panikgefühlen am wenigsten.<br />

Der Armeekommandierende, General Parski, rühmte sich, und nicht ganz grundlos, <strong>der</strong><br />

Rückzug vollziehe sich "musterhaft" und könne mit dem Rückzug aus Galizien o<strong>der</strong><br />

Ostpreußen nickt verglichen werden. Der Kommissar Wojtinski berichtete: »Die ihnen<br />

aufgetragenen Aufgaben im Durchbruchsgebiet erfüllen unsere Truppen ehrlich und<br />

wi<strong>der</strong>spruchslos, doch sind sie nicht imstande, dem Ansturm des Feindes lange zu wi<strong>der</strong>stehen,<br />

und gehen unter furchtbaren Verlusten schrittweise zurück. Ich erachte für<br />

notwendig, auf den äußersten Heldenmut <strong>der</strong> lettischen Schützen hinzuweisen, <strong>der</strong>en<br />

Reste trotz völliger Erschöpfung wie<strong>der</strong> in den Kampf eingesetzt wurden« ... Noch<br />

gehobener klang <strong>der</strong> Bericht des Armeekomiteevorsitzenden, des Mensche-wiken<br />

Kutschin: »Die Stimmung <strong>der</strong> Soldaten ist bewun<strong>der</strong>nswert. Nach dem Zeugnis von<br />

Komiteemitgliedem und Offizieren ist die Standhaftigkeit so groß wie nie zuvor.« Ein<br />

an<strong>der</strong>er Vertreter <strong>der</strong> gleichen Armee berichtete einige Tage später in <strong>der</strong> Bürositzung<br />

des Exekutivkomitees: »In <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong> Durchbruchslinie befand sich nur eine lettische<br />

Brigade, die fast durchweg aus Bolschewiki bestand .. . Als sie den Befehl erhielt,<br />

vorwärtszugehen, rückte [die Brigade] mit roten Bannem und Musikorchester vor und<br />

schlug sich außerordentlich tapfer.« Im gleichen Sinne, wenn auch zurückhalten<strong>der</strong>,<br />

schrieb später Stankewitsch: »Sogar im Armeestab, wo Personen saßen, die mit Vorbedacht<br />

eine Möghchkeit suchten, die Schuld auf die Soldaten abzuwälzen, konnte man mir<br />

keinen einzigen konkreten Fall von Nichterfüllung irgendeines Befehis, geschweige denn<br />

eines Kampfbefehls, nennen.« Bei <strong>der</strong> Mondsuner Operation bewiesen die Landungskommandos<br />

<strong>der</strong> Seeleute, wie aus offiziellen Dokumenten hervorgeht, bedeutende Standhaftigkeit.<br />

Für die Stimmung <strong>der</strong> Truppen, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> lettischen Schützen und baltischen<br />

Seeleute, war die Tatsache keineswegs gleichgültig, daß es diesmal unmittelbar um die<br />

Verteidigung zweier <strong>Revolution</strong>szentren ging: Riga und Petrograd. Die fortgeschritteneren<br />

Truppenteile waren inzwischen von jener boschewistischen Idee erfüllt, daß »das<br />

Bajonett in die Erde stecken« noch nicht bedeute, die Kriegsfrage lösen; daß <strong>der</strong> Kampf<br />

um den Frieden vom Kampf um die Macht unzertrennbar sei, das heißt von einer neuen<br />

<strong>Revolution</strong>.<br />

Wenn auch einzelne Kommissare, durch den Ansturm <strong>der</strong> Generale verängstigt, die<br />

Standhaftigkeit <strong>der</strong> Armee übertrieben, so bleibt immerhin die Tatsache bestehen, daß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 438


Soldaten und Matrosen die Befehle erfüllten und starben. Mehr konnten sie nicht tun.<br />

Doch eine Verteidigung im wahren Sinne des Wortes hat trotzdem nicht stattgefunden.<br />

So unwahrscheinlich es ist, die 12. Armee wurde völlig überrascht. Es fehlte an allem: an<br />

Menschen, Geschützen, Munition, Gasmasken. Der Nachrichtendienst funktionierte unter<br />

je<strong>der</strong> Kritik. Attacken mußten verschoben werden, weil man für die <strong>russischen</strong> Gewehre<br />

Patronen japanischen Musters geliefert hatte. Dabei handelte es sich nicht um einen<br />

zufälligen Frontabschnitt. Die Bedeutung des Verlustes von Riga war kein Geheimnis für<br />

das Oberkommando. Wie aber läßt sich <strong>der</strong> außerordentlich klägliche Zustand <strong>der</strong> Verteidigungskräfte<br />

und -mittel <strong>der</strong> 12. Armee erklären? »... Die Bolschewiki«, schreibt<br />

Stankewitsch, »verbreiteten bereits Gerüchte, wonach die Stadt den Deutschen absichtlich<br />

übergeben worden sei, da <strong>der</strong> Oberbefehl dieses Nest und diese Brutstätte des<br />

Bolschewismus loswerden wollte. Diese Gerüchte mußten Glauben finden in <strong>der</strong> Armee,<br />

die wußte, daß es eigentlich we<strong>der</strong> Verteidigung noch Wi<strong>der</strong>stand gegeben hatte.«<br />

Tatsächlich hatten sich bereits im Dezember 1916 die Generale Russki und Brjussilow<br />

darüber beklagt, Riga sei das »Unglück <strong>der</strong> Nordfront«, ein »durchpropagiertes Nest«,<br />

gegen das man nicht an<strong>der</strong>s als mit Erschießungen ankämpfen könne. Die Rigaer Arbeiter<br />

und Soldaten in die Lehre <strong>der</strong> deutschen Armeeokkupation zu geben, mußte <strong>der</strong><br />

geheime Traum vieler Generale <strong>der</strong> Nordfront sein. Selbstverständlich nahm niemand an,<br />

<strong>der</strong> Höchstkommandierende hätte Rigas Preisgabe befohlen. Doch alle Kommandeure<br />

hatten Kornilows Rede gelesen und das Interview seines Stabschefs Lukomski. Das<br />

ersetzte vollauf einen Befehl. Der Oberkommandierende <strong>der</strong> Nordfront, General<br />

Klembowski, gehörte zur engeren Verschwörerclique und erwartete mithin die Übergabe<br />

Rigas als das Signal zu rettenden Aktionen. Auch unter normaleren Verhältnissen hatten<br />

die <strong>russischen</strong> Generale Übergaben und Rückzüge bevorzugt. Jetzt, wo von ihnen die<br />

Verantwortung von vornherein durch das Hauptquartier abgenommen worden war und<br />

das politische Interesse sie auf den Weg des Defätismus stieß, unternahmen sie nicht<br />

einmal den Versuch einer Verteidigung. Ob <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e General passiver<br />

Sabotage <strong>der</strong> Verteidigung noch aktive Schädlingsarbeit hinzufügte, ist eine Frage<br />

zweiter Ordnung, ihrem Wesen nach schwer zu entscheiden. Es wäre jedoch naiv,<br />

anzunehmen, die Generale hätten sich gescheut, nach Kräften dem Schicksal in allen<br />

Fällen nachzuhelfen, wo ihre verräterischen Taten straflos bleiben konnten.<br />

Der amerikanische Joumalist John Reed, <strong>der</strong> zu sehen und zu hören verstand und <strong>der</strong><br />

ein unsterbliches Chronikbuch über die Tage <strong>der</strong> Oktoberrevolution hinterlassen hat, sagt<br />

geradeheraus daß ein großer Teil <strong>der</strong> besitzenden Klassen in Rußland den Sieg <strong>der</strong><br />

Deutschen einem Triumph <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorzog und sich nicht genierte, dies offen<br />

auszusprechen. »Ich hatte einmal Gelegenheit«, erzählt Reed unter an<strong>der</strong>en Beispielen,<br />

»einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns zu verbringen; beim Teetisch saßen<br />

elf Menschen. Der Gesellschaft wurde die Frage gestellt, wen sie vorzögen, Wilhelm<br />

o<strong>der</strong> die Bolschewiki? Zehn von elf entschieden sich für Wilhelm.« Der gleiche amerikanische<br />

Schriftsteller unterhielt sich an <strong>der</strong> Nordfront mit Offizieren, die »offen eine<br />

militärische Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen« 9 .<br />

Die von den Bolschewiki, und nicht von ihnen allein, erhobene politische Beschuldigung<br />

war vollauf begründet damit, daß die Übergabe Rigas dem Plan <strong>der</strong> Verschwörer<br />

entsprach und einen vorbestimmten Platz im Kalen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verschwörung einnahm. Das<br />

9 John Reed: "10 Tage, die die Welt erschütterten", (Auf <strong>der</strong> IS-CD-Rom), S. 17<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 439


schimmerte ganz klar zwischen den Worten <strong>der</strong> Moskauer Rede Kornilows hindurch. Die<br />

weiteren Ereignisse haben diese Seite <strong>der</strong> Sache restlos aufgehellt. Doch besitzen wir<br />

auch ein direktes Zeugnis, dem die Person des Zeugen eine für diesen Fall unbestreitbare<br />

Zuverlässigkeit verleiht. Miljukow erzählt in seiner "<strong>Geschichte</strong>": »In Moskau eben<br />

verwies Kornilow in seiner Rede auf jenen Moment, über den hinaus er entscheidende<br />

Schrittc zur "Rettung des Landes vor Untergang und <strong>der</strong> Armee vor Zerfall" nicht<br />

verschieben wollte. Diesen Moment bildete <strong>der</strong> von ihm vorausgesagte Fall Rigas. Diese<br />

Tatsache mußte, seiner Meinung nach, eine Flut patriotischer Erregung ... hervorrufen ...<br />

Wie Kornilow bei unserer Zusammenkunft in Moskau am 13. August mir persönlich<br />

sagte, wollte er dicse Gelegenheit nicht verpassen, und den Moment des offenen Konfliktes<br />

mit <strong>der</strong> Kerenski-Regierung stellte er sich im Geiste klar umrissen, bis auf das im<br />

voraus festgelegte Datum des 27. August, vor.« Kann man sich deutlicher ausdrücken?<br />

Zur Durchführung des Marsches auf Petrograd brauchte Kornilow die Übergabe Rigas<br />

einige Tage vor dem im voraus festgelegten Termin, Die Rigaer Positionen verstärken,<br />

ernste Verteidigungsmaßnahmcn treffen, hätte bedeutet, den Plan einer an<strong>der</strong>en, für<br />

Kornilow unermeßlich wichtigeren Kampagne zu stören. Wenn Paris eine Messe wert ist,<br />

so ist die Macht Riga wert.<br />

Während <strong>der</strong> Woche, die zwischen <strong>der</strong> Übergabe Rigas und Kornilows Aufstand<br />

verstrich, wurde das Hauptquartier Zentralreservoir für Verleumdung <strong>der</strong> Armee. Die<br />

Informationen des <strong>russischen</strong> Stabs und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Presse fanden sofort Wi<strong>der</strong>hall in<br />

<strong>der</strong> Ententepresse. Die <strong>russischen</strong> patriotischen Blätter ihrerseits druckten mit Entzücken<br />

Verhöhnungen und Beschinipfungen <strong>der</strong> 'Times', des 'Temps' o<strong>der</strong> des 'Matin' an die<br />

Adresse <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee nach. Die Soldatenfront erbebte vor Kränkung, Entrüstung<br />

und Abscheu. Kommissare und Komitees, durchwegs versöhnlerisch und patriorisch,<br />

fühlten sieh am empfindlichsten verletzt. Von allen Seiten kamen Proteste. Beson<strong>der</strong>s<br />

kraß war ein Schreiben des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Rumänischen Front, des Odessaer<br />

Militärbezirks und <strong>der</strong> Sebwarzmeerflotte, des sogenannten "Rumtscherods", das an das<br />

Zentral-Exekutivkoniitee die For<strong>der</strong>ung stellte: »Vor ganz Rußland den Heldenmut und<br />

die selbstlose Tapferkeit <strong>der</strong> Soldaten <strong>der</strong> Rumänischen Front anzuerkennen; die Pressehetze<br />

gegen die Soldaten einzustellen, welche täglich in Verteidigung des revolutionären<br />

Rußland zu Tausenden in erbitterten Kämpfeis ihr Leben lassen ...« Unter dem Einfluß<br />

<strong>der</strong> Proteste von unten traten die Versöhnlerspitzen aus ihrer Passivität heraus. »Es will<br />

scheinen, als existiere kein Schmutz, den die bürgerlichen Zeitungen nicht gegen die<br />

revolutionäre Armee schleu<strong>der</strong>ten«, schrieben die 'lswestja' über ihre Blockverbündeten.<br />

Aber nichts verfing. Die Hetze gegen die Armee bildete einen notwendigen Bestandteil<br />

jener Verschwörung, in <strong>der</strong>en Zentrum das Hauptquartier stand.<br />

Gleich nach <strong>der</strong> Räumung Rigas erteilte Kornilow telegraphisch Befehl, einige Soldaten<br />

vor den Augen <strong>der</strong> übrigen am Wege zu erschießen als warnendes Exempel.<br />

Kommissar Wojtinski und General Parski antworteten, daß sich ihrer Meinung nach aus<br />

dem Verhalten <strong>der</strong> Soldaten solche Maßnahmen keinesfalls rechtfertigen ließen. Außer<br />

sich erklärte Kornilow in <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> im Hauptquartier anwesenden Komiteevertreter,<br />

er werde Wojtinski und Parski vor Gericht stellen, weil sie keine wahrheitsgemäßen<br />

Berichte über die Lage in <strong>der</strong> Armee geben, das heißt, nach Stankewitschs<br />

Erläuterung, »die Schuld nicht auf die Soldaten abwälzen«. Zur Vervollständigung des<br />

Bildes muß hinzugefügt werden, daß Kornilow am gleichen Tage den Armeestäben<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 440


efohlen hatte, Listen <strong>der</strong> bolschewistischen Offiziere dem Hauptkomitee des Offizierverbandes<br />

einzuschicken, also <strong>der</strong> konterrevolutionären Organisation, an <strong>der</strong>en Spitze <strong>der</strong><br />

Kadett Nowossilzew stand und die <strong>der</strong> wichtigste Hebel <strong>der</strong> Verschwörung war. So <strong>der</strong><br />

Höehstkommandierende, »<strong>der</strong> Erste Soldat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«!<br />

Entschlossen, ein Zipfelehen des Vorhanges zu lüften, schrieben die 'Iswestja': »Eine<br />

finstere Clique, den höchsten Kommandostellen sehr nahestehend, leistet ungeheuerliche<br />

Provokationsarbeit« ... Mit »finstere Clique« war Kornilow und dessen Stab gemeint.<br />

Das Wetterleuchten des nahenden Bürgerkrieges erhellte in neuem Lichte nicht nur den<br />

heurigen, son<strong>der</strong>n auch den gestrigen Tag. lm Wege <strong>der</strong> Selbstverteidigung begannen die<br />

Versöhnler das verdächtige Verhalten des Kommandobestandes während <strong>der</strong> Junioffensive<br />

zu enthüllen. In die Presse drangen immer mehr Einzelheiten über die von den<br />

Stäben böswillig verleumdeten Divisionen und Regimenter. »Rußland hat das Recht, zu<br />

verlangen«, schrieben die 'Iswestja', »daß man ihm die ganze Wahrheit über unseren<br />

Julirückzug offenbart.« Diese Zeilen wurden von Soldaten, Matrosen, Arbeitern gierig<br />

gelesen, beson<strong>der</strong>s von jenen, die als angebliche Schuldige <strong>der</strong> Katastrophe an <strong>der</strong> Front<br />

noch immer die Gefängnisse füllten. Zwei Tage später sahen sich die 'lswestja' gezwungen,<br />

nunmehr offen zu erklären, »das Hauptquartier verfolgt mit seinen Meldungen ein<br />

bestimmtes politisches Spiel gegen die Provisorische Regierung und die revolutionäre<br />

Demokratie«. Die Regierung erschien in diesen Zeilen als unschuldiges Opfer <strong>der</strong> Ränke<br />

des Hauptquarriers. Dabei sollte man doch meinen, die Regierung hätte alle Möglichkeiten<br />

gehabt, die Generale in die Schranken zu weisen. Unterließ sie es, so deshalb, weil<br />

sie nicht wollte.<br />

In dem obenerwähnten Protest gegen die heimtückische Soldatenhetze wurde vom<br />

"Rumtscherod" mit beson<strong>der</strong>er Entrüstung darauf verwiesen, daß, »während die Berichte<br />

aus dem Hauptquartier ... den Heldenmut <strong>der</strong> Offiziere unterstreichen, sie offenbar<br />

absichtlich die Ergebenheit <strong>der</strong> Soldaten für die Sache <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

verkleinern«. Der Protest des "Rumtscherod" erschien in <strong>der</strong> Presse am 22. August, und<br />

am nächsten Tage wurde ein Son<strong>der</strong>befehl Kerenskis veröffentlicht, gewidmet <strong>der</strong><br />

Ehrung des Offiziersstandes, <strong>der</strong> »seit den ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Schmälerung<br />

seiner Rechte erleben mußte« sowie unverdiente Kränkungen seitens <strong>der</strong> Soldatenmasse,<br />

»die ihre Feigheit mit ideologischen Parolen verhüllte«. Während seine nächsten Gehilfen,<br />

Stankewitsch, Wojtinski und an<strong>der</strong>e, gegen die Soldatenhetze protestierten, schloß<br />

sich Kerenski demonstrativ <strong>der</strong> Hetze an, die er durch den provokatorischen Befehl als<br />

Kriegsminister und Regierungshaupt noch krönte. Später hat Kerenski eingestanden, daß<br />

er bereits Ende Juli »genaue Mitteilungen« in Händen gehabt hätte über die Offiziersverschwörung,<br />

die sieh um das Hauptquartier gruppierte. »Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes<br />

stellte«, nach Kerenskis Worten, »aus seiner Mitte die aktiven Verschwörer,<br />

seine Mitglie<strong>der</strong> waren lokale Agenten <strong>der</strong> Konspiration; sie gaben auch bei den legalen<br />

Aktionen des Verbandes den nötigen Ton an.« Das ist vollkommen richtig. Es muß nur<br />

hinzugefügt werden, daß <strong>der</strong> »nötige Ton« <strong>der</strong> Ton <strong>der</strong> Verleumdung gegen Armee,<br />

Konzitees und <strong>Revolution</strong> war, das heißt <strong>der</strong> gleiche Ton, von dem Kerenskis Befehl<br />

vom 23. August durchdrungen war.<br />

Wie ist dieses Rätsel zu erklären? Daß Kerenski keine überlegte und konsequente<br />

Politik trieb, ist unbestreitbar. Doch hätte er unzurechnungsfähig sein müssen, um, von<br />

<strong>der</strong> Offiziersverschwörung wissend, dein Säbel <strong>der</strong> Verschwörer den Kopf hinzuhalten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 441


und ihnen gleichzeitig zu helfen, sich zu maskieren. Die Lösung des auf den ersten Blick<br />

unfaßbaren Verhaltens Kerenskis ist in Wirklichkeit sehr einfach: er selbst war zu jener<br />

Zeit Teilnehmer <strong>der</strong> Verschwörung gegen das ausweglose Regime <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />

Als die Zeit <strong>der</strong> Geständnisse gekommen war, bekundete Kerenski, daß man ihm aus<br />

Kosakenkreisen, aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Offiziere und bürgerlichen Politiker mehr als einmal<br />

die persönliche Diktatur angetragen hatte. »Aber das fiel auf unfruchtbaren Boden« ...<br />

Kerenskis Position warjedenfalls <strong>der</strong>art, daß die Führer <strong>der</strong> Konterrevolution die<br />

Möglichkeit hatten, ohne etwas zu riskieren, mit ihm Meinungen über einen Staatsstreich<br />

auszutausehen. »Die ersten Gespräche üher das Thema Diktatur in Form von behutsamen<br />

Sondierungen des Bodens« begannen, nach Denikins Worten, Anfang Juni, das<br />

heißt während <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front. An diesen Gesprächen beteiligte<br />

sich nicht selten auch Kerenski, wobei es sich in solchen Fällen von selbst verstand,<br />

insbeson<strong>der</strong>e für Kerenski, daß gerade er im Zentrum <strong>der</strong> Diktatur stehen werde. Suchanow<br />

sagt über Kerenski treffend: »Er war Kornilowianer - nur unter <strong>der</strong> Bedingung, daß<br />

an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Kornilowiade er selbst stände.« In den Tagen des Zusammenbruchs <strong>der</strong><br />

Offensive hatte Kerenski Kornilow und an<strong>der</strong>en Generalen viel mehr versprochen, als er<br />

zu halten vermochte. »Bei seinen Frontreisen«, erzählt General Lukomski, »pflegte<br />

Kerenski Mut zu fassen und mit seinen Begleitern wie<strong>der</strong>holt die Fragen <strong>der</strong> Schaffung<br />

einer festen Macht, <strong>der</strong> Bildung eines Direktoriums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Machtübertragung an einen<br />

Diktator zu diskutieren.« Seinem Charakter entsprechend brachte Kerenski in diese<br />

Unterhaltungen ein Element von Fornilosigkeit, Unordentlichkeit, Dilettantismus hinein.<br />

Die Generale hingegen neigten zu stabsmäßiger Formvollendung.<br />

Die zwanglose Teilnahme Kerenskis an den Unterhaltungen <strong>der</strong> Generale legalisierte<br />

sozusagen die Idee <strong>der</strong> Militärdiktatur, <strong>der</strong> man aus Vorsicht gegen die noch nicht<br />

erwürgte <strong>Revolution</strong> am häufigsten den Namen Direktorium verlieh. In welchem Maße<br />

hier historische Reminiszenzen an Frankreichs Regierung nach dem Thermidor eine<br />

Rolle spielten, ist schwer zu sagen. Aber neben <strong>der</strong> reinen Wortmaskierung bot das<br />

Direktorium für den Anfang die unbestreitbare Bequemlichkeit, daß es die Koordinierung<br />

persönlicher Ehrgeize erlaubte. Im Direktorium sollte sich nicht nur Platz für<br />

Kerenski und Kornilow, son<strong>der</strong>n auch für Sawinkow, sogar für Filonenko finden:<br />

überhaupt für Menschen von »eisernem Willen«, wie sich die Direktoriumskandidaten<br />

selbst ausdrückten. Je<strong>der</strong> von ihnen hätschelte im stillen den Gedanken, von <strong>der</strong> Kollektivdiktatur<br />

später zur persönlichen Diktatur übergehen zu können.<br />

Für das Verschwörergeschäft mit dem Hauptquartier hatte Kerenski folglich keinerlei<br />

schroffe Wendung nötig, es genügte, das einmal Begonnene zu entwickeln und fortzusetzen.<br />

Er glaubte dabei, er werde <strong>der</strong> Verschwörung <strong>der</strong> Generale die nötige Richtung<br />

geben können, indem er sie nicht nur auf die Bolschewiki, son<strong>der</strong>n in gewissen Grenzen<br />

auch auf die Köpfe <strong>der</strong> eigenen Verbündeten und lästigen Vormün<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong><br />

Versöhnler sausen lassen würde. Kerenski manövrierte so, daß er, ohne die Verschwörer<br />

restlos zu entlarven, sie gehörig schrecken und in seine Absichten einbeziehen konnte. Er<br />

ging dabei bis hart an jene Grenze, hinter <strong>der</strong> das Regierungshaupt sich bereits in einen<br />

illegalen Konspirator verwandelt. »Kerenski bedurfte eines energischen Druckes von<br />

rechts, seitens <strong>der</strong> kapitalistischen Cliquen, alliierten Gesandtschaften und beson<strong>der</strong>s<br />

des Hauptquartiers«, schrieb Trotzki Anfang September, »damit ihm geholfen werde,<br />

sich restlos die Hände frei zu machen. Kerenski wollte die Meuterei <strong>der</strong> Generale zur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 442


Festigung seiner Diktatur ausnutzen.«<br />

Einen Wendepunkt bildete die Staatsberatung. Nachdem er aus Moskau neben <strong>der</strong><br />

Illusion <strong>der</strong> unbeschränkten Möglichkeiten das erniedrigende Gefühl persönlicher<br />

Nie<strong>der</strong>lage mitgenommen hatte, entschloß sich Kerenski, endlich alle Zweifel beiseitezuschieben<br />

und sich ihnen in ganzer Größe zu zeigen. Welchen »ihnen«? Allen. In erster<br />

Linie den Bolschewiki, die unter die prächtige nationale Inszenierung die Mine des<br />

Generalstreiks gelegt hatten. Damit gleichzeitig ein für allemal die Rechten treffend, alle<br />

jene Gutschkow und Miljukow, die ihn nicht ernst nehmen. Schließlich auch »ihnen«<br />

gründlich Angst einjagen, den Versöhnlerschulmeistern von <strong>der</strong> Art des verhaßten<br />

Zeretelli, <strong>der</strong> ihn, den Auserwählten <strong>der</strong> Nation, sogar in <strong>der</strong> Staatsberatung zu korrigieren<br />

und zu belehren gewagt hat. Kerenski beschloß fest und endgültig, <strong>der</strong> ganzen Welt<br />

zu zeigen, daß er gar kein »Hysteriker«, kein »Harlekin«, keine »Ballerina« sei, wie<br />

immer offener ihn die Garde- und Kosakenoffiziere nannten, son<strong>der</strong>n ein eiserner Mann,<br />

<strong>der</strong> sein Herz fest verschloß und den Schlüssel ins Meer warf trotz allem Flehen <strong>der</strong><br />

schönen Unbekannten in <strong>der</strong> Theaterloge.<br />

Stankewitsch bemerkt bei Kerenski in jenen Tagen das »Bestreben«, irgendein neues<br />

Wort zu sagen, das <strong>der</strong> ganzen Unruhe und Verwirrung des Landes entsprechen könnte.<br />

Kerenski ... beschloß, Disziplinarstrafen in <strong>der</strong> Armee einzuführen. Wahrscheinlich war<br />

er bereit, <strong>der</strong> Regierung auch noch an<strong>der</strong>e entschiedene Maßnahmen vorzuschlagen ...<br />

Stankewitsch kannte nur jenen Teil <strong>der</strong> Absichten seines Chefs, den dieser ihm mitzuteilen<br />

für angebracht hielt. In Wirklichkeit gingen Kerenskis Absichten zu jener Zeit bereits<br />

viel weiter. Er hatte beschlossen, mit einem Schlag Kornilow den Boden unter den Füßen<br />

wegzuziehen, indem er dessen Programm durchführte und damit die Bourgeoisie an sich<br />

fesselte. Gutschkow hatte nicht vermocht, die Truppen für die Offensive in Bewegung zu<br />

setzen, er, Kerenski, hatte es vermocht. Kornilow kann Kornilows Programm nicht<br />

durchführen. Er, Kerenski, wird es können. Der Moskauer Streik hat allerdings daran<br />

erinnert, daß auf diesem Wege Hin<strong>der</strong>nisse erwachsen können. Doch die Julitage haben<br />

gezeigt, daß man auch damit fertigzuwerden vermag. Nur muß man diesmal ganze Arbeit<br />

machen und den Freunden von links nicht erlauben, einem in den Arm zu fallen. Vor<br />

allem ist es notwendig, die Petrogra<strong>der</strong> Garnison restlos zu erneuern: die revolutionären<br />

Regimenter durch »gesunde« Truppenteile zu ersetzen, die sich nicht nach Sowjets<br />

umschauen würden. Über diesen Plan sich mit dem Exekutivkomitee zu verständigen,<br />

besteht keine Möglichkeit, ist auch nicht nötig: die Regierung ist als unabhängig<br />

anerkannt und in diesem Zeichen in Moskau gekrönt worden. Allerdings verstehen die<br />

Versöhnler die Unabhängigkeit nur formal, als Mittel zur Versöhnung <strong>der</strong> Liberalen.<br />

Aber er, Kerenski, wird das Formale in Materielles umwandeln: hat er doch nicht<br />

umsonst in Moskau gesagt, er sei we<strong>der</strong> mit den Rechten, noch mit den Linken, und dies<br />

sei seine Stärke. Jetzt wird er es durch die Tat zeigen.<br />

Die Linien des Exekutivkomitees und Kerenskis gingen in den Tagen nach <strong>der</strong><br />

Beratung immer weiter auseinan<strong>der</strong>: die Versöhnler bekamen Angst vor den Massen,<br />

Kerenski - vor den besitzenden Klassen. Die Volksmassen for<strong>der</strong>ten die Abschaffung <strong>der</strong><br />

Todesstrafe an <strong>der</strong> Front. Kornilow, Kadetten und Ententegesandtschaften <strong>der</strong>en Einführung<br />

im Hinterlande.<br />

Am 19. August telegraphierte Kornilow an den Ministerpräsidenten: »Erkläre<br />

dringend für notwendig, den Petrogra<strong>der</strong> Bezirk mir zu unterstellen.« Das Hauptquartier<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 443


streckte offen die Hand nach <strong>der</strong> Hauptstadt aus. Am 24. August faßte das Exekutivkomitee<br />

Mut, in aller Öffentlichkeit zu for<strong>der</strong>n; die Regierung möge den »konterrevolutionären<br />

Machinationen« ein Ende machen und an die Verwirklichung <strong>der</strong> demokratischen<br />

Umgestaltungen herangehen. Das war eine neue Sprache. Kerenski hatte zu wählen<br />

zwischen <strong>der</strong> Anpassung an die demokratische Plattform, die bei all ihrer Dürftigkeit<br />

zum Bruch mit den Liberalen und den Generalen führen konnte, und Kornilows<br />

Programm, das unabwendbar zum Zusammenstoß mit den Sowjets führen mußte.<br />

Kerenski beschloß, Kornilow, Kadetten und Entente die Hand entgegenzustrecken. Den<br />

offenen Kampf gegen rechts wollte er um jeden Preis vermeiden.<br />

Zwar wurde am 21. August über die Großfürsten Michail Alexandrowitseh und Pawel<br />

Alexandrowitseh Hausarrest verhängt. Einige an<strong>der</strong>e Personen wurden dabei in Haft<br />

genommen. Doch war all das zu unerust, und die Verhafteten mußten gleich wie<strong>der</strong><br />

freigelassen werden: »... Es stellte sich heraus«, erklärte Kerenski bei seinen späteren<br />

Aussagen in Sachen Kornilow, »daß wir absichtlich auf eine falsche Fährte gelenkt<br />

worden waren,« Man hätte hinzufügen müssen: unter Mitwirkung Kerenskis. War es<br />

doch ganz offenkundig, daß es für die ernsten Verschwörer, das heißt für die gesamte<br />

rechte Hälfte <strong>der</strong> Moskauer Beratung, gar nicht um die Wie<strong>der</strong>errichtung <strong>der</strong> Monarchie<br />

ging, son<strong>der</strong>n um die Aufrichtung <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> Bourgeoisie über das Volk. In diesem<br />

Sinne hatten Kornilow und alle seine Gesinnungsgenossen nicht ohne Empörung die<br />

Anschuldigung »konterrevolutionärer«, das heißt monarchistischer Absichten zurückgewiesen.<br />

Allerdings tuschelten irgendwo in Hinterhöfen ehemalige Würdenträger, Flügeladjutanten,<br />

Hofdamen, Hofschwarzhun<strong>der</strong>t, Quacksalber, Mönche, Ballerinen. Doch<br />

dies war eine völlig belanglose Größe. Der Sieg <strong>der</strong> Bourgeoisie konnte nicht an<strong>der</strong>s<br />

kommen als in <strong>der</strong> Form einer Militärdiktatur. Die Frage <strong>der</strong> Monarchie hätte nur auf<br />

einer späteren Etappe entstehen können, wie<strong>der</strong>um jedoch auf Basis <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Konterrevolution, nicht aber Rasputinscher Hofdamen. Für die gegebene Periode war<br />

Realität <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Bourgeoisie gegen das Volk, unter Kornilows Banner. Während<br />

er mit diesem Lager ein Bündnis suchte, war Kerenski um so geneigter, sich durch die<br />

fiktive Verhaftung <strong>der</strong> Großfürsten gegen den Argwohn <strong>der</strong> Linken zu decken. Die<br />

Mechanik war <strong>der</strong>art durchsichtig, daß die Moskauer Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki bereits<br />

damals schrieb: »Einige himlose Puppen aus <strong>der</strong> Sippschaft <strong>der</strong> Romanows verhaften<br />

und ... die Militärclique aus den Kommandospitzen mit Kornilow voran in Freiheit belassen,<br />

das heißt, das Volk betrügen« ... Deshalb eben waren die Bolschewiki verhaßt, weil<br />

sie alles sahen und über alles laut sprachen.<br />

Inspirator und Leiter Kerenskis in jenen kritischen Tagen wird Sawinkow, Abenteurer<br />

von großem Format, <strong>Revolution</strong>är vom Sportlertyp, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Schule des individuellen<br />

Terrors Verachtung für die Masse mitgebracht hatte; ein Mann von Begabung und<br />

Willen, was ihn übrigens nicht hin<strong>der</strong>te, jahrelang ein Werkzeug in den Händen des<br />

berühmten Provokateurs Asew zu sein; Skeptiker und Zyniker, <strong>der</strong> sich, und nicht ohne<br />

Grund, für berechtigt hielt, auf Kerenski von oben herab zu blicken und, die rechte Hand<br />

am Mützenschirm, ihn mit <strong>der</strong> linken ehrerbietigst an <strong>der</strong> Nase herumzuführen. Dem<br />

Kerenski imponierte Sawinkow als Mann <strong>der</strong> Tat, dem Kornilow als waschechter<br />

<strong>Revolution</strong>är von historischem Namen. Miljukow gibt eine interessante Darstellung <strong>der</strong><br />

ersten Begegnung des Kommissars mit dem General wie<strong>der</strong>, nach Sawinkows eigenen<br />

Worten. »General«, sagte Sawinkow, »ich weiß, sollten sich die Verhältnisse so gestal-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 444


ten, daß Sie mich erschießen müßten, Sie werden mich erschießen.« Dann - nach einer<br />

Pause, fügte er hinzu: »Würden sich aber die Verhältnisse so gestalten, daß ich Sie<br />

erschießen müßte, ich würde es ebenfalls tun.« Sawinkow gehörte zur Literatur, kannte<br />

Corneille und Hugo und neigte zum erhabenen Genre. Kornilow plante, die <strong>Revolution</strong><br />

abzuschlachten, ohne Rücksicht auf die Formeln des Pseudoklassizismus und <strong>der</strong><br />

Romantik. Aber auch <strong>der</strong> General war nicht unzugänglich für den Zauber eines »starken<br />

künstlerischen Stils«: die Worte des ehemaligen Terroristen mußten das in dem ehemaligen<br />

Schwarzhun<strong>der</strong>tler lebende heroische Prinzip angenehm kitzeln.<br />

In einem später erschienen Zeitungsartikel, offenkundig von Sawinkow inspiriert,<br />

vielleicht auch von ihm geschrieben, wurden seine eigenen Pläne ziemlich durchsichtig<br />

erläutert. »Noch als er Kommissar war«, sagte <strong>der</strong> Artikel, »... kam Sawinkow zu <strong>der</strong><br />

Überzeugung, daß die Provisorische Regierung nicht imstande war, das Land aus <strong>der</strong><br />

schwierigen Lage herauszuführen. Hier mußten an<strong>der</strong>e Kräfte wirken. Jedoch konnte die<br />

gesamte Arbeit in dieser Richtung nur unter dem Banner <strong>der</strong> Provisorischeu Regierung,<br />

insbeson<strong>der</strong>e Kerenskis, vollbracht werden. Das wäre die revolutionäre Diktatur<br />

gewesen, verwirklicht durch eine eiserne Hand. Diese Hand sah Sawinkow bei ...<br />

General Kornilow.« Kerenski als »revolutionäre« Deckung, Kornilow die eiserne Hand.<br />

Die Rolle des Dritten verschweigt <strong>der</strong> Artikel. Es kann aber kein Zweifel bestehen, daß<br />

Sawinkow den Höchstkommandierenden mit dem Premier versöhnte, nicht ohne die<br />

Absicht, beide beiseite zu schieben. Eine Zeit lang begann dieser Hintergedanke <strong>der</strong>art<br />

nach außen zu drängen, daß Kerenski trotz Kornilows Protest just am Vorabend <strong>der</strong><br />

Beratung Sawinkow zwang, zu demissionieren. Aber, wie in diesem Kreise überhaupt<br />

alles, trug diese Demission keinen endgültigen Charakter. »Am 17. August«, sagte<br />

Filonenko aus, »zeigte es sich, daß Sawinkow und ich unsere Posten behalten sollten und<br />

daß <strong>der</strong> Ministerpräsident im Prinzip jenes Programm akzeptierte, das in dem von<br />

Kornilow, Sawinkow und mir vertretenen Bericht dargelegt war.« Sawinkow, dem<br />

Kerenski am 17. August »befahl, einen Gesetzentwurf über Maßnahmen im Hinterlande<br />

yorzubereiten«, schuf zu diesem Zwecke eine Kommission unter Vorsitz des Generals<br />

Apuschkin. Wenn er sich auch ernstlich vor Sawinkow fürchtete, beschloß Kerenski<br />

dennoch, ihn für seinen großen Plan auszunutzen, und beließ ihm nicht nur das Kriegsministerium,<br />

son<strong>der</strong>n schenkte ihm als Zugabe noch das Marineministerium, Das bedeutete,<br />

nach Miljukow, daß für die Regierung »die Zeit zum Handeln gekommen war, sogar auf<br />

das Risiko hin, die Bolschewiki auf die Straße herauszufor<strong>der</strong>n«. Wobei Sawinkow<br />

»offen davon sprach, es sei ein leichtes, mit zwei Regimentern den bolschewistischen<br />

Aufruhr nie<strong>der</strong>zuschlagen und die bolschewistischen Organisationen auseinan<strong>der</strong>zutreiben«.<br />

Sowohl Kerenski wie Sawinkow begriffen sehr gut, beson<strong>der</strong>s nach <strong>der</strong> Moskauer<br />

Beratung, daß die Versöhnlersowjets Kornilows Programm unter keinen Umständen<br />

annehmen würden. Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, <strong>der</strong> erst gestern die Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe<br />

an <strong>der</strong> Front gefor<strong>der</strong>t hat, wird sich morgen mit verdoppelten Kräften <strong>der</strong> Ausdehnung<br />

<strong>der</strong> Todesstrafe auf das Hinterland wi<strong>der</strong>setzen! Die Gefahr bestand folglich darin,<br />

daß an die Spitze <strong>der</strong> Bewegung gegen die von Kerenski geplante Umwälzung nicht die<br />

Bolschewiki, son<strong>der</strong>n die Sowjets zu stehen kämen. Doch auch davor durfte man nicht<br />

zurückschrecken: ging es doch um die Rettung des Landes!<br />

»Am 22. August«, schreibt Kerenski, »reiste Sawinkow ins Hauptquartier unter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 445


an<strong>der</strong>em [!] auch zu dem Zweck, um in meinem Auftrage vom General Kornilow die<br />

Abkommandierung eines Kavalleriekorps zur Disposition <strong>der</strong> Regierung zu for<strong>der</strong>n.«<br />

Sawinkow selbst charakterisiert diesen Auftrag, als er gezwungen ist, sich vor <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Meinung zu rechtfertigen, folgen<strong>der</strong>maßen: »vom General Kornilow ein Kavalleriekorps<br />

auszubitten zur realen Durchführung des Belagerungszustandes in Petrograd<br />

und zum Schutze <strong>der</strong> Provisorischen Regierung gegen jeglichen Anschlag, insbeson<strong>der</strong>e<br />

[!] gegen einen Anschlag seitens <strong>der</strong> Bolschewiki, <strong>der</strong>en Aktion ..., nach Angaben <strong>der</strong><br />

ausländischen Konterspionage, im Zusammenhang mit <strong>der</strong> deutschen Landung und dem<br />

Aufstand in Finnland in Vorbereitung war ...« Die phantastischen Angaben <strong>der</strong> Konterspionage<br />

sollten einfach die Tatsache verschleiern, daß die Regierung selbst, nach Miljukows<br />

Ausdruck, »das Risiko, die Bolschewiki auf die Straße herauszufordem«, einging,<br />

das heißt bereit war, den Aufstand zu provozieren. Da aber die Veröffentlichung <strong>der</strong><br />

Dekrete über die Militärdiktatur für die letzten Augusttage festgesetzt war, paßte Sawinkow<br />

auch die erwartete Meuterei diesem Termin an.<br />

Am 25. August wurde ohne jeglichen äußeren Anlaß das Organ <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

'Proletarij' verboten. Das Ersatzblatt 'Rabotschij' (Arbeiter) schrieb, sein Vorgänger sei<br />

»verboten worden einen Tag, nachdem er in Zusammenhang mit dem Durchbruch <strong>der</strong><br />

Rigaer Front die Arbeiter und Soldaten zu Ruhe und Besonnenheit aufgefor<strong>der</strong>t hat.<br />

Wessen Hand ist so besorgt, die Arbeiter nicht wissen zu lassen, daß die Partei sie vor<br />

Provokationen warnt?« Die Frage traf den Kern. Das Schicksal <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Presse befand sich in Sawinkows Händen. Das Zeitungverbot brachte zwei Vorteile: es<br />

reizte die Massen und hin<strong>der</strong>te die Partei, sie vor Provokation zu schützen, die diesmal<br />

direkt aus Regierungshöhen kam.<br />

Nach den protokollarischen Aufzeichnungen des Hauptquartiers, die, vielleicht etwas<br />

stilisiert, im allgemeinen jedoch Situation und handelnde Personen vollkommen richtig<br />

charakterisieren, hatte Sawinkow dem General Kornilow erklärt: »Ihre For<strong>der</strong>ungen,<br />

Lawr Georgjewitsch, werden in den nächsten Tagen erfüllt werden. Doch befürchtet<br />

dabei die Regierung, daß in Petrograd ernste Komplikationen entstehen könnten ... Die<br />

Veröffentlichung Ihrer For<strong>der</strong>ungen ... dürfte einen Anstoß für das Hervortreten <strong>der</strong><br />

Bolschewiki bilden ... Es ist nicht bekannt, wie sich die Sowjets zum neuen Gesetz verhalten<br />

werden. Die letzteren könnten ebenfalls gegen die Regierung sein .. . Deshalb bitte<br />

ich Sie, zu verfügen, daß das dritte Kavalleriekorps Ende August näher an Petrograd<br />

herangezogen und zur Disposition gestellt werde. Im Falle, daß außer den Bolschewiki<br />

die Sowjetmitglie<strong>der</strong> sich erheben sollten, wären wir gezwungen, auch gegen sie vorzugehen.«<br />

Kerenskis Bote fügte hinzu, die Maßnahmen müßten entschlossen und erbarmungslos<br />

sein, worauf Kornilow erwi<strong>der</strong>te: daß er »an<strong>der</strong>e Maßnahmen auch nicht<br />

verstehe« ... Später, als es galt, sich zu rechtfertigen, fügte Sawinkow hinzu: »Wenn im<br />

Augenblick des Aufstandes <strong>der</strong> Bolschewiki die Sowjets bolschewistisch gewesen wären<br />

...« Doch dies ist ein zu plumper Trick: die Dekrete, die Kerenskis Umwälzung ankündigten,<br />

sollten bereits in drei bis vier Tagen erscheinen. Folglich war die Rede nicht von<br />

Zukunftssowjets, son<strong>der</strong>n von denen, die Ende August bestanden.<br />

Um keine Mißverständnisse entstehen zu lassen und die Aktion <strong>der</strong> Bolschewiki nicht<br />

»vor <strong>der</strong> Zeit« zu provozieren, einigte man sich auf diese Reihenfolge <strong>der</strong> Handlungen:<br />

zuerst in Petrograd ein Kavalleriekorps zusammenzuziehen, daraufhin den Belagerungszustand<br />

in <strong>der</strong> Hauptstadt proklamieren und erst dann die neuen Gesetze erlassen, die den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 446


Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki hervorrufen sollten. Im Protokoll des Hauptquartiers ist dieser<br />

Plan schwarz auf weiß nie<strong>der</strong>gelegt: »Damit die Provisorische Regierung genau wisse,<br />

wann das Petrogra<strong>der</strong> Militärgouvernement in Belagerungszustand zu erklären und<br />

wann das neue Gesetz zu veröffentlichen sei, ist es notwendig, daß General Kornilow<br />

ihm, Sawinkow, telegraphisch die Zeit genau angebe, wann das Korps Petrograd erreichen<br />

werde.«<br />

Die Verschwörergenerale hatten, nach. Stankewitschs Worten, begriffen, »daß Sawinkow<br />

und Kerenski ... irgendeine Umwälzung mit Hilfe des Hauptquartiers beabsichtigten.<br />

Mehr war nicht nötig. Eiligst willigten sie in alle For<strong>der</strong>ungen und Bedingungen ein« ...<br />

Der Kerenski ergebene Stankewitsch entschuldigt sich, man habe im Hauptquartier<br />

Kerenski und Sawinkow »irrtümlich miteinan<strong>der</strong> verbunden«. Wie aber konnte man sie<br />

trennen, wenn Sawinkow mit präzis formulierten Aufträgen von Kerenski gekommen<br />

war? Kerenski selbst schreibt: »Am 25. August kehrt Sawinkow aus dem Hauptquartier<br />

zurück und berichtet mir, die Truppen würden laut Verabredung zur Verfügung <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung entsandt werden.« Am Abend des 26. soll die Regierung jenen<br />

Gesetzesentwurf über die Maßnahmen im Hinterlande annehmen, <strong>der</strong> zum Prolog des<br />

entscheidenden Vorgehens des Kavalleriekorps werden muß. Alles ist vorbereitet. Es<br />

bleibt nur auf den Knopf zu drücken.<br />

Die Ereignisse, Dokumente, Aussagen <strong>der</strong> Beteiligten, schließlich das Geständnis<br />

Kerenskis selbst bezeugen übereinstimmend, daß <strong>der</strong> Ministerpräsident, ohne Wissen<br />

eines Teiles <strong>der</strong> eigenen Regierung, hinter dem Rücken <strong>der</strong> Sowjets, die ihm die Macht<br />

verschafft hatten, geheim vor <strong>der</strong> Partei, zu <strong>der</strong> er sich zählte, einen Pakt mit <strong>der</strong> Generalspitze<br />

<strong>der</strong> Armee abschloß, zwecks radikaler Än<strong>der</strong>ung des Staatsregimes mit Hilfe<br />

bewaffneter Macht. In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Strafgesetagebung hat diese Handlungsweise eine<br />

ganz bestimmte Bezeichnung, mindestens für die Fälle, wo das Unternehmen nicht zum<br />

Siege führt. Der Wi<strong>der</strong>spruch zwischen dem "demokratischen" Charakter <strong>der</strong> Politik<br />

Kerenskis und dem Plan <strong>der</strong> Landesrettung mit Hilfe des Säbels kann nur dem oberflächlichen<br />

Blick unvereinbar scheinen. In Wirklichkeit ergab sich <strong>der</strong> Kavallerieplan<br />

vollständig aus <strong>der</strong> Versöhnlerpolitik. Beim Aufdecken dieser Gesetzmäßigkeit kann<br />

man in hohem Maße nicht nur von Kerenskis Person absehen, son<strong>der</strong>n auch von den<br />

Eigenarten des nationalen Milieus: es handelt sich um die objektive Logik des Versöhnlertums<br />

unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Friedrich Ebert, Volksbeauftragter Deutschlands, Versöhnler und Demokrat, handelte<br />

nicht nur unter Leitung hohenzollernscher Generale hinter dem Rücken <strong>der</strong> eigenen<br />

Partei, son<strong>der</strong>n war bereits Anfang Dezember 1918 direkter Teilnehmer <strong>der</strong> militärischen<br />

Verschwörung, die die Verhaftung des obersten Räteorgans und die Proklamierung<br />

Eberts zum Präsidenten <strong>der</strong> Republik zum Ziel hatte. Nicht zufällig pflegte Kerenski<br />

später Ebert als das Ideal eines Staatsmannes zu bezeichnen.<br />

Als alle Pläne sowohl Kerenskis wie Sawinkows wie Kornilows zusammengebrochen<br />

waren, gab Kerenski, dem die nicht ganz leichte Arbeit <strong>der</strong> Spurenverwischung oblag,<br />

an: »Nach <strong>der</strong> Moskauer Beratung war es für mich klar, daß <strong>der</strong> nächste Versuch eines<br />

Anschlages von rechts und nicht von links kommen würde.« Es ist ganz unbestreitbar, daß<br />

Kerenski vor dem Hauptquartier und jener Sympathie, mit <strong>der</strong> die Bourgeoisie die<br />

Verschwörer umgab, Angst hatte. Aber gerade darum handelt es sich, daß Kerenski nicht<br />

mit einem Kavalleriekorps gegen das Hauptquartier zu kämpfen für notwendig erachtete,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 447


son<strong>der</strong>n mittels Verwirklichung von Kornilows Programm unter eigenem Namen. Der<br />

zweideutige Komplice des Premiers hatte nicht einfach einen geschäftlichen Auftrag<br />

erfüllt, für den ein chiffinertes Telegramm aus dem Winterpalais nach Mohilew genügt<br />

haben würde, - nein, er war als Vermittler erschienen, um Kornilow mit Kerenski auszusöhnen,<br />

das heißt um <strong>der</strong>en Pläne in Übereinstimmung zu bringen und damit <strong>der</strong> Umwälzung<br />

nach Möglichkeit ein legales Bett zu sichern. Kerenski wollte durch Sawinkow<br />

gleichsam sagen lassen: »Handeln Sie, aber in den Grenzen meines Planes. Sie werden<br />

dadurch das Risiko verineiden und fast alles, was Sie wünschen, erhalten.« Sawinkow<br />

machte von sich aus die Anspielung: »Gehen Sie nicht vorzeitig über die Grenzen <strong>der</strong><br />

Kerenskischen Pläne hinaus.« Dies war die eigenartige Gleichung mit drei Unbekannten.<br />

Nur in diesem Zusammenhang wird verständlich, daß Kerenski sich durch Sawinkow an<br />

das Hauptquartier mit dem Ersuchen um ein Kavalleriekorps wandte. An die Verschwörer<br />

wendet sich ein hochgestellter Komplice, <strong>der</strong> seine Legalität wahrt und bestrebt ist,<br />

die Verschwörung sich unterzuordnen.<br />

Unter den Sawinkow erteilten Aufträgen sah nur einer wie eine gegen die Verschwörung<br />

von rechts gerichtete Maßnahme aus: er betraf das Hauptkomitee <strong>der</strong> Offiziere,<br />

dessen Auflösung die Petrogra<strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Partei Kerenskis gefor<strong>der</strong>t hatte.<br />

Bemerkenswert jedoch ist die Formulierung des Auftrages: »Nach Möglichkeit den<br />

Offiziersverband liquidieren.« Noch hemerkenswerter ist es, daß Sawinkow diese<br />

Möglichkeit nicht nur nicht gefunden, son<strong>der</strong>n auch nicht gesucht hat. Die Frage wurde<br />

einfach als unzeitgemäß begraben. Der ganze Auftrag war nur erteilt worden, um eine<br />

Spur auf dem Papier zu haben als Rechtfertigung vor den Linken: die Worte »nach<br />

Möglichkeit« bedeuteten, die Erfüllung sei nicht erfor<strong>der</strong>lich. Gleichsam um den dekorativen<br />

Charakter des Auftrages noch greller zu unterstreichen, wurde er an die erste Stelle<br />

gesetzt.<br />

Bemüht, den nie<strong>der</strong>schmetternden Sinn <strong>der</strong> Tatsache irgendwie abzuschwächen, daß er<br />

in Erwartung eines Anschlages von rechts die Hauptstadt von revolutionären Regimentern<br />

entblößt und sich gleichzeitig an Kornilow um »zuverlässige« Truppen gewandt<br />

hatte, berief sich Kerenski später auf drei sakramentale Bedingungen, mit denen er die<br />

Anfor<strong>der</strong>ung des Kavalleriekorps ausgestattet hatte. So habe er seine Einwilligung,<br />

Kornilow den Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirk zu unterstellen, abhängig gemacht von <strong>der</strong><br />

Bedingung, die Hauptstadt mit Umgebung aus diesem Bezirk auszuson<strong>der</strong>n, damit die<br />

Regierung nicht völlig in die Hände des Hauptquartiers gerate, denn - wie Kerenski im<br />

eigenen Kreise sich äußerte - »sonst wären wir hier verspeist worden«. Diese Bedingung<br />

beweist nur, daß, während Kerenski davon träumte, die Generale seinem eigenen Plane<br />

zu unterwerfen, ihm nichts zur Verfügung stand außer ohnmächtiger Ränkesehmie<strong>der</strong>ei.<br />

Kerenskis Unlust, verspeist zu werden, wird man ohne Beweisführung glauben. Die zwei<br />

an<strong>der</strong>en Bedingungen standen auf gleicher Höhe: Kornilow durfte in das Expeditionskorps<br />

nicht die sogenannte "wilde" Division aufnehmen, die aus kaukasischen Bergtruppen<br />

bestand, und nicht den General Krymow an die Spitze des Korps stellen. Vom<br />

Standpunkte des Schutzes <strong>der</strong> Interessen <strong>der</strong> Demokratie hieß das wahrhaftig, Kamele<br />

schlucken und Mücken durchseihen. Vom Standpunkte <strong>der</strong> Verschleierung des<br />

Anschlags auf die <strong>Revolution</strong> hingegen hatten Kerenskis Bedingungen einen unvergleichlich<br />

tieferen Sinn. Gegen die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter kaukasische Bergtruppen zu<br />

schicken, die kein Russisch sprachen, wäre zu unvorsichtig gewesen: dazu hatte sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 448


seinerzeit nicht einmal <strong>der</strong> Zar entschlossen! Die Unzweckmäßigkeit einer Ernennung<br />

Krymows, über den das Exekutivkomitee hinlänglich informiert war, motivierte Sawinkow<br />

dem Hauptquartier überzeugend mit den Interessen <strong>der</strong> gemeinsamen Sache: »Es<br />

wäre unerwünscht«, sagte er, »wenn einen eventuellen Aufstand in Petrograd gerade <strong>der</strong><br />

General Krymow unterdrücken sollte. Die öffentliche Meinung würde vielleicht mit<br />

seinem Namen Beweggründe verknüpfen, von denen er sich nicht leiten läßt« ... Schon<br />

die Tatsache, daß das Regierungshaupt bei dem Anfor<strong>der</strong>n eines Truppenteils für die<br />

Hauptstadt mit <strong>der</strong> seltsamen Bitte vorweg kommt: die "wilde" Division nicht zu schikken<br />

und Krymow nicht zu emennen - überführt Kerenski, wie es besser nicht möglich ist,<br />

dessen, daß er im voraus nicht nur das Gesamtschema <strong>der</strong> Verschwörung gekannt hat,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Zusammensetzung <strong>der</strong> geplanten Strafexpedition und die Kandidaturen<br />

<strong>der</strong> wichtigsten Exekutoren.<br />

Aber wie es mit diesen nebensächhehen Umständen auch gewesen sein mag, ganz<br />

offenkundig ist, daß das Kornilowsche Kavalleriekorps sich keinesfalls für die Verteidigung<br />

<strong>der</strong> "Demokratie" eignen konnte. Dagegen mußte es für Kerenski unzweifelhaft<br />

sein, daß von allen Truppenteilen dieses Korps das zuverlässigste Werkzeug gegen die<br />

<strong>Revolution</strong> sein würde. Allerdings, vorteilhafter wäre gewesen, in Petrograd eine Abteilung<br />

zu haben, die Kerenski persönlich ergeben war, <strong>der</strong> ja über Rechts und Links stand.<br />

Wie jedoch <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> weiteren Ereignisse zeigen wird, hat es solche Truppen in<br />

Wirklichkeit nicht gegeben. Für den Kampf gegen die <strong>Revolution</strong> gab es niemand außer<br />

Kornilowanhängern; zu ihnen nahm Kerenski seine Zuflucht.<br />

Die militärischen Maßnahmen ergänzten nur die Politik. Der Gesamtkurs <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung während <strong>der</strong> nicht vollen zwei Wochen, die die Moskauer Beratung<br />

von Kornilows Aufitand trennten, wäre an sich ein genügen<strong>der</strong> Beweis dafür, daß<br />

Kerenski sich nicht zum Kampf gegen die Rechten anschickte, son<strong>der</strong>n zur Einheitsfront<br />

mit ihnen gegen das Volk. Die Proteste des Exekutivkomitees gegen ihre konterrevolutionäre<br />

Politik ignorierend, macht die Regierung am 26. August einen kühnen Schritt den<br />

Gutsbesitzern entgegen durch die plötzliche Verfügung über die Verdoppelung des<br />

Brotpreises. Der Charaktcr dieser verhaßten Maßnahme, überdies noch auf ein öffentliches<br />

Verlangen Rodsjankos hin getroffen, näherte sie einer bewußten Provokation gegen<br />

die hungernden Massen. Kerenski war offensichtlich bemüht, den äußersten rechten<br />

Flügel <strong>der</strong> Moskauer Beratung durch ein teures Präsent zu bestechen. »Ich bin euer!«<br />

sagt er dem Oftiziersverband in seinem schmeichlerischen Befehl, unterschrieben an dem<br />

Tage, als Sawinkow sich ins Hauptquartier begab. »Ich bin euer!« beeilte sich Kerenski<br />

den Gutsbesitzern zuzuschreien am Vorabend <strong>der</strong> Kavallerieattacke gegen alles, was von<br />

<strong>der</strong> Februarrevolution noch übriggeblieben war.<br />

Die Angaben Kerenskis vor <strong>der</strong> von ihm selbst ernannten Untersuchungskommission<br />

trugen einen würdelosen Charakter. In <strong>der</strong> Rolle eines Zeugen auftretend, fühlte sich das<br />

Regierungsoberhaupt eigentlich als Hauptangeklagter, dazu noch auf frischer Tat ertappt.<br />

Die erfahrenen Beamten, die die Mechanik <strong>der</strong> Ereignisse sehr wohl überblickten, gaben<br />

sich den Anschein, als glaubten sie im Ernst den Angaben des Regierungsoherhauptes.<br />

Doch die übrigen Sterbhehen, darunter auch die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Partei Kerenskis, staunten<br />

offen, wie denn ein und dasselbe Korps sowohl für die Durchführung <strong>der</strong> Umwälzung<br />

wie auch zu <strong>der</strong>en Abwendung sich eignen mochte. Es war denn doch allzu unbedacht<br />

seitens eines "Sozialrevolutionärs", Truppen in die Hauptstadt zu führen, die zu ihrer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 449


Abwürgung bestimmt waren. Gewiß, auch die Trojaner haben einst in die Mauern <strong>der</strong><br />

eigenen Stadt eine feindliche Abteilung hineingeschleppt; aber sie hatten wenigstens<br />

nicht gewußt, was im Bauche des hölzernen Pfrrdes sich verbarg. Und selbst da bestreitet<br />

ein alter Historiker die Version des Dichters: nach Pausanias' Meinung kann man Homer<br />

nur dann Glauben schenken, wenn man die Trojaner als »auch jedes Schattens von<br />

Verstand bare Dummköpfe« ansieht. Was würde <strong>der</strong> Alte zu den Zeugenaussagen<br />

Kerenskis gesagt haben?<br />

Kornilows Aufstand<br />

Bereits Anfang August hatte Kornilow unter dem Vorwand, eine Reserve für die<br />

Verteidigung Rigas zu schaffen, angeordnet, die "wilde" Division und das 3. Kavalleriekorps<br />

von <strong>der</strong> Südwestfront in das Gebiet des Eisenbahndreiecks: Nevel-Nowossokolniki-Welikije<br />

Luki, das eine günstige Angriffsbasis gegen Petrograd darstellte, zu verlegen.<br />

Gleichzeitig hatte <strong>der</strong> Höchstkommandierende befohlen, eine Kosakendivision im Bezirk<br />

zwischen Wyborg und Bjeloostrow zu konzentrieren; dieser direkt über dem Haupt <strong>der</strong><br />

Residenz - von Bjeloostrow bis Petrograd sind nur dreißig Kilometer! - erhobenen Faust<br />

wurde <strong>der</strong> Schein verliehen, eine Reserve für eventuelle Operationen in Finnland darzustellen.<br />

Somit waren noch vor <strong>der</strong> Moskauer Beratung vier Kavalleriedivisionen, die als<br />

die geeignetsten für den Kampf gegen die Bolschewiki galten, für den Anschlag auf<br />

Petrograd in Bereitschaft gestellt. In bezug auf die kaukasische Division sprach man in<br />

Kornilows Umgebung ohne Umschweife: »Den Bergtruppen ist es ja gleich, wen sie<br />

abschlachten.« Der strategisehe Plan war einfach. Die drei von Süden kommenden<br />

Divisionen beabsichtigte man mit <strong>der</strong> Eisenbahn bis vor Zarskoje Selo, Gatschina und<br />

Krassnoje Selo heranzubringen, um von dort »nach Empfang von Nachrichten über<br />

Unruhen in Petrograd, und nicht später als am Morgen des 1. September«, feldmarschmäßig<br />

am linken Newaufer entlang zur Besetzung des Südteils <strong>der</strong> Hauptstadt vorzurükken.<br />

Die in Finnland untergebrachte Division sollte zur gleichen Zeit den nördlichen Teil<br />

<strong>der</strong> Hauptstadt besetzen.<br />

Durch den Offiziersverband erhielt Kornilow Verbindung mit den Petrogra<strong>der</strong> patriotischen<br />

Gesellschaften, welche, nach ihren eigenen Angaben, über 2.000 glänzend bewaffnete<br />

Männer verfügten, die jedoch <strong>der</strong> Führung von erfahrenen Offizieren bedurften.<br />

Kornilow versprach, von <strong>der</strong> Front Kommandeure zu schicken unter <strong>der</strong> Maske von<br />

Urlaubern. Um die Stimmung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten und die Tätigkeit<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre zu überwachen, wurde eine geheime Konterspionage eingerichtet und<br />

an <strong>der</strong>en Spitze <strong>der</strong> Oberst <strong>der</strong> "wilden" Division, Heimann, gestellt. Die Sache spielte<br />

sich im Rahmen <strong>der</strong> militärischen Dienstordnung ab. und die Verschwörung verfügte<br />

über den Apparat des Hauptquartiers.<br />

Die Moskauer Beratung hatte Kornilow in seinen Plänen nur bestärkt. Zwar riet Miljukow,<br />

laut eigener Erzählung, zu warten, denn Kerenski besäße in <strong>der</strong> Provinz noch<br />

Popularität. Aber ein solcher Rat konnte keinen Einfluß auf den schon sehr in Schwung<br />

geratenen General ausüben: letzten Endes ging es doch nicht um Kerenski, son<strong>der</strong>n um<br />

die Sowjets; außerdem war Miljukow kein Mann <strong>der</strong> Tat: Zivilist und, was noch schlimmer,<br />

Professor. Bankiers. Industrielle, Kosakengenerale trieben zur Eile, die Metropoliten<br />

gaben ihren Segen. Ordonnanz Sawojko bürgte für Erfolg. Von allen Seiten kamen<br />

Begrüßungstelegramme. Die Ententediplomatie nahm tätigen Anteil an <strong>der</strong> Mobilisierung<br />

<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte. Sir Buchanan hielt viele Fäden <strong>der</strong> Verschwörung in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 450


seinen Händen. Die militärischen Vertreter <strong>der</strong> Alliierten beim Hauptquartier versicherten<br />

ihre besten Gefühle. »Beson<strong>der</strong>s«, bezeugte Denikin, »tat es in rührendster Form <strong>der</strong><br />

britische Vertreter.« Hinter den Gesandtschaften standen <strong>der</strong>en Regierungen. In einem<br />

Telegramm vom 23. August berichtete <strong>der</strong> Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen Regierung im<br />

Auslande, Swatikow, aus Paris, daß Außenminister Ribot während <strong>der</strong> Abschiedsaudienz<br />

»sich äußent eifrig dafür interessierte, wer von den Kerenski umgebenden Menschen<br />

ein fester und energischer Mann sei«, während Präsident Poincaré »viel über ... Kornilow<br />

ausfragte«. Alles das war dem Hauptquartier bekannt. Kornilow sah keinen Grund zu<br />

Aufschub und Abwarten. Um den 20. herum wurden zwei Kavalleriedivisionen weiter in<br />

die Richtung auf Petrograd vorgeschoben. Am Tage als Riga fiel, wurden je vier<br />

Offiziere von jedem Regiment, insgesamt etwa viertausend, vom Hauptquartier angefor<strong>der</strong>t<br />

»zum Studium englischer Bombenwerfer«. Den Zuverlässigeren erklärte man<br />

sogleich. es handle sich darum, ein für allemal »das bolschewistische Petrograd« zu<br />

zermalmen. Am gleichen Tage wurde vom Hauptquartier befohlen, den Kavalleriedivisionen<br />

eiligst einige Kisten Handgranaten zuzustellen: sie konnten sich vortrefflich für<br />

Straßenkämpfe eignen. »Es war verabredet«, schreibt Stabschef Lukomski, »daß alles<br />

für den 26. August bereit sein sollte«.<br />

Sobald die Kornilowschen Truppen sich Petrograd genähert haben würden, sollte die<br />

innere Organisation »in Petrograd in Aktion treten, das Smolny-Institut besetzen und für<br />

die Verhaftung <strong>der</strong> bolschewistischen Anführer sorgen«. Zwar erschienen im Smolny die<br />

bolschewistischen Anführer nur zu den Sitzungen, dafür aber weilte dort unausgesetzt<br />

das Exekutivkomitee, welches die Minister stellte und fortfuhr, Kerenski als Gehilfen des<br />

Vorsitzenden anzusehen. ]edoch bei einer großen Sache gibt es we<strong>der</strong> Möglichkeit noch<br />

Notwendigkeit, Nuancen innezuhalten. Kornilow jedenfalls beschäftigte sich damit nicht.<br />

»Es ist Zeit«, sagte er zu Lukomski, »die deutschen Agenten und Spione mit Lenin an <strong>der</strong><br />

Spitze aufzuhängen und den Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten auseinan<strong>der</strong>zujagen,<br />

aber so auseinan<strong>der</strong>zujagen, daß er sich auch nirgendwo mehr versammeln<br />

kann.«<br />

Die Leitung <strong>der</strong> Operation war Kornilow fest entschlossen Krymow zu übertragen, <strong>der</strong><br />

in seinen Kreisen den Ruf eines kühnen, entschlossenen Generals genoß. »Krymow war<br />

damals lustig und lebensfroh«, äußert sich über ihn Denikin, »und sah gläubig in die<br />

Zukunft«. Im Hauptquartier blickte man gläubig auf Krymow. »Ich bin überzeugt«, sagte<br />

Kornilow, »daß er kein Bedenken tragen wird, wenn es notwendig sein sollte, den ganzen<br />

Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten aufzuhängen.« Die Wahl des »lustigen und<br />

lebensfrohen« Generals war mithin die allerglücklichste.<br />

Im Drange dieser Arbeit, die ein wenig von <strong>der</strong> deutschen Front ablenkte, traf im<br />

Hauptquartier Sawinkow ein, um das alte Abkommen durch einige nebensächliche<br />

Abän<strong>der</strong>ungen zu präzisieren. Für den Schlag gegen den gemeinsamen Feind nannte<br />

Sawinkow das gleiche Datum, das Kornilow schon längst für das Vorgehen gegen<br />

Kerenski vorgesehen hatte: das Halbjahrsjubiläum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Obwohl <strong>der</strong> Plan <strong>der</strong><br />

Umwälzung in zwei Arme sich teilte, waren beide Seiten bestrebt, mit gemeinsamen<br />

Elementen des Planes zu operieren: Kornilow - zur Maskierung, Kerenski zur Stützung<br />

<strong>der</strong> eigenen Illusionen. Sawinkows Angebot kam dem Hauptquartier höchst gelegen: die<br />

Regierung hielt selbst den Kopf hin, Sawinkow ging daran, die Schlinge zuzuziehen. Die<br />

Generale im Hauptquartier rieben sich die Hände: »Angebissen!« sagten sie, wie glückli-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 451


che Angler.<br />

Kornilow ging um so leichter auf Zugeständnisse ein, als sie ihn nichts kosteten.<br />

Welche Bedeutung hat eine Ausson<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison aus dem<br />

Kommandobereich des Hauptquartiers, wenn in die Hauptstadt Kornilowsche Truppen<br />

einmarschieren? Während er die beiden übrigen Bedingungen annahm, verletzte Kornilow<br />

sie sogleich: die "wilde" Division wurde als Avantgarde bestimmt und Krymow an<br />

die Spitze <strong>der</strong> gesamten Operation gestellt. Kornilow hielt es nicht für nötig, Mücken zu<br />

seihen.<br />

Die Kernfragen ihrer Taktik berieten die Bolschewiki in aller Öffentlichkeit: eine<br />

Massenpartei kann auch gar nicht an<strong>der</strong>s handeIn. Regierung und Hauptquartier mußten<br />

wissen, daß die Bolschewiki von Aktionen zurückhalten, nicht aber zu solchen auffor<strong>der</strong>n.<br />

Wie aber <strong>der</strong> Wunsch <strong>der</strong> Vater des Gedankens zu sein pflegt, so wird die politische<br />

Notwendigkeit Mutter <strong>der</strong> Prognose. Alle herrschenden Klassen sprachen vom<br />

bevorstehenden Aufstand, weil sie ihn um jeden Preis brauchten. Das Datum des<br />

Aufstandes wurde bald nähergerückt, bald um einige Tage verschoben. Die Presse<br />

berichtete, im Kriegsministerium, das heißt bei Sawinkow, beurteile man den bevorstehenden<br />

Aufstand »sehr ernst«. Die 'Rjetsch' meldete, die Initiative des Aufstandes sei<br />

durch die bolschewistische Fraktion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets ergriffen worden. In seiner<br />

Eigenschaft als Politiker war Miljukow in Sachen des angeblichen Aufstandes <strong>der</strong><br />

Bolschewiki <strong>der</strong>maßen engagiert, daß er es für eine Ehrensache ansah, diese Version<br />

auch in seiner Eigenschaft als Historiker zu stützen. »Nach den später veröffentlichten<br />

Dokumenten <strong>der</strong> Konterspionage«, schreibt er, »kam gerade zu dieser Zeit neue Anweisung<br />

deutschen Geldes für "Trotzkis Unternehmungen".« Wie die russische Konterspionage,<br />

so vergißt auch <strong>der</strong> gelehrte Historiker, daß Trotzki, den <strong>der</strong> deutsche Stab zur<br />

Bequemlichkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Patrioten beim Namen nannte, »gerade zu dieser Zeit« -<br />

vom 23. Juli bis zum 4. September - sich im Gefängnis befand. Der Umstand, daß die<br />

Erdachse nur eine eingebildete Linie ist, hin<strong>der</strong>t bekanntlich die Erde nicht, ihren Kreislauf<br />

zu vollziehen. So drehte sich auch <strong>der</strong> Plan <strong>der</strong> Kornilowschen Operation um den<br />

eingebildeten Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki als um seine eigene Achse. Dieses konnte für<br />

die Vorhereitungsperiode vollauf genügen. Für die Lösung war jedoch immerhin etwas<br />

Materielles nötig.<br />

Einer <strong>der</strong> führenden militärischen Verschwörer, <strong>der</strong> Offizier Winberg, bestätigt in<br />

interessanten Aufzeichnungen, die hinter die Kulissen des ganzen Vorhabens führen,<br />

vollauf die Hinweise <strong>der</strong> Bolschewiki auf die umfassende Arbeit <strong>der</strong> militärischen Provokation.<br />

Miljukow war gezwungen, unter <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Tatsachen und Dokumente zuzugeben,<br />

»daß die Verdächtigungen <strong>der</strong> linksradikalen Kreise richtig waren; Agitation in den<br />

Betrieben war sicherlich eine ... <strong>der</strong> Aufgaben, die die Offiziersorganisatio nen zu erfüllen<br />

hatten«. Doch auch das half nicht: die Bolschewiki hatten beschlossen, wie <strong>der</strong><br />

gleiche Historiker klagt, »sich nicht zu stellen«; die Massen hatten nicht die Absicht,<br />

ohne die Bolschewiki hervorzutreten. Allein auch dieses Hin<strong>der</strong>nis war im Plan vorgesehen<br />

und sozusagen von vornherein paralysiert. Das "republikanische Zentrum", wie das<br />

führende Organ <strong>der</strong> Verschwörer in Petrograd hieß, beschloß einfach, die Bolschewiki zu<br />

ersetzen: mit <strong>der</strong> Imitierung des revolutionären Aufstandes wurde <strong>der</strong> Kosakenoberst<br />

Dutow beauftragt. Im Januar 1918 antwortete Dutow auf die Frage seiner politischen<br />

Freunde: »was sollte am 18. August 1937 geschehen?« wörtlich folgendes: »Zwischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 452


28. August und 2. September sollte unter <strong>der</strong> Maske <strong>der</strong> Bolschewiki ich auftreten.« Alles<br />

war vorausgesehen. Nicht umsonst hatten den Plan Generalstabsoffiziere bearbeitet.<br />

Kerenski seinerseits war nach <strong>der</strong> Rückkehr Sawinkows aus Mohilew geneigt, zu<br />

glauben, die Mißverständnisse seien beseitigt und das Hauptquartier habe sich restlos<br />

seinem Plan angeschlossen. »Es gab Momente«, schreibt Stankewitsch, »wo sämtliche<br />

handelnden Personen glaubten, sie handelten nicht nur alle in einer Richtung, son<strong>der</strong>n<br />

sie sähen auf gleiche Art auch die Methode des Handelns!« Diese glücklichen Momente<br />

währten nicht lange. In die Sache mischte sich <strong>der</strong> Zufall, <strong>der</strong>, wie alle historischen<br />

Zufälle, <strong>der</strong> Notwendigkeit das Ventil öffnete. Zu Kerenski kam Lwow, ein Oktobrist,<br />

Mitglied <strong>der</strong> ersten Provisorischen Regierung, <strong>der</strong> gleiche, <strong>der</strong> als expansiver Oberprokurator<br />

des Heiligen Synods berichtet hatte, in dieser Institution säßen nur »Idioten und<br />

Schufte«. Lwow war vom Schicksal ausersehen, die Tatsache aufzudecken, daß unter<br />

dem Anschein eines Planes zwei feindlich gegeneinan<strong>der</strong> gerichtete Pläne bestanden.<br />

Als unbeschäftigter, aber redseliger Politiker nahm Lwow an den endlosen Gesprächen<br />

über Regierungsumbildung und Landesrettung teil, bald im Hauptquartier, bald im<br />

Winterpalais. Diesmal erschein er mit dem Anerbieten seiner Vermittlung bei <strong>der</strong><br />

Umgestaltung des Kabinetts auf nationaler Basis, wobei er Kerenski wohlwollend mit<br />

dem Donner und Blitz des unzufriedenen Hauptquartiers schreckte. Der beunruhigte<br />

Ministerpräsident beschloß, Lwow auszunutzen, um das Hauptquartier und wohl<br />

zugleich auch seinen Komplicen, Sawinkow, zu prüfen. Kerenski äußerte seine Sympathie<br />

für den Kurs auf die Diktatur, was keine Heuchelei war, und ermunterte Lwow zu<br />

weiterer Vermittlung, was eine Kriegslist bedeutete.<br />

Als Lwow wie<strong>der</strong> im Hauptquartier erschien, nunmehr mit Kerenskis Vollmachten<br />

beschwert, erblickten die Generale in seiner Mission einen Beweis dafür, daß die Regierung<br />

kapitulationsreif sei. Erst gestern hatte sich Kerenski durch Sawinkow verpflichtet,<br />

Kornilows Programm unter dem Schutze <strong>der</strong> Kosakenkorps durchzuführen; heute bot<br />

Kerenski dem Hauptquartier bereits an, gemeinsam die Macht umzugestalten. Man muß<br />

mit dem Knie nachdrücken, beschlossen folgerichtig die Generale. Kornilow erklärte<br />

Lwow, da <strong>der</strong> bevorstehende Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki »den Sturz <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung, den Friedensschluß mit Deutschland und die Auslieferung <strong>der</strong><br />

Baltischen Flotte an die Deutschen« zum Ziel habe, so bleibe kein an<strong>der</strong>er Ausweg, als<br />

die »unverzügliche Überleitung <strong>der</strong> Macht von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung in die<br />

Hände des Höchstkommandierenden«. Kornilow fügte dem hinzu: »Unbeschadet wer<br />

dieser auch sei.« Doch hatte er durchaus nicht die Absicht, seinen Platz an jemanden<br />

abzutreten. Seine Unabsetzbarkeit war von vornherein durch die Schwüre <strong>der</strong> Georgsritter,<br />

des Offiziersverbandes und des Sowjets <strong>der</strong> Kosakenheere bekräftigt. Im Interesse<br />

<strong>der</strong> "Sicherheit" Kerenskis und Sawinkows vor den Bolschewiki ersuchte Kornilow<br />

beide dringend, ins Hauptquartier unter seinen persönlichen Schutz zu kommen. Die<br />

Ordonnanz Sawojko machte Lwow eine unzweideutige Anspielung, worin dieser Schutz<br />

bestehen würde.<br />

Nach Moskau zurückgekehrt, redete Lwow »als Freund« Kerenski heiß zu, auf das<br />

Angebot Kornilows einzugehen »zur Rettung des Lebens <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung und vor allem seines eigenen«. Kerenski mußte nun endlich begreifen,<br />

daß das politische Spiel mit <strong>der</strong> Diktatur eine ernsthafte Wendung nahm und höchst<br />

mißlich enden konnte. Entschlossen, zu handeIn, ließ er zuallererst Kornilow an den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 453


Apparat holen, um nachzukontrollieren: hat Lwow den Auftrag auch richtig wie<strong>der</strong>gegeben?<br />

Kerenski stellte die Fragen nicht nur in seinem, son<strong>der</strong>n auch in Lwows Namen,<br />

obwohl dieser beim Gespräch nicht zugegen war. »Ein solcher Kniff«, bemerkt<br />

Martynow, »angebracht für einen Spitzel, war natürlich unschicklich für ein Regierungsoberhaupt.«<br />

Über seine Ankunft gemeinsam mit Sawinkow am nächsten Tage im Hauptquartier<br />

sprach Kerenski wie über eine beschlossene Sache. Der ganze Dialog am Draht<br />

mutet überhaupt unwahrscheinlich an: das demokratische Regierungshaupt und <strong>der</strong><br />

"republikanische" General verabreden, einer dem an<strong>der</strong>en die Macht abzutreten, als<br />

handle es sich um einen Platz im Schlafwagen!<br />

Miljukow hat vollkommen recht, wenn er in Kornilows For<strong>der</strong>ung, ihm die Macht<br />

auszuliefern, nur »die Fortsetzung all jener längst offen geführten Gespräche über Diktatur,<br />

Reorganisierung <strong>der</strong> Macht und so weiter« sieht. Doch geht Miljukow zu weit, wenn<br />

er deshalb versucht, die Sache so darzustellen, als habe es im Hauptquartier eigentlich<br />

überhaupt keine Verschwörung gegeben. Kornilow hätte zweifellos durch Lwow seine<br />

For<strong>der</strong>ungen nicht stellen können, würde er nicht vorher mit Kerenski eine Verschwörung<br />

gebildet haben. Aber das än<strong>der</strong>t nichts an <strong>der</strong> Tatsache, daß Kornilow mit <strong>der</strong> einen,<br />

<strong>der</strong> gemeinsamen Verschwörung die an<strong>der</strong>e, seine eigene, verdeckte. Während Kerenski<br />

und Sawinkow sich anschickten, die Bolschewiki und zum Teil auch die Sowjets auszuräuchern,<br />

gedachte Kornilow dazu auch noch die Provisorische Regierung<br />

auszuräuchern. Aber das gerade wollte Kerenski nicht.<br />

Am Abend des 26. konnte das Hauptquartier einige Stunden lang tatsächlich glauben,<br />

die Regierung werde kampflos kapitulieren. Doch bedeutete dies nicht, daß etwa keine<br />

Verschwörung existierte, son<strong>der</strong>n nur, daß sie dem Triumphe nahe schien. Eine siegreiche<br />

Verschwörung findet stets Mittel, sich zu legalisieren. »Ich sah General Kornilow<br />

bald nach diesem Gespräch«, bezeugt Fürst Trubetzkoi, ein Diplomat, <strong>der</strong> beim Hauptquartier<br />

das Außenministerium vertrat; »ein Seufzer <strong>der</strong> Erleichterung entrang sich<br />

seiner Brust, und auf meine Frage: also die Regierung kommt Ihnen in allem entgegen? -<br />

erwi<strong>der</strong>te er: "ja".« Kornilow irrte. Gerade in diesem Moment hatte die Regierung in <strong>der</strong><br />

Person Kerenskis aufgehört, ihm entgegenzukommen.<br />

Also hat das Hauptquartier seine eigenen Pläne? Also geht es nicht um die Diktatur<br />

überhaupt, son<strong>der</strong>n um die Diktatur Kornilows? Ihm, Kerenski, offeriert man wie zum<br />

Hohn den Posten des Justizministers? Kornilow hatte tatsächlich die Unvorsichtigkeit<br />

gehabt, Lwow eine solche Anspielung zu machen. Sich mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

verwechselnd, schrie Kerenski vor dem Finanzminister Nekrassow: »Ich werde Ihnen die<br />

<strong>Revolution</strong> nicht ausliefern.« Der uneigennützige Freund Lwow wurde sofort verhaftet<br />

und verbrachte eine schlaflose Nacht im Winterpalais mit zwei Posten zu seinen Füßen,<br />

während er zähneknirschend zuhören mußte, wie »nebenan hinter <strong>der</strong> Wand, im Zimmer<br />

Alexan<strong>der</strong>s III., <strong>der</strong> triumphierende Kerenski, zufrieden über den erfolgreichen Verlauf<br />

seiner Sache, endlos Opernmelodien sang.« In diesen Stunden empfand Kerenski einen<br />

außerordentlichen Zu strom an Energie.<br />

Petrograd lebte während jener Tage in doppelter Sorge. Die politische Spannung, von<br />

<strong>der</strong> Presse bewußt übertrieben, barg Explosionsgefahr in sich. Der Fall Rigas hatte die<br />

Front nähergerückt Die Frage <strong>der</strong> Evakuierung <strong>der</strong> Hauptstadt, durch die Kriegsereignisse<br />

bereits lange vor dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie auf dit Tagesordnung gestellt, gewann<br />

jetzt neue Schärfe. Die bemittelteren Leute verließen die Stadt. Die Flucht <strong>der</strong> Bourgeoi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 454


sie nährtc sich viel mehr von <strong>der</strong> Angst vor einem neuen Aufstand als vor <strong>der</strong> Angst vor<br />

dem Einfall des Feindes. Am 26. August wie<strong>der</strong>holte das Zentralkomitee <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Partei nochmals »Von dunklen Persönlichkeiten ... wird provokatorische Agitation<br />

getrieben angeblich im Namen unserer Partei.« Die führenden Organe des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, <strong>der</strong> Gewerkschaften und <strong>der</strong> Betriebskomitees erklärten am<br />

gleichen Tage: keine einzige Arbeiter-organisation, keine einzige politische Partei for<strong>der</strong>t<br />

zu irgendwelchen Demonstrationen auf. Gerüchte von dem am folgen<strong>der</strong> Tag bevorstehenden<br />

Sturz <strong>der</strong> Regierung verstummten dennoch nicht eine Stunde. »In Regierungskreisen«,<br />

berichtet die Presse. »verweist man auf den einmütig gefaßten Entschluß, alle<br />

Aufstandsversuche zu unterdrücken.« Es seien sogar Maßnahmen getroffen, den<br />

Aufstand hervorzurufen, bevor man ihn unterdrückt.<br />

Die Morgenzeitungen des 27. berichteten noch immer nicht nur nichts über die Rebellionspläne<br />

des Hauptquartiers, son<strong>der</strong>n im Gegenteil, ein Interview mit Sawinkow versicherte,<br />

daß »General Kornilow das volle Vertrauen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

genießt«. Der Tag des Halbjahrsjubiläums verlief überhaupt ungewöhnlich ruhig. Die<br />

Arbeiter und Soldaten vermieden alles, was einer Demonstration ähnlich sehen konnte.<br />

Die Bourgeoisie, in Angst vor Unruhen, saß zu Hause. Die Straßen lagen leer. Die<br />

Gräber <strong>der</strong> Februaropfer auf dem Marsfelde schienen vergessen.<br />

Am Morgen des langerwarteten Tages, <strong>der</strong> dem Lande Rettung bringen sollte, erhielt<br />

<strong>der</strong> Höchstkommandierende vom Ministerpräsidenten den telegraphischen Befehl: seinen<br />

Posten dem Stabschef zu übergeben und sofort nach Petrograd abzureisen. Die Sache<br />

bekam jäh eine völlig unvorhergesehene Wendung. Der General begriff nach seinen<br />

eigenen Worten, daß »hier ein Doppelspiel gespielt wird«. Mit mehr Recht hätte er sagen<br />

können daß sein eigenes Doppelspiel aufgedeckt sei. Kornilow beschloß, nicht nachzugehen.<br />

Sawinkows Ermahnungen über den direkten Draht fruchteten nicht. »Gezwungen,<br />

offen hervorzutreten«, mit diesem Manifest wandte sich <strong>der</strong> Höchstkommandierende an<br />

das Volk, »erkläre ich, General Kornilow, daß die Provisorische Regierung unter dem<br />

Druck <strong>der</strong> bolschewistischen Sowjetmehrheit im völligen Einverständnis mit den Plänen<br />

des deutschen Generalstabs handelt, gleichzeitig mit <strong>der</strong> bevorstehenden Landung feindlicher<br />

Kräfte an <strong>der</strong> Rigaer Küste die Armee mordet und das Land im Innern<br />

erschüttert.« Nicht gewillt, die Macht Verrätern auszuhändigen, ziehe er, Kornilow, vor,<br />

»zu sterben auf dem Felde <strong>der</strong> Ehre und des Kampfes«. Über den Autor dieses Manifestes<br />

schrieb später Miljukow mit einem Anflug von Entzücken: »Ohne irgendwelche<br />

juristische Spitzfindigkeiten anzuerkennen, ging er entschlossen direkt auf das Ziel los,<br />

das er einmal für richtig erkannt hatte.« Ein Höchstkommandieren<strong>der</strong>, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Front<br />

Truppen zurückzieht, die eigene Regierung zu stürzen, kann tatsächlich nicht <strong>der</strong><br />

Vorliebe für »juristische Spitzfindigkeiten« beschuldigt werden.<br />

Kornilow wurde von Kerenski höchsteigenmächtig abgesetzt. Die Provisorische Regierung<br />

existierte zu dieser Zeit bereits nicht mehr: am Abend des 26. hatten die Herren<br />

Minister ihre Demission eingereicht, die durch eine glückliche Fügung <strong>der</strong> Dinge den<br />

Wünschen aller Parteien entsprach. Schon einige Tage vor dem Bruch des Hauptquartiers<br />

mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung hatte General Lukomski durch Aladjins Mund Lwow<br />

erklärt: »Es wäre gut, die Kadetten aufmerksam zu machen, sie mögen sämtlich vor dem<br />

27. August aus <strong>der</strong> Provisorischen Regierung austreten, um damit die Regierung in eine<br />

schwierige Lage zu bringen und sich selbst Unannehmlichkeiten zu entziehen.« Die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 455


Kadetten verfehlten nicht, diesen Rat zur Kenntnis zu nehmen. An<strong>der</strong>erseits hatte<br />

Kerenski <strong>der</strong> Regierung erklärt, er erachte den Kampf gegen Kornilows Rebellion für<br />

möglich »nur unter <strong>der</strong> Bedingung, daß die ganze Fülle <strong>der</strong> Macht ihm allein überlassen<br />

werde«. Die übrigen Minister hatten förmlich nur auf einen so glücklichen Vorwand<br />

gewartet, um die fällige Demission einzureichen. So wurde die Koalition einer erneuten<br />

Nachprüfung unterworfen. »Die Minister aus <strong>der</strong> Kadettenpartei«, schreibt Miljukow,<br />

»erklärten, sie nähmen im gegebenen Augenblick ihre Demission, ohne über die Frage<br />

ihrer späteren Beteiligung an <strong>der</strong> Provisorischen Regierung im voraus zu entscheiden.«<br />

Ihrer Tradition getreu wollten die Kadetten die Kampftage beiseitestehend abwarten, um<br />

je nach <strong>der</strong>en Ausgang Entschlüsse zu fassen. Sie zweifelten nicht, daß die Versöhnler<br />

ihnen ihre Plätze unangetastet aufbewahren würden. Nachdem sie sich <strong>der</strong> Verantwortung<br />

entledigt hatten, nahmen die Kadetten gemeinsam mit den übrigen verabschiedeten<br />

Ministern an einer Reihe von Regierungsberatungen teil, die »privaten Charakter«<br />

trugen. Zwei Lager, die zum Bürgerkrieg rüsteten, gruppierten sich »privat« um das<br />

Regierungshaupt, das mit allen möglichen Volimachten ausgestattet war, nur nicht mit<br />

<strong>der</strong> wirklichen Macht.<br />

Aufdas im Hauptquartier eingegangene Telegramm Kerenskis: »Alle auf dem Wege<br />

nach Petrograd und dessen Bezirk befindlichen Staffeln sind aufzuhalten und zu ihrem<br />

bisherigen letzten Standort zurückzuführen«, vermerkt Kornilow: »Diesen Befehl nicht<br />

ausführen, Truppen nach Petrograd vorrücken lassen.« Die Sache <strong>der</strong> bewaffneten<br />

Rebellion kam somit ins feste Geleise. Das ist buchstäblich zu verstehen: drei Kavalleriedivisionen<br />

rückter in Eisenbahnstaffeln gegen die Hauptstadt vor.<br />

Kerenskis Befehl an die Petrogra<strong>der</strong> Truppen lautete: »General Kornilow, <strong>der</strong> seinen<br />

Patriotismus und seine Treue zum Volke beteuerte ... nahm Regimenter von <strong>der</strong> Front<br />

und ... schickte sie gegen Petrograd.« Kerenski verschwieg wohlweislich, daß die<br />

Regimenter von <strong>der</strong> Front weggenommen worden waren nicht nur mit seinem Wissen,<br />

son<strong>der</strong>n auf seine direkte For<strong>der</strong>ung hin für ein Strafgericht über die gleiche Garnison,<br />

vor <strong>der</strong> er jetzt <strong>der</strong> Treubruch Kornilows entlarvte. Der rebellische Höchstkommandierende<br />

war selbstverständlich um eine Antwort nicht verlegen. »... Die Verräter weilen<br />

nicht unter uns«, heißt es in seinem Telegramm, »son<strong>der</strong>n dort, in Petrograd, wo unter<br />

ver-brecherischer Duldung <strong>der</strong> Regierung gegen deutsches Geld Rußland verkauft wurde<br />

und verkauft wird.« So bahnte sich die gegen die Bolschewiki erhobene Verleumdung<br />

immer neue und neue Wege.<br />

Jene gehobene nächtliche Stimmung, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorsitzende des verabschiedeten<br />

Ministerrates Opernarien sang, war schnell verflogen. Der Kampf gegen Kornilow,<br />

welche Wendung er auch nehmen mochte, drohte nut schwersten Folgen. »Schon in <strong>der</strong><br />

ersten Nacht des Aufstandes des Hauptquartiers«, schreibt Kerenski, »verbreitete sich in<br />

Sowjet-, Soldaten- und Arbeiterkreisen Petersburgs hartnäckig das Gerücht von <strong>der</strong><br />

Beteiligung Sawinkows an <strong>der</strong> Bewegung des Generals Kornilow.« Das Gerücht nannte<br />

Kerenski gleich hinter Sawinkow, und das Gerücht irrte nicht. Man mußte nuthin gefährlichste<br />

Enthüllungen befürchten.<br />

»Spät nächts zum 26. August«, erzählt Kerenski, »betrat in höchster Aufregung <strong>der</strong><br />

Leiter des Kriegsministeriums mein Zimmer. "Herr Minister", wandte Sawinkow, Frontstellung<br />

einnehmend, sich an mich, "ich bitte Sie, mich sofort zu verhaften als Mitschuldigen<br />

des Generals Kornilow. Falls Sie mir aber vertrauen, dann bitte ich Sie, mir die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 456


Möglichkeit zu geben, dem Volk durch die Tat zu beweisen, daß ich mit den Aufständischen<br />

nicht gemein habe ...« - »Als Antwort auf diese Erklärung«, fuhr Kerenski fort,<br />

»ernannte ich Sawinkow sogleich zum provisorischen Generalgonverneur von Petersburg<br />

und verlieh ihm weitestgehende Vollmachten für die Verteidigung Petersburgs<br />

gegen die Truppen des Generals Kornilow.« Mehr noch: Auf Sawinkow Bitte hin<br />

ernannte Kerenski Filonenko zu dessen Gehilfen. Die Sache des Aufstandes wie die<br />

Sache seiner Unterdrückung blieb somit im Kreise des "Direktoriums".<br />

Die so hastige Ernennung Sawinkows zum Generalgouverneur diktierte Kerenski <strong>der</strong><br />

Kampf um die politische Selbsterhaltung: hätte Kerenski Sawinkow den Sowjets ausgeliefert,<br />

dann hätte Sawinkow sogleich Kerenski ausgeliefert. Umgekehrt, nachdem<br />

Sawinkow nicht ohne Erpressung von Kerenski die Möglichkeit erhalten hatte, sich<br />

durch die zur Schau gestellte Beteiligung an den Operationen gegen Kornilow zu legalisieren,<br />

mußte er alles zur Reinwaschung Kerenskis aufbieten. Der "Generalgouverneur"<br />

war weniger für den Kampf gegen die Konterrevolution notwendig als für die Vernichtung<br />

<strong>der</strong> Spuren <strong>der</strong> Verschwörung. Die einmütige Zusammenarbeit <strong>der</strong> Komplicen in<br />

dieser Richtung begann unverzüglich.<br />

»Um 4 Uhr morgens, den 28. August«, bekundet Sawinkow, »kehrte ich einer Auffor<strong>der</strong>ung<br />

Kerenskis gemäß ins Winterpalais zurück und fand dort General Alexejew und<br />

Tereschtschenko vor. Alle vier waren wir uns einig, daß das Ultimatum Lwows nichts als<br />

ein Mißverständnis sei.« Die Vermittlerrolle bei dieser Beratung in <strong>der</strong> Morgendämmerung<br />

gehörte dem neuen Generalgouverneur. Hinter den Kulissen lenkte Miljukow: im<br />

Laufe des Tages wird er offen auf die Bühne treten. Alexejew, wiewohl er Kornibw<br />

einen Hammelkopf genannt hatte, gehörte mit ihm zum gleichen Lager. Die Verschwörer<br />

und ihre Sekundanten machten den letzten Versuch, alles Vorgefallene als ein "Mißverständnis"<br />

zu erklären, das heißt gemeinsam die öffentliche Meinung zu täuschen, um zu<br />

retten, was am gemeinsamen Plan noch zu retten war. Die "wilde" Division, General<br />

Krymow, die Kosakenstaffeln, Kornilows Weigerung, den Posten abzugeben, <strong>der</strong><br />

Marsch auf die Hauptstadt - das alles seien nichts weiter als Details eines "Mißverständnisses"!<br />

Erschrocken über die unheildrohende Verflechtung <strong>der</strong> Umstände, schrie<br />

Kerenski bereits nicht mehr: »Ich werde ihnen die <strong>Revolution</strong> nicht ausliefern!« Gleich<br />

nach <strong>der</strong> Verständigung mit Alexejew trat er in das Zimmer <strong>der</strong> Journalisten im Winterpalais<br />

und wandte sich an diese mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, aus allen Zeitungen seinen Aufruf,<br />

<strong>der</strong> Kornilow als Verräter erklärte, herauszunehmen. Als die Antworten <strong>der</strong> Journalisten<br />

ergaben, daß diese Aufgabe technisch undurchführbar war, rief Kerenski aus: »Sehr<br />

schade!.« Diese kleine, in den Zeitungsberichten des folgenden Tages festgehaltene<br />

Episode beleuchtet mit unerhörter Kraßheit die Figur des ganz durcheinan<strong>der</strong> geratenen<br />

Superarbiters <strong>der</strong> Nation; Kerenski verkörperte so vollendet in seiner Person Demokratie<br />

wie auch Bourgeoisie, daß er sich nun gleichzeitig als höchster Träger <strong>der</strong> Staatsmacht<br />

und als verbrecherischer Verschwörer gegen sie erwies.<br />

Gegen Morgen des 28. wurde <strong>der</strong> Bruch zwischen Regierung und Höchstkommandierendem<br />

als vollendete Tatsache dem ganzen Lande offenbar. In die Angelegenheit<br />

mischte sich sogleich die Börse ein. Hatte sie auf die Moskauer Rede Kornilows hin, die<br />

die Preisgabe Rigas androhte, mit dem Sinken <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Papiere geantwortet, so<br />

reagierte sie auf die Nachricht vom offenen Aufstand <strong>der</strong> Generale mit dem Steigen aller<br />

Werte. Mit ihrer herabwürdigenden Notierung des Februarregimes verlieh die Börse<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 457


einwandfreien Ausdruck den Hoffnungen und Stimmungen <strong>der</strong> besitzenden Klassen, die<br />

an dem Siege Kornilows nicht zweifelten.<br />

Stabschef Lukomski, dem Kerenski am Vorabend befohlen hatte, provisorisch das<br />

Kommando zu übernehmen, antwortete: »Betrachte es als unmöglich, General Kornilow<br />

das Amt abzunehmen, denn dann würde in <strong>der</strong> Armee eine Explosion erfolgen, die<br />

Rußland vernichten müßte.« Außer dem kaukasischen Oberkommandierenden, <strong>der</strong> nicht<br />

ohne Verspätung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung seine Treue bekundete, unterstützten die<br />

übrigen Oberkommandierenden in verschiedenen Tonarten Kornilows For<strong>der</strong>ungen. Von<br />

den Kadetten inspiriert, versandte das Hauptkomitee des Offiziersverbandes an alle Stäbe<br />

<strong>der</strong> Armee und Flotte folgendes Telegramm: »Die Provisorische Regierung, die uns<br />

bereits wie<strong>der</strong>holt ihre Staatsohnmacht bewies, hat ihren Namen nunmehr durch eine<br />

Provokation entehrt und kann nicht länger an <strong>der</strong> Spitze Rußlands bleiben ...« Ehrenvorsitzen<strong>der</strong><br />

des Offiziersverbandes war <strong>der</strong> gleiche Lukomski! General Krassnow, zum<br />

Kommandierenden des 3. Kavalleriekorps ernannt, erklärte im Hauptquartier: »Niemand<br />

wird Kerenski verteidigen. Das Ganze ist nur ein Spaziergang. Alles ist vorbereitet.«<br />

Von den optimistischen Berechnungen <strong>der</strong> Leiter und lnspiratoren <strong>der</strong> Verschwörung<br />

bekommt man keine üble Vorstellung nach dem chiffrierten Telegramm des uns bereits<br />

bekannten Fürsten Trubetzkoi an den Minister des Auswärtigen: »Nüchtern die Lage<br />

einschätzend«, schreibt er, »muß man gestehen, daß <strong>der</strong> gesamte Kommandobestand, die<br />

überwiegende Mehrzahl <strong>der</strong> Offiziere und die besten Fronttruppen mit Kornilow gehen<br />

werden. Auf seine Seite werden sich im Hinterlande das gesamte Kosakenturn, die<br />

meisten Kriegsschulen und wie<strong>der</strong>um dic besten Frontabteilungen stellen. Zu <strong>der</strong> physischen<br />

Macht muß man hinzurechnen ... die moralische Sympathie aller nichtsozialistischen<br />

Bevölkerungsschichten und, bei dem nie<strong>der</strong>en Volke ... die Gleichgültigkeit, die<br />

sich jedem Peitschenhieb unterwirft. Es ist außer Zweifel, daß ein großer Teil <strong>der</strong><br />

Märzsozialisten nicht zö~ gern wird, im Falle seines Sieges auf die Seite Kornilows<br />

überzugehen.« Trubetzkoi gab nicht nur die Hoffnungen des Hauptquartiers wie<strong>der</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Stimmungen <strong>der</strong> alliierten Missionen. In <strong>der</strong> zur Eroberung Petrograds<br />

vorrückenden Korinlowschen Abteilung befanden sich englische Panzerwagen mit englischer<br />

Bedienung: und dies war, wie anzunehmen ist, <strong>der</strong> zuverlässigste Teil. Das Haupt<br />

<strong>der</strong> englischen Militärmission in Rußland, General Knox, machte dem amerikanischen<br />

Oberst Robins zum Vorwurf, daß er Kornilow nicht unterstützte. »Ich bin an <strong>der</strong> Kerenski-Regierung<br />

desinteressiert«, sagte <strong>der</strong> britische General, »sie ist zu schwach; man<br />

braucht die Militärdiktatur, man braucht die Kosaken, dieses Volk braucht die Knute!<br />

Diktatur - das ist's, was not tut.«<br />

Alle diese Stimmen gelangten von verschiedenen Seiten ins Winterpalais und wirkten<br />

erschütternd auf seine Bewohner. Kornilows Erfolg schien unabwendbar. Der Minister<br />

Nekrassow berichtete seinen Freunden, die Sache sei restlos verloren, und es bleibe nur,<br />

ehrlich zu sterben. »Einige angesehene Sowjetführer«, behauptet Miljukow, »ihr Schicksal<br />

im Falle eines Sieges Kornilows ahnend, besorgten sich eiligst Auslandspässe.«<br />

Von Stunde zu Stunde trafen Nachrichten vom Nahen <strong>der</strong> Kornilowschen Truppen ein,<br />

eine bedrohlicher als die an<strong>der</strong>e. Die bürgerliche Presse griff sie gierig auf übertrieb sie,<br />

häufte sie an und schuf eine Atmosphäre <strong>der</strong> Panik.<br />

12. 30 Uhr des 28. August: »Die von General Kornilow ausgesandte Abteilung hat sich<br />

bei Luga konzentriert.« 2. 30 Uhr nachmittags: »Die Station Oredesch passieren neun<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 458


weitere Züge Kornilowscher Truppen. Im Kopfzug befindet sich ein Eisenbahnerbataillon.«<br />

3 Uhr nachmittags: »Die Lugaer Garnison hat sich den Truppen General Kornilows<br />

ergeben und die gesamten Waffen ausgeliefert. Station und sämtliche<br />

Regierungsgebäude Lugas sind von Kornilows Truppen besetzt.« 6 Uhr abends: »Zwei<br />

Staffeln Kornilowscher Truppen sind aus Narwa durchgebrochen und befinden sich eine<br />

halbe Werst von Gatschina entfernt. Zwei weitere Staffeln sind nach Gatschina unterwegs.«<br />

2 Uhr nachts zum 29. August: »Bei <strong>der</strong> Station Antropschino (33 Kilometer von<br />

Petrograd) hat ein Kampf zwischen Regierungs- und Kornilowtruppen begonnen. Auf<br />

beiden Seiten gibt es Tote und Verwundete.« In <strong>der</strong>selben Nacht kam die Nachricht,<br />

Kaledin drohe, Petrograd und Moskau vom brotreichen Süden Rußlands abzuschneiden.<br />

Hauptquartier, Oberbefehlshaber <strong>der</strong> Fronten, britische Militärmission, Offizierkorps,<br />

Staffeln, Fisenbahnerbataillone, Kosakentum, Kaledin - all das empfand man im<br />

Malachitsaal des Winterpalais als Posaunenklänge des Jüngsten Gerichts.<br />

Mit den unvermeidlichen Abschwächungen gibt es Kerenski selbst zu. »Der 28.<br />

August«, schreibt er, »war gerade die Zeit größter Schwankungen, größter Zweifel an <strong>der</strong><br />

Kraft <strong>der</strong> Gegner Kornilows, größter Nervosität bei <strong>der</strong> Demokratie selbst.« Es. ist nicht<br />

schwer, sich auszumalen, was sich hinter diesen Worten verbirgt. Das Regierungshaupt<br />

marterten Erwägungen nicht nur darüber, welches von beiden Lagern das stärkere,<br />

son<strong>der</strong>n auch, welches für ihn das schrecklichere sei. »Wir sind nicht mit euch, Rechts,<br />

und nicht mit euch, Links«, solche Worte klangen effektvoll von <strong>der</strong> Bühne des<br />

Moskauer Theaters. Doch übersetzt in die Sprache des aufflackernden Bürgerkrieges,<br />

bedeuteten sie, Kerenikis Kreis könnte sich den Rechten wie den Linken als überflüssig<br />

erweisen. »Wir alle«, schreibt Stankewitsch, »waren buchstäblich betäubt vor Verzweiflung<br />

darüber, daß ein Drama geschah, das alles vernichtet. Den Grad <strong>der</strong> Betäubung<br />

kann man danach beurteilen, daß sogar trotz dem angesichts des ganzen Volkes erfolgten<br />

Bruch des Hauptquartiers mit <strong>der</strong> Regierung Versuche unternommen wurden,<br />

irgendeine Versöhnung zu finden«<br />

»Der Gedanke an eine Vermittlung ... entstand in dieser Situation von selbst«, sagt<br />

Miljukow, <strong>der</strong> es vorzog, in dritter Person zu handeln. Am Abend des 28. erschien er im<br />

Winterpalais, um »Kerenski zu raten, von dem streng formalistischen Standpunkte <strong>der</strong><br />

Gesetzesverletzung abzugehen«. Der liberale Führer, <strong>der</strong> sehr gut wußte, daß man<br />

zwischen dem Kern <strong>der</strong> Nuß und ihrer Schale unterscheiden muß, war gleichzeitig die<br />

geeignetste Persönlichkeit für den Beruf des loyalen Vermittlers. Am 13. August hatte<br />

Miljukow unmittelbar von Kornilow erfahren, daß <strong>der</strong> Aufstand von diesem auf den 27.<br />

angesetzt war. Am nächsten Tage, dem 14., for<strong>der</strong>te Miljukow in seiner Rede vor <strong>der</strong><br />

Beratung, daß »die sofortige Ergreifung <strong>der</strong> vom Höchstkommandierenden vorgezeichneten<br />

Maßnahmen nicht zum Anlaß von Verdächtigungen, Drohungen o<strong>der</strong> gar Entlassungen<br />

dienen dürfen«. Bis zum 27. mußte Kornilow außerhalb jeden Verdachtes bleiben!<br />

Gleichzeitig versprach Miljukow seine Unterstützung »freiwillig und ohne Streit«. Wenn<br />

irgendwo, dann ist es hier angebracht, an die Galgenschlinge zu erinnern, die ja gleichfalls<br />

»ohne Streit« unterstützt.<br />

Kerenski seinerseits gesteht, daß <strong>der</strong> mit dem Vermittlungsangebot erschienene Miljukow<br />

»eine sehr passende Minute gewählt hatte, um mir zu beweisen, daß die reale Macht<br />

auf seiten Kornilows sei«. Die Unterhaltung verlief <strong>der</strong>art günstig, daß Miljukow danach<br />

seinen politischen Freunden General Alexejew als jene Stellvertreter Kerenskis nennen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 459


konnte, gegen den Kornilow nichts einzuwenden haben würde. Alexejew gab großmütig<br />

sein Zustimmung.<br />

Auf Miljukow folgte einer, <strong>der</strong> größer war als er. Spät abends händigte <strong>der</strong> britische<br />

Gesandte Buchanan dem Minister des Auswärtigen eine Deklaration ein, in <strong>der</strong> die<br />

Vertreter <strong>der</strong> alliierten Mächte einmütig ihre freundschaftlichen Dienste anboten, »im<br />

Interesse <strong>der</strong> Humanität und aus dem Wunsche heraus, ein nicht wie<strong>der</strong> gutzumachendes<br />

Unglück zu verhüten«. Die offizielle Vermittlung zwischen Regierung und rebellischem<br />

General war nichts an<strong>der</strong>es als Hilfe und Rückversicherung für die Rebellion. Als<br />

Antwort sprach Tereschtschenko im Namen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung »höchste<br />

Verwun<strong>der</strong>ung« aus über den Aufstand Kornilows, dessen Programm zum größten Teil<br />

von <strong>der</strong> Regierung akzeptiert worden war.<br />

Im Zustande <strong>der</strong> Vereinsamung und Büßerstimmung fand Kerenski nichts Besseres zu<br />

tun, als noch eine endlose Beratung mit seinem verabschiedeten Ministern zu veranstalten.<br />

Gerade während dieses uneigennützigen Zeitvertreibs trafen beson<strong>der</strong>s beunruhigende<br />

Nachrichten ein über Vorrücken <strong>der</strong> feindlichen Staffeln. Nekrassow mutmaßte,<br />

»die Kornilowschen Truppen werden wahrscheinlich in einigen Stunden bereits in Petrograd<br />

sein« ... Die ehemaligen Minister stellten nun Betrachtungen an: »Wie müßte sich<br />

unter diesen Umständen die Regierungsmacht gestalten.« Die Idee eines Direktoriums<br />

tauchte wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Oberfläche auf. Mit Sympathie begegnete <strong>der</strong> rechte wie <strong>der</strong> linke<br />

Teil dem Gedanken, in das "Direktorium" General Alexejew aufzunehmen. Der Kadett<br />

Kokoschkin meinte, Alexejew müsse an die Spitze <strong>der</strong> Regierung gestellt werden. Laut<br />

einigen Zeugenaussagen stammte <strong>der</strong> Vorschlag, die Macht einem an<strong>der</strong>en abzutreten,<br />

von Kerenski selbst, mit einem direkten Hinweis auf seine Unterredung mit Miljukow.<br />

Niemand erhob Wi<strong>der</strong>spruch. Die Kandidatur Alexejew versöhnte alle. Miljukows Plan<br />

schien <strong>der</strong> Verwirklichung ganz, ganz nahe. Aber da ertönte, wie es sich im Augenblick<br />

höchster Spannung geziemt, ein dramatisches Klopfen an <strong>der</strong> Türe: Im Nebenzimmer<br />

wartete eine Deputation vom Komitee zum Kampfe gegen die Konterrevolution. Sie war<br />

zur rechten Zeit erschienen: eines <strong>der</strong> gefährlichsten Nester <strong>der</strong> Konterrevolution war die<br />

klägliche, feige und treulose Beratung <strong>der</strong> Kornilowanhänger, Vermittler und Kapitulanten<br />

im Saale des Winterpalais.<br />

Das neue Sowjetorgan war in einer vereinigten Sitzung bei<strong>der</strong> Exekutivkomitees, <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldaten und <strong>der</strong> Bauern, am Abend des 27. geschaffen worden und<br />

bestand aus Son<strong>der</strong>delegierten <strong>der</strong> drei Sowjetparteien, <strong>der</strong> beiden Exekutivkomitees, des<br />

Gewerkschaftszentrums und des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Die Schaffung eines Kampfkomitees<br />

ad hoc war eigentlich ein Eingeständnis, daß die führenden Sowjetinstitutionen sich<br />

selbst gebrechlich fühlten und für die revolutionären Aufgaben neuen Blutzustrom<br />

brauchten.<br />

Gezwungen, gegen den General die Unterstützung <strong>der</strong> Massen zu suchen, beeilten sich<br />

die Versöhnler, ihre linke Schulter vorzurecken. Jäh vergessen waren die Reden davon,<br />

daß alle prinzipiellen Fragen bis zur Konstituierenden Versammlung vertagt werden<br />

müßten. Die Menschewiki erklärten, sie würden von <strong>der</strong> Regierung sofortige Proklamierung<br />

<strong>der</strong> demokratischen Republik, Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma und Durchführung von<br />

Agrarreformen for<strong>der</strong>n: dies ist <strong>der</strong> Grund, weshalb <strong>der</strong> Name Republik zum ersten Male<br />

in einer Regierungserklärung anläßlich des Verrates des Höehstkommandierenden<br />

auftaucht.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 460


In <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Macht sprachen sich die Exekutivkomitees für die Notwendigkeit aus:<br />

vorläufig die Regierung in alter Gestalt zu belassen und nur die ausgeschiedenen Kadetten<br />

durch demokratische Elemente zu ersetzen; für eine endgültige Beschlußfassung in<br />

dieser Frage in nächster Zeit eine Konferenz aller in Moskau auf <strong>der</strong> Plattform<br />

Tschcheidses vereinigten Organisationen einzuberufen. Nach den nächtlichen Verhandlungen<br />

wurde es aber klar, daß Kerenski sich gegen eine demokratische Kontrolle <strong>der</strong><br />

Regierung entschieden sträubte. Im Gefühl, daß ihm <strong>der</strong> Boden von rechts und links<br />

schwindet, klammert er sich mit allen Kräften an die Form des "Direktoriums", in <strong>der</strong> für<br />

ihn sich die noch nicht abgekühlten Träume von <strong>der</strong> starken Macht konzentrieren. Nach<br />

neuen, qualvollen und fruchtlosen Debatten im Smolny wurde beschlossen, sich<br />

nochmals an den einen und unersetzlichen Kerenski zu wenden mit <strong>der</strong> Bitte, dem<br />

ursprünglichen Entwurf des Exekutivkomitees zuzustimmen. Um 7½ Uhr morgens kehrt<br />

Zeretelli mit dem Bericht zurück, Kerenski gehe auf keine Zugeständnisse ein, son<strong>der</strong>n<br />

for<strong>der</strong>e »vorbehaltlose Unterstützung«, jedoch sei er bereit, »alle Kräfte des Staates« auf<br />

den Kampf gegen die Konterrevolution zu richten. Die vom nächtlichen Wachen<br />

erschöpften Exekutivkomitees ergeben sich schließlich in die wie Spreu leere Idee des<br />

"Direktoriums"<br />

Das von Kerenski feierlich gegebene Versprechen, »die Kräfte des Staates« in den<br />

Kampf gegen Kornilow zu werfen, hin<strong>der</strong>te ihn, wie wir bereits wissen, nicht, mit Miljukow,<br />

Alexejew und den verabschiedeten Ministern Verhandlungen zu führen über eine<br />

friedliche Kapitulation vor dem Hauptquartier, die durch das nächtliche Klopfen an <strong>der</strong><br />

Tür unterbrochen wurden. Einige Tage später erstattete <strong>der</strong> Menschewik Bogdanow,<br />

einer <strong>der</strong> Führer des Komitees <strong>der</strong> Verteidigung, in vorsichtigen, aber unzweideutigen<br />

Worten dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet Bericht über den Treubruch Kerenskis. »Als die Provisorische<br />

Regierung zu schwanken begann und es nicht klar war, womit das Kornilowsche<br />

Abenteuer enden würde, tauchten Vermittler auf von <strong>der</strong> Art Miljukows und Alexejews«<br />

... Das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung mischte sich ein und verlangte »mit aller Energie« den<br />

offenen Kampf »Unter unserem Einfluß«, fuhr Bogdanow fort, »brach die Regierung<br />

jegliche Verhandlungen ab und verwarf alle Vorschläge Kornilows« ...<br />

Nachdem das Regierungsoberhaupt, <strong>der</strong> gestrige Verschwörer gegen das linke Lager,<br />

dessen politischer Gefangener geworden war, erklärten die kadettischen Minister, die am<br />

26. nur in Form eines Präventivbedenkens demissioniert hatten, sie träten nunmehr<br />

endgültig aus <strong>der</strong> Regierung aus, da sie die Verantwortung für Kerenskis Handlungen bei<br />

<strong>der</strong> Unterdrückung eines so patriotischen, so loyalen, so rettenden Aufstandes nicht<br />

tragen wollten. Minister a. D., Berater, Freunde verließen, einer nach dem an<strong>der</strong>en, das<br />

Winterpalais. Das war, nach Kerenskis eigenen Worten, »ein Massenauszug aus dem<br />

offenkundig dem Untergange geweihten Ort«. Es gab eine Nacht, vom 28. auf den 29.,<br />

wo Kerenski im Winterpalais »fast in Einzahl spazierenging«. Die lustigen Arien waren<br />

ihm aus dem Sinn. »Die Verantwortung, die in diesen quälend sich hinschleppenden<br />

Tagen auf mir lastete, war eine wahrhaft übermenschliche.« Das war in erster Linie die<br />

Verantwortung für Kerenskis persönliches Schicksal: alles übrige vollzog sich bereits<br />

ohne ihn.<br />

Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit <strong>der</strong> Demokratie<br />

Am 28. August, als Angstfieber das Winterpalais schüttelte, meldete <strong>der</strong> Kommandeur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 461


<strong>der</strong> "wilden" Division, Fürst Bagration, telegraphisch Kornilow, »die Einheimischen<br />

erfüllen ihre Pflicht vor <strong>der</strong> Heimat und werden auf Befrhl ihres obersten Helden ...<br />

ihren letzten Tropfen Blut vergießen«. Schon wenige Stunden darauf kam <strong>der</strong> Vormarsch<br />

<strong>der</strong> "wilden" Division zum Stehen, und am 31. August versicherte eine Son<strong>der</strong>deputation<br />

mit demselben Bagration an <strong>der</strong> Spitze Kerenski, die Division unterwerfe sich völlig <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung. All das geschah nicht nur ohne Kampf, son<strong>der</strong>n ohne einen<br />

einzigen Schuß. Es kam nicht nur nicht bis zum letzten, son<strong>der</strong>n auch nicht zum ersten<br />

Blutstropfen. Kornilows Soldaten machten nicht einmal den Versuch, sich mit Waffengewalt<br />

den Weg nach Petrograd zu bahnen. Die Kommandeure hatten nicht gewagt, es<br />

ihnen zu befehlen. Die Regierungstruppen waren nirgends gezwungen, Gewalt anzuwenden,<br />

um den Vorstoß <strong>der</strong> Kornilowschen Abteilungen aufzuhalten. Die Verschwörung<br />

verfiel, zerbröckelte, verdampfte.<br />

Um dies zu erklären, genügt es, die Kräfte, die in den Kampf gegangen waren, näher<br />

zu betrachten. Wir werden dabei vor allem feststellen müssen - und diese Entdeckung<br />

wird für uns nicht überraschend sein -, daß <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> Verschwörung <strong>der</strong> alte zaristische<br />

Stab war, eine Kanzlei von Menschen ohne Köpfe, unfähig, in dem von ihnen<br />

begonnenen großen Spiel zwei, drei Züge im voraus zu überlegen. Obwohl Kornilow<br />

Wochen vorher den Tag <strong>der</strong> Umwälzung lestgelegt hatte, war nichts vorausgesehen und<br />

gebührend berechnet. Die rein militärische Vorbereitung des Aufstandes war<br />

ungeschickt, unordentlich, leichtfertig durchgeführt. Komplizierte Än<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />

Organisation und im Kommando wurden unmittelbar vor dem Ausmarsch, bereits im<br />

Gehen, getroffen. Die "wilde" Division, die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den ersten Schlag versetzen<br />

sollte, zählte insgesamt eintausenddreihun<strong>der</strong>tfünfzig Kämpfer, denen sechshun<strong>der</strong>t<br />

Gewehre, eintausend Lanzen und fünfhun<strong>der</strong>t Säbel fehlten. Fünf Tage vor Eröffnung<br />

<strong>der</strong> Kampfoperationen erließ Kornilow einen Befehl, die Division in ein Korps umzuformieren.<br />

Diese Maßnahme, schon von den Schulbüchern verurteilt, hielt man offenbar für<br />

nötig, um die Offiziere durch höhere Gehälter zu verlocken. »Das Telegramm, wonach<br />

die fehlenden Waffen in Pskow geliefert werden würden«, schreibt Martynow, »erhielt<br />

Bagration erst am 31. August, nach dem endgültigen Scheitern des ganzen Unternehmens.«<br />

Mit <strong>der</strong> Abkommandierung <strong>der</strong> Instrukteure von <strong>der</strong> Front nach Petrograd beschäftigte<br />

sich das Hauptquartier ebenfalls erst in allerletzter Minute. Die beauftragten Offiziere<br />

wurden ausgiebig mit Geld und Son<strong>der</strong>waggons ausgerüstet. Doch die patriotischen<br />

Herren beeilten sich vermutlich gar nicht sehr, das Vaterland zu retten. Nach zwei Tagen<br />

war die Eisenbahnverbindung zwischen Hauptquartier und Hauptstadt unterbrochen, und<br />

die Mehrzahl <strong>der</strong> Abkommandierten erreichte den Platz <strong>der</strong> beabsichtigten Heldentaten<br />

überhaupt nicht.<br />

In <strong>der</strong> Hauptstadt bestand jedoch eine eigene Organisation von Kornilow-Anhängern,<br />

die etwa zweitausend Mitgiie<strong>der</strong> zählte. Die Verschwörer wurden in Gruppen aufgeteilt<br />

mit speziellen Aufgaben: Erbeutung von Panzerautos, Verhaftung und Ermordung <strong>der</strong><br />

angesehensten Sowjetmitglie<strong>der</strong>, Verhaftung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Einnahme<br />

<strong>der</strong> wichtigsten Ämter. Nach den Worten des uns bereits bekannten Winberg, des Vorsitzenden<br />

des Verbandes <strong>der</strong> Kriegspflicht, »sollten beim Eintreffen <strong>der</strong> Truppen Krymows<br />

die wichtigsten Kräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bereits gebrochen, vernichtet o<strong>der</strong> unschädlich<br />

gemacht worden sein, so daß Krymow nur noch die Ordnung in <strong>der</strong> Stadt herzustellen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 462


hätte«. Allerdings hielt man in Mohilew dieses Aktionsprogramm für übertrieben und<br />

betraute mit <strong>der</strong> wesentlichsten Aufgabe Krymow, doch auch das Hauptquartier erwartete<br />

von den Abteilungen des republikanischen Zentrums sehr ernste Hilfe. Indes traten<br />

die Petrogra<strong>der</strong> Verschwörer in keiner Weise in Erscheinung, sie muckten nicht, rühren<br />

keinen Finger, taten, als wären sie überhaupt nicht auf <strong>der</strong> Welt. Winberg erklärt dieses<br />

Rätsel ziemlich einfach. Es stellte sich heraus, daß <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Konterspionage, Oberst<br />

Heimann, die entscheidendsten Stunden in einem Vorstadtrestaurant verbrachte, während<br />

Oberst Sidorin, <strong>der</strong> in unmittelbarem Auftrage Kornilows die Tätigkeit <strong>der</strong> gesamten<br />

patriotischen Gesellschaften <strong>der</strong> Hauptstadt vereinigen sollte, und Oberst Ducimétière,<br />

Leiter <strong>der</strong> militärischen Abteilung, »spurlos verschwanden und nirgendwo aufzufinden<br />

waren«. Der Kosakenoberst Dutow, <strong>der</strong> »unter <strong>der</strong> Maske <strong>der</strong> Bolschewiki« aufzutreten<br />

hatte, beschwerte sich später: »Ich lief herum ... auf die Straße zu rufen, aber niemand<br />

folgte mir«. Die für die Organisation bestimmten Geldbeträge wurden, nach den Worten<br />

Winbergs, von den höheren Mitglie<strong>der</strong>n entwendet o<strong>der</strong> verjubelt. Oberst Sidorin hatte<br />

sich, nach Denikins Behauptung, »in Finnland versteckt unter Mitnahme <strong>der</strong> letzten<br />

Reste <strong>der</strong> Organisationsgel<strong>der</strong>, etwa hun<strong>der</strong>tfünfzigtausend Rubel«. Lwow, den wir<br />

verhaftet im Winterpalais verlassen haben, erzählte später von einem Spen<strong>der</strong> hinter den<br />

Kulissen, <strong>der</strong> Offizieren eine beträchtliche Summe auszuhändigen hatte, aber, auf dem<br />

verabredeten Platz angelangt, die Verschwörer in einem <strong>der</strong>maßen betrunkenen Zustande<br />

vorfand, daß er sich nicht entschließen konnte, ihnen das Geld zu übergeben. Winberg<br />

selbst meint, ohne diese wahrhaft ärgerlichen »Zufälle« hätte <strong>der</strong> Plan durchaus von<br />

Erfolg gekrönt sein können. Doch bleibt die Frage: weshalb gruppierten sich um das<br />

patriotische Unternehmen vorwiegend Säufer, Defrandanten und Veräter? Vielleicht<br />

deshalb, weil jede historische Aufgabe die ihr adäquaten Ka<strong>der</strong> mobilisiert?<br />

Um die personelle Zusammensetzung <strong>der</strong> Verschwörer war es schlecht bestellt, beginnend<br />

mit <strong>der</strong> Spitze. »General Kornilow« war nach den Worten des rechten Kadetten<br />

Isgojew »<strong>der</strong> populärste General ... bei <strong>der</strong> friedlichen Bevölkerung, aber nicht bei den<br />

Truppen, wenigstens nicht bei jenen des Hinterlandes, die ich beobachten konnte.« Unter<br />

<strong>der</strong> friedlichen Bevölkerung versteht Isgojew das Publikum vom Newski-Prospekt. Den<br />

Volksmassen <strong>der</strong> Front wie des Hinterlandes war Kornilow fremd, feindlich, verhaßt.<br />

Der zum Kommandeur des 3. Kavalleriekorps ernannte General Krassnow,<br />

Monarchist, <strong>der</strong> bald danach versuchte, als Vasall bei Wilhelm II. unterzukommen,<br />

wun<strong>der</strong>te sich, daß »Kornilow, <strong>der</strong> eine so große Sache vorhatte, selbst in Mohilew blieb,<br />

im Schlosse, umgeben von den Turkmenen und Stoßbrigadlern, als glaubte er selbst nicht<br />

an den Erfolg«. Auf die Frage des französischen Journalisten Claude Anet: weshalb<br />

Kornilow im entscheidenden Moment nicht selbst gegen Petrograd gezogen sei, - antwortete<br />

das Haupt <strong>der</strong> Verschwörung: »Ich war krank, ich hatte einen heftigen<br />

Malariaanfall, und mir fehlte die übliche Energie.«<br />

Zuviel <strong>der</strong> unglücklichen Zufälle: so pflegt es stets zu gehen, wenn eine Sache von<br />

vornherein dem Untergang geweiht ist. In ihren Stimmungen schwankten die Verschwörer<br />

zwischen trunkenem Hochmut, dem das Meer bis zu den Knien reicht, und völligem<br />

Versagen vor dem ersten realen Hin<strong>der</strong>nis. Es ging nicht um Kornilows Malaria, son<strong>der</strong>n<br />

um eine weitaus tiefere, fatalere, unheilbare Krankheit, die den Willen <strong>der</strong> besitzenden<br />

Klassen paralysierte.<br />

Die Kadetten bestritten ernstlich Kornilows konterrevolutionäre Absichten, worunter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 463


sie die Restauration <strong>der</strong> Romanowschen Monarchie verstanden. Als handelte es sich<br />

darum! Der "Republikanismus" Kornilows hin<strong>der</strong>te in keiner Weise den Monarchisten<br />

Lukomski, mit ihm Hand in Hand zu gehen, und ebensowenig den Vorsitzenden des<br />

Verbandes Echt-russischer Leute, Rimskij-Korssakow, Kornilow am Tage des Aufstandes<br />

zu telegraphieren: »Ich bete heiß zu Gott, er möge Ihnen helfen, Rußland zu retten;<br />

stelle mich zu Ihrer vollen Verfügung.« Die Schwarzhun<strong>der</strong>tanhänger des Zarismus<br />

schreckte das billige republikanische Fähnchen nicht ab. Sie begriffen, daß das<br />

Programm Kornilows in ihm selbst lag, in seiner Vergangenheit, seinen Kosakenabzeichen,<br />

seinen Verbindungen und Finanzquellen und hauptsächlich seiner aufrichtigen<br />

Bereitschaft, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Kehle zu durchschneiden.<br />

Kornilow, <strong>der</strong> in seinen Aufrufen sich »Sohn eines Bauern« nannte, baute seinen<br />

Umwälzungsplan völlig auf Kosakentum und Bergtruppe. Unter den gegen Petrograd<br />

geworfenen Soldaten war nicht ein einziger Infanterietruppenteil. Zum Muschik hatte<br />

Kornilow keinerlei Wege, und er versuchte auch nicht, sie zu erschließen. Im Hauptquartier<br />

fand sich allerdings in <strong>der</strong> Person irgendeines "Professors" ein Agrarreformator, <strong>der</strong><br />

jedem Soldaten eine phantastische Zahl Deßjatinen zu versprechen bereit war. Doch <strong>der</strong><br />

zu diesem Thema entworfene Aufruf wurde nicht einmal veröffentlicht: von Agrardemagogie<br />

hielt die Generale die nicht unbegründete Angst zurück, die Gutsbesitzer zu<br />

schrecken und abzustoßen.<br />

Der Mohilewer Bauer Tadäusch, <strong>der</strong> in jenen Tagen die Umgebung des Hauprquartiers<br />

aus <strong>der</strong> Nähe beobachten konnte, erzählt, daß unter den Soldaten und in den Dörfern<br />

niemand den Manifesten des Generals Glauben schenkte: »die Macht will er, aber von<br />

Land kein Wort, von Beendigung des Krieges kein Wort«. Die Massen hatten in den<br />

sechs Monaten <strong>Revolution</strong> einigermaßen gelernt, sich in den lebenswichtigsten Fragen<br />

zurechtzufinden. Kornilow brachte dem Volk nur Krieg, Schutz <strong>der</strong> Generalsprivilegien<br />

und des gutsherrlichen Besitzes. Nichts an<strong>der</strong>es konnte er ihm geben, und nichts an<strong>der</strong>es<br />

erwartete es von ihm. In dieser für die Verschwörer im voraus offenkundigen Unmöglichkeit,<br />

sich auf die Bauerninfanterie, geschweige denn auf die Arbeiter stützen zu<br />

können, äußerte sich eben die soziale Verdammnis <strong>der</strong> Kornilowschen Clique.<br />

Das Bild <strong>der</strong> politischen Kräfte, das <strong>der</strong> Diplomat des Haupt-quartiers, Fürst Trubetzkoi,<br />

ausmalte, war in vielem richtig, aber falsch in einem: von jener Gleichgültigkeit, die<br />

bereit ist, »sich jedem Peitschenhieb zu unterwerfen«, war im Volke nicht die Spur; im<br />

Gegenteil, die Massen warteten gleichsam nur auf die Drohung mit <strong>der</strong> Peitsche, um zu<br />

zeigen, welche Quellen an Energie und Selbstlosigkeit sich in ihren Tiefen verbergen.<br />

Der Fehler in <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Massenstimmung verwandelte alle übrigen Berechnungen<br />

in Staub.<br />

Die Verschwörung wurde von jenen Kreisen geleitet, die nicht gewohnt und außerstande<br />

waren, ohne die unteren Schichten etwas zu tun, ohne Arbeitskraft, ohne<br />

Kanonenfutter, ohne Offiziersburschen, Dienstboten, Schreiber, Chauffeure, Gepäckträger,<br />

Köchinnen, Waschfrauen, Weichensteller, Telegraphisten, Pferdeknechte, Kutscher.<br />

Indes, alle diese kleinen menschlichen Schrauben, diese unmerklichen, zahllosen, unentbehrlichen,<br />

waren für die Sowjets und gegen Kornilow. Die <strong>Revolution</strong> war allgegenwärtig.<br />

Sie drang überall hin, die Verschwörung überziehend. Sie hatte überall ihr Auge, ihr<br />

Ohr, ihren Arm.<br />

Das Ideal <strong>der</strong> militärischen Erziehung besteht darin, daß <strong>der</strong> Soldat hinter dem Rücken<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 464


des Vorgesetzten so handele wie vor dessen Augen. Indes erfaßten die <strong>russischen</strong> Soldaten<br />

und Matrosen im Jahre 1917, während sie die offiziellen Befehle auch unter den<br />

Augen <strong>der</strong> Kommandeure unausgeführt ließen, gierig im Fluge die Befehle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

und erfüllten sie noch häufiger aus eigener Initiative, ehe sie sie erreichten. Die<br />

zahllosen Diener <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong>en Agenten, Kundschafter, Kämpfer, brauchten<br />

we<strong>der</strong> Antreibung noch Aufsicht.<br />

Formell lag die Liquidierung <strong>der</strong> Verschwörung in den Händen <strong>der</strong> Regierung. Das<br />

Exekutivkomitee leistete Beistand. In Wirklichkeit ging <strong>der</strong> Kampf durch ganz an<strong>der</strong>e<br />

Kanäle. Während Kerenski, gebeugt unter <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> »übermenschlichen Verantwortung«,<br />

einsam das Parkett des Winterpalais durchmaß, entfaltete das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung,<br />

das auch Militärisches <strong>Revolution</strong>skomitee hieß, eine umfassende Tätigkeit. Seit<br />

dem Morgen ergingen telegraphische Instruktionen an die Eisenbahn-, Post- und Telegraphenangestellten<br />

sowie an die Soldaten. »Alle Truppenbewegungen erfolgen«, berichtete<br />

am selben Tage Dan, »auf Befehl <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, gegengezeichnet vom<br />

Komitee <strong>der</strong> Volksverteidigung«. Wirft man das Konventionelle beiseite, so bedeutet das:<br />

das Komitee <strong>der</strong> Volksverteidigung disponierte über die Truppen unter <strong>der</strong> Firma <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung. Gleichzeitig ging man an die Vernichtung <strong>der</strong> Kornilowschen<br />

Nester in Petrograd selbst, wo Haussuchungen und Verhaftungen in Militärschulen und<br />

Offiziersorganisationen durchgeführt wurden. Man fühlte die Hand des Komitees überall.<br />

Für den Generalgouvemeur interessierte sich kaum jemand.<br />

Die unteren Sowjetorganisationen ihrerseits warteten nicht erst auf Weisungen von<br />

oben. Die Hauptarbeit war in den Bezirken konzentriert. In den Stunden <strong>der</strong> größten<br />

Schwankungen <strong>der</strong> Regierung und <strong>der</strong> quälenden Verhandlungen des Exekutivkomitees<br />

mit Kerenski fanden sich die Bezirkssowjets enger zusammen und beschlossen: die<br />

Beratung <strong>der</strong> Bezirke in Permanenz zu erklären; eigene Vertreter dem vom Exekutivkomitee<br />

gebildeten Stab anzuglie<strong>der</strong>n; eine Arbeitermiliz zu schaffen; die Regierungskommissare<br />

unter Kontrolle <strong>der</strong> Bezirkssowjets zu stellen; fliegende Abteilungen zu<br />

organisieren zwecks Festnahme konterrevolutionärer Agitatoren. In ihrer Gesamtheit<br />

bedeuteten diese Maßnahmen nicht nur Aneignung von bedeutenden Funktionen <strong>der</strong><br />

Regierung, son<strong>der</strong>n auch von Funktionen des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Die Logik <strong>der</strong> Situation<br />

zwang die höheren Sowjetorgane, sich stark zusammenzudrängen, um den unteren<br />

Platz zu machen. Das Eintreten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Bezirke in die Arena des Kampfes verän<strong>der</strong>te<br />

jäh dessen Richtung und Schwung. Wie<strong>der</strong> bewies die Erfahrung die unerschöpfliche<br />

Lebensfähigkeit <strong>der</strong> Sowjetorganisation: von oben durch die Leitung <strong>der</strong> Versöhnler<br />

paralysiert, erwachte sie im kritischen Moment unter dem Vorstoß <strong>der</strong> Massen von unten<br />

zu neuem Leben.<br />

Für die die Bezirke inspirierenden Bolschewiki kam Kornilows Aufstand am wenigsten<br />

überraschend. Sie hatten ihn vorausgesehen, hatten gewarnt und waren als erste auf<br />

dem Posten. Schon in <strong>der</strong> Vereinigten Sitzung <strong>der</strong> Exekutiven vom 27. August teilte<br />

Sokolnikow mit, daß die bolschewistische Partei alle ihr möglichen Maßnahmen zur<br />

Informierung des Volkes über die Gefahr und zur Vorbereitung <strong>der</strong> Verteidigung getroffen<br />

habe; die Bolschewiki erklärten sich bereit, ihre Kampfarbeit mit den Organen des<br />

Exekutivkomitees in Übereinstimmung zu bringen. In <strong>der</strong> Nachtsitzung <strong>der</strong> Militärischen<br />

Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, unter Beteiligung von Delegierten zahlreicber Truppenteile,<br />

wurde beschlossen, die Verhaftung aller Verschwörer zu for<strong>der</strong>n, die Arbeiter zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 465


ewaffnen und für sie Instrukteure aus den Soldaten heranzuziehen, die Verteidigung <strong>der</strong><br />

Hauptstadt von unten her zu sichern und gleichzeitig sich auf die Schaffung einer revolutionären<br />

Macht aus Arbeitern und Soldaten vorzubereiten. Die Militärische Organisation<br />

veranstaltete in <strong>der</strong> ganzen Garnison Meetings. Die Soldaten wurden aufgerufen, unter<br />

Gewehr zu stehen, um beim ersten Alarm auszumarschieren.<br />

»Ungeachtet dessen, daß sie in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit waren«, schreibt Suchanow, »war es<br />

ganz klar: im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee gehörte die Hegemonie den<br />

Bolschewiki.« Er erklärt die Gründe dafür: »Wollte das Komitee ernstlich handeln, dann<br />

mußte es revolutionär handeln«, für revolutionäre Handlungen jedoch. »besaßen nur die<br />

Bolschewiki reale Mittel«, denn die Massen gingen mit ihnen. Die Gespanntheit des<br />

Kampfes rückte überall die aktivsten und kühnsten Elemente in den Vor<strong>der</strong>grund. Diese<br />

automatische Auslese hob die Bolschewiki unvermeidlich empor, festigte ihren Einfluß,<br />

konzentrierte die Initiative in ihren Händen und übertrug ihnen die faktische Leitung<br />

sogar in jenen Organisationen, wo sie in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit waren. Je näher zum Bezirk,<br />

Betrieb, zur Kaserne, um so unbestrittener und vollständiger die Herrschaft <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Alle Parteizellen sind auf die Beine gebracht. Bei den Fachgruppen <strong>der</strong> Großbetriebe<br />

ist ununterbrochener Wachdienst <strong>der</strong> Bolschewiki organisiert. Im Bezirkskomitee<br />

<strong>der</strong> Partei halten Vertreter kleinerer Betriebe Wache. Die Verbindung erstreckt sich von<br />

unten, von <strong>der</strong> Werkstatt, über die Bezirke bis zum Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei.<br />

Unter dem unmittelbaren Druck <strong>der</strong> Bolschewiki und <strong>der</strong> von ihnen geleiteten Organisationen<br />

erklärte das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung es für wünschenswert, einzelne Arbeitergruppen<br />

zu bewaffnen zum Schutze <strong>der</strong> Arbeiterviertel, Fabriken und Werkstätten. Diese<br />

Sanktion hatten die Massen nur gebraucht. In den Bezirken bildeten sich nach den<br />

Worten <strong>der</strong> Arbeiterpresse »lange Schlangen, die darauf harrten, in die Rote Garde<br />

einzutreten«. Es setzte die Ausbildung in Waffenhandhabung und Schießen ein. Als<br />

Instrukteure wurden erfahrene Soldaten hinzugezogen. Bereits am 29. entstanden in fast<br />

allen Bezirken Kampfmannschaften. Die Rote Garde meldete ihre Bereitschaft, unverzüglich<br />

eine Abteilung von vierzigtausend Mann unter Gewehr zu stellen. Die unbewaffneten<br />

Arbeiter formierten Mannschaften zum Auswerfen von Schützengräben,<br />

Errichtung von Unterständen und Stacheldrahtverhauen. Der neue Generalgouverneur,<br />

Paltschinski, <strong>der</strong> Sawinkow abgelöst hatte - Kerenski war es nicht gelungen, seinen<br />

Komplicen länger als drei Tage zu halten -, mußte in einer beson<strong>der</strong>en Erklärung<br />

zugeben, daß, als Not an Pionierarbeitern für die Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt eintrat,<br />

»tausende Arbeiter ... durch persönliche unentgeltliche Arbeit während weniger Stunden<br />

eine Riesenleistung vollbrachten, die ohne ihre Hilfe einige Tage erfor<strong>der</strong>t haben<br />

würde«. Das hin<strong>der</strong>te Paltschinski nicht, nach Sawinkows Beispiel die bolschewistische<br />

Zeitung zu verbieten, die einzige, die die Arbeiter als ihre Zeitung betrachteten.<br />

Der Putilower Gigant wird das Zentrum des Wi<strong>der</strong>standes im Petershofer Bezirk. In<br />

aller Eile werden Kampfmannschaften gebildet. Die Arbeit in den Betrieben geht Tag<br />

und Nacht: es werden neue Kanonen montiert zur Formierung proletarischer Artilleriedivisionen.<br />

Der Arbeiter Minitschew erzählt: »In jenen Tagen wurde sechzehn Stunden<br />

täglich gearbeitet ... Es wurden ungefähr hun<strong>der</strong>t Kanonen montiert.«<br />

Das kürzlich geschaffene Exekutivkomitee <strong>der</strong> Eisenbahner sollte sehr bald seine<br />

Kampftaufe empfangen. Die Eisenbahner hatten ihre beson<strong>der</strong>en Gründe, sich vor einem<br />

Sieg Kornilows zu fürchten, <strong>der</strong> in sein Programm die Militarisierung <strong>der</strong> Eisenbahnen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 466


aufgenommen hatte. Die unteren Schichten überholten auch hier ihre Spitzen bei weitem.<br />

Die Eisenbahner nahmen die Schienen auseinan<strong>der</strong> und sperrten die Wege, um die<br />

Kornilowschen Truppen aufzuhalten: die Kriegserfahrung kam ihnen zugute. Sie trafen<br />

auch Maßnahmen, den Herd <strong>der</strong> Verschwörung, Mohilew, zu isolieren durch Einstellung<br />

des Verkehrs nach und aus dem Hauptquartier. Die Post- und Telegraphenangestellten<br />

fingen Telegramme und Befehle aus dem Hauptquartier auf und sandten sie, o<strong>der</strong> Kopien<br />

davon, an das Komitee. Die Generale hatten sich in den Kriegsjahren daran gewöhnt, daß<br />

Eisenbahn und Post Fragen <strong>der</strong> Technik seien. Jetzt konnten sie sich über-zeugen, daß es<br />

Fragen <strong>der</strong> Politik waren.<br />

Die Gewerkschaften, am allerwenigsten zu politischer Neutralität neigend, warteten<br />

nicht auf beson<strong>der</strong>e Einladungen, um Kampfstellungen zu beziehen. Der Verband <strong>der</strong><br />

Eisenbahnarbeiter bewaffnete seine Mitglie<strong>der</strong>, entsandte sie auf die Strecken, die Wege<br />

zu beobachten, die Schienen auseinan<strong>der</strong>zunehmen, die Brücken zu bewachen, und so<br />

weiter; mit ihrem Eifer und ihrer Entschlossenheit trieben die Arbeiter die mehr bürokratische<br />

und gemäßigte Exekutive <strong>der</strong> Eisenbahner vorwärts. Der Metallarbeiterverband<br />

stellte dem Komitee <strong>der</strong> Verteidigung seine zahlreichen Angestellten zur Verfügung und<br />

wies ihm einen großen Geldbetrag für seine Ausgaben an. Der Chauffeurverband stellte<br />

dein Komitee seine Transport- und technischen Mittel zur Verfügung. Der Verband<br />

graphischer Arbeiter hatte in wenigen Stunden das Erscheinen <strong>der</strong> Zeitungen für den<br />

Montag gesichert, um die Bevölkerung über die Ereignisse auf dem laufenden zu halten,<br />

und führte gleichzeitig die wirksamste aller Kontrollen über die Presse aus. Der rebellische<br />

General hatte mit dem Fuß gestampft, - aus <strong>der</strong> Erde waren Legionen aufgetaucht:<br />

doch es waren Legionen des Feindes.<br />

Rings um Petrograd, m den Nachbargarnisonen, auf den großen Stationen, in <strong>der</strong> Flotte<br />

arbeitete man Tag und Nacht: die eigenen Reihen wurden überprüft, Arbeiter bewaffnet,<br />

an den Wegen entlang Wachabteilungen aufgestellt, Verbindungen mit den Nachbarpunkten<br />

und dem Smolny angeknüpft. Das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung mußte weniger<br />

wecken und appellieren als registrieren und lenken. Seine Pläne wurden stets übertroffen.<br />

Der Wi<strong>der</strong>stand gegen die Rebellion <strong>der</strong> Generale verwandelte sich in eine Volkstreibjagd<br />

auf die Verschwörer.<br />

In Helsingfors schuf eine Generalversamrulung sämtlicher Sewjetorganisationen ein<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee, das in das Generalgouvernement, die Kommaudantur, Konterspionage<br />

und in an<strong>der</strong>e wichtige Institutionen seine Kommissare entsandte. Von nun an hatte<br />

kein Befehl ohne <strong>der</strong>en Unterschrift Gültigkeit. Telegraph und Telephon werden unter<br />

Kontrolle gestellt. Die offiziellen Vertreter des in Helsingfors liegenden Kosakenregiments,<br />

hauptsächlich Offiziere, versuchen ihre Neutralität zu proklamieren: es sind<br />

geheime Kornilow-Anhänger. Am nächsten Tage erscheinen im Komitee gemeine<br />

Kosaken mit <strong>der</strong> Erklärung, das gesamte Regiment sei gegen Kornilow. Kosakenvertreter<br />

werden zum erstenmal in den Sowjet eingeführt. Wie stets, so auch jetzt, verschiebt <strong>der</strong><br />

scharfe Zusammenstoß <strong>der</strong> Klassen die Offiziere nach rechts, die Gemeinen nach links.<br />

Der Kronstädter Sowjet, <strong>der</strong> Zeit gefunden hatte, seine Juliwunden restlos zu heilen,<br />

sandte eine telegraphische Erklärung, daß »die Kronstädter Garnison wie ein Mann<br />

bereit ist, auf den ersten Ruf des Exekutivkomitees sich zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

zu erheben«. Die Kronstädter wußten in jenen Tagen noch nicht, in welchem Maße die<br />

Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Verteidigung ihrer selbst vor Vernichtung bedeutete: sie<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 467


konnten es nur ahnen.<br />

Schon bald nach den Julitagen war von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung beschlossen<br />

worden, die Kronstädter Festung als ein hol-schewistisches Nest aufzuheben. Die<br />

Maßnahme erklärte man in Übereinstimmung mit Kornilow offiziell mit »strategischen<br />

Gründen«. Böses ahnend, wi<strong>der</strong>setzten sich die Seeleute. »Die Legende vom Verrat im<br />

Hauptquartier«, schrieb Kerenski, nachdem er bereits selbst Kornilow des Verrats<br />

beschuldigt hatte, »faßte in Kronstadt so tiefe Wurzeln, daß je<strong>der</strong> Versuch, die Artillerie<br />

zu entfernen, dort direkt die Wut <strong>der</strong> Menge entfesselte.« Mit <strong>der</strong> Aufgabe, ein Mittel zur<br />

Liquidierung Kronstadts zu finden, betraute die Regierung Kornilow. Er hatte dieses<br />

Mittel gefunden: Sogleich nach <strong>der</strong> Zertrümmerung <strong>der</strong> Hauptstadt sollte Krymow eine<br />

Brigade mit Artillerie gegen Oranienbaum richten und unter <strong>der</strong> Mündung <strong>der</strong> Küstengeschütze<br />

von <strong>der</strong> Kronstädter Garnison Entwaffnung <strong>der</strong> Festung und Abzug auf das<br />

Festland for<strong>der</strong>n, wo man mit den Seeleuten eine Massenabrechnung vorzunehmen<br />

plante. Aber zur gleichen Zeit, als Krymow an die Ausführung <strong>der</strong> ihm von <strong>der</strong> Regierung<br />

übertragenen Aufgabe gehen wollte, sah sich die Regierung gezwungen, die<br />

Kronstädter um Rettung vor Krymow zu bitten.<br />

Das Exekutivkomitee ersuchte Kronstadt und Wyborg telephonisch, größere Truppenteile<br />

nach Petrograd zu schicken. Am Morgen des 29. begannen die Truppen<br />

einzutreffen. Das waren vorwiegend bolschewistische Abteilungen: damit <strong>der</strong> Aufruf des<br />

Exekutivkomitees Wirksamkeit erhalte, war die Bestätigung des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />

Bolschewiki erfor<strong>der</strong>lich. Etwas früher, um die Tagesmitte des 28., übernahmen, auf<br />

Kerenskis Befehl, <strong>der</strong> stark einer demütigen Bitte glich, die Verteidigung des Winterpalais<br />

Matrosen vom Kreuzer "Aurora", von dessen Kommando ein Teil noch immer im<br />

"Kresty" saß wegen Teilnahme an <strong>der</strong> Julidemonstration. In den vom Wachdienst freien<br />

Stunden besuchten die Seeleute die im Gefängnis sitzenden Kronstädter sowie Trotzki,<br />

Raskolnikow und an<strong>der</strong>e. »Ist es nicht Zeit, die Regierung zu verhaften?« fragten die<br />

Besucher. »Nein, es ist noch nicht Zeit«, vernehmen sie als Antwort, »legt das Gewehr<br />

auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow. Danach werden wir unsere Rechnung<br />

mit Kerenski machen.« Im Juni und im Juli waren diese Matrosen nicht beson<strong>der</strong>s<br />

geneigt gewesen, den Argumenten <strong>der</strong> revolutionären Strategie zu lauschen. In diesen<br />

nicht ganz vollen zwei Monaten haben sie vieles gelernt. Die Frage nach <strong>der</strong> Verhaftung<br />

<strong>der</strong> Regierung stellen sie eher, um sich selbst zu überprüfen und ihr Gewissen zu erleichtern.<br />

Sie erfassen selbst die unabwendbare Konsequenz <strong>der</strong> Ereignisse. In <strong>der</strong> ersten<br />

Julihälfte - geschlagen, verurteilt, verleumdet; Ende August - die verläßlichste Wache<br />

des Winterpalais gegen Kornilow, werden sie Ende Oktober das Winterpalais aus den<br />

Gesehützen <strong>der</strong> "Aurora" beschießen.<br />

Aber sind die Matrosen auch bereit, die Generalabrechnung mit dem Februarregime<br />

noch für eine bestimmte Zeit zu vertagen, so wollen sie keinen überflüssigen Tag länger<br />

die Kornilow-Offiziere über sich dulden. Die Vorgesetzten, die ihnen die Regierung nach<br />

den Julitagen aufgezwungen hatte, standen fast ausnahmslos auf Seiten <strong>der</strong> Verschwörer.<br />

Der Kronstädter Sowjet beseitigte unverzüglich den Regierungskommandanten und<br />

stellte einen eigenen. Jetzt schrien die Versöhnler nicht mehr über die Abson<strong>der</strong>ung einer<br />

Kronstädter Republik. Jedoch beschränkte sich die Sache durchaus nicht überall auf<br />

Absetzungen: an manchen Stellen kam es zu blutigem Strafgericht.<br />

»Es begann in Wyborg«, sagt Suchanow, »mit Nie<strong>der</strong>metzelungen von Generalen und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 468


Offizieren seitens <strong>der</strong> wutentbrannten und in Panik geratenen Matrosen- und Soldatenmengen.«<br />

Nein, das waren keine wutentbrannten Mengen, und man kann in diesem Falle<br />

wohl kaum von Panik sprechen. Am 29. morgens wurde vom Zentralkomitee <strong>der</strong> Flotte<br />

dem Kommandanten von Wyborg, General Oranowski, zur Weitergabe an die Garnison<br />

telegraphisch die Meldung vom Aufstand im Hauptquartier übermittelt. Der Kommandant<br />

hielt das Telegramm einen ganzen Tag zurück und antwortete auf Anfragen über die<br />

sich abspielenden Ereignisse, er habe keine Benachrichtigung erhalten. Bei einer von den<br />

Matrosen vorgenommenen Haussuchung wurde das Telegramm entdeckt. Auf frischer<br />

Tat ertappt, erklärte sich <strong>der</strong> General als Anhänger Kornilows. Die Matrosen erschossen<br />

den Kommandanten und mit ihm zwei weitere Offiziere, die sich als seine Gesinnungsgenossen<br />

ausgaben. Von den Offizieren <strong>der</strong> Baltischen Flotte verlangten die Matrosen ein<br />

schriftliches Treuegelöbnis für die <strong>Revolution</strong>, und als vier Offiziere des Linienschiffes<br />

"Petropawlowsk" sich sträubten, ihre Unterschrift zu geben, und sich als Kornilow-Anhänger<br />

bekannten, wurden sie auf Beschluß des Schiffskommandos an Ort und Stelle<br />

erschossen.<br />

Über Soldaten und Matrosen schwebte Todesgefahr. Blutige Säuberung stand nicht nur<br />

Petrograd und Kronstadt bevor, son<strong>der</strong>n sämtlichen Garnisonen des Landes. Nach dem<br />

Verhalten ihrer Offiziere, die neuen Mut gefaßt hatten, nach <strong>der</strong>en Ton, <strong>der</strong>en sehiefen<br />

Blicken konnten die Soldaten und Matrosen unfehlbar ihr Schicksal im Falle eines Sieges<br />

des Hauptquartiers voraussehen. Dort, wo die Atmosphäre beson<strong>der</strong>s erhitzt war, beeilten<br />

sie sich, dem Feinde den Weg abzuschneiden und <strong>der</strong> beabsichtigten Säuberungsaktion<br />

<strong>der</strong> Offiziere ihre, die Säuberungsaktion <strong>der</strong> Matrosen und Soldaten, entgegenzustellen.<br />

Der Bürgerkrieg hat bekanntlich seine Gesetze, und sie haben noch niemals als Gesetze<br />

<strong>der</strong> Humanität gegolten.<br />

Tschcheidse schickte sofort nach Wyborg und Helsingfors Telegramme, die die Selbstjustiz<br />

als »tödlichen Schlag gegen die <strong>Revolution</strong>« verurteilten. Kerenski seinerseits<br />

telegraphierte nach Helsingfors: »For<strong>der</strong>e sofortige Einstellung <strong>der</strong> abscheulichen<br />

Gewalttaten.« Sucht man die politische Verantwortung für die vereinzelten Fälle von<br />

Selbstjustiz - ohne dabei zu vergessen, daß die <strong>Revolution</strong> in ihrer Gesamtheit eine<br />

Selbstjustiz ist -, so trugen die Verantwortung in diesem Fall restlos Regierung und<br />

Versöhnler, die im Augenblick <strong>der</strong> Gefahr zu den revolutionären Massen flüchteten, um<br />

sie hierauf den konterrevolutionären Offizieren wie<strong>der</strong> auszuliefern.<br />

Wie während <strong>der</strong> Staatsberatung in Moskau, wo man von Stunde zu Stunde die<br />

Umwälzung erwartet hatte, so wandte sich Kerenski auch jetzt nach dem Bruch mit dem<br />

Hauptquartier an die Bolschewiki mit <strong>der</strong> Bitte, »die Soldaten zu beeinflussen, sich für<br />

die Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu erheben«. Während er die Matrosen-Bolschewiki zur<br />

Verteidigung des Winterpalais aufrief, entließ jedoch Kerenski seine Juligefangenen<br />

nicht aus dem Kerker. Suchanow schreibt darüber: »Die Situation, wo Alexejew mit<br />

Kerenski tuschelt und Trotzki im Gefängnis sitzt, war völlig unerträglich.« Es ist nicht<br />

schwer, sich jene Erregung vorzustellen, die in den Gefängnissen herrschte. »Wir<br />

kochten vor Empörung«, erzählt <strong>der</strong> Unterleutnant zur See Raskolnikow, »über die<br />

Provisorische Regierung, die in so unruhigen Tagen ... fortfuhr, solche <strong>Revolution</strong>äre<br />

wie Trotzki im "Kresty" verfaulen zu lassen ...« - »Welche Feiglinge, oh, welche Feiglinge«,<br />

sagte Trotzki während des Spazierganges im Kreise zu uns, »sie müßten sofort<br />

Kornilow außer Gesetz erklären, damit je<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ergebene Soldat in sich das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 469


Recht fühlt, mit ihm Schluß zu machen.«<br />

Der Einzug <strong>der</strong> Kornilowschen Truppen in Petrograd hätte vor allem die Vernichtung<br />

<strong>der</strong> inhaftierten Bolschewiki bedeutet. In dem Befehl an General Bagration, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

Avantgarde in die Hauptstadt einziehen sollte, hatte Krymow nicht vergessen, beson<strong>der</strong>s<br />

zu betonen: »Eine Bewachung <strong>der</strong> Gefängnisse und Arresthäuser einrichten, die darin<br />

befindlichen Personen jedoch keinesfalls herauslassen.« Das war ein ganzes Programm,<br />

von Miljukow seit den Apriltagen inspiriert: »Keinesfalls herauslassen!« Es gab in jenen<br />

Tagen in Petrograd kein Meeting, wo man nicht die Freilassung <strong>der</strong> Juligefangenen<br />

gefor<strong>der</strong>t hätte. Delegation auf Delegation zog zum Exekutivkomitee, das seinerseits<br />

seine Führer zu Verhandlungen ins Winterpalais schickte. Vergeblich! Die Hartnäckigkeit<br />

Kerenskis in dieser Frage ist um so bemerkenswerter, als er während <strong>der</strong> ersten<br />

an<strong>der</strong>thalb bis zwei Tage die Lage <strong>der</strong> Regierung für hoffnungslos hielt und sich folglich<br />

selbst zu <strong>der</strong> Rolle des obersten Gefängniswärters verurteilte, <strong>der</strong> die Bolschewiki für<br />

den Galgen <strong>der</strong> Generale bewachte.<br />

Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß die von den Bolschewiki geleiteten Massen, gegen<br />

Kornilow kämpfend, nicht im mindesten Kerenski trauten. Es ging für sie nicht um die<br />

Verteidigung <strong>der</strong> Regierung, son<strong>der</strong>n um die Beschirmung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Um so<br />

entschlossener und opfermutiger war ihr Kampf. Der Wi<strong>der</strong>stand gegen die Meuterei<br />

erwuchs aus Schienen, Steinen, aus <strong>der</strong> Luft. Die Eisenbahner <strong>der</strong> Station Luga, wohin<br />

Krymow gekommen war, weigerten sich beharrlich, die Militärzüge abfahren zu lassen,<br />

mit dem Hinweis, es gäbe keine Lokomotiven. Die Kosakentaffeln waren im Augenblick<br />

von bewaffneten Soldaten <strong>der</strong> zwanzigtausend Mann starken Lugaer Garnison umringt:<br />

Ein kriegerischer Zusammenstoß fand nicht statt, doch etwas viel Gefährlicheres: ein<br />

Kontakt, eine Verbindung, ein gegenseitiges Durehdrungensein. Der Lugaer Sowjet hatte<br />

inzwischen die Regierungserklärung über Kornilows Entlassung abgedruckt, und dieses<br />

Dokument wurde jetzt in den Staffeln stark verbreitet. Die Offiziere redeten den Kosaken<br />

zu, den Agitatoren nicht zu trauen. Doch schon die Notwendigkeit des Zuredens war ein<br />

bedrohliches Vorzeichen.<br />

Nach Empfang des Kornilowschen Befehls, vorzurücken verlangte Krymow mit<br />

blankem Säbel, daß die Lokomotiven in einer halben Stunde fertig zu sein hätten. Die<br />

Drohung hatte scheinbar gewirkt: wenn auch mit neuen Verzögerungen, wurden die<br />

Lokomotiven schließlich gestellt; aber die Vorwärtsbewegung war trotzdem nicht<br />

möglich, denn <strong>der</strong> Weg nach vorn war zerstört und für gute vierundzwanzig Stunden<br />

verstopft. Um sich vor <strong>der</strong> zersetzenden Propaganda zu retten, führte Krymow am Abend<br />

des 28. seine Truppen einige Werst hinter Luga zurück. Aber die Agitatoren drangen<br />

sofort auch in die Dörfer ein: es waren Soldaten, Arbeiter, Eisenbahner, vor ihnen gab es<br />

keine Rettung, sie drangen überall durch. Die Kosaken versammelten sich sogar zu<br />

Meetings. Belagert von <strong>der</strong> Propaganda und seine Hilflosigkeit verfluchend, wartete<br />

Krymow vergeblich auf Bagration: die Eisenbahner hielten die Staffeln <strong>der</strong> "wilden"<br />

Division auf denen es ebenfalls bevorstand, in den nächsten Stunden <strong>der</strong> gefährlichen<br />

moralischen Attacke ausgesetzt zu sein.<br />

Wie willenlos, ja sogar feige die Versöhnlerdemokratie an sich auch gewesen sein<br />

mochte, so hatten ihr doch jene Massenkräfte, auf die sie sich im Kampfe gegen Kornilow<br />

halb und halb wie<strong>der</strong> stützen mußte, unerschöpfliche Wirkungsquellen eröffnet. Die<br />

Sozialrevolutionäre und Mensehewiki sahen ihre Aufgabe nicht darin, Kornilows<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 470


Truppen in offenem Kampfe zu besiegen, son<strong>der</strong>n darin, sie für sich zu gewinnen. Das<br />

war richtig. Gegen diese Linie des "Versöhnlertums" hatten selbstverständlich auch die<br />

Bolschewiki nichts einzuwenden: im Gegenteil, das war gerade ihre Grundmethode; die<br />

Bolschewiki verlangten nur, daß hinter den Agitatoren und Parlamentären bewaffnete<br />

Arbeiter und Soldaten bereitstanden. Für die moralische Einwirkung auf die Kornilowschen<br />

fand sich sogleich eine unbeschränkte Auswahl an Mitteln und Wegen. So<br />

wurde <strong>der</strong> "wilden" Division eine muselmanische Delegation entgegengeschickt, <strong>der</strong> die<br />

gleich an Ort und Stelle ausfindig gemachten einheimischen Autoritäten angeglie<strong>der</strong>t<br />

waren, beginnend mit dem Enkel des berühmten Chamil, des heldenhaften Verteidigers<br />

des Kaukasus gegen den Zarismus. Die Bergtruppen erlaubten ihren Offizieren nicht, die<br />

Delegation zu verhaften: das wi<strong>der</strong>spräche den jahrhun<strong>der</strong>tealten Traditionen <strong>der</strong><br />

Gastfreundschaft. Verhandlungen fanden statt und wurden sogleich <strong>der</strong> Anfang vom<br />

Ende. Die Kornilowschen Kornmandeure hatten sich zur Begründung des ganzen<br />

Marsches auf die in Petrograd ausgebrochenen Meutereien »deutscher Agenten« berufen.<br />

Die unmittelbar aus <strong>der</strong> Hauptstadt eingetroffenen Delegierten wi<strong>der</strong>legten nicht nur die<br />

Tatsache <strong>der</strong> Meuterei, son<strong>der</strong>n wiesen mit Dokumenten in <strong>der</strong> Hand nach, daß Krymow<br />

ein Rebell sei, <strong>der</strong> die Truppen gegen die Regierung führe. Was konnten darauf Kornilows<br />

Offiziere erwi<strong>der</strong>n?<br />

Auf dem Waggon des Stabes <strong>der</strong> "wilden" Division brachten die Soldaten eine rote<br />

Fahne an mit <strong>der</strong> Aufschrift: "Land und Freiheit". Der Stabskommandant befahl, die<br />

Fahne einzurollen: »nur zur Vermeidung einer Verwechslung mit dem Eisenbahnsignal«,<br />

wie <strong>der</strong> Herr Oberstleutnant erklärte. Das Kommando des Stabes gab sich mit <strong>der</strong> ängstlichen<br />

Erklärung nicht zufrieden und verhaftete den Oberstleutnant. Ob man sich im<br />

Hauptquartier nicht doch geirrt hatte, als man sagte, den Kaukasiern sei es gleich, wen<br />

sie abschlachten?<br />

Am nächsten Morgen traf von Kornilow ein Oberst bei Krymow ein mit dem Befehl:<br />

das Korps zusammenziehen, schnell gegen Petrograd vorrücken und es »überraschend«<br />

besetzen. Im Hauptquartier versuchte man offenkundig, die Augen vor <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

noch zu verschließen. Krymow antwortete, das Korps sei auf verschiedenen Eisenbahnstrecken<br />

verstreut und werde an verschiedenen Stellen ausgeladen; unter seinem Befehl<br />

seien vorläufig nur acht Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften, die Eisenbahnlinien seien zerstört,<br />

versperrt, verbarrikadiert; Weiterkommen sei nur auf dem Marschwege möglich, und<br />

schließlich könne von einer überraschenden Besetzung Petrograds jetzt keine Rede sein,<br />

wo die Arbeiter und Soldaten in Hauptstadt und Umgebung unter Waffen ständen. Die<br />

Sache wurde dadurch noch komplizierter, daß die Möglichkeit endgültig verlorengegangen<br />

war, die Operation »überraschend« für die Truppen Krymows selbst durchzuführen:<br />

Böses ahnend, verlangten sie Aufklärung. Man war gezwungen, sie in den Konflikt<br />

zwischen Kornilow und Kerenski einzuweihen, das heißt offiziell Versammlungen auf<br />

die Tagesordnung zu stellen.<br />

Ein von Krymow in diesem Augenblick erlassener Befehl lautete: »Heute nacht erhielt<br />

ich vom Hauptquartier des Höchstkommandierenden und aus Petrograd die Mitteilung,<br />

daß in Petrograd Meutereien begonnen haben ...« Diese Lüge sollte den bereits völlig<br />

offenen Feldzug gegen die Regierung rechtfertigen. Kornilows persönlicher Befehl vom<br />

29. August lautet: »Die Konterspionage in Holland meldet: a) für die nächsten Tage<br />

wird gleichzeitig an <strong>der</strong> gesamten Front ein Schlag geplant zu dem Zwecke, unsere<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 471


auseinan<strong>der</strong>gefallene Armee zu erschüttern und zur Flucht zu zwingen, b) ein Aufstand in<br />

Finnland ist vorbereitet, c) es sind Brückensprengungen am Dnjepr und an <strong>der</strong> Wolga<br />

geplant, d) ein Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki in Petrograd wird organisiert.« Dies ist die<br />

gleiche Meldung, auf die Sawinkow schon am 23. sich berufen hatte: Holland wurde nur<br />

zur Ablenkung erwähnt, das Dokument war allen Anzeichen nach in <strong>der</strong> französischen<br />

Militärmission o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong>en Mitwirkung fabriziert worden.<br />

Kerenski telegraphierte am gleichen Tage an Krymow: »In Petrograd herrscht völlige<br />

Ruhe. Ein Aufstand wird nicht erwartet. Es besteht kein Bedürfnis nach Ihrem Korps.«<br />

Der Aufstand sollte durch die standrechtlichen Dekrete Kerenskis selbst hervorgerufen<br />

werden. Da die Regierung ihre Provokation vertagen mußte, durfte Kerenski berechtigterweise<br />

annehmen: »Ein Aufstand wird nicht erwartet.«<br />

Keinen Ausweg sehend, unternahm Krymow den sinnlosen Versuch, mit seinen acht<br />

Hun<strong>der</strong>tschaften gegen Petrograd zu marschieren. Das war mehr eine Geste zur Erleichterung<br />

des Gewissens, die selbstverständlich zu nichts führte. Einige Werst hinter Luga<br />

auf einen Wachschutz stoßend, kehrte Krymow um, ohne erst zu versuchen, den Kampf<br />

aufzunehmen. Über diese einzige, yöllig fiktive "Operation" schrieb später Krassnow,<br />

<strong>der</strong> Chef des 3. Kavalleriekorps: »Es wäre notwendig gewesen, den Schlag gegen Petrograd<br />

in einer Stärke von sechsundachtzig Schwadronen und Hun<strong>der</strong>tschaften zu führen,<br />

er wurde jedoch von einer Brigade aus acht schwachen Hun<strong>der</strong>tschaften, überdies zur<br />

Hälfte ohne Vorgesetzte, unternommen. Statt mit <strong>der</strong> Faust zuzuschlagen, schlug man mit<br />

einem Fingerchen: es war schmerzhaft für das Fingerchen und ganz unempfindlich für<br />

den, den man schlug.« Eigentlich war auch kein Schlag mit einem Fingerchen erfolgt.<br />

Einen Schmerz hat niemand verspürt.<br />

Die Eisenbahner taten unterdessen ihre Sache. Geheimnisvollerweise bewegten sich<br />

die Staffeln nicht in den Richtungen ihrer Bestimmungsorte. Die Regimenter trafen nicht<br />

bei ihren Divisionen ein, die Artillerie wurde in Sackgassen hineingetrieben, die Stäbe<br />

verloren die Verbindung mit ihren Truppenteilen. Auf allen größeren Stationen gab es<br />

eigene Sowjets, Eisenbahner- und Soldatenkomitees. Die Telegraphisten unterrichteten<br />

sie über alle Ereignisse, alle Verschiebungen, alle Verän<strong>der</strong>ungen. Die gleichen Telegraphisten<br />

hielten Kornilows Befehle auf. Für die Kornilowianer ungünstige Nachrichten<br />

wurden unverzüglich vervielfältigt, verbreitet, angeschlagen, von Mund zu Mund weitergegeben.<br />

Maschinist, Weichensteller, Wagenschmierer wurden zu Agitatoren. In dieser<br />

Atmosphäre bewegten sich, o<strong>der</strong> was noch schlimmer, standen auf einem Fleck die<br />

Kornilowschen Staffeln. Das Kommando, das die Hoffnungslosigkeit seiner Lage bald<br />

verspürte, drängte offensichtlich nicht nach vorn und erleichterte durch seine Passivität<br />

die Arbeit <strong>der</strong> Gegenverschwörer des Transportes. Die Teile <strong>der</strong> Krymowschen Armee<br />

waren auf diese Weise über Stationen, Rangierstellen und Sackgassen von acht Eisenbahnlinien<br />

verstreut. Verfolgt man auf <strong>der</strong> Karte das Schicksal <strong>der</strong> Kornilowschen<br />

Staffeln, kann man den Eindruck gewinnen, die Verschwörer hätten auf dem Eisenbahnnetz<br />

Blindekuh gespielt.<br />

»Fast überall«, schil<strong>der</strong>t General Krassnow seine Beobachtungen aus <strong>der</strong> Nacht zum<br />

30. August, »sahen wir das gleiche Bild. Bald auf den Geleisen, bald im Waggon, in den<br />

Sätteln, neben den mit den Köpfen zu ihnen geneigten schwarzen und dunkelbraunen<br />

Pferden saßen o<strong>der</strong> standen Dragoner und bei ihnen eine behende Persönlichkeit in<br />

Soldatenuniform.« Der Name dieser "behenden Persönlichkeit" wurde bald Legion. Aus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 472


<strong>der</strong> Richtung Petrograds trafen dauernd zahlreiche Regimentsdelegationen ein, die den<br />

Kornilow-Truppen entgegengesandt worden waren: alle wollten vor dem Treffen sich<br />

verständigen. Die revolutionären Truppen hegten die feste Zuversicht, daß es ohne Schlägerei<br />

ablaufen werde. Das bestätigte sich: die Kosaken kamen willig entgegen. Ein<br />

Kommando des Verbindungsdienstes des Korps ergriff Besitz von einer Lokomotive und<br />

schickte Delegierte aus über die ganze Linie. Je<strong>der</strong> Staffel wurde die entstandene Lage<br />

erklärt. Es fanden ununterbrochen Meetings statt, in denen <strong>der</strong> Schrei wuchs: Wir sind<br />

betrogen worden!<br />

»Nicht nur die Divisionschefs«, sagt <strong>der</strong>selbe Krassnow, »auch die Regimentskommandeure<br />

wußten nicht genau, wo ihre Schwadronen und Hun<strong>der</strong>tschaften waren ... Das<br />

Fehlen von Lebensmitteln und Futter erboste die Leute natürlich noch mehr. Die Leute<br />

sahen diesen ganzen Wirrwarr, <strong>der</strong> sich ringsherum abspielte, und begannen, Offiziere<br />

und Vorgesetzte zu verhaften.« Die Sowjetdelegation, die einen eigenen Stab gebildet<br />

hatte, meldete: »Die ganze Zeit finden Verbrü<strong>der</strong>ungen statt. Wir sind völlig überzeugt,<br />

daß man den Konflikt als liquidiert betrachten kann. Von allen Seiten kommen Delegationen<br />

...« Die Verwaltung <strong>der</strong> Truppenteile übernahmen an Stelle <strong>der</strong> Vorgesetzten die<br />

Komitees. Sehr bald wurde ein Sowjet <strong>der</strong> Korpsdeputierten einberufen, aus seiner Mitte<br />

eine Delegation, etwa vierzig Mann, ausgeson<strong>der</strong>t und zur Pruvisorischen Regierung<br />

entsandt. Die Kosaken begannen laut zu erklären, sie warteten nur auf den Befehl aus<br />

Petrograd, um Krymow und die übrigen Offiziere zu verhaften.<br />

Stankewitseh schil<strong>der</strong>t das Bild, das er unterwegs vorfand, als er am 30. zusammen mit<br />

Wojtinski in die Richtung nach Pskow reiste. In Petrograd batte man geglaubt, Zarskoje<br />

sei von Kornilow-Truppen besetzt - niemand war dort. »In Gatschina - niemand ...<br />

Unterwegs bis Luga - niemand. In Luga - alles still und ruhig ... Wir erreichten das Dorf,<br />

wo sich <strong>der</strong> Stab des Korps befinden sollte. Leer ... Es stellte sich heraus, daß die<br />

Kosaken am frühen Morgen aufgebrochen und in die Petrograd entgegengesetzte<br />

Richtung abmarschiert waren.« Der Aufstand rollte zurück, zersplitterte, versickerte in<br />

<strong>der</strong> Erde.<br />

Aber im Winterpalais fürchtete man sich noch immer ein wenig vor dem Gegner.<br />

Kerenski machte den Versuch, mit dem Kommandobestand <strong>der</strong> Rebellen in Verhandlungen<br />

einzutreten: dieser Weg schien ihm zuverlässiger als die "anarchische" Initiative <strong>der</strong><br />

unteren Schichten. Er schickte zu Krymow Delegierte und ließ ihn »im Namen <strong>der</strong><br />

Rettung Rußlands« bitten, nach Petrograd zu kommen, wobei er ihm ehrenwörtlich die<br />

persönliche Sicherheit garantierte. Der von allen Seiten bedrängte General, <strong>der</strong> den Kopf<br />

völlig verloren hatte, nahm selbstverständlich die Einladung an. Krymows Spuren<br />

folgend, reiste nach Petrograd eine Deputation <strong>der</strong> Kosaken.<br />

Die Fronten unterstützten das Hauptquartier nicht. Einen ernstlichen Versuch machte<br />

nur die Südwestfront. Denikins Stab hatte die Vorbereitungsmaßnahmen rechtzeitig<br />

getroffen. Die unzuverlässigen Wachen beim Stab waren durch Kosaken abgelöst<br />

worden. In <strong>der</strong> Nacht des 27. wurde die Druckerei besetzt. Der Stab versuchte die Rolle<br />

des selbstsicheren Herrn <strong>der</strong> Lage zu spielen und untersagte sogar dem Frontkomitee,<br />

den Telegraph zu henutzen. Doch die Illusion währte nicht einmal wenige Stunden.<br />

Delegierte verschiedener Truppenteile kamen zum Komitee und boten Hilfe an. Es tauchten<br />

Panzerautos, Maschinengewehre, Geschütze auf. Das Komitee unterstellte umgehend<br />

seiner Kontrolle die Tätigkeit des Stabes, dem die Initiative nur auf dem operativen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 473


Gebiet belassen wurde. Gegen 3 Uhr mittags des 28. war die Macht an <strong>der</strong> Südwestfront<br />

restlos in den Händen des Komitees konzentriert. »Noch niemals«, beklagte sich<br />

Denikin, »schien die Zukunft des Landes so finster, unsere Ohnmacht so beschämend<br />

und nie<strong>der</strong>drückend.«<br />

An den an<strong>der</strong>en Fronten spielte sich die Sache noch undramatischer ab: Die Oberkommandierenden<br />

brauchten sich nur umzuschauen, um ein Anwachsen freundlicher Gefühle<br />

für die Kommissare <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu verspüren. Am Morgen des 29.<br />

lagen im Winterpalais bereits telegraphische Treuebekundungen General Schtscherbatschews<br />

von <strong>der</strong> rumänischen Front, Wakujews von <strong>der</strong> West- und Prschewalskis von <strong>der</strong><br />

kaukasisehen Front vor. Für die Nordfront, wo Oberkommandieren<strong>der</strong> ein offener Kornilowianer,<br />

Klembowski, war, ernannte Stankewitseh zu seinem Vertreter einen gewissen<br />

Sawizki. »Der bis dahin nur wenigen bekannte, im Augenblick des Konfliktes telegraphisch<br />

ernannte Sawizki«, schreibt Stankewitsch, »hätte sich mit einem beliebigen<br />

Befehl, und sei es auch die Verhaftung des Oberkommandierenden, ruhig an eine beliebige<br />

Soldatengruppe - Infanterie, Kosaken, Ordonnanzen, sogar Junker -, wenden<br />

können, <strong>der</strong> Befehl wäre unbedenklich ausgeführt worden ...« Ohne alle Schwierigkeiten<br />

wurde Klembowski durch General Bontsch-Brujewitsch ersetzt, <strong>der</strong> später durch<br />

Vermittlung seines Bru<strong>der</strong>s, eines bekannten Bolschewiken, als einer <strong>der</strong> ersten in den<br />

Dienst <strong>der</strong> bolschewistischen Regierung trat.<br />

Nicht viel besser standen die Dinge bei <strong>der</strong> südlichen Säule <strong>der</strong> Militärpartei, dem<br />

Ataman <strong>der</strong> Dontruppen, Kaledin. In Petrograd sprach man davon, Kaledin mobilisiere<br />

die Kosakentruppen, und von <strong>der</strong> Front seien Staffeln zu ihm nach dem Don unterwegs.<br />

Währenddessen »reiste <strong>der</strong> Ataman«, nach dem Bericht eines seiner Biographen, »weitab<br />

von <strong>der</strong> Eisenbahn aus einer Kosakensiedlung in die an<strong>der</strong>e und unterhielt sich friedlich<br />

mit den Siedlungskosaken«. Kaledin operierte tatsächlich vorsichtiger, als man in den<br />

revolutionären Kreisen glaubte. Er wählte den Augenblick des offenen Aufstandes,<br />

dessen Stunde ihm vorher bekannt war, für eine "friedliche" Rundreise durch die<br />

Siedlungen, um in den kritischen Tagen außerhalb telegraphischer und je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Kontrolle zu sein und gleichzeitig die Stimmung des Kosakentums zu sondieren. Am 27.<br />

telegraphierte er von unterwegs an seinen Vertreter Bogajewski: »Man muß Kornilow mit<br />

allen Mitteln und Kräften unterstützen.« Aber gerade die Fühlungnahme mit den<br />

Siedlungskosaken hatte bewiesen, daß es eigentlich keine Mittel und Kräfte gab: die<br />

ackerbauenden Kosaken dachten nicht entfernt daran, sich zum Schutze Kornilows zu<br />

erheben. Als das Scheitern des Aufstandes immer offener zutage trat, beschloß die<br />

sogenannte "Heeresregierung" des Don, sich »bis zur Aufklärung des realen Kräfteverhälmisses«<br />

je<strong>der</strong> Meinungsäußerung zu enthalten. Dank diesem Manöver gelang es den<br />

Spitzen des Doner Kosakentums, rechtzeitig beiseitezuspringen.<br />

In Petrograd, Moskau, am Don, an <strong>der</strong> Front, auf dem Marschwege <strong>der</strong> Staffeln,<br />

überall hatte Kornilow Gesinnungsgenossen, Anhänger, Freunde. Ihre Zahl schien<br />

gewaltig, wollte man nach den Telegrammen, Begrüßungsadressen, Zeitungsartikeln<br />

urteilen. Doch seltsam: jetzt, wo für sie die Stunde gekommen war, sich zu zeigen, waren<br />

sie verschwunden. In vielen Fällen lag <strong>der</strong> Grund keinesfalls in persönlicher Feigheit.<br />

Unter den Kornilowschen Offizieren gab es nicht wenig mutige Menschen. Doch für<br />

ihren Mut fand sich kein Anwendungspunkt. In dem Moment, wo in die Bewegung die<br />

Massen eingriffen, gab es für den einzelnen keinen Zugang zu den Ereignissen. Nicht nur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 474


die schwerfälligen Industriellen, Bankiers, Professoren und Ingenieure, auch die Studenten<br />

und kampfbereiten Offiziere waren verdrängt, weggestoßen, zurückgeworfen. Sie<br />

betrachteten die sich vor ihnen entwickelnden Ereignisse wie von einem Balkon aus.<br />

Gemeinsam mit General Denikin blieb ihnen nichts an<strong>der</strong>es übrig, als ihre beschämende<br />

und nie<strong>der</strong>drückende Ohnmacht zu vertluchen.<br />

Am 30. August versandte das Exekutivkomitee an alle Sowjets die freudige Nachricht:<br />

»Unter den Truppen Kornilows herrscht völlige Zersetzung.« Es wurde für eine Weile<br />

vergessen, daß Kornilow für sein Unternehmen die patriotischsten, kampffähigsten gegen<br />

den Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki geschütztesten Truppenteile ausgewählt hatte. Der Zersetzungsprozeß<br />

bestand darin, daß die Soldaten endgültig aufgehört hatten, den Offizieren<br />

zu vertrauen, und in ihnen den Feind erkannten. Der Kampf für die <strong>Revolution</strong> und<br />

gegen Kornilow bedeutete die Vertiefung <strong>der</strong> Zersetzung <strong>der</strong> Armee, also gerade das,<br />

was den Bolschewiki zur Last gelegt wurde.<br />

Die Herren Generale erhielten endlich die Möglichkeit, die Wi<strong>der</strong>standskraft <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> nachzuprüfen, die ihnen so mürbe, hilflos, so zufällig als Siegerin über das<br />

alte Regime hervorgegangen zu sein schien. Seit den Februartagen war bei je<strong>der</strong><br />

Gelegenheit die Prahlerei <strong>der</strong> Soldateska laut geworden: Gebt mir einen festen Truppenteil,<br />

und ich will es ihnen zeigen. Aus den Erfahrungen General Chabalows und General<br />

Iwanows Ende Februar hatten die Heeresführer von jener Sorte, die nach <strong>der</strong> Schlägerei<br />

mit den Fäusten fuchtelt, nichts gelernt. Ihre Melodie sangen nicht selten auch Zivilstrategen.<br />

Der Oktobrist Schidlowski hatte versichert, wären im Februar in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

erschienen »nicht son<strong>der</strong>lich große, aber durch Disziplin und militärischen Geist<br />

verschmolzene Truppenteile, die Februarrevolution ware in wenigen Tagen unterdrückt<br />

worden«. Der weit bekannte Eisenbahnfachmann Bublikow schrieb: »Eine disziplinierte<br />

Division von <strong>der</strong> Front hätte genügt, um den Aufstand im Keime zu ersticken.« Einige<br />

Offiziere, Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse, erklärten Denikin, »ein festes Bataillon mit einem<br />

Vorgesetzten an <strong>der</strong> Spitze, <strong>der</strong> wußte, was er wollte, wäre imstande gewesen, die Lage<br />

von unten nach oben zu kehren«. Während Gutschkows Amtstätigkeit als Kriegsminister<br />

war von <strong>der</strong> Front General Krymow bei ihm eingetroffen und hatte sich erboten, »mit<br />

einer Division Petrograd zu säubern, - natürlich nicht ohne Blutvergießen«. Die Sache<br />

war nur nicht zustande gekommen, weil »Gutschkow nicht einwilligte«. Endlich hatte<br />

Sawinkow, als er für das künftige Direktorium dessen eigenen "27. August" vorbereitete,<br />

versichert, zwei Regimenter würden vollständig genügen, um die Bolschewiki in Staub<br />

und Asche zu verwandeln. Nun lieferte das Schicksal all diesen Herren in <strong>der</strong> Person des<br />

»frohen, lebenslustigen« Generals die absolute Möglichkeit, die Untrüglichkeit ihrer<br />

heroischen Berechnungen nachzuprüfen. Ohne einen Schlag geführt zu haben, reuigen<br />

Hauptes, entehrt und erniedrigt erschien Krymow im Winterpalais. Kerenski versäumte<br />

die Gelegenheit nicht, eine pathetische Szene mit ihm aufzuführen, <strong>der</strong>en billige Effekte<br />

im voraus gesichert waren. Vom Premier ins Kriegsministerium zurückgekehrt, erschoß<br />

sich Krymow mit einem Revolver. So hatte sich <strong>der</strong> Versuch, die <strong>Revolution</strong> »nicht ohne<br />

Blutvergießen« zu zähmen, gewendet.<br />

Im Winterplalais atmete man erleichtert auf, kam zu dem Schluß, die an Komplikationen<br />

so reiche Angelegenheit gehe ihrem glücklichen Ende entgegen, und beeilte sich,<br />

schnellstens zur Tagesordnung überzugehen, das heißt zur Fortsetzung des Unterbrochenen.<br />

Zum Höchstkommandierenden ernannte Kerenski sich selbst: zur Aufrechterhaltung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 475


des politischen Bündnisses mit <strong>der</strong> alten Generalität hätte er tatsächlich schwer eine<br />

geeignetere Figur finden können. Zum Generalstabschef des Hauptquartiers erwählte er<br />

Alexejew, <strong>der</strong> zwei Tage zuvor fast - fast Premier geworden war. Nach Schwankungen<br />

und Beratungen nahm <strong>der</strong> General nicht ohne verächtliche Grimasse die Ernennung an,<br />

um, wie er den Seinen erklärte, den Konflikt friedlich zu liquidieren. Der ehemalige<br />

Generalstabschef des Höchstkommandierenden Nikolai Romanow gelangte unter<br />

Kerenski auf den gleichen Posten. Es gab was zu staunen! »Nur Alexejew war imstande,<br />

dank seiner Nähe zum Hauptquartier und seinem gewaltigen Einfluß auf die höheren<br />

Militärkreise«, so versuchte später Kerenski diese ungeheuerliche Ernennung zu<br />

erklären, »die Aufgabe <strong>der</strong> schmerzlosen Übergabe des Kommandos aus Kornilows<br />

Hände in neue Hände erfolgreich durchzuführen«. Gerade umgekehrt! Die Ernennung<br />

Alexejews, das heißt eines Mannes aus ihren eigenen Kreisen, mußte die Verschwörer,<br />

blieb ihnen auch nur die geringste Möglichkeit, zu weiterem Wi<strong>der</strong>stand errnutigen. In<br />

Wirklichkeit wurde Alexejew von Kerenski nach <strong>der</strong> Liquidierung des Aufstandes aus<br />

dem gleichen Grunde vorgeschoben, aus dem Sawinkow zu Beginn des Aufstandes<br />

hinzugezogen worden war: man mußte um jeden Preis die Brücken nach rechts beschützen.<br />

Die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Freundschaft mit den Generalen betrachtete <strong>der</strong> neue<br />

Höchstkommandierende jetzt als beson<strong>der</strong>s unerläßlich: nach <strong>der</strong> Aufrüttelung wird man<br />

ja strenge Ordnung herbeiführen müssen und folglich eine doppelt feste Macht nötig<br />

haben.<br />

Im Hauptquartier war nichts mehr von dem Optimismus geblieben, <strong>der</strong> noch zwei Tage<br />

zuvor dort geherrscht hatte. Die Verschwörer suchten Rückzugswege. Das an Kerenski<br />

gerichtete Telegramm lautete, Kornilow sei geneigt, »<strong>der</strong> strategischen Situation<br />

Rechnung tragend« das Kommando friedlich nie<strong>der</strong>zulegen, falls erklärt werden sollte,<br />

daß »eine starke Regierung geschaffen wird«. Diesem großen Ultimatum des Kapitulanten<br />

folgte ein kleines: Er, Kornilow, halte »Verhaftungen von Generalen und an<strong>der</strong>en,<br />

vor allem <strong>der</strong> Armee unentbehrlichen Personen überhaupt für unzulässig«. Der erfreute<br />

Kerenski kam dem Gegner sofort einen Schritt näher, indem er mittels Radio kundtat,<br />

daß die operativen Befehle General Kornilows für alle bindend seien. Kornilow selbst<br />

schrieb hierzu am gleichen Tage an Krymow: »Es entstand eine Episode - einzig in <strong>der</strong><br />

Weltgeschichte: ein des Landes- und Hochverrats beschuldigter und straftechtlich<br />

verfolgter Höchstkommandieren<strong>der</strong> erhält den Befehl, das Armeekommando weiterzuführen...«<br />

Der neue Beweis <strong>der</strong> Waschlappigkeit Kerenskis ermutigte sofort die Verschwörer,<br />

die noch immer darauf bedacht waren, es nicht zu billlg zu tun. Trotz dem vor<br />

wenigen Stunden abgesandten Telegramms über die Unzulässigkeit des inneren Kampfes<br />

»in diesem schrecklichen Augenblick« schickte <strong>der</strong> halb und halb wie<strong>der</strong> in seine Rechte<br />

eingesetzte Kornilow zwei Mann zu Kaledin mit <strong>der</strong> Bitte um »Nachdruck« und empfahl<br />

gleichzeitig Krymow: »Falls die Situation es erlaubt, handeln Sie selbständig im Geist<br />

<strong>der</strong> Ihnen von mir erteilten Instruktion.« Der Geist <strong>der</strong> Instruktion war: Die Regierung<br />

stürzen und die Sowjetmitglie<strong>der</strong> aufhängen.<br />

General Alexejew, <strong>der</strong> neue Generalstabschef, begab sich zur Einnahme des Hauptquartiers.<br />

Im Winterpalais nahm man diese Operation immer noch ernst. In Wirklichkeit<br />

standen Kornilow zu unmittelbarer Verfügung: ein Bataillon Georgsritter, das "Kornilowsche"<br />

Infanterieregiment und das Tekiner Kavallerieregiment. Ein Bataillon <strong>der</strong><br />

Georger hatte sich von Anfang an auf die Seite <strong>der</strong> Regierung gestellt. Das Kornilowsche<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 476


und das Teltiner Regiment galten als zuverlässig, aber auch von ihnen hatte sich ein Teil<br />

abgespalten. Über Artillerie verfügte das Hauptquartier überhaupt nicht. Unter diesen<br />

Umständen konnte von einem Wi<strong>der</strong>stand nicht die Rede sein. Alexejew begann seine<br />

Mission mit <strong>der</strong> Abstattung zeremonieller Besuche bei Kornilow und Lukomski, wobei<br />

beide Parteien, wie anzunehmen ist, sich einmütig ihres Soldatenvokabulars an die<br />

Adresse Kerenskis, des neuen Höchstkommandierenden, bedienten. Für Kornilow wie<br />

auch für Alexejew war offenkundig, daß man die Rettung des Landes jedenfalls für<br />

einige Zeit vertagen müsse.<br />

Aber während im Hauptquartier <strong>der</strong> Friede ohne Sieger und Besiegte so glücklich im<br />

Entstehen war, erhitzte sich in Petrograd die Atmosphäre außerordentlich, und im<br />

Winterpalais erwartete man ungeduldig beruhigende Nachrichten aus Mohilew, um sie<br />

dem Volke zu präsentieren. Alexejew wurde dauernd mit Anfragen geplagt. Oberst<br />

Baranowski, eine Vertrauensperson Kerenskis, beklagte sich über die direkte Leitung:<br />

»Die Sowjets lärmen, man kann die Atmosphäre nur dadurch entspannen, daß man<br />

Energie zeigt und Kornilow und an<strong>der</strong>e verhaftet ...« Das entsprach durchaus nicht den<br />

Aksichten Alexejews. »Mit tiefem Bedauern ersehe ich«, erwi<strong>der</strong>t <strong>der</strong> General, »daß<br />

meine Befürchtungen, wir seien zur Zeit restlos in die rauhen Tatzen des Sowjets geraten,<br />

unbestreitbare Tatsache geworden sind.« Mit dem familiären Pronomen "wir" ist<br />

Kereuskis Gruppe gemeint, <strong>der</strong> Alexejew sich, um den Stich zu mil<strong>der</strong>n, bedingt<br />

anschließt. Oberst Baranowski antwortet ihm im gleichen Tone: »Mit Gottes Hille<br />

werden wir aus den rauhen Tatzen des Sowjets, in die wir geraten sind, herauskommen.«<br />

Kaum haben die Massen Kerenski aus den Tatzen Kornilows gerettet, als <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong><br />

Demokratie eilt, mit Alexejew einen Pakt gegen die Massen zu schließen: »Wir werden<br />

aus den rauhen Tatzen des Sowjets herauskommen.« Alexejew war dennoch gezwungen,<br />

sich <strong>der</strong> Notwendigkeit zu fügen und das Ritual <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Hauptverschwörer<br />

durchzuführen. Kornilow trat ohne Wi<strong>der</strong>stand den Hausarrest an, vier Tage, nachdem er<br />

dem Volke erklärt hatte: »Ich ziehe den Tod meiner Enthebung vorn Posten des<br />

Höchstkommandierenden vor.« Die in Mohilew eingetroffene Außerordentliche Untersuchungskommission<br />

verhaftete ihrerseits den Gehilfen des Eisenbahnministers, einige<br />

Generalstabsoffiziere, den nicht zur Vollendung gekommenen Diplomaten Aladjin wie<br />

auch die anwesenden Mitglie<strong>der</strong> des Hauptkomitees des Offiziersverbandes.<br />

In den ersten Stunden nach dem Siege gestikulierten die Versöhnler heftig. Sogar<br />

Awksentjew sprühte Blitze. Drei Tage lang hatten die Meuterer die Front ohne jegliche<br />

Anweisung gelassen! »Tod den Verrätern!« schrien die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutive.<br />

Awksentjew kam diesen Stimmen entgegen: jawohl, die Todesstrafe ist auf Verlangen<br />

Kornilows und <strong>der</strong> Seinen eingeführt worden, »um so entschiedener wird sie gegen sie<br />

selbst angewandt werden«. Stürmischer und anhalten<strong>der</strong> Beifall.<br />

Die Moskauer Kirchenversamminug, die zwei Wochen zuvor sich vor Kornilow als<br />

dem Wie<strong>der</strong>hersteller <strong>der</strong> Todesstrafe verbeugt hatte, flehte jetzt telegraphisch die Regierung<br />

an, »im Namen Gottes und <strong>der</strong> christlichen Nächstenliebe« das Leben des Generals,<br />

<strong>der</strong> sich verrechnet hatte, zu schonen. Es wurden auch an<strong>der</strong>e Hebel in Bewegung<br />

gesetzt. Jedoch die Regierung dachte gar nicht an ein blutiges Strafgericht. Als eine<br />

Delegation <strong>der</strong> "wilden" Division sich im Winterpalais Kerenski vorstellte und einer <strong>der</strong><br />

Soldaten auf die allgemeinen Phrasen des neuen Höchstkommandierenden antwortete,<br />

daß »die verräterischen Kommandeure erbarmungslose Strafe treffen muß«, unterbrach<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 477


ihn Kerenski mit den Worten: »Eure Sache ist es jetzt, euren Vorgesetzten zu gehorchen,<br />

alles, was nötig ist, werden wir selbst tun.« Wahrhaftig, dieser Mann glaubte, die Massen<br />

haben auf <strong>der</strong> Bühne zu erscheinen, wenn er mit dem linken Fuß stampft, und zu<br />

verschwinden, wenn er mit dem rechten stampft!<br />

»Alles, was nötig ist, werden wir selbst tun.« Aber alles, was sie taten, schien den<br />

Massen unnötig, wenn schon nicht verdächtig und ver<strong>der</strong>bnisbringend. Die Massen irrten<br />

sich nicht: oben war man am meisten mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung jener Lage beschäftigt,<br />

aus <strong>der</strong> <strong>der</strong> Kornilowsche Feldzug erwachsen war. »Nach den ersten von den Mitglie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Untersuchungskommission angestellten Vernehmungen zeigte sich«, erzählt Lukomski,<br />

»daß sie alle sich höchst wohlwollend gegen uns verhielten.« Es waren im wesentlichen<br />

alles Mitverschworene und Hehler. Der Staatsanwalt des Ktiegsgerichts,<br />

Schablowski, gab den Angeklagten Unterweisungen in Täuschung <strong>der</strong> Justiz. Die<br />

Frontorganisationen schickten Proteste. »Die Generale und <strong>der</strong>en Mitschuldige werden<br />

nicht als Verbrecher am Staate und am Volke behandelt ... Die Rebellen besitzen volle<br />

Freiheit im Verkehr mit <strong>der</strong> Außenwelt.« Lukomski bestätigt: »Der Stab des Höchstkommandierenden<br />

informierte uns über alle uns interessierenden Fragen.« Die empörten<br />

Soldaten versuchten mehr als einmal, selbst Gericht zu halten über die Generale, und vor<br />

diesem Strafgericht rettete die Verhafteten nur die in Bychow, dein Orte ihrer Inhaftierung,<br />

stationierte konterrevolutionäre polnische Division.<br />

Am 12. September schrieb General Alexejew aus dem Hauptquartier an Miljukow<br />

einen Brief, <strong>der</strong> die gerechte Empörung <strong>der</strong> Verschwörer über das Verhalten <strong>der</strong><br />

Großbourgeoisie ausdrückte, die sie zuerst aufgestachelt und nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage ihrem<br />

Schicksal überlassen hätte. »Es dürfte Ihnen bis zu einem gewissen Grade bekannt sein«,<br />

schrieb nicht ohne Gift <strong>der</strong> General, »daß bestimmte Kreise unserer Gesellschaft nicht<br />

nur alles gewußt, nicht nur mit altem geistig sympathisiert, son<strong>der</strong>n auch Kornilow nach<br />

Kräften geholfen haben ...« Im Namen des Verbandes <strong>der</strong> Offiziere verlangte Alexejew<br />

von Wyschnegradski, Putilow und an<strong>der</strong>en Großkapitalistcn, die den Besiegten den<br />

Rücken gekehrt hatten, unverzüglich dreihun<strong>der</strong>ttausend Rubel zu sammeln für die<br />

»hungernden Familien jener, mit denen sie durch Gemeinsamkeit <strong>der</strong> Idee und <strong>der</strong><br />

Vorbereitung verbunden waren ...« Der Brief schloß mit einer direkten Drohung: »wenn<br />

die ehrliche Presse nicht sofort an eine energische Aufklärung <strong>der</strong> Sache gehen sollte ...,<br />

würde General Kornilow gezwungen sein, vor Gericht die ganze Vorbereitung, alle<br />

Verhandlungen mit den Personen und Gesellschaftskreisen und <strong>der</strong>en Teilnahme weitgehend<br />

zu entwickeln«, und so weiter. Über die praktischen Resultate dieses traurigen<br />

Ultimatums erzählt Denikin: »Erst Ende Oktober brachte man Kornilow aus Moskau<br />

etwa vierzigtausend Rubel.« Miljukow war zu dieser Zeit von <strong>der</strong> politischen Arena<br />

überhaupt abwesend: nach <strong>der</strong> offiziellen Version <strong>der</strong> Kadetten war er »zur Erholung in<br />

die Krim« abgereist. Nach allen Aufregungen hatte <strong>der</strong> liberale Führer tatsächlich<br />

Erholung nötig.<br />

Die Untersuchungskomödie dauerte bis zur bolschewistischen Umwälzung, wonach<br />

Kornilow und seine Mitverschworenen nicht nur in Freiheit gesetzt, son<strong>der</strong>n von<br />

Kerenskis Hauptquartier mit allen notwendigen Dokumenten versehen wurden. Diese<br />

flüchtigen Generale haben später den Bürgerkrieg begonnen. Im Namen <strong>der</strong> heiligen<br />

Ziele, die Kornilow nut dem Liberalen Miljukow und dem Schwarzhun<strong>der</strong>t Rimskij-<br />

Korssakow verbanden, wurden Hun<strong>der</strong>ttausende ermordet, <strong>der</strong> Süden und <strong>der</strong> Osten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 478


Rußlands ausgeplün<strong>der</strong>t und verwüstet, die Wirtschaft des Landes endgültig erschüttert,<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>der</strong> rote Terror aufgezwungen. Der Kerenskis Justiz glücklich entronnene<br />

Kornilow fiel bald an <strong>der</strong> Bürgerkriegsfront von einem bolschewistischen Geschoß.<br />

Kaledins Schicksal gestaltete sich nicht viel an<strong>der</strong>s. Die Doner "Heeresregierung"<br />

verlangte nicht nur die Aufhebung des Befehls zur Verhaftung Kaledins, son<strong>der</strong>n auch<br />

dessen Wie<strong>der</strong>einsetzung in das Amt des Atamans. Kerenski versäumte auch hier nicht,<br />

einen Rückzug anzutreten. Skobeljew reiste nach Nowotscherkassk, um sich bei den<br />

Kosakentruppen zu entschuldigen. Der demokratische Minister mußte die ausgesuchtesten<br />

Verhöhnungen, die von Kaledin selbst geleitet wurden, über sich ergehen lassen.<br />

Der Triumph des Kosakengenerals war allerdings nicht von langer Dauer. Durch die<br />

bolschewistische <strong>Revolution</strong> am eigenen Don von allen Seiten bedrängt, beging Kaledin<br />

wenige Monate später Selbstmord. Kornilows Banner ging danach in die Hände des<br />

Generals Denikin und des Admirals Koltschak über, mit <strong>der</strong>en Namen die Hauptperiode<br />

des Bürgerkriegs verbunden ist. Doch gehört das alles bereits in das Jahr 1918 und die<br />

folgenden Jahre.<br />

Die Massen unter den Schlägen<br />

Unmittelbare Ursachen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sereignisse sind Verän<strong>der</strong>ungen im Bewußtsein<br />

<strong>der</strong> kämpfenden Klassen. Die materiellen Beziehungen <strong>der</strong> Gesellschaft bestimmen nur<br />

das Flußbett dieser Prozesse. Ihrer Natur nach besitzen die Verän<strong>der</strong>ungen des Kollektivbewußtseins<br />

einen halb unterirdischen Charakter; erst wenn sie eine bestimmte<br />

Spannungskraft erreicht haben, drängen die neuen Stimmungen und Gedanken an die<br />

Oberfläche als Massenaktionen, die ein neues, wenn auch sehr unbeständiges gesellschaftliches<br />

Gleichgewicht herstellen. Der Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entblößt an je<strong>der</strong> neuen<br />

Etappe das Machtproblem, um es sogleich wie<strong>der</strong> zu verschleiern - bis zu einer neuen<br />

Entblößung. Genauso ist auch <strong>der</strong> Mechanismus <strong>der</strong> Konterrevolution, mit dem Unterschiede,<br />

daß hier <strong>der</strong> Film in umgekehrter Richtung abrollt.<br />

Was in den Regierungs- und Sowjetspitzen geschieht, bleibt keinesfalls ohne Bedeutung<br />

für den Gang <strong>der</strong> Ereignisse. Doch den wirklichen Sinn einer politischen Partei<br />

begreifen und die Manöver <strong>der</strong> Führer dechiffrieren kann man nur in Verbindung mit <strong>der</strong><br />

Aufdeckung <strong>der</strong> tiefen Molekularprozesse im Bewußtsein <strong>der</strong> Massen. Im Juli hatten die<br />

Arbeiter und Soldaten eine Nie<strong>der</strong>lage erlitten, aber schon im Oktober eroberten sie in<br />

unüberwindlichem Ansturm die Macht. Was hat sich in diesen vier Monaten in ihren<br />

Köpfen abgespielt? Wie haben sie die Schläge, die auf sie von oben nie<strong>der</strong>prasselten,<br />

empfunden? Mit welchen Gedanken und Gefühlen begegneten sie dem offenen<br />

Machteroberungsversuch <strong>der</strong> Bourgeoisie? Der Leser wird zu <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>lage zurückkehren<br />

müssen. Man muß häufig zurückweichen, um besseren Anlauf zu haben. Und <strong>der</strong><br />

Oktobersprung steht bevor.<br />

In <strong>der</strong> offiziellen Sowjethistoriographie hat sich die zur gewissen Schablone erstarrte<br />

Meinung herausgebildet, als sei <strong>der</strong> Julivorstoß gegen die Partei - Repressalien in<br />

Verbindung mit <strong>der</strong> Verleumdung - fast spurlos an den Arbeiterorganisationen vorbeigegangen.<br />

Das ist ganz falsch. Allerdings währte die Nie<strong>der</strong>geschlagenheit in den Reihen<br />

<strong>der</strong> Partei und das Abfluten <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten aus ihr nicht lange, nur einige<br />

Wochen. Die Wie<strong>der</strong>auferstehung erfolgte so schnell und vor allem so stürmisch, daß sie<br />

allein schon die Erinnerung an die Tage des Druckes und <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>geschlagenheit halb<br />

verwischte: ein Sieg zeigt überhaupt die Nie<strong>der</strong>lagen, die ihn vorbereiteten, in an<strong>der</strong>em<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 479


Lichte. Doch je mehr Protokolle lokaler Parteiorganisationen veröffentlicht werden,<br />

desto krasser tritt das Juliabflauen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hervor, das in jenen Tagen um so<br />

schmerzlicher empfunden wurde, je dauerhafter <strong>der</strong> Charakter des vorangegangenen<br />

Aufstieges gewesen war.<br />

Jede Nie<strong>der</strong>lage - Ergebnis eines bestimmten Kräfteverhältnisses - verän<strong>der</strong>t ihrerseits<br />

dieses Verhältnis zuungunsten <strong>der</strong> besiegten Partei, denn beim Sieger steigt das Selbstvertrauen,<br />

bei dem Besiegten aber sinkt <strong>der</strong> Glaube an sich. Indes bildet diese o<strong>der</strong> jene<br />

Einschätzung <strong>der</strong> eigenen Kraft ein äußerst wichtiges Element des objektiven Kräfteverhältnisses.<br />

Unmittelbar hatten eine Nie<strong>der</strong>lage die Arbeiter und Soldaten Petrograds erlitten,<br />

die bei ihrem Vordringen einerseits auf das Unklare und Wi<strong>der</strong>spruchsvolle ihres<br />

eigenen Zieles, an<strong>der</strong>erseits auf die Rückständigkeit <strong>der</strong> Provinz und <strong>der</strong> Front gestoßen<br />

waren. In <strong>der</strong> Hauptstadt zeigten sich deshalb die Folgen <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage zuallererst und<br />

am schärfsten. Ganz falsch jedoch sind die in <strong>der</strong> gleichen offiziellen Literatur so häufigen<br />

Behauptungen, als sei für die Provinz die Julinie<strong>der</strong>lage fast unbemerkt geblieben.<br />

Das ist theoretisch unwahrscheinlich und wird durch das Zeugnis <strong>der</strong> Tatsachen und<br />

Dokumente wi<strong>der</strong>legt. War die Rede von großen Frage, wandte jedesmal das ganze Land<br />

unwillkürlich den Kopf in die Richtung Petrograds. Die Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Soldaten in <strong>der</strong> Hauptstadt mußte gerade auf die fortgeschrittensten Schichten <strong>der</strong><br />

Provinz ungeheuren Eindruck machen. Schrecken, Enttäuschung, Apathie durchströmten<br />

verschiedene Teile des Landes auf verschiedene Art, waren aber allerorts zu beobachten.<br />

Der Abstieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kündigte sich zuallererst im starken Nachlassen des Wi<strong>der</strong>standes<br />

<strong>der</strong> Massen gegen die Feinde an. Während die nach Petrograd gebrachten<br />

Truppen offizielle Entwaffnungsexekutionen gegen Soldaten und Arbeiter vornahmen,<br />

verübten unter ihrer Deckung halbfreiwillige Banden straflos Überfälle auf Arbeiterorganisationen.<br />

Nach <strong>der</strong> Zertrümmerung <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' und <strong>der</strong> Druckerei <strong>der</strong><br />

Bolschewiki wurde das Gewerkschaftshaus <strong>der</strong> Metallarbeiter verwüstet. Die nächsten<br />

Schläge richten sich gegen die Bezirkssowjets. Auch die Versöhnler bleiben nicht<br />

verschont: am 10. ist eine Institution jener Partei einem Überfall augesetzt, an <strong>der</strong>en<br />

Spitze Innenminister Zeretelli steht. Dan hatte keine geringe Selbstentäußerung nötig, um<br />

anläßlich <strong>der</strong> eingetroffenen Truppen zu schreiben: »Statt des Unterganges <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

sind wir jetzt Zeugen ihres neuen Triumphes.« Der Triumph ging so weit, daß nach<br />

den Worten des Menschewiken Pruschitzki, Straßenpassanten, sahen sie Arbeitern<br />

ähnlich und wurden sie des Bolschewismus verdächtigt, Gefahr drohte, grausam<br />

mißhandclt zu werden. Welch unfehlbares Symptom einer schroffen Wandlung <strong>der</strong><br />

Gesamtsituation!<br />

Das Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> bolschewistischen Komitees, Lazis, in <strong>der</strong> Folge bekannter<br />

Mitarbeiter <strong>der</strong> "Tscheka", vermerkte in seinem Tagebuch: »9. Juli. In <strong>der</strong> Stadt sind<br />

alle unsere Druckereien zerstört. Niemand wagt, unsere Zeitungen und Flugblätter zu<br />

drucken. Wir nehmen Zuflucht zur Installierung einer illegalen Druckerei. Der Wyborger<br />

Bezirk ist ein Asyl für alle gewordeo. Hierher sind das Petrogra<strong>der</strong> Komitee und die<br />

verfolgten Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees übergesiedelt. Im Wächterhäuschen <strong>der</strong><br />

Renoschen Fabrik finden Beratungen des Komitees mit Lenin statt. Es geht um die Frage<br />

des Generalstreiks. Bei uns im Komitee sind die Stimmen geteilt. Ich war für den Aufruf<br />

zum Streik. Lenin, nachdem er die Lage beleuchtet hatte, schlug vor, darauf zu verzichten<br />

... 12. Juli. Die Konterrevolution siegt. Die Sowjets sind machtlos. Die losgelassenen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 480


Junker gehen bereits auch gegen die Menschewiki vor. In einem Teil <strong>der</strong> Partei herrscht<br />

Unsicherheit. Der Zustrom von Mitglie<strong>der</strong>n hat aufgehört Doch eine Flucht aus unseren<br />

Reihen gibt es noch nicht.« Nach den Julitagen »herrschte in den Petrogra<strong>der</strong> Betrieben<br />

starker sozialrevolutionärer Einfluß«, schreibt <strong>der</strong> Arbeiter Sissko. Die Isolierung <strong>der</strong><br />

Bolschewiki steigerte automatisch Gewicht und Selbstbewußtsein <strong>der</strong> Versöhnler. Am<br />

16. Juli berichtet in <strong>der</strong> bolsehewistischen Stadtkonferenz <strong>der</strong> Delegierte des Wassiliiostrower<br />

Bezirkes, die Stimmung dort sei mit Ausnahme einiger Betriebe »im<br />

allgemeinen« gut. »Im Baltischen Werk schlagen uns die Sozialrevolutionäre und<br />

Menschewiki.« Hier war es sehr weit gekommen: das Betriebskomitee verfügte, daß die<br />

Bolschewiki an <strong>der</strong> Beerdigung <strong>der</strong> getöteten Kosaken teilzunehmen hätten, was sie auch<br />

taten ... Der offizielle Mitglie<strong>der</strong>abgang <strong>der</strong> Partei ist allerdings nicht groß: im ganzen<br />

Bezirk traten von den viertausend Mitglie<strong>der</strong>n etwa hun<strong>der</strong>t offen aus. Bedeutend größer<br />

war die Zahl <strong>der</strong>er, die in den ersten Tagen schweigend beiseitetraten. »Die Julitage«,<br />

erinnerte sich später <strong>der</strong> Arbeiter Minitschew, »bewiesen, daß in unseren Reihen<br />

Menschen waren, die aus Angst um ihre Haut die Parteimitgliedskarte "verschluckten"<br />

und <strong>der</strong> Partei abschworen. Doch solcher gab es nicht viele ...« fügt er beruhigend<br />

hinzu. »Die Juliereignisse«, schreibt Schljapnikow, »und die gesamte mit ihnen verbundene<br />

Kampagne <strong>der</strong> Gewaltakte und Verleumdung gegen unsere Organisationen haben<br />

das Wachsen unseres Einflusses, <strong>der</strong> Anfang Juli riesige Kraft erreicht hatte, unterbrochen<br />

... Unsere Partei war halblegal und führte einen Verteidigungskampf, gestützt<br />

hauptsächlich auf Gewerkschaften und Fabrikkomitees.«<br />

Die Beschuldigung gegen die Bolschewiki, in Deutschlands Dienst zu sein, konnte<br />

sogar auf die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter, mindestens auf einen großen Teil, nicht ohne<br />

Eindruck bleiben. Wer schwankend war, prallte zurück. Wer daran war, sich anzuschließen,<br />

wurde schwankend. Sogar von jenen, die sich bereits angeschlossen hatten, gingen<br />

nicht wenige weg. An <strong>der</strong> Julidemonstration hatten neben den Bolschewiki breiten Anteil<br />

auch Arbeiter genommen, die den Sozialrevolutionären und Menschewiki angehörten.<br />

Nach dem Schlage sprangen sie als erste unter ihr Parteibanner zurück: jetzt schien es<br />

ihnen, sie hätten tatsächlich mit <strong>der</strong> Disziplinverlerzung einen Fehler begangen. Eine<br />

breite Schicht parteiloser Arbeiter und Parteimitläufer rückte ebenfalls ab unter dem<br />

Eindruck <strong>der</strong> offiziell verkündeten und juristisch aufgemachten Verleumdung.<br />

In dieser verän<strong>der</strong>ten politischen Atmosphäre übten die Schläge <strong>der</strong> Repressalien<br />

doppelte Wirkung aus. Olga Rawitsch, eine <strong>der</strong> alten und aktiven Parteiarbeiterinnen,<br />

Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees, sagte später in ihrem Bericht: »Die Julitage hatten<br />

die Organisation <strong>der</strong>art zerschlagen, daß von irgendeiner Arbeit in den folgenden drei<br />

Weichen nicht die Rede sein konnte.« Rawitsch meint damit hauptsächlich die offene<br />

Parteiarbeit. Längere Zeit konnte man die Herausgabe <strong>der</strong> Parteizeitung nicht bewerkstelligen:<br />

es fand sich keine Druckerei, die für die Bolschewiki arbeiten wollte. Nicht immer<br />

ging dabei <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand von den Besitzern aus: in einer Druckerei drohten die Arbeiter<br />

mit Streik, falls die bolschewistische Zeitung gedruckt würde, und so mußte <strong>der</strong> Besitzer<br />

von dein bereits abgeschlossenen Vertrag zurücktreten. Eine Zeitlang wurde Petrograd<br />

mit <strong>der</strong> Kronstädter Zeitung versorgt.<br />

Als äußerster linker Flügel in <strong>der</strong> offenen Arena erwies sich in diesen Tagen die<br />

Gruppe <strong>der</strong> Menschewiki-lnternationalisten. Die Arbeiter besuchten gern die Vorträge<br />

Martows, in dem während <strong>der</strong> Rückzugsperiode <strong>der</strong> Instinkt des Kämpfers erwachte, als<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 481


es hieß, nicht für die <strong>Revolution</strong> neue Wege zu bahnen, son<strong>der</strong>n für die Reste ihrer<br />

Eroberungen zu kämpfen. Martows Mut war <strong>der</strong> Mut des Pessimismus. »Hinter <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>«, sagte er in einer Sitzung des Exekutivkomitees, »ist wohl ein Punkt<br />

gestellt... Wenn es schon so weit gekommen ist ... daß... für die Stimme <strong>der</strong> Bauernschaft<br />

und <strong>der</strong> Arbeiter in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> kein Raum bleibt, dann wollen wir ehrlich<br />

von <strong>der</strong> Bühne abtreten und diese Herausfor<strong>der</strong>ung nicht unter schweigendem Verzicht<br />

hinnehmen, son<strong>der</strong>n in ehrlichem Kampfe.« Mit ehrlichem Kampfe von <strong>der</strong> Bühne<br />

abzutreten, schlug Martow jenen seiner Parteigenossen vor, die, wie Dan und Zeretelli,<br />

den Sieg <strong>der</strong> Generale und Kosaken über die Arbeiter und Soldaten als einen Sieg <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> über die Anarchie einschätzten. Auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> entfesselten Hetze<br />

gegen die Bolschewiki und <strong>der</strong> iedrigen Kriecherei <strong>der</strong> Versöhnler vor den Kosakenstreifen<br />

ließ Martows Haltung während jener schweren Wochen ihn hoch in den Augen <strong>der</strong><br />

Arbeiter steigen.<br />

Beson<strong>der</strong>s vernichtend traf die Julikrise die Petrogra<strong>der</strong> Garnison. Die Soldaten<br />

blieben politisch weit hinter den Arbeitern zurück. Die Soldatensektion des Sowjets war<br />

noch immer die Stütze <strong>der</strong> Versöhnler, während die Arbeitersektion bereits mit den<br />

Bolschewiki ging. Dem wi<strong>der</strong>sprach die Tatsache nicht, daß die Soldaten beson<strong>der</strong>e<br />

Bereitschaft zeigten, mit den Waffen zu klirren. Bei Demonstrationen spielten sie eine<br />

aggressivere Rolle als die Arbeiter, aber unter den Schlägen prallten sie weit zurück. Die<br />

Welle <strong>der</strong> Feindseligkeit gegen die Bolschewiki schlug in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sehr<br />

hoch empor. »Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage«, erzählt <strong>der</strong> ehemalige Soldat Mitrewitsch, »gehe<br />

ich nicht zu meiner Kompanie, denn man könnte dort erschlagen werden, solange <strong>der</strong><br />

Sturm nicht vorüber ist.« Gerade in den revolutionärsten Regimentern, die während <strong>der</strong><br />

Julitage in den vor<strong>der</strong>sten Reihen gegangen und deshalb unter die wütendsten Schläge<br />

geraten waren, sank <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong>art, daß dort die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong><br />

Organisation auch nach drei Monaten nicht möglich war: unter dem allzu starken Stoß<br />

zerbröckelten diese Truppenteile gleichsam moralisch. »Nach <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>lage«,<br />

schreibt <strong>der</strong> ebengenannte Minitschew, »blickten nicht nur Genossen, die zur Spitze<br />

unserer Partei zählten, son<strong>der</strong>n auch einige Bezirkskomitees nicht mit großer Freundlichkeit<br />

auf die militärische Organisation.«<br />

In Kronstadt verlor die Partei zweihun<strong>der</strong>tfünfzig Mitglie<strong>der</strong>. Die Stimmung in <strong>der</strong><br />

Garnison <strong>der</strong> bolschewistischen Festung war sehr gesunken. Die Reaktion ergriff auch<br />

Helsingfors. Awksentjew, Bunakow, <strong>der</strong> Advokat Sokolow trafen ein, um die bolschewistischen<br />

Schiffe zur Reue zu bewegen. Einiges konnten sie erreichen. Durch Verhaftung<br />

führen<strong>der</strong> Bolschewiki, Ausnutzung <strong>der</strong> offiziellen Verleumdung und Drohungen gelang<br />

es, eine Loyalitätserklärung zu erhalten, sogar seitens des bolschewistischen Panzerkreuzers<br />

"Petropawlowsk". Die For<strong>der</strong>ung, die Anstifter auszuliefern, wurde jedoch von<br />

sämtlichen Schiffen abgelehnt.<br />

Nicht viel an<strong>der</strong>s verlief die Sache in Moskau. »Die Hetze <strong>der</strong> bürgerlichen Presse«,<br />

schreibt Pjatnitzki, »wirkte sogar auf einige Mitglie<strong>der</strong> des Moskauer Komitees panisch.«<br />

Die Organisation wurde nach den Julitagen zahlenmäßig schwächer. »Niemals werde<br />

ich«, schreibt <strong>der</strong> Moskauer Arbeiter Ratechin, »einen mör<strong>der</strong>isch schweren Augenblick<br />

vergessen. Es versammelt sich das Plenum (des Samoskworezker Bezirkssowjets) ... Ich<br />

sehe mich um, unserer bolschewistischen Genossen sind nur wenige ... Steklow, einer <strong>der</strong><br />

energischen Genossen, kommt dicht an mich heran und fragt, die Worte kaum hervor-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 482


ingend: ist es wahr, daß man Lenin und Sinowjew im plombierten Wagen gebracht hat,<br />

ist es wahr, daß sie für deutsches Geld ...? Das Herz erstarrt vor Schmerz, während ich<br />

diese Fragen höre. Ein an<strong>der</strong>er Genosse kommt hinzu, Konstantinow: Wo ist Lenin?<br />

Man sagt, er sei weggeflogen ... Was wird jetzt werden? und so weiter.« Diese lebendige<br />

Szene führt uns lückenlos in die damaligen Erlebnisse <strong>der</strong> fortgeschrittenen Arbeiter ein.<br />

»Das Erscheinen <strong>der</strong> von Alexinski veröffentlichten Dokumente«, schreibt <strong>der</strong> Moskauer<br />

Artillerist Dawydowski, »rief furchtbare Verwirrung in <strong>der</strong> Brigade hervor. Sogar<br />

unsere Batterie, die bolsehewistischste, geriet unter dem Vorstoß <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>trächtigen<br />

Lüge ebenfalls ins Schwanken ... Es schien, als hätten wir jedes Vertrauen verloren.«<br />

»Nach den Julitagen«, schreibt W. Jakowlewa, die damals Mitglied des Zentralkomitees<br />

war und die Arbeit des umfangreichen Moskauer Distriktes leitete, »betonten alle<br />

Berichte aus <strong>der</strong> Provinz einstimmig nicht nur das schroffe Sinken <strong>der</strong> Stimmung in den<br />

Massen, son<strong>der</strong>n sogar eine gewisse Feindseligkeit bei ihnen für unsere Partei. Häufig<br />

kam es vor, daß unsere Redner verprügelt wurden. Die Mitglie<strong>der</strong>zahl nahm stark ab,<br />

einige Organisationen, hauptsächlich in den südlichen Gouvernements, hörten<br />

überhaupt zu existieren auf« Gegen Mitte August fanden noch keine merklichen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

statt. Es geht eine Arbeit unter den Massen um die Erhaltung des Einflusses,<br />

ein Wachsen <strong>der</strong> Organisation ist nicht wahrzunehmen. In den Gouvernements Rjasan<br />

und Tambow gelingt es nicht, neue Verbindungen anzuknüpfen, es entstehen keine<br />

bolschewistischen Zellen, im allgemeinen bleiben sie das Reich <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki.<br />

Jewreinow, <strong>der</strong> im proletarischen Kineschma arbeitete, erinnert sich, welch schwere<br />

Situation nach den Julitagen entstand, als in einer starkbeschickten Beratung sämtlicher<br />

öffentlicher Organisationen die Frage nach dem Ausschluß <strong>der</strong> Bolschewiki aus dem<br />

Sowjet gestellt wurde. Der Abgang aus <strong>der</strong> Partei nahm mitunter solche Dimensionen an,<br />

daß die Organisation erst nach einer neuen Mitglie<strong>der</strong>registrierung ein reguläres Leben<br />

beginnen konnte. In Tula erlitt die Organisation dank <strong>der</strong> vorangegangenen ernsten<br />

Auslese <strong>der</strong> Arbeiter keinen Verlust an Mitglie<strong>der</strong>n, doch nahm ihre Verbundenheit mit<br />

den Massen ab. In Nischnij Nowgorod trat nach <strong>der</strong> unter Leitung des Obersten<br />

Werschowski und des Menschewiken Chintschuk vorgenommenen Exekutionskampagne<br />

em schroffer Nie<strong>der</strong>gang ein: bei den Wahlen zur Stadtduma vermochte die Partei nur<br />

vier Deputierte durchzubringen. In Kaluga rechnete die bolschewistische Fraktion mit<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit ihres Ausschlusses aus dem Sowjet. An einigen Punkten des Moskauer<br />

Distrikts waren die Bolschewiki gezwungen, nicht nur aus den Sowjets auszuscheiden,<br />

son<strong>der</strong>n auch aus den Gewerkschaften.<br />

In Saratow, wo die Bolschewiki mit den Versöhnlern sehr friedliche Beziehungen<br />

unterhielten und noch Ende Juni sich angeschickt hatten, bei den Wahlen zur Stadtduma<br />

gemeinsame Listen aufzustellen, waren die Soldaten nach dem Julisturm <strong>der</strong>art gegen die<br />

Bolschewiki aufgehetzt, daß sie in Wahlversammlungen eindrangen, die bolschewistischen<br />

Flugblätter den Händen entrissen und die Agitatoren verprügelten. »Es wurde uns<br />

schwer«, schreibt Lebedjew, »in Wahlversammlungen aufzutreten. Häufig schrie man<br />

uns entgegen: deutsche Spione, Provokateure!« In den Reihen <strong>der</strong> Saratower Bolschewiki<br />

fanden sich nicht wenig Kleinmütige: »Viele erklärten ihren Austritt, an<strong>der</strong>e<br />

versteckten sich.«<br />

In Kiew, das von jeher den Ruhm eines Schwarzhun<strong>der</strong>tzentrums genoß, nahm die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 483


Hetze gegen die Bolschewiki einen beson<strong>der</strong>s zügellosen Charakter an und griff bald<br />

auch auf die Mensehewiki und Sozialrevolutionäre über. Der Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> revolutionären<br />

Bewegung war hier beson<strong>der</strong>s stark zu verspüren: bei den Wahlen zur Stadtduma<br />

erhielten die Bolschewiki insgesamt nur sechs Prozent <strong>der</strong> Stimmen. In <strong>der</strong> Stadtkonferenz<br />

klagten die Berichterstatter, daß »überall sich Apathie und Untätigkeit bemerkbar<br />

machen«. Das Parteiblatt war gezwungen, vom täglichen zum wöchentlichen Erscheinen<br />

überzugehen.<br />

Auflösungen und Versetzungen revolutionärer Regimenter mußten an sich nicht nur<br />

das politische Niveau <strong>der</strong> Garnisonen hinabdrücken, son<strong>der</strong>n auch entmutigend auf die<br />

Arbeiter im Orte wirken, die sich sicherer fühlten, wenn hinter ihnen befreundete<br />

Truppenteile standen. So verän<strong>der</strong>te die Entfernung des 57. Regimentes aus Twer schroff<br />

die politische Situation, sowohl bei den Soldaten wie bei den Arbeitern: sogar in den<br />

Gewerkschaften wurde <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki gering. In noch stärkerem Maße<br />

zeigte sich dies in Tiflis, wo die Menschewiki Hand in Hand mit dem Stab die bolschewistischen<br />

Truppenteile durch vollkommen farblose Regimenter ersetzten.<br />

An einigen Punkten nahm die politische Reaktion, je nach Zusammensetzung <strong>der</strong><br />

Garnison, Niveau <strong>der</strong> Arbeiter und an<strong>der</strong>en zufälligen Gründen, einen paradoxen<br />

Ausdruck an. In Jaroslawl zum Beispiel wurden im Juli die Bolschewiki aus dem Arbeitersowjet<br />

fast restlos verdrängt, während sie in den Sowjets <strong>der</strong> Soldatendeputierten<br />

dominierenden Einfluß behielten. An einzelnen Stellen hinterließen die Juliereignisse<br />

tatsächlieh fast keine Spuren und hielten das Anwachsen <strong>der</strong> Partei nicht auf. Soweit man<br />

beurteilen kann, war dies in den Fällen zu verzeichnen, wo <strong>der</strong> allgemeine Rückzug<br />

zusammentraf mit dem Eintreten neuer rückständiger Schichten in die revolutionäre<br />

Arena. So konnte man in einigen Textilbezirken im Juli einen bedeutenden Zustrom von<br />

Arbeiterinnen zu den Organisationen beobachten. Doch das Gesamtbild des Rückflutens<br />

wird davon nicht berührt.<br />

Die nicht wegzuleugnende sogar übertriebene Schärfe des Reagierens auf die Teilnie<strong>der</strong>lage<br />

war eine Art Tribut <strong>der</strong> Arbeiter und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Soldaten für ihren allzu leichten,<br />

allzu schnellen, allzu unaufhaltsamen Zustrom zu den Bolschewiki in den<br />

vorangegangenen Monaten. Die schroffe Wendung <strong>der</strong> Massenstimmungen vollzog eine<br />

automatische und dabei uniehlbare Auslese in den Parteika<strong>der</strong>n. Auf jene, die in diesen<br />

Tagen nicht schwankend geworden waren, konnte man sich auch fernerhin verlassen. Sie<br />

bildeten den Kern in Werkstätten, Betrieben, Bezirken. Am Vorabend des Oktobers<br />

blickten die Organisatoren bei Ernennungen und Aufträgen mehr als einmal um sich,<br />

daran zurückdenkend, wie sich ein je<strong>der</strong> in den Julitagen gehalten hatte.<br />

An <strong>der</strong> Front, wo alle Beziehungen unverhüllter sind, nahm die Julireaktion beson<strong>der</strong>s<br />

erbitterten Charakter an. Das Hauptquartier benutzte die Ereignisse vor allein zur Schaffung<br />

beson<strong>der</strong>er Truppenteile <strong>der</strong> »Pflicht vor <strong>der</strong> freien Heimat«. Bei den Regimentern<br />

wurden eigene Stoßkommandos organisiert. »Ich habe die Stoßtruppler wie<strong>der</strong>holt<br />

gesehen«, erzählt Denikin »-sie waren stets nachdenklich düster. In den Regimentern<br />

stand man zu ihnen zurückhaltend o<strong>der</strong> sogar frindselig.« Nicht ohne Grund sahen die<br />

Soldaten in den »Truppenteilen <strong>der</strong> Pflicht« Zellen einer Prätorianergarde. »Die Reaktion<br />

zögerte nicht«, berichtet über die rückständige rumänische Front <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />

Degtjarjew, <strong>der</strong> sich später den Bolschewiki anschloß. »Viele Soldaten wurden als<br />

Deserteure verhaftet. Die Offiziere erhoben den Kopf und begannen die Armeekomitees<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 484


zu mißachten, hie und da versuchten die Offiziere sogar zur Ehrenbezeigung zurückzukehren.«<br />

Die Kommissare betrieben die Säuberung <strong>der</strong> Armee. »Fast jede Division«,<br />

schreibt Stankewitsch, »hatte ihren Bolschewik, mit einem Namen, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Armee<br />

bekannter war als <strong>der</strong> Name des Divi-sionschefs ... Allmählich entfernten wir eine<br />

Berühmtheit nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.« Gleichzeitig wurden an <strong>der</strong> ganzen Front Entwaffnungen<br />

ungehorsamer Truppenteile vorgenommen. Kommandeure und Kommissare stützten<br />

sich dabei auf Kosaken und die den Soldaten verhaßten Son<strong>der</strong>kommandos.<br />

An dem Tage, als Riga fiel, beschloß eine Konferenz von Kommissaren <strong>der</strong> Nordfront<br />

und Vertretern von Armeeorganisationen die Notwendigkeit einer systematischeren<br />

Anwendung strenger Repressalien. Es kamen Fälle von Erschießungen vor wegen<br />

Verbrü<strong>der</strong>ung mit den Deutschen. Viele Kommissare, erhitzt durch wirre Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />

Französischen <strong>Revolution</strong>, versuchten die eiserne Hand zu zeigen. Sie begriffen nicht,<br />

daß die jakobinischen Kommissare sich auf die unteren Schichten stützten, Aristokraten<br />

und Bourgeois nicht schonten und daß nur die Autorität <strong>der</strong> plebejischen Unnachsichtigkeit<br />

ihnen das Anpflanzen strenger Disziplin in <strong>der</strong> Armee erlaubte. Kerenskis Kommissare<br />

hatten keine Volksstütze unter sich, keine sittliche Aureole über ihrem Haupt. Sie<br />

waren in den Augen <strong>der</strong> Soldaten Agenten <strong>der</strong> Bourgeoisie, Antreiber <strong>der</strong> Entente und<br />

nichts mehr. Sie vermochten für eine Weile die Armee einzuschüchtern dies gelang ihnen<br />

bis zu einem gewissen Grade tatsächlich -, doch sie zu neuem Leben zu er-wecken,<br />

waren sie zu ohnmächtig.<br />

Im Büro des Exekutivkomitees in Petrograd berichtete man Anfang August, daß in <strong>der</strong><br />

Stiinniung <strong>der</strong> Armee eine günstige Wendung eingetreten sei. Exerzierübungen fänden<br />

statt; an<strong>der</strong>erseits aber sei das Steigen <strong>der</strong> Rechtlosigkeit, <strong>der</strong> Willkür, des Druckes zu<br />

beobachten. Beson<strong>der</strong>e Schärfe gewann die Offiziersfrage: »Sie sind völlig isoliert und<br />

bilden eigene, abgeschlossene Organisationen.« Auch an<strong>der</strong>e Angaben bestätigen, daß<br />

äußerlich an <strong>der</strong> Front größere Ordnung eingetreten war, die Soldaten hatten aufgehört,<br />

kleinlicher und zufälliger Anlässe wegen zu meutern. Aber um so konzentrierter wurde<br />

ihre Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> Gesamtlage. Aus <strong>der</strong> vorsichtigen und diplomatischen Rede<br />

des Menschewiken Kutschin in <strong>der</strong> Staatsberatung klang hinter beruhigenden Noten<br />

besorgte Warnung. »Zweifellos ist eine Wendung, zweifellos eine Beruhigung vorhanden,<br />

aber, Bürger, vorhanden ist auch etwas an<strong>der</strong>es, vorhanden ist das Gefühl irgendeiner<br />

Enttäuschung, und dieses Gefühl macht uns ebenfalls außerordentliche Sorge ...« Der<br />

vorübergehende Sieg über die Bolschewiki war vor allem ein Sieg über die neuen<br />

Hoffnungen <strong>der</strong> Soldaten, über ihren Glauben an eine bessere Zukunft. Die Massen<br />

wurden vorsichtiger, die Disziplin nahm gleichsam zu. Aber zwischen den Regierenden<br />

und den Soldaten vertiefte sich <strong>der</strong> Abgrund. Wen und was wird er morgen<br />

verschlingen?<br />

Die Julireaktion zieht gewissermaßen den endgültigen Trennungsstrich zwischen<br />

Februar- und Oktoberrevolution. Arbeiter, Hinterlandgarnisonen, Front und teilweise<br />

sogar, wie sich später zeigen wird, Bauern wichen aus, prallten zurück, wie von einem<br />

Schlag auf die Brust getroffen. Der Schlag hatte in Wirklichkeit mehr einen psychischen<br />

als einen physischen Charakter, doch machte das ihn nicht weniger wirksam. In den<br />

ersten vier Monaten hatten alle Massenprozesse nur die eine Richtung gehabt: nach links.<br />

Der Bolschewismus wuchs, erstarkte, wurde kühner. Nun aber stieß die Bewegung auf<br />

eine Schwelle. Tatsächlich zeigte sich, daß die Wege <strong>der</strong> Februarrevolution nicht weiter-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 485


führten. Vielen schien es, die <strong>Revolution</strong> habe sich überhaupt erschöpft. In Wirklichkeit<br />

hatte sich nur die Februarrevolution bis zur Neige erschöpft. Diese innere Krise des<br />

Massenbewußtseins in Verbindung mit Repression und Verleumdung führte zu Verwirrung<br />

und Rückzügen, manchmal panischer Art. Die Gegner wurden kühner. In den<br />

Massen selbst kam alles Rückständige, Träge, mit den Erschütterungen und Entbehrungen<br />

Unzufriedene nach oben. Diese rückflutenden Wellen im Strome <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

zeigen unüberwindliche Kraft: es scheint, als unterstehen sie Gesetzen sozialer Hydrodynamik.<br />

Eine solche Gegenwelle mit <strong>der</strong> Brust zu überwinden ist unmöglich, - es bleibt<br />

nur übrig, ihr standzuhalten, sich nicht wegspülen zu lassen, standzuhalten, bis die<br />

Reaktionswelle sich erschöpft hat, und gleichzeitig Stützpunkte für eine neue Offensive<br />

vorzubereiten.<br />

Betrachtete man die einzelnen Regimenter, die am 3. Juli unter bolschewistischen<br />

Plakaten gegangen waren und eine Woche später strenge Strafen gegen die Agenten des<br />

Kaisers for<strong>der</strong>ten, dann schien es, die gebildeten Skeptiker könnten einen Sieg feiern:<br />

Das sind eure Massen, das ist ihre Beständigkeit und ihr Begriffsvermögen! Doch dies ist<br />

ein billiger Skeptizismus. Würden die Massen tatsächlich ihre Gefühle und Gedanken<br />

unter dein Einfluß zufälliger Umstände wechseln, unerklärlich wäre die gewaltige<br />

Gesetzmäßigkeit, die die Entwicklung großer <strong>Revolution</strong>en charakterisiert. Je tiefer die<br />

Volksmillionen erfaßt werden, um so planmäßiger die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, mit<br />

um so größerer Sicheiheit kann man die Kontinuität <strong>der</strong> weiteren Etappen voraussagen.<br />

Man darf dabei nur nicht vergessen, daß die politische Entwicklung <strong>der</strong> Massen nicht in<br />

einer Geraden, son<strong>der</strong>n in einer komplizierten Kurve verläuft: ist doch dies im wesentlichen<br />

die Bahn aller materiellen Prozesse. Die objektiven Bedingungen stießen Arbeiter,<br />

Soldaten und Bauern gebieterisch unter das Banner <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch beschritten<br />

die Massen diesen Weg im Kampfe mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit ihrem gestrigen<br />

und teilweise auch noch heutigen Glauben. An schweren Wendepunkten, in Augenblikken<br />

von Mißerfolg und Enttäuschung, schwimmen die alten, noch nicht verkohlten<br />

Vorurteile an die Oberfläche, und die Gegner greifrn naturgemäß danach wie nach einem<br />

Rettungsanker. Alles, was an den Bolschewiki unklar, ungewohnt, rätselhaft war -<br />

Neuheit <strong>der</strong> Gedanken, Vermessenheit, Verleugnung aller alten und neuen Autoritäten -,<br />

all das fand nun plötzlich eine einfache, sogar in ihrem Unsinn noch überzeugende<br />

Deutung: deutsche Spione! Die gegen die Bolschewiki erhobene Beschuldigung war im<br />

Grunde <strong>der</strong> Einsatz auf die sklavische Vergangenheit des Volkes, auf das Erbe <strong>der</strong><br />

Finsternis, Barberei, des Aberglaubens, - und dieser Einsatz war kein leerer. Die große<br />

patriotische Lüge blieb während <strong>der</strong> Monate Juli und August ein politischer Faktor ersten<br />

Grades und bildete die Begleititrig zu allen Tagesfragen. Die Kreise <strong>der</strong> Verleumdung<br />

verbreiteten sich im Lande zusammen mit <strong>der</strong> Kadettenpresse, erfaßten Provinz und<br />

Randgebiete, drangen in die entlegensten Winkel. Ende Juli for<strong>der</strong>te die Iwanowo-Wosnessensker<br />

Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki immer noch die Eröffnung einer energischeren<br />

Kampagne gegen die Hetze! Die Frage nach dem spezifischen Gewicht <strong>der</strong> Verleumdung<br />

im politischen Kampfe <strong>der</strong> zivilisierten Gesellschaft harrt noch ihres Soziologen.<br />

Und doch war die Reaktion bei den Arbeitern und Soldaten, eine nervöse und stürmische,<br />

we<strong>der</strong> tief noch von Dauer. Die fortgeschrittenen Betriebe Petrograds begannen<br />

schon in den ersten Tagen nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung sich zu erholen, sie protestierten<br />

gegen Verhaftungen und Verleumdung, rüttelten an den Türen des Exekutivkomitees,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 486


stellten Verbindungen wie<strong>der</strong> her. In dem Sestrorezker Waffenwerk, das eine Erstürmung<br />

und Entwaffnung erlitten hatte, nahmen die Arbeiter bald wie<strong>der</strong> das Steuer in ihre<br />

Hände: eine allgemeine Versammlung am 20. Juli beschloß, den Arbeitern die Demonstrationstage<br />

zu bezahlen, um den Betrag restlos auf Literatur für die Front zu<br />

verwenden. Die offene Agitationsarbeit <strong>der</strong> Bolschewiki in Petrograd wird, nach dem<br />

Zeugnis von Olga Rawitsch, um den 20. Juli herum wie<strong>der</strong> aufgenommen. In den<br />

Versammlungen, die von nicht mehr als zwei- bis dreihun<strong>der</strong>t Menschen besucht werden,<br />

sprechen in verschiedenen Stadtteilen drei Personen: Slutzki, später in <strong>der</strong> Krim von<br />

Weißen ermordet, Wolodarski, ermordet von Sozialrevolutionären in Petrograd, und<br />

Jewdokimow, ein Petrogra<strong>der</strong> Metallarbeiter, einer <strong>der</strong> hervorragendsten Redner <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Im August nimmt die Agitationstätigkeit <strong>der</strong> Partei breitere Ausmaße an.<br />

Nach einer Aufzeichnung Raskolnikows gab <strong>der</strong> am 23. Juli verhaftete Trotzki im<br />

Gefängnis folgendes Bild von <strong>der</strong> Lage in <strong>der</strong> Stadt: »Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

... setzen die wütende Hetze gegen die Bolschewiki fort. Verhaftungen unserer<br />

Genossen dauern an. Jedoch in den Kreisen <strong>der</strong> Partei herrscht keine Nie<strong>der</strong>geschlagenheit.<br />

Im Gegenteil, alle blicken hoffnungsvoll in die Zukunft und sind <strong>der</strong> Ansicht, die<br />

Repressalien könnten die Popurarität <strong>der</strong> Partei nur stärken. Auch in den Arbeitervierteln<br />

ist keine Entmutigung wahrzunehmen.« In <strong>der</strong> Tat, sehr bald nahm eine Arbeiterversammlung<br />

von siebenundzwanzig Betrieben des Peterhofer Bezirks eine<br />

Protestresolution an gegen die unverantwortliche Regierung und <strong>der</strong>en konterrevolutionäre<br />

Politik Die proletarischen Bezirke lebten auf.<br />

Während man oben, im Winterpalais und im Taurischen Palais, eine neue Koalition<br />

zimmerte, sich einigte, trennte und wie<strong>der</strong> zusammenkleisterte, vollzog sich in den<br />

gleichen Tagen und sogar Stunden, vom 21.-22. Juli, in Petrograd ein höchst bedeutsames,<br />

in <strong>der</strong> offiziellen Welt kaum beachtetes Ereignis, das aber die Festigung einer<br />

an<strong>der</strong>en, soli<strong>der</strong>en Koalition anzeigte: die <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter mit den Soldaten <strong>der</strong><br />

aktiven Armee. In die Hauptstadt kamen Frontdelegierte mit Protesten ihrer Truppenteile<br />

gegen die Erdrosselung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Front. Etliche Tage klppften sie vergebens<br />

an die Türe des Exekutivkomitees. Man ließ sie nicht vor, wies sie ab, versuchte sie<br />

loszuwerden. Unterdessen trafen neue Delegierte ein und machten den gleichen Weg<br />

durch. Die Abgewiesenen stießen in Korridoren und Wartezimmern aufeinan<strong>der</strong>, beklagten<br />

sich, schimpften und suchten gemeinsam einen Ausweg. Dabei halfen ihnen die<br />

Bolschewiki. Die Delegierten beschlossen, ihre Gedanken auszutauschen mit den hauptstädtischen<br />

Arbeitern, Soldaten, Matrosen, die sie mit offenen Armen empfingen, ihnen<br />

Unterkunft und Verpflegung besorgten. An <strong>der</strong> Beratung, die niemand von oben einberufrn<br />

hatte, die von unten erwachsen war, beteiligten sich Vertreter von neunundzwanzig<br />

Frontregimentern, neunzig Petrogra<strong>der</strong> Betrieben, von Kronstädter Seeleuten und den<br />

umliegenden Garnisonen. Im Zentrum <strong>der</strong> Beratung standen die Delegierten <strong>der</strong> Schützengräben,<br />

unter ihnen waren auch einige jüngere Offiziere. Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />

hörten mit Gier den Frontlem zu, bemüht, kein Wort davon zu verlieren. Diese erzählten,<br />

wie die Offensive und <strong>der</strong>en Folgen die <strong>Revolution</strong> auffraßen. Graue Soldaten, nicht im<br />

mindesten Agitatoren, schil<strong>der</strong>ten in ungekünstelten Reden den Alltag des Frontdaseins.<br />

Diese Details wirkten erschütternd, denn sie zeigten anschaulich, wie sich das Alte,<br />

Vor-revolutionäre, Verhaßte wie<strong>der</strong> einschlich. Der Kontrast zwischen gestrigen<br />

Hoffnungen und heutiger Wirklichkeit traf die Herzen und stimmte sie auf einen Ton.<br />

Wenn auch bei den Frontsoldaten allem Anschein nach Sozialrevolutionäre überwogen,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 487


wurde eine scharfe bolschewistische Resolution fast einstimmig angenommen: nur vier<br />

Mann enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung. Die angenommene Resolution wird kein toter<br />

Buchstabe bleiben: zurückgekehrt, werden die Delegierten die Wahrheit erzählen, wie sie<br />

von den Versöhnlerführern zurückgestoßen und wie sie von den Arbeitern aufgenommen<br />

wurden, - den eigenen Berichterstattern werden die Schützengräben Glauben schenken,<br />

sie betrügen nicht.<br />

In <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison selbst zeigte sich <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Wendung am Ende des<br />

Monats, beson<strong>der</strong>s nach dem Meeting mit den Frontvertretern. Zwar konnten sich die<br />

Regimenter, die am schwersten gelitten hatten, von <strong>der</strong> Apathie noch immer nicht<br />

erholen. Dafür aber stieg in jenen Regimentern, die die patriotischen Positionen am<br />

längsten gehalten und die Disziplin über die ersten <strong>Revolution</strong>smonate hinweg bewahrt<br />

hatten, <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Partei zusehends. Es begann auch die Militärische Organisation<br />

sich zu erholen, die beson<strong>der</strong>s grausam unter den Schlägen gelitten hatte. Wie stets nach<br />

Nie<strong>der</strong>lagen, sah man in Parteikreisen wenig wohlwollend auf die Leiter <strong>der</strong> militärischen<br />

Arbeit und stellte ihnen die wirklichen wie die vermeintlichen Fehler und Übersteigerungen<br />

in Rechnung. Das Zentralkomitee zog die Militärische Organisation näher an<br />

sich heran, errichtete über sie durch Swerdlow und Dserschinski eine unmittelbarere<br />

Kontrolle, und die Arbeit kam wie<strong>der</strong> in Fluß, langsamer als früher, aber zuverlässiger.<br />

Ende Juli war die frühere Lage <strong>der</strong> Bolschewiki in den Petrogra<strong>der</strong> Betrieben bereits<br />

wie<strong>der</strong> hergestellt: die Arbeiter schlossen sich unter dem gleichen Banner zusammen,<br />

doch waren es nun an<strong>der</strong>e Arbeiter, reifere, das heißt vorsichtigere, aber auch entschlossenere.<br />

»In den Betrieben genießen wir einen kolossalen, uneingeschränkten Einfluß«,<br />

berichtete Wolodarski am 27. Juli auf dem Parteitag <strong>der</strong> Bolschewiki. »Die Parteiarbeit<br />

wird hauptsächlich von den Arbeitern selbst geleistet ... Die Organisation ist von unten<br />

erwachsen, und wir haben deshalb allen Grund zu glauben, daß sie nicht auseinan<strong>der</strong>fallen<br />

wird.« Der Jugendverband zählte zu jener Zeit annähernd fünfzigtausend Mitglie<strong>der</strong><br />

und geriet immer mehr unter bolschewistischen Einfluß. Am 7. August nahm die Arbeitersektion<br />

des Sowjets eine Resolution über Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafr an. Zum<br />

Zeichen des Protestes gegen die Staatsberatung überwiesen die Putilowarbeiter einen<br />

Tageslohn <strong>der</strong> Arbeiterpresse. In <strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees wird einstimmig eine<br />

Resolution angenommen, die die Moskauer Beratung als »den Versuch einer Organisierung<br />

<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte« kennzeichnet<br />

Auch Kronstadt heilte seine Wunden. Am 20. Juli for<strong>der</strong>t ein Meeting auf dem Ankerplatz<br />

Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets, Abtransport <strong>der</strong> Kosaken wie <strong>der</strong> Gendarmen<br />

und Schutzleute an die Front, Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe, Zulassung <strong>der</strong> Kronstädter<br />

Delegierten nach Zarskoje Selo, um sich davon zu überzeugen, ob Nikolaus II. hinreichend<br />

streng gehalten werde, Auflösung des Todesbataillons, Konfiszierung <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Zeitungen, und so weiter. Zur gleichen Zeit befahl <strong>der</strong> neue Admiral Tyrkow, nach<br />

Übernahme des Festungskommandos, die roten Fahnen von den Kriegsschiffen einzuziehen<br />

und die die Andreasfahne zu hissen. Offiziere und ein Teil <strong>der</strong> Soldaten legten die<br />

Achselstücke wie<strong>der</strong> an. Die Kronstädter protestierten. Eine Regierungskommission zur<br />

Untersuchung <strong>der</strong> Ereignisse des 3. bis 5. Juli mußte unverrichteter Sache aus Kronstadt<br />

nach Petrograd zurückkehren: sie war mit Pfiffen, Protestrufen und sogar Drohungen<br />

empfangen worden.<br />

Ein Ruck vollzog sich in <strong>der</strong> gesamten Flotte. »Ende Juli und Anfang August«, schreibt<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 488


einer <strong>der</strong> finnländischen Führer, Saleschski, »spürte man klar, daß es <strong>der</strong> Reaktion nicht<br />

nur nicht gelungen war, Helsingfors' revolutionäre Kräfte zu brechen, son<strong>der</strong>n - im<br />

Gegenteil - es zeigte sich hier ein scharfer Ruck nach links und ein weitgehendes<br />

Anwachsen <strong>der</strong> Sympathien für die Bolschewiki.« Die Matrosen waren in hohem Maße<br />

die Inspiratoren <strong>der</strong> Julidemonstration gewesen, ohne und zum Teil gegen die Partei, die<br />

sie <strong>der</strong> Lauheit und fast des Versöhnlertums verdächtigten. Die Erfahrung des bewaffneten<br />

Hervortretens hatte ihnen gezeigt, daß die Frage <strong>der</strong> Macht nicht so einfach zu lösen<br />

ist. Die halbanarchistischew Stimmungen machten Platz dem Vertrauen zur Partei.<br />

Höchst interessant in dieser Hinsicht ist <strong>der</strong> Bericht eines Helsingforser Delegierten von<br />

Ende Juli: »Auf den kleinen Schiffen überwiegt <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, auf<br />

den größeren Kampfschiffen, Kreuzern und Panzerkreuzern sind alle Matrosen Bolschewiki<br />

o<strong>der</strong> Sympathisierende. Ähnlich war (auch früher) die Stimmung <strong>der</strong> Matrosen auf<br />

dem "Petropawlowsk" und <strong>der</strong> "Republik, und nach dem 3.-5. Juli sind auch "Gangut",<br />

"Sewastopol", "Rjurik", "Andrej Perwoswany", "Diana", "Gromoboj" und "Indien" zu<br />

uns übergegangen. Somit befindet sich in unseren Händen eine gewaltige Kampfmacht ...<br />

Die Ereignisse des 3-5. Juli haben die Matrosen vieles gelehrt, indem sie ihnen zeigten,<br />

daß zur Erreichung des Zieles Stimmung allein nicht genügt.«<br />

Hinter Petrograd zurückbleibend, geht Moskau den gleichen Weg. »Allmählich<br />

verflüchtigt sich die Betäubung«, erzählt <strong>der</strong> Artillerist Dawydowski, »die Soldatenmasse<br />

kommt zu sich, und wir gehen auf <strong>der</strong> ganzen Front wie<strong>der</strong> zum Angriff äber. Die Lüge,<br />

die eine Weile die Linksentwicklung <strong>der</strong> Massen aufhielt, hat danach den Zustrom zu uns<br />

nur verstärkt.« Unter den Schlägen festigte sich stärker die Freundschaft <strong>der</strong> Betriebe mit<br />

den Kasernen. Der Moskauer Arbeiter Strelkow erzählt von den engen Beziehungen, die<br />

sich allmählich zwischen <strong>der</strong> Fabrik Michelson und einem benachbarten Regiment<br />

entwickelten. Die Arbeiter- und Soldatenkomitees entschieden häufig gemeinsam über<br />

praktische Fragen im Leben <strong>der</strong> Fabrik und des Regiments. Die Arbeiter veranstalteten<br />

für die Soldaten kulturelle Bildungsabende, kauften für sie bolschewistische Zeitungen,<br />

kamen ihnen überhaupt auf jede Weise zu Hilfe. »Läßt man einen ins Gewehr treten«,<br />

erzählt Strelkow, »kommen sie sofort zu uns gelaufen, sich zu beklagen ... Wird bei einem<br />

Straßenmeeting ein Michelsonarbeiter irgendwie gekränkt, braucht es nur ein Soldat zu<br />

erfahren, und ganze Gruppen eilen zu Hilfe. Und Kränkungen gab es damaIs in Hülle<br />

und Fülle, man hetzte mit dem deutschen Gold, mit Verrat und <strong>der</strong> ganzen versöhnlerischen<br />

nie<strong>der</strong>trächtigen Lüge.«<br />

Die Moskauer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees Ende Juli begann in gemäßigten Tönen,<br />

rückte aber während <strong>der</strong> acht Tage ihrer Arbeit stark nach links und nahm am Schluß<br />

eine offenkundig von Bolschewismus gefärbte Resolution an. In jenen Tagen berichtete<br />

<strong>der</strong> Moskauer Delegierte Podbielski auf dem Parteitag: »Sechs Bezirkssowjets von zehn<br />

befinden sich in unseren Händen ... Bei <strong>der</strong> gegenwärtigen organisierten Hetze rettet uns<br />

nur die Arbeitermasse, die standhaft den Bolschewismus stützt.« Anfang August<br />

kommen bei den Wahlen in den Moskauer Betrieben an Stelle <strong>der</strong> Menschewiki und<br />

Soziatrevolurionäre bereits Bolschewiki durch. Das Wachsen des Parteieinflusses zeigte<br />

sich stürmisch im Generalstreik am Vorabend <strong>der</strong> Beratung. Die offiziellen Moskauer<br />

'Iswestja' schrieben: »Es ist endlich an <strong>der</strong> Zeit zu begreifen, daß die Bolschewiki keine<br />

unverantwortlichen Gruppen sind, son<strong>der</strong>n eine <strong>der</strong> Abteilungen <strong>der</strong> organisierten<br />

revolutionären Demokratie, hinter <strong>der</strong> breite Massen stehen, vielleicht nicht immer diszi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 489


plinierte, dafür aber rückhaltlos <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ergebene.«<br />

Die Julischwächung <strong>der</strong> Positionen des Proletariats machte den Industriellen Mut. Der<br />

Kongreß <strong>der</strong> dreizehn wichtigsten Unter-nehmerorganisationen, darunter auch <strong>der</strong><br />

Banken, schuf ein Komitee zum Schutze <strong>der</strong> Industrie, das die Leitung <strong>der</strong> Aussperrungen<br />

wie überhaupt <strong>der</strong> gesamten Offensivpolitik gegen die <strong>Revolution</strong> übernahm. Die<br />

Arbeiter antworteten mit Wi<strong>der</strong>stand. Das ganze Land durchrollte eine Welle größerer<br />

Streiks und an<strong>der</strong>er Zusammenstöße. Übten die erfahrensten Abteilungen des Proletariats<br />

Vorsicht, so traten um so entschiedener in den Kampf die neuen, frischen Schichten.<br />

Warteten die Metallarbeiter ab, um zu rüsten, stürzten sich auf das Kampffeld die Arbeiter<br />

<strong>der</strong> Textil-, Gummi-, Papier-, Le<strong>der</strong>industrie. Es erhoben sich die rückständigsten und<br />

gehorsamsten Schichten <strong>der</strong> Werktätigen. Kiew war aufgewühlt durch einen stürmischen<br />

Streik <strong>der</strong> Hausdiener und Portiers: sie gingen von Haus zu Haus, löschten das Licht aus,<br />

nahmen die Schlüssel von den Aufzügen weg, öffneten die Entree-türen, und so weiter.<br />

Je<strong>der</strong> Konflikt, aus welchem Anlaß auch immer entstanden, hatte die Tendenz, sich über<br />

einen ganzen Industriezweig zu verbreitern und prinzipiellen Charakter zu gewinnen. Mit<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Arbeiter des gesamten Landes begannen im August die Le<strong>der</strong>arbeiter<br />

Moskaus einen langen und hartnäckigen Kampf um das Recht <strong>der</strong> Fabrikkomitees auf<br />

Anstellung und Entlassung von Arbeitern. In vielen Fällen, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Provinz,<br />

nahmen die Streiks dramatischen Charakter an und führten zu Verhaftungen <strong>der</strong> Unternehmer<br />

und Administratoren durch die Streikenden. Die Regierung predigte den Arbeitern<br />

Selbstbescheidung, trat mit den Industriellen in Koalition, entsandte Kosaken in das<br />

Donezgebiet und erhöhte um das Doppelte die Preise für Brot und Kriegslieferungen.<br />

Während sie die Empörung <strong>der</strong> Arbeiter zur Weißglut steigerte, brachte diese Politik<br />

auch den Untemehmern nichts ein. »Skobeljews Erleuchtung«, klagt Auerbach, einer <strong>der</strong><br />

Kapitäne <strong>der</strong> Schwerindustrie, »hat noch nicht den Arbeitskommissaren in <strong>der</strong> Provinz<br />

Erleuchtung gebracht ... Im Ministerium ... traute man den eigenen Agenten in <strong>der</strong><br />

Provinz nicht ... Man ließ Arbeitervertreter nach Petrograd kommen, redete im Marmorpalais<br />

auf sie ein, beschimpfte sie und suchte sie mit den Industriellen und Ingenieuren<br />

zu versöhnen.« Doch alles führte zu nichts: »die Arbeitermassen gerieten zu jener Zeit<br />

bereits immer mehr unter den Einfluß entschiedener und in ihrer Demagogie unbedenklieher<br />

Anführer«.<br />

Okonomischer Defätismus war die Hauptwaffe <strong>der</strong> Unternehmer gegen die Doppelherrschaft<br />

in den Betrieben. Auf einer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees in <strong>der</strong> ersten<br />

Augusthälfte wurde die auf Desorganisierung und Einstellung <strong>der</strong> Produktion gerichtete<br />

Schädlingspolitik <strong>der</strong> Industriellen in allen Details enthüllt. Außer Finanzmachinationen<br />

wandte man weitgehend Verstecken von Material, Schließung von Werkzeug-, Reparaturabteilungen<br />

und so weiter an. Krasse Beweise für Sabotage <strong>der</strong> Unternehmer gibt John<br />

Reed, <strong>der</strong> als amerikanischer Korrespondent Zutritt zu den verschiedensten Kreisen hatte,<br />

vertrauliche Nachrichten <strong>der</strong> diplematischen Ententeagenten bekam und offene Geständnisse<br />

russischer bürgerlicher Politiker anhörte. »Der Sekretär <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Organisation<br />

<strong>der</strong> Kadettenpartei«, schreibt Reed, »sagte mir, daß <strong>der</strong> ökonomische Zerfall ein<br />

Teil <strong>der</strong> zur Diskreditierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durchgeführten Kampagne sei. Ein Ententediplomat,<br />

dessen Namen nicht zu nennen ich mich verpflichtet habe, bestätigte mir dies<br />

aus eigener Kenntnis. Es sind mir Kohlengruben bei Charkow bekannt, die von den<br />

Besitzern in Brand gesteckt o<strong>der</strong> unter Wasser gesetzt wurden. Ich kenne Moskauer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 490


Textilfabriken, <strong>der</strong>en Ingenieure die Arbeit einstellten und die Maschinen unbrauchbar<br />

machten. Ich kenne Eisenbahnbeamte, die von Arbeitern bei Beschädigung von Lokomotiven<br />

ertappt wurden.« Dies war die grausame ökonomische Realität. Sie entsprach nicht<br />

den Versöhnlerillusionen, nicht <strong>der</strong> Koalitionspolitik, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vorbereitung des<br />

Kornilowschen Aufstandes.<br />

An <strong>der</strong> Front konnte sich die heilige Allianz ebensowenig durchsetzen wie im Hinterlande.<br />

Verhaftungen einzelner Bolschewiki, klagt Stankewitsch, lösten die Frage nicht.<br />

»Das Verbrecherische lag in <strong>der</strong> Luft, aber seine Konturen zeigten sich nicht klar umrissen,<br />

weil die ganze Masse infiziert war.« Wenn die Soldaten zurückhalten<strong>der</strong> geworden<br />

waren, so nur deshalb, weil sie gelernt hatten, bis zu einem gewissen Grade ihren Haß zu<br />

disziplinieren. Ging er aber mit ihnen durch, dann kamen ihre wirklichen Gefühle um so<br />

krasser zum Vorschein. Eine Kompanie des Dubensker Regimentes, die wegen <strong>der</strong><br />

Weigerung, einen neu ernannten Kompanieführer anzuerkennen, aufgelöst werden sollte,<br />

brachte noch einige Kompanien und schließlich das ganze Regiment zur Meuterei, und<br />

als <strong>der</strong> Regimentiommandeur den Versuch unternahm, die Ordnung mit Waffengewalt<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen, wurde er mit Kolben erschlagen. Das geschah am 31. Juli. Kam es in<br />

an<strong>der</strong>en Regimentern nicht so weit, so konnte es, nach dem inneren Gefühl des<br />

Konimandobestandes, stets dahin kommen.<br />

Mitte August berichtete General Schtscherbatschew ins Hauptquartier: »Die Stimmung<br />

<strong>der</strong> Infanterietruppenteile, mit Ausnahme <strong>der</strong> Todesbataillone, ist völlig unbeständig -<br />

manchmal än<strong>der</strong>t sie sich in wenigen Tagen bei einigen Infanterietruppenteilen schroff in<br />

diametral entgegengesetzter Richtung.« Viele Kommissare fingen an zu begreifen, daß<br />

die Julimethoden keinen Ausweg boten. »Die Praxis <strong>der</strong> Anwendung von revolutionären<br />

Feldgerichten an <strong>der</strong> Westfront«, meldete am 22. August <strong>der</strong> Kommissar Jamandt,<br />

»bringt schreckliche Uneinigkeit zwischen Kommandobestand und Bevölkerungsmasse<br />

und diskreditiert die idee dieser Gerichte an sich ...« Das Kornilowsche Rettungsprogramm<br />

war bereits vor dem Aufstand des Hauptquartiers hinreichend ausprobiert worden<br />

und hatte in die gleiche Sackgasse geführt.<br />

Mehr als alles an<strong>der</strong>e fürchteten die besitzenden Klassen Anzeichen <strong>der</strong> Zersetzung des<br />

Kosakentums: von dort drohte <strong>der</strong> Zusammenbruch <strong>der</strong> letzten Schutzwehr. Kosakenregimenter<br />

hatten im Februar in Petrograd die Monarchie wi<strong>der</strong>standslos ausgeliefert. Zwar<br />

hatten die Kosakenbehörden bei sich daheim, in Nowotscherkassk, versucht, die telegraphische<br />

Nachricht von <strong>der</strong> Umwälzung zu verheimlichen, und am 1. März mit üblicher<br />

Feierlichkeit die Messe für Alexan<strong>der</strong> II. abgehalten. Letzten Endes aber war das<br />

Kosakentum bereit, ohne Zaren auszukommen, und entdeckte sogar in seiner Vergangenheit<br />

republikanische Traditionen. Doch darüber hinaus wollte es nicht gehen. Die<br />

Kosaken hatten sich von Anfang an geweigert, Deputierte in den Petrogra<strong>der</strong> Sowjet zu<br />

entsenden, um sich nicht den Arbeitern und Soldaten anzugleichen, und einen Sowjet <strong>der</strong><br />

Kosakenheere gebildet, <strong>der</strong> alle zwölf Kosakenheere in <strong>der</strong> Person ihrer Hinterlandspitzen<br />

umfaßte. Die Bourgeoisie war bestrebt, und nicht ohne Erfolg, sich auf die Kosaken<br />

gegen die Arbeiter und Bauern zu stützen.<br />

Die politische Rolle des Kosakentums war durch seine beson<strong>der</strong>e Lage im Staat<br />

bestimmt. Das Kosakentum bildete von jeher einen eigenartigen privilegierten unteren<br />

Stand. Der Kosak zahlte keinerlei Steuern und verfügte über einen bedeutend größeren<br />

Bodenanteil als <strong>der</strong> Bauer. In drei benachbarten Distrikten, Don, Kuban und Terek, hatte<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 491


eine Bevölkerung von drei Millionen Kosaken dreiundzwanzig Millionen Deßjatinen<br />

Land in ihren Händen, während auf 4,3 Millionen Seelen <strong>der</strong> bäuerlichen Bevölkerung<br />

<strong>der</strong> gleichen Distrikte nur sechs Millionen Deßjatinen entfielen: pro Kopf eines Kosaken<br />

durchschnittlich fünfmal mehr als auf einen Bauern. Unter dem Kosakentum selbst war<br />

<strong>der</strong> Boden natürlich äußerst ungleichmäßig verteilt. Hier gab es Gutsbesitzer und<br />

Kulaken, mächtigere als im Norden; es gab auch arme Bauern. Je<strong>der</strong> Kosak war<br />

verpflichtet, auf den ersten Ruf des Staates hin mit eigenem Pferd und eigener Ausrüstung<br />

zu erscheinen. Die reichen Kosaken deckten diese Ausgaben in Überfluß durch die<br />

Steuerfreiheit. Die unteren Schichten krümmten sich unter dem Joch <strong>der</strong> Kosakenpflichten.<br />

Diese grundlegenden Hinweise erklären zur Genüge die wi<strong>der</strong>spruchsvolle Lage des<br />

Kosakentums. Seine unteren Schichten berührten sich nahe mit <strong>der</strong> Bauernschaft, die<br />

Spitzen mit den Gutsbesitzern. Gleichzeitig vereinigte die oberen und unteren Schichten<br />

das Bewußtsein ihrer Son<strong>der</strong>stellung und Auserwähltheit, und sie waren gewohnt, nicht<br />

nur auf den Arbeiter, son<strong>der</strong>n auch auf den Bauern von oben hinabzublicken. Dies eben<br />

machte den Durchschnittskosaken so tauglich für die Rolle des Exekutors.<br />

Während <strong>der</strong> Kriegsjahre, als die jungen Generationen an den Fronten waren, hatten in<br />

den Kosakensiedlungen die Alten, die Träger konservativer Traditionen, eng verbunden<br />

mit ihren Offizieren, das Heft in den Händen. Unter dem Schein <strong>der</strong> auferstandenen<br />

Kosakendemokraue versammelten die Kosakengutsbesitzer in den ersten <strong>Revolution</strong>smonaten<br />

die sogenannten Heeresverbände, welche die Atamane, eine Art von Präsidenten,<br />

und die "Heeresregierungen" zu wählen hatten. Die offiziellen Kommissare und Sowjets<br />

<strong>der</strong> nichtkosakischen Bevölkerung besaßen in den Kosakendistrikten keine Macht, denn<br />

die Kosaken waren stärker, reicher und besser bewaffnet. Die Sozialrevolutionäre<br />

versuchten gemeinsame Sowjets aus Bauern- und Kosakendeputierten zu bilden, doch<br />

die Kosaken zeigten kein Entgegenkommen, da sie nicht ohne Grund befürchteten, daß<br />

die Agrarrevolution ihnen einen Teil ihres Bodens wegnehmen würde. Nicht zufällig<br />

entschlüpfte Tschernow in seiner Eigenschaft als Ackerbauminister <strong>der</strong> Satz: »Die<br />

Kosaken werden sich auf ihrem Boden ein wenig zusammendrängen müssen.« Wichtiger<br />

noch war, daß die dortigen Bauern und die Soldaten <strong>der</strong> Infanterieregimenter immer<br />

häufiger den Kosaken sagten: »Wir werden schon an euer Land herankommen, Schluß<br />

mit eurer Herrschaft.« So sah es im Hinterlande, im Kosakendorf aus, teilweise auch in<br />

<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison, dem Mittelpunkt <strong>der</strong> Politik. Dies erklärt auch das Verhalten<br />

<strong>der</strong> Kosakenregimenter bei <strong>der</strong> Julidemonstration.<br />

An <strong>der</strong> Front war die Lage wesentlich an<strong>der</strong>s. Insgesamt befanden sich im Sommer<br />

1917 bei den aktiven Kosakenheeren hun<strong>der</strong>tzweiundsechzig Regimenter und hun<strong>der</strong>teinundsiebzig<br />

Einzelhun<strong>der</strong>tschaften. Von ihren Dörfern getrennt, teilten die Frontkosaken<br />

die Prüfungen des Krieges mit <strong>der</strong> gesamten Armee, machten, wenn auch mit<br />

beträchtlicher Verspätung, die Evolution <strong>der</strong> Infanterie durch, verloren den Glauben an<br />

den Sieg, ergrimmten über die Unordnung, murrten wi<strong>der</strong> die Vorgesetzten, sehnten sich<br />

nach Frieden und dem Heim. Zur Ausübung des Polizeidienstes an <strong>der</strong> Front und im<br />

Hinterlande wurden allmählich aus dem Heere fünfundvierzig Regimenter und etwa<br />

fünfundsechzig Hun<strong>der</strong>tschaften herausgezogen! Die Kosaken verwandelten sich wie<strong>der</strong><br />

in Gendarmen. Soldaten, Bauern und Arbeiter wetterten gegen sie und erinnerten sie an<br />

ihre Henkerarbeit vom Jahre 1905. Vielen Kosaken, die auf ihr Verhalten im Februar<br />

stolz zu werden begonnen hatten, ward es unbehaglich. Der Kosak fing an, seine Nagaika<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 492


zu verfluchen, und weigerte sich häufig, sie zu tragen. Unter Don- und Kubankosaken<br />

gab es wenig Deserteure: sie fürchteten ihre Alten in <strong>der</strong> Siedlung. Im allgemeinen<br />

blieben die Kosakentruppen viel länger in den Händen <strong>der</strong> Vorgesetzten als die<br />

Infanterie.<br />

Vom Don und vom Kuban kamen Nachrichten an die Front, daß die Kosakenspitzen<br />

gemeinsam mit den Alten ihre eigene Macht errichtet hätten, ohne erst die Frontkosaken<br />

zu fragen. Das weckte den schlummernden sozialen Antagonismus: »Wenn wir heimkommen,<br />

werden wir's ihnen zeigen«, sagten mehr als emmal die Frontler. Der Kosakengeneral<br />

Krassnow, einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Doner Konterrevolution, schil<strong>der</strong>t malerisch, wie die<br />

festgefügten Kosakentruppenteile an <strong>der</strong> Front auseinan<strong>der</strong>krochen: »Es begannen<br />

Meetings, wildeste Resolutionen wurden angenommen ... Die Kosaken hörten auf, die<br />

Pferde zu putzen und regelmäßig zu fürtern. An irgendwelche Übungen war nicht zu<br />

denken. Die Kosaken schmückten sich mit Purpurschleifen, staffierten sich mit roten<br />

Bän<strong>der</strong>n aus und wollten von einer Achtung vor Offizieren nichts hören.« Ehe er jedoch<br />

endgültig in diesen Zustand geraten war, hatte <strong>der</strong> Kosak lange geschwankt, sich den<br />

Kopf gekratzt und gesucht, nach welcher Richtung er sich wenden solle. Es war deshalb<br />

nicht leicht, im kritischen Moment vorauszusehen, wie sich <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Kosakentruppenteil verhalten würde.<br />

Am 8. August schloß <strong>der</strong> Heeresverband am Don einen Block mit den Kadetten für die<br />

Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die Kunde davon drang sofort in die<br />

Armee. »Bei den Kosaken«, schreibt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Janow, »wurde <strong>der</strong> Block<br />

durchwegs ablehnend aufgenommen. Die Kadettenpartei hatte in <strong>der</strong> Armee keine<br />

Wurzeln.« Tatsächlich haßte die Armee die Kadetten und identifizierte sie mit allem, was<br />

die Volksmassen würgte. »Die Alten haben euch an die Kadetten verkauft«, höhnten die<br />

Soldaten. - »Wir werden's ihnen zeigen!« erwi<strong>der</strong>ten die Kosaken. An <strong>der</strong> Südwestfront<br />

kennzeichneten Kosakentruppenteile in einer beson<strong>der</strong>en Verfügung die Kadetten als die<br />

»geschworenen Feinde und Bedrücker des werktätigen Volkes« und verlangten den<br />

Ausschluß aller jener aus dem Heeresverband, die es gewagt hatten, das Bündnis mit den<br />

Kadetten einzugehen.<br />

Kornilow, selbst Kosak, rechnete stark auf die Hilfe des Kosakentums, beson<strong>der</strong>s des<br />

Doner, und durchsetzte mit Kosakentruppen die für die Umwälzung bestimmte<br />

Abteilung. Doch die Kosaken rührten sich nicht, »dem Bauernsohn« zu Hilfe zu<br />

kommen. Die Kosakensiedler waren bereit, daheim wütend ihr Land zu verteidigen,<br />

hatten jedoch keine Lust, an fremden Prügeleien teilzunehmen. Auch das dritte Kavalleriekorps<br />

enttäuschte die Hoffnungen. Verhielten sich die Kosaken feindselig gegen die<br />

Verbrü<strong>der</strong>ung mit den Deutschen, kamen sie an <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Front willig den Soldaten<br />

und Matrosen entgegen: diese Verbrü<strong>der</strong>ung sprengte Kornilows Plan ohne Blutvergießen.<br />

So erlahmte und barst in <strong>der</strong> Gestalt des Kosakentums die letzte Stütze des alten<br />

Rußland.<br />

Unterdessen wurde weit hinter den Landesgrenzen, auf Frankreichs Territorium, im<br />

Laboratoriumsmaßstabe ein "Erneuerungs"versuch <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen<br />

unternommen, außer Reichweite <strong>der</strong> Bolschewiki und darum um so überzeugen<strong>der</strong>.<br />

Während des Sommers und des Herbstes drangen in die russische Presse im Trubel <strong>der</strong><br />

Ereignisse jedoch fast unbeachtet gebliebene Nachrichten von einer unter den <strong>russischen</strong><br />

Truppen in Frankreich entbrannten bewaffneten Meuterei. Soldaten zweier russischer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 493


Brigaden in Frankreich hätten, nach den Worten des Offiziers Lissowski, schon gegen<br />

Januar 1917, folglich vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, »die leste Überzeugung gewonnen, sie seien<br />

alle um den Preis von Geschossen an die Franzosen verkauft worden«. Die Soldaten<br />

hatten sich gar nicht so sehr geirrt. Für ihre Entente-Wirtsherren hegten sie »nicht die<br />

geringsten Sympathien«, für ihre Offiziere - nicht das geringste Vertrauen. Die Kunde<br />

von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erreichte die Exportbrigaden politisch nicht ganz unvorbereitet - aber<br />

doch überraschend. Von den Offizieren waren keine Erklärungen über die Umwälzung<br />

zu erwarten: die Verwirrung zeigte sich um so stärker, je höher <strong>der</strong> Offizier in <strong>der</strong><br />

Rangliste stand. In den Lagern tauchten aus <strong>der</strong> Emigration demokratische Patrioten auf.<br />

»Mehr als einmal konnte man beobachten«, schreibt Lissowski, »wie einige Diplomaten<br />

und Offiziere <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>egimenter... diensteifrig früheren Emigranten Stühle heranrückten.«<br />

Bei den Regimentern entstanden aus Wahlen hervorgegangene Institutionen, wobei<br />

an <strong>der</strong> Spitze des Komitees bald ein lettischer Soldat hervorragte. Es fand sich folglich<br />

auch hier <strong>der</strong> "Fremdstämmige". Das erste Regiment, in Moskau formiert und fast völlig<br />

aus Arbeitern, Kommis und Büroangestellten, überhaupt aus proletarischen und halbproletarischen<br />

Elementen zusammengesetzt, hatte vor einem Jahr als erstes Frankreichs Erde<br />

betreten und sich während des Winters auf den Schlachtfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Champagne gut<br />

geschlagen. Aber - die »Zersetzungskrankheit befiel zuallererst gerade dieses Regiment«.<br />

Das zweite Regiment mit einem viel höheren Prozentsatz an Bauern blieb länger ruhig.<br />

Die zweite Brigade, fast restlos aus sibirischen Bauern bestehend, schien absolut zuverlässig.<br />

Schon bald nach <strong>der</strong> Februarumwälzung verweigerte die erste Brigade den Gehorsam.<br />

Sie wollte we<strong>der</strong> um Elsaß noch um Lothringen kämpfen. Sie wollte nicht für das<br />

schöne Frankreich sterben. Sie wollte probieren, im neuen Rußland zu leben. Die<br />

Brigade wurde nach dem Hinterland zurückgeführt und im Zentrum Frankreichs untergebracht,<br />

im Lager von La Courtine. »Inmitten <strong>der</strong> stillen Bourgeoissiedlungen«, erzählt<br />

Lissowski, »begann in dem Riesenlager ein beson<strong>der</strong>es, ungewöhnliches Leben <strong>der</strong><br />

annähernd zehntausend aufrührerischen, bewaffneten <strong>russischen</strong> Soldaten, die keine<br />

Offiziere über sich hatten und sich absolut keinem unterwerfen wollten.« Kornilow<br />

erhielt die seltene Möglichkeit, seine Ertüchtigungsmethoden unter Beihilfe <strong>der</strong> mit ihm<br />

leidenschaftlich sympathisierenden Poincaré und Ribot anzuwenden. Der Höchstkommandierende<br />

befahl telegraphisch, die Courtiner »zum Gehorsam« zu zwingen und sie<br />

nach Saloniki abzutransportieren. Doch die Meuterer wollten sich nicht ergeben. Am 1.<br />

September wurde schwere Artillerie herangefahren, und im Lager wurden Plakate mit<br />

dem strengen Telegramm Kornilows angeschlagen. Doch da schnitt eine neue Komplikation<br />

in die Ereignisse ein: in <strong>der</strong> französischen Presse erschien die Nachricht, Kornilow<br />

selbst sei als Verräter und Konterrevolutionär erklärt worden. Die meuternden Soldaten<br />

kamen endgültig zu dem Entschluß, daß sie keine Ursache hätten, in Saleniki zu sterben,<br />

noch dazu auf Befehl eines verräterischen Generals. Die für Geschosse verkauften Arbeiter<br />

und Bauern beschlossen, für sich einzustehen. Sie weigerten sich, mit einem Fremden,<br />

wer immer es sei, zu sprechen. Kein Soldat verließ das Lager.<br />

Die zweite russische Brigade wurde gegen die erste geschickt. Artillerie bezog<br />

Stellung auf den nächsten Bergabhängen, Infanterie warf nach allen Regeln <strong>der</strong> Pionierkunst<br />

Schützengräben und Zugänge nach La Courtine aus. Die Umgebung wurde durch<br />

Alpenschützen fest abgeriegelt, damit kein Franzose auf den Kriegsschauplatz <strong>der</strong> zwei<br />

<strong>russischen</strong> Brigaden eindringen könne. So inszenierten die Militärbehörden Frankreichs<br />

auf dessen Terntonum einen <strong>russischen</strong> Bürgerkrieg, ihn umsichtig mit einer Mauer von<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 494


Bajonetten absperrend. Das war die Generalprobe. In <strong>der</strong> Folge organisierte das regierende<br />

Frankreich den Bürgerkrieg auf Rußlands Territorium selbst, es mit einem stacheligen<br />

Blocka<strong>der</strong>ing absperrend.<br />

»Eine regelrechte, methodische Beschießung des Lagers begann.« Aus dem Lager<br />

traten einige hun<strong>der</strong>t Soldaten heraus, bereit, sich zu ergeben. Sie wurden abgeführt, und<br />

das Artilleriefeuer sofort wie<strong>der</strong> aufgenommen. So ging es vier Tage und vier Nächte.<br />

Die Courtiner ergaben sich gruppenweise. Am 6. September waren insgesamt nur etwa<br />

zweihun<strong>der</strong>t Mann übriggeblieben, entschlossen, sich lebend nicht zu ergeben. An ihrer<br />

Spitze stand <strong>der</strong> Ukrainer Globa, Baptist und Fanatiker: in Rußland würde man ihn<br />

Bolschewik genannt haben. Unter <strong>der</strong> Deckung von Geschütz-, Maschinengewehr- und<br />

Gewehrfeuer, das zu einem einzigen Getöse verschmolz, begann eine regelrechte Erstürmung.<br />

Schließlich waren die Meuterer erdrückt. Die Zahl <strong>der</strong> Opfer ist unbekannt geblieben.<br />

Die Ordnung war jedenfalls wie<strong>der</strong> hergestellt. Aber bereits nach wenigen Wochen<br />

wurde die zweite Brigade, die auf die erste gefeuert hatte, von <strong>der</strong> gleichen Krankheit<br />

erfaßt<br />

Die schreckliche Seuche hatten die <strong>russischen</strong> Soldaten über Meere mitgebracht in<br />

ihren Leinwandsäcken, in den Falten ihrer Mäntel, in den Tiefen ihrer Seelen. Darum ist<br />

diese dramatische Episode von La Courtine so bemerkenswert, weil sie einen, gleichsam<br />

unter <strong>der</strong> Glocke <strong>der</strong> Luftpumpe absichthch konstruierten idealen Versuch darstellt zum<br />

Studium <strong>der</strong> von <strong>der</strong> gesamten Vergangenheit des Landes vorbereiteten inneren Prozesse<br />

in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee.<br />

Die Brandung<br />

Das starkwirkende Mittel <strong>der</strong> Verleumdung erwies sich als zweischneidige Waffe. Sind<br />

die Bolschewiki deutsche Spione, weshalb geht dann diese Kunde hauptsächlich von<br />

Menschen aus, die dem Volke am verhaßtesten sind? Weshalb beschuldigt gerade die<br />

kadettische Presse, die Arbeitern und Soldaten bei jenem Anlasse niedrigste Motive<br />

unterschiebt, die Bolschewiki am lautesten und entschiedensten? Weshalb erhebt <strong>der</strong><br />

reaktionäre Ingenieur o<strong>der</strong> Meister, seit <strong>der</strong> Umwälzung still geworden, jetzt plötzlich<br />

den Kopf und flucht offen auf die Bolschewiki? Weshalb fassen in den Regimentern die<br />

reaktionärsten Offiziere Mut und fuchteln, während sie Lenin und die Seinen entlarven,<br />

mit den Fäusten vor <strong>der</strong> Nase <strong>der</strong> Soldaten herum, als wären diese die Verräter?<br />

Je<strong>der</strong> Betrieb hatte seine Bolschewiki. »Sehe ich einem deutschen Spion ähnlich,<br />

Jungens, he ?« fragte <strong>der</strong> Schlosser und Dreher, dessen geheimstes Tun die Arbeiter in<br />

allen Einzelheiten kannten. Nicht selten gingen die Versöhnler selbst im Kampfe gegen<br />

den Vorstoß <strong>der</strong> Konterrevolution weiter, als es ihre Absicht war, und bahnten gegen<br />

ihren Willen den Bolschewiki den Weg. Der Soldat Pirejko erzählt, wie <strong>der</strong> Militärarzt<br />

Markowitseh, Anhänger Plechanows, in einem Soldatenmeeting die Beschuldigung,<br />

Lenin sei ein Spion, zurückwies, um desto entschiedener dessen politische Absichten als<br />

falsch und ver<strong>der</strong>blich zu bekämpfen. Vergeblich! »Wenn Lenin klug und kein Spion ist,<br />

kein Verräter, und Frieden schließen will, dann werden wir mit ihm gehen«, sagten die<br />

Soldaten nach <strong>der</strong> Versammlung.<br />

Der zeitweilig in seinem Wachstum zurückgehaltene Bolschewismus beginnt wie<strong>der</strong><br />

sicher seine Flügel zu recken. »Die Vergeltung läßt nicht auf sich warten«, schrieb<br />

Trotzki Mitte August. »Gejagt, verfolgt, verleumdet, ist unsere Partei niemals so schnell<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 495


gewachsen wie in <strong>der</strong> letzten Zeit. Und dieser Prozeß wird nicht versäumen, von <strong>der</strong><br />

Hauptstadt auf die Provinz überzugreifen, von den Städten auf das Land und die Armee<br />

... Alle werktätigen Massen des Landes werden lernen, in neuen Prüfungen ihr Schicksal<br />

mit dem Schicksal unserer Partei zu verknüpfen.«<br />

Petrograd schritt in alter Weise voran. Es schien, ein allmächtiger Besen arbeite in den<br />

Betrieben, den Einfluß <strong>der</strong> Versöhnler aus allen Ecken und Winkeln auskehrend. »Es<br />

stürzen die letzten Festen <strong>der</strong> Landesverteidiger ein ...«, berichtete die bolschewistische<br />

Zeitung. »Wie lang ist es her, daß die Herren Landesverteidiger im Obuchower Riesenbetrieb<br />

uneingeschränkt herrschten? ... jetzt dürfen sie sich dort nicht sehen lassen.« Bei<br />

den Wahlen zur Petrogra<strong>der</strong> Stadtduma am 20. August wurden etwa fünihun<strong>der</strong>tundfünfzigtausend<br />

Stimmen abgegeben, bedeutend weniger als bei den Juliwahlen zu den<br />

Bezirksdumas. Obwohl sie dreihun<strong>der</strong>tundfünfundsiebzigtausend Stimmen verloren,<br />

brachten es die Sozialrevolutionäre immer noch auf über zweihun<strong>der</strong>tausend Stimmen<br />

o<strong>der</strong> auf 37 Prozent <strong>der</strong> Gesamtzahl Auf die Kadetten entfiel ein Fünftel. »Klägliche<br />

dreiundzwanzigtausend Stimmen«, schreibt Suchanow, »brachte unsere menschewistische<br />

Liste auf« Überraschend für alle erhielten die Bolschewiki fast zweihun<strong>der</strong>ttausend<br />

Stimmen, etwa ein Drittel <strong>der</strong> Gesamtzahl.<br />

Die Distriktkonferenz <strong>der</strong> Uralgewerkschaften, die Mitte August stattfand und hun<strong>der</strong>tundfünfzigtausend<br />

Arbeiter repräsentierte, nahm zu allen Fragen Beschlüsse bolschewistischen<br />

Charakters an. In Kiew wurde auf <strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees vom 20.<br />

August die Resolution <strong>der</strong> Bolschewiki mit einer Mehrheit von einhun<strong>der</strong>tundeinundsechzig<br />

gegen fünfunddreißig Stimmen angenommen, bei dreizehn Stimmenthaltungen.<br />

Bei den demokratischen Wahlen zu <strong>der</strong> Iwanowo-Wosnessensker Stadtduma, gerade im<br />

Augenblick des Kornilow-Aufstandes, erhielten die Bolschewiki achtundfünfzig von<br />

einhun<strong>der</strong>tundzwei Sitzen, Sozialrevolutionäre - vierundzwanzig, Menschewiki - vier. In<br />

Kronstadt wird <strong>der</strong> Bolschewik Brekmann zum Vorsit zenden des Sowjets gewählt, zum<br />

Oberbürgermeister <strong>der</strong> Bolschewik Pokrowski. Bei weitem nicht überall so kraß,<br />

manchen-Orts nachhinkend, wächst <strong>der</strong> Bolschewismus während des August fast im<br />

ganzen Lande.<br />

Kornilows Aufstand gibt <strong>der</strong> Radikalisierung <strong>der</strong> Massen einen mächtigen Antrieb.<br />

Slutzki erinnerte bei diesem Anlasse an Marxens Worte: die <strong>Revolution</strong> hat es mitunter<br />

nötig, daß die Konterrevolution sie anpeitseht. Die Gefahr weckte nicht nur die Energie,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Einsicht. Der Kollektivgedanke arbeitete unter Hochspannung. An<br />

Material für Schlußfolgerungen fehlte es nicht. Die Koalition hatte man als notwendig<br />

zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erklärt, ein Koalitionspartner indes stand auf seiten <strong>der</strong><br />

Konterrevolution. Die Moskauer Beratung war als Heerschau <strong>der</strong> nationalen Einheit<br />

proklamiert worden. Nur das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki hatte gewarnt: »Die<br />

Beratung ... wird sich unabwendbar in ein Verschwörungsorgan <strong>der</strong> Konterrevolution<br />

verwandeln.« Die Ereignisse hatten die Nachprüfung erbracht. Nun erklärte auch<br />

Kerenski: »Die Moskauer Beratung ... das ist <strong>der</strong> Prolog zum 27. August ... Hier wurde<br />

die Kräfteberechnung vorgenommen ... Hier wurde Rußland erstmalig sein künftiger<br />

Diktator Kornilow vorgestellt ... Als wäre nicht Kerenski Initiator, Organisator und<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> dieser Beratung gewesen, und als hätte nicht er Kornilow als den »ersten<br />

Soldaten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>« vorgestellt. Als hätte nicht die Provisorische Regierung Kornilow<br />

mit <strong>der</strong> Todesstrafe gegen die Soldaten ausgerüstet. Und als wären nicht die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 496


Warnungen <strong>der</strong> Bolschewiki als Demagogie erklärt worden.<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Garnison erinnerte sich ferner, daß zwei Tage vor Kornilows Aufitand<br />

die Bolschewiki in <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Soldatensektion den Verdacht ausgesprochen hatten,<br />

ob nicht die fortgeschrittenen Regimenter mit konterrevolutionären Absichten aus <strong>der</strong><br />

Hauptstadt entfernt würden? Das hatten die Vertreter <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

mit <strong>der</strong> drohenden For<strong>der</strong>ung beantwortet: über Kriegsbefehle des Generals<br />

Kornilow nicht zu diskutieren, In diesem Geiste war eine Resolution angenommen<br />

worden. »Die Bolschewiki verlieren wohl keine Worte in den Wind!«, das mußte sich<br />

jetzt <strong>der</strong> parteilose Arbeiter o<strong>der</strong> Soldat sagen.<br />

Lag bei den Verschwörer-Generalen, nach <strong>der</strong> eigenen verspäteten Anklage <strong>der</strong><br />

Versöhnler, nicht nur die Schuld an <strong>der</strong> Übergabe Rigas, son<strong>der</strong>n auch am Julidurchbruch,<br />

weshalb hatte man dann gegen Bolschewiki gehetzt und Soldaten erschossen?<br />

Haben die militärischen Provokateure versucht, Arbeiter und Soldaten am 27. August auf<br />

die Straße zu locken, so haben sie vielleicht auch bei den blutigen Zusammenstößen vom<br />

4. Juli eine Rolle gespielt? Welcher Platz gehört dann Kerenski in dieser ganzen Angelegenheit?<br />

Gegen wen hat er das 3. Kavalleriekorps angefor<strong>der</strong>t? Weshalb hat er Sawinkow<br />

zum Gencralgouverneur und Filonenko zu dessen Gehilfen ernannt? Wer ist<br />

überhaupt Filonenko, <strong>der</strong> Kandidat für das Direktorium? Überraschend ertönt die<br />

Antwort <strong>der</strong> Panzerdivision: Filonenko, <strong>der</strong> bei ihnen als Fähnrich gedient, hat Soldaten<br />

schlimmsten Emiedrigungen und Verhöhnungen ausgesetzt. Woher stammt <strong>der</strong> dunkle<br />

Geschäftemacher Sawojko? Was bedeutet überhaupt diese Auslese von Hochstaplern an<br />

<strong>der</strong> obersten Spitze?<br />

Die Tatsachen waren einfach, klar, vielen in Erinnerung, allen zugänglich unwi<strong>der</strong>legbar,<br />

vernichtend. Die Staffeln <strong>der</strong> "wilden" Division, die gelockerten Schienen, die<br />

gegenseitigen Beschuldigungen zwischen Winterpalais und Hauptquartier, die Zeugenaussagen<br />

Sawinkows und Kerenskis sprachen für sich selbst. Welch unumstößlicher<br />

Anklageakt gegen die Versöhnler und ihr Regime! Der Sinn <strong>der</strong> Bolsehewikenhetze<br />

wurde endgültig klar: sie bildete ein notwendiges Element in <strong>der</strong> Vorbereitung des<br />

Staatsstreiches.<br />

Der sehend gewordenen Arbeiter und Soldaten bemächtigte sich ein heftiges Gefühl<br />

<strong>der</strong> Scham über sich selbst. Also verbirgt sich Lenin nur deshalb, weil er nie<strong>der</strong>trächtig<br />

verleumdet wurde? Also sitzen die übrigen im Gefängnis, den Kadetten, Generalen,<br />

Bankiers und Ententediplomaten zum Gefallen? Also jagen die Bolschewiki nicht nach<br />

Pöstchen, und man haßt sie oben gerade dafür, weil sie sich <strong>der</strong> Aktiengesellschaft,<br />

Koalition genannt, nicht anschließen wollen! Dies war es, was Werktätige, einfache<br />

Menschen, Unterdrückte begriffen. Und aus diesen Stimmungen heraus, zusammen mit<br />

dem Gefühl <strong>der</strong> Schuld vor den Bolschewiki, erwuchsen unverbrüchliche Treue zur<br />

Partei und Vertrauen zu <strong>der</strong>en Führern.<br />

Bis in die allerletzten Tage hinein nahmen sich die alten Soldaten, Ka<strong>der</strong>elemente <strong>der</strong><br />

Armee, Artilleristen und Unteroffiziere, mit aller Kraft zusammen. Sie wollten nicht ein<br />

Kreuz setzen über ihre Kampfmühen, Heldentaten, Opfer: soll das alles wirklich sinnlos<br />

vergeudet sein? Als aber <strong>der</strong> letzte Halt unter ihren Füßen schwand, machten sie schroff<br />

kehrt - linksum! - und wandten das Gesicht den Bolschewiki zu. Jetzt gingen sie restlos<br />

in die <strong>Revolution</strong> hinein, mit ihren Unteroffizierstressen, mit <strong>der</strong> Stählung alter Soldaten<br />

und mit fest zusammengebissenen Kiefern: sie haben sich mit dem Kriege verrechnet,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 497


dafür werden sie diesmal ganze Arbeit tun.<br />

In Berichten lokaler Behörden, <strong>der</strong> militärischen wie <strong>der</strong> zivilen, wird unterdessen <strong>der</strong><br />

Bolschewismus Synonym überhaupt jeglicher Massenaktion, entschiedener For<strong>der</strong>ung,<br />

Abwehr gegen Ausbeutung, Vorwärtsschreitens, kurz, ein zweiter Name für <strong>Revolution</strong>.<br />

Also das ist Bolschewismus? sagen sich Streikende, protestierende Matrosen, unzufriedene<br />

Soldatenfrauen, meuternde Bauern. Die Massen wurden von oben förmlich<br />

gezwungen, ihre verborgensten Gedanken und For<strong>der</strong>ungen mit den Losungen des<br />

Bolschewismus zu identifizieren. So machte sich die <strong>Revolution</strong> die Waffe dienstbar, die<br />

gegen sie gerichtet war. In <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> wird nicht nur Vernunft Unsinn, son<strong>der</strong>n,<br />

wenn <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Ereignisse es erfor<strong>der</strong>t, wird auch Unsinn Vernunft.<br />

Der Wechsel <strong>der</strong> politischen Atmosphäre zeigte sich sehr anschaulich in <strong>der</strong> vereinigten<br />

Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees, am 30. August, als die Delegierten Kronstadts die<br />

For<strong>der</strong>ung erhoben, ihnen einen Platz in dieser hohen Institution einzuräumen. Ist das<br />

denkbar? Hier, wo die zügellosen Kronstädter in Acht und Bann getan wurden, sollen<br />

nunmehr ihre Vertreter sitzen? Aber wie es abschlagen? Gestern erst waren zur Verteidigung<br />

Petrograds Kronstädter Seeleute und Soldaten gekommen. Matrosen <strong>der</strong> "Aurora"<br />

tun Wachtdienst im Winterpalais. Nachdem sie eine Weile untereinan<strong>der</strong> getuschelt<br />

hatten, boten die Führer den Kronstädtern vier Sitze mit beraten<strong>der</strong> Stimme an. Das<br />

Zugeständnis wurde trocken entgegengenommen, ohne Dankesergüsse.<br />

»Nach Kornilows Aufstand«, erzählt Tschinenow, ein Soldat <strong>der</strong> Moskauer Garnison,<br />

»bekamen bereits alle Truppenteile bolschewistische Färbung ... Alle waren darüber<br />

erstaunt, wie die Worte [<strong>der</strong> Bolschewiki] ..., General Kornilow werde bald vor den<br />

Mauern Petrograds stehen, in Erfüllung gegangen waren.« Mitrewitsch, Soldat einer<br />

Panzerdivision, erinnert sich <strong>der</strong> heroischen Legenden, die von Mund zu Mund gingen<br />

nach dem Siege über die aufständischen Generale: »Es gab Erzählungen von nichts<br />

an<strong>der</strong>em als von Mut und Heldentaten. Ja, bei solchem Mut könne man sich mit <strong>der</strong><br />

ganzen Welt schlagen. Da lebten die Bolschewiki auf«<br />

Der in den Kornilow-Tagen aus dem Gefängnis entlassene Antonow-Owssejenko<br />

reiste sofort nach Helsingfors. »Ein gewaltiger Umschwung vollzog sich in den Massen.«<br />

Auf <strong>der</strong> finnländischen Distriktkonferenz <strong>der</strong> Sowjets waren die rechten Sozialrevolutionäre<br />

in unbedeuten<strong>der</strong> Zahl vertreten, die Leitung lag bei den Bolschewiki, in Koalition<br />

mit den linken Sozialrevolutionären. Zum Vorsitzenden des Distriktkomitees <strong>der</strong> Sowjets<br />

wurde Smilga gewählt, <strong>der</strong> trotz seiner großen Jugend Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />

Bolschewiki war, stark nach links zog und bereits in den Apriltagen Neigung gezeigt<br />

hatte, die Provisorische Regierung gründlich beim Kragen zu packen. Zum Vorsitzenden<br />

des Helsingforser Sowjets, <strong>der</strong> sich auf die Garnison und die <strong>russischen</strong> Arbeiter stützte,<br />

wurde <strong>der</strong> Bolschewik Scheinmann gewählt, <strong>der</strong> spätere Staatsbankdirektor, ein Mann<br />

von vorsichtiger und bürokratischer Geistesverfassung, <strong>der</strong> aber damals mit den an<strong>der</strong>en<br />

Führern gleichen Schritt hielt. Die Provisorische Regierung hatte den Finnlän<strong>der</strong>n verboten,<br />

den von ihr aufgelösten Sejm einzuberufen. Das Distriktkomitee schlug dem Sejm<br />

vor, sich zu versammeln, und übernahm seinen Schutz. Befehle <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung, verschiedene Truppenteile aus Finnland abzuberufen, weigerte sich das<br />

Komitee auszuführen. Tatsächlich hatten die Bolschewiki in Finnland die Sowjetdiktatur<br />

errichtet.<br />

Anfang September schreibt die bolschewistische Zeitung: »Aus einer ganzen Reihe<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 498


ussischer Städte kommen Nachrichten, daß die Organisationen unserer Partei in <strong>der</strong><br />

letzten Periode stark zugenommen haben. Was aber noch größere Bedeutung hat, ist die<br />

Zunahme unseres Einflusses in den breitesten demokratischen Arbeiter- und Soldatenmassen.«<br />

- »Sogar in jenen Betrieben, wo man uns anfangs nicht anhören wollte«,<br />

schreibt <strong>der</strong> Jekaterinoslawer Bolschewik Awerin, »waren in den Tagen <strong>der</strong> Kornilowiade<br />

die Arbeiter auf unserer Seite.« - »Als Gerüchte laut wurden, Kaledin mobilisiere<br />

Kosaken gegen Zarizyn und Saratow«, schreibt Antonow, einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Saratower<br />

Bolschewiki, »als diese Gerüchte sich bestätigten und durch Kornilows Aufstand<br />

feststanden, überwand die Masse in wenigen Tagen ihre früheren Vorurteile.«<br />

Die Kiewer bolschewistische Zeitung schreibt am 19. September: »Bei den Neuwahlen<br />

von Vertretem des Arsenals zum Sowjet sind zwölf Genossen gewählt, sämtlich Bolschewiki.<br />

Alle Kandidaten <strong>der</strong> Menschewiki sind durchgefallen; dasselbe geschieht in einer<br />

Reihe an<strong>der</strong>er Fabriken.« Ähnliche Mitteilungen finden sich von nun an täglich auf den<br />

Seiten <strong>der</strong> Arbeiterpresse; feindliche Zeitungen sind vergeblich bemüht, das Anwachsen<br />

des Bolschewismus zu verschweigen o<strong>der</strong> zu verkleinern. Die sich wie<strong>der</strong>aufrichtenden<br />

Massen sind gleichsam bestrebt, die infolge früherer Schwankungen, Stockungen und<br />

vorübergehen<strong>der</strong> Rückzüge verlorene Zeit einzuholen. Es beginnt ein allgemeines,<br />

beharrliches, unaufhaltsames Ansteigen <strong>der</strong> Brandung.<br />

Das Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, Warwara J akowljewa, die uns im<br />

Juli/August von einer äußersten Schwächung <strong>der</strong> Bolschewiki im gesamten Moskauer<br />

Distrikt Mitteilung machte, bezeugt jetzt die schroffe Wendung. »In <strong>der</strong> zweiten Septemberhälfte«,<br />

berichtet sie auf <strong>der</strong> Konferenz, »bereisten Mitglie<strong>der</strong> des Distriktbüros den<br />

Distrikt ... Ihre Eindrücke waren völlig einheitlich: überall, in allen Gouvernements,<br />

vollzog sich ein durchgreifen<strong>der</strong> Bolschewisierungsprozeß <strong>der</strong> Massen. Und alle betonten<br />

auch, daß das Dorf nach dem Bolschewik verlangte ...« Dort, wo nach den Julitagen<br />

die Parteiorganisationen zerfallen waren, leben sie nun wie<strong>der</strong> auf und wachsen schnell.<br />

In Bezirken, wo Bolschewiki nicht hineingelassen wurden, entstehen jetzt spontan<br />

bolschewistische Zellen. Sogar in den rückständigen Gouvernements Tambow und<br />

Rjasan, diesen Hochburgen <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre und Menschewiki, wo Bolschewiki<br />

bei früheren Rundreisen wegen völliger Aussichtslosigkeit <strong>der</strong> Lage sich nicht blicken<br />

ließen, vollzieht sich nun eine wahrhafte Umwälzung: <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

festigt sich mit jedem Tage, die Versöhnlerorganisationen zerfallen.<br />

Die Reden <strong>der</strong> Delegierten auf <strong>der</strong> bolschewistischen Konferenz des Moskauer<br />

Distrikts, einen Monat nach dem Kornilowschen Aufstand, einen Monat vor dem<br />

Aufitand <strong>der</strong> Bolschewiki, atmen Zuversicht und Mut. In Nischnij-Nowgorod erwacht<br />

die Partei nach zwei Monaten Nie<strong>der</strong>geschlagenheit wie<strong>der</strong> zu vollem Leben. Sozialrevolutionäre<br />

Arbeiter gehen zu Hun<strong>der</strong>ten in die Reihen <strong>der</strong> Bolschewiki über. In Twer<br />

entwickelt sich eine ausgedehnte Parteiarbeit erst nach den Kornilowtagen. Die<br />

Versöhn1er fallen durch, man hört nicht auf sie, jagt sie davon. Im Gouvernement Wladimir<br />

hat sich die Lage <strong>der</strong> Bolschewiki <strong>der</strong>art gefestigt, daß auf dem Gouvernementskongreß<br />

<strong>der</strong> Sowjets nur fünf Menschewiki zu entdecken sind und drei Sozialrevolutionäre.<br />

In Iwanowo-Wosnessensk, dem <strong>russischen</strong> Manchester, fällt die gesamte Arbeit in<br />

Sowjet, Duma und Semstwo den Bolschewiki als den alleinigen Herren zu.<br />

Es wachsen die Organisationen <strong>der</strong> Partei, doch unermeßlich rascher wächst <strong>der</strong>en<br />

Anziehungskraft. Das Mißverhältnis zwischen den technischen Hilfsquellen <strong>der</strong> Bolsche-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 499


wiki und ihrem politischen spezifischen Gewicht findet seinen Ausdruck in <strong>der</strong> verhältnismäßig<br />

geringen Zahl <strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong> bei gewaltiger Zunahme des<br />

Parteieinflusses. Die Ereignisse ziehen so schnell und gebieterisch die Massen in ihren<br />

Strudel herein, daß den Arbeitern und Soldaten nicht Zeit bleibt, sich in einer Partei zu<br />

organisieren. Es fehlt ihnen sogar die Zeit, um die Notwendigkeit einer beson<strong>der</strong>en<br />

Parteiorganisation zu begreifen. Sie nehmen die bolschewistischen Parolen ebenso narurnotwendig<br />

in sich auf, wie sie Luft einatmen. Daß die Partei ein kompliziertes Laboratorium<br />

ist, wo die Parolen durch Kollektiverfahrung ausgearbeitet werden, ist ihnen noch<br />

unklar. Hinter den Sowjets stehen mehr als zwanzig Millionen Menschen. Die Partei, die<br />

sogar am Vorabend <strong>der</strong> Oktoberumwälzung in ihren Reihen nicht mehr als zweihun<strong>der</strong>tundvierzigtausend<br />

Mitglie<strong>der</strong> zählt, führt durch Gewerkschaften, Fabrikkomitees und<br />

Sowjets immer sicherer Millionen hinter sich.<br />

In dem bis auf den Grund erschütterten unermeßlichen Lande mit einer unerschöpflichen<br />

Mannigfaltigkeit lokaler Bedingungen und politischer Niveaus finden tagtäglich<br />

irgendwelche Wahlen statt: zu Dumas, Semstwos, Sowjets, Gewerkschaften, Fabrik-,<br />

Armee- o<strong>der</strong> Landkomitees. Und durch alle diese Wahlen zieht sich wie ein roter Faden<br />

die eine unabän<strong>der</strong>liche Tatsache: das Anwachsen <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Wahlen zu den<br />

Moskauer Bezirksdumas haben durch den schroffen Wechsel <strong>der</strong> Stimmung in den<br />

Massen das Land beson<strong>der</strong>s verblüfft. Die "große" Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre behielt<br />

von den Dreihun<strong>der</strong>fünfundsiebzigtausend, die sie im Juni aufwies, Ende September nur<br />

Vierundfünfzigtausend. Die Menschewiki sanken von Sechsundsiebzigtausend auf<br />

Sechzehntausend. Die Kadetten behielten Hun<strong>der</strong>tundeintausend, sie verloren nur etwa<br />

Achttausend. Dagegen stiegen die Bolschewiki von Fünfundsiebzigtausend auf Hun<strong>der</strong>tachtundneunzigtausend.<br />

Hatten die Sozialrevolutionäre im Juni etwa 58 Prozent <strong>der</strong><br />

Stimmen gesammelt, so vereinigten im September die Bolschewiki 52 Prozent auf sich.<br />

Die Garnison stimmte zu 90 Prozent, in einigen Truppenteilen zu mehr als 95 Prozent für<br />

Bolschewiki: in den Werkstätten <strong>der</strong> schweren Artillerie erhielten die Bolschewiki von<br />

zweitausenddreihun<strong>der</strong>tsiebenundvierzig [2.347] Stimmen<br />

zweitausendzweihun<strong>der</strong>tsechsundachtzig [2.286]. Die große Zahl <strong>der</strong> Nichtwähler entfiel<br />

hauptsächlich auf jenes kleinere Stadtvolk, das sich im Taumel <strong>der</strong> ersten Illusionen den<br />

Versöhn1cm angeschlossen hatte, um bald wie<strong>der</strong> ins Nichts zurückzukehren. Die<br />

Menschewiki schmolzen völlig zusammen. Die Sozialrevolutionäre erhielten halb soviel<br />

Stimmen wie die Kadetten, die Kadetten - halb soviel wie die Bolschewiki. Die Septemberstimmen<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki waren erobert in erbittertem Kampfe gegen alle an<strong>der</strong>en<br />

Parteien. Das waren zuverlässige Stimmen. Auf sie konnte man bauen. Das Wegspülen<br />

<strong>der</strong> Zwischengruppen, die beträchtliche Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit des bürgerlichen Lagers<br />

und das gigantische Anwachsen <strong>der</strong> verhaßten und verfolgten proletarischen Partei - all<br />

das waren untrügliche Symptome einer revolutionären Krise. »Ja, die Bolschewiki arbeiteten<br />

emsig und beharrlich«, schreibt Suchanow, <strong>der</strong> selbst zur geschlagenen Partei <strong>der</strong><br />

Menschewiki gehörte, »sie waren bei den Massen, an den Werkbänken, täglich, ständig<br />

... sie gehörten zu ihnen, weil sie stets da waren - in Kleinigkeiten wie im Wichtigsten das<br />

Leben <strong>der</strong> Betriebe und <strong>der</strong> Kaserne leitend ... Die Masse lebte und atmete gemeinsam<br />

mit den Bolschewiki. Sie war in den Händen <strong>der</strong> Partei von Lenin und Trotzki.«<br />

Die politische Karte <strong>der</strong> Front zeichnete sich durch höchste Buntheit aus. Es gab<br />

Regimenter und Divisionen, die noch niemals einen Bolschewiken gehört und gesehen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 500


hatten; viele von ihnen waren aufrichtig erstaunt, wenn man sie selbst des Bolschewismus<br />

beschuldigte. An<strong>der</strong>erseits traf man Truppenteile, die ihre eigenen anarchistischen<br />

Stimmungen mit einem Anflug von Schwarzhun<strong>der</strong>ttum für reinsten Bolschewismus<br />

hielten. Die Stimmungen <strong>der</strong> Front glichen sich nach einer Richtung aus. Aber im<br />

grandiosen politischen Strom, dessen Flußbett die Schützengräben darstellten, gab es<br />

nicht selten Gegenströmungen, Wasserwirbel und nicht wenig Schlamm.<br />

Im September durchbrachen die Bolschewiki den Kordon und erhielten Zutritt zur<br />

Front, von <strong>der</strong> sie zwei Monate lang ernstlich abgeschnitten waren. Das Verbot war<br />

offiziell auch jetzt nicht aufgehoben. Die Versöhnlerkomitees taten alles, um das<br />

Eindringen <strong>der</strong> Bolschewiki in ihre Truppenteile zu verhin<strong>der</strong>n; aber alle Bemühungen<br />

blieben erfolglos. Die Soldaten hatten so viel von ihrem eigenen Bolschewismus vernommen,<br />

daß alle ausnahmslos darauf brannten, einen lebendigen Bolschewiken zu sehen<br />

und zu hören. Formale Hin<strong>der</strong>nisse, Verschleppung und Verzögerung, von den Komiteeführern<br />

ausgeklügelt, wurden durch das Andrängen <strong>der</strong> Soldaten hinweggeschwemmt,<br />

sobald nur die Nachricht von <strong>der</strong> Ankunft eines Bolschewiken sie erreichte. Die alte<br />

<strong>Revolution</strong>ärin Jewgenja Bosch, die in <strong>der</strong> Ukraine große Arbeit geleistet hat, hinterließ<br />

grelle Erinnerungen an ihre kühnen Exkursionen in das unberührte Soldatendickicht.<br />

Besorgte Warnungen echter und falscher Freunde wurden allemal wi<strong>der</strong>legt. Bei <strong>der</strong><br />

Division, die man als den Bolschewiki erbittert-feindselig charakterisiert hatte,<br />

überzeugte sich die sehr behutsam an das Thema herangehende Rednerin sehr bald, daß<br />

die Hörer mit ihr waren. »Kein Spucken, Husten, Schnäuzen, erste Anzeichen <strong>der</strong><br />

Ermüdung eines Soldatenauditoriums, nein - völlige Stille und Ruhe.« Die Versammlung<br />

endete mit einer srürmischen Apotheose zu Ehren <strong>der</strong> kühnen Agitatorin. Die gesamte<br />

Reise Jewgenja Boschs durch die Front war in ihrer Art ein Triumphzug. Weniger<br />

heroisch, weniger effektvoll, aber im wesentlichen ähnlich verlief die Sache auch bei den<br />

Agitatoren von geringerem Format.<br />

Neue o<strong>der</strong> auf neue Art überzeugende Ideen, Parolen und Verallgemeinerungen<br />

drangen in das abgestandene Leben <strong>der</strong> Schützenggräben. Millionen Soldatenköpfe<br />

verarbeiteten die Ereigmsse, Schlußfolgerungen ziehend aus <strong>der</strong> politischen Erfahrung.<br />

»... Liebe Arbeiter und Soldatengenossen«, schreibt ein Frontler an eine Zeitungsredaktion,<br />

»laßt diesem bösen Buchstaben K, <strong>der</strong> die ganze Welt an die blutige Schlächterei<br />

verraten hat, nicht seinen Willen. Da ist <strong>der</strong> oberste Mör<strong>der</strong> Koljka (Nikolaus II.),<br />

Kerenski, Kornilow, Kaledin, Kadetten und überall <strong>der</strong> Buchstabe K. Die Kosaken sind<br />

für uns auch gefährliche Leute ... Sidor Nikolajew.« Man braucht nicht Aberglauben<br />

darin zu suchen; es ist nur ein Verfahren politischer Mnemotechnik.<br />

Der aus dem Hauptquartier hervorgegangene Aufstand mußte jede Soldatenfiber<br />

erschüttern. Die äußere Disziplin, für <strong>der</strong>en Wie<strong>der</strong>herstellung so viel Mühen und Opfrr<br />

verausgabt worden waren, riß wie<strong>der</strong> in allen Nähten. Der Kriegskommissar <strong>der</strong><br />

Westfront, Schdanow, berichtet: »Die Stimmung ist im allgemeinen nervös ... mißtrauisch<br />

gegen Offiziere, lauernd: Nichterfüllung von Befehlen wird damit erklärt, daß es<br />

Kornilowsche Befehle seien, die man nicht ausführen dürfe.« Im gleichen Sinne schreibt<br />

Stankewitsch, <strong>der</strong> Filonenko auf dem Posten des Oberkommissars abgelöst hatte: »Die<br />

Soldatenmasse ... fühlte sich von allen Seiten von Verrat umgeben ... Wer es ihr auszureden<br />

suchte - schien ihr ebenfalls ein Verräter.«<br />

Für die Ka<strong>der</strong>offiziere bedeutete <strong>der</strong> Zusammenbruch des Kornilowschen Abenteuers<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 501


den Zusammenbruch <strong>der</strong> letzten Hoffnungen. Das Selbstgefühl des Kommandobestandes<br />

war auch vorher nicht glänzend gewesen. Wir haben Ende August die militärischen<br />

Verschwörer in Petrograd beobachtet: versoffen, prahlerisch, willenlos. Jetzt fühlte sich<br />

<strong>der</strong> Offizierstand völlig ausgestoßen und verurteilt. »Dieser Haß, diese Hetze«, schreibt<br />

einer von ihnen, »das absolute Nichtstun und die ewige Erwartung einer Verhaftung<br />

o<strong>der</strong> eines schmachvollen Todes trieb die Offiziere in Restaurants, Chambres separees,<br />

Hotels ... In diesem Säuferrausche ertranken die Offiziere.« Im Gegensatz dazu lebten<br />

Soldaten und Matrosen nüchterner denn je: sie waren von neuer Hoffnung erfaßt.<br />

»Die Bolschewiki«, schreibt Stankewitsch, »erhoben die Köpfe und fühlten sich völlig<br />

als Herren in <strong>der</strong> Armee ... Die unteren Komitees begannen sich in bolschewistische<br />

Zellen zu verwandeln. Alle Wahlen bei <strong>der</strong> Armee ergaben erstaunliche Zunahmen an<br />

bolschewistischen Stimmen. Es kann dabei nicht außer acht gelassen werden, daß die<br />

beste, strammste Armee nicht nur <strong>der</strong> Nordfront, son<strong>der</strong>n vielleicht <strong>der</strong> gesamten <strong>russischen</strong><br />

Front, die fünfte, als erste ein bolschewistisches Armeekomitee gestellt hat.«<br />

Noch krasser, sichtbarer, farbiger bolschewisierte sich die Flotte. Die baltischen Matrosen<br />

zogen am 8. September auf allen Schiffen Gefechtsflaggen hoch, als Ausdruck ihrer<br />

Bereitschaft, für den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft<br />

zu kämpfen. Die Flotte for<strong>der</strong>te den sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten,<br />

Übergabe des Bodens an die Bauernkomitees und Errichtung einer Arbeiterkontrolle<br />

über die Produktion. Drei Tage später erhob das Zentralkomitee <strong>der</strong> rückständigeren und<br />

gemäßigteren Schwarzmeerflotte, die Balten unterstützend, die Losung <strong>der</strong> Übergabe <strong>der</strong><br />

Macht an die Sowjets. Für die gleiche Losung erheben Mitte September ihre Stimmen<br />

dreiundzwanzig sibirische und lettische Infanterieregimenter <strong>der</strong> 12. Armee. Ihnen folgen<br />

immer neue Truppenteile. Die For<strong>der</strong>ung, die Macht den Sowjets, verschwindet in<br />

Armee und Flotte nicht mehr von <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />

»Die Matrosenversammlungen«, erzählt Stankewitseh, »bestanden zu neun Zehnteln<br />

aus Bolschewiki.« Der neue Kommissar beim Hauptquartier hatte in Reval vor den<br />

Seeleuten die Provisorische Regierung zu verteidigen. Bei den ersten Worten verspürte<br />

er das Vergebliche seiner Bemühungen. Schon bei dem Wort "Regierung" grenzte sich<br />

<strong>der</strong> Saal feindselig ab: »Wellen <strong>der</strong> Empörung, des Hasses und des Mißtrauens erfaßten<br />

jäh die gesamte Menge. Das war grell, machtvoll, leidenschaftlich, unüberwindlich und<br />

verschmolz in dem einmütigen Schrei: Nie<strong>der</strong>!« Man muß dem Erzähler Gerechtigkeit<br />

wi<strong>der</strong>fahren lassen, <strong>der</strong> es nicht versäumte, die Schönheit des Vorstoßes <strong>der</strong> ihm<br />

todfeindlichen Massen zu verzeichnen.<br />

Die Friedensfrage, für zwei Monate in die Illegalität verjagt, tritt mit verzehnfaehter<br />

Kraft an die Oberfläche. In <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets erklärte <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Front eingetroffene Offizier Dubassow: »Was ihr hier auch sagen möget, die Soldaten<br />

werden nicht mehr Krieg führen.« Zwischenrufe: »Das sagen nicht einmal die Bolschewiki!«<br />

... Doch <strong>der</strong> Offizier, Nichtbolschewik, parierte: »Ich berichte nur das, was ich<br />

weiß und was mich die Soldaten zu sagen beauftragt haben.« Ein an<strong>der</strong>er Frontler, ein<br />

düsterer Soldat, dessen Rock vom Schmutz und Gestank <strong>der</strong> Schützengräben strotzte,<br />

erklärte in den gleichen Septembertagen vor dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, die Soldaten<br />

brauchten Frieden, welcher immer es sei, und wenn auch »irgendeinen unflätigen«. Diese<br />

<strong>der</strong>ben Soldatenworte machten den Sowjet erschauern. So weit also ist es gekommen!<br />

Die Soldaten an <strong>der</strong> Front waren keine kleinen Kin<strong>der</strong>. Sie begriffen sehr wohl, daß bei<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 502


<strong>der</strong> gegebenen "Kriegskarte" <strong>der</strong> Frieden nur ein Gewaltfrieden sein konnte. Um dieses<br />

Verständnis zu dokumentieren, wählte <strong>der</strong> Schützengrabendelegierte das gröbste Wort,<br />

das die ganze Kraft seines Ekels vor dem Hohenzollernschen Frieden ausdrückte. Aber<br />

gerade durch diese entblößende Bewertung zwang <strong>der</strong> Soldat seine Hörer, zu begreifen,<br />

daß es einen an<strong>der</strong>en Weg nicht gibt, daß <strong>der</strong> Krieg <strong>der</strong> Armee die Seele ausgepumpt hat,<br />

daß <strong>der</strong> Frieden sofort und um jeden Preis notwendig ist. Die Worte des Redners aus dem<br />

Schützengraben wurden von <strong>der</strong> bürgerlichen Presse schadenfroh aufgegriffen und den<br />

Bolschewiki zugeschoben. Das Wort vom unflätigen Frieden verschwand nun nicht mehr<br />

von <strong>der</strong> Tagesordnung, als äußerster Ausdruck <strong>der</strong> Verwil<strong>der</strong>ung und Ver<strong>der</strong>btheit des<br />

Volkes!<br />

In <strong>der</strong> Regel waren die Versöhnler keineswegs geneigt, gleich dem politischen Dilettanten<br />

Stankewitsch die Prächtigkeit <strong>der</strong> Flut zu bewun<strong>der</strong>n, die sie aus <strong>der</strong> revolutionären<br />

Arena wegzuspülen drohte. Mit Staunen und Entsetzen überzeugten sie sich<br />

tagtäglich, daß sie über keine Wi<strong>der</strong>standskraft verfügten. Im Grunde hatte sich unter<br />

dem Vertrauen <strong>der</strong> Massen für die Versöhnler von den ersten Stunden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an<br />

ein historisch unvermeidliches, aber nicht langandauerndes Mißverständnis verborgen:<br />

zu seiner Aufdeckung waren nur wenige Monate erfor<strong>der</strong>lich. Die Versöhnler sahen sich<br />

gezwungen, mit den Arbeitern und Soldaten eine ganz an<strong>der</strong>e Sprache zu sprechen als im<br />

Exekutivkomitee und beson<strong>der</strong>s im Winterpalais. Verantwortliche Führer <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki wagten es von Woche zu Woche immer weniger, auf<br />

offenem Platze zu erscheinen. Agitatoren zweiter und dritter Ordnung paßten sich mit<br />

Hilfe zweideutiger Redensarten dem sozialen Radikalismus des Volkes an o<strong>der</strong> aber<br />

wurden aufrichtig von den Stimmungen <strong>der</strong> Betriebe, Zechen und Kasernen angesteckt,<br />

sprachen <strong>der</strong>en Sprache und lösten sich von den eigenen Parteien los.<br />

Der Matrose Chowrin berichtet in seinen Erinnerungen, wie die Seeleute, die sich zu<br />

den Sozialrevolutionären zählten, in Wirklichkeit für die bolschewistische Plättform<br />

kämpften. Dies wurde überall und allerorts beobachtet. Das Volk wußte, was es wollte,<br />

wußte aber nicht, dies beim Namen zu nennen. Das <strong>der</strong> Februarrevolution innerlich<br />

anhaftende "Mißverständnis" hatte Massen- und Volkscharakter, beson<strong>der</strong>s auf dem<br />

Lande, wo es länger anhielt als in <strong>der</strong> Stadt. Ordnung in das Chaos hineinzubringen,<br />

vermochte nur die Erfahrung. Ereignisse, große und kleine, durchrüttelten unermüdlich<br />

die Massenparteien und brachten ihren Bestand in Einklang mit ihrer Politik, nicht aber<br />

mit dem Aushängeschild.<br />

Ein bemerkenswertes Muster des qui pro quo 10 zwischen den Versöhnlern und den<br />

Massen bietet ein Schwur, den Anfang Juli zweitausend Bergleute des Donezbeckens<br />

kniend mit entblößten Häuptern, in Anwesenheit und unter Teilnahme einer fünftausendköpfigen<br />

Menge, ablegten. »Wir schwören bei unseren Kin<strong>der</strong>n, bei Gott, Himmel und<br />

Erde und allem Heiligen, was wir auf Erden haben, daß wir niemals die am 28. Februar<br />

blutig errungene Freiheit preisgeben werden; im Glauben an die Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki schwören wir, niemals auf die Leninisten zu hören, weil sie, die<br />

Bolschewiki-Leninisten, durch ihre Agitation Rußland dem Untergang entgegenführen,<br />

während Sozialrevolutionäre und Menschewiki, vereint in einem Bunde, sagen: den<br />

Boden dem Volke, Boden ohne Ablösung, das kapitalistische Regime muß nach dem<br />

Kriege zosammenstürzen, und statt des Kapitalismus muß das sozialistische Regime sein<br />

10 Verwechslung einer Person mit einer an<strong>der</strong>en.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 503


... Wir leisten den Schwur, diesen Parteien zu folgen, ohne vor dem Tode zurückzuschrecken.«<br />

Der gegen die Bolschewiki gerichtete Schwur <strong>der</strong> Bergarbeiter führte in<br />

Wirklichkeit direkt zur bolschewistischen Umwälzung. Die Februarhülle und <strong>der</strong><br />

Oktoberkern treten in dieser naiven und leidenschaftlichen Charte mit solcher Anschaulichkeit<br />

hervor, daß sie in ihrer Art das Problem <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> erschöpfen.<br />

Im September bereits kehrten die Donez-Bergleute, ohne sich o<strong>der</strong> ihrem Schwur<br />

untreu zu werden, den Versöhnlem den Rücken. Das gleiche machten auch die allerrückständigsten<br />

Abteilungen <strong>der</strong> Uraler Bergleute durch. Ein Mitglied des Exekutivkomitees,<br />

<strong>der</strong> Sozialrevolutionär Oschegow, Vertreter vom Ural, besuchte Anfang August seinen<br />

Ischewsker Betrieb. »Ich war furchtbar erstaunt«, schreibt er in seinem wehmütigen<br />

Bericht, »über die schroffen Verän<strong>der</strong>ungen, die in meiner Abwesenheit stattgefunden<br />

hatten: Jene Parteiorganisation <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, die sowohl ihrer Zahl (achttausend<br />

Menschen) wie ihrer Tätigkeit nach dem gesamten Uraler Distrikt bekannt war ...<br />

erwies sich als zersetzt und bis auf fünfhun<strong>der</strong>t Mann geschwächt, dank verantwortungsloser<br />

Agitatoren.«<br />

Oschegows Bericht brachte dem Exekutivkomitee nichts Überraschendes: das gleiche<br />

Bild war auch in Petrograd zu beobachten. Wenn nach <strong>der</strong> Julizertrümmerung die Sozialrevolutionäre<br />

in den Betrieben vorübergehend sich erholt und hier und dort ihren Einfluß<br />

sogar verbreitert hatten, so wird ihr Hinschwinden in <strong>der</strong> Folge desto unaufhaltsamer.<br />

»Zwar hatte Kerenskis Regierung damals gesiegt« schrieb später <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />

W. Sensinow, »die bolschewistischen Demonstranten wurden zerstreut, die Häupter <strong>der</strong><br />

Bolschewiki verhaftet, aber das war ein Pyrrhussieg.« Ganz richtig: Wie <strong>der</strong> König von<br />

Epirus bezahlten die Versöhnler ihren Sieg mit dem Preise ihrer Armee. »Konnten die<br />

Menschewiki und Sozialrevolutionäre vor dem 3. - 5. Juli«, schreibt <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Arbeiter Skorinko, »manchmal vor Arbeitern erscheinen, ohne ausgepfiffen zu werden,<br />

so besaßen sie jetzt diese Garantie nicht« ... Garantien blieben ihnen überhaupt nicht<br />

mehr.<br />

Die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre verlor nicht nur ihren Einfluß, son<strong>der</strong>n verän<strong>der</strong>te<br />

auch ihren sozialen Bestand. Die revelutionären Arbeiter waren entwe<strong>der</strong> bereits zu den<br />

Bolschewiki übergegangen o<strong>der</strong> machten vor dem Abmarsch eine innere Krise durch.<br />

Dagegen hatten die Söhne <strong>der</strong> Krämer, Kulaken und kleineren Beamten, die sich<br />

während des Krieges in den Fabriken vor dem Schützengraben gedrückt hatten, Zeit<br />

gefunden, sich davon zu überzeugen, daß ihr Platz gerade in <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />

Partei war. Jedoch im September wagten auch sie bereits nicht mehr, sich Sozialrevolutionäre<br />

zu nennen, wenigstens nicht in Petrograd. Arbeiter, Soldaten, in einigen Gouvernements<br />

auch Bauern, verließen die Partei, es verblieben in ihr konservative Beamtenund<br />

Kleinbürgerschichten.<br />

Als die durch die Umwälzung erwachten Massen ihr Vertrauen noch den Sozialrevolutionären<br />

und Menschewiki entgegenbrachten, waren beide Parteien nicht müde, die hohe<br />

Aufgeklärtheit des Volkes zu rühmen. Als die gleichen Massen, nachdem sie die Schule<br />

<strong>der</strong> Ereignisse passiert hatten, sich schroff in die Richtung <strong>der</strong> Bolschewiki wandten,<br />

schoben die Versöhnler die Schuld an ihrem Zusammenbruch auf die Finsternis des<br />

Volkes. Die Massen jedoch mochten nicht glauben, daß sie finsterer geworden waren, im<br />

Gegenteil, ihnen schien es, als begriffen sie jetzt, was sie früher nicht begriffen hatten.<br />

Während sie ausblich und erschlaffte, spaltete sich die sozialrevolutionäre Partei<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 504


darüber hinaus auf <strong>der</strong> sozialen Linie, wobei ihre Mitglie<strong>der</strong> in verschiedene sich<br />

bekämpfende Lager geworfen wurden. In Regimentern und Dörfern verblieben jene<br />

Sozialrevolutionäre, die gemeinsam mit den Bolschewiki, und in <strong>der</strong> Regel unter <strong>der</strong>en<br />

Leitung, sich gegen die Schläge <strong>der</strong> Regierungssozialrevolutionäre wehrten. Die Zuspitzung<br />

des Kampfes <strong>der</strong> Flügel rief eine Zwischengruppierung ins Leben. Unter Tschernows<br />

Leitung versuchte sie die Einheit zwischen Verfolgern und Verfolgten herzustellen,<br />

stand störend im Wege, geriet in verzweifelte, häufig lächerliche Wi<strong>der</strong>sprüche und<br />

kompromittierte die Partei noch stärker. Um sich die Möglichkeit zu verschaffen, vor<br />

einem Massenauditorium aufzutreten, mußten sich die sozialrevolutionären Redner<br />

beharrlich als "Linke", als Internationalisten empfehlen, die nichts gemein hätten mit <strong>der</strong><br />

Clique <strong>der</strong> März-Sozialrevolutionäre. Nach den Julitagen gingen die linken Sozialrevolutionäre<br />

in offene Opposition über und übernahmen, ohne formell schon mit <strong>der</strong> Partei zu<br />

brechen, mit Verspätung Argumente und Parolen <strong>der</strong> Bolschewiki. Am 21. September<br />

erklärte Trotzki in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets nicht ohne pädagogischen Hintergedanken,<br />

es werde den Bolschewiki »immer leichter, sich mit den linken Sozialrevolutionären<br />

zu verständigen«. Endlich trennten sie sich als eine selbständige Partei ab, um in<br />

das Buch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>lichsten Seiten einzutragen. Es war das letzte<br />

Aufflackern des selbstgenügsamen Intelligenzler-Radikalismus, und wenige Monate nach<br />

dem Oktober war von ihm nur ein kleines Häuflein Asche übrig geblieben.<br />

Die Differenzierung erfaßte tiefgehend auch die Menschewiki. Ihre Petrogra<strong>der</strong><br />

Organisation befand sich in scharfer Opposition zum Zentralkomitee. Der von Zeretelli<br />

geführte Grundkern schmolz, ohne über Bauernreserven zu verfügen wie die Sozialrevolutionäre,<br />

noch rapi<strong>der</strong> als die letzteren. Die sozialdemokratischen Zwischengruppen, die<br />

sich keinem <strong>der</strong> beiden Hauptlager angeschlossen hatten, versuchten noch immer die<br />

Bolschewiki mit den Menschewiki zu vereinigen: sie verbrauchten noch die Reste jener<br />

Illusionen vom März, wo sogar Stalin die Vereinigung mit Zeretelli als wünschenswert<br />

erachtet und gehofft hatte, daß »wir innerhalb <strong>der</strong> Partei die kleinen Meinungsverschiedenheiten<br />

austragen werden«. Um den 20. August herum fand die Vereinigung <strong>der</strong><br />

Menschewiki mit den Vereinigern selbst statt. Das bedeutende Übergewicht lag bei dem<br />

Vereinigungsparteitag auf seiten des rechten Flügels, und Zeretellis Resolution für Krieg<br />

und für Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie wurde mit einhun<strong>der</strong>tundsiebzehn Stimmen gegen<br />

neunundsiebzig angenommen. Zeretellis Sieg in <strong>der</strong> Partei beschleunigte die Nie<strong>der</strong>lage<br />

<strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> Arbeiterklasse. Die äußerst kleine Petrogra<strong>der</strong> Organisation <strong>der</strong> Arbeiter-Menschewiki<br />

ging mit Martow, ihn vorwärtsstoßend, gereizt durch seine Unentschlossenheit<br />

und im Begriff, zu den Bolschewiki überzugehen. Gegen Mitte September<br />

trat die Wassiliostrower Organisation fast vollzählig in die bolschewistische Partei ein.<br />

Das beschleunigte die Gärung in den an<strong>der</strong>en Bezirken und in <strong>der</strong> Provinz. Die Führer<br />

verschiedener Strömungen des Menschewismus beschuldigten in gemeinsamen Sitzungen<br />

einan<strong>der</strong> wütend <strong>der</strong> Parteizerstörung. Gorkis Zeitung, die dem linken Flügel <strong>der</strong><br />

Mensehewiki nahestand, berichtete Ende September, die Petrogra<strong>der</strong> Parteiorganisation,<br />

die noch kurz zuvor annähernd zehntausend Mitglie<strong>der</strong> zählte, habe »faktisch aufgehört<br />

zu existieren ... Die letzte Stadtkonferenz konnte wegen fehlen<strong>der</strong> Präsenzstärke nicht<br />

zusammentreten«.<br />

Plechanow griff die Menschewiki von rechts an: »Zeretelli und seine Freunde bahnten,<br />

ohne es zu wollen und ohne sich dessen bewußt zu sein, den Weg für Lenin.« Die politi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 505


sche Verfassung Zeretellis in den Tagen <strong>der</strong> Septemberflut ist grell festgehalten in den<br />

Erinnerungen des Kadetten Nabokow: »Der charakteristischste Zug seiner damaligen<br />

Stimmung war Angst vor <strong>der</strong> wachsenden Macht des Bolschewismus. Ich erinnere mich,<br />

wie er in einer Unterhaltung mit mir unter vier Augen von <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Machtergreifung<br />

durch die Bolschewiki sprach. "Gewiß", sagte er, "sie werden nicht mehr als<br />

zwei, drei Wochen bleiben, aber bedenken Sie nur, welche Verwüstungen es geben wird<br />

... Das muß um jeden Preis vermieden werden." In seiner Stimme klang unverfälsehte<br />

panische Furcht.« Vor dem Oktober machte Zeretelli die gleichen Stimmungen durch,<br />

die Nabokow bereits in den Februartagen gut gekannt hatte.<br />

Die Arenta, wo die Bolschewiki Seite an Seite mit den Sozialrevolutionären und<br />

Menschewiki wirkten, wenn auch in ständigem Kampfe gegen sie, waren die Sowjets.<br />

Verän<strong>der</strong>ungen im Kräfteverhälmis <strong>der</strong> Sowjetparteien fanden, wenn allerdings auch<br />

nicht sogleich, son<strong>der</strong>n mit unvermeidlichem Nachhinken und künstlichen Verzögerungen,<br />

ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Zusammensetzung <strong>der</strong> Sowjets und in <strong>der</strong>en öffentlicher<br />

Funktion.<br />

Viele Provinzsowjets, so in Iwanowo-Wosnessensk, Lugansk, Zarizyn, Cherson,<br />

Tomsk, Wladiwostok, stellten bereits vor den Julitagen Machtorgane dar, wenn nicht<br />

formell, so doch faktisch, wenn nicht dauernd, so doch episodisch. Der Krasnojarsker<br />

Sowjet führte eigenmächtig das Kartensystem für Gegenstände des persönlichen Bedarfs<br />

ein. Der Versöhnler-Sowjet in Saratow war gezwungen, sich in ökonomische Konflikte<br />

einzumischen, zu Verhaftungen von Unternehmern zu schreiten, den Belgiern die<br />

Trambahn wegzunehmen, Arbeiterkontrollen einzuführen und in stillgelegten Betrieben<br />

die Produktion zu organisieren. Im Ural, wo seit 1905 <strong>der</strong> Bolschewismus dominierenden<br />

politischen Einfluß genoß, übten die Sowjets häufig über Bürger sogar Justiz und Strafgericht<br />

aus, schufen in etlichen Betrieben eigene Miliz, bezahlten sie aus <strong>der</strong> Fabrikskasse,<br />

organisierten Arbeiterkontrolle, die den Betrieb mit Rohstoff und Heizmaterial<br />

versorgte, überwachten den Absatz <strong>der</strong> Fabrikate und bestimmten Tarifsätze. In einigen<br />

Bezirken des Urals nahmen die Sowjets für öffentliche Anbauzwecke den Gutsbesitzern<br />

Boden weg. In den Situsker Bergwerken organisierten die Sowjets eine Kreisbetriebsverwaltung,<br />

<strong>der</strong> die gesamte Administration, Kasse, Buchhalterei und Annahme von Aufträgen,<br />

unterstellt wurde. Mit diesem Akt wurde im groben die Nationalisierung des<br />

Simsker Bergwerkbezirks durchgeführt. »Schon im Monat Juli«, schreibt B. Elzin, dem<br />

wir diese Angaben entnehmen, »war in den Uraler Werken nicht nur alles in den Händen<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki, son<strong>der</strong>n die Bolschewiki erteilten bereits Anschauungsunterricht für die<br />

Lösung politischer, agrarischer und wirtschaftlicher Fragen.« Diese Lehren waren<br />

primitiv, nicht systematisiert, nicht von einer Theorie erhellt, doch in vielem bestimmten<br />

sie die späteren Wege voraus.<br />

Der Juliumschwung traf viel unmittelbarer die Sowjets als die Partei o<strong>der</strong> die Gewerkschaften,<br />

denn <strong>der</strong> Kampf jener Tage ging vor allem um Leben und Tod <strong>der</strong> Sowjets.<br />

Partei und Gewerkschaften behalten ihre Bedeutung in "friedlichen" Perioden wie in<br />

Zeiten schwerer Reaktion; es verändem sich Aufgaben und Methoden, nicht aber die<br />

grundlegenden Funktionen. Die Sowjets dagegen können nur auf <strong>der</strong> Basis einer revolutionären<br />

Situation bestehen und verschwinden zusammen mit ihr. Die Mehrheit <strong>der</strong><br />

Arbeiterklasse vereinigend, stellen sie diese unmittelbar vor eine Aufgabe, die sich über<br />

alle lokalen, Gruppen- und Fachbedürfnisse; über Flick-, Korrektur- und Reformpro-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 506


gramme überhaupt erhebt, das heißt vor die Aufgabe <strong>der</strong> Machteroberung. Die Losung<br />

"Alle Macht den Sowjets" schien jedoch zusammen mit <strong>der</strong> Julidemonstration <strong>der</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten zerschlagen. Die Nie<strong>der</strong>lage, die die Bolschewiki in den Sowjets<br />

geschwächt hatte, hatte unermeßlich stärker die Sowjets im Staate geschwächt. Die<br />

"Rettungsregierung" bedeutete das Wie<strong>der</strong>aufleben <strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>der</strong> Bürokratie.<br />

Der Verzicht <strong>der</strong> Sowjets auf die Macht bedeutete Erniedrigung vor den Kommissaren,<br />

Siechtum, Hinwelken.<br />

Das Sinken <strong>der</strong> Bedeutung des Zentral-Exekutivkomitees fand einen krassen äußeren<br />

Ausdruck: die Regierung stellte an die Versöhnler das Ansinnen, das Taurische-Palais zu<br />

räumen, da es für die Ansprüche <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung reparaturbedürftig<br />

sei. Den Sowjets wurde in <strong>der</strong> zweiten Julihälfte das Gebäude des Smolny-lnstituts<br />

angewiesen, wo bis dahin die Töchter des vornehmen Adels erzogen worden waren. Die<br />

bürgerliche Presse schrieb nun von <strong>der</strong> Übergabe des Hauses <strong>der</strong> »weißen Täubchen« an<br />

die Sowjets beinahe im gleichen Tone wie früher über die Besetzung des Kschessinskaja-<br />

Palais durch die Bolschewiki. Verschiedene revolutionäre Organisationen, darunter auch<br />

Gewerkschaften, die requirierte Gebäude innehatten, wurden auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />

Wohnungsfrage einer einheitlichen Attacke ausgesetzt. Es ging um nichts an<strong>der</strong>es, als<br />

um das Hinausdrängen <strong>der</strong> Arbeiterrevolution aus den von ihr auf Kosten <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Gesellschaft angeeigneten übermäßig großen Wohnräumen. Die Kadettenpresse<br />

kannte keine Grenze <strong>der</strong> allerdings verspäteten Empörung über das vandalenhafte<br />

Eindringen des Volkes in die Rechte des Privat- und Staatseigentums. Ende Juli jedoch<br />

wurde durch die graphischen Arbeiter eine überraschende Tatsache aufgedeckt: die um<br />

das berüchtigte Komitee <strong>der</strong> Reichsduma gruppierten Parteien haben, wie sich herausstellt,<br />

schon längst für ihre Bedürfnisse sich die außerordentlich reiche Staatsdruckerei,<br />

<strong>der</strong>en Expedition und <strong>der</strong>en Recht auf Literaturversand angeeignet. Agitationsbroschüren<br />

<strong>der</strong> Kadettenpartei werden nicht nur unentgeltlich gedruckt, son<strong>der</strong>n auch tonnenweise,<br />

und zwar außerhalb <strong>der</strong> Reihe, im ganzen Lande portofrei versandt. Das Exekutivkomitee,<br />

vor die Notwendigkeit gestellt, die Beschuldigung nachzuprüfen, mußte sie bestätigen.<br />

Die Kadettenpartei fand allerdings einen neuen Anlaß zur Entrüstung: könne man<br />

denn tatsächlich auch nur für eine Minute Besetzungen von Staatsgebäuden zu zerstörerischen<br />

Zwecken auf eine Stufe stellen mit <strong>der</strong> Ausnutzung staatlichen Eigentums zum<br />

Zwecke des Schutzes höherer Werte? Mit einem Wort, wenn auch diese Herren den Staat<br />

ein wenig bestahlen, so doch in dessen eigenem Interesse. Aber dieses Argument schien<br />

nicht allen überzeugend. Die Bauarbeiter meinten, sie besäßen mehr Rechte auf einen<br />

Raum für ihre Gewerkschaft als die Kadetten auf die Staatsdruckerei. Die Meinungsverschiedenlieit<br />

war keine zufällige: sie eben führte zur zweiten <strong>Revolution</strong>. Die Kadetten<br />

waren jedenfalls gezwungen, sich ein wenig auf die Zunge zu beißen.<br />

Einer <strong>der</strong> Instruktoren des Exekutivkomitees, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> zweiten Augusthälfte die<br />

Sowjets Südrußlands bereiste, wo die Bolschewiki bedeutend schwächer waren als im<br />

Norden, berichtete über seine wenig tröstlichen Beobachtungen: »Die politische<br />

Stimmung verän<strong>der</strong>t sich merklich ... Bei den Spitzen <strong>der</strong> Massen nimmt die revolutionäre<br />

Stimmung zu, hervorgerufen durch den Ruck in <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung ... In den Massen selbst spürt man Müdigkeit und Gleichgültigkeit für die<br />

<strong>Revolution</strong>. Es läßt sich eine starke Abkühlung gegen die Sowjets beobachten ... Die<br />

Funktionen <strong>der</strong> Sowjets werden allmählich abgebaut ... « Daß die Massen des Hin und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 507


Her <strong>der</strong> demokratischen Vermittler müde geworden waren, ließ sich nicht bestreiten.<br />

Abgekühlt jedoch waren sie nicht gegen die <strong>Revolution</strong>, son<strong>der</strong>n gegen die Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki. Die Lage wurde beson<strong>der</strong>s dort unerträglich, wo die Macht,<br />

allen Programmen zuwi<strong>der</strong>, in den Händen <strong>der</strong> Versöhnlersowjets konzentriert war:<br />

durch die endgültige Kapitulation des Exekutivkomitees vor <strong>der</strong> Bürokratie gebunden,<br />

wagten sie nicht, ihre Macht zu gebrauchen, und kompromittierten so die Sowjets bei den<br />

Massen. Ein beträchtlicher Teil <strong>der</strong> laufenden Alltagsarbeit ging überdies von den<br />

Sowjets an die demokratischen Munizipalitäten über. Ein noch größerer Teil an die<br />

Gewerkschaften und Fabrikkomitees. Immer unklarer gestaltete es sich: werden die<br />

Sowjets leben bleiben? und was harrt ihrer morgen?<br />

In den ersten Monaten ihres Daseins hatten die Sowjets, die alle an<strong>der</strong>en Organisationen<br />

weit übefflügelten, den Aufbau <strong>der</strong> Gewerkschaften, Fabrikkomitees und Klubs wie<br />

die Leitung <strong>der</strong>en Arbeit auf sich genommen. Inzwischen gerieten jedoch die Arbeiterorganisationen,<br />

die bereits auf eigenen Füßen standen, immer mehr unter Führung <strong>der</strong><br />

Bolschewiki. »Die Fabrikkomitees ...«, schrieb Trotzki im August, »entstehen nicht auf<br />

fliegenden Meetings. Die Masse zeichnet bei <strong>der</strong>en Zusammensetzung jene aus, die an<br />

Ort und Stelle, im Alltagsleben <strong>der</strong> Fabrik, ihre Standhaftigkeit, Sachlichkeit und<br />

Ergebenheit für die Arbeiterinteressen bewiesen haben. Und diese Fabrikkomitees ...<br />

bestehen in überwiegen<strong>der</strong> Mehrheit aus Bolschewiki.« Von Bevormundung <strong>der</strong> Fabrikkomitees<br />

und Gewerkschaften seitens <strong>der</strong> Versöhnlersowjets konnte nicht mehr die Rede<br />

sein, im Gegenteil, hier eröffnete sich ein Feld erbitterten Kampfes. In Fragen, wo die<br />

Massen an ihrem Lebensnerv getroffen wurden, vermochten die Sowjets immer weniger<br />

sich den Gewerkschaften und Fabrikkomitees zu wi<strong>der</strong>setzen. So hatten die Moskauer<br />

Gewerkschaften entgegen dem Sowjetbeschluß den Generalstreik durchgeführt. In<br />

weniger krasser Form fanden ähnliche Konflikte allerorts statt, und in <strong>der</strong> Regel gingen<br />

nicht die Sowjets als Sieger aus ihnen hervor.<br />

Durch den eigenen Kurs in eine Sackgasse getrieben, waren die Versöhnler<br />

gezwungen, für die Sowjets Nebenbeschäftigungen zu "erfinden", sie auf den Weg des<br />

Kulturträgertums überzuleiten, eigentlich Zerstreuung für sie zu suchen. Vergebens: die<br />

Sowjets waren geschaffen für den Kampf um die Macht; für an<strong>der</strong>e Aufgaben existierten<br />

an<strong>der</strong>e, geeignetere Organisationen. »Die gesamte Arbeit, die auf dem menschewistischsozialrevolutionären<br />

Geleise rollte«, schreibt <strong>der</strong> Saratower Bolschewik Antonow,<br />

»verlor jeglichen Sinn ... In <strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees gähnten wir bis zur<br />

Unschicklichkeit vor Langerweile: nichtig und leer war die sozialrevolutionär-menschewistische<br />

Schwatzbude.«<br />

Die hinsiechenden Sowjets vermochten immer weniger Stütze ihres Petrogra<strong>der</strong><br />

Zentrums zu sein. Die Korrespondenz zwischen dem Smolny und <strong>der</strong> Provinz schlief<br />

allmählich ein: es gab nichts zu schreiben, nichts vorzuschlagen, es blieben keine<br />

Perspektiven, keine Aufgaben mehr. Die Losgelöstheit von den Massen nahm die äußerst<br />

empfindliche Form einer Finanzkrise an. Die Versöhnlersowjets in <strong>der</strong> Provinz waren<br />

selbst mittellos und konnten ihren Stab im Smolny nicht unterstützen; linke Sowjets<br />

verweigerten demonstrativ die Finanzhille dem Exekutivkomitee, das sich durch die<br />

Beteiligung an <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> Konterrevolution befleckt hatte.<br />

Der Welkungsprozeß <strong>der</strong> Sowjets kreuzte sich aber mit Prozessen an<strong>der</strong>er, teilweise<br />

entgegengesetzter Art. Es erwachten die fernen Randgebiete, rückständigen Bezirke,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 508


entlegensten Winkel und schufen ihre Sowjets, die anfangs revolutionäre Frische entwikkelten,<br />

solange sie nicht unter den zersetzenden Einfluß des Zentrums o<strong>der</strong> unter Regierungsrepressalien<br />

gerieten. Die Gesamtzahl <strong>der</strong> Sowjets stieg rapid. Ende August zählte<br />

die Kanzlei des Exekutivkomitees etwa sechshun<strong>der</strong>t Sowjets, hinter denen dreiundzwanzig<br />

Millionen Wähler standen. Das offizielle Sowjetsystem erhob sich über den<br />

Menschenozean, <strong>der</strong> mächtig wogte und seine Wellen nach links trieb.<br />

Die politische Wie<strong>der</strong>auferstehung <strong>der</strong> Sowjets, die mit <strong>der</strong>en Bolschewisierung<br />

zusammenfiel, begann von unten. In Petrograd erhoben als erste die Bezirke die Stimme.<br />

Am 21. Juli präsentierte die Konferenzdelegation <strong>der</strong> vereinigten Bezirkssowjets dem<br />

Exekutivkomitee eine Liste von For<strong>der</strong>ungen: Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma, Bestätigung<br />

<strong>der</strong> Unantastbarkeit <strong>der</strong> Armeeorganisationen durch Regierungsdekret, Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

<strong>der</strong> linken Presse, Abbruch <strong>der</strong> Arbeiterentwaffnungen, Einstellung <strong>der</strong> Massenverhaftungen,<br />

Zügelung <strong>der</strong> rechten Presse, Schluß mit dem Auflösen von Regimentern und<br />

den Todesstrafen an <strong>der</strong> Front. Das Hinabschrauben <strong>der</strong> politischen For<strong>der</strong>ungen im<br />

Vergleich zu <strong>der</strong> Julidemonstration ist ganz offensichtlich; doch war es nur <strong>der</strong> erste<br />

Schritt eines Genesenden. Während sie die Losungen beschnitten, waren die Bezirke<br />

bestrebt, die Basis zu verbreitern. Die Führer des Exekutivkomitees begrüßten diplomatisch<br />

die "Feinfühligkeit" <strong>der</strong> Bezirkssowjets, kamen aber dann darauf hinaus, alles<br />

Unheil komme vom Juliaufstande. Die Parteien trennten sich höflich, aber kühl.<br />

Das Programm <strong>der</strong> Bezirkssowjets eröffnet eine eindrucksvolle Kampagne. Die<br />

'Iswestja' drucken tagtäglich. Resolutionen von Sowjets, Gewerkschaften, Betrieben,<br />

Kriegsschiffen und Truppenteilen, die die Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma, Einstellung <strong>der</strong><br />

Repressalien gegen die Bolschewiki und Ausmerzung <strong>der</strong> Nachsicht mit <strong>der</strong> Konterrevolution<br />

for<strong>der</strong>n. Von diesem Grundtone hoben sich auch radikalere Stimmen ab. Am 22.<br />

Juli nahm <strong>der</strong> Moskauer Gouvernementssowjet, <strong>der</strong> den Moskauer Sowjet selbst bedeutend<br />

überholt hatte, eine Resolution an für die Machtübergabe an die Sowjets. Am 26.<br />

Juli »brandmarkt mit Verachtung« <strong>der</strong> lwanowo-Wosnessensker Sowjet die Kampfesart<br />

gegen die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki und entbietet seinen Gruß Lenin, »dem ruhmvollen<br />

Führer des revolutionären Proletariats«.<br />

Neuwahlen, die Ende Juli und in <strong>der</strong> ersten Augusthälfte an vielen Punkten des Landes<br />

stattfanden, brachten in <strong>der</strong> Regel eine Stärkung <strong>der</strong> bolschewistischen Sowjetfraktionen.<br />

Im geschlagenen und in ganz Rußland berühmt gewordenen Kronstadt zählte <strong>der</strong> neue<br />

Sowjet hun<strong>der</strong>t Bolschewiki, fünfundsiebzig linke Sozialrevolutionäre, zwölf Menschewiki-Internationalisten,<br />

sieben Anarchisten und über neunzig Parteilose, von denen<br />

keiner es wagte, seine Sympathien für die Versöhnler offen zu bekunden. Auf dem am<br />

18. August eröffneten Distriktkongreß <strong>der</strong> Ural-sowjets gab es sechsundachtzig Bolschewiki,<br />

vierzig Sozialrevolutionäre, dreiundzwanzig Menschewiki. Gegenstand beson<strong>der</strong>en<br />

Hasses <strong>der</strong> bürgerlichen Presse wird Zarizyn, wo nicht nur <strong>der</strong> Sowjet bolschewistisch<br />

ward, son<strong>der</strong>n außerdem zum Oberbürgermeister ein dortiger Führer <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />

Minin, gewählt wurde. Gegen Zarizyn, das dem Doner Ataman Kaledin ein Dorn im<br />

Auge war, schickte Kerenski, ohne jeglichen ernsthaften Vorwand, eine Strafexpedition<br />

mit dem einzigen Ziel: das revolutionäre Nest zu zerstören. In Petrograd, Moskau und<br />

allen Industriebezirken erheben sich für die bolschewistischen Anträge von Mal zu Mal<br />

immer mehr Hände.<br />

Das Augustende unterwarf die Sowjets einer Prüfung. Unter den Schlägen <strong>der</strong> Gefahr<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 509


vollzog sich die innere Umgruppierung zusehends schnell, allgemein und mit verhältnismäßig<br />

gering Reibungen. In <strong>der</strong> Provinz wie in Petrograd rückten an die erste Stelle die<br />

Bolschewiki, Stiefsöhne des offiziellen Sowjetsystems. Aber auch im Bestand <strong>der</strong><br />

Versöhnlerparteien werden die "Märzsozialisten", Politiker <strong>der</strong> Minister- und Beamtenwartezimmer,<br />

von kampffähigeren Elementen illegaler Stählung zeitweilig zurückgedrängt.<br />

Die neue Kräftegruppierung erfor<strong>der</strong>te eine neue Organisationsform. Nirgendwo<br />

lag die Leitung <strong>der</strong> revolutionären Verteidigung in Händen <strong>der</strong> Exekutivkomitees: in <strong>der</strong><br />

Form, in <strong>der</strong> sie <strong>der</strong> Aufstand vorfand, waren sie für Kampfhandlungen wenig geeignet.<br />

Überall wurden beson<strong>der</strong>e Verteidigungskomitees, <strong>Revolution</strong>skomitees und Stäbe<br />

geschaffen. Sie stützten sich auf die Sowjets, legten ihnen Rechenschaft ab, stellten aber<br />

eine neue Auslese <strong>der</strong> Elemente und neue Aktionsmethoden dar, entsprechend dem<br />

revolutionären Charakter <strong>der</strong> Aufgaben.<br />

Der Moskauer Sowjet gründete, wie in den Tagen <strong>der</strong> Staatsberatung, einen Sechserkampfausschuß,<br />

dem allein das Recht zustand, über die bewaffneten Kräfte zu verfügen<br />

und Verhaftungen vorzunehmen. Der Ende August in Kiew eröffnete Distriktkongreß<br />

empfahl den Lokalsowjets, vor <strong>der</strong> Absetzung verhaßter. Vertreter <strong>der</strong> Macht, militärischer<br />

wie ziviler, nicht zurückzuschrecken und Maßnahmen zu treffen zur sofortigen<br />

Verhaftung von Konterrevolutionären und zur Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter. In Wjatka<br />

eignete sich das Sowjetkomitee beson<strong>der</strong>e Vollmachten an, einschließlich <strong>der</strong> Verfügung<br />

über die Militärgewalt. In Zarizyn ging die gesamte Macht an den Sowjetstab über. In<br />

Nischnij-Nowgorod errichtete das <strong>Revolution</strong>skomitee eigene Wachen in Post- und<br />

Telegraphenamt. Der Krassnojarsker Sowjet konzentrierte in seinen Händen Zivil- und<br />

Militärmacht.<br />

Mit den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, mitunter wesentlichen Abweichungen wie<strong>der</strong>holte sich<br />

das Bild fast überall. Und das war keinesfalls einfache Nachahmung Petrograds: <strong>der</strong><br />

Massencharakter <strong>der</strong> Sowjets verlieh ihrer inneren Evolution außerordentliche Gesetzmäßigkeit<br />

und löste bei ihnen einheitliche Reaktion auf die großen Ereignisse aus. Während<br />

zwischen den beiden Hälften <strong>der</strong> Koalition die Front des Bürgerkrieges hindurchging,<br />

versammelten die Sowjets um sich tatsächlich alle lebendigen Kräfte <strong>der</strong> Nation. Gegen<br />

diese Mauer anprallend, zerstob <strong>der</strong> Angriff <strong>der</strong> Generale zu Asche. Eine anschaulichere<br />

Lehre konnte man nicht verlangen. »Trotz allen Bemühungen <strong>der</strong> Regierung, die Sowjets<br />

zu verdrängen und zu entmachten«, lautet eine diesbezügliche Deklaration <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />

»bewiesen die Sowjets die ganze Unerschütterlichkeit ... <strong>der</strong> Macht und Initiative<br />

<strong>der</strong> Volksmassen in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>zwingung des Kornilowschen Aufstandes ...<br />

Nach dieser neuen Prüfung, die nichts mehr aus dem Bewußtsein <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten<br />

und Bauern auslöschen wird, wurde <strong>der</strong> zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von unserer Partei<br />

erhobene Ruf- "Alle Macht den Sowjets" - die Stimme des gesamten revolutionären<br />

Landes.«<br />

Die Stadtdumas, die mit den Sowjets zu rivalisieren versucht hatten, verblaßten und<br />

verkrochen sich in den Tagen <strong>der</strong> Gefahr. Die Petrogra<strong>der</strong> Duma schickte demütig eine<br />

Delegation in den Sowjet "zur Aufklärung über die Gesamtlage und Herstellung eines<br />

Kontaktes". Es sollte scheinen, daß die von einem Teile <strong>der</strong> Stadtbevölkerung gewählten<br />

Sowjets weniger Einfluß und Macht haben mußten als die von <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung<br />

gewählten Dumas. Doch die Dialektik des revolutionären Prozesses bewies, daß<br />

unter gewissen historischen Bedingungen ein Teil unermeßlich mehr ist als das Ganze.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 510


Wie in <strong>der</strong> Regierung gingen die Versöhnler auch in <strong>der</strong> Duma im Block mit den Kadetten<br />

gegen die Bolschewiki, und dieser Block paralysierte Duma wie Regierung. Dagegen<br />

erwies sich <strong>der</strong> Sowjet als die natürliche Form zur gemeinsamen Abwehrarbeit <strong>der</strong><br />

Versöhnler und Bolschewiki gegen den Angriff <strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />

Nach den Kornilowtagen begann für die Sowjets ein neues Kapitel. Obwohl den<br />

Versöhnlern, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Garnison, immer noch reichlich warme Plätzchen geblieben<br />

waren, zeigte <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet eine <strong>der</strong>art scharfe bolschewistische Kurve, daß<br />

es beide Lager verblüffte: das rechte wie das linke. In <strong>der</strong> Nacht zum 1. September nahm<br />

<strong>der</strong> Sowjet, noch immer unter Vorsitz Tschcheidses, eine Abstimmung über die Macht<br />

<strong>der</strong> Arbeiter und Bauern vor. Die einfachen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Versöhnlerfraktionen unterstützten<br />

fast ausnahmslos die bolschewistische Resolution. Der konkurrierende Antrag<br />

Zeretellis bekam etwa fünfzehn Stimmen. Das Versöhnlerpräsidium traute seinen Augen<br />

nicht. Rechts verlangte man namentliche Abstimmung, die sich bis 3 Uhr nachts hinzog.<br />

Um nicht offen gegen ihre Partei stimmen zu müssen, entfernten sich viele Delegierte.<br />

Und doch erhielt die Resolution <strong>der</strong> Bolschewiki trotz allen Druckmitteln bei <strong>der</strong> endgültigen<br />

Abstimmung zweihun<strong>der</strong>tundneunundsiebzig Stimmen gegen einhun<strong>der</strong>tundfünfzehn.<br />

Dies war eine bedeutsame Tatsache. Es war <strong>der</strong> Anfang vom Ende. Das betäubte<br />

Präsidium legte seine Vollmachten nie<strong>der</strong>.<br />

Am 2. September nahm die vereinigte Sitzung russischer Sowjetorgane in Finnland mit<br />

siebenhun<strong>der</strong>t Stimmen gegen dreizehn bei sechsunddreißig Stimmenthaltungen eine<br />

Resolution für die Sowjetmacht an. Am 5. betrat <strong>der</strong> Moskauer Sowjet den Weg Petrograds:<br />

mit dreihun<strong>der</strong>tundfünftindfünfzig gegen zweihun<strong>der</strong>tundvierundfünfzig Stimmen<br />

sprach er nicht nur <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, als einem Werkzeug <strong>der</strong> Konterrevolution,<br />

das Mißtrauen aus, son<strong>der</strong>n verurteilte auch die Koalirionspolitik des Exekutivkomitees.<br />

Das von Chintschuk geführte Präsidium trat zurück; Der am 5. September in<br />

Krassnojarsk eröffnete Sowjetkongreß Mittelsibiriens verläuft im Zeichen des Bolschewismus.<br />

Am 8. wird im Kiewer Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten mit einhun<strong>der</strong>tunddreißig<br />

Stimmen gegen sechsundsechzig eine bolschewistische Resolution angenommen, obwohl<br />

die offizielle bolschewistische Fraktion nur fünfundneunzig Mitglie<strong>der</strong> zählt. Auf dem<br />

am 10. eröffneten Sowjetkongreß Finnlands sind einhun<strong>der</strong>tundfünfzigtausend Matrosen,<br />

Sldaten und russische Arbeiter vertreten durch neunundsechzig Bolschewiki, achtundvierzig<br />

Sozialrevolutionäre und einige Parteilose. Der Sowjet <strong>der</strong> Bauerndeputierten des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Gouvernements wählte als Delegierten zur Demokratischen Beratung den<br />

Bolschewik Sergejew. Wie<strong>der</strong> zeigte es sich, daß dort, wo es <strong>der</strong> Partei gelang, durch<br />

Arbeiter o<strong>der</strong> Soldaten mit dem Dorfe unmittelbare Verbindungen anzuknüpfen, die<br />

Bauernschaft sich gern unter das Banner <strong>der</strong> Partei stellte.<br />

Die Vorherrschaft <strong>der</strong> bolschewistischen Partei im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet ist dramatisch<br />

festgehalten in <strong>der</strong> historischen Sitzung vom 9. September: Alle Fraktionen trommelten<br />

eifrig ihre Mitglie<strong>der</strong> zusammen: »es geht um das Schicksal des Sowjets« Es versammelten<br />

sich etwa tausend Arbeiter- und Soldatendeputierte. War die Abstimmung vom<br />

1. September eine einfache Episode, hervorgerulen durch eine zufällige Zusammensetzung<br />

<strong>der</strong> Versammlung, o<strong>der</strong> ist sie für den völligen Wandel <strong>der</strong> Sowjetpolitik bezeichnend?<br />

- so stand die Frage. Aus <strong>der</strong> Befürchtung heraus, keine Mehrheit gegen das<br />

Präsidium, dem alle Versöhnlerführer: Tschcheidse, Zeretelli, Tschernow, Goz, Dan,<br />

Skobeljew angehörten, zusammenzubekommen, schlug die bolschewistische Fraktion<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 511


vor, ein Proportionalpräsidium zu wählen: dieser Vorschlag, <strong>der</strong> bis zu einem gewissen<br />

Grade die prinzipielle Schärfe des Zusammenstoßes verwischte und deshalb eine leidenschaftliche<br />

Verurteilung durch Lenin erfuhr, hatte jenen taktischen Vorzug, daß er den<br />

schwankenden Elementen eine Stütze sicherte. Jedoch wies Zeretelli diesen Kompromiß<br />

zurück. Das Präsidium wolle wissen, ob <strong>der</strong> Sowjet tatsächlich die Richtung geän<strong>der</strong>t<br />

hat: »Die Taktik <strong>der</strong> Bolschewiki zu verfolgen, sind wir außerstande.« Der von rechts<br />

vorgeschlagene Resolutionsentwuif lautete, die Abstimmung vom 1. September entspräche<br />

nicht <strong>der</strong> politischen Linie des Sowjets, <strong>der</strong> nach wie vor seinem Präsidium vertraue.<br />

Den Bolschewiki blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig, als die Herausfor<strong>der</strong>ung anzunehmen, und<br />

sie taten dies mit restloser Bereitwilligkeit. Trotzki, zum ersten Male nach <strong>der</strong> Befreiung<br />

aus dem Gefängnis im Sowjet erschienen und von einem beträchtlichen Teil <strong>der</strong><br />

Versammlung heiß empfangen (beide Seiten wogen in Gedanken den Beifall: die<br />

Mehrheit o<strong>der</strong> nicht die Mehrheit?), verlangte vor <strong>der</strong> Abstimmung eine Aufklärung:<br />

gehört Kerenski in alter Weise dem Präsidium an? Nach einem Moment des Schwankens<br />

gab das ohnehin von Sünden beschwerte Präsidium bejahende Antwort und hing sich<br />

damit selbst ein schweres Bleigewicht an die Beine. Der Gegner hatte nur dies noch nötig<br />

gehabt. »Wir waren zutiefst überzeugt«, erklärte Trotzki, »... daß Kerenski dem Präsidium<br />

nicht angehört. Wir haben uns geirrt. Nun sitzt zwischen Dan und Tschcheidse das<br />

Gespenst Kerenskis ... Wenn man euch vorschlägt, die politische Linie des Präsidiums<br />

gutzuheißen vergeßt nicht, daß man euch damit vorschlägt, Kerenskis Politik gutzuheißen.«<br />

Die Sitzung verlief unter äußerster Spannung. Die Ordnung wurde aufrechterhalten<br />

durch das Bestreben aller, es nicht zur Explosion kommen zu lassen. Alle wollten<br />

schnellstens zur Zählung von Freund und Gegner schreiten. Alle wußten, daß es um aie<br />

Frage <strong>der</strong> Macht, des Krieges, um das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geht. Es wurde beschlossen,<br />

durch Hammelsprung abzustimmen. Hinausgehen möge, wer für die Demission des<br />

Präsidiums stimme, es sei für die Min<strong>der</strong>heit bequemer hinauszugehen als für die<br />

Mehrheit. In allen Saalecken geht heiße Agitation, jedoch mit halblauter Stimme. Altes<br />

Präsidium o<strong>der</strong> neues? Koalition o<strong>der</strong> Sowjctmacht? Zu den Türen ziehen viele<br />

Menschen, zu viele, nach Ansicht des Präsidiums. Die Führer <strong>der</strong> Bolschewiki waren <strong>der</strong><br />

Meinung, daß ihnen an die hun<strong>der</strong>t Stimmen zur Mehrheit fehlen würden: »auch das<br />

wäre schon schön«, trösteten sie sich im voraus. Arbeiter und Soldaten ziehen und ziehen<br />

zu den Türen. Verhaltenes Stimmengewirr, kurze Streitausbrüche. Von <strong>der</strong> einen Seite<br />

bricht eine Stimme durch: »Kornilowianer«, von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en: »Julihelden«. Die Prozedur<br />

währt fast eine Stunde. Es schwanken die Schalen <strong>der</strong> unsichtbaren Waage. Das<br />

Präsidium, in kaum zu meistern<strong>der</strong> Erregung, bleibt die ganze Zeit über auf dem Podium.<br />

Endlich ist das Resultat gezählt und verkündet: Für Präsidium und Koalition vierhun<strong>der</strong>tundvierzehn<br />

Stimmen, dagegen fünfhun<strong>der</strong>tundneunzehn, Stimmenthaltungen siebenundsechzig!<br />

Die neue Mehrheit applaudiert stürmisch, begeistert, rasend. Sie ist dazu<br />

berechtigt: <strong>der</strong> Sieg ist nicht billig erkauft. Ein gut Teil Weges liegt zurück.<br />

Noch bevor sie sich von dem Schlag erholen konnten, steigen die entthronten Führer<br />

mit langen Gesichtern vom Podium. Zeretelli kann sich einer dräuenden Prophezeiung<br />

nicht enthalten: »Wir verlassen diese Tribüne«, schreit er im Gehen halb zum Saal<br />

gewendet, »im Bewußtsein, daß wir ein halbes Jahr lang das Banner <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

hoch und in Ehren gehalten haben. Jetzt ist das Banner in eure Hände übergegangen.<br />

Wir können nur den Wunsch aussprechen, daß ihr es in gleicher Weise mindestens halb<br />

so lange halten möget !« Zeretelli irrte bitter sowohl in bezug auf die Fristen wie auch<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 512


auf alles übrige.<br />

Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, Stammvater aller übrigen Sowjets, stand von nun ab unter <strong>der</strong><br />

Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki, gestern noch eines »verschwindenden Häufleins von Demagogen«.<br />

Trotzki erinnerte von <strong>der</strong> Präsidententribüne herab daran, daß von den Bolschewiki<br />

noch nicht die Beschuldigung genommen sei, im Dienste des deutschen Stabes zu stehen.<br />

»Mögen doch die Miljukow und Gutschkow Tag für Tag ihr Leben erzählen. Sie werden<br />

dies nicht tun, wir aber sind jeden Tag bereit, Rechenschaft über unsere Handlungen<br />

abzulegen, wir haben vor dem <strong>russischen</strong> Volke nichts zu verbergen ...« Der Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet nahm eine beson<strong>der</strong>e Entschließung an, die »die Autoren, Verbreiter und Helfershelfer<br />

<strong>der</strong> Verleumdung mit Verachtung brandmarkt«.<br />

Die Bolschewiki traten die Erbschaft an. Sie erwies sich als grandios und äußerst<br />

kläglich zugleich. Das Zentral-Exekutivkomitee beraubte rechtzeitig den Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet <strong>der</strong> beiden von ihm geschaffenen Zeitungen, sämtlicher Verwaltungsabteilungen,<br />

aller finanziellen und technischen Mittel, einschließlich <strong>der</strong> Schreibmaschinen und<br />

Tintenfässer. Die zahlreichen Automobile, die seit den Februartagen dem Sowjet zur<br />

Verfügung gestellt worden waren, wurden bis auf das letzte dem Versöhnlerolymp<br />

überwiesen. Die neuen Leiter besaßen keine Kasse, keine Zeitungen, keinen Kanzleiapparat,<br />

keine Verkehrsmittel, keine Bleistifte. Nichts außer nackten Wänden und - dem<br />

flammenden Vertrauen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Dies erwies sich als völlig<br />

ausreichend.<br />

Nach dem grundlegenden Umschwung in <strong>der</strong> Sowjetpolitik begannen die Versöhnlerreihen<br />

noch rascher hinzuschmelzen. Am 11. September, als Dan vor dein Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet die Koalition verteidigte und Trotzki für die Macht <strong>der</strong> Sowjets sprach, wurde die<br />

Koalition mit allen gegen zehn Stimmen, bei sieben Stimmenthaltungen, abgelehnt! Am<br />

gleichen Tage verurteilte <strong>der</strong> Moskauer Sowjet einstimmig die Repressalien gegen die<br />

Bolschewiki. Die Versöhnler sahen sich bald in einen schmalen Sektor nach rechts<br />

zurückgeworfen, ähnlich dem, wie ihn die Bolschewiki zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> links<br />

innegehabt hatten. Doch welcher Unterschied! Die Bolschewiki waren stets stärker unter<br />

den Massen als in den Sowjets. Die Versöhnler dagegen behielten noch immer einen<br />

größeren Platz in den Sowjets als unter den Massen. Die Bolschewiki hatten in <strong>der</strong><br />

Periode ihrer Schwäche eine Zukunft. Den Versöhnlern blieb nur die Vergangenheit, auf<br />

die stolz zu sein sie keinen Grund hatten.<br />

Zusammen mit <strong>der</strong> Kursän<strong>der</strong>ung verän<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet sein äußeres Bild.<br />

Die Versöhnlerführer verschwanden restlos vom Horizont, indem sie sich im Exekutivkomitee<br />

vergruben; sie wurden im Sowjet durch Sterne zweiten und dritten Grades<br />

ersetzt. Gemeinsam mit Zeretelli, Tschnernow, Awksenjew, Skobeljew verschwanden<br />

die Freunde und Verehrer <strong>der</strong> demokratischen Minister von <strong>der</strong> Bildfläche, radikale<br />

Offiziere und Damen, halbsozialistische Schriftsteller, gebildete und namhafte<br />

Menschen. Der Sowjet wurde einheitlicher, grauer, düsterer, ernster.<br />

Die Bolschewiki und die Sowjets<br />

Mittel und Werkzeuge <strong>der</strong> bolschewistischen Agitation scheinen bei näherer Betrachtung<br />

nicht nur in keinem Verhälmis zu dem politischen Einfluß des Bolschewismus zu<br />

stehen, son<strong>der</strong>n verblüffen geradezu durch ihre Geringfügigkeit. Bis zu den Julitagen<br />

besaß die Partei einundvierzig Presseorgane, Wochen- und Monatsschriften mitgezählt,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 513


mit einer Gesamtauflage von nicht über dreihun<strong>der</strong>tundzwanzigtausend; nach <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung<br />

verringerte sich die Auflageziffer um die Hälfte. Ende August wurde das<br />

Zentralorgan <strong>der</strong> Partei in fünfzigtausend Exemplaren gedruckt. In den Tagen, als sich<br />

die Partei des Petrogra<strong>der</strong> und des Moskauer Sowjets hemächtigte, betrug <strong>der</strong> Kassenbestand<br />

des Zentralkomitees annähernd dreißigtausend Papierrubel.<br />

Aus <strong>der</strong> Intelligenz hatte die Partei fast gar keinen Zustrom. Die breite Schicht <strong>der</strong><br />

sogenannten "alten Bolschewiki" aus Studenten-kreisen, die zur <strong>Revolution</strong> von 1905<br />

gekommen waren, hatte sich in prosperierende Ingenieure, Ärzte und Beamten verwandelt<br />

und zeigte <strong>der</strong> Partei ungeniert feindliche Rückenumrisse. Selbst in Petrograd<br />

gebricht es auf Schritt und Tritt an Journalisten, Rednern, Agitatoren. Die Provinz bleibt<br />

völlig benachteiligt. Es fehlen Führer, es fehlen politisch aufgeklärte Menschen, die dem<br />

Volke begreiflich machen können, was die Bolschewiki wollen! - das ist <strong>der</strong> Schrei aus<br />

Hun<strong>der</strong>ten entlegener Winkel und beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> Front. Auf dem Lande gibt es fast<br />

überhaupt keine bolschewistischen Zellen. Die Postverbindungen sind völlig desorganisiert:<br />

sich selbst überlassen, beschuldigten die Lokalorganisationen mitunter nicht zu<br />

Unrecht das Zentralkomitee, es beschäftige sich nur mit <strong>der</strong> Leitung Petrograds.<br />

Wie konnten nun bei einem <strong>der</strong>art schwachen Apparat und so geringer Presseauflage<br />

Ideen und Losungen des Bolschewismus vom Volke Besitz ergreifen? Die Erklärung ist<br />

sehr einfach: Losungen, die dem akuten Bedürfnis <strong>der</strong> Klasse und Epoche entsprechen,<br />

schaffen sich tausende Kanäle. Die glühende revolutionäre Atmosphäre ist ein vorzüglicher<br />

Ideenleiter. Bolschewistische Zeitungen wurden laut vorgelesen, bis auf Fetzen<br />

zerlesen, die wichtigsten Artikel auswendig gelernt, wie<strong>der</strong>erzählt, abgeschrieben und,<br />

wo möglich, nachgedruckt. "Die Stabsdruckerei", erzählt Pirejko, »hat <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> einen großen Dienst geleistet: wie viele einzelne Artikel aus <strong>der</strong> 'Prawda' und<br />

kleine, den Soldaten zugängliche und verständliche Broschüren wurden in unserer<br />

Druckerei nachgedruckt! Und all das durch Flugpost, Fahrrad und Motorrad eiligst an<br />

die Front geschickt ...« Gleichzeitig fand die bürgerliche Presse, in Millionen von<br />

Exemplaren unentgeltlich an die Front geliefert, keinen Leser. Schwere Säcke blieben<br />

unausgepackt liegen. Der Boykott <strong>der</strong> "patriotischen" Presse nahm häufig demonstrative<br />

Formen an. Vertreter <strong>der</strong> 18. sibirischen Division faßten einen Beschluß, die bürgerlichen<br />

Parteien aufzufor<strong>der</strong>n, die Sendungen von Literatur einzustellen, da sie »unfruchtbar<br />

verbraucht wird zum Kochen des Teewassers«. Ganz an<strong>der</strong>e Anwendung fand die<br />

bolschewistische Presse. Deshalb war <strong>der</strong> Koeffizient ihrer nützlichen o<strong>der</strong>, wenn man<br />

will, schädlichen Wirkung unermeßlich höher.<br />

Die übliche Erklärung <strong>der</strong> Erfolge des Bolschewismus besteht in dem Hinweis auf die<br />

"Schlichtheit" seiner Parolen, die den Wünschen <strong>der</strong> Massen entsprachen. Darin liegt ein<br />

Teil Wahrheit. Die Geschlossenheit <strong>der</strong> bolschewistischen Politik war dadurch bedingt,<br />

daß sie im Gegensatz zu jener <strong>der</strong> "demokratischen" Parteien frei war von unausgesprochenen<br />

o<strong>der</strong> halbausgesprochenen Geboten, die letzten Endes auf den Schutz des Privateigentums<br />

hinausliefen. Jedoch dieser Unterschied allein erschöpft die Frage nicht. Stand<br />

rechts von den Bolschewiki die "Demokratie", so versuchten sie von links bald Anarchisten,<br />

bald Maximalisten, bald linke Sozialrevolutionäre abzudrängen. Indes kamen alle<br />

diese Gruppen aus dem Zustand <strong>der</strong> Ohnmacht nicht heraus. Der Unterschied des<br />

Bolschewismus bestand darin, daß er das subjektive Ziel: die Verteidigung <strong>der</strong> Interessen<br />

<strong>der</strong> Volksmassen, den Gesetzen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, als einem ohjektiv bedingten Prozeß,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 514


unterordnete. Die wissenschaftliche Aufdeckung dieser Gesetze, vor allem jener, die die<br />

Bewegung <strong>der</strong> Volksmassen lenken, bildete die Basis <strong>der</strong> bolschewistischen Strategie. In<br />

ihrem Kampfe werden die Werktätigen nicht nur von ihren Bedürfnissen geleitet,<br />

son<strong>der</strong>n auch von ihrer Lebenserfahrung. Dem Bolschewismus war die aristokratische<br />

Verachtung für die selbständige Erfahrung <strong>der</strong> Massen absolut fremd. Im Gegenteil, die<br />

Bolschewiki gingen von dieser aus und bauten auf ihr. Darin lag einer ihrer großen<br />

Vorzüge.<br />

<strong>Revolution</strong>en sind stets redselig, und von diesem Gesetz wichen auch die Bolschewiki<br />

nicht ab. Während aber die Agitation <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre zerfahrenen,<br />

wi<strong>der</strong>sprechenden, am häufigsten ausweichenden Charakter trug, zeichnete sich die<br />

Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki durch Überlegung und Konzentriertheit aus. Die Versöhnler<br />

suchten durch Geschwätz sich <strong>der</strong> Schwierigkeiten zu entledigen, die Bolschewiki<br />

gingen diesen entgegen. Dauernde Analyse <strong>der</strong> Situation, Nachprüfung <strong>der</strong> Parolen an<br />

den Tatsachen, ernsthaftes Verhalten dem Gegner, sogar dem wenig ernsten, gegenüber,<br />

verliehen <strong>der</strong> bolschewistischen Agitation beson<strong>der</strong>e Stärke und Überzeugungskraft.<br />

Die Parteipresse übertrieb nicht die Erfolge, verfälschte nicht das Kräfteverhälmis,<br />

versuchte nicht, durch Geschrei zu wirken. Lenins Schule war die Schule des revolutionären<br />

Realismus. Die Angaben <strong>der</strong> bolschewistischen Presse für das Jahr 1917 erwiesen<br />

sich im Lichte <strong>der</strong> Zeitdokumente und <strong>der</strong> historischen Kritik als unermeßlich wahrheitsgetreuer<br />

als die Angaben aller übrigen Zeitungen. Die Wahrhaftigkeit ergab sich aus <strong>der</strong><br />

revolutionären Kraft <strong>der</strong> Bolschewiki und stärkte gleichzeitig <strong>der</strong>en Kraft. Das Aufgeben<br />

dieser Tradition wurde später eine <strong>der</strong> bösartigsten Eigenschaften des Epigonentums.<br />

»Wir sind keine Scharlatane«, sagte Lenin gleich nach seiner Ankunft, »wir dürfen nur<br />

auf dem Bewußtsein <strong>der</strong> Massen basieren. Und sollte es auch heißen, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit<br />

zu bleiben wohlan ... wir dürfen uns nicht fürchten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben ... Wir<br />

leisten die Arbeit <strong>der</strong> Kritik, um die Massen vor Betrug zu bewahren ... Unsere Linie<br />

wird sich als die richtige erweisen. Zu uns wird je<strong>der</strong> Unterdrückte kommen ... Einen<br />

an<strong>der</strong>en Ausweg hat er nicht.« Die restlos verstandene bolschewistische Politik ersteht<br />

vor uns als direkter Gegensatz zu Demagogie und Abenteurertum!<br />

Lenin ist illegal. Mit Spannung verfolgt er die Zeitungen, liest, wie stets, zwischen den<br />

Zeilen und lauscht in den wenigen persönlichen Gesprächen dem Echo <strong>der</strong> nicht zu Ende<br />

gedachten Gedanken und unausgesprochenen Absichten. In den Massen herrscht Ebbe.<br />

Martow, <strong>der</strong> die Bolschewiki gegen Verleumdungen verteidigt, ironisiert gleichzeitig<br />

wehmütig die Partei, die »so schlau war«, sich selbst eine Nie<strong>der</strong>lage zuzufügen. Lenin<br />

errät - bald erreichen ihn positive Gerüchte -, daß auch manchem <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

Bußetöne nicht fremd sind und daß <strong>der</strong> sensible Lunatscharski nicht einsam ist. Lenin<br />

schreibt über das Gejammer <strong>der</strong> Kleinbourgeois und über das »Renegatentum« jener<br />

Bolschewiki, die diesem Gejammer so viel Mitgefühl entgegenbringen. Die Bolschewiki<br />

in Bezirk und Provinz greifen diese grimmigen Worte zustimmend auf. Sie überzeugen<br />

sich noch fester: <strong>der</strong> "Alte" verliert den Kopf nicht, läßt den Mut nicht sinken, gibt sich<br />

nicht zufälligen Stimmungen hin.<br />

Ein Mitglied des Zentralkomitees - ist es nicht Swerdlow? -schreibt in die Provinz:<br />

»Wir sind vorübergehend ohne Zeitung... Die Organisation ist nicht zerschlagen ... Der<br />

Parteitag wird nicht vertagt.« Lenin verfolgt aufmerksam, soweit seine unfreiwillige<br />

Isolierung es ihm erlaubt, die Vorbereitungen zum Parteitag und entwirft dessen grundle-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 515


gende Beschlüsse: es geht um den Plan des weiteren Angriffs. Der Parteitag wird im<br />

voraus als Vereinigungsparteitag bezeichnet, da dort die Aufnahme einiger autonomer<br />

revolutionärer Gruppen in die Partei erfolgen soll, vor allem <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> interrayonellen<br />

Organisation, welcher Trotzki, Joffe, Uritzki, Rjasanow, Lunatscharski, Pokrowski,<br />

Manuilski, Karachan, Jurenjew und einige an<strong>der</strong>e, aus <strong>der</strong> Vergangenheit bekannte<br />

o<strong>der</strong> ihrem Bekanntwerden erst entgegengehende <strong>Revolution</strong>äre angehören.<br />

Am 2. Juli, gerade am Vorabend <strong>der</strong> Demonstration, fand eine Konferenz <strong>der</strong> Interrayonisten<br />

statt, die etwa viertausend Arbeiter vertrat. »Die Mehrzahl«, schreibt <strong>der</strong> im<br />

Zuhörerraum anwesende Suchanow, »waren mir unbekannte Arbeiter und Soldaten ...<br />

Die Arbeit wurde fieberhaft geleistet, und ihre Resultate waren allen greifbar. Es störtejedoch<br />

die Frage: Worin unterscheidet ihr euch von den Bolschewiki, und weshalb seid<br />

ihr nicht mit ihnen?«<br />

Um die Vereinigung zu beschleunigen, die einzelne Organisations-leiter zu verschleppen<br />

suchten, veröffentlichte Trotzki in <strong>der</strong> 'Prawda' eine Erklärung: »Keinerlei prinzipielle<br />

o<strong>der</strong> taktische Meinungsverschiedenheiten existieren, meiner Ansicht nach,<br />

gegenwärtig zwischen Interrayonisten und <strong>der</strong> bolschewistischen Organisation. Es gibt<br />

folglich keine Gründe, die das getrennte Bestehen dieser Organisationen rechtfertigen.«<br />

Am 26. Juli begann <strong>der</strong> Vereinigungsparteitag, <strong>der</strong> sechste Parteitag <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />

<strong>der</strong> halbillegal verlief und sich abwechselnd in zwei Arbeiterbezirken verbergen mußte.<br />

Hun<strong>der</strong>tfünfundsiebzig Delegierte, davon hun<strong>der</strong>tsiebenundfünfzig mit beschließen<strong>der</strong><br />

Stimme, vertraten hun<strong>der</strong>tundzwölf Organisationen, die<br />

einhun<strong>der</strong>tsechsundsiebzigtausendsiebenhun<strong>der</strong>tundfünfzig Mitglie<strong>der</strong> umfaßten. Petrograd<br />

zählte einundvierzigtausend Mitglie<strong>der</strong>: seehsunddreißigtausend in <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Organisation, viertausend Interrayonisten und etwa tausend in <strong>der</strong> Militärischen<br />

Organisation. Im Zentralindustriedistrikt mit Moskau als Zentrum hatte die Partei<br />

zweiundvierzigtausend Mitglie<strong>der</strong>, im Ural fünfundzwanzigtausend, im Donezbecken<br />

etwa fünfzehntausend. Im Kaukasus existierten starke bolschewistische Organisationen<br />

in Baku, Grosny und Tiflis; die beiden ersteren bestanden fast ausschließlich aus Arbeitern,<br />

in Tiflis überwogen Soldaten.<br />

Die personelle Zusammensetzung des Parteitages barg in sich die vorrevolutionäre<br />

Vergangenheit <strong>der</strong> Partei. Von den hun<strong>der</strong>t-einundsiebzig Delegierten, die Enqueten<br />

ausfüllten, hatten hun<strong>der</strong>tzehn zweihun<strong>der</strong>tfiinfundvierzig Jahre im Gefängnis gesessen,<br />

zehn Mann einundvierzig Jahre in <strong>der</strong> Katorga verbracht, vierundzwanzig waren für<br />

dreiundsiebzig Jahre zur Ansiedlung in Sibirien verurteilt, insgesamt waren fünfundfünfzig<br />

Menschen hun<strong>der</strong>tsiebenundzwanzig Jahre in Verbannung gewesen; siebenundzwanzig<br />

Menschen hatten neunundachtzig Jahre in Emigration verbracht; hun<strong>der</strong>tundfünfzig<br />

Menschen waren fünthun<strong>der</strong>tundneunundvierzigmal verhaftet gewesen.<br />

»Auf diesem Parteitag«, erinnerte sich später Pjatnitzki, einer <strong>der</strong> heutigen Sekretäre<br />

<strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>, »waren we<strong>der</strong> Lenin, noch Trotzki, noch Sinowjew,<br />

noch Kamenjew anwesend ... Wenn auch die Frage des Parteiprogramms von <strong>der</strong> Tagesordnung<br />

abgesetzt worden war, verlief <strong>der</strong> Parteitag ohne Parteiführer sachlich und gut<br />

...« Die Basis <strong>der</strong> Arbeiten bildeten Lenins Thesen. Als Referenten traten Bucharin und<br />

Stalin auf. Stalins Referat ist kein schlechter Gradmesser <strong>der</strong> Strecke, die <strong>der</strong> Referent<br />

selbst, gemeinsam mit allen Parteika<strong>der</strong>n, während <strong>der</strong> vier Monate seit Lenins Ankunft<br />

zurückgelegt hatte. Theoretisch unsicher, aber politisch entschieden versuchte Stalin jene<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 516


Züge aufzuzeigen, die »den tiefen Charakter einer sozialistischen Arbeiterrevolution«<br />

bestimmen. Die Einmütigkeit des Parteitages im Vergleich zur Aprilkonferenz springt in<br />

die Augen.<br />

Über die Wahl des Zentralkomitees berichtet das Parteitagsprotokoll: »Es werden die<br />

Namen <strong>der</strong> vier Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees verlesen, die die meisten Stimmen erhielten:<br />

Lenin - hun<strong>der</strong>tdreiunddreißig von hun<strong>der</strong>tvierunddreißig, Sinowjew - hun<strong>der</strong>tzweiunddreißig,<br />

Kamenjew - hun<strong>der</strong>teinunddreißig Trotzki - hun<strong>der</strong>teinunddreißig; außer<br />

ihnen sind in das Zentralkomitee gewählt: Nogin, Kollontay, Stalin, Swerdlow, Rykow,<br />

Bucharin, Artem, Joffe, Uritzki, Miljutin, Lomow.« Diese Zusammensetzung des Zentralkomitees<br />

muß man sich merken: unter seiner Leitung wird die Oktoberumwälzung<br />

vollbracht werden. Martow begrüßte den Parteitag durch ein Schreiben, in dem er wie<strong>der</strong><br />

seine »tiefe Entrüstung über die verleum<strong>der</strong>ische Kampagne« zum Ausdruck brachte, in<br />

den grundlegenden Fragen aber an <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> Tat stehenblieb. »Es darf nicht<br />

geduldet werden«, schrieb er, »daß <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Machteroberung durch die Mehrheit<br />

<strong>der</strong> revolutionären Demokratie unterschoben wird die Aufgabe <strong>der</strong> Machteroberung im<br />

Kampfe gegen diese Mehrheit und im Wi<strong>der</strong>spruch zu ihr.« Unter Mehrheit <strong>der</strong> revolutionärer<br />

Demokratie verstand Martow noch immer die den Boden untei den Füßen verlierende<br />

offizielle Sowjetvertretung. »Martow verbindet mit den Sozialpatrioten nicht eine<br />

leere fraktionelle Tradition«, schrieb Trotzki damals, »son<strong>der</strong>n die tief opportunistischc<br />

Einstellung zur sozialen <strong>Revolution</strong> als zu einem fernen Ziel, das nicht die Festlegung<br />

<strong>der</strong> gegenwärtigen Aufgaben bestimmen kann. Und gerade dies trennt ihn von uns.«<br />

Nur ein kleiner Teil linker Mensehewiki mit Larin an <strong>der</strong> Spitze näherte sich in jener<br />

Periode endgültig den Bolschewiki. Jurenjew, künftiger Sowjetdiplomat, kam auf dem<br />

Parteitag als Berichterstatter zur Frage <strong>der</strong> Vereinigung mit den Internationalisten zu <strong>der</strong><br />

Schlußfolgerung: Es bleibt nur übrig, sich zu vereinigen mit »<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong><br />

Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Menschewiki ...« Der breite Zustrom ehemaliger Menschewiki in die<br />

Partei begann erst nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung: indem sie sich nicht dem proletarischen<br />

Aufstande, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> aus ihm hervorgegangenen Macht anschlossen, bewiesen die<br />

Menschewiki die Grundeigenschaft des Opportunismus: die Anbetung <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Macht. Lenin, <strong>der</strong> sieh in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Parteizusammensetzung sehr empfindlich<br />

verhielt, stellte bald die For<strong>der</strong>ung, neunundneunzig Prozent <strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

eingetretenen Menschewiki wie<strong>der</strong> hirfauszujagen. Dies zu erreichen, gelang<br />

ihm bei weitem nicht. In <strong>der</strong> Folge sind die Tore vor den Mensehewiki und Sozialrevolutionären<br />

weit geöffnet worden, und die ehemaligen Versöhnler wurden eine <strong>der</strong> Stützen<br />

des Stalinschen Parteiregimes. Aber all das gehört schon in eine spätere Zeit.<br />

Swerdlow, <strong>der</strong> praktische Organisator des Parteitages, berichtete: »Trotzki war bereits<br />

vor dem Parteitag in die Redaktion unseres Organs eingetreten, aber die Einkerkerung<br />

verhin<strong>der</strong>te seine faktische Mitarbeit.« Erst auf dem Juliparteitag wurde Trotzki formell<br />

Mitglied <strong>der</strong> bolschewistischen Partei. Es wurde das Fazit gezogen unter die Jahre <strong>der</strong><br />

Meinungsverschiedenheiten und des fraktionellen Kampfes. Trotzki kam zu Lenin wie zu<br />

einem Lehrer, dessen Kraft und Bedeutung er später als viele an<strong>der</strong>e, aber vielleicht<br />

besser als sie begriffen hatte. Raskolnikow, <strong>der</strong> mit Trotzki seit dessen Ankunft aus<br />

Kanada in naher Berührung stand und dann Seite an Seite mit ihm einige Wochen im<br />

Gefängnis verbrachte, schreibt in seinen Erinnerungen: »Mit großer Verehrung stand<br />

Trotzki zu Wladimir Iljitsch [Lenin]. Er stellte ihn über alle Zeitgenossen, mit denen er in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 517


Rußland und im Auslande zusammengetroffen war. Aus dem Tone, in dem Trotzki von<br />

Lenin sprach, fühlte man die Ergebenheit des Schülers: zu jener Zeit blickte Lenin auf<br />

eine dreißigjährige Erfahrung im Dienste des Proletariats zurück, Trotzki auf eine<br />

zwanzigjährige. Das Echo einstiger Meinungsverschiedenheiten in <strong>der</strong> Vorkriegsperiode<br />

war restlos verhallt. Zwischen den taktischen Linien von Lenin und Trotzki bestand kein<br />

Unterschied. Diese bereits während des Krieges wahrnehmbare Annäherung offenbarte<br />

sich völlig mit dem Moment <strong>der</strong> Rückkehr Lew Dawidowitschs [Trotzkis] nach Rußland;<br />

nach seinen ersten Reden fühlten wir alte Leninisten alle, daß er unser ist.« Allein schon<br />

die für Trotzki bei <strong>der</strong> Wahl zum Zentralkomitee abgegebene Stimmenzahl zeigte, daß<br />

niemand im bolschewistischen Lager zur Zeit seines Eintritts in die Partei in ihm einen<br />

Fremdling erblickte.<br />

Unsichtbar dem Parteitag beiwohnend, trug Lenin in dessen Arbeiten den Geist <strong>der</strong><br />

Verantwortlichkeit und Kühnheit hinein. Der Schöpfer und Erzieher <strong>der</strong> Partei duldete in<br />

Theorie wie Politik keine Schlamperei. Er wußte, daß eine falsche ökonomische Formel<br />

o<strong>der</strong> unaufmerksame politische Beobachtung sich im Moment <strong>der</strong> Aktion bitter rächt.<br />

Sein nörgelnd-aufmerksames Verhalten gegenüber jeglichem Parteitext, selbst einem<br />

nebensächlichen, verteidigend, pflegte Lenin zu sagen: »Das sind keine Lappalien, man<br />

braucht Exaktheit: Unser Agitator wird es auswendig lernen und vom Text nicht abweichen<br />

... Wir haben eine gute Partei«, fügte er hinzu, indem er gerade dieses ernsthafte,<br />

anspruchsvolle Verhalten des einfachen Agitators zu dem, was er zu sagen und wie er es<br />

zu sagen hat, meinte.<br />

Die Kühnheit <strong>der</strong> bolschewistischen Losungen rief nicht selten den Eindruck von<br />

Phantasterei hervor: so waren Lenins Aprilthesen aufgenommen worden. In Wirklichkeit<br />

ist in einer revolutionären Epoche das Phantastischste die Knickrigkeit; dagegen ist<br />

Realismus undenkbar außerhalb einer Politik auf ferne Sicht. Es genügt nicht zu sagen,<br />

dem Bolschewismus war Phantasterei fremd: Lenins Partei war die einzige Partei des<br />

politischen Realismus in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Im Juni und Anfang Juli sagten die bolschewistischen Arbeiter wie<strong>der</strong>holt, sie seien<br />

nicht selten gezwungen, den Massen gegenüber die Rolle einer Feuerlöschspritze zu<br />

spielen, und zwar nicht immer mit Erfolg. Der Juli brachte zusammen mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage<br />

die teuer erkaufte Erfahrung. Die Massen begannen aufmerksamer die Warnungen <strong>der</strong><br />

Partei zu beachten und <strong>der</strong>en taktische Erwägung zu erfassen. Der Juliparteitag hatte<br />

bestätigt: »Das Proletariat darf auf die Provokation <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht hineinfallen,<br />

<strong>der</strong> es sehr erwünscht wäre, es in diesem Augenblick zu einem vorzeitigen Kampf herauszufor<strong>der</strong>n.«<br />

Der ganze August, beson<strong>der</strong>s seine zweite Hälfte, ist von ständigen Warnungen<br />

seitens <strong>der</strong> Partei an die Adresse <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten gefärbt: nicht auf die<br />

Straße gehen. Die bolschewistischen Führer scherzten selbst nicht selten über die<br />

Ähnlichkeit ihrer Warnungen mit dem politischen Leitmotiv <strong>der</strong> alten deutschen Sozialdemokratie,<br />

die die Massen von jeglichem ernsten Kampfe zurückhielt, indem sie<br />

unablässig auf Provokationsgefahr und Notwendigkeit <strong>der</strong> Kräftesammlung hinwies.<br />

Tatsächlich war die Ähnlichkeit nur scheinbar. Die Bolschewiki wußten sehr wohl, daß<br />

die Kräfte im Kampfe gesammelt werden und nicht im passiven Ausweichen vor ihm.<br />

Das Studium <strong>der</strong> Wirklichkeit betrachtete Lenin als nur theoretische Auskundschaftung<br />

im Interesse <strong>der</strong> Aktion. Bei <strong>der</strong> Bewertung <strong>der</strong> Situation sah er stets in <strong>der</strong>en Mittelpunkt<br />

die Partei als aktive Kraft. Mit beson<strong>der</strong>er Feindseligkeit, richtiger, mit Ekel stand<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 518


er zum Austro-Marxismus (Otto Bauer, Hilferding und so weiter), für den die theoretische<br />

Analyse nur einen gelehrten Kommentar <strong>der</strong> Passivität bedeutet. Vorsicht ist<br />

Bremse und nicht Motor. Auf einer Bremse hat noch niemand Reisen gemacht, wie auf<br />

<strong>der</strong> Vorsicht niemand etwas Großes geschaffen. Doch gleichzeitig wußten die Bolschewiki<br />

genau, daß Kampf Kräfteberechnung erfor<strong>der</strong>t; daß man vorsichtig sein muß, um<br />

das Recht zu haben, kühn zu sein.<br />

Die Resolution des VI. Parteitags, die vor verfrühten Zusammenstößen warnte, wies im<br />

gleichen Atem darauf hin, daß man den Kampf werde annehmen müssen, »sobald die<br />

nationale Krise und <strong>der</strong> tiefgehende Aufschwung <strong>der</strong> Massen günstige Bedingungen<br />

geschaffen haben werden für den Übergang <strong>der</strong> Armut in Stadt und Land auf die Seite<br />

<strong>der</strong> Arbeiter«. Bei dem Tempo <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ging es nicht um Jahrzehnte, auch nicht<br />

um Jahre, son<strong>der</strong>n um wenige Monat.<br />

Während er die Aufklärung <strong>der</strong> Massen über die Notwendigkeit, sich für den bewaffneten<br />

Aufstand vorzubereiten, auf die Tagesordnung setzte, beschloß <strong>der</strong> Parteitag<br />

gleichzeitig, die Zentrallosung <strong>der</strong> vorangegangenen Periode: Ubergang <strong>der</strong> Macht an die<br />

Sowjets, zurückzustellen. Das eine war mit dem an<strong>der</strong>en verbunden. Den Parolenwechsel<br />

hatte Lenin durch seine Artikel, Briefe und persönliche Gespräche vorbereitet.<br />

Der Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets bedeutete unmittelbar den Übergang <strong>der</strong><br />

Macht an die Versöhnler. Das konnte sich friedlich abspielen, durch einfache Entlassung<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Regierung, die sich durch den guten Willen <strong>der</strong> Versöhnler und die<br />

Reste des Vertrauens <strong>der</strong> Massen zu diesen hielt. Die Diktatur <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

war Tatsache seit dem 27. Februar. Aber Arbeiter und Soldaten legten sich über diese<br />

Tatsache nicht die nötige Rechenschaft ab. Sie vertrauten die Macht den Versöhnlern an,<br />

die ihrerseits diese <strong>der</strong> Bourgeoisie übergaben. Das Kalkül <strong>der</strong> Bolschewiki auf eine<br />

friedliche Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beruhte nicht darauf, daß die Böurgeoisie freiwillig<br />

die Macht den Arbeitern und Soldaten abtreten würde, son<strong>der</strong>n darauf, daß die Arbeiter<br />

und Soldaten rechtzeitig die Versöhnler hin<strong>der</strong>n würden, <strong>der</strong> Bourgeoisie die Macht<br />

auszuliefrrn.<br />

Die Konzentrierung <strong>der</strong> Macht in den Sowjets unter dem Regime <strong>der</strong> Sowjetdemokratie<br />

hätte den Bolschewiki die volle Möglichkeit gegeben, die Mehrheit in den Sowjets zu<br />

werden und folglich auch eine Regierung auf <strong>der</strong> Basis ihres Programms zu schaffen. Ein<br />

bewaffneter Aufstand war für dieses Ziel nicht erfor<strong>der</strong>lich. Die Ablösung <strong>der</strong> Parteien<br />

an <strong>der</strong> Macht hätte sich auf friedlichem Wege vollziehen können. Alle Bemühungen <strong>der</strong><br />

Partei waren von April bis Juli darauf gerichtet, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch die Sowjets eine<br />

friedliche Entwicklung zu sichern. "Geduldig aufklären" - das war <strong>der</strong> Schlüssel <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Politik.<br />

Die Julitage verän<strong>der</strong>ten die Lage radikal. Von den Sowjets ging die Macht in die<br />

Hände militärischer Cliquen über, die sich mit den Kadetten und Gesandtschaften<br />

verbanden und Kerenski nur als demokratisches Aushängeschild, bis zur gelegenen Zeit,<br />

duldeten. Wäre es dem Exekutivkomitee jetzt eingefallen, einen Beschluß zu fassen über<br />

den Übergang <strong>der</strong> Macht in seine Hände, das Resultat wäre ein ganz an<strong>der</strong>es gewesen als<br />

drei Tage zuvor: in das Taurische Palais wäre wahrscheinlich ein Kosakenregiment<br />

zusammen mit den Junkerschulen eingerückt und hätte einfach versucht, die "Usurpatoren"<br />

zu verhaften. Die Losung "alle Macht den Sowjets" setzte von nun an den bewaffneten<br />

Aufstand gegen die Regierung und die hinter ihrem Rücken stehenden Militärcliquen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 519


voraus. Aber einen Aufstand im Namen <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Sowjets zu proklamieren, die<br />

diese Macht nicht wollten, wäre offensichtlicher Unsinn gewesen.<br />

An<strong>der</strong>erseits war es von nun an zweifelhaft - manche meinten sogar wenig wahrscheinlich<br />

-, ob die Bolschewiki durch friedliche Neuwahlen die Mehrheit in diesen machtlosen<br />

Sowjets erobern könnten: indem sie sich durch die Julinie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Bauern gebunden hatten, würden die Menschewiki und Sozialrevolutionäre selbstverständlich<br />

auch fernerhin alle Gewalttaten gegen die Bolschewiki decken Versöhnlerisch<br />

bleibend, müßten sich die Sowjets in eine willenlose Opposition <strong>der</strong> konterrevolutionären<br />

Regierung verwandeln, um bald ihr Dasein überhaupt auszuhauchen.<br />

Von einem friedlichen Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände des Proletariats konnte unter<br />

diesen Umständen nicht mehr die Rede sein. Für die bolschewistische Partei bedeutete<br />

das: sich vorzubereiten auf den bewaffneten Aufstand. Unter welcher Parole? Unter <strong>der</strong><br />

offenen Parole <strong>der</strong> Machteroberung durch das Proletariat und die Bauernarmut. Man muß<br />

die revolutionäre Aufgabe in ihrer unverhüllten Form stellen. Aus <strong>der</strong> zweideutigen<br />

Sowjetform den Klasseninhalt freimachen. Das ist kein Verzicht auf die Sowjets als<br />

solche. Nach <strong>der</strong> Machteroberung wird das Proletariat den Staat nach dem Sowjettypus<br />

organisieren müssen. Doch werden dies an<strong>der</strong>e Sowjets sein, die eine <strong>der</strong> Schutzfunktion<br />

<strong>der</strong> Versöhnlersowjets direkt entgegengesetzte historische Arbeit erfüllen.<br />

»Die Losung des Überganges <strong>der</strong> Macht an die Sowjets«, schrieb Lenin unter dem<br />

ersten Dröhnen <strong>der</strong> Hetze und Verleumdung, »würde jetzt wie Donquichotterie o<strong>der</strong><br />

Hohn klingen. Diese Losung wäre objektiv Volksbetrug, Suggerierung <strong>der</strong> Illusion, als<br />

genüge es auch jetzt noch, daß die Sowjets die Machtübernahme wünschen o<strong>der</strong> diese<br />

beschließen, um die Macht zu erhalten, - als seien im Sowjet noch Parteien, die sich<br />

nicht durch Henkerdienste befleckt hätten, - als könne man das Geschehene ungeschehen<br />

machen.«<br />

Auf die For<strong>der</strong>ung des Überganges <strong>der</strong> Macht an die Sowjets verzichten? Im ersten<br />

Moment verblüffte dieser Gedanke die Partei, richtiger gesagt, ihre agitatorischen Ka<strong>der</strong>,<br />

die im Laufe <strong>der</strong> vorangegangenen drei Monate mit dieser populären Losung <strong>der</strong>art<br />

verwachsen waren, daß sie fast den gesamten Inhalt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mit ihr<br />

identifizierten. In Parteikreisen begann eine Diskussion. Viele angesehene Parteiarbeiter,<br />

wie Manuilski, Jurenjew und an<strong>der</strong>e, versuchten zu beweisen, daß die Absetzung <strong>der</strong><br />

Losung "Alle Macht den Sowjets", die Gefahr <strong>der</strong> Isolierung des Proletariats von <strong>der</strong><br />

Bauernschaft in sich berge. Dieser Einwand unterschob den Klassen Institutionen.<br />

Fetischismus <strong>der</strong> Organisationsform bildet, so seltsam das auf den ersten Blick auch<br />

scheinen mag, eine häufige Krankheit gerade im revolutionären Milieu. »Insofern wir in<br />

diesen Sowjets bleiben«, schrieb Trotzki, »... werden wir dahin streben, daß die Sowjets,<br />

die den gestrigen Tag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wi<strong>der</strong>spiegeln, die Kraft gewinnen, sich auf die<br />

Höhe <strong>der</strong> Aufgaben des morgigen Tages zu erheben. Doch so wichtig die Frage nach<br />

Rolle und Schicksal <strong>der</strong> Sowjets auch sein mag, sie bleibt für uns restlos untergeordnet<br />

<strong>der</strong> Frage des Kampfes des Proletariats und <strong>der</strong> halbproletarischen Massen <strong>der</strong> Stadt,<br />

<strong>der</strong> Armee und des Dorfes um die politische Macht, um die revolutionäre Diktatur.«<br />

Die Frage, welche Massenorganisation <strong>der</strong> Partei bei Leitung des Aufstandes am<br />

besten dienen könnte, ließ keine aprioristische und noch weniger eine kategorische<br />

Entscheidung zu. Zweckdienliche Aufstandorgane konnten die Fabrikkomitees und<br />

Gewerkschaften werden, die bereits unter Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki standen, wie auch in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 520


Einzelfällen die Sowjets, soweit sie sich von dem Joche <strong>der</strong> Versöhnler befreit hatten.<br />

Lenin sagte beispielsweise zu Ordschonikidse: »Wir müssen das Schwergewicht auf die<br />

Fabrikkomitees verlegen. Aufstandsorgane müssen die Fabrikkomitees werden.«<br />

Nachdem die Massen im Juli mit den Sowjets anfangs als einem passiven Gegner und<br />

später als aktivem Feind zusammengestoßen waren, fand <strong>der</strong> Losungswechsel in ihrem<br />

Bewußtsein vollkommen vorbereiteten Boden. Das eben war Lenins ständige Sorge: mit<br />

markanter Einfachheit das auszudrücken, was sich einerseits aus den objektiven Bedingungen<br />

ergibt und an<strong>der</strong>erseits die subjektive Erfahrung <strong>der</strong> Massen formt. Nicht den<br />

zeretellischen Sowjets muß man jetzt die Macht antragen - fühlten die fortgeschrittenen<br />

Arbeiter und Soldaten -, wir selbst müssen sie in die Hand nehmen!<br />

Die Moskauer Streikdemonstration gegen die Staatsberatung hatte sich nicht nur wi<strong>der</strong><br />

den Willen des Sowjets entwickelt, son<strong>der</strong>n sie erhob auch nicht die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong><br />

Sowjetmacht. Die Massen hatten sich inzwischen bereits die von den Ereignissen erteilte<br />

und von Lenin ausgedeutete Lehre zu eigen gemacht. Gleichzeitig hatten die Moskauer<br />

Bolschewiki keinen Augenblick gezögert, Kampfpositionen einzunehmen, sobald nur die<br />

Gefahr entstand, die Konterrevolution könnte versuchen, die Versöhnlersowjets zu<br />

zertreten. Die bolschewistische Politik verband stets revolutionäre Unversöhnlichkeit mit<br />

höchster Elastizität, und gerade aus dieser Verbindung schöpfte sie ihre Kraft.<br />

Die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz unterwarfen bald die Politik <strong>der</strong> Partei einer<br />

sehr scharfen Prüfung unter dem Gesichtspunkte eines Internationalismus. Nach dem Fall<br />

von Riga traf die Frage nach dem Schicksal Petrograds die Arbeiter und Soldaten am<br />

Lebensnerv. In einer Versammlung <strong>der</strong> Fabrikkomitees im Smolny erstattete <strong>der</strong><br />

Menschewik Masurenko, ein Offizier, <strong>der</strong> vor kurzem die Entwaffnung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Arbeiter geleitet hatte, einen Bericht über die Petrograd drohende Gefahr und hob die<br />

praktischen Fragen <strong>der</strong> Verteidigung hervor. »Worüber könnten Sie sich mit uns unterhalten«,<br />

rief einer <strong>der</strong> bolschewistischen Redner, »...unsere Führer sitzen im Gefängnis,<br />

und sie for<strong>der</strong>n uns au, über Fragen zu diskutieren, die mit <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

verbunden sind.« Als Industriearbeiter, als Bürger einer bourgeoisen Republik<br />

beabsichtigten die Proletarier des Wyborger Bezirks keinesfalls, die Verteidigung <strong>der</strong><br />

revolutionären Hauptstadt zu sabotieren. Als Bolschewiki jedoch, als Parteimitglie<strong>der</strong>,<br />

wollten sie keinen Augenblick niit den Regierenden die Verantwortung für den Krieg vor<br />

dem <strong>russischen</strong> Volke und vor den Völkern an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong> teilen. In Besorgnis, die<br />

Landesverteidigungsstimmungen könnten in Landesverteidigungspolitik umschlagen,<br />

schrieb Lenin: »Wir werden Landesverteidiger werden erst nach dem Übergang <strong>der</strong><br />

Macht an das Proletariat ...We<strong>der</strong> die Einnahme Rigas noch die Einnahme Petrograds<br />

werden uns zu Landesverteidigern machen. Bis dahin sind wir für die proletarische<br />

<strong>Revolution</strong>, sind wir gegen den Krieg, sind wir keine Landesverteidiger.« - »Der Fall<br />

Rigas«, schrieb Trotzki aus dem Gefängnis, »ist ein harter Schlag. Petrograds Fall wäre<br />

ein Unglück. Aber <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> internationalen Politik des <strong>russischen</strong> Proletariats wäre<br />

eine Katastrophe.« Doktrinarismus von Fanatikern? Aber in den gleichen Tagen, als<br />

bolschewistische Schützen und Matrosen bei Riga umkamen, zog die Regierung Truppen<br />

zusammen zur Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, und <strong>der</strong> Höchstkommandierende bereitete<br />

sich vor auf den Krieg gegen die Regierung. Für diese Politik, an <strong>der</strong> Front wie im<br />

Hinterlande, für die Verteidigung wie für den Angriff, durften und wollten die Bolschewiki<br />

auch nicht einen Schatten von Verantwortung tragen. Hätten sie an<strong>der</strong>s gehandelt,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 521


sie wären keine Bolschewiki gewesen.<br />

Kerenski und Kornilow bedeuteten zwei Varianten <strong>der</strong> gleichen Gefahr; doch diese<br />

Varianten, die schleichende und die akute, standen Ende August einan<strong>der</strong> feindselig<br />

gegenüber. Man mußte vor allem die akute Gefahr abwenden, um später mit <strong>der</strong> schleichenden<br />

fertigzuwerden. Die Bolschewiki gingen nicht nur in das Verteidigungskomitee<br />

hinein, obwohl sie dort zu <strong>der</strong> Rolle einer kleinen Min<strong>der</strong>heit verurteilt waren, son<strong>der</strong>n<br />

sie erklärten auch, daß sie bereit seien, im Kampfe gegen Kornilow ein "kriegstechnisches<br />

Bündnis" sogar mit dem Direktorium einzugehen. Darüber schreibt Suchanow:<br />

»Die Bolschewiki bewiesen äußersten Takt und politische Weisheit ... Allerdings,<br />

während sie sich auf ein - für sie ungewöhnliches - Kompromiß einließen, verfolgten sie<br />

gewisse beson<strong>der</strong>e, ihren Verbündeten undurchsichtige Ziele. Um so größer war ihre<br />

Weisheit in dieser Sache.« Nichts dem Bolschewismus "Ungewöhnliches" war an dieser<br />

Politik: Im Gegenteil, sie entsprach durchaus dem Charakter <strong>der</strong> Partei. Die Bolschewiki<br />

waren <strong>Revolution</strong>äre <strong>der</strong> Tat und nicht <strong>der</strong> Geste, des Inhalts und nicht <strong>der</strong> Form. Ihre<br />

Politik wurde durch die reale Kräftegruppierung bestimmt und nicht durch Sympathien<br />

und Antipathien. Der von Sozialrevolunonären und Menschewiki gehetzte Lenin schrieb:<br />

»Gröbster Fehler wäre es, zu glauben, das revolutionäre Proletariat sei fähig, sozusagen<br />

aus "Rache" gegen die Sozialrevolutionäre und Menschewiki für <strong>der</strong>en Unterstützung bei<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, bei Erschießungen an <strong>der</strong> Front und Entwaffnung<br />

<strong>der</strong> Arbeiter ihnen die "Unterstützung" gegen die Konterrevolution zu versagen.«<br />

Technische Unterstützung, nicht aber politische. Vor einer politischen Unterstützung<br />

warnte Lenin entschieden in einem Briefe an das Zentralkomitee: »Kerenskis Regierung<br />

unterstützen dürfen wir sogar jetzt nicht. Das wäre Prinziplosigkeit. Man wird fragen:<br />

soll man nicht gegen Kornilow kämpfen? Gewiß soll man. Doch ist das nicht dasselbe,<br />

hier gibt es eine Grenze: manche Bolschewiki übertreten sie, indem sie in "Versöhnlertum"<br />

verfallen und sich vom Strome <strong>der</strong> Ereignisse mitreißen lassen.«<br />

Lenin verstand es, Schattierungen politischer Stimmungen von weitem zu erkennen.<br />

Am 29. August erklärte in <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Kiewer Stadtduma einer <strong>der</strong> dortigen bolschewistischen<br />

Leiter, Pjatakow: »In dieser ernsten Stunde müssen wir alle alten Rechnungen<br />

vergessen ... uns mit allen revolutionären Parteien, die für den entscheidenden Kampfgegen<br />

die Konterrevolution stehen, vereinigen. Ich for<strong>der</strong>e zur Einheit auf«, und so<br />

weiter. Das eben war jener falsche politische Ton, vor dein Lenin warnte. »Alte Rechnungen<br />

vergessen« bedeutete, den Bankrottkandidaten neue Kredite eröffnen. »Wir werden<br />

kämpfen, und wir kämpfen gegen Kornilow«, schrieb Lenin, »aber wir unterstützen nicht<br />

Kerenski, son<strong>der</strong>n entlarven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied ... Gegen Phrasen<br />

... von Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, und so weiter und so weiter, muß<br />

man erbarmungslos kämpfen, gerade als gegen Phrasen.«<br />

Die Arbeiter machten sich keine Illusionen in bezug auf den Charakter ihres "Blocks"<br />

mit dem Winterpalais. »Während es gegen Kornilow kämpft, kämpft das Proletariat nicht<br />

für Kerenskis Diktatur, son<strong>der</strong>n für die Errungenschaften <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«, so äußerte<br />

sich eine Fabrik nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en in Petrograd, Moskau, in <strong>der</strong> Provinz. Ohne die geringsten<br />

politischen Zugeständnisse an die Versöhnler, ohne Organisationen o<strong>der</strong> Banner zu<br />

verwechseln, waren die Bolschewiki wie stets bereit, ihre Handlungen dem einen Gegner<br />

und Feind anzupassen, wenn dieses die Möglichkeit gab, einem an<strong>der</strong>en, im gegebenen<br />

Augenblick gefährlicheren Feind einen Schlag zuzufügen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 522


Im Kampf gegen Kornilow verfolgten die Bolschewiki ihre »beson<strong>der</strong>en Ziele«,<br />

Suchanow spielt darauf an, daß sie sich schon in jener Zeit die Aufgabe gestellt hätten,<br />

das Verteidigungskomitee in ein Werkzeug <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung zu verwandeln.<br />

Daß die revolutionären Komitees <strong>der</strong> Kornilowtage bis zu einem gewissen Grade<br />

Vorbil<strong>der</strong> jener Organe wurden, die später den Aufstand des Proletariats leiteten, ist<br />

unbestreitbar. Trotzdem mißt Suchanow den Bolschewiki einen zu großen Weitblick bei,<br />

wenn er glaubt, sie hätten dieses Organisationsmoment vorausgesehen. Die »beson<strong>der</strong>en<br />

Ziele« <strong>der</strong> Bolschewiki bestanden darin, die Konterrevolution zu zerschmettern, wenn<br />

angängig die Versöhnler von den Kadetten zu trennen, möglichst große Massen unter die<br />

eigene Leitung zu sammeln, eine möglichst hohe Zahl revolutionärer Arbeiter zu bewaffnen.<br />

Aus diesen ihren Zielen machten die Bolschewiki kein Hehl. Die verfolgte Partei<br />

rettete die Regierung <strong>der</strong> Repressalien und <strong>der</strong> Verleumdung; doch errettete sie vor <strong>der</strong><br />

militärischen Vernichtung, um sie desto sicherer politisch zu erschlagen.<br />

Die letzten Augusttage brachten wie<strong>der</strong> eine scharfe Verschiebung im Kräfteverhältnis,<br />

diesmal von rechts nach links. Die zum Kampfe aufgerufenen Massen stellten mühelos<br />

jene Lage wie<strong>der</strong> her, die die Sowjets vor <strong>der</strong> Julikrise innehatten. Von nun an ist das<br />

Schicksal <strong>der</strong> Sowjets wie<strong>der</strong> in ihren eigenen Händen. Die Macht kann von den Sowjets<br />

kampflos ergriffen werden. Dazu brauchen die Versöhnler nur das zu befestigen, was in<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit entstanden war. Die Frage ist nur: werden sie es wollen? ... In <strong>der</strong> Hitze<br />

erklären die Versöhnler, eine Koalition mit den Kadetten sei nicht mehr denkbar. Wenn<br />

dem so ist, so ist sie überhaupt undenkbar. Die Ablehnung einer Koalition kann jedoeh<br />

nichts an<strong>der</strong>es bedeuten als den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Versöhnler.<br />

Lenin erfaßt sofort das Wesen <strong>der</strong> neuen Situation, um aus ihm notwendige Schlußfolgerungen<br />

zu ziehen. Am 3. September schreibt er einen hervorragenden Artikel "Über<br />

Kompromisse". Die Rolle <strong>der</strong> Sowjets habe sich wie<strong>der</strong>um verän<strong>der</strong>t, stellt er fest:<br />

Anfang Juli waren sie Kampforgane gegen das Proletariat, Ende August wurden sie<br />

Kampforgane gegen die Bourgeoisie. Die Sowjets haben wie<strong>der</strong> Truppen zu ihrer Verfügung<br />

erhalten. Die <strong>Geschichte</strong> bietet wie<strong>der</strong>um die Möglichkeit einer friedlichen<br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Das sei eine ausnahmsweise seltene und wertvolle<br />

Möglichkeit: man müsse den Versuch machen, sie zu verwirklichen. Lenin verspottet<br />

nebenbei jene Phraseure, die jegliche Kompromisse als unzulässig betrachten: die<br />

Aufgabe bestehe darin, ȟber alle Kompromisse hinweg, insofern sie unvermeidlich<br />

sind«, die eigenen Ziele und Aufgaben durchzuführen. »Ein Kompromiß unsererseits<br />

ist«, sagt er, »unsere Rückkehr zu den Vor-Julifor<strong>der</strong>ungen: alle Macht den Sowjets, eine<br />

den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki. Jetzt,<br />

und nur jetzt, vielleicht nur im ganzen während einiger Tage o<strong>der</strong> einer bis zwei Wochen,<br />

könnte eine solche Regierung vollständig friedlich geschaffen und gefestigt werden.«<br />

Diese kurze Frist sollte die ganze Schärfe <strong>der</strong> Situation charakterisieren: den Versöhnlern<br />

sind gezählte Tage geblieben, ihre Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu treffen.<br />

Die Versöhnler beeilten sich, den Leninschen Vorschlag als eine arglistige Falle<br />

abzuwehren. In Wirklichkeit enthielt <strong>der</strong> Vorschlag nicht eine Spur von List: überzeugt,<br />

daß seine Partei berufen sei, sich an die Spitze des Volkes zu stellen, macht Lenin einen<br />

offenen Versuch, den Kampf zu mil<strong>der</strong>n durch Abschwächung des Wi<strong>der</strong>standes <strong>der</strong><br />

Feinde angesichts <strong>der</strong> Unvermeidlichkeit.<br />

Die kühnen Wendungen Lenins, die sich stets aus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Situation selbst<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 523


ergeben und unabän<strong>der</strong>lich die Einheit <strong>der</strong> strategischen Absicht bewahren, bilden eine<br />

unschätzbare Akademie für revolutionäre Strategie. Der Kompromißvorschlag hatte die<br />

Bedeutung eines Anschauungsunterrichts in erster Linie für die bolschewistische Partei<br />

selbst. Er zeigte, daß es für die Versöhnler trotz <strong>der</strong> Erfahrung mit Kornilow keine<br />

Rückkehr auf dem Weg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gab. Die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki fühlte sich<br />

nunmehr endgültig als die einzige Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Die Versöhnler lehnten es ab, die Rolle einer Transmission zu erfüllen, die die Macht<br />

aus den Händen <strong>der</strong> Bourgeoisie in die Hände des Proletariats überleitet, wie sie im März<br />

die Rolle einer Transmission gespielt hatten, die die Macht aus den Händen des Proletariats<br />

in die Hände <strong>der</strong> Bourgeoisie übertrug. Damit allein schon blieb die Losung, "die<br />

Macht den Sowjets", wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Luft hängen. Jedoch nicht für lange: bereits in den<br />

nächsten Tagen erhielten die Bolschewiki die Mehrheit im Petrogra<strong>der</strong> und danach in<br />

einer Reihe an<strong>der</strong>er Sowjets. Die Losung: "Die Macht den Sowjets", wurde deshalb nicht<br />

zum zweitenmal von <strong>der</strong> Tagesordnung abgesetzt, son<strong>der</strong>n erhielt einen neuen Sinn: Alle<br />

Macht den bolschewistischen Sowjets. In dieser ihrer Form hörte die Losung endgültig<br />

aul, eine Losung friedlicher Entwicklung zu sein. Die Partei betritt den Weg des bewaffneten<br />

Aufstandes durch die Sowjets und im Namen <strong>der</strong> Sowjets.<br />

Zum Verständnis des weiteren Entwicklungsganges muß man die Frage stellen: Wie<br />

hatten die Versöhnlersowjets Anfang September die Macht, die sie im Juli verloren<br />

hatten, wie<strong>der</strong> erlangt? Durch die Resolution des VI. Parteitages zieht sich wie ein roter<br />

Faden die Behauptung, als sei im Resultat <strong>der</strong> Juliereignisse die Doppelherrschaft liquidiert<br />

und von <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> Bourgeoisie abgelöst worden. Die neuesten Sowjethistoriker<br />

schreiben diesen Gedanken von einem Buch ins an<strong>der</strong>e ab, ohne auch nur zu<br />

versuchen, ihn nochmals im Lichte <strong>der</strong> nachfolgenden Ereignisse zu überprüfen. Sie<br />

stellen sich nicht einmal die Frage: Wenn im Juli die Macht restlos in die Hände einer<br />

Militärclique übergegangen war, weshalb mußte dann im August diese Militärclique zum<br />

Aufstand greifen? Den riskanten Weg <strong>der</strong> Verschwörung beschreitet nicht, wer die<br />

Macht besitzt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>, <strong>der</strong> sie ergreifen will.<br />

Die Formel des VI. Parteitages war zumindest unpräzis. Bezeichneten wir mit Doppelherrschaft<br />

jenes Regime, unter dem in den Händen <strong>der</strong> offiziellen Regierung wesentlich<br />

eine Fiktion <strong>der</strong> Macht, die reale Macht aber in den Händen des Sowjets war, so besteht<br />

kein Grund, zu behaupten, die Doppelherrschaft sei mit dem Augenblick liquidiert<br />

gewesen, wo ein Teil <strong>der</strong> realen Macht vom Sowjet zur Bourgeoisie überging. Vom<br />

Standpunkt <strong>der</strong> Kampfaufgaben des Augenblicks konnte man und durfte man die<br />

Konzentrietung <strong>der</strong> Macht in den Händen <strong>der</strong> Konterrevolution überschätzen. Politik ist<br />

nicht Mathematik. Praktisch war es unermeßlich gefährlicher, die Bedeutung <strong>der</strong> stattgefundenen<br />

Verän<strong>der</strong>ung zu unterschätzen als sie zu überschätzen. Die histotische Analyse<br />

jedoch bedarf nicht <strong>der</strong> Übertreibungen <strong>der</strong> Agitation.<br />

Den Gedanken Lenins versimpelnd, sagte Stalin auf dem Parteitag: »Die Lage ist klar.<br />

Von Doppelherrschaft spricht jetzt niemand. Haben die Sowjets früher eine reale Macht<br />

dargestellt, so sind es jetzt nur Organe des Massenzusammenschlusses, die über keine<br />

Macht verfügen.« Einige Delegierte wi<strong>der</strong>sprachen in dem Sinne, daß im Juli die<br />

Reaktion triumphiert, aber die Konterrevolution nicht gesiegt habe. Stalin antwortete<br />

darauf mit einem überraschenden Aphorismus: »Während einer <strong>Revolution</strong> gibt es keine<br />

Reaktion.« In Wirklichkeit siegt die <strong>Revolution</strong> nur über eine Reihe sich ablösen<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 524


Reaktionen: sie macht stets einen Schritt rückwärts nach zwei Schritten vorwärts. Die<br />

Reaktion verhält sich zur Konterrevolution wie die Reform zur Umwälzung. Als Siege<br />

<strong>der</strong> Reaktion kann man solche Verän<strong>der</strong>ungen im Regime bezeichnen, die dieses den<br />

Bedürfnissen <strong>der</strong> konterrevolutionären Klasse annähern, ohne indes den Träger <strong>der</strong><br />

Macht zu wechseln. Der Sieg <strong>der</strong> Konterrevolution hingegen ist undenkbar ohne<br />

Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände einer an<strong>der</strong>en Klasse. Ein solch entscheiden<strong>der</strong><br />

Ubergang fand im Juli nicht statt.<br />

»Wenn <strong>der</strong> Juliaufstand ein halber Aufstand war«, schrieb mit Recht einige Monate<br />

später Bucharin, <strong>der</strong> es jedoch nicht vermocht hatte, aus seinen eigenen Worten die<br />

notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, »so war bis zu einem gewissen Grade auch<br />

<strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Konterrevolution ein halber Sieg.« Doch <strong>der</strong> halbe Sieg konnte <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie die Macht nicht bringen. Die Doppelherrschaft hatte sich umgestaltet und<br />

verwandelt, war aber nicht verschwunden. In <strong>der</strong> Fabrik konnte man wie früher nichts<br />

gegen den Willen <strong>der</strong> Arbeiter unternehmen. Die Bauern hatten so viel Macht behalten,<br />

um den Gutsbesitzer am Genuß seiner Eigentumsrechte zu hin<strong>der</strong>n. Die Kommandeure<br />

fühlten sich vor den Soldaten unsicher. Was aber ist Macht, wenn nicht die materielle<br />

Möglichkeit, über Militärgewalt und Eigentum zu verfügen? Am 13. August schrieb<br />

Trotzki über die stattgefundenen Verschiebungen: »Nicht darum handelt es sich, daß<br />

neben <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> Sowjet stand, <strong>der</strong> eine ganze Reihe von Regierungsfunktionen<br />

erfüllte... Wesentlich ist, daß hinter Sowjet und Regierung zwei verschiedene Regimes<br />

standen, die sich auf verschiedene Klassen stützten ... Das von oben angepflanzte Regime<br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Republik und das von unten herangewachsene Regime <strong>der</strong> Arbeiterdemokratie<br />

paralysierten einan<strong>der</strong>.«<br />

Es ist ganz unzweifelhaft, daß das Zentral-Exekutivkomitee den Löwenanteil seiner<br />

Bedeutung verloren hatte. Doch wäre es falsch zu glauben, die Bourgeoisie hätte alles<br />

gewonnen, was die Versöhnlerspitzen eingebüßt hatten. Die letzteren verloren nicht nur<br />

an rechts, son<strong>der</strong>n auch an links, nicht nur zugunsten <strong>der</strong> Militärcliquen, son<strong>der</strong>n auch<br />

zugunsten <strong>der</strong> Fabrik- und Regimentskomitees. Die Macht dezentralisierte sich, zerbrökkelte,<br />

verkroch sich teilweise unter die Erde wie jene Waffe, die <strong>der</strong> Arbeiter nach <strong>der</strong><br />

Julinie<strong>der</strong>lage versteckte. Die Doppelherrschaft hörte auf, "friedlich", "kontaktierend",<br />

regulierend zu sein. Sie wurde unterirdischer, dezentralisierter, polarer und explosiver.<br />

Ende August verwandelte sich die verborgene Doppelherrschaft wie<strong>der</strong> in eine aktive.<br />

Wir werden sehen, welche Bedeutung diese Tatsache im Oktober gewonnen hat.<br />

Letzte Koalition<br />

Traditionsgemäß unfähig, einem ernsthafteren Stoß standzuhalten, fiel die Provisorische<br />

Regierung, wie wir uns erinnern, in <strong>der</strong> Nacht auf den 26. August auseinan<strong>der</strong>. Es<br />

traten die Kadetten aus um Kornilow die Arbeit zu erleichtern. Es traten die <strong>Sozialisten</strong><br />

aus, um Kerenski die Arbeit zu erleichtern. Eine neue Regierungskrise begann. Vor allem<br />

ging die Frage um Kerenski selbst: das Regierungshaupt hatte sich als Mitbeteiligter an<br />

<strong>der</strong> Verschwörung entpuppt. Die Empörung gegen ihn war so groß, daß bei Erwähnung<br />

seines Namens die Versöhnlerführer jeden Augenblick zum bolschewistischen Vokabular<br />

greifen mußten. Tschernow, soeben in voller Fahrt aus dem Ministerzug hinausgesprungen,<br />

schrieb im Zentralorgan seiner Partei über den »Wirrwarr, bei dem man nicht<br />

klug wird, wo Kornilow aufhört und Filonenko und Sawinkow beginnen, wo Sawinkow<br />

aufhört und die Provisorische Regierung als solche beginnt«. Die Anspielung war klar<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 525


genug: »die Provisorische Regierung als solche« - das war ja Kerenski, <strong>der</strong> mit Tschernow<br />

einer Partei angehörte.<br />

Doch während sie ihre Seele durch starke Ausdrücke erleichterten, kamen die<br />

Versöhnler zu dem Schluß, ohne Kerenski nicht auskommen zu können. Hatten sie<br />

Kerenski gehin<strong>der</strong>t, Kornilow zu amnestieren, so beeilten sie sich selbst, Kerenski<br />

Amnestie zu erteilen. Als Kompensation erklärte er sich zu einer Konzession in <strong>der</strong> Frage<br />

<strong>der</strong> Regierungsform Rußlands bereit. Noch gestern galt, daß diese Frage nur die Konstituierende<br />

Versammlung lösen könne. Jetzt traten die juristischen Hin<strong>der</strong>nisse jäh zurück.<br />

Kornilows Absetzung wurde in <strong>der</strong> Regierungsproklamation mit <strong>der</strong> Notwendigkeit »<strong>der</strong><br />

Rettung <strong>der</strong> Heimat, <strong>der</strong> Freiheit und des republikanischen Regimes« erklärt. Der nur in<br />

Worten vollzogene und außerdem verspätete Ruck nach links konnte selbstverständlich<br />

die Autorität <strong>der</strong> Regierung nicht festigen, um so weniger, als auch Kornilow sich für<br />

einen Republikaner ausgegeben hatte.<br />

Am 30. August mußte Kerenski Sawinkow entlassen, den man einige Jage später sogar<br />

aus <strong>der</strong> allumfassenden sozialrevolutionären Partei ausschloß. Jedoch wurde zum<br />

Generalgouverneur <strong>der</strong> politisch Sawinkow gleichwertige Paltschinski ernannt, <strong>der</strong> damit<br />

begann, daß er die Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki verbot. Die Exekutivkomitees protestierten.<br />

Die 'Iswestja' bezeichneten den Akt als »gröblichste Provokation«. Paltschinski mußte<br />

nach drei Tagen entfernt werden. Wie wenig Kerenski die Absicht hatte, überhaupt<br />

seinen politischen Kurs zu än<strong>der</strong>n, beweist die Tatsache, daß er bereits am 31. an die<br />

Formierung einer neuen Regierung unter Hinzuziehung <strong>der</strong> Kadetten schritt. Darauf<br />

konnten sogar die Sozialrevolutionäre nicht eingehen: sie drohten, ihre Vertreter abzuberufen.<br />

Ein neues Regierungsrezept wurde von Zeretelli entdeckt: »Die Idee <strong>der</strong> Koalition<br />

aufrechterhalten, aber alle Elemente, die als schwere Last die Regierung bedrücken,<br />

hinweg-fegen.« - »Die Koalitionsidee hat sich gefestigt«, stimmte Skobeljew ein, »doch<br />

kann es in <strong>der</strong> Regierung keinen Platz geben für jene Partei, die mit Kornilows<br />

Verschwörung verknüpft war.« Kerenski war mit dieser Einschränkung nicht einverstanden,<br />

und er hatte auf seine Art recht.<br />

Eine Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie, doch unter Ausschluß <strong>der</strong> führenden bürgerlichen<br />

Partei, war offensichtlicher Unsinn. Darauf verwies Kamenjew, als er bei <strong>der</strong> vereinigten<br />

Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees in dem ihm eigenen Tone <strong>der</strong> Ermahnung Schlußfolgerungen<br />

aus den frischen Ereignissen zog. »Ihr wollt uns auf den noch gelährlicheren Weg<br />

einer Koalition mit unverantwortlichen Gruppen werfen. Doch ihr habt eine Koalition<br />

vergessen, die sich gesammelt und gefestigt hat durch die verhängnisvollen Ereignisse<br />

<strong>der</strong> letzten Tage - die Koalition zwischen revolutionärem Proletariat, Bauernschaft und<br />

revolutionärer Armee.« Der bolschewistische Redner erinnerte an die von Trotzki am 26.<br />

Mai zur Verteidigung <strong>der</strong> Kronstädter gegen Zeretellis Anklagen gesprochenen Worte:<br />

»Wenn ein konterrevolutionärer General versuchen sollte, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine Schlinge<br />

um den Hals zu werfen, werden Kadetten den Strick einseifen, Kronstädter Matroscn<br />

aber werden kommen, um mit euch zusammen zu kämpfen und zu sterben.« Diese Erwähnung<br />

traf den Kern. Auf das Gerede von »Einheit <strong>der</strong> Demokratie« und »ehrlicher Koalition«<br />

antwortete Kamenjew: »Die Einheit <strong>der</strong> Demokratie hängt davon ab, ob ihr eine<br />

Koalition mit dem Wyborger Bezirk eingehen werdet o<strong>der</strong> nicht ... Jede an<strong>der</strong>e Koalition<br />

ist ehrlos.« Kamenjews Rede machte unleugbar Eindruck, den Suchanow mit den<br />

Worten registriert: »Sehr klug und taktisch sprach Kamenjew.« Doch über einen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 526


Eindruck ging die Sache nicht hinaus. Die Wegc bei<strong>der</strong> Parteien waren vorausbestimmt.<br />

Der Bruch <strong>der</strong> Versöhnler mit den Kadetten hatte im wesentlichen von Anfang an rein<br />

demonstrativen Charakter. Die liberalen Kornilowianer begriffen selbst, daß es für sie<br />

besser war, den nächsten Tagen sich im Schatten zu halten. Hinter den Kulissen wurde in<br />

offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten beschlossen, eine sich <strong>der</strong>art über<br />

sämtliche realen Kräfte <strong>der</strong> Nation erhebende Regierung zu schaffen, daß ihr provisorischer<br />

Charakter bei niemand Zweifel hervorrufen könnte. Außer Kerenski gehörten dem<br />

fünfgliedrigen Direktorium an: Außenminister Tereschtschenko, <strong>der</strong> wegen seiner<br />

Verbindung mit <strong>der</strong> Ententediplomatie bereits unersetzbar geworden war; <strong>der</strong> Moskauer<br />

Kreiskommandierende Werschowski, zu diesem Zwecke schleunigst vom Oberst zum<br />

General beför<strong>der</strong>t; Admiral Wer<strong>der</strong>ewski, zu diesem Zwecke schleunigst aus dem<br />

Gefängnis befreit; schließlich <strong>der</strong> zweifelhafte Menschewik Nikitin, den seine Partei kurz<br />

darauf als reif für den Ausschluß aus ihren Reihen erkannte.<br />

Nachdem Kerenski mit fremden Händen Kornilow besiegt hatte, schien es, als sei er<br />

einzig darum besorgt, dessen Programm in die Wirklichkeit durchzusetzen. Kornilow<br />

hatte die Macht des Höchstkommandierenden mit <strong>der</strong> Macht des Regierungsoberhauptes<br />

vereinigen wollen. Kerenski verwirklichte das. Kornilow hatte beabsichtigt, die persönliche<br />

Diktatur durch ein fünfgliedriges Direktorium zu verschleiern. Kerenski führte das<br />

durch. Tschernow, dessen Absetzung die Bourgeoisie gefor<strong>der</strong>t hatte, wurde von<br />

Kerenski aus dem Winterpalais hinausgesetzt. General Alexejew, Held <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />

und <strong>der</strong>en Kandidat für den -Posten des Ministerpräsidenten, ernannte er zum<br />

Generalstabschef des Hauptquartiers, das heißt faktisch zum Haupt <strong>der</strong> Armee. In einem<br />

Befehl an Armee und Flotte verlangte Kerenski Einstellung des politischen Kampfes bei<br />

den Truppen, das heißt Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ausgangsposition. Aus seinem Versteck<br />

charakterisierte Lenin die Lage mit <strong>der</strong> ihm eigenen höchsten Einfachheit: »Kerenski ist<br />

Kornilowianer, <strong>der</strong> sich zufällig mit Kornilow verzankt hat und mit den übrigen Kornilowianern<br />

weiter im intimsten Bunde bleibt.« Aber ein Pech: <strong>der</strong> über die Konterrevolution<br />

errungene Sieg ist viel tiefer, als es für Kerenskis persönliche Pläne nötig war.<br />

Das Direktorium beeilte sich, den früheren Kriegsminister Gutschkow, <strong>der</strong> als einer <strong>der</strong><br />

Verschwörerinspiratoren galt, aus dem Gefängnis zu befreien. Gegen die Inspiratoren aus<br />

den Reihen <strong>der</strong> Kadetten erhob die Justiz den Arm überhaupt nicht. Die Bolschewiki<br />

weiter hinter Schloß und Riegel zu halten, wurde unter diesen Umständen immer schwieriger.<br />

Die Regierung fand einen Ausweg: ohne die Anklage aufzuheben, die Bolschewiki<br />

gegen Kaution zu entlassen. Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Gewerkschaften übernahm »die<br />

Ehre, für den verdienstvollen Führer des revolutionären Proletariats die Kaution zu<br />

stellen«: am 4. September wurde Trotzki gegen die bescheidene, im wesentlichen fiktive<br />

Kaution von dreitausend Rubel enthaftet. In seiner "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirren"<br />

schreibt General Denikin pathetisch: »Am 1. September wurde General Kornilow verhaftet,<br />

am 4. September von <strong>der</strong> gleichen Provisorischen Regierung Bronstein-Trotzki in<br />

Freiheit gesetzt. Diese zwei Daten muß Rußland im Gedächtnis behalten.« Entlassungen<br />

von Bolschewiki gegen Bürgschaft dauerten während <strong>der</strong> nächsten Tage an. Die aus dem<br />

Gefängnis Befreiten verloren keine Zeit: die Massen warteten und riefen, die Partei<br />

brauchte Menschen.<br />

Am Tage <strong>der</strong> Freilassung Trotzkis veröffentlichte Kerenski einen Erlaß, in welchem er<br />

eingestand, die Komitees hätten »<strong>der</strong> Regierungsmacht recht wesentliche Hilfe geleistet«,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 527


gleichzeitig diesen Komitees aber befahl, die weitere Tätigkeit einzustellen. Sogar die<br />

'Iswestja' mußten zugeben, daß <strong>der</strong> Autor des Erlasses ein »recht schwaches<br />

Verständnis« für die Situation bewiesen habe. Die Konferenz <strong>der</strong> Bezirkssowjets Petrograds<br />

beschloß: »die revolutionären Organisationen zum Kampfe gegen die Konterrevlution<br />

nicht aufzulösen«. Der Vorstoß von unten war so stark, daß das versöhnlerische<br />

Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee entschied, Kerenskis Verfügung nicht anzuerkennen,<br />

und seine Lokalorgane aufrief, »angesichts <strong>der</strong> fortdauernd besorgniserregenden Lage<br />

mit bisheriger Energie und Ausdauer zu arbeiten«. Kerenski schwieg: etwas an<strong>der</strong>es zu<br />

tun blieb ihm auch nicht übrig.<br />

Das allmächtige Oberhaupt des Direktoriums mußte bei jedem Schritt gewahr werden,<br />

daß die Situation sich gewandelt hatte, <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gewachsen war und man gezwungen<br />

sei, manches, wenigstens in Worten, zu än<strong>der</strong>n. Am 7. September gab Werschowski<br />

eine Erklärung an die Presse, das vor Kornilows Meuterei ausgearbeitete Programm zur<br />

Gesundung <strong>der</strong> Armee müsse im gegenwärtigen Augenblick verworfen werden, denn bei<br />

<strong>der</strong> »gegebenen psychischen Verfassung <strong>der</strong> Armee« würde es nur zu ihrer noch größeren<br />

Zersetzung führen. Zur Kennzeichnung <strong>der</strong> neuen Ära trat <strong>der</strong> Kriegsminister im Exekutivkomitee<br />

auf, man möge ohne Sorge sein: General Alexejew werde gehen und mit ihm<br />

alle, die an dem Kornilowaufstande so o<strong>der</strong> so beteiligt waren. Gesunde Prinzipien<br />

müßten <strong>der</strong> Armee eingeimpft werden »nicht mit Maschinengewehren und Nagaikas,<br />

son<strong>der</strong>n durch Suggerierung von Ideen des Rechts, <strong>der</strong> Gerechtigkeit und strenger Disziplin«.<br />

Das roch ganz nach den Frühlingstagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Aber draußen war<br />

September, es nahte <strong>der</strong> Herbst. Alexejew wurde nach einigen Tagen wirklich abgesetzt<br />

und durch General Duehonin ersetzt: <strong>der</strong> Vorzug dieses Generals bestand darin, daß man<br />

ihn nicht kannte.<br />

Als Entschädigung für die Zugeständnisse verlangten Kriegs- und Marineminister vom<br />

Exekutivkomitee sofortige Hilfe: die Offiziere gingen unter dem Damoklesschwert<br />

herum, am schlimmsten stehe die Sache bei <strong>der</strong> Baltischen Flotte, man müsse die Matrosen<br />

beschwichtigen. Nach langen Debatten wurde, wie üblich, beschlossen, zur Flotte<br />

eine Delegation zu schicken, wobei die Versöhnler darauf drängten, daß Bolschewiki,<br />

vor allem Trotzki, ihr angehören müßten: nur unter dieser Bedingung könne die Delegation<br />

auf Erfolg rechnen. »Wir lehnen entschieden jene Form <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit <strong>der</strong><br />

Regierung ab«, erwi<strong>der</strong>te Trotzki, »die Zeretelli befürwortete ... Die Regierung verfolgt<br />

eine in den Wurzeln falsche, volksfeindliche und unkontrollierbare Politik; wenn aber<br />

diese Politik in eine Sackgasse gerät o<strong>der</strong> zu einer Katastrophe geführt hat, dann werden<br />

die revolutionären Organisationen mit <strong>der</strong> groben Arbeit beauftragt, die unabwendbaren<br />

Folgen heizulegen ... Eine <strong>der</strong> Aufgaben dieser Delegation besteht, nach Ihrer Formulierung,<br />

in <strong>der</strong> Aufdeckung von "dunklen Kräften" in den Garnisonen, das heißt von Provokateuren<br />

und Spionen ... Haben Sie es wirklich vergessen, daß ich selbst unter <strong>der</strong><br />

Anklage des Paragraphen 108 stehe? ... Im Kampfe gegen Selbstjustiz gehen wir unseren<br />

eigenen Weg ... nicht Hand in Hand mit Staatsanwalt und Konterspionage, sondem als<br />

revolutionäre Partei, die zu überzeugen, zu organisieren und zu erziehen sucht.«<br />

Die Einberufung <strong>der</strong> Demokratischen Beratung war in den Tagen des Kornilowaufstandes<br />

beschlossen worden. Sie sollte noch einmal die Stärke <strong>der</strong> Demokratie zeigen,<br />

ihren Gegnern von rechts und links Achtung einflößen und - nicht zuletzt - dem ungebärdigen<br />

Kerenski Zügel anlegen. Die Versöhnler gedachten ernstlich, die Regierung vor<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 528


Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung irgendeiner improvisierten Vertretung<br />

unterzuordnen. Die Bourgeoisie verhielt sich zur Beratung von vornherein feindlich, da<br />

sie in ihr einen Versuch erblickte, die Positionen zu festigen, die die Demokratie durch<br />

den Sieg über Kornilow zurückerlangt hatte. »Zeretellis Vorhaben«, schreibt Miljukow<br />

in seiner "<strong>Geschichte</strong>t" »war im wesentlichen völlige Kapitulation vor Lenins und Trotzkis<br />

Plänen.« Ganz im Gegenteil: Zeretellis Vorhaben war darauf gerichtet, den Kampf<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki um die Macht <strong>der</strong> Sowjets zu paralysieren. Die Demokratische Beratung<br />

sollte dem Sowjetkongreß entgegengestellt werden. Die Versöhnler wollten sich eine<br />

neue Basis schaffen, indem sie versuchten, die Sowjets durch künstlichen Zusammenschluß<br />

verschiedenster Organisationen zu erdrosseln. Die Demokraten verteilten die<br />

Stimmen nach eigenem Ermessen, geleitet von <strong>der</strong> einen Sorge: sich die unbestreitbare<br />

Mehrheit zu sichern. Die Spitzenorganisationen waren unvergleichlich zahlreicher vertreten<br />

als die unteren. Die Selbstverwaltungsorgane, darunter auch die nicht demokratisierten<br />

Semstwos, erhielten ein gewaltiges Übergewicht über die Sowjets. Den<br />

Genossenschaften fiel die Rolle <strong>der</strong> Schicksallenker zu.<br />

Sie, die früher in <strong>der</strong> Politik keinen Platz innehatten, taten sich in den Tagen <strong>der</strong><br />

Moskauer Beratung zum ersten Mal in <strong>der</strong> politischen Arena hervor und begannen seit<br />

dieser Zeit nicht an<strong>der</strong>s aufzutreten als im Namen von zwanzig Millionen ihrer Mitglie<strong>der</strong><br />

o<strong>der</strong>, noch einfacher, im Namen »<strong>der</strong> halben Bevölkerung Rußlands«. Die Genossenschaften<br />

waren im Dorfe verwurzelt durch dessen obere Schichten, die einer "gerechten"<br />

Expropriierung des Adels unter <strong>der</strong> Bedingung zustimmten, daß ihre eigenen, häufig<br />

nicht unbeträchtlichen Besitzungen nicht nur Schutz, son<strong>der</strong>n auch Zuwachs erhielten.<br />

Die Genossenschaftsführer wurden geworben aus <strong>der</strong> liberal-volkstümlerisehen, zum<br />

Teil auch aus <strong>der</strong> liberal-marxistischen Intelligenz, die eine natürliche Brücke zwischen<br />

Kadetten und Versöhnlern schuf. Den Bolschewiki gegenüber verhielten sich die Genossenschaftler<br />

mit dem gleichen Haß, mit dem sich <strong>der</strong> Kulak dem ungehorsamen Tagelöhner<br />

gegenüber verhält. Die Versöhnler klammerten sich mit Gier an die ihrer<br />

Neutralitätsrnaske entblößten Genossenschaften, um gegen die Bolschewiki Verstärkung<br />

zu gewinnen. Lenin brandmarkte hart die Köche <strong>der</strong> demokratischen Küche. »Zehn<br />

überzeugte Soldaten o<strong>der</strong> Arbeiter einer rückständigen Fabrik«, schrieb er, »sind<br />

tausendmal mehr wert als hun<strong>der</strong>t untergeschobene Delegierte.« Trotzki wies im Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet nach, daß die Genossenschaftsbeamten ebensowenig den politischen<br />

Willen <strong>der</strong> Bauern ausdrücken wie etwa <strong>der</strong> Arzt den politischen Willen seiner Patienten<br />

o<strong>der</strong> ein Postbeamter die Anschauungen <strong>der</strong> Absen<strong>der</strong> und Empfänger von Briefen.<br />

»Genossenschaftler müssen gute Organisatoren, Kaufleute, Buchhalter sein, doch die<br />

Verteidigung ihrer Klassenrechte übertragen Bauern wie Arbeiter ihren Sowjets.« Das<br />

hin<strong>der</strong>te die Genossensehaftler nicht, hun<strong>der</strong>tfünfzig Plätze zu erhalten und gemeinsam<br />

mit den nicht reformierten Semstwos und allerhand an<strong>der</strong>en bei den Haaren herbeigezogenen<br />

Organisationen den Charakter <strong>der</strong> Vertretung <strong>der</strong> Massen völlig zu verfälschen.<br />

Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet nahm in die Liste seiner Delegierten zur Beratung Lenin und<br />

Sinowjew auf. Die Regierung erließ einen Befehl, beide beim Betreten des Theatergebäudes<br />

zu verhaften, aber nicht im Sitzungssaal selbst: das war wohl ein Kompromiß<br />

zwischen Versöhnlern und Kerenski. Doch beschränkte sich die Sache auf eine politische<br />

Demonstration seitens des Sowjets: we<strong>der</strong> Lenin noch Sinowjew hatten vor, in <strong>der</strong><br />

Beratung zu erscheinen. Lenin war <strong>der</strong> Ansicht, die Bolschewiki hätten dort überhaupt<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 529


nichts zu suchen.<br />

Die Beratung wurde eröffnet am 14. September, genau einen Monat nach <strong>der</strong> Staatsberatung,<br />

im Zuschauersaal des Alexandrinski-Theaters. Die Zahl <strong>der</strong> zugelassenen Vertreter<br />

erreichte 1.775. Etwa 1.200 wolmten <strong>der</strong> Eröffnung bei. Die Bolschewiki waren<br />

selbstverständlich in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Aber trotz allen Kunstgriffen des Wahlsystems<br />

bildeten sie eine sehr imposante Gruppe, die in gewissen Fragen über ein Drittel <strong>der</strong><br />

gesamten Stimmen auf sich vereinigte.<br />

Ist es einer starken Regierung würdig, vor einer "privaten" Beratung aufzutreten?<br />

Diese Frage war Gegenstand großer Schwankungen im Winterpalais, die sich in Aufregungen<br />

im Alexandrinski-Theater wi<strong>der</strong>spiegelten. Endlich beschloß das<br />

Regierunghaupt, sich <strong>der</strong> Demokratie zu zeigen. »Mit Beifall empfangen«, erzählt<br />

Schljapnikow über Kerenskis Erscheinen, »begab er sich zum Präsidium, um den am<br />

Tische Sitzenden die Hand zu drükken. Es kam die Reihe an uns [Bolschewiki], die wir in<br />

<strong>der</strong> Nähe beieinan<strong>der</strong> saßen. Wir sahen uns an und verabredeten schnell, ihm die Hand<br />

nicht zu reichen. Eine theatralische Geste über den Tisch hinweg, - ich wich <strong>der</strong> mir<br />

dargebotenen Hand aus, und Kerenski ging mit vorgestreckter Hand, ohne unsere Hände<br />

zu finden, weiter.« Die gleiche Behandlung fand das Regierungsoberhaupt auch am<br />

entgegengesetzten Flügel: bei den Kornilowianern. Aber außer Bolschewiki und Kornilowianern<br />

waren keine realen Kräfte mehr geblieben.<br />

Aus <strong>der</strong> ganzen Situation heraus gezwungen, Erklärungen über seine Rolle bei <strong>der</strong><br />

Verschwörung abzugeben, verließ sich Kerenski auch diesmal zu sehr auf Improvisation.<br />

»Ich weiß, was sie wollten«, versprach er sich, »denn ehe sie Kornilow aufsuchten,<br />

kamen sie zu mir und schlugen mir diesen Weg vor.« Rufe links: »Wer kam? ... Wer<br />

schlug vor?« Erschrocken über die Resonanz seiner eigenen Worte, wurde Kerenski<br />

schnell zurückhalten<strong>der</strong>. Die politische Unterlage <strong>der</strong> Verschwörung enthüllte sich<br />

jedoch auch den weniger Weisen. Der ukrainische Versöhnler Porsch berichtete nach<br />

seiner Rückkehr in <strong>der</strong> Kiewer Rada: »Kerenski mißlang, seine Nichtbeteiligung am<br />

Kornilowaufstand zu beweisen.« Aber das Regierungshaupt fügte sich mit seiner Rede<br />

noch einem an<strong>der</strong>en, nicht min<strong>der</strong> schweren Schlag zu. Als man in Beantwortung <strong>der</strong><br />

allen überdrüssig gewordenen Phrasen - »Im Moment <strong>der</strong> Gefahr werden alle zusammenkommen<br />

und sich verständigen«, und so weiter - ihm zurief: »Und die Todesstrafe?«,<br />

verlor <strong>der</strong> Redner das Gleichgewicht und schrie zur Überraschung für alle und wohl auch<br />

für sich selbst: »Wartet zuerst ab, bis auch nur ein Todesurteil von mir, dem Oberkommandierenden,<br />

unterschrieben sein wird, und erst dann werde ich euch erlauben, mich<br />

zu verfluchen.« An die Tribüne tritt ein Soldat heran und schreit ihm ins Gesicht: »Sie<br />

sind das Unglück <strong>der</strong> Heimat.« So?! Wo doch er, Kerenski, bereit ist, den hohen Rang zu<br />

vergessen, den er einnimmt, um sich als Mensch mit <strong>der</strong> Beratung auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />

»Aber <strong>der</strong> Mensch wird hier nicht von allen verstanden.« Darum sagt er in <strong>der</strong> Sprache<br />

<strong>der</strong> Macht: »Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> es wagen sollte ... « Ach, das hat man bereits in Moskau gehört,<br />

und Komibw hat es dennoch gewagt.<br />

»War die Todesstrafe eine Notwendigkeit gewesen«, fragte in seiner Rede Trotzki,<br />

»wie wagt er, Kerenski, zu sagen, er werde von ihr keinen Gebrauch machen? Hält er es<br />

aber für möglich, sich vor <strong>der</strong> Demokratie zu verpflichten, die Todesstrafe nicht<br />

anzuwenden, so ... verwandelt er <strong>der</strong>en Wie<strong>der</strong>herstellung in einen Leichtsinnsakt, <strong>der</strong><br />

jenseits <strong>der</strong> Grenze des Verbrecherischen steht.« Damit war <strong>der</strong> ganze Saal einverstan-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 530


den, die einen schweigend, die an<strong>der</strong>en stürmisch. »Kerenski hatte durch sein Geständnis<br />

sowohl sich wie die Provisorische Regierung damals stark diskreditiert«, sagt sein<br />

Kollege und Verehrer, <strong>der</strong> Gehilfe des Justizministers, Demjanow<br />

Nicht einer <strong>der</strong> Minister konnte etwas darüber aussagen, womit sich eigentlich die<br />

Regierung außer mit <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Fragen des eigenen Daseins beschäftigte.<br />

Wirtschaftliche Maßnahmen? Man konnte nicht eine einzige anführen. Friedenspolitik?<br />

»Ich weiß nicht«, sagte <strong>der</strong> ehemalige Justizminister Sarudny, einer <strong>der</strong> Offenherzigsten,<br />

»ob die Provisorische Regierung in dieser Hinsicht etwas unternommen hatte, ich habe<br />

dies nicht gesehen.« Verwun<strong>der</strong>t beschwerte sich Sarudny darüber, daß »die ganze<br />

Macht in die Hand eines einzelnen Menschen geriet«, auf dessen Wink Minister kamen<br />

und gingen. Zeretelli griff unvorsichtiger-weise dieses Thema auf: »Die Demokratie mag<br />

sich bei sich beklagen, wenn ihrem Vertreter auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Kopf zu schwindeIn<br />

begann.« Aber gerade Zcretelli verkörperte in sich am vollständigsten jene Züge <strong>der</strong><br />

Demokratie, die bonapartistische Machttendenzen erzeugten. »Warum hat Kerenski jenen<br />

Platz eingenommen, den er jetzt einnimmt?« erwi<strong>der</strong>te Trotzki, »die Vakanz für Kerenski<br />

wurde geschaffen durch die Schwäche und Unentschlossenheit <strong>der</strong> Demokratie ... Ich<br />

habe hier nicht einen Redner gehört, <strong>der</strong> die wenig beneidenswerte Ehre auf sich genommen<br />

hätte, das Direktorium o<strong>der</strong> dessen Vorsitzenden zu verteidigen ...« Nach einem<br />

Protestausbruch fährt <strong>der</strong> Redner fort: »Ich bedaure sehr, daß <strong>der</strong> Standpunkt, <strong>der</strong> jetzt<br />

im Saale so stürmischen Ausdruck findet, nicht seinen artikulierten Ausdruck auf dieser<br />

Tribüne gefunden hat. Nicht ein Redner ist hierhergekommen und hat uns gesagt: warum<br />

streitet ihr euch um eine verflossene Koalition, warum sorgt ihr euch um die Zukunft?<br />

Wir haben Kerenski, und dies genügt ...« Die bolschewistische Fragestellung verband<br />

fast automatisch Zeretelli mit Sarudny und beide mit Kerenski. Darüber schrieb treffend<br />

Miljukow: Sarudny mochte über Kerenskis Selbstherrlichkeit klagen, Zeretelli mochte<br />

darauf anspielen, daß dem Regierungsoberhaupt <strong>der</strong> Kopf zu schwindeln begann, - »das<br />

waren Worte«; als aber Trotzki konstatierte, in <strong>der</strong> Beratung hätte niemand die offene<br />

Verteidigung Kerenskis auf sich genommen, »fühlte die Versammlung jäh, daß da ein<br />

gemeinsamer Feind sprach«.<br />

Über die Macht redeten die Menschen, die sie repräsentierten, nicht an<strong>der</strong>s als über<br />

eine Last und ein Unglück. Kampf um die Macht? Minister Peschechondw belehrte: »Die<br />

Macht stellt sich jetzt als eine Sache dar, vor <strong>der</strong> sich alle wie vor dem Teufel bekreuzigen.«<br />

War dem so? Kornilow bekreuzigte sich nicht. Aber die ganz frische Lektion war<br />

bereits zur Hälfte vergessen. Zeretelli wetterte gegen die Bolschewiki, die selbst die<br />

Macht nicht übernehmen, son<strong>der</strong>n die Sowjets zur Macht drängen. Zeretellis Gedanken<br />

griffen an<strong>der</strong>e auf. Ja, die Bolschewiki müssen die Macht übeinehmen! sprach man<br />

halblaut am Präsidiumstisch. Awksentjew wandte sich an den in seiner Nähe sitzenden<br />

Schljapnikow: »Nehmt die Macht, mit euch gehen die Massen.« Dem Nachbar im<br />

gleichen Tone antwortend, schlug Schljapnikow vor, die Macht zuerst auf den Präsidiumstisch<br />

nie<strong>der</strong>zulegen. Halbironische Herausfor<strong>der</strong>ungen an die Adresse <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />

sowohl in den Reden von <strong>der</strong> Tribüne herab wie in Couloirgesprächen, waren teils<br />

Hohn, teils Rekognoszierung. Was gedenken diese Menschen, die an die Spitze des<br />

Petrogra<strong>der</strong>, Moskauer und vieler Provinzsowjets geraten sind, weiter zu tun? Werden<br />

sie es tatsächlich wagen, die Macht zu ergreifen? Daran glaubte man nicht. Zwei Tage<br />

vor Zeretellis herausfor<strong>der</strong>ndem Auftreten schrieb die 'Rjetsch', das beste Mittel, den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 531


Bolschewismus für viele Jahre loszuwerden, wäre, seinen Führern die Geschicke des<br />

Landes auszuliefern; aber »diese traurigen Helden des Tages streben in Wirkliclikeit<br />

nicht danach, die ganze Macht zu ergreifen ... praktisch kann ihre Position von keinem<br />

Standpunkt aus in Rechnung gestellt werden«. Diese stolze Schlußfolgerung war zumindest<br />

übereilt.<br />

Ein riesiger Vorteil <strong>der</strong> Bolschewiki, bisher wohl noch nicht voll bewertet, war, daß sie<br />

ihre Gegner sehr gut verstanden, man kann sagen, ganz durchschauten. Dazu verhalf<br />

ihnen sowohl die materialistische Methode wie die Leninsche Schule <strong>der</strong> Klarheit und<br />

<strong>der</strong> Einfachheit wie die scharfe Wachsamkeit von Menschen, die entschlossen sind, bis<br />

ans Ende zu gehen. Die Liberalen und die Versöhnler hingegen konstruierten sich<br />

Bolschewiki je nach den Bedürfnissen des Augenblicks. An<strong>der</strong>s konnte es auch nicht<br />

sein: Parteien, denen die Entwicklung keinen Ausweg gelassen, haben niemals die Fähigkeit<br />

bewiesen, <strong>der</strong> Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, wie ein hoffnungslos Kranker nicht<br />

fähig ist, seiner Krankheit ins Gesicht zu sehen.<br />

Aber ohne an den Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki zu glauben, fürchteten die Versöhnler ihn.<br />

Das drückte am besten Kerenski aus. »Irret euch nicht«, schrie er plötzlich während<br />

seiner Rede heraus, »glaubt nicht, daß, wenn mich die Bolschewiki hetzen, hinter mir<br />

keine Kräfte <strong>der</strong> Demokratie stehen. Glaubt nicht, daß ich in <strong>der</strong> Luft hänge. Merkt euch,<br />

wenn ihr irgend etwas unternehmen solltet, werden die Eisenbahnen stehenbleiben,<br />

Depeschen nicht beför<strong>der</strong>t werden ...« Ein Teil des Saales applaudiert, ein Teil schweigt<br />

verlegen, <strong>der</strong> bolschewistische Teil lacht offen. Schlimm steht es mit einer Diktatur, die<br />

gezwungen ist, nachzuweisen, daß sie nicht in <strong>der</strong> Luft hängt!<br />

Auf ironische Herausfor<strong>der</strong>ungen, Vorwürfe <strong>der</strong> Feigheit und sinnlose Drohungen<br />

antworteten die Bolschewiki in ihrer Deklaration: »Kämpfend um die Macht, im Namen<br />

<strong>der</strong> Verwirklichung ihres Programms, strebte und strebt unsere Partei nicht danach, sich<br />

die Macht gegen den organisierten Willen <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> werktätigen Massen des<br />

Landes anzueignen.« Das hieß:<br />

Wir werden die Macht übernehmen als Partei <strong>der</strong> Sowjetmehrheit. Die Worte vom<br />

»organisierten Willen <strong>der</strong> Werktätigen« bezogen sich auf den bevorstehenden Sowjetkongreß.<br />

»Nur jene Beschlüsse und Anträge dieser Beratung ...«, sagte die Deklaration,<br />

»können den Weg <strong>der</strong> Verwirklichung finden, die die Zustimmung des All<strong>russischen</strong><br />

Sowjetkongresses finden werden ...«<br />

Während <strong>der</strong> Verlesung <strong>der</strong> bolschewistischen Deklaration durch Trotzki löste die<br />

Erwähnung <strong>der</strong> Notwendigkeit einer sofortigen Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter auf den Bänken<br />

<strong>der</strong> Mehrheit heharrliche Zwischenrufe aus: »Wozu, wozu?« Das war noch die gleiche<br />

Note von Unruhe und Provokation. Wozu? »Um eine wirkliche Schutzwehr gegen die<br />

Konterrevolution zu schaffen«, antwortet <strong>der</strong> Redner. Aber nicht nur dazu. »Ich sage<br />

Ihnen im Namen unserer Partei und <strong>der</strong> mit ihr gehenden proletarischen Massen, daß<br />

die bewaffneten Arbeiter ... das Land <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gegen die Truppen des Imperialismus<br />

mit solchem Heroismus verteidigen werden, wie ihn die russische <strong>Geschichte</strong> noch<br />

nicht gekannt hat ...« Zeretelli charakterisierte dieses Versprechen, das den Saal scharf<br />

teilte, als hohle Phrase. Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Roten Armee hat ihn später wi<strong>der</strong>legt.<br />

Jene heißen Stunden, da die Versöhnlerhäupter eine Koalition mit den Kadetten<br />

verworfen hatten, lagen weit zurück: ohne Kadetten erwies sich eine Koalition als<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 532


unmöglich. Man wird doch nicht etwa selbst die Macht übernehmen! »Wir hätten die<br />

Macht bereits am 27. Februar ergreifen können«, philosophierte Skobeljew, »doch wir<br />

verwandten die ganze Kraft unseres Einflusses darauf, den bürgerlichen Elementen zu<br />

helfen, sich von <strong>der</strong> Verwirrung zu erholen ... und zur Macht zu kommen.« Weshalb<br />

haben dann diese Herren die von <strong>der</strong> Verwirrung erholten Kornilowianer gehin<strong>der</strong>t, die<br />

Macht zu ergreifen? Eine rein bürgerliche Macht, erklärte Zeretelli, ist noch nicht<br />

möglich: das würde den Bürgerkrieg hervorrufen. Kornilow mußte man nie<strong>der</strong>schlagen,<br />

damit er durch sein Abenteuer die Bourgeoisie nicht hin<strong>der</strong>te, etappenweise zur Macht zu<br />

kommen. »Jetzt, wo die revolutionäre Demokratie als Siegerin hervorgegangen, ist <strong>der</strong><br />

Augenblick für eine Koalition beson<strong>der</strong>s günstig.«<br />

Die politische Philosophie des Genossenschaftlertums drückte dessen Haupt, Berkenheim,<br />

aus: »Ob wir wollen o<strong>der</strong> nicht, die Bourgeoisie ist jene Klasse, <strong>der</strong> die Macht<br />

gehören wird.« Der alte Volkstümler-<strong>Revolution</strong>är Minor flehte die Beratung an, einen<br />

einmütigen Beschluß zugunsten <strong>der</strong> Koalition anzunehmen. An<strong>der</strong>nfalls, »darüber darf<br />

man sich nicht täuschen: werden wir schlachten«. »Wen?« schrie man von den linken<br />

Plätzen. »Wir werden einan<strong>der</strong> schlachten«, schloß, von düsterem Schweigen begleitet,<br />

Minor. Aber nach Meinung <strong>der</strong> Kadetten war ja <strong>der</strong> Regierungsblock notwendig für den<br />

Kampf gegen das »anarchistische Holliganentum« <strong>der</strong> Bolschewiki: »darin eigentlich<br />

bestand das Wesen <strong>der</strong> Koalitionsidee«, erklärte Miljukow ganz offenherzig. Während<br />

Minor hoffte, die Koalition würde gestatten, einan<strong>der</strong> nicht abzuschlachten, rechnete im<br />

Gegenteil Miljukow ganz fest damit, die Koalition würde die Möglichkeit schaffen, mit<br />

vereinten Kräften die Bolschewiki abzuschlachten.<br />

Bei den Debatten über die Koalition verlas Rjasanow jenen Leitartikel <strong>der</strong> 'Rjetsch'<br />

vom 29. August, den Miljukow im letzten Moment zurückgezogen hatte, wodurch in <strong>der</strong><br />

Zeitung ein weißer Fleck entstand: »Jawohl, wir fürchten uns nicht zu sagen, daß<br />

General Kornilow die gleichen Ziele verfolgte, die wir für die Rettung <strong>der</strong> Heimat als<br />

notwendig erachten.« Das Zitat machte Eindruck. »Oh, die werden retten!« tönte es aus<br />

<strong>der</strong> linken Hälfte <strong>der</strong> Versammlung. Doch die Kadetten finden Verteidiger: <strong>der</strong> Leitartikel<br />

war ja nicht gedruckt worden! Außerdem seien nicht alle Kadetten für Kornilow, man<br />

müsse die Sün<strong>der</strong> von den Gerechten unterscheiden können.<br />

»Es wird gesagt, man dürfe nicht die gesamte Kadettenpartei beschuldigen, sie sei<br />

Komplicin <strong>der</strong> Kornilowschen Meuterei gewesen«, antwortete Trotzki. »Nicht zum ersten<br />

Male hat hier Snamenski uns Bolschewiki gesagt: ihr habt protestiert, als wir eure<br />

gesamte Partei für die Bewegung des 3. bis 5. Juli verantwortlich machten; wie<strong>der</strong>holt<br />

nicht die gleichen Fehler, macht nicht alle Kadetten für Kornilows Meuterei verantwortlich.<br />

Doch dieser Vergleich beruht meiner Ansicht nach auf einem kleinen Rechenfehler:<br />

als man die Bolschewiki beschuldigte, sie hätten die Bewegung vom 3. bis 5. Juli hervorgerufen,<br />

ging es nicht darum, sie ins Ministerium, son<strong>der</strong>n sie ins "Kresty" einzuladen.<br />

Den Unterschied wird, hoffe ich, auch (Justizminister) Sarudny nicht bestreiten. Wir<br />

sagen ebenfalls: Wollt ihr die Kadetten wegen <strong>der</strong> Kornilowbewegung ins Gefängnis<br />

schleppen, dann tut es nicht in Bausch und Bogen, son<strong>der</strong>n untersucht jeden Kadetten<br />

einzeln von allen Seiten.« (Lachen; Rufe: »Bravo !«) »Handelt es sich aber darum, die<br />

Kadettenpartei ins Ministerium einzuführen, so ist nicht die Tatsache entscheidend, ob<br />

<strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kadett hinter den Kulissen mit Kornilow im Bunde war - nicht, daß<br />

Maklakow am Telegraphenapparat stand, als Sawinkow mit Kornilow verhandelte; nicht,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 533


daß Roditschew an den Don reiste und politische Unterhaltungen mit Kaledin führte,<br />

nicht das ist wesentlich; wesentlich ist, daß die gesamte bürgerliche Presse entwe<strong>der</strong><br />

offen Kornilow begrüßte o<strong>der</strong> aus Vorsicht schwieg, um Kornilows Sieg abzuwarten ...<br />

Und deshalb sage ich, ihr habt keine Konter-Agenten für eine Koalition.«<br />

Am nächsten Tag sprach <strong>der</strong> Vertreter von Helsingfors und Sweaborg, <strong>der</strong> Matrose<br />

Schischkin, zum gleichen Thema kürzer und eindrucksvoller: »Ein Koalitionsministerium<br />

wird bei den Seeleuten <strong>der</strong> Baltischen Flotte und bei <strong>der</strong> Garnison von Finnland<br />

we<strong>der</strong> Vertrauen noch Unterstützung genießen ... Gegen die Schaffung eines Koalitionsministeriuins<br />

haben die Matrosen die Kampffahne gehißt.« Argumente <strong>der</strong> Vernunft<br />

blieben wirkungslos. Der Matrose Schischkin erhob das Argument <strong>der</strong> Seegeschütze.<br />

Ihm stimmten die an<strong>der</strong>en Matrosen durchaus bei, die an den Saaleingängen Wache<br />

standen. Bucharin erzählte später, wie die »von Kerenski zum Schutze <strong>der</strong> Demokratischen<br />

Beratung gegen uns, Bolschewiki, aufgestellten Matrosen sich an Trotzki wenden<br />

und mit den Bajonetten fuchtelnd fragen: "Nun, gibt es bald für dies Ding Arbeit?« Das<br />

war nur eine Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> Frage, die die Matrosen <strong>der</strong> "Aurora" bei dem Besuch im<br />

"Kresty" gestellt hatten. Doch nun näherte sich <strong>der</strong> Zeitpunkt.<br />

Sieht man von Nuancen ab, kann man in <strong>der</strong> Beratung mit Leichtigkeit drei Gruppierungen<br />

feststellen: das umfangreiche, aber äußerst labile Zentrum, das nicht wagt, die<br />

Macht zu ergreifen, einer Koalition zustimmt, aber die Kadetten nicht will; <strong>der</strong> schwache<br />

rechte Flügel, <strong>der</strong> für Kerenski und eine Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie ohne Einschränkungen<br />

ist; <strong>der</strong> doppelt so starke linke Flügel, <strong>der</strong> für die Macht <strong>der</strong> Sowjets o<strong>der</strong> eine<br />

sozialistische Regierung eintritt. In <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Sowjetdelegierten <strong>der</strong><br />

Demokratischen Beratung sprach Trotzki für die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets,<br />

Martow - für ein einheitliches sozialistisches Ministerium. Die erste Formel sammelte auf<br />

sich sechsundachtzig Stimmen, die zweite - siebenundneunzig. Formell vertraten die<br />

Bolschewiki in diesem Augenblick bloß etwa die Hälfte <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatensowjets,<br />

die an<strong>der</strong>e Hälfte schwankte zwischen Bolschewiki und Versöhnlern. Doch<br />

sprachen die Bolschewiki im Namen <strong>der</strong> mächtigen Sowjets <strong>der</strong> größten industriellen<br />

und kulturellen Zentren des Landes; in den Sowjets waren sie unermeßlich stärker als in<br />

<strong>der</strong> Beratung, in Proletariat und Armee unermeßlich stärker als in den Sowjets. Die<br />

rückständigen Sowjets glichen sich ununterbrochen den fortgeschrittenen an.<br />

Für die Koalition stimmten in <strong>der</strong> Beratung siebenhun<strong>der</strong>tundsechsundsechzig<br />

Deputierte gegen sechshun<strong>der</strong>tundachtundachtzig bei achtunddreißig<br />

Stimmenthaltungen. Beide Lager befanden sich fast im Gleichgewicht! Die Korrektur,<br />

die die Kadetten aus einer Koalition ausschloß, versammelte eine Mehrheit: fünfhun<strong>der</strong>tundfünfundneunzig<br />

Stimmen gegen vierhun<strong>der</strong>tunddreiundneunzig bei zweiundsiebzig<br />

Stimmenthaltungen. Jedoch machte die Beseitigung <strong>der</strong> Kadetten die Koalition gegenstandlos.<br />

Darum wurde die Resolution in ihrer Gesamtheit mit einer Mehrheit von<br />

achthun<strong>der</strong>tunddreizehn Stimmen zu Fall gebracht, das heißt vom Block <strong>der</strong> äußersten<br />

Flügel, <strong>der</strong> entschiedenen Anhänger und <strong>der</strong> unversöhniichen Gegner einer Koalition,<br />

gegen das Zentrum, dessen Stimmen auf einhun<strong>der</strong>tunddreiundachtzig zusammenschmolzen<br />

bei achtzig Stimmenthaltungen. Das war die einmütigste von allen Abstimmungen;<br />

doch war sie ebenso hohl wie die Idee einer Koalition ohne Kadetten, die von<br />

ihr abgelehnt worden war. »In <strong>der</strong> Kernfrage«, bemerkt mit Recht Miljukow, »blieb die<br />

Beratung somit ohne Meinung und ohne Formel.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 534


Was konnten die Führer nun noch tun? Den Willen <strong>der</strong> "Demokratie" ignorieren, die<br />

ihren eigenen Willen abgelehnt hatte. Es wird das Präsidium mit Vertretern von Parteien<br />

und Gruppen einberufen, um erneut über die vom Plenum bereits entschiedene Frage zu<br />

entscheiden. Resultat: fünfzig Stimmen für die Koalition, sechzig dagegen. Nun scheint's<br />

klar? Die Frage <strong>der</strong> Verantwortlichkeit <strong>der</strong> Regierung vor einem ständigen Organ <strong>der</strong><br />

Demokratischen Beratung wird vom selben erweiterten Präsidium einstimmig bejaht. Für<br />

die Ergänzung dieses Organs durch Vertreter <strong>der</strong> Bourgeoisie erheben sich sechsundfünfzig<br />

gegen achtundvierzig Hände bei zehn Stimmenthaltungen. Kerenski erscheint, um zu<br />

erklären: an einer rein sozialistischen Regierung sich zu beteiligen, lehne er ab. Danach<br />

läuft die Aufgabe darauf hinaus, die unglückselige Beratung nach Hause zu schicken und<br />

sie durch eine Institution zu ersetzen, in <strong>der</strong> Anhänger <strong>der</strong> bedingungslosen Koalition in<br />

Mehrheit wären. Uni das nötige Resultat zu erreichen, ist nur die Kenntnis <strong>der</strong> arithmetischen<br />

Elementarregeln erfor<strong>der</strong>lich. Namens des Präsidiums bringt Zeretelli in <strong>der</strong><br />

Beratung eine Resolution ein, wonach das Vertretungsorgan berufen sei, »bei <strong>der</strong> Schaffung<br />

einer Regierung ruitzuhelfen«, und die Regierung müsse »dieses Organ sanktionieren«;<br />

die Träume von <strong>der</strong> Zähmung Kerenskis sind somit ins Archiv getan. Der in<br />

erfor<strong>der</strong>licher Proportion durch Bourgeoisievertreter ergänzte künftige Sowjet <strong>der</strong><br />

Republik, o<strong>der</strong> das Vorparlament, wird die Aufgabe haben, eine Koalitionsregierung mit<br />

Kadetten zu sanktionieren. Zeretellis Resolution bedeutet das gerade Gegenteil davon,<br />

was die Beratung gewollt und das Präsidium soeben beschlossen hat. Doch sind Zusammenbruch,<br />

Zerfall, Demoralisation so groß, daß die Versammlung die ihr angebotene,<br />

etwas verschleierte Kapitulation mit achthun<strong>der</strong>tundneunundzwanzig gegen einhun<strong>der</strong>tundsechs<br />

Stimmen bei neunundsechzig Stimmenthaltungen annimmt. »Also vorläufig<br />

habt ihr gesiegt, ihr Herren Versöhnler und Kadetten«, schrieb die Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

»Macht euer SpieL Geht an die neue Erfahrung. Sie wird die letzte sein - dafür<br />

bürgen wir euch.«<br />

»Die Demokratische Beratung«, sagt Stankewitseh, »verblüffte durch äußersten<br />

Wirrwarr <strong>der</strong> Gedanken sogar ihre eigenen Initiatoren.« Bei den Versöhnlerparteien<br />

»völlige Uneinigkeit«; Rechts, bei <strong>der</strong> Bourgeoisie, »Murren des Unwillens, flüsternd<br />

weiter getragene Verleumdung, langsames Unterwühlen <strong>der</strong> letzten Reste <strong>der</strong> Regierungsautorität<br />

... Und nur links Konsolidierung <strong>der</strong> Kräfte und <strong>der</strong> Stimmung«. Das sagt<br />

ein Gegner, das bezeugt ein Feind, <strong>der</strong> im Oktober auf die Bolschewiki schießen wird.<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Parade <strong>der</strong> Demokratie erwies sich für die Versöhn1er als das, was für<br />

Kerenski die Moskauer Parade <strong>der</strong> nationalen Einheit gewesen war: öffentliches<br />

Bekenntnis <strong>der</strong> Unzulänglichkeit, eine Truppenschau des politischen Marasmus. Hatte<br />

die Staatsberatung den Anstoß zu Kornilows Aufstand geliefert, so säuberte die<br />

Demokratische Beratung endgültig den Weg für den Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Bevor sie auseinan<strong>der</strong>ging, son<strong>der</strong>te die Beratung aus ihrer Mitte ein ständiges Organ<br />

ab durch Delegierung von 15 Prozent <strong>der</strong> Gesamtstärke jener Gruppe, insgesamt etwa<br />

dreihun<strong>der</strong>tundfünfzig Delegierte. Die Institutionen <strong>der</strong> besitzenden Klassen sollten<br />

außerdem einhun<strong>der</strong>tundzwanzig Plätze erhalten. Die Regierung machte von sich aus<br />

eine Zugabe von zwanzig Plätzen für die Kosaken. Alles zusammen sollte den Rat <strong>der</strong><br />

Republik o<strong>der</strong> das Vorparlament bilden, dem es oblag, bis zur Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung die Nation zu vertreten.<br />

Die Stellung <strong>der</strong> Bolschewiki zum Rat <strong>der</strong> Republik verwandelte sich für sie sogleich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 535


in eine akute taktische Frage: hineingehen o<strong>der</strong> nicht hineingehen? Der Boykott parlamentarischer<br />

Institutionen durch Anarchisten und Halbanarchisten ist von dem Bestreben<br />

diktiert, die eigene Ohnmacht nicht einer Nachprüfung seitens <strong>der</strong> Massen auszusetzen<br />

und somit das Anrecht zu wahren auf passiven Hochmut, von dem we<strong>der</strong> dem Feinde<br />

kalt noch dem Freunde warm ist. Dem Parlament darf eine revolutionäre Partei nur dann<br />

den Rücken kehren, wenn sie sich zur unmittelbaren Aufgabe den Sturz des bestehenden<br />

Regimes stellt. In den Jahren zwischen den zwei <strong>Revolution</strong>en hatte Lenin mit großer<br />

Gründlichkeit die Probleme des revolutionären Parlamentarismus untersucht.<br />

Das auf höchsten Privilegien beruhende Parlament kann Ausdruck <strong>der</strong> tatsächlichen<br />

Kräfteverhältnisse <strong>der</strong> Klassen sein und war es in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> mehr als einmal: dies<br />

waren zum Beispiel die Reichsdumas nach <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>geschlagenen <strong>Revolution</strong> von 1903<br />

bis 1907. Solche Parlamente boykottieren heißt das wirkliche Kräfteverhältuis boykottieren,<br />

statt es zugunsten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu verän<strong>der</strong>n. Zeretelli-Kerenskis Vorparlament<br />

entsprach aber nicht im geringsten dem Kräfteverhältuis. Es war geboren aus Ohnmacht<br />

und List <strong>der</strong> Spitzen, aus dem Glauben an die Mystik <strong>der</strong> Institutionen, dem Fetischismus<br />

<strong>der</strong> Form, und aus <strong>der</strong> Hoffnung, diesem Fetischismus den unermeßlich stärkeren Feind<br />

zu unterwerfen und ihn damit zu disziplinieren.<br />

Um die <strong>Revolution</strong> zu zwingen, mit gebeugtem Rücken und gesenktem Haupt gehorsam<br />

in das Joch des Vorparlaments zu gehen, mußte man sie vorher, wenn nicht nie<strong>der</strong>schlagen,<br />

so doch mindestens ihr eine ernsthafte Nie<strong>der</strong>lage zufügen. Tatsächlich aber<br />

hatte drei Wochen zuvor die Ayantgarde <strong>der</strong> Bourgeoisie eine Nie<strong>der</strong>lage erlitten. Die<br />

<strong>Revolution</strong> dagegen hatte einen Kräftezustrom erfahren. Ihr Ziel war nicht eine bürgerliche<br />

Republik, son<strong>der</strong>n die Republik <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern, und sie brauchte nicht<br />

durch das Joch des Vorparlaments hindurchzukriechen, während sie sich immer breiter in<br />

den Sowjets entfaltete.<br />

Am 20. September rief das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki die bolschewistischen<br />

Delegierten <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, die Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees selbst und<br />

des Petrogra<strong>der</strong> Komitees zu einer Parteiberatung zusahmen. Als Berichterstatter des<br />

Zentralkomitees stellte Trotzki die Losung auf - Boykott des Vorparlaments! Der<br />

Vorschlag fand entschiedenen Wi<strong>der</strong>stand bei den einen (Kamenjew, Rykow, Rjasanow)<br />

und Zustimmung bei den an<strong>der</strong>en (Swerdlow, Joffe, Stalin). Das in <strong>der</strong> strittigen Frage in<br />

zwei Hälften geteilte Zentralkomitee sah sich gezwungen, entgegen Statuten und Tradition<br />

<strong>der</strong> Partei, die Entscheidung <strong>der</strong> Beratung zu überlassen. Zwei Referenten, Trotzki<br />

und Rykow, sprachen als Vertreter <strong>der</strong> entgegengesetzten Standpunkte. Es konnte scheinen,<br />

und <strong>der</strong> Mehrheit schien es auch, als trügen die heißen Debatten rein taktischen<br />

Charakter. In Wirklichkeit weckte <strong>der</strong> Streit die Meinungsversehiedenheiten des April<br />

wie<strong>der</strong> auf und bereitete die des Oktober vor. Die Frage war: paßt die Partei ihre Aufgaben<br />

<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> bürgerlichen Republik an, o<strong>der</strong> stellt sie sich wirklich die<br />

Machteroberung als Ziel. Mit siebenundzwanzig Stimmen gegen fünfzig lehnte die<br />

Parteiberatung die Boykottlosung ab. Am 22. September konnte Rjasanow <strong>der</strong> Demokratischen<br />

Beratung im Namen <strong>der</strong> Partei erklären, die Bolschewiki würden ihre Vertreter<br />

ins Vorparlament schicken, um »in dieser neuen Bastion des Versöhnlertums alle Versuche<br />

einer neuen Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie zu entlarven«. Das klang radikal. Im<br />

Wesen aber bedeutete dies, <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> revelutionären Tat die Politik oppositioneller<br />

Entlarvung zu unterschieben.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 536


Lenins Aprilthesen waren formell von <strong>der</strong> gesamten Partei akzeptiert worden; aber bei<br />

je<strong>der</strong> großen Frage schlugen wie<strong>der</strong> nach außen die Märzstimmungen, noch sehr stark in<br />

<strong>der</strong> oberen Parteischieht, die an vielen Punkten des Landes sich erst jetzt von den<br />

Menschewiki zu trennen begann. Lenin konnte in den Streit nur nachträglich eingreifen.<br />

Am 23. September schrieb er: »Man muß das Vorparlament boykottieren. Man muß in<br />

die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten gehen, in die Gewerkschaften,<br />

überhaupt zu den Massen. Man muß sie in den Kampf rufen. Man muß ihnen die<br />

richtige und klare Losung geben: die bonapartistische Bande Kerenskis mit dessen<br />

verfälschtem Vorparlament davonjagen ... Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

haben, sogar nach <strong>der</strong> Kornilowiade, unser Kompromiß nicht angenommen ... Unbarmherzigen<br />

Kampf gegen sie. Unbarmherzig sie aus allen revolutionären Organisationen<br />

vertreiben ... Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki! Die Boykottlosung ist<br />

in <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung zusammengekommen<br />

war, besiegt worden. Es lebe <strong>der</strong> Boykott!«<br />

Je tiefer die Frage in die Partei eindrang, um so entschiedener verän<strong>der</strong>te sich das<br />

Kräfteverhältuis zugunsten des Boykotts. Fast in sämtlichen Lokalorganisationen bilden<br />

sich Mehrheit und Min<strong>der</strong>heit. Im Kiewer Komitee zum Beispiel sind die Boykottanhänger<br />

mit Ewgenia Bosch an <strong>der</strong> Spitze anfangs eine schwache Min<strong>der</strong>heit. Jedoch bereits<br />

nach wenigen Tagen wird in <strong>der</strong> Stadtkonferenz mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit ein Beschluß<br />

angenommen, das Vorparlament zu boykortieren. »Man darf keine Zeit mit Geschwätz<br />

und Säen von Illusionen vergeuden.« Die Partei eilte, ihre Spitzen zu korrigieren.<br />

Unterdessen war Kerenski, <strong>der</strong> die welken Prätensionen <strong>der</strong> Demokratie von sich<br />

geworfen, aus allen Kräften bestrebt, vor den Kadetten feste Hand zu zeigen. Am 18.<br />

September erteilte er unerwartet einen Befehl zur Auflösung des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />

Kriegsflotte. Die Matrosen antworteten: »Der Befehl zur Auflösung des Zentroflott ist,<br />

weil gesetzwidrig, als ungültig zu betrachten und seine sofortige Aufhebung zu for<strong>der</strong>n.«<br />

In die Sache mischte sich das Exekutivkomitee ein und lieferte Kerenski einen formellen<br />

Vorwand, seine Verfügung nach drei Tagen aufzuheben. In Taschkent ergriff <strong>der</strong> Sowjet,<br />

in einer Mehrheit aus Soziatrevolutionären bestehend, die Macht und setzte die alten<br />

Beamten ab. Kerenski schickte dem nach Taschkent zur Herstellung <strong>der</strong> Ordnung<br />

entsandten General ein Telegramm: »In keinerlei Verhandlungen mit den Meuterern<br />

treten ... Entschiedenste Maßnahmen sind notwendig.« Die eintreffenden Truppen<br />

besetzten die Stadt und verhafteten die Vertreter <strong>der</strong> Sowjetmacht. Sogleich begann ein<br />

Generalstreik unter Beteiligung von vierzig Gewerkschaftsverbänden; eine Woche lang<br />

erschienen keine Zeitungen, in <strong>der</strong> Garnison gärte es. So säte die Regierung auf <strong>der</strong> Jagd<br />

nach dem Ordnungsgespenst bürokratische Anarchie.<br />

Am gleichen Tage, als die Beratung den Beschluß gegen eine Koalition mit Kadetten<br />

gefaßt hatte, empfahl das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei seinen Mitglie<strong>der</strong>n Konowalow<br />

und Kischkin, Kerenskis Angebot, in das Kabinett einzutreten, anzunehmen. Die<br />

Regie ging, wie es hieß, von Buchanan aus. Dies ist wohl nicht allzu wörtlich aufzufassen.<br />

Wenn nicht Buchanan selbst, so führte sein Schatten die Regie: man mußte eine den<br />

Alliierten genehme Regierung schaffen. Die Moskauer Industriellen und Börsenmänner<br />

zeigten sich wi<strong>der</strong>spenstig, schraubten den Preis hoch, stellten Ultimaten. Die Demokratische<br />

Beratung erschöpfte sich in Abstimmungen und tat, als hätten sie reale Bedeutung.<br />

In Wirklichkeit wurde die Frage im Winterpalais, in vereinigten Sitzungen <strong>der</strong> Regie-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 537


ungssplitter mit den Vertretern <strong>der</strong> Koalitionsparteien, entschieden. Die Kadetten<br />

entsandten dorthin ihre offenherzigsten Kornilowianer. Alle versuchten einan<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit <strong>der</strong> Einheit zu überzeugen. Zeretelli, ein unerschöpflicher Born von<br />

Gemeinplätzen, entdeckte, daß das Haupthin<strong>der</strong>nis für eine Verständigung »bislang im<br />

gegenseitigen Mißtrauen bestand ... Dieses Mißtrauen muß beseitigt werden«. Außenminister<br />

Tereschtschenko errechnete, daß von den einhun<strong>der</strong>tundsiebenundneunzig<br />

Lebenstagen des Bestehens <strong>der</strong> revolutionären Regierung sechsundfünfzig auf Krisen<br />

verbraucht worden waren. Worauf die übrigen Tage verbraucht wurden, erklärte er nicht.<br />

Ehe noch die Demokratische Beratung die ihren Absichten zuwi<strong>der</strong>laufende Resolution<br />

Zeretellis schlucken konnte, hatten Korrespondenten englischer und amerikanischer<br />

Blätter telegraphisch berichtet, die Koalition mit den Kadetten sei gesichert, und nannten<br />

mit Bestimmtheit die Namen <strong>der</strong> neuen Minister. Seinerseits beglückwünschte <strong>der</strong><br />

Moskauer "Rat <strong>der</strong> im öffentlichen Leben tätigen Männer", unter Vorsitz des unvermeidlichen<br />

Rodsjanko, sein Mitglied Tretjakow anläßlich dessen Berufung in die Regierung.<br />

Am 9. August hatten diese Herren an Kornilow telegraphiert: »In <strong>der</strong> furchtbaren Stunde<br />

schwerer Prüfung blickt das gesamte denkende Rußland mit Hoffnung und Glauben auf<br />

Sie.«<br />

Kerenski erklärte sich gnädigst mit dem Bestehen des Vorparlaments einverstanden<br />

unter Bedingung, »daß Organisierung <strong>der</strong> Gewalt und Ergänzung <strong>der</strong> Regierungszusammensetzung<br />

ausschließlich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zustehen«. Diese beschämende<br />

Bedingung hatten die Kadetten diktiert. Die Bourgeome mußte natürlich begreifen, daß<br />

die Zusammensetzung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung für sie unvergleichlich<br />

weniger günstig sein würde als jene des Vorparlaments: »Die Wahlen zur Konstituierenden<br />

Versammlung dürften«, nach Miljukows Worten, »ein ganz zufälliges, vielleicht<br />

auch unheilvolles Resultat ergeben.« Wenn nichtsdestoweniger die Kadettenpartei, die<br />

noch kurz vorher versucht hatte, die Regierung <strong>der</strong> Zarenduma unterzuordnen, dem<br />

Vorparlament gesetzgebende Rechte rundweg verweigerte, so einzig und allein deshalb,<br />

weil sie die Hoffnung nicht aufgab, die Konstituierende Versammlung verhin<strong>der</strong>n zu<br />

können.<br />

»Entwe<strong>der</strong> Kornilow o<strong>der</strong> Lenin«, formulierte Miljukow die Alternative. Lenin seinerseits<br />

schrieb: »Entwe<strong>der</strong> Sowjetmacht o<strong>der</strong> Kornilowiade. Ein Mittelding gibt es nicht.«<br />

Soweit stimmten Lenin und Miljukow in <strong>der</strong> Einschätzung <strong>der</strong> Lage überein, und nicht<br />

zufällig: im Gegensatz zu den Helden <strong>der</strong> Versöhnlerphrase waren das zwei ernste<br />

Vertreter <strong>der</strong> grundlegenden Gesellschaftsklassen. Schon die Moskauer Staatsberatung<br />

hatte, nach Miljukows Worten, anschaulich gezeigt: »das Land ist in zwei Lager gespalten,<br />

zwischen denen es im wesentlichen keine Versöhnung und keine Verständigung<br />

geben kann«. Wo aber zwisehen zwei gesellschaftlichen Lagern keine Verständigung<br />

möglich ist, dort entscheidet die Sache <strong>der</strong> Bürgerkrieg.<br />

We<strong>der</strong> Kadetten noch Bolschewiki gaben jedoch die Losung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung preis. Die Kadetten brauchten sie als höchste Appellationsinstanz gegen<br />

sofortige soziale Reformen, gegen Sowjets, gegen Revorution. Den Schatten, den die<br />

Demokratie in Form <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung vorauswarf, benutzte die<br />

Bourgeoisie als Gegenwirkung wi<strong>der</strong> die lebendige Demokratie. Offen die Konstituierende<br />

Versammlung abzulehnen, hätte die Bourgeoisie nur nach Zermalmung <strong>der</strong><br />

Bolschewiki vermocht. Bis dahin war es weit. Auf <strong>der</strong> gegebenen Etappe waren die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 538


Kadetten bestrebt, <strong>der</strong> Regierung die Unabhängigkeit von den mit den Massen verbundenen<br />

Organisationen zu sichern, um sie später desto leichter sich restlos unterwerfen zu<br />

können.<br />

Aber auch die Bolschewiki, die auf den Pfaden <strong>der</strong> formalen Demokratie keinen<br />

Ausweg erblickten, verzichteten noch nicht auf die Idee <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung.<br />

Sie hätten dies auch nicht tun können, ohne mit dem revolutionären Realismus zu<br />

brechen. Ob <strong>der</strong> weitere Gang <strong>der</strong> Ereignisse die Bedingungen für einen vollen Sieg des<br />

Proletariats bringen würde, war mit absoluter Bestimmtheit nicht vorauszusehen. Aber<br />

außerhalb <strong>der</strong> Sowjetdiktatur und bis zu dieser Diktatur mußte die Konstituierende<br />

Versammlung als höchste Errungenschaft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erscheinen. Ebenso wie die<br />

Bolschewiki Versöhnlersowjets und demokratische Munizipalitäten gegen Kornilow<br />

verteidigt hatten, waren sie bereit, die Konstituierende Versammlung gegen Attentate <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie zu verteidigen.<br />

Die dreißigtägige Krise wurde endlich durch Schaffung einer neuen Regierung<br />

beendet. Die Hauptrolle darin zu spielen, war neben Kerenski <strong>der</strong> schwerreiche<br />

Moskauer Industrielle Konowalow berufen, <strong>der</strong> zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Gorkis<br />

Zeitung finanziert hatte, dann Mitglied <strong>der</strong> ersten Koalitionsregierung gewesen war, nach<br />

dem ersten Sowjetkongreß unter Protest demissioniert hatte, <strong>der</strong> Kadettenpartei beitrat,<br />

als diese für die Kornilowiade reif wurde, und nun als Premiervertreter und Minister für<br />

Handel und Industrie in die Regierung zurückkehrte. Neben Konowalow besetzten<br />

Ministerposten: Tretjakow, Vorsitzen<strong>der</strong> des Moskauer Börsenkomitees, und Smirnow,<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> des Moskauer Kriegsindustriekomitees. Der Kiewer Zuckerfabrikant<br />

Tereschtschenko blieb Minister des Auswärtigen. Die übrigen Minister, einschließlich<br />

<strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong>, besaßen keine beson<strong>der</strong>en Merkmale, aber völlige Bereitwilligkeit, die<br />

Harmonie nicht zu stören. Die Entente konnte mit <strong>der</strong> Regierung um so zufriedener sein,<br />

als in Eigenschaft des Gesandten in London <strong>der</strong> alte diplomatische Beamte Nabokow<br />

verblieb, Gesandter in Paris <strong>der</strong> Kadett Maklakow wurde, Verbündeter Kornilows und<br />

Sawinkows, in Bern - <strong>der</strong> "Progressist" Jefremow: <strong>der</strong> Kampf um den demokratischen<br />

Frieden war zuverlässigen Händen übergeben worden.<br />

Die Deklaration <strong>der</strong> neuen Regierung bildete eine böse Parodie auf die Moskauer<br />

Deklaration <strong>der</strong> Demokratie. Der Sinn <strong>der</strong> Koalition lag jedoch nicht in einem Umgestaltungsprogramm,<br />

son<strong>der</strong>n in dem Versuch, die Sache <strong>der</strong> Julitage zu Ende zu führen: die<br />

<strong>Revolution</strong> durch Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu enthaupten. Hier aber erinnerte<br />

<strong>der</strong> 'Rabotschjy Putj' (Arbeiter-Weg), eine <strong>der</strong> Verwandlungen <strong>der</strong> 'Prawda', dreist die<br />

Alliierten: »Ihr habt vergessen, Bolschewiki - das sind jetzt die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter- und<br />

Soldatendeputierten.« Die Erinnerung traf eine schmerzhafte Stelle. »Von selbst«, gesteht<br />

Miljukow, »erhob sich die schicksalsvolle Frage: ist es nicht zu spät? Ist es nicht zu spät,<br />

den Bolschewiki den Krieg zu erklären ...?«<br />

Es ist wohl wirklich zu spät. Am Tage <strong>der</strong> Formierung <strong>der</strong> neuen Regierung aus sechs<br />

bürgerlichen und zehn halbsozialistischen Ministern wurde auch die Formierung des<br />

neuen Exekutivkomitees des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets aus dreizehn Bolschewiki, sechs<br />

Sozialrevolutionären und drei Menschewiki beendet. Die Regierungskoalition begtüßte<br />

<strong>der</strong> Sowjet mit einer von seinem Vorsitzenden Trotzki eingebrachten Resolution: »Die<br />

neue Regierung ... wird in die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> als eine Regierung des Bürgerkrieges<br />

eingehen ... Die Kunde von <strong>der</strong> neuen Regierungsmacht wird seitens <strong>der</strong> gesam-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 539


ten revolutionären Demokratie die eine Antwort finden: zurücktreten! Gestützt auf diese<br />

einmütige Stimme <strong>der</strong> echten Demokratie wird <strong>der</strong> Allrussische Sowjetkongreß eine<br />

wahrhaft revolutionäre Macht schaffen.« Die Gegner wollten gerne in dieser Resolution<br />

nur das übliche Mißtrauensvotum sehen. In Wirklichkeit war sie das Programm <strong>der</strong><br />

Umwälzung. Zu seiner Erfüllung wird genau ein Monat erfor<strong>der</strong>lich sein.<br />

Die Wirtschaftskurve fuhr fort, sich scharf nach unten zu neigen. Regierung, Zentralexekutivkomitee<br />

und bald auch das neugeschaffene Vorparlament registrierten Tatsachen<br />

und Symptome des Verfalls als Argumente gegen Anarchie, Bolschewiki, <strong>Revolution</strong>.<br />

Aber sie besaßen auch nicht den Schimmer eines Wirtschaftsplanes. Das <strong>der</strong> Regierung<br />

angeschlossene Organ zur Wirtschaftsregulierung unternahm keinen einzigen ernsthaften<br />

Schritt. Die Industriellen schlossen die Betriebe. Der Eisenbahnverkehr wurde wegen<br />

Kohlenmangel eingeschränkt. In den Städten verstummten die Elektrizitätswerke. Die<br />

Presse heulte über die Katastrophe. Die Preise stiegen. Die Arbeiter streikten Schicht um<br />

Schicht, trotz den Warnungen seitens Partei, Sowjets und Gewerkschaften. Konflikte<br />

vermieden nur jene Schichten <strong>der</strong> Arbeiterklasse, die bereits bewußt <strong>der</strong> Umwälzung<br />

entgegengingen. Am ruhigsten blieb wohl Petrograd.<br />

Durch Ignorierung <strong>der</strong> Massen, leichtfertige Gleichgültigkeit für <strong>der</strong>en Nöte, herausfor<strong>der</strong>nde<br />

Phrasen als Antwort auf Protest und Verzweiflungsschreie brachte die Regierung<br />

alle gegen sich auf Es schien, als suche sie absichtlich Konflikte. Die Arbeiter und<br />

Angestellten <strong>der</strong> Eisenbahn for<strong>der</strong>ten nun fast seit <strong>der</strong> Februarumwälzung Gehaltserhöhung.<br />

Kommissionen lösten einan<strong>der</strong> ab, niemand gab Antwort, man zerrte den Eisenbahnern<br />

die Seele aus dem Leib. Die Versöhnler beschwichtigten, die<br />

Eisenbahnerexekutive bremste. Doch am 24. September kam die Explosion zum<br />

Ausbruch. Nun erst besann sich die Regierung, den Eisenbahnern wurden einige<br />

Zugeständnisse gemacht, und <strong>der</strong> Streik, <strong>der</strong> bereits große Teile des Eisenbahnnetzes<br />

erfaßt hatte, wurde am 27. September abgebrochen.<br />

August und September gestalteten sich zu Monaten rapi<strong>der</strong> Verschlechterung des<br />

Verpflegungszustandes. Schon in den Kornilowtagen war die Brotration in Moskau und<br />

Petrograd bis auf ein halbes Pfund täglich gekürzt worden. Im Moskauer Kreis gab es<br />

nicht über zwei Pfund pro Woche. Wolgagebiet, Süden, Front und näheres Hinterland -<br />

alle Landesteile machten eine scharfe Lebensmittelkrise durch. Im Textilbezirk bei<br />

Moskau fingen einige Fabriken bereits im bochstäblichen Sinne des Wortes zu hungern<br />

an. Arbeiter und Arbeiterinnen <strong>der</strong> Smirnowfabrik - <strong>der</strong> Besitzer war gerade in jenen<br />

Tagen als Staatskontrolleur in das neue Koalitionsministerium berufen worden - demonstrierten<br />

im benachbarten Orechowo-Sujewo mit Plakaten: "Wir hungern." "Unsere<br />

Kin<strong>der</strong> hungern." "Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns." Die Arbeiter von Orechowo und<br />

die Soldaten des örtlichen Kriegslazaretts teilten mit den Demonstranten ihre spärlichen<br />

Rationen: das war eine an<strong>der</strong>e, gegen die <strong>der</strong> Regierung sich anbahnende Koalition.<br />

Die Zeitungen registrierten täglich immer neue und neue Herde von Zusammenstößen<br />

und Meutereien. Es protestierten Arbeiter, Soldaten, das kleine Stadtvolk. Die Soldatenfrauen<br />

verlangten Erhöhung <strong>der</strong> Unterstützungen, Wohnungen, Holz für den Winter. Die<br />

Schwarzhun<strong>der</strong>t-Agitation suchte im Hunger <strong>der</strong> Massen Nahrung zu finden. Das<br />

Moskauer Kadettenblatt 'Russkije Wedomosti' (Russische Nachrichten), in alter Zeit eine<br />

Mischung von Liberalismus und Volkstümlerei, blickte jetzt mit Haß und Ekel auf das<br />

echte Volk. »Über ganz Rußland hat sich eine breite Welle von Unruhen ergossen ...«,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 540


schrieben die liberalen Professoren. »Das Elementare und Sinnlose <strong>der</strong> Pogrome... -<br />

erschwert am meisten den Kampf gegen sie ... Zu Unterdrükkungsmaßnahmen zu greifen,<br />

die bewaffnete Macht einzusetzen ... aber gerade diese bewaffnete Macht, in Person von<br />

Soldaten <strong>der</strong> Lokalgarnisonen, spielt die Hauptrolle bei den Pogromen... Der Haufe ...<br />

geht auf die Stra& und beginnt sich als Herr <strong>der</strong> Lage zu fühlen.«<br />

Der Saratower Staatsanwalt berichtete dem Justizminister Maljantowitsch, <strong>der</strong> sich in<br />

<strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> zu den Bolschewiki gezählt hatte: »Das Hauptübel,<br />

gegen das anzukämpfen man keine Kräfte besitzt, sind die Soldaten ... Selbstjustiz, eigenmächtige<br />

Verhaftungen und Haussuchungen, allerhand Requisitionen, all das wird in<br />

den meisten Fällen durchgeführt, entwe<strong>der</strong> ausschließlich von Soldaten o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong>en<br />

unmittelbarer Beteiligung.« In Saratow selbst, in den Kreisstädten, Dörfern »von keiner<br />

Seite Hilfe für die Gerichtsbehörde«. Der Staatsanwaltschaft reicht die Zeit nicht, die<br />

Verbrechen zu registrieren, die das Volk begeht.<br />

Die Bolschewiki machten sich keine Illusionen über jene Schwierigkeiten, die ihnen<br />

zugleich mit <strong>der</strong> Machtübernahme entstehen würden. »Indem wir die Losung "Alle Macht<br />

den Sowjets" aufstellen«, sagte <strong>der</strong> neue Vorsitzende des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, »wissen<br />

wir, daß sie nicht alle Wunden im Handumdrehen heilen wird. Wir brauchen eine Macht,<br />

geschaffen nach dem Muster <strong>der</strong> Gewerkschaftsleitung, die den Streikenden alles gibt,<br />

was sie kann, nichts verheimlicht und, wenn sie nichts geben kann, es offen eingesteht ...«<br />

Eine <strong>der</strong> ersten Regierungssitzungen war <strong>der</strong> "Anarchie" in <strong>der</strong> Provinz, beson<strong>der</strong>s auf<br />

dem Lande, gewidmet. Wie<strong>der</strong> wurde als notwendig erkannt, »vor entschiedensten<br />

Maßnahmen nicht zurückzuschrecken«. So nebenbei entdeckt die Regierung, daß<br />

Ursache <strong>der</strong> Erfolglosigkeit des Kampfes gegen Unruhen die »ungenügende Popularität«<br />

<strong>der</strong> Regierungskommissare unter den Massen <strong>der</strong> Bauernbevölkerung sei. Um <strong>der</strong> Sache<br />

abzuhelfen, wird beschlossen, in allen von Unruhen erfaßten Gouvernernents eiligst<br />

»beson<strong>der</strong>e Komitees <strong>der</strong> Provisorischen Regierung« zu organisieren. Von nun an wird<br />

die Bauernschaft Exekutionsabteilungen mit Willkommensrufen empfangen müssen.<br />

Unüberwindliche historische Kräfte zogen die Herrschenden hinab. Niemand glaubte<br />

ernstlich an den Erfolg <strong>der</strong> neuen Regierung. Kerenskis Isoliertheit war unabän<strong>der</strong>lich.<br />

Seinen Verrat an Kornilow konnten die besitzenden Klassen nicht vergessen. »Wer bereit<br />

war, gegen die Bolschewiki zu kämpfen«, schreibt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Kakljugin, »wollte<br />

dies nicht im Namen und zur Verteidigung <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

tun.« An die Macht sich klammernd, hatte Kerenski Angst, von ihr irgendeinen Gebrauch<br />

zu mächen. Die wachsende Kraft des Wi<strong>der</strong>standes paralysierte schließlich seinen Willen<br />

völlig. Er wich allen Entschließungen aus und mied das Winterpalais, wo ihn die Situatiön<br />

zu Taten verpflichtete. Unmittelbar nach Bildung <strong>der</strong> neuen Regierung schob er den<br />

Vorsitz Konowalow zu und reiste selbst ins Hauptquartier ab, wo man ihn am allerwenigsten<br />

brauchte. Nach Petrograd kehrte er nur zurück, um das Vorparlament zu eröffnen.<br />

Obwohl die Minister ihn aufzuhalten suchten, reiste er am 14. wie<strong>der</strong> an die Front ab.<br />

Kerenski floh vor dem Geschick, das ihm auf dön Fersen folgte.<br />

Konowalow, Kerenskis nächster Mitarbeiter und Stellvertreter, geriet, nach Nabokows<br />

Worten, in Verzweiflung über Kerenskis Unbeständigkeit und völlige Unmöglichkeit,<br />

sich auf seine Worte zu verlassen. Doch die Stimmung <strong>der</strong> übrigen Kabinettsmitglie<strong>der</strong><br />

unterschied sich wenig von <strong>der</strong> seines Hauptes. Die Minister blickten besorgt um sich,<br />

horchten, warteten ab, halfen sich mit leeren Schreibereien und beschäftigten sich mit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 541


Lappalien. Justizminister Maljantowitsch war, nach Nabokows Erzählung, äußerst<br />

besorgt darüber, daß die Senatoren sich weigerten, Sokolow im schwarzen Gehrock als<br />

ihren neuen Kollegen aufzunehmen. »Was glauben Sie, was ist zu tun?« fragte besorgt<br />

Maljantowitsch. Nach dem von Kerenski eingeführten Ritual wurde strengstens darauf<br />

geachtet, daß Minister einan<strong>der</strong> nicht mit Namen und Vatersnamen, wie gewöhnliche<br />

Sterbliche, nannten, son<strong>der</strong>n nach dem Posten, den sie bekleideten: »Herr Minister so<br />

und so«, wie es sich eben für Vertreter einer starken Macht geziemt. Die Erinnerungen<br />

<strong>der</strong> Beteiligten klingen wie eine Satire. Über seinen Kriegsminister schrieb später<br />

Kerenski selbst: »Das war die mißlungenste aller Ernennungen: Werschowski trug in<br />

seine Tätigkeit etwas unfaßbar Komisches hinein.« Doch liegt das Unglück darin, daß ein<br />

Anflug unfreiwilliger Komik auf <strong>der</strong> gesamten Tätigkeit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />

lag: diese Menschen wußten nicht, was zu tun und wie sich zu drehen. Sie regierten<br />

nicht, son<strong>der</strong>n spielten Regierer, wie Scbuljungen Soldaten spielen, nur viel weniger<br />

unterhaltsam.<br />

Als Zeuge auftretend, charakterisierte Miljukow in sehr bestimmten Zügen den<br />

Zustand des Regierungsoberhauptes in jener Periode: »lndem er den Boden unter den<br />

Füßen verlor, offenbarte Kerenski je weiter desto mehr alle Anzeichen jener pathologischen<br />

Seelenverfassung, die man in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Medizin als "psychische Neurasthenie"<br />

bezeichnen kann. Dem intimen Freundeskreis war längst bekannt, daß Kerenski,<br />

nach Augenblicken äußersten Energieverfalls am Vormittag, in <strong>der</strong> zweiten Tageshälfte<br />

unter dem Einfluß medizinischer Mittel, die er einnahm, in einen Zustand äußerster<br />

Erregung geriet.« Miljukow erklärt den beson<strong>der</strong>en Einfluß des Kadetten-Ministers<br />

Kischkin, Psychiaters von Beruf, mit dessen Geschicklichkeit, den Patienten zu behandeln.<br />

Die Verantwortung für diese Informationen überlassen wir vollständig dem liberalen<br />

Historiker, <strong>der</strong> zwar alle Möglichkeiten besaß, die Wahrheit zu kennen, aber bei<br />

weitem nicht immer dieWahrheit zu seinem höchsten Kriterium erwählte.<br />

Die Angaben eines Kerenski so nahestehenden Menschen wie Stankewitsch bestätigen,<br />

wenn nicht die psychiatrische, so doch die psychologische Charakteristik, die Miljukow<br />

gegeben hat. »Kerenski machte auf mich«, schreibt Stankewitsch, »Eindruck durch die<br />

seltsame Ode seiner Umgebung und die merkwürdige, ungewöhnliche Ruhe. Um ihn<br />

herum waren nur seine unvermeidlichen "Adjutantchen". Doch gab es we<strong>der</strong> die Menge,<br />

von <strong>der</strong> er früher stets umgeben gewesen war, noch Delegationen noch Scheinwerfer ...<br />

Es entstanden irgendwelche eigenartigen Mußestunden, und ich hatte die seltene<br />

Möglichkeit, mich mit ihm stundenlang zu unterhalten, wobei er eine merkwürdige<br />

Saumseligkeit an den Tag legte.«<br />

Jede neue Regierungsumbildung vollzog sich im Namen einer starken Macht, und<br />

jedes neue Ministerium begann mit Dur-Tönen, um schon nach wenigen Tagen in Mutlosigkeit<br />

zu versinken. Es wartete dann auf einen Stoß von außen, um auseinan<strong>der</strong>zufallen.<br />

Den Stoß gab jedesmal die Bewegung <strong>der</strong> Massen. Die Regierungsumbildung, läßt man<br />

den trügerischen Schein beiseite, erfolgte immer in einer <strong>der</strong> Massenbewegung entgegengesetzten<br />

Richtung. Den Übergang von <strong>der</strong> einen Regierung zur an<strong>der</strong>en füllten Krisen<br />

aus, die jedesmal einen immer schleppen<strong>der</strong>en und schmerzhafteren Charakter<br />

annahmen. Jede neue Krise vergeudete einen Teil <strong>der</strong> Staatsmacht, schwächte die<br />

<strong>Revolution</strong>, demoralisierte die Regierenden. Das Exekutivkomitee <strong>der</strong> ersten zwei<br />

Monate vermochte alles, sogar die Bourgeoisie nominell zur Macht zu berufen. In den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 542


folgenden zwei Monaten vermochte die Provisorische Regierung gemeinsam mit dein<br />

Exekutivkomitee noch vieles, sogar die Offensive an <strong>der</strong> Front zu beginnen. Die dritte<br />

Regierung, unter dem geschwächten Exekutivkomitee, hatte noch die Fähigkeit, mit <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu beginnen, war jedoch unfähig, diese zu Ende zu<br />

führen. Die vierte Regierung, entstanden nach <strong>der</strong> längsten Krise, war bereits zu nichts<br />

fähig. Kaum geboren, lag sie im Sterben und harrte mit offenen Augen ihres Totengräbers.<br />

Die Bauernschaft vor dem Oktober<br />

Die Zivilisation machte den Bauern zu ihrem Lastesel. Die Bourgeoisie verän<strong>der</strong>te<br />

letzten Endes nur die Form <strong>der</strong> Last. Kaum geduldet an <strong>der</strong> Schwelle des nationalen<br />

Lebens, bleibt die Bauernschaft auch in <strong>der</strong> Wissenschaft eigentlich hinter <strong>der</strong>en Schwelle.<br />

Der Historiker interessiert sich gewöhnlich für die Bauernschaft ebensowenig wie <strong>der</strong><br />

Theaterkritiker für jene grauen Gestalten, die die Bühne fegen, Himmel und Erde auf<br />

dem Rücken tragen und die Gar<strong>der</strong>obe <strong>der</strong> Schauspieler sauberhalten. Die Teilnahme <strong>der</strong><br />

Bauernschaft an <strong>Revolution</strong>en <strong>der</strong> Vergangenheit blieb bis auf den heutigen Tag kaum<br />

beleuchtet.<br />

»Die fanzösische Bourgeoisie begann mit <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> Bauern«, schrieb Marx im<br />

Jahre 1848, »mit den Bauern eroberte sie Europa. Die preußische Bourgeoisie war so<br />

sehr in ihren engsten, nächstliegenden Interessen befangen, daß sie selbst diesen<br />

Bundesgenossen sich verscherzte und zu einem Werkzeuge in <strong>der</strong> Hand <strong>der</strong> feudalen<br />

Konterrevolution machte.« In dieser Gegenüberstellung ist richtig, was sich auf die<br />

deutsche Bourgeoisie bezieht; jedoch die Behauptung, »die französische Bourgeoisie<br />

begann mit <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> Bauern«, ist ein Wi<strong>der</strong>hall <strong>der</strong> französischen offiziellen<br />

Legende, die zu ihrer Zeit sogar Marx beeinflußte. In Wirklichkeit wi<strong>der</strong>setzte sich die<br />

Bourgeoisie im eigentlichen Sinne des Wortes, soweit ihre Kräfte reichten, <strong>der</strong> Bauernrevolution.<br />

Schon in den Landinstruktionen von 1789 warfen die örtlichen Führer des<br />

Dritten Standes, unter vorgeblicher Redigierung, die schärfsten und kühnsten For<strong>der</strong>ungen<br />

hinaus. Die viel zitierten Beschlüsse, vom 4. August, von <strong>der</strong> Nationalversammlung<br />

angenommen unter dein Feuerschein <strong>der</strong> Brände auf dem Lande, blieben lange pathetische<br />

Formel ohne Inhalt. Die Bauern, die sich mit dein Betrug nicht abfinden wollten,<br />

beschwor die Konstituierende Versammlung, »zurückzukehren zur Erfüllung ihrer<br />

Pflichten und sich mit gebühren<strong>der</strong> Achtung gegen das Eigentum [das feudale!] zu<br />

verhalten«. Die Zivilgarde wandte sich mehr als einmal gegen die Dörfer, um die Bauern<br />

zu unterdrücken. Die städtischen Arbeiter, welche Partei für die Aufständischen nahmen,<br />

empfingen die bürgerlichen Exekutoren mit Steinen und Dachziegeln.<br />

Fünf Jahre lang erhoben sich die französischen Bauern in allen kritischen Momenten<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, um den Schacher <strong>der</strong> Feudalen mit den bürgerlichen Eigentümern zu<br />

verhin<strong>der</strong>n. Die Pariser Sansculotten, die ihr Blut für die Republik vergossen, befreiten<br />

die Bauern aus den feudalen Fesseln. Die französische Republik von 1792 bedeutete ein<br />

neues soziales Regime, zum Unterschiede von <strong>der</strong> deutschen Republik von 1918 o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

spanischen Republik von 1931, die das alte Regime minus Dynastie bedeuten. Im Kern<br />

dieses Unterschiedes ist nicht schwer, die Agrarfrage zu entdecken.<br />

Der französische Bauer dachte nicht unmittelbar in die Republik: er wollte den Gutsbesitzer<br />

abwerfen. Die Pariser Republikaner vergaßen gewöhnlich das Dorf. Aber nur <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 543


Bauerndruck gegen die Gutsbesitzer sicherte die Schaffung <strong>der</strong> Republik, indem er für<br />

sie den Boden vom feudalen Gerümpel säuberte. Eine Republik mit Adel ist keine<br />

Republik. Das hatte sehr gut <strong>der</strong> alte Machiavelli begriffen, <strong>der</strong> vierhun<strong>der</strong>t Jahre vor<br />

Eberts Präsidentschaft, in seiner florentinischen Verbannung, zwischen Drosseljagd und<br />

Tricktrackspiel mit dem Fleischer, die Erfahrung demokratischer Umwälzungen verallgemeinerte:<br />

»Wer eine Republik in einem Lande schaffen will, wo viele Adlige sind, wird es<br />

nicht machen können, ohne diese zuerst alle auszurotten.« Die <strong>russischen</strong> Muschiks<br />

waren eigentlich <strong>der</strong> gleichen Meinung, und sie bewiesen das offen, ohne jeden "Machiavellismus".<br />

Spielten Petrograd und Moskau die leitende Rolle in <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Soldaten, so gehörte <strong>der</strong> erste Platz in <strong>der</strong> Bauernbewegung dem rückständigen groß<strong>russischen</strong><br />

Agrarzentrum und dem mittleren Wolgagebiet. Hier waren von den Überresten<br />

<strong>der</strong> Leibeigenschaft beson<strong>der</strong>s tiefe Wurzeln erhalten geblieben, das adlige Eigentum an<br />

Boden trug einen beson<strong>der</strong>s scharf ausgeprägten parasitären Charakter, die Differenzierung<br />

<strong>der</strong> Bauernschaft war zurückgeblieben und entblößte um so stärker die Armut des<br />

Dorfes. In diesem Landstrich lo<strong>der</strong>t die Bewegung bereits im März auf und erhält<br />

sogleich Terrorfarbung. Durch Bemühungen <strong>der</strong> regierenden Parteien aber wird sie bald<br />

in das Bett <strong>der</strong> Versöhnlerpolitik geleitet.<br />

In <strong>der</strong> industriell rückständigen Ukraine gewann die für Export arbeitende Landwirtschaft<br />

fortgeschritteneren, folglich kapitalisti-scheren Charakter. Die Schichtung <strong>der</strong><br />

Bauernschaft war hier weit stärker als in Großrußland. Der Kampf um nationale Befreiung<br />

bremste unvermeidlich, wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkt, alle an<strong>der</strong>en<br />

Formen des sozialen Kampfes. Jedoch die Unterschiede <strong>der</strong> territorialen und sogar nationalen<br />

Bedingungen äußerten sich letzten Endes nur in den Unterschieden <strong>der</strong> Fristen.<br />

Gegen Herbst wird fast das gesamte Land zum Gebiet des Bauernaufstandes. Von sechshun<strong>der</strong>tvierundzwanzig<br />

Kreisen, die das alte Rußland bildeten, werden von <strong>der</strong><br />

Bewegung vierhun<strong>der</strong>tzweiundachtzig Kreise o<strong>der</strong> siebenundsiebzig Prozent erfaßt; ohne<br />

die Randgebiete, die sich durch beson<strong>der</strong>e Agrarverhältnisse auszeichnen: Norddistrikt,<br />

Transkaukasien, Steppengebiet und Sibirien, sind von vierhun<strong>der</strong>teinundachtzig Kreisen<br />

vierhun<strong>der</strong>meununddreißig Kreise o<strong>der</strong> einundneunzig Prozent in den Bauernaufstand<br />

hineingezogen.<br />

Die Kampfarten unterscheiden sich je nachdem, ob es sich um Feld, Wald o<strong>der</strong> Weideland,<br />

um Pacht o<strong>der</strong> Lohnarbeit handelt. Der Kampf än<strong>der</strong>t Formen und Methoden an<br />

verschiedenen Etappen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Aber im allgemeinen läuft die Bewegung auf<br />

dem Lande, mit unvermeidlichem Nachhinken, durch die gleichen zwei großen Stadien<br />

wie die Bewegung <strong>der</strong> Städte. Auf <strong>der</strong> ersten Etappe paßt sich die Bauernschaft noch<br />

dem neuen Regime an und versucht, ihre Aufgaben vermittels <strong>der</strong> neuen Institutionen zu<br />

lösen. Jedoch es geht auch hier mehr um die Form als um den Inhalt. Eine Moskauer<br />

liberale Zeitung, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in volkstümierischen Farben schillerte, gab mit<br />

lobenswerter Unmittelbarkeit den Gefühlen <strong>der</strong> Gutshesitzerkreise im Sommer 1917<br />

Ausdruck: »Der Muschik blickt um sich; noch tut er nichts, doch betrachtet genau seine<br />

Augen, und die Augen werden euch sagen, daß das ganze Land um ihn herum - sein<br />

Land ist.« Einen unersetzbaren Schlüssel zur "friedlichen" Politik <strong>der</strong> Bauernschaft bildet<br />

das Apriltelegramm eines <strong>der</strong> Tambower Dörfer an die Provisorische Regierung:<br />

»Wollen im Interesse <strong>der</strong> errungenen Freiheiten Ruhe bewahren, verbietet deshalb, über<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 544


Gutsbesitzerboden zu verfügen vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung, an<strong>der</strong>nfalls<br />

werden wir Blut fließen lassen, aber verhin<strong>der</strong>n, daß ihn an<strong>der</strong>e beackern.«<br />

Der Muschik konnte um so eher den Ton ehrerbietiger Drohung einhalten, als er beim<br />

Pochen auf seine historischen Rechte fast niemals unmittelbar mit dem Staat zusammenstieß.<br />

Am Orte fehlten Organe <strong>der</strong> Regierungsmacht. Über die Miliz verfügten die<br />

Gemeindekomitees. Die Gerichte waren desorganisiert. Die örtlichen Kommissare<br />

ohnmächtig. »Wir haben dich gewählt«, schrien die Bauern, »wir werden dich auch<br />

davonjagen.«<br />

Indem sie den Kampf <strong>der</strong> vorangegangenen Monate steigert, nähert sich die Bauernschaft<br />

während des Sommers immer mehr dem Bürgerkrieg und überschreitet mit ihrem<br />

linken Flügel dessen Schwelle. Laut Bericht <strong>der</strong> Bodenbesitzer des Taganroger Kreises<br />

ergreifen die Bauern eigenmächtig Besitz von <strong>der</strong> Heuernte, nehmen den Boden an sich,<br />

verhin<strong>der</strong>n das Pflügen, bestimmen eigenmächtig Pachtpreise, entfernen Besitzer und<br />

Verwalter. Laut Meldung des Nischegoro<strong>der</strong> Kommissars häuften sich im Gouvernement<br />

Gewaltakte und Aneignungen von Acker und Wald. Die Kreiskommissare fürchten, in<br />

den Augen <strong>der</strong> Bauern als Verteidiger <strong>der</strong> Großgrundbesitzer zu erscheinen. Die Dorfmiliz<br />

ist unzuverlässig: »Es geschahen Fälle, wo Milirbeamte sich gemeinsam mit <strong>der</strong><br />

Menge an Gewaltakten beteiligten.« Im Schlüsselburger Kreis untersagt das Gemeindekomitee<br />

den Bodenbesitzern, ihren eigenen Wald zu fällen. Der Gedanke <strong>der</strong> Bauern ist<br />

einfach: Keine Konstituierende Versammlung wird aus den Baumstümpfen die<br />

abgeschlagenen Bäume wie<strong>der</strong> aufleben lassen können. Der Kommissar des Hofministeriums<br />

beschwert sich über Wegnahme <strong>der</strong> Heuernte: Heu für die Schloßpferde muß<br />

gekauft werden! Im Kursker Gouvernement verteilen die Bauern unter sich<br />

Tereschtschenkos gedüngte Brachfel<strong>der</strong>: <strong>der</strong> Eigentümer ist Minister des Auswärtigen.<br />

Dem Pferdezüchter des Orlower Gouvernements, Schnei<strong>der</strong>, erklärten die Bauern, sie<br />

würden nicht nur den Klee auf seinem Gut abmähen, son<strong>der</strong>n ihn selber »zu den Soldaten<br />

stecken«. Dem Verwalter des Rodsjankoschen Gutes befahl das Gemeindekomitee, die<br />

Ernte den Bauern abzutreten: »Wenn Sie dem Landkomitee nicht gehorchen, wird an<strong>der</strong>s<br />

mit Ihnen verfahren, Sie werden verhaftet werden.« Unterschrift und Siegel.<br />

Aus allen Ecken strömen Beschwerden und Geschrei: von den Betroffenen, von den<br />

Lokalbehörden, von edlen Zeugen. Die Telegramme <strong>der</strong> Bodenbesitzer stellen die<br />

glänzendste Wi<strong>der</strong>legung aller plumpen Klassenkampftheorien dar. Namhafte Gutsbesitzer,<br />

Eigentümer von Latifundien, geistliche und weltliche Leibeigenschaftsanhänger sind<br />

ausschließlich um das allgemeine Wohl besorgt. Feind ist nicht <strong>der</strong> Bauer, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

Bolschewik, manchmal <strong>der</strong> Anarchist. Die eigenen Güter interessieren die Lanlords<br />

einzig vom Standpunkte des Gedeihens des Vaterlandes.<br />

Dreihun<strong>der</strong>t Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kadettenpartei, aus dem Gouvernement Tschernigow,<br />

erklären: angestiftet von den Bolschewiki, vertreiben die Bauern die Kriegsgefangenen<br />

von <strong>der</strong> Arbeit und gehen zum eigenmächtigen Einholen <strong>der</strong> Ernte über: als Folge droht<br />

»die Unmöglichkeit, Steuern zu zahlen«. Den Sinn des Daseins erblickten die liberalen<br />

Gutsbesitzer in <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> Staatskasse! Die Staatsbankfiliale in Podolien<br />

beschwert sich über das eigenmächtige Vorgehen <strong>der</strong> Gemeindekomitees, »<strong>der</strong>en Vorsitzende<br />

kriegsgefangene Österreicher sind«. Hier spricht verletzter Patriotismus! Im<br />

Gouvernement Wladimir, auf dem Gutshof des Notars Odinzow, wird das »für wohltätige<br />

Institutionen angefrrtigte Baumaterial« weggenommen. Notare leben ausschließlich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 545


für die Taten <strong>der</strong> Menschenliebe! Podoliens Bischof meldet die eigenmächtige<br />

Wegnahme von Wald, <strong>der</strong> dem bischöflichen Hause gehört. Der Oberprokurator beklagt<br />

sich über die Enteignung von Wiesenland des Alexan<strong>der</strong>-Newski-Klosters. Die Vorsteherin<br />

des Kislarsker Klosters beschwört alle Donner gegen die Mitglie<strong>der</strong> des Lokalsowjets:<br />

sie mischen sich in die Kloster-angelegenheiten, konfiszieren zu eigenem Nutzen<br />

die Pachtgel<strong>der</strong>, »hetzen die Nonnen gegen die Obrigkeit auf«. In all diesen Fällen sind<br />

unmittelbar die Interessen <strong>der</strong> Kirche betroffen. Graf Tolstoi, einer <strong>der</strong> Söhne Leo<br />

Tolstois, berichtet im Namen des Bundes <strong>der</strong> Landwirte des Ufaer Gouvernements, daß<br />

die Übergabe des Bodens an die Landkomitees, »ohne den Beschluß <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung abzuwarten ... einen Ausbruch von Unzufriedenheit ... unter den<br />

bäuerlichen Eigentümern hervorrufen wird, <strong>der</strong>en es im Gouvernement über zweihun<strong>der</strong>ttausend<br />

gibt«. Der vornehme Gutsbesitzer ist ausschließlich um den kleinen Bru<strong>der</strong><br />

besorgt. Senator Belgardt, Bodenbesitzer im Gouvernement Twer, ist bereit, sich mit dem<br />

Waldfällen abzufinden, trauert aber, daß die Bauern »sich <strong>der</strong> bürgerlichen Regierung<br />

nicht unterwerfen wollen«. Der Tambower Gutsbesitzer Weljaminow for<strong>der</strong>t die Rettung<br />

zweier Güter, die »den Bedürthissen <strong>der</strong> Armee dienen«. Zufällig sind es seine eigenen<br />

Güter. Für Philosophen des Idealismus sind die gutsherrlichen Telegramme aus dem<br />

Jahre 1917 ein wahrer Schatz. Der Materialist wird in ihnen eher eine Musterschau des<br />

Zynismus erblicken. Er wird vielleicht hinzufügen, daß große <strong>Revolution</strong>en die Besitzenden<br />

sogar <strong>der</strong> Fähigkeit einer geziemenden Heuchelei berauben.<br />

Die Appelle <strong>der</strong> Leidtragenden an Kreis und Gouvernementsbehörden, den Innenminister,<br />

den Vorsitzenden des Ministerrats bleiben gewöhnlich resultatlos. Bei wem nun<br />

Hilfe suchen? Bei Rodsjanko, dem Vorsitzenden aer Reichsduma. Zwischen den Julitagen<br />

und dem Kornilowaufstand fühlt sich <strong>der</strong> Kammerherr wie<strong>der</strong> als einflußreiche<br />

Figur: vieles geschieht auf seinen telephonischen Anruf hin.<br />

Beamte des Innenministeriums versenden Zirkulare an die Ortsbehörden, wonach die<br />

Schuldigen dem Gericht zu übergeben seien. Waschechte Samaraer Gutsbesitzer telegraphieren<br />

zurück: »Telegramme ohne Unterschrift <strong>der</strong> Minister-<strong>Sozialisten</strong> haben keine<br />

Kraft.« So zeigt sich <strong>der</strong> Nutzen des Sozialismus. Zeretelli muß seine Schüchternheit<br />

überwinden: am 8. Juli schickt er eine wortreiche Verfügung über Ergreifung »schneller<br />

und entschiedener Maßnahmen«. Wie die Gutsbesitzer ist auch Zeretelli nur um Armee<br />

und Staat besorgt. Den Bauern jedoch scheint es, Zeretelli schütze die Gutsbesitzer.<br />

In den Unterdrückungsmethoden <strong>der</strong> Regierung tritt ein Umschwung ein. Bis Juli war<br />

vorwiegend gutes Zureden angewandt worden. Entsandte man auch Truppen in die<br />

Unruheherde, so doch nur als Deckung für den Redner <strong>der</strong> Regierung. Nach dem Sieg<br />

über die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten werden Kavalleriekommandos, nun ohne<br />

Beschwichtiger, den Gutsbesitzern zur unmittelbaren Verfügung gestellt. Im Kasaner<br />

Gouvernement, einem <strong>der</strong> unruhigsten, gelang es - nach den Worten des jungen Historikers<br />

Jugow - nur »durch Verhaftungen, Einquartierung bewaffneter Kommandos in den<br />

Dörfern, sogar Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> Prügelstrafe ... die Bauern eine Weile zu zwingen,<br />

Ruhe zu halten«. Auch an an<strong>der</strong>en Stellen bleiben die Repressalien weht ohne Wirkung.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> in Mitleidenschaft gezogenen Güter vermin<strong>der</strong>te sich ein wenig im Juli: von<br />

fünfhun<strong>der</strong>tsechzehn auf fünfhun<strong>der</strong>tdrei. Im August gelang es <strong>der</strong> Regierung, weitere<br />

Erfolge zu erringen: die Zahl <strong>der</strong> unruhigen Kreise fiel von dreihun<strong>der</strong>tfünfundzwanzig<br />

auf zweihun<strong>der</strong>tundachtzig, um elf Prozent; die Zahl <strong>der</strong> von Unruhen erfaßten Güter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 546


sank sogar um dreiunddreißig Prozent.<br />

Einige <strong>der</strong> bisher unruhigsten Gebiete verstummen o<strong>der</strong> treten in den Hintergrund.<br />

Dagegen beschreiten Gebiete, gestern noch zuverlässig, den Weg des Kampfes. Vor noch<br />

kaum einem Monat entwarf <strong>der</strong> Pensaer Kommissar ein tröstliches Bild: »Das Dorf ist<br />

mit dem Einbringen <strong>der</strong> Ernte beschäftigt ... Man bereitet sich für die Wahlen zu den<br />

Gemeindesemstwos vor. Die Periode <strong>der</strong> Regierungskrise ist ruhig verlaufen. Die<br />

Bildung <strong>der</strong> neuen Regierung ist mit großer Befriedigung aufgenommen worden.« Im<br />

August bleibt von diesem Idyll bereits keine Spur: »Massenplün<strong>der</strong>ung von Gärten und<br />

Waldfrevel ... Zur Liquidierung <strong>der</strong> Unruhen muß Waffengewalt angewandt werden.«<br />

Dem Gesamtcharakter nach gehört die Sommerbewegung noch immer zur<br />

"friedlichen" Periode. Doch kann man an ihr bereits zwar schwache, aber untrügliche<br />

Radikalisierungssymptome beobachten: nehmen in den ersten vier Monaten direkte<br />

Überfälle auf Gutshöfe ab, so beginnen sie im Juli sich wie<strong>der</strong> zu mehren. Die Forscher<br />

stellen im allgemeinen folgende Klassifizierung <strong>der</strong> Julizusammenstöße in sinken<strong>der</strong><br />

Reihe fest: Aneignungen von Wiesen, Ernten, Lebensmitteln und Viehfütter, Ackerland<br />

und Inventar; Kampf um die Verdingungsmodahtäten; Plün<strong>der</strong>ungen von Gütern. Im<br />

August Aneignungen von Ernten, Lebensmitteln und Futtervorräten, Wiesen und Heu,<br />

Land und Wald; Agrarterror.<br />

Anfang September wie<strong>der</strong>holt Kerenski, in seiner Eigenschaft als Höchstkomrnandieren<strong>der</strong>,<br />

in einem Son<strong>der</strong>befrhl die kürzlichen Argumente und Drohungen seines Vorgängers<br />

Kornilow gegen "Gewaltakte" <strong>der</strong> Bauern. Einige Tage später schreibt Lenin:<br />

»Entwe<strong>der</strong> ... den gesamten Boden sofort den Bauern ... O<strong>der</strong> aber die Gutsbesitzer und<br />

Kapitalisten ... werden die Sache zu einem unendlich grausamen Bauernaufstand<br />

treiben.« Im Laufe des folgenden Monats wurde das Tatsache.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> von Agrarunruhen erfaßten Güter stieg im September im Vergleich zum<br />

August um dreißig Prozent; im Oktober im Vergleich zum September um dreiundvierzig<br />

Prozent. Auf September und die drei ersten Oktoberwochen entfällt über ein Drittel aller<br />

seit dem März registrierten Agrarkonflikte. Ihre Schärfe war jedoch unermeßlich stärker<br />

angewachsen als ihre Zahl. In den ersten Monaten hatte man sogar offenen Aneignungen<br />

irgendwelcher Grundstücke noch die Form von Abmachungen verliehen, gemil<strong>der</strong>t und<br />

gedeckt durch die Versöhnlerorgane. Jetzt fällt die legale Maskierung weg. Je<strong>der</strong> Zweig<br />

<strong>der</strong> Bewegung nimmt herausfor<strong>der</strong>nden Charakter an. Von verschiedenen Arten und<br />

Graden des Druckes schreiten die Bauern zu gewaltsamen Enteignungen von Teilen <strong>der</strong><br />

gutsherrlichen Wirtschaft, zu Plün<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Adelsnester, Brandlegung auf den<br />

Gutshöfen, sogar zum Morden <strong>der</strong> Besitzer und Verwalter.<br />

Der Kampf um Abän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pachtbedingungen, <strong>der</strong> im Juni die Zahl <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ungen<br />

übersteigt, beträgt im Oktober nicht mal ein Vierzigstel <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ungen,<br />

wobei auch die Pächterbewegung ihren Charakter än<strong>der</strong>t, indem sie nur eine an<strong>der</strong>e<br />

Form zur Vertreibung <strong>der</strong> Gutsbesitzer wird. Das Verbot des Kaufs und Verkaufs von<br />

Boden und Wald macht <strong>der</strong> direkten Aneignung Platz. Massenfälle von Abholzen und<br />

Abweiden nehmen den Charakter planmäßiger Vernichtung des gutsherrlichen Eigentums<br />

an. Fälle offener Gutsplün<strong>der</strong>ungen sind im September zweihun<strong>der</strong>tneunundsiebzig<br />

registriert; sie bilden bereits über ein Achtel sämtlicher Konflikte. Der Oktober weist<br />

zweiundvierzig Prozent aller Plün<strong>der</strong>ungsfälle auf; von <strong>der</strong> Miliz zwischen Februar- und<br />

Oktoberumwälzung registriert.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 547


Beson<strong>der</strong>s erbitterten Charakter nahm <strong>der</strong> Kampf um den Wald an. Dörfer brannten<br />

häufig bis auf den Boden nie<strong>der</strong>. Bauholz wurde stark bewacht und teuer verkauft. Der<br />

Bauer war ausgehungert nach Holz. Überdies nahte die Zeit, Holzvorräte für den Winter<br />

zu sichern. Aus den Gouvernements Moskau, Nischegorod, Petrograd, Orel, Wolhynien,<br />

von allen Enden des Landes kommen Klagen über Waldplün<strong>der</strong>ungen und gewaltsamen<br />

Raub fertiger Holzvorräte. »Die Bauern fällen eigenmächtig und unbarmherzig Wald.« -<br />

»Durch die Bauern sind zweihun<strong>der</strong>t Deßjatinen gutsherrlichen Waldes<br />

nie<strong>der</strong>gebrannt.« - »Die Bauern <strong>der</strong> Kreise Klimowitsch und Tscherikow vernichten den<br />

Wald und zerstören die Wintersaat.« ... Die Waldwachen retten sich durch Flucht. Es<br />

stöhnt <strong>der</strong> Adelswald, Holzspäne fliegen durchs ganze Land. Das Bauernbeil schlägt<br />

während des Herbstes einen fieberhaften <strong>Revolution</strong>stakt.<br />

In den Brot importierenden Bezirken verschlimmerte sich die Ernährungsfrage auf dem<br />

Lande noch schärfer als in den Städten. Es fehlten nicht nur Lebensmittel, son<strong>der</strong>n auch<br />

Samen. In den exportierenden Städten ist die Lage infolge des intensiven Hinauspumpens<br />

<strong>der</strong> Lebensmittdbestände nicht viel besser. Das Steigen <strong>der</strong> festen Preise für Getreide<br />

trifft hart die Armut. In einer Reihe von Gouvernements beginnen Hungerrevolten,<br />

Plün<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Getreidespeicher, Überfälle auf Organe <strong>der</strong> Lebensmittelverteilung.<br />

Die Bevölkerung greift zu Brotsurrogaten. Es kommen Berichte über Skorbut- und<br />

Typhuserkrankungen, über Selbstmorde aus Verzweiflung. Hunger o<strong>der</strong> dessen Gespenst<br />

machen die Nachbarschaft von Wohlstand und Luxus beson<strong>der</strong>s unerträglich. Die von<br />

<strong>der</strong> Not am meisten betroffenen Dorfschichten rücken in die vor<strong>der</strong>sten Reihen.<br />

Die Wellen <strong>der</strong> Erbitterung tragen aus <strong>der</strong> Tiefe nicht wenig Schlamm empor. Im<br />

Gouvernement Kostroma kann man »Schwarzhun<strong>der</strong>t- und antijüdische Agitation<br />

beobachten. Das Verbrechertum wächst ... Es läßt sich ein Schwinden des Interesses für<br />

das politische Leben des Landes wahrnehmen«. Der letzte Satz im Bericht des Kommissares<br />

bedeutet: die gebildeten Klassen kehren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den Rücken. Plötzlich<br />

ertönt aus dem Podoler Gouvernement eine Stimme des Sehwarzhun<strong>der</strong>tmonarchismus:<br />

Das Komitee des Dorfes Demidowka anerkennt die provisorische Regierung nicht und<br />

betrachtet als »treusten Führer des <strong>russischen</strong> Volkes« Kaiser Nikolai Alexandrowitseh:<br />

falls die Provisorische Regierung nicht abtritt, »schließen wir uns dem Deutschen an«.<br />

So kühne Geständnisse bleiben jedoch vereinzelt: die Monarchisten unter den Bauern<br />

hatten sich zusammen mit den Gutsbesitzem längst umgefärbt. Stellenweise, wie im<br />

gleichen Podolien, plün<strong>der</strong>n die Truppen vereint mit den Bauern Schnapsbrennereien.<br />

Der Kommissar meldet Anarchie. »Es gehen Dörfer und Menschen zugrunde, die<br />

<strong>Revolution</strong> geht zugrunde.« Nein, die <strong>Revolution</strong> ist weit vom Zugrundegehen. Sie bahnt<br />

sich nur ein tieferes Bett. Ihre rasende Wasser nähern sich <strong>der</strong> Mündung.<br />

In <strong>der</strong> Nacht auf den 8. Oktober rufen die Bauern des Dorfes Sytschewka im Gouvernement<br />

Tambow, mit Knütteln und Heugabeln von Hof zu Hof gehend, groß und klein<br />

zusammen, um den Gutsbesitzer Romanow zu plün<strong>der</strong>n. In <strong>der</strong> Gemeindeversammlung<br />

schlägt eine Gruppe vor, das Gut auf geordnetem Wege wegzunehmen, das Inventar<br />

unter die Bevölkerung zu verteilen und die Gebäude für Kulturzwecke zu erhalten. Die<br />

Armut for<strong>der</strong>t, den Gutshof nie<strong>der</strong>zubrennen, daß kein Stein auf dem an<strong>der</strong>en bleibt. Die<br />

Armut ist in Mehrzahl. In <strong>der</strong> gleichen Nacht erfaßte ein Flammenmeer die Güter <strong>der</strong><br />

ganzen Gemeinde. Es wurde alles eingeäschert, was nicht feuerfest war, sogar das<br />

Versuchsfeld; das Zuchtvieh wurde abgeschlachtet, »man soff bis zum Wahnsinn«. Das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 548


Feuer griff von Dorfgemeinde auf Dorfgemeinde über. Das bastbeschuhte Heer begnügt<br />

sich bereits nicht mehr mit den patriarchalischen Heugabeln und Sensen. Der Gouvernementskommissar<br />

telegraphiert »Bauern und unbekannte Personen, bewaffnet mit Revolvern<br />

und Handgranaten, plün<strong>der</strong>n die Güter im Ranenburger und Rjaschker Kreise.«<br />

Die hohe Technik hat <strong>der</strong> Krieg in den Bauernaufstand hineingebracht. Der Bund <strong>der</strong><br />

Bodenbesitzer meldet, in drei Tagen seien vierundzwanzig Güter nie<strong>der</strong>gebrannt worden.<br />

»Die Lokalbehörden sind ohnmächtig, die Ordnung wie<strong>der</strong> herzustellen.« Mit Verspätung<br />

trifft eine vom Armeebefehlshaber abkommandierte Militärabteilung ein, Belagerungszustand<br />

wird verhängt, Versammlungen werden verboten, die Verhaftung <strong>der</strong><br />

Rädelsführer geht vor sich. Die Gräben sind angefüllt mit Sachen aus Gutshäusern, die<br />

Flüsse verschlingen nicht wenig Geraubtes.<br />

Der Pensaer Bauer Begischew erzählt: »Im September führen alle, das Gut Logwin zu<br />

plün<strong>der</strong>n (es war auch schon 1905 geplün<strong>der</strong>t worden), zum Gut, und vom Gute zogen<br />

sich Karawanen von Gespannen, Hun<strong>der</strong>te von Bauern und Dorfweibern trieben und<br />

führten Vieh weg, fuhren mit Getreide und so weiter davon.« Die von <strong>der</strong> Semstwoverwaltung<br />

angefor<strong>der</strong>te Soldatenabteilung versuchte einiges von dem Geplün<strong>der</strong>ten zu<br />

retten, aber es versammelten sich in <strong>der</strong> Gemeinde etwa fünfhun<strong>der</strong>t Weiber und Bauern,<br />

und die Abteilung »entfernte sich«. Die Soldaten waren offenbar gar nicht so darauf<br />

erpicht, die verletzten Gutsherrenrechte wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />

Seit Ende September begannen die Bauern im Taurischen Gouvernement nach den<br />

Erinnerungen des Bauern Haponenko »Ökonomien zu plün<strong>der</strong>n, Inspektoren<br />

wegzujagen, Korn aus den Speichern, Arbeitsvieh, totes Inventar wegzuholen ... Sogar<br />

Fensterläden, Türen <strong>der</strong> Göbäude, Fußböden aus den Zimmern, Zinkdächer wurden<br />

abgerissen und weggenommen« ... »Anfangs kam man nur zu Fuß, nahm und trug<br />

davon«, erzählt <strong>der</strong> Minsker Bauer Grunjko, »dann spannte Pferde an, wer welche hatte,<br />

und ganze Wagenzüge führten Ladungen weg. Unermüdlich ... So, wie man um 12 Uhr<br />

mittags begann, fuhr und trug man zwei Tage und Nächte ohne Rast. In diesen achtundvierzig<br />

Stunden säuberte man alles restlos.« Die Aneignung von Gut und Habe wurde,<br />

nach den Worten des Moskauer Bauern Kusmitschew, folgen<strong>der</strong>maßen verteidigt: »Das<br />

war unser Gutsbesitzer, wir haben für ihn gearbeitet, und das Vermögen, das er hatte,<br />

muß uns allein gehören.« Ehemals sagte <strong>der</strong> Adlige dem Leibeigenen: »Ihr seid mein,<br />

und was ihr habt, ist mein.« Jetzt hallte es von den Bauern wi<strong>der</strong>: »Unser <strong>der</strong> Herr, und<br />

unser sein Hab und Gut.«<br />

»In einigen Orten begann man, die Gutsbesitzer nachts aufzustören«, erinnert sich ein<br />

an<strong>der</strong>er Minsker Bauer, Nowikow. »Immer häufiger brannten Gutshöfe.« Die Reihe kam<br />

an das Gut des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, des ehemaligen Höchstkommandierenden.<br />

»Als man alles weggenommen hatte, was wegzunehmen war, ging man daran,<br />

die Öfen abzureißen, die Ofenklappen runterzuholen, Fußböden und Bretter rauszutragen<br />

und all das heimzuschleppen« ... Hinter diesen Demolierungstaten stand die uralte,<br />

Jahrtausende alte Berechnung aller Bauernkriege: bis auf den Boden die befestigten<br />

Positionen des Feindes vernichten, keinen Platz übriglassen, wo er sein Haupt hinlegen<br />

könnte. »Die Vernünfrigeren«, erinnert sich <strong>der</strong> Kursker Bauer Zygankow, »sagten:<br />

"Man darf die Gebäude nicht vernichten, wir werden sie nötig haben ... für Schulen und<br />

Krankenhäuser", in <strong>der</strong> Mehrzahl aber gab es solche, die schrien, daß man alles<br />

vernichten müsse, damit für jeden Fall unsern Feinden kein Versteck bleibt.« - »Die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 549


Bauern eigneten sich die gesamte gutsherrliche Habe an«, erzählt <strong>der</strong> Orlower Bauer<br />

Sawtschenko, »jagten die Gutsbesitzer von den Gütern, rissen aus den gutsherrlichen<br />

Häusern Fenster, Türen, Fußböden, Decken heraus ... Die Soldaten sagten, wenn man<br />

die Wolfshöhlen aushebt, muß man auch den Wölfen den Garaus machen. Solcher<br />

Drohungen wegen hielten sich die vornehmsten und größten Gutsbesitzer versteckt,<br />

darum hat es Morde an Gutsbesitzern nicht gegeben.«<br />

Im Dorfe Salessje, Gouvernement Witebsk, brannte man Speicher voll Korn und Heu<br />

nie<strong>der</strong> auf dem Gut, das dem Franzosen Bernard gehörte. Die Muschiks zeigten um so<br />

weniger Lust, einen Unterschied in <strong>der</strong> Staatszugehörigkeit zu machen, als viele Gutsbesitzer<br />

sich beeilt hatten, ihren Grund und Boden auf privilegierte Auslän<strong>der</strong> zu<br />

überschreiben. »Die französische Gesandtschaft bittet, Maßnahmen zu ergreifen.« In den<br />

an <strong>der</strong> Front gelegenen Landstrichen war es Mitte Oktober schwer, "Maßnahmen" zu<br />

ergreifen, sogar wenn man <strong>der</strong> französischen Gesandtschaft gefällig sein wollte.<br />

Die Plün<strong>der</strong>ung eines großen Gutes bei Rjasan dauerte vier Tage, »an den Plün<strong>der</strong>ungen<br />

nahmen sogar Kin<strong>der</strong> teil«. Der Bund <strong>der</strong> Bodenbesitzer brachte dem Ministerium<br />

zur Kenntnis, daß, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden sollten, »Lynchjustiz,<br />

Hunger und Bürgerkrieg entstchen müssen«. Unverständlich, weshalb die Gutsbesitzer<br />

vom Bürgerkrieg noch immer in Zukunftsform sprechen.<br />

Auf dem Genossenschaftskongreß Anfang September sagte Ber-kenheim, einer <strong>der</strong><br />

Führer <strong>der</strong> starken Handelsbauernschaft: »Ich bin überzeugt, daß noch nicht ganz<br />

Rußland sich in ein Irrenhaus verwandelt hat und vorläufig hauptsächlich die Bevölkerung<br />

<strong>der</strong> Großstädte den Verstand verlor.« Diese selbstzufriedene Stimme des soliden<br />

und konservativen Teils <strong>der</strong> Bauernschaft kam hoffnungslos spät: gerade in diesem<br />

Monat fiel das Dorf völlig aus allen Vernunftsangeln und ließ an Wildheit des Kampfes<br />

alle »Irrenhäuser« <strong>der</strong> Städte weit zurück.<br />

Im April hatte Lenin es noch für möglich gehalten, daß die patriotischen Genossenschaftler<br />

und Kulaken die Hauptmasse <strong>der</strong> Bauernschaft auf den Weg <strong>der</strong> Versöhnung<br />

mit Bourgeoisie und Gutsbesitzern mitreißen könnten. Um so unermüdlicher drängte er<br />

auf Schaffung beson<strong>der</strong>er Sowjets <strong>der</strong> Landarheiterdeputierten und selbständiger Organisationen<br />

<strong>der</strong> ärmsten Bauern. Ein Monat nach dem an<strong>der</strong>n zeigte jedoch, daß dieser Teil<br />

<strong>der</strong> bolschewistischen Politik keine Wurzeln schlug. Wenn man von den Ostseeprovinzen<br />

absieht, existierten absolut keine Landarbeitersowjets. Auch die Bauernarmut fand<br />

keine eigene Organisationsform. Dies nur mit <strong>der</strong> Rückständigkeit <strong>der</strong> Landarbeiter und<br />

<strong>der</strong> ärmsten Dorfschichten zu erklären, hieße dem Kern <strong>der</strong> Sache ausweichen. Der<br />

Hauptgrund wurzelte in dem Wesen <strong>der</strong> historischen Aufgabe selbst: in <strong>der</strong> demokratischen<br />

Agrarumwälzung.<br />

An den zwei wichtigsten Fragen: <strong>der</strong> Pacht und <strong>der</strong> Lohnarbeit, zeigt sich am überzeugendsten,<br />

wie die Gesamtinteressen des Kampfes gegen die Überbleibsel <strong>der</strong> Leibeigenschaft<br />

nicht nur <strong>der</strong> Bauernarmut, son<strong>der</strong>n auch den Landarbeitern den Weg zu einer<br />

selbständigen Politik abschnitten. Die Bauern hatten von den Gutsbesitzern im europäischen<br />

Rußland siebenundzwanzig Deßjatinen gepachtet, nahezu sechzig Prozent des<br />

gesamten in Privatbesitz befindlichen Bodens, und dafür einen jährlichen Pachttribut von<br />

vierhun<strong>der</strong>t Millionen Rubel gezahlt. Der Kampf gegen die Sklavenbedingungen <strong>der</strong><br />

Pacht wurde nach dcr Februarumwälzung Hauptelement <strong>der</strong> Bauernbewegung. Einen<br />

kleineren, aber doch sehr bedeutenden Platz nahm <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Landarbeiter ein, <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 550


diese in einen Gegensatz brachte nicht nur zur gutsherrlichen, son<strong>der</strong>n auch zur bäuerlichen<br />

Ausbeutung. Der Pächtcr kämpfte für die Erleichterung <strong>der</strong> Pachtbedingungen, <strong>der</strong><br />

Landarbeiter für die Verbesserung <strong>der</strong> Arbeitsbedingungen. Beide gingen, je<strong>der</strong> auf seine<br />

Art, von <strong>der</strong> Anerkennung des Guts-besitzers als des Eigentümers und Herrn aus. Aber<br />

von dem Moment an, wo sich die Möglichkeit eröffnete, die Sache zu Ende zu führen,<br />

das heißt den Boden wegzunehmen und sich darauf selbst zu setzen, hörte das Interesse<br />

<strong>der</strong> Bauernarmut für Pachtfragen auf, und für den Landarbeiter begann die Gewerkschaft<br />

ihre Anziehungskraft einzubüßen. Gerade die Landarbeiter und armen Pächter verliehen<br />

durch ihren Anschluß an die Gesamtbewegung dem Bauernkrieg die letzte Entschlossenheit<br />

und Unwi<strong>der</strong>ruflichkeit.<br />

Nicht mit <strong>der</strong> gleichen Wucht erfaßte <strong>der</strong> Feldzug gegen die Gutsbesitzer auch den<br />

entgegengesetzten Pol des Dorfes. Solange es noch nicht zu einem offenen Aufstand<br />

gekommen war, spielten die obcren Schichten <strong>der</strong> Bauernschaft in <strong>der</strong> Bewegung eine<br />

beträchtliche, zuweilen auch führende Rolle. Doch in <strong>der</strong> Herbstperiode blickten die<br />

wohlhabenden Bauern mit stetig wachsendem Mißtrauen auf den sich ausbreitenden<br />

Bauerrikrieg: sie wußten nicht, wie es enden würde, sie hatten etwas zu verlieren, sie<br />

rückten beiseite. Aber vollends beiseitezubleiben vermochten sie doch nicht: das Dorf<br />

ließ es nicht zu.<br />

Verschlossener und feindseliger als die "eigenen", die Gemeindekulaken, verhielten<br />

sich die außerhalb <strong>der</strong> Gemeinde stehenden kleinen Bodenbesitzer. Bauerngehöfte von<br />

nicht über fünfzig Deßjatinen Umfang zählte man im ganzen Lande sechshun<strong>der</strong>ttausend.<br />

Sie bildeten an vielen Orten das Rückgrat <strong>der</strong> Genossenschaften und neigten beson<strong>der</strong>s<br />

im Süden politisch zum konservativen Bauernbund, <strong>der</strong> bereits eine Brücke zu den<br />

Kadetten darstellte. »Die aus <strong>der</strong> Gemeinde ausgeschiedenen und die reichen Bauern<br />

unterstützten«, nach den Worten des Minsker Bauern Gulis, »die Gutsbesitzer und waren<br />

bemüht, die Bauernschaft durch Zureden zu beschwichtigen.« An manchen Stellen hatte<br />

<strong>der</strong> Kampf innerhalb <strong>der</strong> Bauernschaft unter Einfluß lokaler Verhältnisse schon vor dem<br />

Oktoberumsturz grimmigen Charakter angenommen. Beson<strong>der</strong>s scharf litten darunter die<br />

aus <strong>der</strong> Gemeinde ausgeschiedenen. »Fast sämtliche Vorwerke« erzählt <strong>der</strong> Nischegoro<strong>der</strong><br />

Bauer Kusmitschew, »waren nie<strong>der</strong>gebrannt, die Habe teils vernichtet, teils von den<br />

Bauern weggeschleppt.« Der Vorwerkbesitzer war »gutsherrlicher Diener, Bevollmächtigter<br />

für mehrere gutsherrliche Waldreviere; Liebling <strong>der</strong> Polizei, Gendarmerie und<br />

seiner Herren.« Die reichsten Bauern und die Kaufleute in manchen Gemeinden des<br />

Nischegoro<strong>der</strong> Kreises flohen im Herbst und kehrten erst zwei, drei Jahre später in ihre<br />

Dörfer zurück.<br />

Doch im größten Teil des Landes erreichten die inneren Beziehungen im Dorfe bei<br />

weitem noch nicht diese Schärfe. Die Kulaken verhielten sich diplomatisch, bremsten<br />

und hemmten, waren aber bemüht, nicht allzu sehr ihre Gegnerschaft zum "Mir" (<strong>der</strong><br />

Gemeinde) hervorzukehren. Das Dorf im allgemeinen beobachtete seinerseits sehr eifersüchtig<br />

das Kulakentum und verhin<strong>der</strong>te dessen Vereinigung mit den Gutsbesitzern. Der<br />

Kampf zwischen den Adligen und den Bauern um den Einfluß auf den Kulaken geht<br />

durch das ganze Jahr 1917 in verschiedensten Formen, von "freundschaftlicher" Beeinflussung<br />

bis zum erbitterten Terror.<br />

Während die Latifundienbesitzer die herrschaftlichen Türen <strong>der</strong> Adelsversammlung<br />

vor den reichen Bauern umsehmeichelnd öffneten, suchten die kleinen Bodenbesitzer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 551


sich demonstrativ gegen die Adligen abzugrenzen, um nicht mit ihnen zusammen unterzugehen.<br />

In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Politik äußerte es sich darin, daß die Gutsbesitzer, die vor<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den Parteien <strong>der</strong> äußersten Rechten angehörten, sich jetzt die Farbe des<br />

Liberalismus zulegten, weil sie aus alter Erinnerung diese als Schutzfarbe betrachteten;<br />

indes die bäuerlichen Bodenbesitzer, die früher häufig die Kadetten unterstützt hatten,<br />

jetzt nach links rückten.<br />

Der Kongreß <strong>der</strong> kleinen Bodenbesitzer im Gouvernement Perm grenzte sich im<br />

September scharf ab vom Moskauer Kongreß <strong>der</strong> Gutsbesitzer, an dessen Spitze »Grafen,<br />

Fürsten und Barone« standen. Der Besitzer von fünfzig Deßjatinen sagte: »Die Kadetten<br />

haben nie Schafpelze und Bastschuhe getragen und werden daher niemals unsere Interessen<br />

vertreten.« Während sie von den Liberalen abrückten, suchten die werktätigen<br />

Bodenbesitzer solche "<strong>Sozialisten</strong>", die für das Eigentum eintraten. Einer <strong>der</strong> Delegierten<br />

sprach sich für die Sozialdemokratie aus. »... Der Arbeiter? Gebt ihm Boden, er kommt<br />

ins Dorf und hört auf, Blut zu spucken. Die Sozialdemokraten werden uns den Boden<br />

nicht wegnehmen.« Es handelte sich selbstverständlich um die Menschewiki. »Unseren<br />

Boden geben wir an keinen weg. Nur <strong>der</strong> kann sich leicht von ihm trennen, <strong>der</strong> ihn leicht<br />

erworben hat, wie zum Beispiel <strong>der</strong> Gutsbesitzer. Der Bauer aber hat sein Land schwer<br />

erworben.«<br />

Während dieser Herbstperiode kämpfte das Dorf gegen die Kulaken, ohne sie von sieh<br />

zu stoßen, im Gegenteil, es zwang sie, sich <strong>der</strong> Gesamtbewegung anzuschließen und<br />

diese gegen die Schläge von rechts zu decken. Es gab sogar Fälle, wo die Weigerung, an<br />

einer Plün<strong>der</strong>ung teilzunehmen, mit dem Tode des Wi<strong>der</strong>spenstigen gesühnt wurde. Der<br />

Kulak wich aus solange er konnte, doch im letzten Augenblick spannte er, sich noch<br />

einmal am Hinterkopf kratzend, seine satten Gäule vor den eisenbeschlagenen Wagen<br />

und fuhr, seinen Anteil zu holen. Nicht selten erwies dieser sich als <strong>der</strong> Löwenanteil.<br />

»Ausgenutzt haben es hauptsächlich die wohlhabenden Bauern«, erzählt <strong>der</strong> Pensaer<br />

Bauer Begischew, »die über Pferde und freie Kräfte verfügten.« Fast dieselben Worte<br />

gebraucht auch <strong>der</strong> Orlower Bauer Sawtschenko: »Ausgenutzt haben es in <strong>der</strong> Hauptsache<br />

die Kulaken, die satt waren und Fuhrwerk hatten, den Wald abzufahren ...«<br />

Nach <strong>der</strong> Berechnung von Wermenitschew kamen auf viertausendneunhun<strong>der</strong>tvierundfünfzig<br />

Agrarkonflikte mit Gutsbesitzern während Februar-Oktober nur dreihun<strong>der</strong>tvierundzwanzig<br />

Konflikte mit <strong>der</strong> bäuerlichen Bourgeoisie. Ein auffallend krasses<br />

Zahlenverhältnis! Es stellt unbestreitbar fest, daß die Bauernbewegung von 1917 in<br />

ihrem sozialen Kern nicht gegen den Kapitalismus gerichtet war, son<strong>der</strong>n gegen die<br />

Überbleibsel <strong>der</strong> Leibeigenschaft. Der Kampf gegen das Kulakentum entwickelt sich erst<br />

später, im Jahre 1918, nach <strong>der</strong> endgültigen Liquidierung <strong>der</strong> Gutsbesitzer.<br />

Der rein demokratische Charakter <strong>der</strong> Bauernbewegung, <strong>der</strong>, wie es scheinen könnte,<br />

<strong>der</strong> offiziellen Demokratie unerschütterliche Macht verliehen haben sollte, offenbarte am<br />

vollständigsten <strong>der</strong>en ganze Fäulnis. Von oben gesehen, standen überall an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />

Bauernschaft Sozialrevolutionäre, die Bauernschaft wählte sie, ging mit ihnen,<br />

verschmolz beinahe mit ihnen. Auf dem Maikongreß <strong>der</strong> Bauernsowjets bekam Tschernow<br />

bei den Wahlen zum Exekutivkomitee achthun<strong>der</strong>tzehn Stimmen, Kerenski achthun<strong>der</strong>tvier,<br />

während Lenin es alles in allem auf zwanzig Stimmen brachte. Nicht umsonst<br />

nannte sich Tschernow Bauernminister! Doch nicht umsonst auch trennte sich die Strategie<br />

<strong>der</strong> Bauern bald schroff von Tschernows Strategie.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 552


Die wirtschaftliche Zersplitterung macht die Bauern, die so entschlossen im Kampf<br />

gegen den konkreten Gutsbesitzer sind, ohnmächtig gegenüber dem verallgemeinerten<br />

Gutsbesitzer, dem Staate. Daher das organische Bedürfnis des Muschiks, sich an den<br />

Märchenstaat gegen den realen zu klammern. In alten Zeitenr schuf er sich falsche Zaren,<br />

schloß sich zusammen um den "goldenen Zarenschutzbrief" o<strong>der</strong> um die Legende von<br />

<strong>der</strong> "gerechten Erde". Nach <strong>der</strong> Februarrevolution vereinigte er sich um das sozialrevolutionäre<br />

Banner "Land und Freiheit" und suchte bei ihm Hilfe gegen den liberalen, jetzt<br />

Kommissar gewordenen Gutsbesitzer. Das Narodnikiprogramm verhielt sich zur realen<br />

Kerenskiregierung wie <strong>der</strong> falsche Zarenschutzbrief zum realen Selbstherrscher.<br />

Das Programm <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre hatte stets viel Utopisches enthalten: sie<br />

wollten den Sozialismus auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> kleinen Warenwirtschaft errichten. Doch die<br />

Grundlage ihres Programms war demokratisch-revolutionär: Enteignung des Bodens <strong>der</strong><br />

Gutsbesitzer. Vor die Notwendigkeit gestellt, das Programm zu erfüllen, verstrickte sieh<br />

die Partei in Koalitionen. Gegen eine Bodenkonfiskation erhoben sich unversöhnlich<br />

nicht nur die Gutsbesitzer, son<strong>der</strong>n auch die kadettischen Bankiers: im Bodenbesitz<br />

waren nicht weniger als vier Milliarden Rubel <strong>der</strong> Banken investiert. Da sie planten, in<br />

<strong>der</strong> Konstituierenden Versamnilung mit den Gutsbesitzern um den Preis zwar zu handeln,<br />

aber friedlich abzuschließen, waren die Sozialrevolutionäre eifrigst bemüht, den Muschik<br />

nicht an den Boden heranzulassen. Sie scheiterten somit nicht an dem utopischen<br />

Charakter ihres Sozialismus, son<strong>der</strong>n an ihrer demokratischen Unzulänglichkeit.<br />

DieNachprüfung ihres Utopismus hätte Jahre erfor<strong>der</strong>t. Ihr Verrat am Agrardemokratismus<br />

offenbarte sich im Laufe weniger Monate: unter einer Regierung <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />

mußten die Bauern den Weg des Aufstandes beschreiten, um das Programm <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionäre zu verwirklichen.<br />

Im Juli, als die Regierung gegen das Dorf mit Repressalien losschlug, beeilten sieh die<br />

Bauern in <strong>der</strong> ersten Hitze, Deckung zu suchen bei denselben Sozialrevolutionären: bei<br />

Pontius dem Jüngeren suchten sie Schutz vor Pilatus dem Älteren. Der Monat <strong>der</strong><br />

größten Schwächung <strong>der</strong> Bolschewiki in <strong>der</strong> Stadt wird <strong>der</strong> Monat <strong>der</strong> größten Expansion<br />

<strong>der</strong> Sozialrevolutionäre im Dorfe. Wie es in <strong>der</strong> Regel zu sein pflegt, beson<strong>der</strong>s in<br />

revolutionären Epochen, fiel das Maximum <strong>der</strong> organisatorischen Erfassung mit dem<br />

Beginn politischen Nie<strong>der</strong>gangs zusammen. Während sie bei den Sozialrevolutionären<br />

Schutz suchten vor den Schlägen <strong>der</strong> sozialrevolutionären Regierung, verloren die<br />

Bauern immer mehr das Vertrauen zu Regierung und Partei. So wurde die Aufschwemmung<br />

<strong>der</strong> sozialrevolutionären Organisationen auf dem Lande todbringend für diese<br />

universelle Partei, die von unten her meuterte und von oben unterdrückte.<br />

In <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Militärischen Organisation vom 30. Juli in Moskau sagte ein<br />

Frontdelegierter, selbst Sozialrevolutionär: Wenn auch die Bauern sich noch immer zu<br />

den Sozialrevolutionären zählen, zwischen ihnen und <strong>der</strong> Partei ist dennoch bereits ein<br />

Riß entstanden. Die Soldaten bestätigten: unter dem Einfluß <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />

Agitation verhalten sich die Bauern noch immer feindlich gegen die Bolschewiki, doch<br />

die Fragen des Bodens und <strong>der</strong> Macht entscheiden sie in Wirklichkeit auf bolschewistische<br />

Art. Der Bolschewik Powolschski, <strong>der</strong> im Wolgagebiet arbeitete, bezeugt, daß die<br />

achtbarsten Sonalrevolutionäre, Teilnehmer <strong>der</strong> Bewegung von 1905, sich immer mehr<br />

zurückgedrängt fühlten: »die Bauern nannten sie "die Alten", bezeigten ihnen äußerlich<br />

Achtung, stimmten jedoch ab nach eigenem Kopf«. Abzustimmen und zu handeln »nach<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 553


eigenem Kopf« lehrten das Dorf Arbeiter und Soldaten.<br />

Die Einschätzung des sozialrevolutionären Einflusses <strong>der</strong> Arbeiter auf die Bauernschaft<br />

ist nicht möglich: er hatte einen ständigen, molekularen, alles durchdringenden<br />

und deshalb unwägbaren Charakter. Das gegenseitige Durchdringen wurde dadurch<br />

erleichten, daß ein bedeuten<strong>der</strong> Teil industrieller Unternehmen in ländlichen Gegenden<br />

untergebracht war. Aber sogar die Arbeiter Petrograds, <strong>der</strong> europäischsten <strong>der</strong> Städte,<br />

bewahrten nahe Beziehungen zu den heimatlichen Dörfern. Die während <strong>der</strong> Sommermonate<br />

angewachsene Arbeitslosigkeit und die Aussperrungen <strong>der</strong> Unternehmer warfen<br />

viele Tausende Arbeiter aufs Land hinaus: ihre Mehrzahl wurde Agitatoren und<br />

Anführer.<br />

Im Mai-Juni entstehen in Petrograd Arbeiter-Landsmannschaften nach Gouvernements,<br />

Kreisen und sogar Dorfgemeinden. Ganze Spalten <strong>der</strong> Arbeiterpresse sind Ankündigungen<br />

von Landsmannschaftsversammlungen gewidmet, wo Berichte über Fahrten ins Dorf<br />

gegeben, den Delegierten Anweisungen entworfen, Geldmittel für die Agitation gesammelt<br />

werden. Kurz vor dein Umsturz vereinigten sich die Landsmannschaften um ein<br />

beson<strong>der</strong>es Zentralbüro unter Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Landsmannschaftsbewegung<br />

dehnte sich bald auf Moskau, Twer und wohl auch auf eine Reihe an<strong>der</strong>er Industriestädte<br />

aus.<br />

Jedoch im Sinne <strong>der</strong> unmittelbaren Beeinflussung des Dorfes hatten noch größere<br />

Bedeutung die Soldaten. Erst unter den künstlichen Bedingungen <strong>der</strong> Front o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Stadtkaserne kamen die jungen Bauern, bis zu einem gewissen Grade ihre Abgeson<strong>der</strong>theit<br />

überwindend, in unmittelbare Berührung mit Problemen von nationalem Maßstabe.<br />

Jedoch machte sich die politische Unselbständigkeit auch hier fühlbar. Während sie<br />

unausweichbar unter Leitung patriotischer und konservativer Intellektueller gerieten und<br />

bestrebt waren, sich von ihnen zu befreien, versuchten die Bauern, in <strong>der</strong> Armee sich<br />

geson<strong>der</strong>t von den übrigen sozialen Gruppen zusammenzuschließen. Die Behörden sahen<br />

solche Bestrebungen ungern, das Kriegsministerium setzte Hin<strong>der</strong>nisse entgegen, die<br />

Sozialrevolutionäre kamen ihnen nicht zu Hilfe, - die Sowjets <strong>der</strong> Bauerndeputierten<br />

gewannen in <strong>der</strong> Armee schwer Boden. Selbst unter den gütistigsten Bedingungen<br />

vermag <strong>der</strong> Bauer nicht seine erdrückende Quantität in politische Qualität umzusetzen!<br />

Nur in den großen revolutionären Zentren, unter direkter Einwirkung <strong>der</strong> Arbeiter,<br />

gelang es den Sowjets <strong>der</strong> Bauernsoldaten, eine nennenswerte Tätigkeit zu entwickeln.<br />

So schickte <strong>der</strong> Bauernsowjet in Petrograd von April 1917 bis zum 1. Januar 1918<br />

neunzehnhun<strong>der</strong>tfünfunddreißig Agitatoren aufs Land, die mit beson<strong>der</strong>en Mandaten<br />

ausgestattet waren; etwa ebensoviele reisten ohne Mandate. Die Delegierten besuchten<br />

fün fünfundsechzig Gouvernements. In Kronstadt entstanden unter den Matrosen und<br />

Soldatten, nach dem Beispiel <strong>der</strong> Arbeiter, Landsmannschaften, die den Delegierten<br />

"Berechtigungs"-scheine für Freifahrt auf Eisenbahn und Schiff ausstellten. Privatbahnen<br />

anerkannten diese Scheine wi<strong>der</strong>spruchslos, auf den Staatsbahnen ergaben sich<br />

Konflikte.<br />

Die offiziellen Delegierten <strong>der</strong> Organisationen waren immerhin nur Tropfen im Bauernozean.<br />

Unermeßlich größer war die Arbeit jener Hun<strong>der</strong>ttausende und Millionen Soldaten,<br />

die die Front- und Hinterlandgarnisonen eigenmächtig verließen und in ihren Ohren<br />

die kräftigen Parolen <strong>der</strong> Meetingsreden davontrugen. Die Schweiger an <strong>der</strong> Front<br />

wurden zu Hause auf dem Dorfe zu Sprechern. An begierigen Zuhörern fehlte es nicht.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 554


»Unter <strong>der</strong> Bauernschaft um Moskau«, erzählt einer <strong>der</strong> Moskauer Bolschewiki,<br />

Muralow, »vollzog sich ein gewaltiger Ruck nach links ... In den um Moskau gelegenen<br />

Dörfern und Marktflecken wimmelte es von Frontdeserteuren; auch <strong>der</strong> großstädtische<br />

Proletarier, <strong>der</strong> seine Beziehungen zum Dorfe noch nicht zerrissen hatte, ließ sich dort<br />

sehen.« Das schlummernde Kalugaer Dorf erzählt <strong>der</strong> Bauer Naumtschenkow, »weckten<br />

die Soldaten, die in <strong>der</strong> Periode Juni-Juli aus verschiedenen Gründen von <strong>der</strong> Front<br />

kamen«. Der Nischegoro<strong>der</strong> Kommissar meldete, »alle Rechtsbeugungen und Ungesetzlichkeiten<br />

im Gouvernement stehen im Zusammenhang mit dem Auftauchen von Desertenren,<br />

Urlaubern o<strong>der</strong> Delegierten <strong>der</strong> Regimentskomitees«. Der obere Gutsverwalter<br />

<strong>der</strong> Fürstin Barjatinski, im Kreise Solotonosch, klagt im August über Eigenmächtigkeit<br />

des Landkomitees mit dem Kronstädter Matrosen Gatran als Vorsitzenden. »Die auf<br />

Urlaub kommenden Soldaten und Matrosen«, meldet <strong>der</strong> Kommissar des Bugulminsker<br />

Kreises, »treiben Agitation mit <strong>der</strong> Absicht, Anarchie und Pogromstimmung herbeizuführen.«<br />

- »Im Dorfe Belogosch, Kreis Mglin, untersagte <strong>der</strong> eingetroffene Matrose eigenmächtig<br />

das Bearbeiten und Abfahren von Holz und Schwellen aus dem Walde.« Wenn<br />

auch nicht die Soldaten den Kampf begannen, so führten sie ihn zu Ende. Im Nischegoro<strong>der</strong><br />

Kreis bedrängten die Bauern das Frauenkloster, mähten Wiesen ab, rissen Zäune<br />

nie<strong>der</strong>, behelligten die Nonnen. Die Vorsteherin trat energisch auf, Milizionäre führten<br />

die Bauern zur Exekution ab. »So ging es«, schreibt <strong>der</strong> Bauer Arbekow, »bis zur<br />

Ankunft <strong>der</strong> Soldaten. Die Frontler faßten sofort den Stier bei den Hörnern«: das Kloster<br />

wurde geräumt. »Im Gouvernement Mohilew«, erzählt <strong>der</strong> Bauer Bobkow, »waren die<br />

von <strong>der</strong> Front heimgekehrten Soldaten die ersten Anführer in den Komitees und leiteten<br />

die Vertreibung <strong>der</strong> Gutsbesitzer.«<br />

Die Frontler brachten in die Sache die wuchtige Entschlossenheit von Leuten hinein,<br />

die gewohnt sind, mit Flinte und Bajonett gegen Menschen vorzugehen. Selbst die Soldatenfrauen<br />

übernahmen von den Männern die kriegerische Stimmung. »Im September«,<br />

erzählt <strong>der</strong> Pensaer Bauer Begischew, »gab es eine starke Bewegung unter den Soldatenfrauen,<br />

in den Dorfversammlungen traten sie für Plün<strong>der</strong>ungen ein.« Dasselbe wurde in<br />

an<strong>der</strong>en Gouvemements beobachtet. Die Soldatenfrauen waren auch in den Städten nicht<br />

selten das Gärungselement.<br />

Fälle, wo an <strong>der</strong> Spitze von Bauernunruhen Soldaten standen, gab es nach Wermenitschews<br />

Zählung im März ein Prozent, im April acht, im September dreizen, im Oktober<br />

siebzehn Prozent. Diese Statistik kann keinen Anspruch auf Genauigkeit erheben, zeigt<br />

aber lückenlos die Gesamttendenz. Die abwiegelnde Führung <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />

Lehrer, Gemeindeschreiber und Beamten wurde durch die Führung <strong>der</strong> vor nichts<br />

zurückschrekkenden Soldaten abgelöst.<br />

Der einstmals hervorragende deutsche marxistische Schriftstel1er Parvus, <strong>der</strong> es im<br />

Kriege verstand, Reichtümer zu erwerben und Prinzipien und Scharfsinn zu verlieren,<br />

verglich die <strong>russischen</strong> Soldaten mit mittelalterlichen Landsknechten, Plün<strong>der</strong>ern,<br />

Räubern. Um dies zu behaupten, mußte man blind sein für die Tatsache, da die <strong>russischen</strong><br />

Soldaten bei alt ihren Exzessen lediglich ausübendes Organ <strong>der</strong> in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

größten Agrarrevolution waren.<br />

Solange die Bewegung noch nicht endgültig mit <strong>der</strong> Legalität gebrochen hatte, trug die<br />

Entsendung von Truppen aufs Land mehr symbolischen Charakter. Zur Unterdrückung<br />

<strong>der</strong> Bewegung konnte man in Wirklichkeit fast nur Kosaken verwenden. »Nach dem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 555


Serdober Kreis sind vierhun<strong>der</strong>t Kosaken entsandt... Diese Maßregel wirkte beruhigend.<br />

Die Bauern erklären, sie würden die Konstituierende Versammlung abwarten«, schreibt<br />

am 11. Oktober das liberale 'Russkoje Slowo'. Vierhun<strong>der</strong>t Kosaken - zweifellos ein<br />

Argument für die Konstituierende Versammlung! Aber die Zahl <strong>der</strong> Kosaken reichte<br />

nicht hin, überdies werden auch sie schwankend. Inzwischen sah sich die Regierung<br />

immer häufiger gezwungen, zu »entschiedenen Maßnahmen« zu greifen. In den ersten<br />

vier Monaten zählt Wermenitschew siebzehn Fälle von Truppenentsendung gegen<br />

Bauern; Juli und August neununddreißig, September und Oktober einhun<strong>der</strong>tundfünf<br />

Fälle.<br />

Gegen dir Bauern mit Waffengewalt vorzugehen, hieß, den Brand mit Öl löschen. In<br />

den meisten Fällen gingen die Soldaten auf die Seite <strong>der</strong> Bauern über. Der Kreiskominissar<br />

des Podoler Gouvernements meldet: »Armeeorganisationen, sogar ganze Truppenteile<br />

treffen Entscheidungen in sozialen und ökonomischen Fragen, zwingen (?) die<br />

Bauern zu Enteignung und Abholzung des Waldes, beteiligen sich zum Teil selbst an<br />

Plün<strong>der</strong>ungen ... Die örtlichen Truppenteile weigern sich gegen die Gewalttaten einzuschreiten«<br />

... So zerstörte <strong>der</strong> Aufstand des Dorfes den letzten Zusammenhalt in <strong>der</strong><br />

Armee. Es konnte nicht die Rede davon sein, daß die Armee unter den Bedingungen des<br />

Bauernkrieges, an dessen Spitze die Arbeiter standen, es dulden würde, gegen den<br />

Aufstand in den Städten sich verwenden zu lassen.<br />

Erst von den Arbeitern und Soldaten erfahren die Bauern über die Bolschewiki das<br />

Neue, was ihnen die Soziatrevolutionäre nicht gesagt hatten. Lenins Parolen und sein<br />

Name dringen ins Dorf. Die sich häufenden Beschwerden über die Bolschewiki tragen<br />

jedoch in vielen Fällen erdichteten und aufgebauschten Charakter: die Gutsbesitzer<br />

hoffen dadurch eher Hilfe zu bekommen. »Im Ostrower Kreise herrscht völlige Anarchie<br />

infolge <strong>der</strong> Propaganda des Bolschewismus.« Aus dem Ufaer Gouvernement: »Das<br />

Mitglied des Dorfkomitees, Wassiljew, verbreitet das Programm <strong>der</strong> Bolschewiki und<br />

erklärt offen, die Gutsbesitzer würden gehängt werden.« Der Nowgoro<strong>der</strong> Gutsbesitzer<br />

Polonnik, <strong>der</strong> um »Schutz gegen Plün<strong>der</strong>ungen« nachsucht, unterläßt hinzuzufügen: »Die<br />

Exekutivkomitees sind überfüllt mit Bolschewiki«, das bedeutet: mit Feinden <strong>der</strong> Gutsbesitzer.<br />

»Im August«, erzählt <strong>der</strong> Simbirsker Bauer Sumorin, »reisten durch die Dörfer<br />

Arbeiter, agitierten für die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki, erzählten <strong>der</strong>en Programm.« Der<br />

Untersuchungsrichter des Sebescher Kreises leitet ein Strafverfahren ein gegen die aus<br />

Petrograd eingetroffene Weberin Tatjana Michajlowa, sechsundzwanzig Jahre alt, die in<br />

ihrem Dorfr aufrief »zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und Lenins Taktik<br />

verherrlichte«. Im Smolensker Gouvernement begann man Ende August, wie <strong>der</strong> Bauer<br />

Kotow berichtet. »sich für Lenin zu interessieren und auf Lenins Stimme zu horchen« ...<br />

Doch in die Gemeindesemstwos werden noch immer in gewaltiger Überzahl Sozialrevolutionäre<br />

gewählt.<br />

Die bolschewistische Partei ist bemüht, an den Bauer näher heranzugehen. Am 10.<br />

September for<strong>der</strong>t Newski vom Petrogra<strong>der</strong> Komitee die Herausgabe einer Bauernzeitung:<br />

»Die Sache muß so angefaßt werden, daß man nicht dasselbe erlebt, was die<br />

französische Kommune erlebt hat, als die Bauernschaft Paris nicht verstand, Paris nicht<br />

die Bauernschaft.« Die Zeitung 'Bednota'. (Armut) begann bald zu erscheinen. Aber die<br />

direkte Parteiarbeit unter <strong>der</strong> Bauernschaft blieb noch immer geringfügig. Die Stärke <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei lag nicht in technischen Mitteln, nicht im Apparat, son<strong>der</strong>n in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 556


<strong>der</strong> richtigen Politik. Wie die Luftströme den Samen überallhin tragen, so trugen die<br />

<strong>Revolution</strong>sstürme überallhin Lenins Ideen.<br />

»Gegen September«, erinnert sich <strong>der</strong> Twerer Bauer Worobjew, »treten in den<br />

Versammlungen immer häufiger und kühner zur Verteidigung <strong>der</strong> Bolschewiki nicht<br />

mehr nur Frontler, son<strong>der</strong>n auch arme Bauern selbst auf« ... »Unter <strong>der</strong> Armut und<br />

einigen Mittelbauern«, bestätigt <strong>der</strong> Simbirsker Bauer Sumorin, »verschwindet Lenins<br />

Name nicht von den Lippen; nur von Lenin wird gesprochen.« Der Nowgoro<strong>der</strong> Bauer<br />

Grigorjew erzählt, wie ein Sozialrevolutionär in <strong>der</strong> Gemeinde die Bolschewiki »Expropriateure«<br />

und »Verräter« nannte. »Wie tobten da die Bauern: "Nie<strong>der</strong> mit dem Hund,<br />

steinigt ihn! Erzähl uns keine Märchen, - wo ist <strong>der</strong> Boden? Genug! Her mit den<br />

Bolschewiken!"« Es ist allerdings möglich, daß diese Episode - und solcher und ähnlicher<br />

gab es nicht wenig - bereits in die Zeit nach dem Oktober fällt: im Gedächtnis <strong>der</strong> Bauern<br />

sitzen Tatsachen fest, ist aber die Chronologie schwach.<br />

Den Soldaten Tschinenow, <strong>der</strong> sein Dorf im Orlower Gouvernement eine Kiste<br />

bolschewistischer Literatur brachte, hatte das Heimatdorf unfreundlich empfangen:<br />

sicherlich deutsches Gold. Im Oktober jedoch »zählte die Gemeindezelle siebenhun<strong>der</strong>t<br />

Mitglie<strong>der</strong>, viele Gewehre erhoben sich stets zur Verteidigung <strong>der</strong> Sowjetmacht«. Der<br />

Bolschewik Wratschew erzählt, wie die Bauern des rein agrarischen Woronescher<br />

Gouvernements, »erwacht aus dem sozialrevolutionären Rausch, begannen, sich für<br />

unsere Partei zu interessieren, infolgedessen hatten wir bereits nicht wenig Dorf- und<br />

Gemeindezellen, Abonnenten für unsere Zeitungen und empfingen viele Bauernabgesandte<br />

im engen Raum unseres Komitees«. Im Smolensker Gouvernement waren, nach<br />

Erinnerungen von Iwanow, »in den Dörfern Bolschewiki sehr rar, auch in den Kreisen<br />

waren ihrer sehr wenig, bolschewistische Zeitungen gab es nicht, Flugblätter erschienen<br />

sehr selten ... Und dennoch, je näher an den Oktober, um so mehr wandte sich das Dorf<br />

den Bolschewiki zu«<br />

In den Kreisen, wo schon vor dem Oktober <strong>der</strong> bolschewistische Einfluß in den Sowjets<br />

bestand«, schreibt <strong>der</strong>selbe Iwanow, »trat die elementare Welle <strong>der</strong> Güterplün<strong>der</strong>ungen<br />

gar nicht o<strong>der</strong> in schwachem Maße in Erscheinung.« Allerdings verhielt es. sich nicht<br />

überall gleich »Die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bolschewiki, den Boden den Bauern zu übergeben«,<br />

erzählt beispielsweise Tadejusch, »wurde beson<strong>der</strong>s schnell von <strong>der</strong> Bauernmasse des<br />

Mohilewer Kreises aufgenommen, die die Güter plün<strong>der</strong>te, manche nie<strong>der</strong>brannte,<br />

Wiesen und Wäl<strong>der</strong> wegnahm.« Ein Wi<strong>der</strong>spruch zwischen diesen Zeugnissen besteht<br />

eigentlich nicht. Die gesamte Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki nährte zweifellos den Bürgerkrieg<br />

im Dorfe. Doch dort, wo es den Bolschewiki gelungen war, festere Wurzel zu<br />

fassen, waren sie naturgemäß bestrebt, ohne den Bauerndruck abzuschwächen, seine<br />

Formen in geordnetere Bahnen zu lenken und die Verwüstungen einzudämmen.<br />

Die Bodenfrage stand nicht isoliert da. Der Bauer litt, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> letzten<br />

Kriegsperiode als Verkäufer wie als Käufer: das Getreide wurde ihm zu festgesetzten<br />

Preisen abgenommen, die Industrieprodukte wurden für ihn immer unerschwinglicher.<br />

Das Problem <strong>der</strong> ökonomischen Wechselbeziehungen zwischen Dorf und Stadt, das<br />

später unter dem Namen "Schere" zum Zentralproblem <strong>der</strong> Sowjetwirtschaft werden soll,<br />

zeigt bereits sein bedrohliches Antlitz. Die Bolschewiki sagten den Bauern: Die Sowjets<br />

müssen die Macht übernehmen, dir Boden geben, den Krieg beenden, die Industrie<br />

demobilisieren, Arbeiterkontrolle in den Betrieben einführen, das Verhältnis <strong>der</strong> Preise<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 557


zwischen Industrie-und Landwirtschaftsprodukten regulieren. So summarisch das auch<br />

klang, aber es bezeichnete den Weg. »Zwischen uns und <strong>der</strong> Bauernschaft«, sagte<br />

Trotzki am 10. Oktober in <strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees, »stehen als Scheidewand<br />

die Awksentjewschen Sowjetgestalten. Wir müssen diese Wand durchbrechen. Wir<br />

müssen im Dorfe erklären, daß alle Versuche <strong>der</strong> Arbeiter, dem Bauern durch Belieferung<br />

des Dorfes mit landwirtschaftlichen Geräten zu helfen, so lange resultatlos bleiben<br />

müssen, wie nicht die Produktion organisiert und unter Arbeiterkontrolle gestellt ist.« In<br />

diesem Sinne erließ die Konferenz ein Manifest an die Bauern.<br />

Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter schufen währenddessen in den Fabriken eigene Kommissionen,<br />

die Metall sammelten, Bruch und Ausschuß, und es einer beson<strong>der</strong>en Zentrale "Der<br />

Arbeiter dem Bauern", zur Verfügung stellten. Der Abfall wurde verwandt zur Herstellung<br />

einfachster landwirtschaftlicher Geräte und Ersatzteile. Dieser erste planwirtschaftliche<br />

Einbruch <strong>der</strong> Arbeiter in die Produktion, noch unbedeutend dem Umfange nach, mit<br />

dem Übergewicht agitatorischer Ziele vor ökonomischen, eröffnete jedoch die Perspektive<br />

<strong>der</strong> nahen Zukunft. Erschrocken durch das Eindringen <strong>der</strong> Bolschewiki in das geheiligte<br />

Gebiet des Dorfes, machte das Bauernexekutivkomitee einen Versuch, sich des euen<br />

Beginnens zu bemächtigen. Doch mit den Bolschewiki in <strong>der</strong> städtischen Arena sich zu<br />

messen ging bereits über die Kräfte <strong>der</strong> altersschwachen Versöhnler, die auch auf dem<br />

Lande immer mehr den Boden unter den Füßen verloren.<br />

Das Echo <strong>der</strong> bolschewistischen Agitation »brachte die arme Bauernschaft <strong>der</strong>art in<br />

Aufruhr«, schrieb später <strong>der</strong> Twerer Bauer Worobjew, »daß man bestimmt sagen kann:<br />

Wäre <strong>der</strong> Oktober nicht im Oktober, er wäre im November gekommen.« Diese plastische<br />

Charakteristik <strong>der</strong> politischen Macht des Bolschewismus steht keineswegs im Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu <strong>der</strong> Tatsache seiner organisatorischen Schwäche. Nur durch solch scharfe<br />

Disproportionen kann sich eine <strong>Revolution</strong> den Weg bahnen. Gerade deshalb läßt sich,<br />

nebenbei gesagt, ihr Lauf nicht in die Rahmen <strong>der</strong> formalen Demokratie zwängen. Damit<br />

die Agrarumwälzung geschehen könne, im Oktober o<strong>der</strong> November, blieb <strong>der</strong> Bauernschaft<br />

nichts an<strong>der</strong>es übrig, als das zerfallende Gewebe <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei<br />

auszunutzen. Deren linke Elemente gruppieren sich hastig und ungeordnet unter dem<br />

Druck <strong>der</strong> Bauernbewegung, streben den Bolschewiki nach, rivalisieren mit diesen.<br />

Während <strong>der</strong> nächsten Monate vollzieht sich die politische Verschiebung <strong>der</strong> Bauernschaft<br />

hauptsächlich unter dem zerfetzten Banner <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre: diese<br />

ephemere Partei wird zur reflektierenden und schwankenden Form des Dorfbolschewismus,<br />

provisorische Brücke vom Bauernkrieg zur proletarischen Umwälzung.<br />

Die Agrarrevolution bedurfte eigener lokaler Organe. Wie sahen diese aus? Auf dem<br />

Lande existierten Organisationen verschiedener Typen: staatliche, wie die Gemeinde-,<br />

Land- und Verpflegungsexekutivkomitees; gesellschaftliche, wie die Sowjets; rein politische,<br />

wie die Parteien, und schließlich Organe <strong>der</strong> Selbstverwaltung, in Gestalt <strong>der</strong><br />

Gemeindesemstwos. Bauernsowjets vermochten sich zu entwickeln nur im Maßstabe des<br />

Gouvernements, teilweise des Kreises; Gemeindesowjets gab es nur vereinzelt. Gemeindesemstwos<br />

faßten schwer Fuß. Dagegen wurden die Land- und Exekutivkomitees, dem<br />

Plane nach Staatsorgane, so seltsam das auf den ersten Blick scheinen mag, zu Organen<br />

<strong>der</strong> Bauernrevolution.<br />

Das oberste Landkomitee, bestehend aus Beamten, Gutsbesitzern, Professoren, gelehrten<br />

Agronomen, sozialrevolutioriären Politikern; mit einer Beimischung zweifelhafter<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 558


Bauern, war seinem Wesen nach die Zentralbremse <strong>der</strong> Agrarrevolution. Die Gouvernementskomitees<br />

hörten nicht auf, Leiter <strong>der</strong> Regierungspolitik zu sein. Die Komitees in<br />

den Kreisen schaukelten zwischen den Bauern und <strong>der</strong> Obrigkeit. Dagegen wurden die<br />

Gemeindekomitees, von den Bauern gewählt und an Ort und Stelle vor den Augen des<br />

Dorfes arbeitend, Werkzeuge <strong>der</strong> Agrarbewegung. Der Umstand, daß die Komiteemitglie<strong>der</strong><br />

sich gewöhnlich zu den Sozialrevolutionären zählten, än<strong>der</strong>te nichts an <strong>der</strong><br />

Sache: sie richteten sieh nach <strong>der</strong> Muschikhütte und nicht nach dem Adelsgutshof. Die<br />

Bauern schätzen beson<strong>der</strong>s hoch den staatlichen Charakter ihrer Landkomitees, da sie in<br />

ihm eine Art Freibrief auf den Bürgerkrieg erblickten.<br />

»Die Bauern sagen, sie anerkennen niemand außer dem Gemeindekomitee«, klagt<br />

bereits im Mai einer <strong>der</strong> Milizchefs des Saransker Kreises, »alle Kreis- und Staatskomitees<br />

hingegen arbeiten angeblich den Bodenbesitzern in die Hand.« Nach den Worten<br />

des Nischegoro<strong>der</strong> Kommissars »enden die Versuche einiger Gemeindekomitees, gegen<br />

die eigenmächtigen Handlungen <strong>der</strong> Bauern anzukämpfen, fast immer mit Mißerfolg und<br />

führen zur Absetzung <strong>der</strong> gesamten Mitglie<strong>der</strong>« ... »Die Komitees waren stets«, nach den<br />

Worten des Pskower Bauern Denisow, »auf seiten <strong>der</strong> Bauernbewegung gegen die<br />

Gutsbesitzer, da man in sie den revolutionärsten Teil <strong>der</strong> Bauernschaft und Frontsoldaten<br />

hineinwählte.«<br />

Die Kreis- und beson<strong>der</strong>s die Gouvernementskomitees wurden von <strong>der</strong><br />

Beamten-"Intelligenz" geleitet, die danach strebte, friedliche Beziehungen zu den<br />

Gutsbesitzern aufrechtzuerhalten. »Die Bauern sahen«, schreibt <strong>der</strong> Moskauer Bauer<br />

Jurkow, »daß es <strong>der</strong> gleiche Pelz ist, nur gewendet, die gleiche Macht, nur unter neuem<br />

Namen.« »Man kann«, meldet <strong>der</strong> Kursker Kommissar, »die Neigung ... zu Neuwahlen<br />

jener Kreiskomitees beobachten, die unentwegt die Verfügungen <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung durchführen.« Aber an das Kreiskomitee zu gelangen war dem Bauern sehr<br />

schwer gemacht: die politische Verbindung <strong>der</strong> Dörfer und Gemeinden sicherten Sozialrevolutionäre,<br />

so daß die Bauern gezwungen waren, sich <strong>der</strong> Partei zu bedienen, <strong>der</strong>en<br />

Hauptmission im Wenden des alten Pelzes bestand.<br />

Die auf den ersten Blick erstaunliche Kühle <strong>der</strong> Bauernschaft für die Märzsowjets hatte<br />

in Wirklichkeit tiefe Ursachen. Der Sowjet repräsentiert im Gegensatz zum Landkomitee<br />

keine Spezial-, son<strong>der</strong>n eine Universalorganisation <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Doch auf dem Gebiet<br />

<strong>der</strong> allgemeinen Politik ist <strong>der</strong> Bauer nicht imstande, auch nur einen Schritt ohne<br />

Führung zu tun. Die Frage ist, woher sie kommt. Die bäuerlichen Gouvernements- und<br />

Kreissowjets wurden errichtet auf Initiative und zum großen Teil mit Mitteln <strong>der</strong> Genossenschaft,<br />

nicht als Organe <strong>der</strong> Bauernrevolution, son<strong>der</strong>n als Werkzeuge zur konservativen<br />

Bevormundung <strong>der</strong> Bauernschaft. Das Dorf duldete über sich die<br />

rechtssozialrevolutionäre Sowjets, als Schild gegen die Regierung. Zu Hause bei sich zog<br />

es die Landkomitees vor.<br />

Um das Dorf zu hin<strong>der</strong>n, sich im Kreise »rein bäuerlicher Interessen« zu bewegen,<br />

drängte die Regierung auf Schaffung demokratischer Semstwos. Schon dies allein mußte<br />

den Bauern Grund sein, die Ohren zu spitzen. Die Wahlen mußte man häufig geradezu<br />

aufzwingen. »Es kämen Fälle von Ungesetzlichkeiten vor«, meldet <strong>der</strong> Pensaer Kommissar,<br />

»die zur Sprengung <strong>der</strong> Wahlen führten.« Im Gouvernement Minsk verhafteten die<br />

Bauern den Vorsitzenden <strong>der</strong> Gemeindewahlkommission, Fürsten Druzki-Lubezki, den<br />

sie <strong>der</strong> Wahllistenschiebung beschuldigten: es fiel den Bauern nicht leicht, sich mit dem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 559


Fürsten über die demokratische Lösung des jahrhun<strong>der</strong>tealten Streites zu verständigen.<br />

Der Bugulminsker Kreiskommissar meldet: »Die Wahlen zu den Gemeindesemstwos sind<br />

im Kreise nicht ganz planmäßig verlaufen ... Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Gemeindeabgeordneten<br />

ist rein bäuerlich, es läßt sich eine Entfremdung <strong>der</strong> Ortsintelligenz feststellen,<br />

beson<strong>der</strong>s den Bodenbesitzern gegenüber.« Somit unterschieden sich die Semstwos<br />

wenig von den Komitees. »Zur Intelligenz, beson<strong>der</strong>s zu den Bodenbesitzern«, klagt <strong>der</strong><br />

Minsker Gouvernementskommissar, »verhält sich die Bauernmasse ablehnend.« In <strong>der</strong><br />

Mohilewer Zeitung vom 23. September ist zu lesen: »Die Arbeit <strong>der</strong> Intelligenz auf dem<br />

Lande ist mit Gefahren verbunden, verspricht man nicht kategorisch, die sofortige<br />

Übergabe des gesamten Bodens an die Bauern zu unterstützen.« Wo eine Verständigung<br />

und sogar ein Verkehr zwischen den Hauptklassen unmöglich wird, verschwindet <strong>der</strong><br />

Boden für Institutionen <strong>der</strong> Demokratie. Die Totgeburt <strong>der</strong> Gemeindesemstwos kündete<br />

unfehlbar den Zusammenbruch <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an.<br />

»Unter <strong>der</strong> hiesigen Bauernschaft«, meldet <strong>der</strong> Nischegoro<strong>der</strong> Kommissar, »hat sich<br />

<strong>der</strong> Glaube gefestigt, alle bürgerlichen Gesetze hätten ihre Kraft verloren und alle<br />

Rechtsbegriffe müßten jetzt durch die Bauernorganisationen reguliert werden.« Die örtliche<br />

Miliz zu ihrer Verfügung, erließen die Gemeindekomitees lokale Gesetze, bestimmten<br />

Pachtpreise, regulierten den Arbeitslohn, setzten eigene Verwalter auf den Gütern<br />

ein, nahmen Boden, Wiesen, Wäl<strong>der</strong>, Inventar in eigene Hand, holten dem Gutsbesitzer<br />

die Waffen weg, nahmen Haussuchungen und Verhaftungen vor. Die Stimme <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>te und die frische <strong>Revolution</strong>serfahrung sagten dem Bauern in gleicher Weise,<br />

daß die Bodenfrage die Frage <strong>der</strong> Macht sei. Für die Agrarumwälzung waren Organe <strong>der</strong><br />

Bauerndiktatur notwendig. Der Muschik wußte um dieses lateinische Wort noch nicht.<br />

Aber <strong>der</strong> Muschik wußte, was er wollte. Jene "Anarchie", über die Gutsbesitzer, liberale<br />

Kommissare und versöhnlerische Politiker klagten, war in Wirklichkeit die erste Etappe<br />

<strong>der</strong> revolutionären Diktatur auf dem Lande.<br />

Die Notwendigkeit <strong>der</strong> Schaffung beson<strong>der</strong>er, rein bäuerlicher lokaler Organe für die<br />

Agrarumwälzung verteidigte Lenin schon während <strong>der</strong> Ereignisse von 1905/06: »<strong>Revolution</strong>äre<br />

Bauernkomitees«, bewies er auf dem Stockholmer Parteikongreß, »sind <strong>der</strong><br />

einzige Weg, den die Bauernbewegung gehen kann.« Der Muschik las Lenin nicht. Dafür<br />

aber las Lenin die Gedanken des Muschiks gut.<br />

Das Dorf än<strong>der</strong>t sein Verhalten zu den Sowjets erst gegen Herbst, wo die Sowjets<br />

selbst ihren politischen Kurs än<strong>der</strong>n. Die bolschewistischen und linkssozialrevolutionären<br />

Sowjets in den Kreis- o<strong>der</strong> Gouvernementsstädten halten jetzt die Bauern nicht mehr<br />

zurück, im Gegenteil, sie stoßen sie vorwärts. Hatte das Dorf in den ersten Monaten bei<br />

den Versöhnlersowjets legale Deckung gesucht, um später in feindliche Konflikte mit<br />

ihnen zu geraten, so fand es jetzt zum erstenmal in den revolutionären Sowjets eine<br />

wirkliche Führung. Saratower Bauern schrieben im September: »Die Macht muß in ganz<br />

Rußland in die Hände ... <strong>der</strong> Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputiertensowjets übergehen.<br />

So wird es sicherer sein.« Erst gegen Herbst beginnt die Bauernschaft ihr Bodenprogramm<br />

mit <strong>der</strong> Parole Sowjetmacht zu verbinden. Aber auch dabei weiß sie noch nicht,<br />

wie und durch wen diese Sowjets geführt werden sollen.<br />

Agrarunruhen hatten in Rußland ihre große Tradition, ihr einfaches, aber grelles<br />

Programm, ihre Lokalmärtyrer und Helden. Die gewaltige Erfahrung von 1905 war auch<br />

für das Dorf nicht spurlos vorbeigegangen. Hierbei ist noch die Arbeit <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 560


Sektiererideen, die Millionen Bauern erfaßten, in Betracht zu ziehen. »Ich kannte«,<br />

schreibt ein unterrichteter Autor, »viele Bauern ..., die die Oktoberrevolution als direkte<br />

Erfüllung ihrer religiösen Hoffnungen aufnahmen.« Von allen Bauernaufständen, die die<br />

<strong>Geschichte</strong> kennt, war die Bewegung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bauernschaft von 1917 zweifellos<br />

die am meisten von politischen Gedanken befruchtete. Und hat sie sich dennoch als<br />

unfähig erwiesen, sich eine selbständige Führung zu schaffen und die Macht in die<br />

eigenen Hände zu nehmen, so sind die Gründe dafür in <strong>der</strong> organischen Natur <strong>der</strong> isolierten<br />

herkömmlichen Kleinwirtschaft zu suchen: diese sog aus dem Bauer alle Säfte, ohne<br />

ihn dafür mit <strong>der</strong> Fähigkeit zu Verallgemeinerungen auszustatten.<br />

Die politische Freiheit des Bauern bedeutet in <strong>der</strong> Praxis die Freiheit, zwischen den<br />

verschiedenen städtischen Parteien zu wählen. Doch auch diese Wahl vollzieht sich nicht<br />

a priori. Durch ihren Aufstand stößt die Bauernschaft die Bolschewiki an die Macht.<br />

Aber erst nach <strong>der</strong> Machteroberung werden die Bolschewiki die Bauernschaft erobern<br />

können, indem sie die Agrarrevolution zum Gesetz des Arbeiterstaates erheben.<br />

Eine Forschergruppe unter Jakowlews Leitung nahm eine sehr wertvolle Klassifizierung<br />

<strong>der</strong> Materialien vor, die die Evolution <strong>der</strong> Agrarbewegung vom Februar bis Oktober<br />

charakterisieren. Die Zahl <strong>der</strong> unorganisierten Zusammenstöße mit einhun<strong>der</strong>t pro Monat<br />

zugrunde legend, berechneten die Forscher, daß an "organisierten" Konflikten auf den<br />

April dreiunddreißig, auf den Juni sechsundachtzig, auf Juli hun<strong>der</strong>tundzwanzig<br />

entfielen. Das war <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> höchsten Blüte <strong>der</strong> sozialrevolutionären Organisationen<br />

auf dem Lande. Im August kommen auf hun<strong>der</strong>t unorganisierte Konflikte bereits<br />

nur zweiundsechzig organisierte, im Oktober insgesamt vierzehn. Aus diesen bei all ihrer<br />

Bedingtheit höchst lehrreichen Zahlen zieht Jakowlew jedoch eine ganz überraschende<br />

Schlußfolgerung: wenn die Bewegung bis zum August immer »organisiertere« Formen<br />

annahm, so gewinnt sie im Herbst dagegen einen immer »elementareren Charakter«. Zur<br />

gleichen Formel gelangt ein an<strong>der</strong>er Forscher, Wermenitschew: »Das Sinken des organisierten<br />

Teiles <strong>der</strong> Bewegung in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Voroktoberwelle beweist das Elementare<br />

<strong>der</strong> Bewegung in diesen Monaten.« Stellt man das Elementare dem Bewußten, wie Blindheit<br />

dem Sehvermögen, gegenüber und das wäre die einzige wissenschaftliche Gegenüberstellung<br />

-, dann müßte man zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung kommen, daß das Bewußte in<br />

<strong>der</strong> Bauernbewegung bis August steigt, dann zu fallen beginnt, um im Moment des<br />

Oktoberaufstandes gänzlich zu verschwinden. Dieses haben unsere Forscher offenbar<br />

nicht sagen wollen. Bei einem einigermaßen nachdenklichen Verhalten zu <strong>der</strong> Frage ist<br />

es unschwer zu begreifen, daß zum Beispiel die Bauernwahlen zur Konstituierenden<br />

Versammlung, trotz all ihrer äußerlichen »Organisiertheit«, einen unvergleichlich<br />

»elementareren«, das beißt unvernünftigeren, herdenmäßigeren blin<strong>der</strong>en Charakter<br />

gehabt hatten als <strong>der</strong> »unorganisierte« Bauernfeldzug gegen die Gutsbesitzer, wo je<strong>der</strong><br />

Bauer klar wußte, was er wollte.<br />

Auf dem Herbstgipfel brach die Bauernschaft nicht mit dem Bewußten zugunsten des<br />

Elementaren, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Versöhnlerführung zugunsten des Bürgerkriegs. Der<br />

Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Organisiertheit hatte wesentlich äußerlichen Charakter: die Versöhnlerorganisationen<br />

kommen in Wegfall; aber sie hinterlassen keinesfalls einen leeren Platz. Das<br />

Beschreiten des neuen Weges vollzog sich unter unmittelbarer Führung <strong>der</strong> revolutionärsten<br />

Elemente: Soldaten, Matrosen und Arbeiter. Vor entscheidenden Taten riefen die<br />

Bauern häufig allgemeine Versammlungen ein, sorgten sogar dafür, daß Beschlüsse von<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 561


allen Dorfgenossen unterzeichnet wurden. »In <strong>der</strong> Herbstperiode <strong>der</strong> Bauernbewegung<br />

mit ihren Zerstörungsformen«, schreibt <strong>der</strong> dritte Forscher, Schestakow, »tritt häufig die<br />

alte "Dorfversammlung" <strong>der</strong> Bauern in Erscheinung ... In <strong>der</strong> Dorfversammlung verteilt<br />

die Bauernschaft das enteignete Hab und Gut, durch die Dorfversammlung verhandelt<br />

sie mit den Gutsbesitzern und Gutsadministrationen, den Kreiskommissaren und den<br />

Beschwichtigern an<strong>der</strong>er Art« ...<br />

Weshalb die Gemeindekomitees, die den Bauern dicht an den Bürgerkrieg herangeführt<br />

hatten, vom Schauplatz verschwanden, darüber enthalten die Materialien keine<br />

direkten Angaben. Aber die Erklärung drängt sich von selbst auf. Die <strong>Revolution</strong><br />

verbraucht rapid ihre Organe und Werkzeuge. Schon deshalb, weil die Landkomitees die<br />

halb friedlichen Handlungen geleitet hatten, mußten die sich für den direkten Sturm als<br />

wenig geeignet erweisen. Der allgemeine Grund wird durch beson<strong>der</strong>e, aber nicht<br />

weniger schwerwiegende Ursachen ergänzt. Indem sie den Weg des offenen Krieges<br />

gegen die Gutsbesitzer beschritten, wußten die Bauern nur allzu gut, was ihnen im Falle<br />

einer Nie<strong>der</strong>lage drohte. Nicht wenige Landkomitees saßen ohnehin bereits bei Kerenski<br />

hinter Schloß und Riegel. Die Verantwortung zu dekonzentieren, wurde unerläßliche<br />

For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Taktik. Die geeignetste Form dafür war <strong>der</strong> "Mir". In gleicher Richtung<br />

wirkte außerdem zweifellos das übliche Mißtrauen <strong>der</strong> Bauern untereinan<strong>der</strong>: es ging<br />

jetzt um direkte Aneignung und Teilung <strong>der</strong> Gutsbesitzerhabe, je<strong>der</strong> wollte selbst daran<br />

teilnehmen, ohne seine Rechte einem an<strong>der</strong>en anzuvertrauen. So führte die höchste<br />

Kampfverschärfung zu vorübergehendem Beiseiteschieben <strong>der</strong> Vertretungsorgane durch<br />

die urwüchsige bäuerliche Demokratie von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Dorfversammlung und des<br />

Mirspruchs.<br />

Die grobe Unklarheit im Deuten des Charakters <strong>der</strong> Bauernbewegung muß beson<strong>der</strong>s<br />

überrasehend erscheinen aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> bolschewistischer Forscher. Doch darf man nicht<br />

vergessen, daß es sich um Bolschewiki neuen Schlages handelt. Bürokratisierung des<br />

Denkens führt unvermeidlich zur Überschätzung <strong>der</strong> Organisationsformen, die <strong>der</strong><br />

Bauernschaft von oben aufgezwungen waren, und zur Unterschätzung jener, die die<br />

Bauernschaft sich selbst gab. Der aufgeklärte Beamte betrachtet zusammen mit dem<br />

liberalen Professor gesellschaftliche Prozesse unter dem Gesichtswinkel <strong>der</strong> Verwaltung.<br />

Als Volkskommissar für Landwirtschaft bewies Jakowlew später das gleiche summarisch-bürokratische<br />

Herangehen an die Bauernschaft, nur auf einem unermeßlich weiteren<br />

und verantwortlicheren Gebiet, nämlich bei <strong>der</strong> Durchführung <strong>der</strong> "durchgehenden<br />

Kollektivisierung". Theoretische Oberflächlichkeit rächt sich grausam, wenn es um die<br />

Praxis im großen Maßstabe geht!<br />

Jedoch bis zu den Fehlern <strong>der</strong> durchgehenden Kollektivisierung bleiben noch gute<br />

dreizehn Jahre. Jetzt handelt es sich vorerst um die Expropriierung des Bodeneigentums.<br />

Hun<strong>der</strong>tvierunddreißigtausend Gutsbesitzer zittern noch um ihre achtzig Millionen<br />

Deßjatinen. Am gefährdetsten ist die Lage <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> dreißigtausend Herren des alten<br />

Rußland, die über siebzig Millionen Deßjatinen verfügen, durchschnittlich mehr als<br />

zweitausend Deßjatinen pro Besitzer. Der Adelige Boborykin schreibt an den Kammerherrn<br />

Rodsjanko: »Ich bin Gutsbesitzer, und es will mir nicht in den Kopf, daß ich<br />

meinen Boden verlieren soll, noch dazu für den unwahrscheinlichsten Zweck: für ein<br />

Experiment <strong>der</strong> sozialistischen Lehren.« Aber eine <strong>Revolution</strong> hat eben zur Aufgabe, zu<br />

vollziehen, was den Regierenden nicht in den Kopf will.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 562


Weiterblickende Gutsbesitzer kommen jedoch zu <strong>der</strong> Einsicht, daß sie ihre Güter nicht<br />

werden behalten können. Sie streben es auch schon gar nicht mehr an: je schneller sie<br />

den Boden loswerden, um so besser. In <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung sehen sie vor<br />

allem die große Verrechnungskammer, wo <strong>der</strong> Staat sie nicht nur für den Boden, son<strong>der</strong>n<br />

auch für ihre Unannehmlichkeiten entschädigen wird.<br />

Die Bauerneigentümer schlossen sich von links diesem Programm an. Sie waren nicht<br />

abgeneigt, mit dem parasitären Adel Schluß zu machen, fürchteten aber, den Begriff des<br />

Bodeneigentums zu erschüttern. Der Staat sei reich genug, erklärten sie auf ihren<br />

Kongressen, um den Gutsbesitzern die Kleinigkeit von zwölf Milliarden Rubel zu bezahlen.<br />

In ihrer Eigenschaft als "Bauern" hofften sie dabei, unter bevorrechteten Bedingungen<br />

auf Kosten des Volkes zu gutsherrlichem Boden zu kommen.<br />

Die Besitzer erkannten, daß die Höhe <strong>der</strong> Ablösungen eine politische Größe ist, die<br />

bestimmt wird vom Kräfteverhältnis im Augenblick <strong>der</strong> Abfindung. Bis August blieb<br />

Hoffnung, daß die nach Kornilow-Methoden einzuberufende Konstituierende Versammlung<br />

die Agrarreform auf einer mittleren Linie zwischen Rodsjanko und Miljukow durchführen<br />

würde. Kornilows Zusammenbruch bedeutete, daß die besitzenden Klassen das<br />

Spiel verloren haben.<br />

Im September und Oktober warteten die Gutsbesitzer auf die Lösung, wie ein<br />

hoffnungsloser Kranker auf den Tod. Der Herbst ist die Zeit <strong>der</strong> Muschikpolitik. Die<br />

Fel<strong>der</strong> sind abgeerntet, die Illusionen zerstreut, die Geduld erschöpft. Es ist Zeit, Schluß<br />

zu machen! Die Bewegung tritt aus den Ufern, erfaßt alle Bezirke, verwischt lokale<br />

Beson<strong>der</strong>heiten, reißt alle Dorfschichten mit, spült Rücksichten auf Gesetz und Vorsicht<br />

weg, wird offensiv, erbittert, ungestüm, rasend, bewaffnet sich mit Eisen und Feuer,<br />

Revolver und Granaten, vernichtet und brennt Gutshöfe nie<strong>der</strong>, verjagt die Gutsbesitzer,<br />

säubert den Boden, tränkt ihn manchenorts mit Blut.<br />

Zugrunde gehen die Adelsnester, einst besungen von Puschkin, Turgenjew und Tolstoi.<br />

In Rauch geht das alte Rußland auf Die liberale Presse sammelt das Stöhnen und Klagen<br />

über die Vernichtung von englischen Gärten, Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> leibeigenen Pinsel, Familienbibliotheken,<br />

Tambower Parthenons, Rennpferden, alten Gravüren, Zuchtstieren. Bürgerliche<br />

Historiker versuchen die Verantwortung für diesen "Vandalismus" des<br />

Bauernstrafgerichts über die Adels"kultur" den Bolschewiki zuzuschieben. In Wirklichkeit<br />

führte <strong>der</strong> russische Muschik eine Jahrhun<strong>der</strong>te vor dem Auftreten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

begonnene Sache zu Ende. Seine fortschrittliche historische Aufgabe löste er mit den<br />

einzigen Mitteln, über die er verfügte: Mit Hilfe <strong>der</strong> revolutionären Barbarei rottete er die<br />

Barbarei des Mittelalters aus. Hinzu kommt, daß we<strong>der</strong> er selbst; noch seine Großväter<br />

und Urgroßväter jemals Gnade o<strong>der</strong> Nachsicht erfahren hatten.<br />

Als die Feudalen gesiegt hatten über die Jacquerie, die <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> französischen<br />

Bauern um viereinhalb Jahrhun<strong>der</strong>te voranging, schrieb ein gottesfürchtiger Mönch in<br />

seine Chronik: »Sie haben dem Lande so viel Böses zugefügt, daß zur Vernichtung des<br />

Königtums es des Kommens <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> nicht mehr bedurfte; diese hätten Frankreich<br />

niemals das antun können, was die Adligen Frankreich angetan haben.« Erst die<br />

Bourgeoisie - im Mai 1871 - übertraf an Grausamkeit die französischen Adligen. Die<br />

<strong>russischen</strong> Bauern entgingen dank <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> Arbeiter, die <strong>russischen</strong> Arbeiter<br />

dank <strong>der</strong> Hilfe <strong>der</strong> Bauern dieser doppelten Lehre <strong>der</strong> Beschirmer von Kultur und<br />

Menschlichkeit.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 563


Die Wechselbeziehungen zwischen den Hauptklassen Rußlands fanden ihr Abbild im<br />

Dorfe. Wie die Arbeiter und Soldaten, den Plänen <strong>der</strong> Bourgeoisie zuwi<strong>der</strong>, gegen die<br />

Monarchie kämpften, so erhob sich, ohne auf die Warnung des Kulaken zu hören, gegen<br />

die Gutsbesitzer am kühnsten die Dorfarmut. Wie die Versöhnler glaubten, die <strong>Revolution</strong><br />

könne nur von dem Moment an fest auf den Beinen stehen, wo Miljukow sie<br />

anerkennt, so meinte <strong>der</strong> nach rechts und links blickende Mittelbauer, die Unterschrift<br />

des Kulaken legitimiere die Aneignungen. Schließlich, wie die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> feindliche<br />

Bourgeoisie ohne Bedenken sich die Macht aneignete, so verzichteten die den Plün<strong>der</strong>ungen<br />

wi<strong>der</strong>strebenden Kulaken nicht auf <strong>der</strong>en Früchte. Die Macht in den Händen des<br />

Bourgeois wie die gutsherrliche Habe in den Händen des Kulaken waren nicht von<br />

Dauer: in beiden Fällen aus gleichgearteten Gründen.<br />

Die Stärke <strong>der</strong> agrardemokratischen, dem Wesen nach bürgerlichen <strong>Revolution</strong> hatte<br />

sich darin geäußert, daß sie vorübergehend die Klassenwi<strong>der</strong>sprüche des Dorfes<br />

überwand: <strong>der</strong> Landarbeiter plün<strong>der</strong>te den Gutsbesitzer, wobei er dem Kulak half Das<br />

XVII., XVIII. und XIX. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong> erhob sich auf den Schultern<br />

des XX. und drückte es nie<strong>der</strong> zur Erde. Die Schwäche <strong>der</strong> verspäteten bürgerlichen<br />

<strong>Revolution</strong> hatte sich darin geäußert, daß <strong>der</strong> Bauernkrieg die bürgerlichen <strong>Revolution</strong>äre<br />

nicht vorwärtsstieß, son<strong>der</strong>n im Gegenteil sie endgültig ins Lager <strong>der</strong> Reaktion zurückwarf;<br />

<strong>der</strong> gestrige Zuchthäusler Zeretelli beschützte den gutsherrlichen Boden vor<br />

Anarchie! Die von <strong>der</strong> Bourgeoisie zurückgeworfne Bauernrevolution vereinigte sich mit<br />

dem Industrieproletariat Dadurch befreite sich das XX. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht nur von den auf<br />

ihm lastenden früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten, son<strong>der</strong>n erhob sich auf <strong>der</strong>en Schultern zu einer<br />

neuen historischen Höhe. Damit <strong>der</strong> Bauer den Boden säubern und von Zäunen befreien<br />

konnte, mußte an die Spitze des Staates <strong>der</strong> Arbeiter treten: dies ist die einfachste Formel<br />

<strong>der</strong> Oktoberrevolution.<br />

Die nationale Frage<br />

Die Sprache ist das wichtigste Instrument <strong>der</strong> Verbindung zwischen Mensch und<br />

Mensch, folglich auch - <strong>der</strong> Wirtschaft. Sie wird zur nationalen Sprache gleichzeitig mit<br />

dem Siege des Warenverkehrs, <strong>der</strong> eine Nation zusanimenfaßt. Auf dieser Basis entsteht<br />

<strong>der</strong> nanonale Staat als bequemste, vorteilhafteste und normalste Arena kapitalistischer<br />

Beziehungen in Westeuropa begann die Epoche <strong>der</strong> Formierung bürgerlicher Normen,<br />

läßt man den Unabhängigkeitskampf <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lande und das Schicksal des Insel-<br />

England außer acht, mit <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong> und wurde im wesentlichen<br />

abgeschlossen etwa im Verlaufe eines Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> Gründung des<br />

Deutschen Reiches.<br />

Aber in jener Periode, wo <strong>der</strong> nationale Staat in Europa bereits aufgehört hatte, die<br />

Produktivkräfte aufzunehmen, und in den imperialistischen Staat hineinzuwachsen<br />

begann, hob im Osten - in Persien, auf dem Balkan, in China, Indien - erst die Ära <strong>der</strong><br />

nationaldemokratischen <strong>Revolution</strong>en an, zu denen die russische <strong>Revolution</strong> von 1905<br />

Anstoß gab. Der Balkankrieg Von 1912 bildete den Abschluß <strong>der</strong> Formierung von Nationalstaaten<br />

im Südosten Europas. Der darauf folgende imperialistische Krieg vollendete<br />

beiläufig in Europa die nicht abgeschlossene Arbeit <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong>en, indem<br />

er zur Zerglie<strong>der</strong>ung Österreich-Ungarns führte, zur Schaffung eines unabhängigen Polen<br />

und <strong>der</strong> Randstaaten, die sich von dem Zarenreiche abgetrennt hatten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 564


Rußland entstand nicht als nationaler Staat, son<strong>der</strong>n als Staat von Nationalitäten. Das<br />

entsprach seinem verspäteten Charakter. Auf <strong>der</strong> Grundlage von extensiver Landwirtschaft<br />

und Heimindustrie entwickelte sich das Handeiskapital nicht in die Tiefe, nicht<br />

vermittels einer Umbildung <strong>der</strong> Produktion, son<strong>der</strong>n in die Breite, durch Vergrößerung<br />

seines Operationsradius. Händler, Gutsbesitzer und Beamter rückten vom Zentrum zur<br />

Peripherie vor, hinter den siedelnden Bauern her, die auf <strong>der</strong> Suche nach neuem Land<br />

und Befreiung von Abgabenlasten in neue Territorien mit noch rückständigeren Stämmen<br />

vordrangen. Die Expansion des Staates war in ihrem Kern eine Expansion <strong>der</strong> Landwirtschaft,<br />

die bei all ihrer Primitivität den Nomaden des Südens und Ostens überlegen war.<br />

Der auf dieser unermeßlichen und sich dauernd verbreiternden Basis erwachsene ständisch-bürokratische<br />

Staat wurde stark genug, um sich im Westen einzelne Nationen von<br />

höherer Kultur zu unterwerfen, die infolge zahlenmäßiger Schwäche o<strong>der</strong> innerer Krisen<br />

unfähig waren, ihre Selbständigkeit zu verteidigen (Polen, Litauen, die Baltischen<br />

Provinzen, Finnland).<br />

Zu den siebzig Millionen Großrussen, die den Grundstock des Landes bildeten, kamen<br />

allmählich noch neunzig Millionen "Fremdstämmiger" hinzu, die sich scharf in zwei<br />

Gruppen teilten: die westlichen, durch ihre Kultur Großrußland üherlegen, und die östlichen,<br />

auf einem tieferen Niveau stehend. So bildete sich das Reich heraus, dessen<br />

herrschende Nationalität nur 43 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung betrug, während 57 Prozent,<br />

darunter 17 Prozent Ukrainer, 6 Prozent Polen, 4½ Prozent Weißrussen, auf Nationalitäten<br />

von verschiedenen Stufen <strong>der</strong> Kultur und <strong>der</strong> Rechtlosigkeit entfielen.<br />

Die habsüchtige Begehrlichkeit des Staates und die Dürftigkeit <strong>der</strong> bäuerlichen Basis<br />

<strong>der</strong> herrschenden Klassen schufen erbittenste Formen <strong>der</strong> Ausbeutung. Die nationale<br />

Unterdrückung war in Rußland viel größer als in den Nachbarstaaten, nicht nur jenseits<br />

<strong>der</strong> westlichen, son<strong>der</strong>n auch jenseits <strong>der</strong> östlichen Grenze. Die große Zahl <strong>der</strong> rechtlosen<br />

Nationen und die Schärfe <strong>der</strong> Rechtlosigkeit verliehen dem nationalen Problem im<br />

zaristischen Rußland gewaltige Explosivkraft.<br />

Wenn in national-einheitlichen Staaten die bürgerliche <strong>Revolution</strong> erst mächtige zentripetale<br />

Tendenzen entwickelte, da sie im Zeichen <strong>der</strong> Überwindung des Partikularismus<br />

vedief, wie in Frankreich, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> nationalen Zersplitterung, wie in Italien und Deutschland,<br />

so entfesselte in national heterogenen Staaten, wie <strong>der</strong> Türkei, Rußland, Österreich-<br />

Ungarn, umgekehrt die verspätete bürgerliche <strong>Revolution</strong> die zentrifugalen Kräfte. Trotz<br />

scheinbarer Gegensätzlichkeit dieser in den Termini ausgedrückten Prozesse ist ihre<br />

historische Funktion die gleiche, soweit es sich in beiden Fällen darum handelt, die nationale<br />

Einheit als das wichtigste Wirtschaftsreservoir auszunutzen: Deutschland mußte<br />

man zu diesem Zwecke vereinigen. Österreich-Ungarn dagegen - zerglie<strong>der</strong>n.<br />

Die Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Entwicklung zentrifugaler Nationalbewegungen in Rußland<br />

hatte Lenin rechtzeitig in Betracht gezogen und während einer Reihe von Jahren hartnäkkig,<br />

im beson<strong>der</strong>en gegen Rosa Luxemburg, gekämpft um den berühmten Paragraphen 9<br />

des alten Parteiprogramms, <strong>der</strong> das Recht <strong>der</strong> Nationen auf Selbstbestimmung, das heißt<br />

auf völlige staatliche Loslösung, formulierte. Damit nahm die bolschewistische Partei<br />

noch keinesfalls auf sich; Separatismus zu predigen. Sie übernahm nur die Verpflichtung,<br />

jeglicher Art von nationaler Unterdrükkung, auch <strong>der</strong> gewaltsamen Festhaltung irgendeiner<br />

Nationalität in den Grenzen des Gesamtstaates, unversöhnlichen Wi<strong>der</strong>stand zu<br />

leisten. Nur dadurch konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen <strong>der</strong> unter-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 565


drückten Völker gewinnen.<br />

Doch war dies nur die eine Seite <strong>der</strong> Sache. Die Politik des Bolschewismus auf nationalem<br />

Gebiet hatte noch eine an<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> ersten gleichsam wi<strong>der</strong>sprechende, in Wirklichkeit<br />

aber sie ergänzende Seite. Im Rahmen <strong>der</strong> Partei und <strong>der</strong> Arbeiterorganisationen<br />

überhaupt verfolgte <strong>der</strong> Bolschewismus strengsten Zentralismus, bei unversöhnlichem<br />

Kampfgegen jede Art nationalistischer Seuche, die fähig wäre, die Arbeiter zueinan<strong>der</strong> in<br />

Gegensatz zu bringen o<strong>der</strong> sie zu trennen. Indem er dem bürgerlichen Staat entschieden<br />

das Recht absprach, einer nationalen Min<strong>der</strong>heit gewaltsames Zusammenleben o<strong>der</strong> auch<br />

nur die Staatssprache aufzuzwingen, betrachtete <strong>der</strong> Bolschewismus es gleichzeitig als<br />

seine wahrhaft heiligste Aufgabe, die Werktätigen verschiedenster Nationalitäten durch<br />

freiwillige Klassendisziplin so eng wie möglich zu einer Einheit zu verbinden. Deshalb<br />

lehnte er das national-fö<strong>der</strong>ative Priiizip des Parteiaufbaues rundweg ab. Die revolutionäre<br />

Organisation ist kein Prototyp des Zukunftsstaates, son<strong>der</strong>n nur das Instruinent zu<br />

seiner Schaffung. Das Instrument muß zweckmäßig <strong>der</strong> Herstellung eines Erzeugnisses<br />

entsprechen, keinesfalls jedoch dieses in sich bergen. Nur die zentralistische Organisation<br />

kann den Erfolg des revolutionären Kampfes sichern, - auch dann, wenn es um die<br />

Vernichtung des zentralistischen Joches über Nationen geht.<br />

Der Sturz <strong>der</strong> Monarchie mußte für Rußlands unterdrückte Nationen notwendigerweise<br />

auch <strong>der</strong>en nationale <strong>Revolution</strong> bedeuten. Doch zeigte sich hier das gleiche wie auf<br />

allen an<strong>der</strong>en Gebieten des Februarregirnes: die offizielle Demokratie, gebunden durch<br />

ihre politische Abhängigkeit von <strong>der</strong> imperialistischen Bourgeoisie, war absolut unfähig,<br />

die alten Ketten zu zerreißen. Indem sie ihr Recht, über das Schicksal aller übrigen<br />

Nationen zu bestimmen, als unbestreitbar betrachtete, verteidigte sie eifersüchtig weiter<br />

jene Reichtums-, Macht- und Einflußquellen, die <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bourgeoisie die<br />

Vorherrschaft gesichert hatten. Die Versöhnler-Demokratie übersetzte nur die Traditionen<br />

<strong>der</strong> nationalen Politik des Zarismus in die Sprache <strong>der</strong> Befreiungsrhetorik: jetzt<br />

handelte es sich um die Verteidigung <strong>der</strong> Einigkeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Doch die herrschende<br />

Koalition hatte ein an<strong>der</strong>es, schärferes Argument: Erwägungen <strong>der</strong> Kriegszeit. Das<br />

bedeutet: die Befreiungsbestrebungen einzelner Nationalitäten wurden hingestellt als<br />

Gebilde von <strong>der</strong> Hand des deutsch-österreichischen Stabes. Erste Geige spielten auch<br />

hier die Kadetten, die Versöhnler die Begleitung.<br />

Die neue Macht konnte natürlicherweise den wi<strong>der</strong>lichen Knäuel mittelalterlicher<br />

Verhöhnung <strong>der</strong> Fremdstämmigen nicht unangetastet lassen. Doch hoffte und versuchte<br />

sie, sich lediglich auf die Abschaffung von Ausnahmegesetzen gegen einzelne Nationen<br />

zu beschränken, das heißt auf die Herstellung <strong>der</strong> bloßen Gleichheit aller Teile <strong>der</strong><br />

Bevölkerung vor <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Staatsbürokratie.<br />

Die formelle Gleichberechtigung brachte am meisten den Juden ein: die Zahl <strong>der</strong> ihre<br />

Rechte einschränkenden Gesetze betrug sechshun<strong>der</strong>tundfünfzig. Außerdem konnten die<br />

Juden, als eine rein städtische und verstreutere Nationalität, we<strong>der</strong> Anspruch erheben äuf<br />

staatliche Selbständigkeit noch auf territoriale Autonomie. Was den Plan einer sogenannten<br />

"national-kulturellen Autonomie" betrifft, die die Juden des ganzen Landes um<br />

Schulen und an<strong>der</strong>e Institutionen vereinigen sollte, so zerrann diese von verschiedenen<br />

jüdischen Gruppen dem österreichischen Theoretiker Otto Bauer entlehnte reaktionäre<br />

Utopie mit dem ersten Tage <strong>der</strong> Freiheit wie Wachs unter Sonnenstrahlen.<br />

Doch ist die <strong>Revolution</strong> gerade deshalb <strong>Revolution</strong>, weil sie sich nicht mit Almosen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 566


und Ratenzahlungen begnügt. Die Beseitigung <strong>der</strong> beschämendsten Beschränkungen<br />

brachte die formelle Gleichberechtigung <strong>der</strong> Bürger unabhängig von ihrer Nationalität;<br />

aber um so schärfer enthüllte sie die fehlendc Gleichberechtigung <strong>der</strong> Nationen selbst,<br />

die sie zum größten Teil in <strong>der</strong> Lage von Stief- und Pflegekin<strong>der</strong>n des groß<strong>russischen</strong><br />

Staates beließ.<br />

Die bürgerliche Gleichberechtigung brachte vor allem nichts den Finnen, die nicht<br />

Gleichstellung mit den Russen anstrebten, son<strong>der</strong>n Unabhängigkeit von Rußland. Sie<br />

brachte nichts Neues den Ukrainern ein, die auch früher keine Einschränkungen gekannt<br />

hatten, weil man sie zwangsweise für Russen erklärte. Sie än<strong>der</strong>te nichts an <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong><br />

von deutschem Gutshof und deutsch-russischer Stadt bedrückten Letten und Esten. Sie<br />

erleichterte nicht das Schicksal <strong>der</strong> rückständigen Völker und Stämme Asiens, die nicht<br />

durch jutistische Beschränkungen, son<strong>der</strong>n durch die Ketten des ökonomischen und<br />

kulturellen Joches am Boden <strong>der</strong> Rechtlosigkeit gehalten wurden. Alle diese Fragen<br />

wollte die liberal-versölmlerische Koalition nicht einmal anschneiden. Der demokratische<br />

Staat blieb <strong>der</strong> gleiche Staat des groß<strong>russischen</strong> Beamten, <strong>der</strong> keinerlei Anstalten<br />

trat, seinen Platz an jemand abzutreten.<br />

Je tiefere Massen die <strong>Revolution</strong> in den Randgebieten erfaßte, um so krasser zeigte<br />

sich, daß die Staatssprache dort die Sprache <strong>der</strong> besitzenden Klassen war. Das Regime<br />

<strong>der</strong> formalen Demokratie, mit Presse- und Versammlungsfreiheit, ließ die rückständigen<br />

und unterdrückten Nationalitäten noch schmerzlicher empfinden, wie sehr sie <strong>der</strong><br />

elementarsten Mittel kultureller Entwicklung beraubt waren: eigener Schulen, eigener<br />

Gerichte, eigenen Beamtentums. Die Hinweise auf die künftige Konstituierende<br />

Versammlung reizten nur: in dieser Versammlung würden ja doch die gleichen Parteien<br />

herrschen, die die Provisorische Regierung geschaffen haben, und fortfahren, die Traditionen<br />

<strong>der</strong> Russifizierung zu verteidigen, mit eifriger Gier jene Grenze offenbarend, über<br />

die die regierenden Klassen nicht hinausgehen wollen.<br />

Finnland ward sogleich ein Splitter im Körper des Februarregimes. Dank <strong>der</strong> Schärfe<br />

<strong>der</strong> Agrarfrage, die in Finnland eine Frage <strong>der</strong> kleinen, in leibeigener Hörigkeit stehenden<br />

Pächter war (<strong>der</strong> Torpars), führten die Industriearbeiter, die insgesamt 14 Prozent <strong>der</strong><br />

Bevölkerung ausmachten, das Dorf hinter sich. Der finnländische Sejm war das einzige<br />

Parlament <strong>der</strong> Welt, wo die Sozialdemokratie die Mehrheit erlangt hatte: einhun<strong>der</strong>tdrei<br />

von zweihun<strong>der</strong>t Sitzen. Nachdem sie durch das Gesetz vom 5. Juni den Sejm für souverän<br />

erklärt hatte, ausgenommen in Fragen <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> Außenpolitik, wandte sich<br />

die fmnländische Sozialdemokratie »an die Bru<strong>der</strong>parteien Rußlands« um Beistand. Der<br />

Appell aber war an eine ganz falsche Adresse gerichtet. Die Provisorische Regierung trat<br />

anfangs beiseite und überließ es den »Bru<strong>der</strong>parteien«, zu handeln. Eine Ermahnungsdelegation<br />

mit Tschcheidse an <strong>der</strong> Spitze kehrte aus Helsingfors unverrichteter Dinge<br />

zurück. Nun beschlossen die sozialistischen Minister Petrograds Kerenski, Tschernow,<br />

Skobeljew, Zeretelli, die sozialistische Regierung in Helsingfors gewaltsam zu liquidieren.<br />

Der Generalstabschef des Hauptquartiers, Monarchist Lukomski, warnte die Zivilbehörden<br />

und die Bevölkerung Finnlands, daß »ihre Städte und in erster Reihe Helsingfors<br />

vernichtet werden würden im Falle irgendeines Vorgehens gegen die russische Armee«.<br />

Nach solcher Einleitung löste die Regierung durch ein feierliches Manifest, das sogar in<br />

stilistischer Hinsicht ein Plagiat an <strong>der</strong> Monarchie war, den Sejm auf und stellte am Tage<br />

des Beginns <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front vor die Tore des finnländischen Parlaments aus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 567


<strong>der</strong> Front herausgezogene russische Soldaten. So bekamen die revolutionären Massen<br />

Rußlands auf dem Wege zum Oktober keine üble Lektion hinsichtlich dessen, welch<br />

bedingten Platz die Prinzipien <strong>der</strong> Demokratie im Kampfe <strong>der</strong> Klassenkräfte einnehmen.<br />

Angesichts <strong>der</strong> nationalistischen Zügellosigkeit <strong>der</strong> Regierenden nahmen die revolutionären<br />

Truppen in Finnland eine würdige Position ein. Der in <strong>der</strong> ersten Septemberhälfte<br />

in Helsingfors tagende Distriktkongreß <strong>der</strong> Sowjets erklärte: »Sollte es die finnländische<br />

Demoratie als notwendig erachten, die Tagung des Sejm wie<strong>der</strong> aufzunehmen, wird <strong>der</strong><br />

Kongreß jeden Versuch, dies zu verhin<strong>der</strong>n, als konterrevolutionären Akt betrachten.«<br />

Das bedeutete ein direktes Angebot militärischer Hilfe. Aber den Weg des Aufstandes zu<br />

betreten, dazu war die finnländische Sozialdemokratie, in <strong>der</strong> versöhnlerische Tendenzen<br />

überwogen, nicht geneigt. Neuwahlen, die unter Androhung einer abermaligen Auflösung<br />

erfolgten, sicherten den bürgerlichen Parteien, mit <strong>der</strong>en Zustimmung die Regierung<br />

den Sejm aufgelöst hatte, eine kleine Mehrheit: einhun<strong>der</strong>tundacht von<br />

zweihun<strong>der</strong>t.<br />

Nun aber rücken auf den ersten Platz innere Fragen, die in dieser Schweiz des<br />

Nordens, dem Lande <strong>der</strong> Granitberge und habgierigen Besitzer, unabwendbar zum<br />

Bürgerkrieg führen. Die finnländische Bourgeoisie bereitet halboffen ihre Militärka<strong>der</strong><br />

vor. Gleichzeitig werden geheime Zellen <strong>der</strong> Roten Armee geschaffen. Die Bourgeoisie<br />

wendet sich um Waffen und Instrukteure an Schweden und Deutschland. Die Arbeiterschaft<br />

findet Unterstützung bei den <strong>russischen</strong> Truppen. Zugleich verstärkt sich in den<br />

bürgerlichen Kreisen, gestern noch zu Verständigung mit Petrograd geneigt, die<br />

Bewegung für vollständige Lostrennung von Rußland. Die führende Zeitung<br />

'Huvudstatsbladet' schrieb: »Das russische Volk ist von anarchistischer Zügellosigkeit<br />

besessen ... Müssen wir nicht unter diesen Umständen ... uns gegen dieses Chaos<br />

möglichst abgrenzen?« Die Provisorische Regierung sah sich gezwungen, auf Konzessionen<br />

einzugehen, ohne die Konstituierende Versammlung abzuwarten: Am 23. Oktober<br />

wurden »im Prinzip« die Leitsätze über die Unabhängigkeit Finnlands, ausgenommen in<br />

militärischen und außenpolitischen Angelegenheiten, beschlossen. Doch die "Unabhängigkeit"<br />

aus Kerenskis Händen war nicht mehr viel wert: bis zu seinem Sturze blieben<br />

zwei Tage.<br />

Ein zweiter, unvergleichlich gewaltigerer Splitter wurde die Ukraine. Anfang Juni<br />

verbot Kerenski den von <strong>der</strong> Rada einberufenen ukrainischen Armeekongreß. Die Ukrainer<br />

unterwarfen sich nicht. Um das Ansehen <strong>der</strong> Regierung zu retten, legalisierte<br />

Kerenski nachträglich den Kongreß und schickte ein vielverheißendes Telegramm, das<br />

von den Versammelten mit unehrerbietigem Lachen aufgenommen wurde. Die bittere<br />

Erfahrung hin<strong>der</strong>te Kercnski nicht, drei Wochen später den muselmanischen Militärkongreß<br />

in Moskau zu verbieten. Die demokratische Regierung hatte es anscheinend eilig,<br />

den unzufriedenen Nationen zu suggerieren: Ihr bekommt nur, was ihr entreißt.<br />

In ihrem am 10. Juni erschienenen ersten 'Universal' klagte die Rada Petrograd des<br />

Wi<strong>der</strong>standes gegen die nationale Selbständigkeit an und verkündete: »Von nun an<br />

werden wir uns unser Leben selbst gestalten.« Die ukrainischen Führer wurden von den<br />

Kadetten wie deutsche Agenten behandelt. Die Versöhnler wandten sich an die Ukrainer<br />

mit sentimentalen Ermahnungen. Die Provisorische Regierung entsandte nach Kiew eine<br />

Delegation. In <strong>der</strong> erhitzten ukrainischen Atmosphäre waren Kerenski, Zeretelli und<br />

Tereschtschenko gezwungen, <strong>der</strong> Rada einige Schritte entgegenzukommen. Aber nach<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 568


<strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten drehte die Regierung auch in <strong>der</strong><br />

ukrainischen Frage das Steuer nach rechts. Am 5. August beschuldigte die Rada mit<br />

erdrücken<strong>der</strong> Stimmenmehrheit die Regierung, sie habe, »durchdrungen von imperialistischen<br />

Tendenzen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie«, das Abkommen vom 3. Juli verletzt. »Als<br />

die Regierung ihren Wechsel einlösen sollte«, erklärte das Haupt <strong>der</strong> ukrainischen Regierung,<br />

Winnitschenko, »stellte sich heraus, daß die Provisorische Regierung ein kleiner<br />

Mogler ist, <strong>der</strong> durch einen Gaunertrick ein großes historisches Problem beseitigen<br />

wollte.« Diese unzweideutige Sprache charakterisiert zur Genüge die Autorität <strong>der</strong><br />

Regierung sogar in jenen Kreisen, die ihr politisch nahestehen mußten: Letzten Endes<br />

unterschied sich <strong>der</strong> ukrainische Versöhnler Winnitschenko von Kerenski nur so, wie<br />

sich ein mittelmäßiger Romancier von einem mittelmäßigen Advokaten unterscheidet.<br />

Allerdings veröffentlichte die Regierung schließlich im September eine Urkunde, die<br />

den Nationalitäten Rußlands das Recht auf "Selbstbestimmung" - in den von <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung festzulegenden Grenzen - zuerkannte. Aber dieser durch mchts<br />

garantierte und innerlich wi<strong>der</strong>spruchsvolle, in allem, außer in seinen Einschränkungen,<br />

höchst unbestimmte Wechsel auf die Zukunft flößte niemand Vertrauen ein: Die Taten<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung schrien schon zu laut gegen sie.<br />

Am 2. September beschloß <strong>der</strong> Senat, <strong>der</strong> gleiche, <strong>der</strong> zu seinen Sitzungen neue<br />

Mitglie<strong>der</strong> nicht ohne die alte Uniform zulassen wollte, die Veröffentlichung <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Regierung bestätigten Instruktion an das ukrainische Generalsekretariat, das heißt an das<br />

Kiewer Ministerkabinett, zu verweigern. Begründung: über ein Sekretariat existiere kein<br />

Gesetz, einer illegalen Institution aber dürfe man keine Instruktionen erteilen. Die<br />

hervorragenden Juristen verheimlichten nicht, daß das ganze Abkommen <strong>der</strong> Regierung<br />

mit <strong>der</strong> Rada eine Usurpation <strong>der</strong> Rechte <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung sei:<br />

unbeugsamste Anhänger <strong>der</strong> reinen Demokratie waren inzwischen die zaristischen<br />

Senatoren geworden. Indem sie so viel Mut an den Tag legten, riskierten die Oppositionellen<br />

von rechts durchaus nichts: sie wußten; daß ihre Opposition den Regierern aus <strong>der</strong><br />

Seele gesprochen war. Wenn sich die russische Bourgeoisie abzufinden vermochte mit<br />

einer gewissen Selbständigkeit Finnlands, das mit Rußland nur durch schwache ökonomische<br />

Bande verknüpft war, so konnte sie sich jedoch niemals einverstanden erklären<br />

mit <strong>der</strong> "Autonomie" des ukrainischen Getreides, <strong>der</strong> Donezkohle und des Kriworoger<br />

Eisenerzes.<br />

Am 19. Oktober befahl Kerenski telegraphisch den General-sekretären <strong>der</strong> Ukraine,<br />

»unverzüglich nach Petrograd abzureisen zur persönlichen Aussprache« über die von<br />

ihnen eingeleitete verbrecherische Agitation für eine Ukrainische Konstituierende<br />

Versammlung. Gleichzeitig wurde <strong>der</strong> Kiewer Staatsanwaltschaft nahegelegt, ein Verfahren<br />

gegen die Rada zu eröffnen. Doch die Donner an die Adresse <strong>der</strong> Ukraine schreckten<br />

genau so wenig, wie die Gnadenerweisungen an die Adresse Finnlands erfreuten.<br />

Die ukrainischen Versöhnler fühlten sich zu dieser Zeit noch viel sicherer als ihre<br />

älteren Vettern in Petrograd. Außer <strong>der</strong> günstigen Atmosphäre, mit <strong>der</strong> sie <strong>der</strong> Kampf für<br />

nationale Rechte umgab, hatte die verhältnismäßige Stabilität <strong>der</strong> kleinbürgerlichen<br />

Parteien <strong>der</strong> Ukraine wie einer Reihe an<strong>der</strong>er unterdrückten Nationalitäten ökonomische<br />

und soziale Wurzeln, die man mit einem Worte bezeichnen kann: Rückständigkeit. Trotz<br />

<strong>der</strong> schnellen industriellen Entwicklung <strong>der</strong> Donez- und Kriworoger Becken stand die<br />

Ukraine im allgemeinen noch hinter Großrußland zurück, das ukrainische Proletariat war<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 569


uneinheitlicher und ungestählter, die bolschewistische Partei blieb dort quantitativ und<br />

qualitativ schwach, trennte sich nur langsam von den Menschewlki, fand sich schwer<br />

zurecht in <strong>der</strong> politischen und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> nationalen Situation. Sogar in <strong>der</strong> industriellen<br />

Ost-Ukraine ergab die Distriktkonferenz <strong>der</strong> Sowjets Mitte Oktober noch immer eine<br />

kleine Versöhnlermehrheit!<br />

Verhältnismäßig noch schwächer war die ukrainische Bourgeoisie. Einer <strong>der</strong> Gründe<br />

für die mangelnde soziale Stabilität <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie als Ganzes bestand, wie<br />

wir uns erinnern, darin, daß ihren mächtigsten Teil Auslän<strong>der</strong> bildeten, die nicht einmal<br />

in Rußland lebten. In den Randgebieten wurde diese Tatsache durch eine an<strong>der</strong>e, nicht<br />

weniger wichtige ergänzt: die eigene, die einheimische Bourgeoisie gehörte nicht <strong>der</strong><br />

gleichen Nationalität an wie die Hauptmasse des Volkes.<br />

Die Stadtbevölkerung in den Randgebieten unterschied sich in nationaler Hinsicht<br />

überall von <strong>der</strong> Landbevölkerung. In <strong>der</strong> Ukraine und in Weißrußland waren Gutsbesitzer,<br />

Kapitalist, Advokat, Journalist - Großrusse, Pole, Jude, Auslän<strong>der</strong>; die Landbevölkerung<br />

hingegen bestand durchweg aus Ukrainem und Weißrussen. In den Ostseeprovinzen<br />

waren die Städte Herde <strong>der</strong> deutschen, <strong>russischen</strong> und jüdischen Bourgeoisie; das Land<br />

war durchweg lettisch o<strong>der</strong> estnisch. In den Städten Georgiens überwog die russische<br />

und armenische Bevölkerung, ebenfalls im turkmenischen Aserbeidjan. Von <strong>der</strong><br />

Kernmasse des Volkes nicht nur durch Lebensniveau und Sitten getrennt, son<strong>der</strong>n auch<br />

durch die Sprache, etwa wie die Englän<strong>der</strong> in Indien; den Schutz ihrer Güter und<br />

Einkünfte dem bürokratischen Apparat verdankend; unzertrennlich verbunden mit den<br />

herrschenden Klassen des gesamten Landes, gruppierten Gutsbesitzer, Industrielle und<br />

Kaufleute in den Randgebieten um sich einen kleinen Kreis aus <strong>russischen</strong> Beamten,<br />

Angestellten, Lehrern, Ärzten, Advokaten, Journalisten, teils auch Arbeitern und verwandelten<br />

die Städte in Herde <strong>der</strong> Russifizierung und Kolonisierung.<br />

Man konnte das Dorf übergehen, solange es schwieg. Aber auch nachdem es immer<br />

ungeduldiger seine Stimme zu erheben begann, fuhr die Stadt fort, beharrlich Wi<strong>der</strong>stand<br />

zu leisten und ihre privilegierte Lage zu verteidigen. Beamter, Kaufmann, Advokat<br />

lernten bald, ihren Kampf um die Kommandohöhen <strong>der</strong> Wirtschaft und Kultur hinter <strong>der</strong><br />

hochmütigen Verurteilung des erwachenden "Chauvinismus" zu verbergen. Das Bestreben<br />

einer herrschenden Nation, den Status quo aufrechtzuerhalten, wird nicht selten in<br />

die Farbe des Übernationalismus getaucht, wie das Bestreben eines siegreichen Landes,<br />

das Geraubte festzuhalten, leicht die Form Von Pazifismus annimmt. So fühlt sich<br />

Macdonald vor Gandhi als Internationalist. So erscheint Poincaré das Streben <strong>der</strong> Österreicher<br />

zu Deutschland als Verletzung des französischen Pazifismus.<br />

»Die in den Städten <strong>der</strong> Ukraine lebenden Menschen«, schrieb im Mai eine Delegation<br />

<strong>der</strong> Kiewer Rada an die Provisorische Regierung, »vor sich sehend die russifizierten<br />

Straßen dieser Städte ..., vergessen völlig, daß diese Städte nur kleine Inselchen im<br />

Meere des gesamten ukrainischen Volkes sind.« Wenn Rosa Luxemburg, in ihrer posthumen<br />

Polemik gegen das Programm <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, behauptet, <strong>der</strong> ukrainische<br />

Nationalismus, früher nur "Schrulle" eines Dutzend kleinbürgerlicher Intellektueller, sei<br />

künstlich aufgegangen auf <strong>der</strong> Hefe <strong>der</strong> bolschewistischen Formel vom Selbstbestimniungsrecht,<br />

so war sie trotz ihrem hellen Kopfe schwerstem historischem Irrtum verfallen:<br />

die ukrainische Bauernschaft hatte in <strong>der</strong> Vergangenheit aus dem Grunde nationale<br />

For<strong>der</strong>ungen nicht erhoben, aus dem sie sich überhaupt nicht bis zur Politik erhoben<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 570


hatte. Das Hauptverdienst <strong>der</strong> Februarumwälzung, vielleicht das einzige, aber völlig<br />

hinreichende, bestand gerade darin, daß es den unterdrücktesten Klassen und Nationalitäten<br />

Rußlands endlich die Möglichkeit gegeben hatte, laut ihre Stimme zu erheben. Das<br />

politische Erwachen <strong>der</strong> Bauernschaft konnte aber, nicht an<strong>der</strong>s vor sich gehen als<br />

vermittels <strong>der</strong> eigenen Sprache mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen in bezug<br />

auf Schule, Gericht, Selbstverwaltung. Sich dem zu wi<strong>der</strong>setzen, hätte den Versuch<br />

bedeutet, die Bauernschaft in das Nichtsein zurüekzustoßen.<br />

Die nationale Verschiedenheit von Stadt und Land äußerte sich empfindlich auch durch<br />

die Sowjets als vorwiegend städtische Organisationen. Unter Führung <strong>der</strong> Versöhnlerparteien<br />

ignorierten die Sowjets in <strong>der</strong> Regel die nationalen Interessen <strong>der</strong> Stammbevölkerung.<br />

Das war einer <strong>der</strong> Gründe für die Schwäche <strong>der</strong> ukrainischen Sowjets. Die Sowjets<br />

in Riga und Reval dachten nicht an die Interessen <strong>der</strong> Letten und Esten. Der Versöhnlersowjet<br />

in Baku vernachlässigte die Interessen <strong>der</strong> turkmenischen Stammbevölkerung.<br />

Unter falscher Flagge des lntemationalismus führten die Sowjets nicht selten einen<br />

Kampf gegen den defensiven ukramischen o<strong>der</strong> muselmanischen Nationalismus und<br />

deckten die unterdrückenden Russifizierungsmethoden <strong>der</strong> Städte. Es wird nicht wenig<br />

Zeit vergehen, auch unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Bolschewiki, bis die Sowjets <strong>der</strong> Randgebiete<br />

gelernt haben, die Sprache des Dorfes zu sprechen.<br />

Die durch Natur und Ausbeutung nie<strong>der</strong>gehaltenen Fremd-stämmigen Sibiriens verhin<strong>der</strong>te<br />

ihre ökonomische und kulturelle Primitivität überhaupt, sich auf jene Stufe zu<br />

erheben, wo nationale Ansprüche beginnen. Wodka, Fiskus und aufgezwungene Orthodoxie<br />

waren hier von altersher Haupthebel des Staatsprinzips. Jene Krankheit, die die<br />

Italiener die französische und die Franzosen die neapolitanische nennen, hieß bei den<br />

sibirischen Völkern die russische: das zeigt, aus welchen Quellen die Samen <strong>der</strong> Zivilisation<br />

flossen. Die Februarrevolution war nicht bis hierher vorgedrungen. Noch lange<br />

werden die Jäger und Renntierzüchter <strong>der</strong> Polarebene auf einen Lichtschimmer warten<br />

müssen.<br />

Die Völker und Stämme an <strong>der</strong> Wolga, im Nordkaukasus und in Zentralasien, durch<br />

die Februarumwälzung zum ersten Male aus ihrem prähistorischen Dasein erwacht,<br />

hatten we<strong>der</strong> eine nationale Bourgeoisie noch ein Proletariat gekannt. Über den Bauerno<strong>der</strong><br />

Hirtenmassen lagerte sich aus <strong>der</strong>en obersten Schichten eine dünne Zwischenschicht<br />

Intellektueller ab. Bevor man zum Programm <strong>der</strong> nationalen Selbstverwaltung außteigen<br />

konnte, wurde hier <strong>der</strong> Kampf geführt um die Fragen des eigenen Alphabets, eigenen<br />

Lehrers, mitunter - des eigenen Geistlichen. Diese - am meisten Unterdrückten mußten<br />

sich durch bittere Erfahrung überzeugen, daß die aufgeklärten Herren des Staates ihnen<br />

nicht freiwillig erlauben würden, sich hochzurichten. Die Rückständigsten <strong>der</strong> Rückständigen<br />

waren gezwungen, die revolutionärste Klasse als Verbündeten zu suchen. So<br />

bahnten sich mittels <strong>der</strong> linken Elemente ihrer jungen Intelligenz die Wotjaken, Tschuwaschen,<br />

Syrjanen, die Völker Dagestans und Turkestans Wege zum Bolschewismus.<br />

Die Bestimmung <strong>der</strong> Kolonialbesitzungen, beson<strong>der</strong>s in Zentralasien, verän<strong>der</strong>te sich<br />

zusammen mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Entwicklung des Zentrums, das von direktem und<br />

offenem Raub, auch auf dem Handelsgebiete, zu verschleierteren Methoden überging,<br />

indem die asiatischen Bauern in Lieieranten industriellen Rohstoffs, hauptsächlich <strong>der</strong><br />

Baumwolle, verwandelt wurden. Die hierarchisch organisierte Ausbeutung, die die<br />

Barbarei des Kapitalismus mit <strong>der</strong> Barbarei des patriarchalischen Gemeinwesens<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 571


verband, hielt erfolgreich die asiatischen Völker in äußerster nationaler Demütigung. Das<br />

Februarregime hatte hier alles beim alten gelassen.<br />

Die unter dem Zarismus den Baschkiren, Burjaten, Kirgisen und an<strong>der</strong>en Nomaden<br />

weggenommenen besseren Landstriche blieben in den Händen <strong>der</strong> Gutsbesitzer und<br />

reichen <strong>russischen</strong> Bauern, angesiedelt als kolonisatorische Oasen unter <strong>der</strong> einheimischen<br />

Bevölkerung. Das Erwachen des Geistes nationaler Unabhängigkeit bedeutete hier<br />

vor allem Kampf gegen die Kolonisatoren, die ein künstliches System von Streuländem<br />

geschaffen und die Nomaden zu Hunger und Aussterben verurteilt hatten. ihrerseits<br />

verteidigten die Eingewan<strong>der</strong>ten wütend die Einheit Russlands gegen den "Separatismus"<br />

<strong>der</strong> Asiaten, das heißt: die Unantastbarkeit ihres Raubes. Der Haß <strong>der</strong> Kolonisatoren<br />

gegen die Bewegung <strong>der</strong> Eingeborenen nahm zoologische Formen an. In Transbaikalien<br />

gingen unter Volldampf Vorbereitungen zu Burjatenpogromen unter Leitung von März-<br />

Sozialrevolutionären, die sich aus Gemeindeschreibem und von <strong>der</strong> Front zurückgekehrten<br />

Unteroffizieren rekrutierten.<br />

In ihrem Bestreben, solange wie möglich die alte Ordnung auf-rechtzuerhalten, appellierten<br />

alle Ausbeuter und Unterdrücker in den kolonisierten Gebieten von nun an an die<br />

souveränen Rechte <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung: mit dieser Phraseologie rüstete<br />

sie die Provisorische Regierung aus, die in ihnen die beste Stütze fand. An<strong>der</strong>erseits<br />

riefen auch die privilegierten Spitzen <strong>der</strong> unterdrückten Völker immer häufiger den<br />

Namen <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an. Sogar die muselinanisehe Geistlichkeit,<br />

die über die erwachten Bergvölker und -stämme des Nordkaukasus das grüne Banner<br />

Mohammeds erhoben hatte, bestand in allen Fällen, wo <strong>der</strong> Druck von unten sie in<br />

schwierige Lage brachte, auf Vertagung <strong>der</strong> Frage »bis zur Konstituierenden Versammlung«.<br />

Das wurde die Losung von Konservativismus, Reaktion, eigennützigen Interessen<br />

und Privilegien in allen Teilen des Landes. Die Appellation an die Konstituierende<br />

Versammlung bedeutete: hinziehen und Zeit gewinnen. Das Hinziehen bedeutete: Kräfte<br />

sammeln und die <strong>Revolution</strong> erdrosseln.<br />

In die Hände <strong>der</strong> Geistlichkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> feudalen Aristokratie geriet jedoch die Führung<br />

nur in <strong>der</strong> ersten Zeit, nur bei den rückständigen Völkern, fast nur bei den Muselmanen.<br />

Im allgemeinen vertraten die nationale Bewegung auf dem Lande begreiflicherweise<br />

Dorflehrer, Gemeindeschreiber, untere Beamte und Offiziere, zum Teil Kaufleute. Neben<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> o<strong>der</strong> russifizierten Intelligenz aus den soli<strong>der</strong>en und gesicherten Elementen<br />

entstand in den Randstädten bereits eine an<strong>der</strong>e Schicht, eine jüngere, durch Abstammung<br />

mit dem Dorfe eng verbunden, die keinen Zutritt zum Tische des Kapitals hatte<br />

und naturgemäß die politische Vertretung <strong>der</strong> nationalen, teils auch <strong>der</strong> sozialen Interessen<br />

<strong>der</strong> bäuerlichen Kernmasse übernahm.<br />

Den <strong>russischen</strong> Versöhnlern auf <strong>der</strong> Linie nationaler Ansprüche feindlich gegenüberstehend,<br />

gehörten die Versöhnler <strong>der</strong> Randgebiete zum gleichen Grundtypus und trugen<br />

in den meisten Fällen sogar die gleichen Bezeichnungen. Ukrainische Sozialrevolutionäre<br />

und Sozialdemokraten, georgische und lettische Menschewlki, litauische "Trudowiki"<br />

waren, gleich ihren groß<strong>russischen</strong> Namensvettern, bestrebt, die <strong>Revolution</strong> im<br />

Rahmen des bürgerlichen Regimes festzuhalten. Aber die äußerste Schwäche <strong>der</strong> einheimischen<br />

Bourgeoisie zwang Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hier nicht in eine<br />

Koalition zu gehen, son<strong>der</strong>n die Staatsmacht in die eigenen Hände zu nehmen. Genötigt,<br />

auf dem Gebiete <strong>der</strong> Agrar- und Arbeiterfrage weiterzugehen als die Zentralmacht, waren<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 572


die Versöhnler <strong>der</strong> Randgebiete im Vorteil, da sie in Armee und Land als Gegner <strong>der</strong><br />

Provisorischen Koalitionsregierung auftraten. Das alles genügte, wenn nicht, um im<br />

Schicksal <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Versöhnler und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Randgebiete einen Unterschied zu<br />

schaffen, so doch, um den Unterschied im Tempo ihres Aufstiegs und Nie<strong>der</strong>gangs zu<br />

bestimmen.<br />

Die georgische Sozialdemokratie führte hinter sich nicht nur die bettelarme Bauernschaft<br />

des kleinen Georgiens, son<strong>der</strong>n sie erhob auch, nicht ohne gewissen Erfolg,<br />

Anspruch auf Führung <strong>der</strong> "revolutionären Demokratie" ganz Rußlands. In den ersten<br />

<strong>Revolution</strong>smonaten betrachteten die Spitzen <strong>der</strong> georgischen Intelligenz Georgien nicht<br />

als nationales Vaterland, son<strong>der</strong>n als die Gironde, die gesegnete Südprovinz, berufen, das<br />

ganze Land mit Führern zu versorgen. In <strong>der</strong> Moskauer Staatsberatung rühmte sich einer<br />

<strong>der</strong> angesehenen georgischen Menschewki, Tschchenkeli, damit, daß die Georgier sogar<br />

unter dem Zarismus im Glück und Unglück zu sagen pflegten: »das einige Vaterland -<br />

Rußland".<br />

- »Was ist von <strong>der</strong> georgischen Nation zu sagen?« fragte <strong>der</strong> gleiche Tschchenkeli<br />

einen Monat später in <strong>der</strong> Demokratischen Beratung. »Sie steht völlig zu Diensten <strong>der</strong><br />

großen <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>.« Und in <strong>der</strong> Tat: die georgischen Versöhnler, wie auch die<br />

jüdischen, waren stets <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bürokratie »zu Diensten«, wenn es hieß, die<br />

nationalen Ansprüche einzelner Gebiete zu mäßigen o<strong>der</strong> zu bremsen.<br />

Das ging jedoch nur so lange, wie die georgischen Sozialdemokraten die Hoffnung<br />

nicht aufgegeben hatten, die <strong>Revolution</strong> im Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie festzuhalten.<br />

Je mehr aber die Gefahr des Sieges <strong>der</strong> vom Bolschewismus geführten Massen in<br />

Erscheinung trat, um so mehr lockerte die georgische Sozialdemokratie ihre Beziehungen<br />

zu den <strong>russischen</strong> Versöhnlern und verband sich um so enger mit den reaktionären<br />

Elementen Georgiens. Im Augenblick des Sieges <strong>der</strong> Sowjets werden die georgischen<br />

Anhänger des einigen Rußland Verkün<strong>der</strong> des Separatismus und zeigen den übrigen<br />

Völkern Transkaukasiens die gelben Stoßzähne des Chauvinismus.<br />

Die unvermeidliche nationale Maskierung <strong>der</strong> sozialen Gegensätze, nach <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Regel in den Randgebieten ohnehin nicht so stark entwickelt, erklärt zur Genüge,<br />

weshalb die Oktoberumwälzung bei den meisten unterdrückten Nationalitäten auf größeren<br />

Wi<strong>der</strong>stand stoßen mußte als in Zentralrußland. Dafür aber erschütterte <strong>der</strong> nationale<br />

Kampf an sich grausam das Februarregime und schuf für die Umwälzung im Zentrum<br />

eine hinlänglich günstige politische Peripherie.<br />

In jenen Fällen, wo sie sich mit den Klassengegensätzen deckten, erhielten die nationalen<br />

Antagonismen beson<strong>der</strong>e Schärfe. Die alte Feindschaft zwischen <strong>der</strong> lettischen<br />

Bauernschaft und den deutschen Baronen stieß zu Beginn des Krieges viele Tausende<br />

werktätiger Letten auf den Weg <strong>der</strong> Kriegsfreiwilligen. Die Schützenregimenter aus lettischen<br />

Landarbeitern und Bauern gehörten zu den besten an <strong>der</strong> Front. Doch traten sie<br />

bereits im Mai für die Macht <strong>der</strong> Sowjets auf. Der Nationalismus erwies sich nur als<br />

Hülle eines unreifen Bolschewismus. Ein gleichartiger Prozeß vollzog sich auch in<br />

Estland.<br />

In Weißrußland mit seinen polnischen o<strong>der</strong> polonisierten Gutsbesitzern, seiner<br />

jüdischen Stadt- und Kleinstadtbevölkerung und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Beamtenschaft lenkte die<br />

doppelt und dreifach unterdrückte Bauernschaft unter Einfluß <strong>der</strong> nahen Front bereits vor<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 573


dem Oktober ihre nationale und soziale Empörung in das Flußbett des Bolschewismus.<br />

Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung wird die erdrückende Masse <strong>der</strong><br />

weiß<strong>russischen</strong> Bauern für die Bolschewiki stimmen.<br />

Alle diese Prozesse, in denen sich erwachte nationale Würde mit sozialer Empörung<br />

verband, diese bald zurückdrängend, bald in den Vor<strong>der</strong>grund schiebend, fanden schärfsten<br />

Ausdruck in <strong>der</strong> Armee, wo fieberhaft nationale Regimenter gebildet wurden, die je<br />

nach ihrem Verhalten zu Krieg und Bolschewiki von <strong>der</strong> Zentralmacht begünstigt, geduldet<br />

o<strong>der</strong> verfolgt waren, sich aber im allgemeinen immer feindlicher gegen Petrograd<br />

wandten.<br />

Lenin hielt unbeirrt die Hand am "nationalen" Puls <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. In dem berühmten<br />

Artikel "Die Krise ist reif" verwies er Ende September beharrlich darauf, daß die nationale<br />

Kurie <strong>der</strong> Demokratischen Beratung »in bezug auf Radikalismus auf den zweiten<br />

Platz rückt, nur den Gewerkschaften nachsteht und hinsichtlich des Prozentsatzes <strong>der</strong><br />

gegen die Koalition abgegebenen Stimmen (vierzig von fünfundfünfzig) die Kurie <strong>der</strong><br />

Sowjets übertrifft«. Das bedeutete: von <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bourgeoisie erwarteten die<br />

unterdrückten Nationalitäten nichts Gutes mehr. Immer häufiger gingen sie daran, ihre<br />

Rechte eigenmächtig zu verwirklichen, stückweise, auf dem Wege revolutionärer Enteignungen.<br />

Auf dem Oktoberkongreß <strong>der</strong> Burjaten im fernen Werchneudinsk erklärte <strong>der</strong> Berichterstatter:<br />

an <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> Fremdvölker »hat die Februarrevolution nichts geän<strong>der</strong>t«. Ein<br />

solches Fazit zwang, wenn nicht sogleich auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki zu treten, so<br />

doch mindestens ihnen gegenüber immer freundschaftlichere Neutralität zu wahren.<br />

Der allukrainische Armeekongreß, <strong>der</strong> während des Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes tagte,<br />

beschloß, gegen die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Machtübergabe an die Sowjets in <strong>der</strong> Ukraine zu<br />

kämpfen, lehnte aber gleichzeitig ab, den Aufstand <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bolschewiki »als<br />

antidemokratische Handlungsweise« zu betrachten, und versprach, alle Mittel anzuwenden,<br />

damit Truppen zur Unterdrückung des Aufstandes nicht entsandt werden. Diese<br />

Zwiespältigkeit, die am besten das kleinbürgerliche Stadium des nationalen Kampfes<br />

charakterisiert, erleichterte die <strong>Revolution</strong> des Proletariats, die daran war, aller Zwiespältigkeit<br />

ein Ende zu machen.<br />

An<strong>der</strong>erseits verfielen in den Randgebieten jetzt die bürgerlichen Kreise, die stets und<br />

unablässig zur Zentralmacht geneigt hatten, in Separatismus, hinter dem in vielen Fällen<br />

nicht einmal mehr <strong>der</strong> Schatten einer nationalen Basis war. Die gestern noch hurrapatriotische<br />

Bourgeoisie <strong>der</strong> Ostseeprovinzen, nach den deutschen Baronen Romanows beste<br />

Stütze, trat im Kampf gegen das bolschewistische Rußland und die eigenen Massen unter<br />

das Banner des Separatismus. Auf diesem Gebiete entstanden noch wun<strong>der</strong>lichere<br />

Erscheinungen. Am 20. Oktober wurde <strong>der</strong> Grund gelegt zu einem neuen Staatsgebilde,<br />

dem »Südöstlichen Verband <strong>der</strong> Kosakenheere, <strong>der</strong> Bergbewohner des Kaukasus und <strong>der</strong><br />

freien Völkerschaften <strong>der</strong> Steppen«. Die Spitzen des Doner, Kubaner, Tereker und<br />

Astrachaner Kosakentums, einst wichtigste Stütze des zaristischen Zentralismus, verwandelten<br />

sich innerhalb weniger Monate in eifrige Verfechter <strong>der</strong> Fö<strong>der</strong>ation und vereinigten<br />

sich aufdiesem Boden mit den Führern <strong>der</strong> muselmanischen Berg-und<br />

Steppenbewohner. Die Scheidewände des fö<strong>der</strong>ativen Regimes sollten die Barriere<br />

bilden gegen die vom Norden kommende bolschewistische Gefahr. Bevor er jedoch die<br />

wichtigen Sammelpunkte des Bürgerkrieges gegen die Bolschewiki schuf, richtete sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 574


<strong>der</strong> konterrevolutionäre Separatismus unmittelbar gegen die regierende Koalition, die er<br />

demoralisierte und schwächte. So zeigte neben den an<strong>der</strong>en Problemen auch das nationale<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung das Medusenhaupt, auf dem sich jedes Haar <strong>der</strong> Märzund<br />

Aprilhoffnungen in eine Schlange von Haß und Empörung verwandelt hatte.<br />

Die bolschewistische Partei hat durchaus nicht sogleich nach <strong>der</strong> Umwälzung in <strong>der</strong><br />

nationalen Frage jene Position eingenommen, die ihr letzten Endes den Sieg sicherte. Das<br />

bezieht sich nicht nur auf die Randgebiete mit schwachen und unerfahrenen Parteiorganisationen,<br />

son<strong>der</strong>n auch auf das Petrogra<strong>der</strong> Zentrum. In den Kriegsjahren war die Partei<br />

<strong>der</strong>art geschwächt, das theoretische und politische Niveau <strong>der</strong> Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong>art gesunken,<br />

daß die offizielle Leitung in <strong>der</strong> nationalen Frage vor Lenins Ankunft eine äußerst wirre<br />

und durch Halbheit gekennzeichnete Position einnahm.<br />

Allerdings vertraten die Bolschewiki <strong>der</strong> Tradition entsprechend in alter Weise das<br />

Recht <strong>der</strong> Nationen auf Selbstbestimmung. Doch diese Formel wurde in Worten auch<br />

von den Menschewiki anerkannt: <strong>der</strong> Text des Programms war noch immer gemeinsam.<br />

Entscheidende Bedeutung hatte aber die Frage <strong>der</strong> Macht. Indes waren die zeitweiligen<br />

Parteiführer völlig unfähig, den unversöhnlichen Antagonismus zu begreifen zwischen<br />

den bolschewistischen Parolen in <strong>der</strong> nationalen wie in <strong>der</strong> Agrarfrage und <strong>der</strong> Aufrechterhaltung<br />

des bürgerlich-imperialistischen, wenn auch von demokratischen Formen<br />

verdeckten Regimes.<br />

Den vulgärsten Ausdruck fand die demokratische Position unter Stalins Fe<strong>der</strong>. Am 25.<br />

März versucht Stalin in einem dem Regierungsdekret über Abschaffung nationaler<br />

Beschränkungen gewidmeten Artikel, die nationale Frage im historischen Ausmaße zu<br />

stellen. »Die soziale Basis <strong>der</strong> nationalen Unterdrückung«, schreibt er, »die sie beseelende<br />

Kraft, ist die absterbende Landaristokratie.« Darauf, daß die nationale Unterdrükkung<br />

eine unerhörte Entwicklung in <strong>der</strong> Epoche des Kapitalismus erreicht und ihren<br />

barbarischsten Ausdruck in <strong>der</strong> Kolonialpolitik gefunden hat, verfällt <strong>der</strong> demokratische<br />

Autor scheinbar überhaupt nicht. »ln England«, fährt er fort, »wo die Landaristokratie<br />

die Macht mit <strong>der</strong> Bourgeoisie teilt, wo die unbegrenzte Herrschaft dieser Aristokntie<br />

längst nicht mehr existiert, - ist <strong>der</strong> nationale Druck mil<strong>der</strong>, weniger unmenschlich, wenn<br />

man natürlich die Tatsache außer acht läßt [?], daß im Verlauf des Krieges, wo die<br />

Macht in die Hände <strong>der</strong> Landlords [!] überging, die nationale Unterdrückung sich<br />

verstärkte (Verfolgung <strong>der</strong> Irlän<strong>der</strong>, In<strong>der</strong>).« An <strong>der</strong> Unterdrückung <strong>der</strong> Irlän<strong>der</strong> und<br />

In<strong>der</strong>, stellt sich heraus, sind die Landlords schuld, die wohl in <strong>der</strong> Person Lloyds<br />

Georges dank dem Kriege sich die Macht angeeignet hatten. »... In <strong>der</strong> Schweiz und<br />

Nordamerika«, fährt Stalin fort, »wo es einen Landlordismus nicht gibt und nicht<br />

gegeben hat [?], wo die Macht sich ungeteilt in den Händen <strong>der</strong> Bourgeoisie befindet,<br />

entwickeln sich die Nationalitäten frei, eine nationale Unterdrückung hat hier, allgemein<br />

gesprochen, keinen Platz ...« Der Autor vergißt ganz die Neger- und die Kolonialfrage in<br />

den Vereinigten Staaten.<br />

Aus dieser hoffnungslos provinziellen Analyse, die sich in wirrer Gegenüberstellung<br />

von Feudalismus und Demokratie erschöpft, ergeben sich rein liberale politische Schlußfolgerungen.<br />

»Von <strong>der</strong> politischen Bühne die feudale Aristokratie absetzen, ihr die Macht<br />

entreißen, - das gerade heißt, die nationale Unterdrückung liquidieren, faktische, für die<br />

nationale Freiheit erfor<strong>der</strong>liche Bedingungen schaffen. - Insoweit die russische <strong>Revolution</strong><br />

gesiegt hat«, schreibt Stalin, »hat sie diese faktischen Bedingungen bereits geschaf-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 575


fen.« Wir haben hier vor uns vielleicht eine noch prinzipiellere Verteidigung <strong>der</strong> imperialistischen<br />

"Demokratie" als alles, was zu diesem Thema in jenen Tagen von den<br />

Menschewiki geschrieben wurde. Wie Stalin nach Kamenjew in <strong>der</strong> Außenpolitik hoffte,<br />

durch Arbeitsteilung mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu einem demokratischen Frieden<br />

zu gelangen, so fand er in <strong>der</strong> Innenpolitik <strong>der</strong> Demokratie des Fürsten Lwow die »faktischen<br />

Bedingungen« <strong>der</strong> nationalen Freiheit.<br />

In Wirklichkeit offenbarte <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Monarchie zum ersten Male vollständig, daß<br />

nicht nur die reaktionären Gutsbesitzer, son<strong>der</strong>n die gesamte liberale Bourgeoisie und<br />

nach ihr die gesamte kleinbürgerliche Demokratie, zusammen mit <strong>der</strong> patriotischen<br />

Spitze <strong>der</strong> Arbeiterklasse, unversöhnliche Gegner <strong>der</strong> wirklichen nationalen Gleichberechtigung<br />

waren, das heißt <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> Privilegien <strong>der</strong> herrschenden Nation:<br />

ihr gesamtes Programm lief auf Mil<strong>der</strong>ung, kulturelle Politur und demokratische Verhüllung<br />

<strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Vorherrschaft hinaus.<br />

Auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz ging Stalin, die Leninsche Resolution über die Nationalfrage<br />

verteidigend, formell bereits davon aus, daß »die nationale Unterdrückung jenes Systems<br />

... ,jene Maßnahmen sind ..., die von den imperialistischen Kreisen durchgeführt<br />

werden«, doch unvermeidlich verirrt er sich sogleich wie<strong>der</strong> in seine Märzposition. »Je<br />

demokratischer ein Land ist, um so schwächer die nationale Unterdrückung, und<br />

umgekehrt«, das ist die eigene, nicht Lenin entnommene Abstraktion des Redners. Die<br />

Tatsache, daß das demokratische England das feudale Kasten-Indien unterdrückt,<br />

verschwindet wie<strong>der</strong> aus seinem beschränkten Gesichtsfeld. »Zum Unterschiede von<br />

Rußland, wo die "alte Land-aristokratie" herrschte«, fährt Stalin fort, »hat in England<br />

und Österreich-Ungarn die nationale Unterdrückung niemals Pogromformen angenommen.«<br />

Als habe in England »niemals« die Landaristokratie geherrscht, o<strong>der</strong> als herrsche<br />

sie in Ungarn nicht bis auf den heutigen Tag! Der kombinierte Charakter <strong>der</strong> geschichtlichen<br />

Entwicklung, die »Demokratie« mit Erdrosselung schwacher Nationen vereinigt,<br />

blieb für Stalin ein Buch mit sieben Siegeln.<br />

Daß Rußland sich als Nationalitätenstaat herausbildete, ist die Folge seiner historischen<br />

Verspätung. Aber diese Verspätung ist ein komplizierter und unentrinnbar wi<strong>der</strong>spruchsvoller<br />

Begriff. Ein rückständiges Land folgt keinesfalls dem fortgeschrittenen Lande auf<br />

den Fersen, dabei stets die gleiche Distanz zu diesem wahrend. In <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong><br />

Weltwirtschaft überspringen rückständige Nationen, während sie unter dem Druck <strong>der</strong><br />

fortgeschrittenen sich <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Gesamtentwicklung einglie<strong>der</strong>n, eine Reihe<br />

Zwischenstufen. Mehr noch, das Fehlen von fest herausgebildeten gesellschaftlichen<br />

Formen und Traditionen macht ein rückständiges Land - mindestens bis zu einem gewissen<br />

Grade - sehr empfänglich für die letzten Worte von Welttechnik und Weltgedanken.<br />

Die Rückständigkeit hört jedoch dadurch nicht auf, Rückständigkeit zu sein. Die<br />

Entwicklung insgesamt erhält einen wi<strong>der</strong>spruchsvollen und kombinierten Charakter. Die<br />

soziale Struktur einer verspäteten Nation ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen<br />

äußerster historischer Pole - rückständiger Bauern und fortgeschrittener Proletarier - vor<br />

Mittelformation, vor Bourgeoisie. Aufgaben <strong>der</strong> einen Klasse werden auf die Schultern<br />

einer an<strong>der</strong>en abgewälzt. Das Ausroden mittelalterlicher Überbleibsel fällt auch auf<br />

nationalem Gebiet dem Proletariat zu.<br />

Nichts charakterisiert die historische Verspätung Rußlands, betrachtet man es in <strong>der</strong><br />

Eigenschaft eines europäischen Landes, so grell wie die Tatsache, daß es im zwanzigsten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 576


Jahrhun<strong>der</strong>t die Hörigenpacht und das jüdische Ansiedlungsrayon liquidieren mußte, das<br />

heißt die Barbarei <strong>der</strong> Leibeigenschaft und des Getto. Jedoch besaß Rußland gerade<br />

infolge seiner verspäteten Entwicklung für die Lösung dieser Aufgaben neue, im<br />

höchsten Grade mo<strong>der</strong>ne Klassen, Parteien, Programme. Um mit Rasputins Ideen und<br />

Methoden ein Ende zu machen, waren für Rußland die Ideen und Methoden von Marx<br />

erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Die politische Praxis blieb allerdings viel primitiver als die Theorie, weil Dinge sich<br />

schwerer verän<strong>der</strong>n als Ideen. Dennoch hatte die Theorie lediglich die Bedürfnisse <strong>der</strong><br />

Praxis zu Ende entwickelt. Um die Befreiung und einen kulturellen Aufstieg zu<br />

erreichen, waren die unterdrückten Nationalitäten gezwungen, ihr Schicksal mit dem<br />

Schicksal <strong>der</strong> Arbeiterklasse zu verbinden. Dazu aber mußten sie sich von <strong>der</strong> Führung<br />

ihrer bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien befreien, das heißt weit vorauseilen auf<br />

dem Weg <strong>der</strong> historischen Entwicklung.<br />

Die Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> nationalen Bewegung in den Grundprozeß <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, in<br />

den Kampf des Proletariats um die Macht, vollzieht sich nicht mit einem Male, son<strong>der</strong>n<br />

in mehreren Etappen, und zwar in den verschiedenen Landesgebieten verschieden.<br />

Ukrainische, weißrussische o<strong>der</strong> tatarische Arbeiter, Bauern und Soldaten, Kerenski, dem<br />

Krieg und <strong>der</strong> Russifizierung frindlich, wurden damit allein schon, trotz ihrer Versöhnler-Führung,<br />

Verbündete des proletarischen Aufstandes. Von objektiver Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki werden sie auf einer weiteren Etappe gezwungen, auch subjektiv den<br />

Weg des Bolschewismus zu betreten. In Finnland, Lettland, Estland, schwächer auch in<br />

<strong>der</strong> Ukraine, nimmt die in Schichten zerfallende Nationalbewegung um den Oktober<br />

herum <strong>der</strong>artige Verschärfung an, daß nur die Einmischung ausländischer Truppen hier<br />

den Sieg <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung verhin<strong>der</strong>n kann. Im asiatischen Osten, wo das<br />

nationale Erwachen in den primitivsten Formen vor sich ging, sollte es erst allmählich<br />

und mit größerer Verspätung unter die Führung des Proletariats geraten, bereits nach<br />

dessen Machteroberung. Überblickt man den komplizierten und wi<strong>der</strong>spruchsvollen<br />

Prozeß in seiner Gesamtheit, ist die Schlußfolgerung klar: <strong>der</strong> nationale wie <strong>der</strong> agrarische<br />

Strom ergossen sich in das Bett <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />

Der unabwendbare und unaufhaltsame Übergang <strong>der</strong> Massen von elementarsten<br />

Aufgaben <strong>der</strong> politischen, agrarischen und nationalen Entsklavung zur Herrschaft des<br />

Proletariats ergab sich nicht aus "demagogischer" Agitation, nicht aus vorgefaßten<br />

Schemen, nicht aus <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong>, wie die Liberalen und die<br />

Versöhnler wähnten, son<strong>der</strong>n aus Rußlands sozialer Struktur und den Bedingungen <strong>der</strong><br />

internationalen Lage. Die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> formulierte diesen kombinierten<br />

Entwicklungsprozeß nur.<br />

Es handelt sich hier nicht allein um Rußland. Die Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> verspäteten nationalen<br />

<strong>Revolution</strong>en in die proletarische <strong>Revolution</strong> hat ihre internationale Gesetzmäßigkeit.<br />

Während im neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t die Hauptaufgabe <strong>der</strong> Kriege und<br />

<strong>Revolution</strong>en noch immer darin bestand, den Produktivkräften den nationalen Markt zu<br />

sichern, besteht die Aufgabe unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts darin, die Produktivkräfte aus den<br />

nationalen Grenzen, die für sie eiserne Fesseln geworden sind, zu befreien. Im breiten<br />

historischen Sinne bilden die nationalen <strong>Revolution</strong>en des Ostens Stufen <strong>der</strong> Weltrevolution<br />

des Proletariats, wie die nationalen Bewegungen in Rußland Stufen <strong>der</strong> Sowjetdiktatur<br />

wurden.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 577


Lenin hatte mit bemerkenswerter Tiefe die revolutionäre Kraft eingeschätzt, die im<br />

Schicksal <strong>der</strong> unterdrückten Nationalitäten sowohl des zaristischen Rußland wie <strong>der</strong><br />

ganzen Welt enthalten ist. Nichts außer Verachtung fand in seinen Augen jener heuchlerische<br />

"Pazifismus", <strong>der</strong> den Krieg Japans gegen China, zum Zwecke seiner<br />

Versklavung, wie Chinas Krieg gegen Japan im Namen <strong>der</strong> eigenen Befreiung in gleicher<br />

Weise »verurteilt«. Für Lenin war <strong>der</strong> nationale Befreiungskrieg im Gegensatz zum<br />

imperialistischen Unterjochungskrieg nur eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong>,<br />

die wie<strong>der</strong>um ein notwendiges Glied im Befreiungskampfe des Weltproletariats bedeutet.<br />

Aus dieser Einschätzung nationaler <strong>Revolution</strong>en und Kriege folgt jedoch keinesfalls<br />

die Anerkennung irgendeiner revolutionären Mission <strong>der</strong> Bourgeoisie kolonialer o<strong>der</strong><br />

haibkolonialer Nationen. Im Gegenteil, gerade die Bourgeoisie <strong>der</strong> rückständigen Län<strong>der</strong><br />

entwickelt sich von den Milchzähnen an als Agentur des ausländischen Kapitals und<br />

befindet sich trotz neidischer Feindschaft in allen entscheidenden Fällen mit diesem im<br />

gleichen Lager. Das chinesische Kompradorentum ist die klassische Form einer kolonialen<br />

Bourgeoisie, wie die Kuomintang die klassische Partei des Kompradorentums. Die<br />

Spitzen <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie, darunter auch die Intelligenz, können sich aktiv, mitunter<br />

geräuschvoll, am nationalen Kampfe beteiligen, sind aber völlig unfähig für eine<br />

selbständige Rolle. Nur die Arbeiterklasse, an die Spitze <strong>der</strong> Nation gestellt, ist imstande,<br />

die nationale wie die agrarische <strong>Revolution</strong> zu Ende zu führen.<br />

Der verhängnisvolle Irrtum <strong>der</strong> Epigonen, vor allem Stalins, besteht darin, daß sie aus<br />

Lenins Lehre von <strong>der</strong> fortschrittlichen historischen Bedeutung des Kampfes <strong>der</strong> unterdrückten<br />

Nationen die Schlußfolgerung zogen von einer revolutionären Mission <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie <strong>der</strong> Koloniallän<strong>der</strong>. Unverständnis für den permanenten Charakter <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> imperialistischen Epoche; pedantische Schematisierung <strong>der</strong> Entwicklung;<br />

Zerglie<strong>der</strong>ung des lebendigen kombinierten Prozesses in tote, angeblich zeitlich<br />

voneinan<strong>der</strong> unbedingt getrennte Stadien brachten Stalin zu vulgärer Idealisierung <strong>der</strong><br />

Demokratie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> "demokratischen Diktatur", die in Wirklichkeit nur entwe<strong>der</strong><br />

imperialistische Diktatur o<strong>der</strong> Diktatur des Proletariats sein kann. Von Stufe zu Stufe<br />

hinab gelangte die Gruppe Stalins auf dieser Bahn bis zum völligen Bruch mit Lenins<br />

Position in <strong>der</strong> nationalen Frage und bis zur katastrophalen Politik in China.<br />

Im August 1927, im Kampfe gegen die Opposition (Trotzki, Rakowski und an<strong>der</strong>e),<br />

sagte Stalin im Plenum des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki: »Eine <strong>Revolution</strong> in<br />

imperialistischen Ländem ist eines: dort ist die Bourgeoisie konterrevolutionär in allen<br />

Stadien <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ... Eine <strong>Revolution</strong> in den kolonialen und abhängigen Län<strong>der</strong>n ist<br />

ein an<strong>der</strong>es ... dort kann die nationale Bourgeoisie in einem gewissen Stadium und für<br />

eine gewisse Frist die revolutionäre Bewegung ihres Landes gegen den Imperialismus<br />

unterstützen.« Mit Vorbehalten und Mil<strong>der</strong>ungen, die nur seine innere Unsicherheit<br />

kennzeichnen, überträgt hier Stalin auf die koloniale Bourgeoisie die gleichen Eigenschaften,<br />

mit denen er im März die russische Bourgeoisie ausgestattet hatte. Seinem tief<br />

organischen Charakter gehorchend, bahnt sich <strong>der</strong> stalinsche Opportunismus, wie unter<br />

dem Druck des Gesetzes <strong>der</strong> Schwere, einen Weg durch verschiedene Kanäle. Die<br />

Auswahl theoretischer Argumente ist dabei Sache des reinsten Zufalls.<br />

Aus <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> Märzeinschätzung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung auf die<br />

"nationale" Regierung in China ergab sich die dreijährige Zusammenarbeit Stalins mit<br />

<strong>der</strong> Kuomintang, die eine <strong>der</strong> erschütterndsten Tatsachen <strong>der</strong> neuesten <strong>Geschichte</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 578


darstellt: als treuer Knappe begleitete <strong>der</strong> Epigonenbolschewismus die chinesische<br />

Bourgeoisie bis zum 11. April 1927, das heißt bis zu ihrer blutigen Abrechnung mit dem<br />

Schanghaier Proletariat. »Der Grundfehler <strong>der</strong> Opposition«, so rechtfertigte Stalin seine<br />

Waffenbrü<strong>der</strong>schaft mit Tschiankaischek, »besteht darin, daß sie die <strong>Revolution</strong> von<br />

1905 in Rußland, einem imperialistischen, an<strong>der</strong>e Völker unterdrückenden Lande, mit<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in China, einem unterdrückten Lande, identifiziert ...« Erstaunlich, daß<br />

Stalin selbst nicht auf den Gedanken gekommen war, die <strong>Revolution</strong> in Rußland nicht<br />

vom Standpunkte einer »an<strong>der</strong>e Völker unterdrückenden« Nation zu betrachten, son<strong>der</strong>n<br />

unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Erfahrung »an<strong>der</strong>er Völker« desselben Rußland, die keine<br />

geringere Unterdrückung zu erdulden hatten als die Chinesen.<br />

Auf jenem grandiosen Experimentierfelde, das Rußland während dreier <strong>Revolution</strong>en<br />

darstellte, kann man alle Varianten des nationalen und des Klassenkampies finden außer<br />

einer: daß die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation die Befreierrolle in bezug auf ihr<br />

eigenes Volk gespielt hätte. Auf allen Etappen ihrer Entwicklung hing die Bourgeoisie<br />

<strong>der</strong> Randgebiete, in welchen Farben sie auch schillern mochte, stets von den Zentralbanken,<br />

Trusts und Handelsfirmen ab, war eigentlich nur eine Agentur des gesamt<strong>russischen</strong><br />

Kapitals, unterordnete sieh dessen Russifizierungstendenzen und unterwarf ihm breite<br />

Kreise <strong>der</strong> liberalen und demokratischen Intelligenz. Je »reifer« die Randbourgeoisie<br />

wurde, um so enger verband sie sich mit dem gesamten Staatsapparat. Als Ganzes spielte<br />

die Bourgeoisie <strong>der</strong> unterdrückten Nationen die gleiche Kompradorenrolle im Verhältnis<br />

zur regierenden Bourgeoisie wie diese im Verhältnis zum Weltfinanzkapital. Die komplizierte<br />

Hierarchie von Abhängigkeiten und Antagonismen hatte nicht für einen Tag die<br />

grundlegende Solidarität im Kampfe gegen die aufständischen Massen aufgehoben.<br />

In <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Konterrevolution (1907 bis 1917), als die Fuhrung <strong>der</strong> nationalen<br />

Bewegung in den Händen einheimischer Bourgeoisien lag, hatten diese noch offener als<br />

die <strong>russischen</strong> Liberalen eine Verständigung mit <strong>der</strong> Monarchie gesucht. Polchnische,<br />

baltische, tatarische, ukrainische und jüdische Bourgeois wetteiferten auf dem Felde des<br />

imperialistischen Patriotismus. Nach <strong>der</strong> Februarumwälzung versteckten sie sich hinter<br />

dem Rücken <strong>der</strong> Kadetten o<strong>der</strong>, nach dem Beispiel <strong>der</strong> Kadetten, hinter dem Rücken<br />

ihrer nationalen Versöhnler. Den Weg des Separatismus beschreitet die Bourgeoisie <strong>der</strong><br />

Randstaaten um den Herbst 1917 nicht im Kampfe gegen nationale Unterdrückung,<br />

son<strong>der</strong>n im Kampfe gegen die heranrückende proletarische <strong>Revolution</strong>. Im großen und<br />

ganzen hat die Bourgeoisie <strong>der</strong> unterdrückten Nationen keinesfalls eine geringere Feindschaft<br />

gegen die <strong>Revolution</strong> offenbart als die großrussische Bourgeoisie.<br />

Die gigantische historische Lehre <strong>der</strong> drei <strong>Revolution</strong>en ist jedoch an vielen Teilnehmern<br />

<strong>der</strong> Ereignisse spurlos vorübergegangen, vor allem - an Stalin. Die versöhnlerische,<br />

das heißt kleinbürgerliche Auffassung von den Wechselbeziehungen zwischen den<br />

Klassen innerhalb <strong>der</strong> Kolonialnationen, die die chinesische <strong>Revolution</strong> von 1925 bis<br />

1927 zugrunde richtete, haben die Epigonen sogar in das Programm <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

<strong>Internationale</strong> hineingebracht und es in diesem seinem Teil in eine direkte Falle für<br />

die unterdrückten Völker des Ostens verwandelt.<br />

Um den wahren Charakter <strong>der</strong> nationalen Politik Lenins zu verstehen, ist es am besten<br />

- nach <strong>der</strong> Methode <strong>der</strong> Kontraste -, sie <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> österreichischen Sozialdemokratie<br />

gcgenüberzustellen. Während <strong>der</strong> Bolschewismus sich jahrzehntelang auf den Ausbruch<br />

nationaler <strong>Revolution</strong>en einstellte und die fortgeschrittenen Arbeiter im Geiste dieser<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 579


Perspektive erzog, paßte sich die österreichische Sozialdemokratie gehorsam <strong>der</strong> Politik<br />

<strong>der</strong> herrschenden Klassen an, betätigte sich als Anwalt des zwangsweisen Zusammenlebens<br />

von zehn Nationen innerhalb <strong>der</strong> österreichisch-ungarischen Monarchie; aber<br />

gleichzeitig absolut unfähig, die revolutionäre Einheit <strong>der</strong> Arbeiter <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Nationalitäten herzustellen, trennte sie diese durch vertikale Scheidewände in Parteien<br />

und Gewerkschaften. Karl Renner, aufgeklärter Habsburger Bürokrat, suchte unermüdlich<br />

im Tintenfaß des Austromarxismus nach Verjüngungsmitteln für den Habsburger<br />

Staat bis zu <strong>der</strong> Stunde, wo er sich als verwitweten Theoretiker <strong>der</strong> österreichisch-ung<br />

arischen Monarchie erblickte. Als die Zentralmächte zerschlagen wurden, versuchte die<br />

Habsburger Dynastie noch immer, unter ihrem Zepter das Banner <strong>der</strong> Fö<strong>der</strong>ation autonomer<br />

Nationen zu erheben: das offizielle Programm <strong>der</strong> österreichischen<br />

Sozialdemokratie, auf eine friedliche Entwicklung im Rahmen <strong>der</strong> Monarchie berechnet,<br />

ward für einen Augenblik Programm <strong>der</strong> von Blut und Schmutz <strong>der</strong> vier Kriegsjahre<br />

besudelten Monarchie.<br />

Der verrostete Reifen, <strong>der</strong> zehn Nationen zusammengehalten hatte, zerbarst in Stücke.<br />

Österreich-Ungarn zerfiel kraft seiner inneren zentrifugalen Tendenzen, verstärkt durch<br />

die Versailler Chirurgie. Neue Staaten wurden gebildet, die alten umgebaut. Die österreichischen<br />

Deutschen blieben über einem Abgrund hängen. Für sie ging nun die Frage<br />

nicht um die Erhaltung <strong>der</strong> Herrschaft über an<strong>der</strong>e Nationen, son<strong>der</strong>n um die Gefahr,<br />

selbst unter Fremdherrschaft zu geraten. Otto Bauer, Vertreter des "linken" Flügels <strong>der</strong><br />

österreichischen Sozialdemokratie, hielt den Augenblick für geeignet, die Formel <strong>der</strong><br />

nationalen Selbstbestimmung aufrunehmen. Das Programm, das während <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahrzehnte den Kampf des Proletariats gegen die Habsburger und die herrschende<br />

Bourgeoisie hätte beseelen sollen, wurde in ein Werkzeug zur Selbsterhaltung <strong>der</strong><br />

gestern herrschenden Nation verwandelt, <strong>der</strong> heute Gefahr drohte seitens <strong>der</strong> frei gewordenen<br />

slawischen Völker. Wie das reformistische Programm <strong>der</strong> österreichischen Sozialdemokratie<br />

für einen Augenblick jener Strohhalm wurde, an den sich die ertrinkende<br />

Monarchie zu klammem versuchte, so mußte die kastrierte austromarxistische Formel des<br />

Selbstbestimmungsrechts Rettungsanker <strong>der</strong> deutschen Bourgeoisie werden.<br />

Am 3. Oktober 1918, als die Frage nicht mehr im geringsten von ihnen abhing,<br />

"anerkannten" die sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichsrates großmütig das<br />

Recht <strong>der</strong> Völker des ehemaligen Kaiserreiches auf Selbstbestimmung. Am 4. Oktober<br />

nahmen auch die bürgerlichen Parteien das Programm <strong>der</strong> Selbstbestimmung an. Den<br />

deutsch-österreichischen Imperialisten somit um einen ganzen Tag voraus, verhielt sich<br />

die Sozialdemokratie noch immer abwartend: man kann ja nicht wissen, welche<br />

Wendung die Dinge nehmen werden und was Wilson sagen wird. Erst am 13. Oktober,<br />

als durch den endgültigen Zusammenbruch <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> Monarchie eine »revolutionäre<br />

Situation eintrat, für die«, nach Bauers Worten, »unser nationales Programm<br />

gedacht war«, stellten die Austromarxisten praktisch die Frage <strong>der</strong> Selbstbestimmung:<br />

wahrlich, sie hatten nichts mehr zu verlieren. »Mit dem Zusammenbruch seiner<br />

Herrschaft über die an<strong>der</strong>en Nationen«, erklärt Otto Bauer ganz offenherzig, »sah das<br />

deutschnattonale Bürgertum seine geschichtliche Mission beendet, um <strong>der</strong>etwillen es<br />

bisher die Trennung vom deutschen Mutterlande willig ertragen hatte.« Das neue<br />

Programm wurde in Umlauf gebracht, nicht weil es die Unterdrückten notwendig hatten,<br />

sondem weil es aufgehört hatte, eine Gefahr für die Unterdrücker zu sein. Die besitzen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 580


den Klassen, hineingetrieben in eine historische Klemme, waren gezwungen, die nationale<br />

<strong>Revolution</strong> juristisch anzuerkennen; <strong>der</strong> Austromarxismus hielt es nun an <strong>der</strong> Zeit,<br />

sie theoretisch zu legalisieren. Dies ist eine reife <strong>Revolution</strong>, eine rechtzeitige, historisch<br />

vorbereitete: sie hat sich ja doch schon vollzogen. Die Seele <strong>der</strong> Sozialdemokratie liegt<br />

vor uns, wie auf <strong>der</strong> flachen Hand!<br />

Ganz an<strong>der</strong>s verhielt es sich mit <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong>, die keinesfalls auf Anerkennung<br />

<strong>der</strong> besitzenden Klassen hoffen konnte. Sie hieß es zu verschieben, zu entthronen,<br />

zu kompromittieren. Da das Kaiserreich naturgemäß nach den schwächsten, das heißt<br />

nach den nationalen Fugen auseinan<strong>der</strong>fiel, zieht Otto Bauer daraus die Schlußfolgerung<br />

über den Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: »Noch war sie durchaus nicht soziale, son<strong>der</strong>n nationale<br />

<strong>Revolution</strong>.« In Wirklichkeit hatte die Bewegung von Anfang an tiefen, sozialrevolutionären<br />

Inhalt. Der »nur« nationale Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wird nicht schlecht<br />

dadurch illustriert, daß die besitzenden Klassen Österreichs die Entente offen auffor<strong>der</strong>ten,<br />

die gesamte Armee gefangenzunehmen. Die deutsche Bourgeoisie flehte den italienischen<br />

General an, Wien mit italienischen Truppen zu besetzen!<br />

Die pedantisch vulgäre Trennung zwischen nationaler Form und sozialem Inhalt eines<br />

revolutionären Prozesses, angeblich als zwei selbständigen historischen Stadien - wir<br />

sehen, wie sehr sich Otto Bauer hier Stalin nähert! -, war von höchst utilitaristischer<br />

Bedeutung: sie sollte die Zusammenarbeit <strong>der</strong> Sozialdemokratie mit <strong>der</strong> Bourgeoisie im<br />

Kampfe gegen die Gefahren <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> rechtfertigen.<br />

Nimmt man nach Marx an, die <strong>Revolution</strong> sei Lokomotive <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, dann muß<br />

man dem Austromarxismus dabei die Rolle <strong>der</strong> Bremse zuweisen. Bereits nach dem<br />

faktischen Zusammenbruch <strong>der</strong> Monarchie konnte sich die Sozialdemokratie, zur<br />

Teilnahme an <strong>der</strong> Macht berufen, noch immer nicht entschließen, von den alten Habsburgischen<br />

Ministern Abschied zu nehmen: die "nationale" <strong>Revolution</strong> beschränkte sich<br />

darauf, sie durch Staatssekretäre zu unterstützen. Erst nach dem 9. November, als die<br />

deutsche <strong>Revolution</strong> die Hohenzollern gestürzt hatte, schlug die österreichische Sozialdemokratie<br />

dem Staatsrat vor, die Republik auszurufen, die bürgerlichen Partner mit <strong>der</strong><br />

Bewegung <strong>der</strong> Massen schreckend, durch die sie selbst bis auf Mark und Bein eingeschüchtert<br />

war. »Die Christlichsozialen«, ironisiert unvorsichtigerweise Otto Bauer, »die<br />

noch am 9. und 10. November zur Monarchie standen, entschlossen sich am 11. November,<br />

ihren Wi<strong>der</strong>stand aufzugeben ...« Um ganze zwei Tage hatte die Sozialdemokratie<br />

die Partei <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>t-Monarchisten überholt! Alle heroischen Legenden <strong>der</strong><br />

Menschheit verblassen vor diesem revolutionären Schwung.<br />

Gegen ihren Willen gelangte die Sozialdemokratie zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> automatisch<br />

an die Spitze <strong>der</strong> Nation, wie die <strong>russischen</strong> Menschewikl und Sozialrevolutionäre.<br />

Gleich diesen hatte auch sie die größte Angst vor <strong>der</strong> eigenen Kraft. In <strong>der</strong> Koalitionsregierung<br />

war sie bestrebt, das kleinste Eckchen einzunehmen. Otto Bauer erläutert: »Aber<br />

es entsprach dem vorerst noch nur nationalen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, daß die Sozialdemokraten<br />

zunächst nur einen bescheidenen Anteil an <strong>der</strong> Regierung beanspruchten.«<br />

Die Frage <strong>der</strong> Macht entscheidet für diese Menschen nicht das reale Kräfteverhältnis,<br />

nicht die Gewalt <strong>der</strong> revolutionären Bewegung, nicht <strong>der</strong> Bankrott <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klassen, nicht <strong>der</strong> politische Einfluß <strong>der</strong> Partei, son<strong>der</strong>n das pedantische Schildchen »nur<br />

nationale <strong>Revolution</strong>«, das die weisen Klassifikatoren den Ereignissen angeklebt hatten.<br />

Karl Renner wartete das Gewitter als Kanzleichef des Staatsrates ab. Die übrigen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 581


sozialdemokratischen Führer verwandelten sich in Gehilfen <strong>der</strong> bürgerlichen Minister.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten: die Sozialdemokraten versteckten sich unter den Kanzleitischen.<br />

Die Massen jedoch waren nicht gewillt, sich mit <strong>der</strong> nationalen Schale <strong>der</strong> Nuß abspeisen<br />

zu lassen, <strong>der</strong>en sozialen Kern die Austromarxisten für die Bourgeoisie aufbewahrten.<br />

Die Arbeiter und Soldaten schoben die bürgerlichen Minister beiseite und zwangen die<br />

Sozialdemokraten, ihren Unterschlupf zu verlassen. Der unersetzliche Theoretiker Otto<br />

Bauer erläutert: »Erst die Ereignisse <strong>der</strong> folgenden Tage, die die nationale <strong>Revolution</strong><br />

zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in <strong>der</strong> Regierung.« In eine allgemeinverständliche<br />

Sprache übersetzt: durch den Druck <strong>der</strong> Massen wurden die Sozialdemokraten<br />

gezwungen, unter den Tischen hervorzukriechen.<br />

Aber ohne auch nur für eine Minute ihrer Bestimmung untreu zu werden, nahmen sie<br />

die Macht allein zu dem Behufe, einen Krieg gegen Romantik und Abenteurertum zu<br />

beginnen: unter diesem Namen figuriert bei den Sykophanten jene soziale <strong>Revolution</strong>,<br />

die ihr »Gewicht in <strong>der</strong> Regierung« verstärkt hatte. Wenn die Austromarxisten nicht ohne<br />

Erfolg im Jahre 1918 ihre histotische Mission als Schutzengel <strong>der</strong> Wiener Kreditanstalt<br />

vor <strong>der</strong> revolutionären Romantik des Proletariats erfüllen konnten, so nur darum, weil sie<br />

nicht durch eine wirklich revolutionäre Partei behin<strong>der</strong>t wurden.<br />

Zwei Nationalitätenstaaten, Rußland und Österreich-Ungarn, haben durch ihr jüngstes<br />

Schicksal den Gegensatz zwischen Bolschewismus und Austromarxismus besiegelt.<br />

An<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte predigte Lenin in unversöhnlichem Kampfe gegen alle Schattierungen<br />

des groß<strong>russischen</strong> Chauvinismus das Recht aller unterdrückten Nationen, sich<br />

vom Zarenreiche loszulösen. Man beschuldigte die Bolschewiki, sie strebten Rußlands<br />

Zerstückelung an. Indes hat die kühnrevolutionäre Position in <strong>der</strong> nationalen Frage<br />

unerschütterliches Vertrauen <strong>der</strong> unterdrückten kleinen und rückständigen Völker des<br />

zaristischen Rußland zur bolschewistischen Partei geschaffen. Im April 1917 sagte<br />

Lenin: »Wenn die Ukrainer sehen werden, daß bei uns die Sowjetrepublik ist, werden sie<br />

sich nicht lostrennen, wenn aber bei uns Miljukows Republik sein wird, dann werden sie<br />

sich lostrennen.« Auch darin hatte er recht. Die <strong>Geschichte</strong> hat eine unvergleichliche<br />

Nachprüfung zweier Arten von Politik in <strong>der</strong> nationalen Frage geliefert. Während Österreich-Ungarn,<br />

dessen Proletariat im Geiste ängstlicher Halbheit erzogen ward, bei <strong>der</strong><br />

ersten ernsten Erschütterung in Stücke zerfiel, wobei die Initiative des Zerfalls hauptsächlich<br />

die nationalen Teile <strong>der</strong> Sozialdemokratie auf sich genommen hatten - entstand<br />

auf den Ruinen des Zaren-Rußland ein neuer Nationalitätenstaat, ökonomisch und<br />

politisch durch die bolschewistische Partei innig verschmolzen.<br />

Wie sich auch die weiteren Schicksale <strong>der</strong> Sowjetunion gestalten mögen - und sie ist<br />

noch sehr weit vom ruhigen Hafen entfernt -, Lenins Politik in <strong>der</strong> nationalen Frage wird<br />

für immer in das eherne Inventar <strong>der</strong> Menschheit eingehen.<br />

Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß<br />

Je<strong>der</strong> Tag des Krieges erschütterte die Front, schwächte die Regierung, verschlechterte<br />

die internationale Lage des Landes. Anfang Oktober entfaltete die deutsche See- und<br />

Luftflotte aktive Operationen im Finnischen Meerbusen. Die baltischen Matrosen schlugen<br />

sich tapfer, bemüht, den Weg nach Petrograd zu versperren. Doch begriffen sie<br />

schärfer und klarer als an<strong>der</strong>e Truppenteile <strong>der</strong> Front den tiefen Wi<strong>der</strong>spruch ihrer Lage<br />

als Avantgarde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und als unfreiwillige Teilnehmer des imperialistischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 582


Krieges, und sie schleu<strong>der</strong>ten durch die Radiostationen ihrer Schiffe einen Ruf um internationale<br />

revolutionäre Hilfe in alle vier Windrichtungen. »Attackiert von überlegenen<br />

deutschen Kräften, geht unsere Flotte im ungleichen Kampfe zugrunde. Keines unserer<br />

Schiffe wird dem Kampf ausweichen. Die verleumdete, gebrandmarkte Flotte wird ihre<br />

Pflicht erfüllen nicht auf Befehl irgendeines traurigen, durch die Langmut <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

herrschenden <strong>russischen</strong> Bonaparte ... nicht im Namen <strong>der</strong> Verträge unserer Regierer<br />

mit den Alliierten, die die Hände <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Freiheit mit Ketten fesseln. Nein, aber<br />

im Namen <strong>der</strong> Wacht über die Zugänge zum <strong>Revolution</strong>sherd Petrograd. In <strong>der</strong> Stunde,<br />

wo die Wellen des Baltischen Meeres mit dem Blute unserer Brü<strong>der</strong> sich verfärben, wo<br />

das Wasser über ihren Leichen sich schließt, erheben wir unsere Stimme: ... Unterdrückte<br />

in aller Welt! Entfaltet das Banner des Aufstandes!«<br />

Die Worte von Kämpfen und Opfern waren keine Phrase. Das Geschwa<strong>der</strong> verlor das<br />

Schiff "Slawa" und zog sich nach Kampf zurück. Die Deutschen eroberten die Monsundinseln.<br />

Es wandte sich noch ein schwarzes Blatt um im Buche des Krieges. Die Regierung<br />

beschloß, den neuen militärischen Schlag auszunutzen zur Verlegung <strong>der</strong> Residenz:<br />

dieser alte Plan tauchte bei jedem geeigneten Anlasse wie<strong>der</strong> auf. Nicht Sympathien für<br />

Moskau beherrschten die regierenden Kreise, son<strong>der</strong>n Haß gegen Petrograd. Monarchistische<br />

Reaktion, Liberalismus, Demokratie waren nacheinan<strong>der</strong> bestrebt, die Hauptstadt<br />

zu degradieren, sie in die Knie zu zwingen, zu zermalmen. Die heftigsten Patrioten<br />

haßten jetzt Petrograd mit einem viel glühen<strong>der</strong>en Haß als Berlin.<br />

Die Evakuationsfrage nimmt den Weg äußerster Dringlichkeit. Für die Übersiedlung<br />

<strong>der</strong> Regierung zusammen mit dem Vorparlament werden zwei Wochen angesetzt. Es<br />

wird beschlossen, die für die Landesverteidigung arbeitenden Betriebe ebenfalls in<br />

kürzester Frist zu evakuieren. Das Zentral-Exekutivkomitee, als eine "Privatinstitution",<br />

müsse um sein Schicksal selbst Sorge tragen.<br />

Die kadettischen Inspiratoren <strong>der</strong> Evakuierung wußten, daß eine einfache Übersiedlung<br />

<strong>der</strong> Regierung die Frage nicht löst. Aber sie spekulierten darauf dem Herd <strong>der</strong> revolutionären<br />

Seuche durch Hunger, Entbehrungen und Erschöpfung beizukommen. Die innere<br />

Blockade Petrograds war bereits in vollem Gange. Den Fabriken wurden die Bestellungen<br />

entzogen, die Belieferung mit Heizstoff um das Vierfache eingeschränkt, das Ernährungsministerium<br />

hielt das in die Hauptstadt gehende Vieh zurück, im<br />

Mariinski-Kanalnetz wurden die Ausladungen eingestellt.<br />

Der kriegerische Rodsjanko, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Reichsduma, die aufzulösen die Regierung<br />

sich Anfang Oktober endlich entschlossen hatte, sprach sich mit voller Offenheit in<br />

<strong>der</strong> liberalen Moskauer Zeitung 'Utro Rossji" über die Kriegsgefahr aus, die <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

drohte. »Petrograd? ich meine, Gott mit ihm ... Man befürchtet, es könnten dort<br />

Zentralinstitutionen [das heißt Sowjets und so weiter] zugrunde gehen. Darauf erwi<strong>der</strong>e<br />

ich nur, daß ich sehr froh wäre, wenn all diese Institutionen zugrunde gingen, weil sie<br />

Rußland nichts als Böses gebracht haben.« Zwar muß mit Einnahine Petrograds die<br />

Baltische Flotte zugrunde gehen. Aber auch darüber braucht man nicht zu trauern: »dort<br />

gibt es völlig demoralisierte Schiffe«. Dank dem Umstande, daß es des Kammerherrn<br />

Sitte nicht war, den Mund zu halten, erfuhr das Volk die geheimsten Gedanken des adeligen<br />

und bürgerlichen Rußland.<br />

Der russische Geschäftsträger in London meldete, <strong>der</strong> britische Marinestab halte es<br />

trotz allem Drängen nicht für möglich, die Lage seines Verbündeten in <strong>der</strong> Ostsee zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 583


erleichtern. Nicht bloß die Bolschewiki deuteten diese Antwort dahingehend, daß die<br />

Alliierten gemeinsam mit den patriotischen Spitzen Rußlands vom deutschen<br />

Schwertstreich gegen Petrograd für die gemeinsame Sache nur Nutzen erwarteten. Die<br />

Arbeiter und Soldaten zweifelten nicht daran, beson<strong>der</strong>s nach Rodsjankos Geständnissen,<br />

daß die Regierung sich bewußt darauf vorbereitete, sie in die Abrichtung Ludendorffs<br />

und Hoffmanns zu geben.<br />

Am 6. Oktober nahm die Soldatensektion mit einer bis dahin nie gewesenen Einmütigkeit<br />

eine Resolution Trotzkis an: »Falls die Provisorische Regierung nicht fähig ist,<br />

Petrograd zu verteidigen, so ist sie verpflichtet, Frieden zu schließen o<strong>der</strong> aber ihren<br />

Platz einer an<strong>der</strong>en Regierung zu räumen.« Die Arbeiter traten nicht weniger unversöhnlich<br />

auf. Sie betrachteten Petrograd als ihre Festung, verknüpften mit ihm ihre revolutionären<br />

Hoffnungen, Petrograd preisgeben wollten sie nicht. Erschrocken über<br />

Kriegsgefahr, Evakuation, Empörung <strong>der</strong> Soldaten und Arbeiter, Erregung <strong>der</strong> gesamten<br />

Bevölkerung schlugen die Versöhnler ihrerseits Alarm: man darf Petrograd nicht <strong>der</strong><br />

Willkür des Schicksals überlassen. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß <strong>der</strong> Evakuierungsversuch<br />

auf allseitigen Wi<strong>der</strong>stand stieß, trat die Regierung den Rückzug an: sie sei<br />

weniger um die eigene Sicherheit besorgt als um die Frage des Sitzes <strong>der</strong> zukünftigen<br />

Konstituierenden Versammlung. Doch auch diese Position war unhaltbar. Kaum eine<br />

Woche später war die Regierung zu <strong>der</strong> Erklärung gezwungen, sie gedenke nicht nur<br />

selbst im Winterpalais zu verbleiben, son<strong>der</strong>n plane in alter Weise die Konstituierende<br />

Versammlung ins Taurische Palais einzuberufen. An <strong>der</strong> militärischen und politischen<br />

Situation än<strong>der</strong>te diese Erklärung nichts. Aber sie enthüllte wie<strong>der</strong> die politische Macht<br />

Petrograds, das als seine Mission betrachtete, mit <strong>der</strong> Kerenski-Regierung Schluß zu<br />

machen, und deshalb diese mehr aus seinen Mauern hinausließ. Die Residenz nach<br />

Moskau zu verlegen, haben später nur die Bolschewiki gewagt. Sie konnten diese<br />

Aufgabe ohne alle Schwierigkeiten durchführen, weil für sie dies tatsächlich eine strategische<br />

Aufgabe war: politische Gründe, aus Petrograd zu fliehen, hatten sie nicht.<br />

Die reumütige Erklärung betreffs Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt gab die Regierung auf<br />

Verlangen <strong>der</strong> Versöhnlermehrheit vor einer Kommission des Rates <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Republik, des Vorparlaments, ab. Diese wun<strong>der</strong>liche Institution war inzwischen endlich<br />

zur Welt gekommen. Plechanow, <strong>der</strong> zu scherzen liebte und auch zu scherzen verstand,<br />

nannte den ohnmächtigen und kurzlebigen Rat <strong>der</strong> Republik unhöflich »ein Häuschen<br />

auf Hühnerfüßchen«. Politisch ist diese Bezeichnung nicht ohne treffende Schärfe. Man<br />

muß nur hinzufügen, daß in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Häuschens das Vorparlament nicht<br />

übel aussah: es war ihm das prächtige Mariinski-Palais zugewiesen, das früher den<br />

Staatsrat beherbergt hatte. Der Kontrast zwischen dem schmucken Palais und dem<br />

vernachlässigten, von Soldatengerüchen erfüllten Smolny verblüffte Suchanow: »Inmitten<br />

all dieser Pracht«, gesteht er, »überkam einen die Lust, auszuruhen, Mühen und<br />

Kampf Hunger und Krieg, Zerfall und Anarchie, das Land wie die <strong>Revolution</strong> zu vergessen.«<br />

Doch zum Ausruhen und Vergessen war die Zeit zu knapp bemessen:<br />

Die sogenannte "demokratische" Mehrheit des Vorparlaments bestand aus dreihun<strong>der</strong>tundacht<br />

Menschen: einhun<strong>der</strong>tundzwanzig Sozialrevolutionären, darunter etwa zwanzig<br />

linken; sechzig Menschewiki verschiedener Schattierungen; sechsundsechzig Bolschewiki;<br />

ferner Genossenschaftlern, Delegierten des Bauern-Exekutivkomitees, und so weiter.<br />

Die besitzenden Klassen hatten einhun<strong>der</strong>tundsechsundfünfzig Plätze inne, von denen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 584


fast die Hälfte den Kadetten gehörte. Zusammen mit den Genossenschaftlern, Kosaken<br />

und den reichlich konservativen Mitglie<strong>der</strong>n des Bauern-Exekutivkomitees bildete <strong>der</strong><br />

rechte Flügel in einer Reihe von Fragen nahezu die Mehrheit. Die Verteilung <strong>der</strong> Plätze<br />

im komfortablen Häuschen auf Hühnerfüßchen stand somit in schreiendem Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zu allen Willensäußerungen von Stadt und Land. Dafür beherbergte das Mariinski-Palais<br />

im Gegensatz zu den grauen Sowjets und ähnlichen Vertretungen in seinen Mauern die<br />

»Blüte <strong>der</strong> Nation«. Da die Mitglie<strong>der</strong> des Vorparlaments von Zufälligkeiten <strong>der</strong><br />

Wahlkonkurrenz, lokalen Einflüssen, provinziellen Bevorzugungen unabhängig waren,<br />

entsandte jede soziale Gruppe und jede Partei dorthin ihre angesehensten Führer. Die<br />

personelle Zusammensetzung war nach Suchanows Zeugnis »exklusiv glänzend«. Als das<br />

Vorparlament sich zu seiner ersten Sitzung versammelte, fiel, nach Miljukows Worten,<br />

vielen Skeptikern ein Stein vom Herzen: »Gut, wenn die Konstituierende Versanimlung<br />

nicht schlimmer sein wird als diese.« Die »Blüte <strong>der</strong> Nation« betrachtete sich mit Genugtuung<br />

in den Spiegeln des Schlosses, ohne gewahr zu werden, daß sie eine taube Blüte<br />

war.<br />

Bei Eröffnung des Rats <strong>der</strong> Republik am 7. Oktober versäumte Kerenski nicht, daran<br />

zu erinnern, daß die Regierung zwar über die »ganze Fülle <strong>der</strong> Macht« verfüge, aber<br />

nichtsdestoweniger bereit sei, »alle wahrhaft wertvollen Hinweise« anzuhören: wenn<br />

auch eine absolute, blieb es doch eine aufgeklärte Regierung. In dem fünfgliedrigen<br />

Präsidium, unter Awksentjews Vorsitz, ist ein Platz den Bolschewiki zugedacht: er bleibt<br />

unbesetzt. Den Regisseuren <strong>der</strong> kläglichen und unheiteren Komödie war übel zumute.<br />

Das ganze Interesse <strong>der</strong> trübseligen Eröffnung an dem trübseligen regnerischen Tage war<br />

von vornherein auf das bevorstehende Auftreten <strong>der</strong> Bolschewiki konzentriert. In den<br />

Couloirs des Mariinski-Palais verbreitete sich, nach Suchanows Worten, das »sensationelle<br />

Gerücht: Trotzki hätte mit einer Mehrheit von zwei bis drei Stimmen gesiegt ... und<br />

die Bolschewiki würden bald das Vorparlament verlassen«. In Wirklichkeit war <strong>der</strong><br />

Entschluß, demonstrativ das Mariinski-Palais zu verlassen, am 5. in <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Fraktion mit allen Stimmen gegen eine gefaßt worden: so stark war<br />

die Verschiebung nach links seit den letzten zwei Wochen! Nur Kamenjew bewahrte<br />

Treue <strong>der</strong> ursprünglichen Position, o<strong>der</strong> richtiger, nur er allein wagte sie zu verteidigen.<br />

In einer beson<strong>der</strong>en, an das Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei adressierten Erklärung bezeichnete<br />

Kamenjew ohne Umschweife den eingeschlagenen Kurs als »ganz gefährlich für die<br />

Partei«. Die undurchsichtigen Pläne <strong>der</strong> Bolschewiki riefen eine gewisse Unruhe beim<br />

Vorparlament hervor: man befürchtete eigentlich nicht eine Erschütterung des Regimes,<br />

son<strong>der</strong>n einen »Skandal« vor dem Antlitz <strong>der</strong> alliierten Diplomaten, die von <strong>der</strong> Mehrheit<br />

soeben mit <strong>der</strong> gebührenden Salve patriotischen Beifalls begrüßt worden waren. Suchanow<br />

erzählt, wie eine offizielle Persönlichkeit zu den Bolschewiki abgeordnet wurde -<br />

Awksentjew selbst - zum Zwecke einer sondierenden Anfrage: Was wird geschehen?<br />

»Lappalien«, antwortete Trotzki, »Lappalien, nur ein kleiner Pistolenschuß.«<br />

Nach Eröffnung <strong>der</strong> Sitzung erhielt Trotzki gemäß dem von <strong>der</strong> Reichsduma erblich<br />

übernommenen Reglement zehn Minuten zu einer außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung stehenden<br />

Erklärung namens <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion. Im Saale verbreitet sich gespanntes<br />

Schweigen. Die Deklaration beginnt mit <strong>der</strong> Feststellung, die Regierung sei jetzt<br />

ebenso unverantwortlich wie vor <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, die angeblich einberufen<br />

worden war zur Zähmung Kerenskis, und die Vertreter <strong>der</strong> besitzenden Klassen seien in<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 585


einer Anzahl in den Provisorischen Rat hineingegangen, auf die sie nicht das geringste<br />

Anrecht hätten. Wäre die Bourgeoisie tatsächlich auf die Konstituierende Versammlung<br />

in an<strong>der</strong>thalb Monaten eingestellt, ihre Führer hätten keine Ursache, jetzt mit solcher<br />

Erbitterung die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Macht selbst vor einer untergeschobenen Vertretung<br />

zu verteidigen. »Die ganze Weisheit liegt darin, daß die bürgerlichen Klassen sich zur<br />

Aufgabe gestellt hahen, die Konstituierende Versammlung zu sprengen.« Der Hieb sitzt.<br />

Um so stürmischer protestiert <strong>der</strong> rechte Flügel. Ohne vom Text <strong>der</strong> Deklaration<br />

abzuweichen, geißelt <strong>der</strong> Redner die Industrie-, Agrar- und Ernährungspolitik <strong>der</strong> Regierung:<br />

man könnte auch dann keinen an<strong>der</strong>en Kurs treiben, wenn man sich bewußt das<br />

Ziel gestellt hätte, die Massen auf den Weg des Aufstandes zu stoßen. »Der Gedanke, die<br />

revolutionäre Hauptstadt den deutschen Truppen preiszugeben ... wird geduldet als<br />

natürliches Glied <strong>der</strong> Gesamtpolitik, die die konterrevolutionäre Verschwörung ...<br />

erleichtern soll.« Proteste gehen in Sturm über. Schreie: Berlin! Deutsches Gold!<br />

Plombierter Wagen! und auf diesem Hintergrunde, wie Flaschensplitter im Schmutz -<br />

Gossenflüche. So etwas hatte sich noch nie, auch nicht während <strong>der</strong> heißesten Kämpfe<br />

im schmutzigen, verwahrlosten, von Soldaten bespuckten Smolny, abgespielt. »Wir<br />

brauchten nur in die gute Gesellschaft des Mariinski-Palais zu geraten ...« schreibt<br />

Suchanow, »damit sich sogleich jene Budikenatmosphäre einstellte, die in <strong>der</strong> konzessionierten<br />

Reichsduma geherrscht hatte.«<br />

Sich den Weg bahnend durch Haßausbrüche, die mit Momenten <strong>der</strong> Beruhigung<br />

abwechseln, schließt <strong>der</strong> Redner: »Wir, die Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki, erklären: mit<br />

dieser Regierung des Volksbetrugs und mit diesem Rat des konterrevolutionären<br />

Gewährenlassens haben wir nichts gemein ... Indem wir den Provisorischen Rat<br />

verlassen, appellieren wir an die Wachsamkeit und den Mut <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten und<br />

Bauern ganz Rußlands. Petrograd ist in Gefahr! Die <strong>Revolution</strong> ist in Gefahr! Das<br />

Volk ist in Gefahr! ... Wir wenden uns an das Volk. Alle Macht den Sowjets!«<br />

Der Redner tritt von <strong>der</strong> Tribüne ab. Einige Dutzend Bolschewiki verlassen den Saal,<br />

begleitet von Flüchen. Nach sorgenvollen Minuten ist die Mehrheit geneigt, erleichtert<br />

aufzuatmen. Entfernt haben sich lediglich die Bolschewiki - die Blüte <strong>der</strong> Nation bleibt<br />

auf dem Posten. Nur <strong>der</strong> linke Flügel <strong>der</strong> Versöhnler duckte sich unter dem Hieb, <strong>der</strong><br />

scheinbar nicht gegen sie geführt war. »Wir, die nächsten Nachbarn <strong>der</strong> Bolschewiki«,<br />

gesteht Suchanow, »saßen da völlig nie<strong>der</strong>geschmettert durch all das Vorgefallene.« Die<br />

reinen Ritter des Wortes verspürten, daß die Zeit <strong>der</strong> Worte vorbei war.<br />

Außenminister Tereschtschenko informierte in einem Geheimtelegramm die <strong>russischen</strong><br />

Gesandten über die Eröffnung des Vorparlaments: »Die erste Sitzung ist ganz farblos<br />

verlaufen mit Ausnahme eines von den Bolschewiki veranstalteten Skandals.« Der historische<br />

Bruch des Proletariats mit <strong>der</strong> Staatsmechanik <strong>der</strong> Bourgeoisie wurde von diesen<br />

Menschen als einfacher "Skandal" aufgefaßt. Die bürgerliche Presse versäumte die<br />

Gelegenheit nicht, die Regierung mit Berufung auf die Entschlossenheit <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

anzupeitschen: die Herren Minister würden das Land aus <strong>der</strong> Anarchie nur dann hinausführen<br />

können, »wenn sie ebensoviel Entschlossenheit und Tatwillen besitzen werden,<br />

wie <strong>der</strong> Genosse Trotzki«. Als hätte es sich um die Entschlossenheit und den Willen<br />

einzelner gehandelt und nicht um das historische Schicksal von Klassen. Und als hätte<br />

sich die Auslese <strong>der</strong> Menschen und Charaktere unabhängig von den historischen Aufgaben<br />

vollzogen. »Sie redeten und handelten«, schrieb Miljukow anläßlich des Auszuges<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 586


<strong>der</strong> Bolschewiki aus dem Vorparlament, »wie Menschen, die hinter sich eine Macht<br />

fühlen, die wissen, daß <strong>der</strong> morgige Tag ihne gehört.«<br />

Der Verlust <strong>der</strong> Monsundinseln, die wachsende Bedrohung Petrograds, <strong>der</strong> Auszug <strong>der</strong><br />

Bolschewiki aus dem Vorparlament auf die Straße zwangen die Versöhnler darüber<br />

nachzudenken, was weiter mit dem Krieg werden solle. Nach dreitägiger Überlegung,<br />

gemeinsam mit dem Kriegs- und dem Marineminister, mit Kommissaren und Delegierten<br />

von Armeeorganisationen, fand endlich das Zentral-Exekutivkomitee einen rettenden<br />

Entschluß: »Auf <strong>der</strong> Teilnahme von Vertretern <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Demkratie an <strong>der</strong> Pariser<br />

Alliiertenkonferenz bestehen.« Nach neuen Mühen ernannte man zum Vertreter Skobeljew.<br />

Es wurde eine detaillierte Instruktion ausgearbeitet: Frieden ohne Annexionen und<br />

Kontributionen, Neutralisierung <strong>der</strong> Meerengen, auch des Suez- und des Panamakanals -<br />

<strong>der</strong> geographische Horizont <strong>der</strong> Versöhnler war weiter als <strong>der</strong> politische -, Abschaffung<br />

<strong>der</strong> Geheimdiplomatie, allmähliche Abrüstung. Das Zentral-Exekutivkomitee setzte<br />

auseinan<strong>der</strong>, daß die Teilnahine seines Delegierten an den Pariser Beratungen »den<br />

Zweck verfolgt, einen Druck auf die Alliierten auszuüben«. Ein Druck Skobeljews auf<br />

Frankreich, England und die Vereinigten Staaten! Die Kadettenzeitung stellte die giftige<br />

Frage: Was wird Skobeijew tun, wenn die Alliierten seine Bedingungen ungeniert ablehnen?<br />

»Wird er mit einem neuen Aufruf an die Völker <strong>der</strong> Erde drohen?« Ach, die<br />

Versöhnler schämten sich schon längst ihres eigenen alten Aufrufs.<br />

Während es plante, den Vereinigten Staaten die Neutralisierung des Panamakanals<br />

aufzuzwingen, erwies sich das Zentral-Exekutivkomitee in Wirklichkeit unfähig, einen<br />

Druck auch nur auf das Winterpalais auszuüben. Am 12. schickte Kerenski einen<br />

umfangreichen Brief an Lloyd George voll zärtlicher Vorwürfe, bitterer Klagen und<br />

heißer Versprechungen. Die Front befände sich »in besserem Zustande als im vorigen<br />

Frühling«. Gewiß, die defätistische Propaganda - <strong>der</strong> russische Premier beklagt sich bei<br />

dem britischen über die <strong>russischen</strong> Bolschewiki - habe gehin<strong>der</strong>t, alle gestellten Ziele<br />

durchzusetzen. Von Frieden jedoch könne nicht die Rede sein. Die Regierung kenne nur<br />

die eine Frage: »Wie den Krieg fortsetzen?« Begreiflicherweise bat Kerenski unter<br />

Verpfändung seines Patriotismus um Kredite.<br />

Das von Bolschewiki befreite Vorparlament war ebenfalls nicht müßig: am 10. begannen<br />

die Debatten über Hebung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee. Der Dialog, <strong>der</strong> drei<br />

qualvolle Sitzungen beanspruchte, entwickelte sich nach dem unabän<strong>der</strong>lichen Schema:<br />

»man muß die Armee überzeugen, daß sie für Frieden und Demokratie kämpft«, sagte<br />

man links. Überzeugen ist unmöglich, man muß sie zwingen, erwi<strong>der</strong>te man rechts.<br />

Zwangsmittel sind nicht vorhanden: um zwingen zu können, muß man anfangs, wenn<br />

auch nur teilweise, überzeugen, antworteten die Versöhnler. Im Überzeugen sind die<br />

Bolschewiken euch überlegen, erwi<strong>der</strong>ten die Kadetten. Beide Seiten hatten recht. Aber<br />

auch <strong>der</strong> Ertrinkende hat recht, wenn er vor dem Versinken schreit.<br />

Am 18. kam die Entscheidungsstunde, die an <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Dinge nichts än<strong>der</strong>n<br />

konnte. Die Formel <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre erhielt fünfündneunzig gegen einhun<strong>der</strong>tundsiebenundzwanzig<br />

Stimmen bei fünfzig Stimmenthaltungen. Die Formel <strong>der</strong> Rechten -<br />

einhun<strong>der</strong>tfünfunddreißig gegen einhun<strong>der</strong>tneununddreißig Stimmen. Erstaunlich, es gibt<br />

keine Mehrheit! Im Saal herrscht, nach den Zeitungsberichten, »allgemeine Bewegung<br />

und Verlegenheit«. Trotz <strong>der</strong> Einheitlichkeit des Zieles war die Blüte <strong>der</strong> Nation nicht<br />

fähig, auch nur einen platonischen Beschluß zu fassen über die akuteste Frage des natio-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 587


nalen Lebens. Das war kein Zufall: dasselbe wie<strong>der</strong>holte sich tagein, tagaus bei allen<br />

übrigen Fragen in Kommissionen wie im Plenum. Die Meinungssplitter ließen sich nicht<br />

summieren. Sämtliche Gruppen lebten von ungreifbaren Schattierungen eines politischen<br />

Gedankens: <strong>der</strong> Gedanke selbst fehlte. Vielleicht war er mit den Bolschewiki auf die<br />

Straße gegangen ...? Die Sackgasse des Vorparlaments war die Sackgasse des Regimes.<br />

Die Armee umzustimmen war schwer, sie zu zwingen unmöglich. Auf die neue<br />

Zurechtweisung Kerenskis an die Adresse <strong>der</strong> Baltischen Flotte, die den Kämplen standhielt<br />

und Opfer trug, wandte sich <strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Seeleute an das Zentral-Exekutivkomitee<br />

mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, aus den Reihen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung eine Person zu<br />

entfernen, »die durch ihre schamlosen politischen Erpressungen die Große <strong>Revolution</strong><br />

schändet und zugrunde richtet«. Eine solche Sprache hatte Kerenski früher auch von den<br />

Matrosen nicht vernommen. Das Distriktkomitee <strong>der</strong> Armee, <strong>der</strong> Flotte und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Arbeiter in Finnland, das als Macht auftrat, hielt Regierungsfrachten zurück.<br />

Kerenski drohte Verhaftung <strong>der</strong> Sowjetkommissare an. Die Antwort lautete: »Das<br />

Distriktkomitee nimmt die Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung mit Ruhe<br />

entgegen.« Kerenski schwieg. Die Baltische Flotte befand sich eigentlich bereits mitten<br />

im Aufstande.<br />

An <strong>der</strong> Front <strong>der</strong> Landtruppen war die Sache noch nicht so weit gediehen, entwickelte<br />

sich aber in gleicher Richtung. Die Ernährungslage verschlechterte sich während des<br />

Oktober rapid. Der Höchstkommandierende <strong>der</strong> Nordfront berichtete, <strong>der</strong> Hunger sei<br />

»Hauptursache <strong>der</strong> moralischen Zersetzung <strong>der</strong> Armee«. Während die Versöhnlerspitzen<br />

an <strong>der</strong> Front fortfuhren, allerdings nunmehr bloß hinter dem Rücken <strong>der</strong> Soldaten, von<br />

Hebung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee zu reden, erhob unten ein Regiment nach dem<br />

an<strong>der</strong>en die For<strong>der</strong>ung nach Veröffentlichung <strong>der</strong> Geheimdokumente und sofortigem<br />

Friedensangebot. Schdanow, Kommissar <strong>der</strong> Westfront, meldete in den ersten Oktobertagen:<br />

»Die Stimmung ist äußerst unruhig in Verbindung mit den nahenden Frösten und<br />

<strong>der</strong> Ernährungsverschlechterung ... Ausgesprochenen Erfolg haben die Bolschewiki.«<br />

Die Regierungsinstitutionen an <strong>der</strong> Front schwebten in <strong>der</strong> Luft. Der Kommissar <strong>der</strong> 2.<br />

Armee meldet, daß die Kriegsgerichte nicht tagen könnten, da die Soldaten sich weigern,<br />

als Zeugen zu erscheinen. Das gegenseitige Verhältnis zwischen Kommandobestand und<br />

Soldaten hat sich zugespitzt. Man hält die Offiziere für die Schuldigen an <strong>der</strong> Kriegsverlängerung.<br />

Die Feindschaft <strong>der</strong> Soldaten gegen Regierung und Kommandobestand hatte<br />

sich bereits längst auf die seit <strong>Revolution</strong>sbeginn nicht erneuerten Armeekomitees<br />

übertragen. Über <strong>der</strong>en Köpfe hinweg schicken die Regimenter Delegierte nach Petrograd,<br />

zum Sowjet, mit Beschwerden über die unerträgliche Lage im Schützengraben,<br />

ohne Brot, ohne Ausrüstung, ohne Zuversicht zum Krieg. An <strong>der</strong> rumänischen Front, wo<br />

die Bolschewiki sehr schwach sind, weigern sich ganze Regimenter, zu schießen. »In<br />

zwei bis drei Wochen werden die Soldaten selbst Waffenstillstand erklären und die<br />

Waffen nie<strong>der</strong>legen.« Delegierte einer <strong>der</strong> Divisionen berichten: »Die Soldaten haben<br />

beschlossen, beim ersten Schneefall heimzukehren.« Eine Delegation des 33. Korps<br />

drohte im Plenum des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets: wenn es keinen wirklichen Kampf um<br />

Frieden geben sollte, »werden die Soldaten selbst die Macht in ihre Hände nehmen und<br />

Waffenstillstand schließen«. Ein Kommissar <strong>der</strong> 2. Armee meldet dem Kriegsminister:<br />

»Es wird nicht selten davon gesprochen, daß man mit Eintreten <strong>der</strong> Kälte die Positionen<br />

verlassen wird.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 588


Die nach den Julitagen fast abgebrochene Verbrü<strong>der</strong>ung lebte wie<strong>der</strong> auf und wuchs<br />

schnell an. Wie<strong>der</strong> häuften sich nach einer Pause die Fälle, wo Soldaten Offiziere nicht<br />

nur verhafteten, son<strong>der</strong>n die verhaßtesten nie<strong>der</strong>machten. Das Strafgericht vollzog sich<br />

fast offen vor den Augen <strong>der</strong> Soldaten. Niemand trat dazwischen, die Mehrheit wollte<br />

nicht, eine kleine Min<strong>der</strong>heit wagte nicht. Dem Täter gelang es stets zu entkommen, als<br />

wäre er spurlos in <strong>der</strong> Soldatenmasse untergetaucht. Ein General schrieb: »Krampfhaft<br />

klammem wir uns an etwas, flehen um irgendein Wun<strong>der</strong>, aber die Mehrheit begreift, daß<br />

es keine Rettung mehr gibt.«<br />

Heimtücke mit Stumpfsinn verbindend, hörten die patriotischen Zeitungen nicht auf,<br />

von Fortsetzung des Krieges, Offensive und Sieg zu schreiben. Die Generale schüttelten<br />

die Köpfe, einige stimmten zweideutig ein. »Jetzt von einer Offensive zu träumen«,<br />

schrieb am 7. Baron Budberg, Kommandeur eines bei Dwinsk stehenden Korps, »können<br />

nur völlig wahnsinnige Menschen.« Schon einen Tag später ist er gezwungen, in das<br />

gleiche Tagebuch einzutragen: »Bin betäubt und außer mir über erhaltene Direktiven für<br />

eine nicht später als am 20. Oktober bevorstehende Offensive.« Die Stäbe, die an nichts<br />

mehr glaubten und alles aufgegeben hatten, entwarfen Pläne neuer Operationen. Es gab<br />

nicht wenig Generale, die die letzte Rettung erblickten in einer Wie<strong>der</strong>holung des Kornilowschen<br />

Experiments mit Riga in grandiosem Maßstabe: die Armee in einen Kampf<br />

verwickeln und versuchen, die Nie<strong>der</strong>lage auf das Haupt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu wenden.<br />

Auf Initiative des Kriegsministers Werchowski wurde beschlossen, die älteren<br />

Jahrgänge zu beurlauben. Die Eisenbahnen krachten unter dem Andrang heimkehren<strong>der</strong><br />

Soldaten. An den überlasteten Waggons brachen die Fe<strong>der</strong>n und wurden die Fußböden<br />

eingedrückt. Die Stimmung <strong>der</strong> Zurückbleibenden wird durch all das nicht besser. »Die<br />

Schützengräben verfallen«, schreibt Budberg. »Die Verbindungsgänge sind<br />

überschwemmt; überall Abfall und Exkremente ... Die Soldaten weigern sich<br />

entschieden, Aufräumungsarbeiten in den Schützengräben zu verrichten ... Es ist<br />

schrecklich, darüber nachzudenken, wohin das führen wird, wenn <strong>der</strong> Frühling kommt<br />

und alles zu faulen und zu verwesen beginnt.« Im Zustande erbitterter Passivität sträubten<br />

sich die Soldaten durchwegs sogar gegen Schutzimpfungen: das wurde ebenfalls zu einer<br />

Form des Kampfes gegen den Krieg.<br />

Nach vergeblichen Versuchen, die Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee durch Einschränkung<br />

ihrer Zahl zu heben, kam Werchowski plötzlich zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung, das Land retten<br />

könne nur <strong>der</strong> Frieden. In einer Privatberatung mit Kadettenführern, die <strong>der</strong> junge und<br />

naive Minister auf seine Seite zu ziehen hoffte, entwickelte Werchowski ein Bild des<br />

materiellen und geistigen Zerfalls <strong>der</strong> Armee: »Alle Versuche, den Krieg fortzusetzen,<br />

können die Katastrophe nur näher bringen.« Den Kadetten konnte das nicht verborgen<br />

bleiben, aber unter dem Schweigen <strong>der</strong> übrigen zuckte Miljukow verächtlich die<br />

Achseln: »Rußlands Würde«, »Treue zu den Alliierten ...« Ohne auch nur an eines dieser<br />

Worte zu glauben, war <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie hartnäckig bestrebt, die <strong>Revolution</strong><br />

unter den Ruinen und Leichen des Krieges zu begraben. Werchowski bewies politischen<br />

Mut: Ohne erst die Regierung zu informieren o<strong>der</strong> zu warnen, trat er am 20. in einer<br />

Kommission des Vorparlaments auf mit einer Erklärung über die Notwendigkeit eines<br />

sofortigen Friedensschlusses, unabhängig von Zustimmung o<strong>der</strong> Nichtzustimmung <strong>der</strong><br />

Alliierten. Wütend wehrten sich alle jene gegen ihn, die ihm in Privatgesprächen<br />

zugestimmt hatten. Die patriotische Presse schrieb, <strong>der</strong> Kriegsminister »hat sich auf den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 589


Wagentritt des Genossen Trotzki geschwungen«. Burzew spielte auf das deutsche Gold<br />

an. Werchowski wurde beurlaubt. Unter vier Augen sagten sich die Patrioten: im Grunde<br />

hat er recht. Budberg wahrte Vorsicht sogar in seinem Tagebuch: »Vom Standpunkt <strong>der</strong><br />

Treue zum gegebenen Wort«, schrieb er, »ist <strong>der</strong> Vorschlag selbstverständlich hinterhältig,<br />

dagegen aber vom Standpunkte Rußlands egoistischer Interessen ist es vielleicht das<br />

einzige, was Hoffnung auf einen rettenden Ausweg bietet.« Gleichzeitig beichtet <strong>der</strong><br />

Baron seinen Neid auf die deutschen Generale, denen »das Schicksal das Glück beschert,<br />

Schöpfer von Siegen zu sein«. Er sah nicht voraus, daß die Reihe bald auch an die<br />

deutschen Generale kommen sollte. Diese Menschen vermochten überhaupt nichts<br />

vorauszusehen, auch nicht die Klügsten unter ihnen. Die Bolschewiki sahen vieles<br />

voraus, und das war ihre Stärke.<br />

Der Auszug aus dem Vorparlament sprengte in den Augen des Volkes die letzten<br />

Brücken, die die Partei des Aufstandes mit <strong>der</strong> offiziellen Gesellschaft verbanden. Mit<br />

neuer Energie - die Nähe des Zieles verdoppelt die Kräfte - gingen die Bolschewiki an<br />

die Agitation, die die Gegner Demagogie nannten, weil sie das auf die Plätze hinaustrug,<br />

was man sonst in Verhandlungszimmem und Kanzleien verbarg. Die Überzeugungskraft<br />

dieser unermüdlichen Predigt ergab sich daraus, daß die Bolschewiki den Entwicklungsgang<br />

klar begriffen, ihm ihre Politik unterordneten, die Massen nicht fürchteten,<br />

unerschütterlich an ihr Recht und ihren Sieg glaubten. Das Volk wurde nicht müde, sie<br />

anzuhören. Die Massen hatten das Bedürfnis, zusammenzuhalten, einje<strong>der</strong> wollte sich an<br />

den an<strong>der</strong>en überprüfen, und alle beobachteten immer aufmerksamer und gespannter, wie<br />

sich <strong>der</strong> gleiche Gedanke mit all seinen verschiedenen Schattierungen und Strichen in<br />

ihrem Bewußtsein wälzte. Endlose Mengen standen an Zirkussen und an<strong>der</strong>en großen<br />

Gebäuden herum, wo die populärsten Bolschewiki mit letzten Schlußfolgerungen und<br />

letzten Appeflen auftraten.<br />

Die Zahl <strong>der</strong> führenden Agitatoren verringerte sich stark gegen Oktober. Es fehlte vor<br />

allem Lenin als Agitator und mehr noch als unmittelbarer Tagesinspirator. Es fehlten<br />

seine einfachen und tiefen Verallgemeinerungen, die sich fest in das Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Massen einbohrten, seine prägnanten, dem Volke abgelauschten und ihm zurückgegebenen<br />

Ausdrücke. Es fehlte <strong>der</strong> hervorragende Agitator Sinowjew: vor den Verfolgungen<br />

wegen <strong>der</strong> Teilnahme am Juli-"Aufstande" verborgen, hatte er sich entschieden gegen<br />

den Oktoberaufstand gewandt und war damit für die ganze kritische Periode vom Betätigungsfelde<br />

verschwunden. Kamenjew, unersetzlicher Propagandist und erfahrener politischer<br />

Parteiinstrukteur, verurteilte den Kurs auf den Aufstand, glaubte nicht an den Sieg,<br />

sah eine Katastrophe voraus und trat finster in den Schatten. Swerdlow, von Natur mehr<br />

Organisator als Agitator, trat häufig in Massenversammlungen auf, und sein gleichmäßiger,<br />

mächtiger und nie ermüden<strong>der</strong> Baß verbreitete ruhige Sicherheit. Stalin war we<strong>der</strong><br />

Agitator noch Redner. Mehr als einmal figurierte er als Berichterstatter bei Parteiberatungen.<br />

Aber sprach er auch nur einmal in einer Massenversammlung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>? In<br />

den Dokumenten und Erinnerungen sind diesbezüglich keine Spuren erhalten geblieben.<br />

Eindrucksvolle Agitation führten Wolodarski, Laschewitsch, Kollontay,<br />

Tschudnowski. Hinterher kamen Dutzende von Agitatoren kleineren Kalibers. Mit Interesse<br />

und Sympathie, in die sich bei den Aufgeklärteren Nachsichtigkeit mengte, hörte<br />

man Lunatscharski an, einen erfahrenen Redner, <strong>der</strong> eine Tatsache, eine Verallgemeinerung,<br />

Pathos und Scherz anzubringen wußte, <strong>der</strong> aber keinen Anspruch darauf erhob,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 590


jemand zu führen: er hatte selbst nötig, geführt zu werden. Je näher <strong>der</strong> Umwälzung,<br />

desto rascher verlor Lunatscharski an Farbe und verblaßte.<br />

Suchanow erzählt von dem Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets: »Sich von <strong>der</strong><br />

Arbeit im <strong>Revolution</strong>sstab losreißend, flog er vom Obuchowski-Werk zum<br />

Truboschtschny, vom Putilow zum Baltijski, aus <strong>der</strong> Manege in die Kasernen, und es<br />

war, als spräche er gleichzeitig an allen Orten. Es kannte und hörte ihn je<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldat. Sein Einfluß - bei den Massen und im Stab - war überwältigend.<br />

Er war die Zentralfigur dieser Tage und <strong>der</strong> Hauptheld dieser bedeutsamen<br />

Seite <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>.«<br />

Doch unermeßlich wirksamer war in dieser letzten Periode vor <strong>der</strong> Umwälzung jene<br />

molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen<br />

einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend.<br />

Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Ka<strong>der</strong><br />

geschaffen, Hun<strong>der</strong>te und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren,<br />

die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben, und die gerade darum Tatsachen<br />

und Menschen mit einer Treffsicherheit einschätzten, wie sie Rednern akademischen<br />

Schlages längst nicht immer gegeben ist. An erster Stelle standen die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter,<br />

erbliche Proletarier, die eine Schicht Agitatoren und Organisatoren geschaffen hatten<br />

von ausnehmend revolutionärer Stählung, hoher politischer Kultur, selbständig in<br />

Denken, Wort und Tat. Dreher, Schlosser, Schmiede, Erzieher von Werken und<br />

Fabriken, hatten um sich schon ihre Schulen und ihre Schüler, spätere Erbauer <strong>der</strong><br />

Sowjetrepublik. Die baltischen Matrosen, engste Kampfgefährten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter,<br />

in hohem Maße <strong>der</strong>en Mitte entstammend, haben Brigaden von Agitatoren hervorgebracht,<br />

die im Sturm rückständige Regimenter, Kreisstädte, Muschikdörfer eroberten.<br />

Eine verallgemeinernde Formel, im Zirkus Mo<strong>der</strong>n von einem <strong>der</strong> revolutionären Führer<br />

hingeworfen, füllte sich in Hun<strong>der</strong>ten denken<strong>der</strong> Köpfe mit Fleisch und Blut und machte<br />

dann einen Kreislauf durch das ganze Land.<br />

Aus den baltischen Provinzen, aus Polen, Litauen wurden Tausende revolutionärer<br />

Arbeiter und Soldaten beim Rückzug <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee zusammen mit den Industriebetrieben<br />

o<strong>der</strong> einzeln evakuiert: alles das waren Agitatoren gegen den Krieg und seine<br />

Schuldigen. Lettische Bolschewiki, von ihrem Heimatboden getrennt und völlig auf dem<br />

Boden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> stehend, überzeugt, trotzig, entschlossen, leisteten tagaus tagein<br />

Wühlarbeit in allen Teilen des Landes. Die eckigen Gesichter, <strong>der</strong> harte Akzent und die<br />

nicht selten gebrochenen <strong>russischen</strong> Sätze verliehen beson<strong>der</strong>e Ausdruckskraft ihren<br />

ungebändigten Mahnungen zum Aufstande.<br />

Die Masse duldete nun nicht mehr in ihrer Mitte Schwankende, Zweifelnde, Neutrale.<br />

Sie war bestrebt, alle zu erfassen, mitzureißen, zu überzeugen, zu gewinnen. Betriebe<br />

entsandten gemeinsam mit den Regimentern Delegierte an die Front. Die Schützengräben<br />

verbanden sich mit den Arbeitern und Bauern des benachbarten Hinterlandes. In den <strong>der</strong><br />

Front nahegelegenen Städten fanden zahllose Meetings, Beratungen, Konferenzen statt,<br />

wo Soldaten und Matrosen ihre Handlungen in Übereinstimmung brachten mit denen <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Bauern: das rückständige, an <strong>der</strong> Front gelegene Weißrußland wurde auf<br />

diese Weise für den Bolschewismus gewonnen.<br />

Wo die lokale Parteileitung unentschieden, abwartend war, wie zum Beispiel in Kiew,<br />

Woronesch und an zahlreichen an<strong>der</strong>en Orten, verfielen die Massen nicht selten in Passi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 591


vität. Zur Rechtfertigung ihrer Politik verwiesen die Führer auf die Verfallsstimmungen,<br />

die sie selbst hervorgerufen hatten. Umgekehrt: »Je entschiedener und mutiger <strong>der</strong><br />

Appell zum Aufstande war«, schreibt Powolschski, einer <strong>der</strong> Kasaner Agitatoren, »um so<br />

vertrauensseliger und freundschaftlicher benahm sich die Soldatenmasse dem Redner<br />

gegenüber.«<br />

Die Fabriken und Regimenter von Petrograd und Moskau klopfen immer beharrlicher<br />

an die Holztore des Dorfes. Die Arbeiter veranstalten untereinan<strong>der</strong> Kollekten und schikken<br />

Delegierte in ihre heimatlichen Gouvernements. Regimenter beschließen, die Bauern<br />

zur Unterstützung <strong>der</strong> Bolschewiki aufzurufen. Arbeiterbetriebe außerhalb <strong>der</strong> Stadt<br />

veranstalten Pilgerfahrten in die umliegenden Dörfer, tragen Zeitungen aus, gründen<br />

bolschewistische Zellen. Von diesen Streifzügen bringen sie in den Pupillen einen<br />

Abglanz heim von den Bränden des Bauernkrieges.<br />

Der Bolschewismus erobert das Land. Die Bolschewiki werden eine unüberwindliche<br />

Macht. Mit ihnen geht das Volk. Die Stadtdumas von Kronstadt, Zarizyn, Kostroma,<br />

Schuja, hervorgegangen aus allgemeinen Wahlen, sind in Händen <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Zweiundfünfzig Prozent <strong>der</strong> Stimmen erhalten die Bolschewiki bei den Wahlen zu den<br />

Bezirksdumas in Moskau. Im fernen friedlichen Tomsk wie auch in dem gar nicht<br />

industriellen Samara nehmen sie in <strong>der</strong> Duma den ersten Platz ein. Von vier Vertretern<br />

des Schlüsselburger Kreissemstwos gehen drei Bolschewiki durch. Im Ligowsker Kreissemstwos<br />

erhalten die Bolschewiki fünfzig Prozent <strong>der</strong> Stimmen. Nicht überall steht es<br />

so günstig. Aber überall verän<strong>der</strong>t es sich in gleicher Richtung: das spezifische Gewicht<br />

<strong>der</strong> bolschewistischen Partei steigt rapid.<br />

Viel krasser jedoch zeigte sich die Bolschewisierung <strong>der</strong> Massen in den Klassenorganisationen.<br />

Die Gewerkschaften vereinigten in <strong>der</strong> Hauptstadt über eine halbe Million<br />

Arbeiter. Jene Menschewiki, die noch in einigen Gewerkschaften die Führung in Händen<br />

hielten, fühlten sich selbst als Überbleibsel des gestrigen Tages. Welcher Teil des Proletariats<br />

sich auch versammelte und welches auch seine unmittelbaren Aufgaben sein<br />

mochten, er kam unvermeidlich zu bolschewistischen Schlußfolgerungen. Und nicht<br />

zufällig: Gewerkschaften, Fabrikkomitees, ökonomische o<strong>der</strong> kulturelle Vereinigungen<br />

<strong>der</strong> Arbeiterklasse, ständige o<strong>der</strong> provisonsche, waren durch die Gesamtsituation bei<br />

je<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>aufgabe gezwungen, stets die gleiche Frage zu stellen: Wer ist Herr im<br />

Hause?<br />

Die Arbeiter <strong>der</strong> Fabtiken des Artillerieamtes, zusammenberufen zu einer Konferenz<br />

zwecks Regulierung <strong>der</strong> Beziehungen mit <strong>der</strong> Administration, sagen, wie das zu erreichen<br />

sei: durch die Sowjetmacht. Das ist bereits keine hohle Formel, son<strong>der</strong>n ein<br />

Pregramm <strong>der</strong> Wirtschaftsrettung. Indem sie sich <strong>der</strong> Macht nähern, gehen die Arbeiter<br />

immer konkreter an die Fragen <strong>der</strong> Industrie heran: die Artilleriekonferenz schuf sogar<br />

ein beson<strong>der</strong>es Zentrum zur Ausarbeitung von Methoden für die Umstellung <strong>der</strong> Kriegsbetriebe<br />

auf Friedensproduktion.<br />

Die Moskauer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees bezeichnete es als notwendig, daß <strong>der</strong><br />

lokale Sowjet künftig durch Verordnungen über alle Streikkonflikte entscheide, aus<br />

eigener Machtvollkommenheit durch Unternehmer geschlossene Betriebe wie<strong>der</strong>eröffne<br />

und durch Entsendung eigener Delegierten nach Sibirien und dem Donezbecken die<br />

Betriebe mit Brot und Kohle versorge. Die Petrogra<strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees<br />

widmet ihre Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Agrarfrage und arbeitet aufgrund eines Referats von<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 592


Trotzki ein Manifest an die Bauern aus: das Proletariat fühlt sich nicht nur als beson<strong>der</strong>e<br />

Klasse, son<strong>der</strong>n auch als Führer des Volkes.<br />

Die allrussische Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees, in <strong>der</strong> zweiten Oktoberhälfte, bringt<br />

die Frage <strong>der</strong> Arbeiterkontrolle auf die Höhe einer allnationalen Aufgabe. »Die Arbeiter<br />

sind an <strong>der</strong> geordneten und ununterbrochenen Arbeit <strong>der</strong> Unternehmen interessierter als<br />

die Besitzer.« Die Arheiterkontrolle »liegt im Interesse des gesamten Landes und muß<br />

unterstützt werden von <strong>der</strong> revolutionären Bauernschaft und <strong>der</strong> revolutionären Armee«.<br />

Die Resolution, die einer neuen ökonomischen Ordnung die Pforte öffnet, wird<br />

angenommen von den Vertretern sämtlicher Industrieunternehmen Rußlands gegen fünf<br />

Stimmen bei neun Stimmenthaltungen. Die wenigen, die sich <strong>der</strong> Abstimmung enthalten,<br />

sind jene alten Menschewiki, die ihrer Partei nicht mehr folgen können, aber sich noch<br />

nicht entschließen, offen die Hand für die bolschewistische Umwälzung zu erheben.<br />

Morgen werden sie es tun.<br />

Die erst ganz vor kurzem entstandenen demokratischen Munizipalitäten sterben ab,<br />

parallel mit den Organen <strong>der</strong> Regierungsgewalt. Die wichtigsten Aufgaben, wie Versorgung<br />

<strong>der</strong> Städte mit Wasser, Licht, Heizung, Lebensmitteln, fallen immer mehr den<br />

Sowjets und an<strong>der</strong>en Arbeiterorganisationen zu. Das Fabrikkomitee <strong>der</strong> Beleuchtungszentrale<br />

in Petrograd lief in <strong>der</strong> Stadt und Umgebung umher auf <strong>der</strong> Suche bald nach<br />

Kohle, bald nach Öl für die Turbinen, verschaffte dies wie jenes durch die Komitees<br />

an<strong>der</strong>er Betriebe, im Kampfe gegen Besitzer und Administration.<br />

Nein, die Macht <strong>der</strong> Sowjets war keine Schimäre, keine von Parteitheoretikem erklügelte,<br />

willkürliche Konstruktion. Sie wuchs unauffhaltsam von unten auf, aus<br />

Wirtschaftszerfall, Ohnmacht <strong>der</strong> Besitzenden, aus den Nöten <strong>der</strong> Massen; die Sowjets<br />

wurden in <strong>der</strong> Tat zur Macht - für Arbeiter, Soldaten, Bauern blieb kein an<strong>der</strong>er Weg<br />

übrig. Es war nicht mehr an <strong>der</strong> Zeit, über die Sowjetmacht zu Hügeln und zu streiten: es<br />

hieß sie verwirklichen.<br />

Auf dem ersten Sowjetkongreß, im Juni. war beschlossen worden, Kongresse alle drei<br />

Monate zu veranstalten. Das Zentral-Exekutivkomitee rief den zweiten Kongreß nicht<br />

nur nicht zur festgelegten Zeit ein, son<strong>der</strong>n bekundete die Absicht, ihn überhaupt nicht<br />

einzuberufen, um nicht einer feindlichen Mehrheit gegenübergestellt zu werden. Die<br />

Demokratische Beratung hatte zu ihrer Hauptaufgabe gehabt, die Sowjets zu verdrängen<br />

und sie durch Organe <strong>der</strong> "Demokratie" zu ersetzen. Doch erwies sich das als nicht so<br />

einfach. Die Sowjets waren nicht gewillt, den Platz, wem immer, zu räumen.<br />

Am 21. September, gegen Ende <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, erhob <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet die Stimme für schnellste Einberufung eines Sowjetkongresses. In diesem Sinne<br />

wurde nach den Referaten von Trotzki und dem Moskauer Gast Bucharin eine Resolution<br />

angenommen, die formell von <strong>der</strong> Notwendigkeit ausging, sich »auf die neue Welle<br />

<strong>der</strong> Konterrevolution« vorzubereiten. Das Programm <strong>der</strong> Defensive, das <strong>der</strong> künftigen<br />

Offensive den Weg bahnen sollte, stützte sich auf die Sowjets als die einzigen zu einem<br />

Kampfe fähigen Organisationen. Die Resolution for<strong>der</strong>te, daß die Sowjets ihre Positionen<br />

in den Massen festigen sollten. Wo die faktische Macht in ihren Händen sei, dürften<br />

sie sie keinesfalls entgleiten lassen. Die in den Kornilowtagen geschaffenen revolutionären<br />

Komitees müßten in Bereitschaft bleiben. »Für Zusammenschluß und einmütiges<br />

Vorgehen sämtlicher Sowjets in ihrem Kampfe gegen die heranrückende Gefahr und für<br />

die Entscheidung <strong>der</strong> Fragen über Organisierung <strong>der</strong> revolutionären Macht ist die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 593


unverzügliche Einberufüng des Sowjetkongresses notwendig.« So mündet die Verteidigungsresolution<br />

in den Sturz <strong>der</strong> Regierung. Nach dieser politischen Stimmgabel wird<br />

von nun an die Agitation bis zum Moment des Aufstandes verlaufen.<br />

Die zur Beratung zusammengekommenen Sowjetdelegierten stellten am nächsten Tage<br />

die Kongreßfrage vor dem Zentral-Exekutivkomitee. Die Bolschewiki for<strong>der</strong>ten Einberufung<br />

des Kongresses in zweiwöchiger Frist und beantragten o<strong>der</strong> richtiger drohten zu<br />

diesem Zwecke ein auf den Petrogra<strong>der</strong> und den Moskauer Sowjet sich stützendes<br />

Son<strong>der</strong>organ zu schaffen. In Wirklichkeit zogen sie vor, den Kongreß durch das alte<br />

Zentral-Exekutivkomitee einberufen zu lassen: das beseitigte von vornherein den Streit<br />

über die Rechtsgültigkeit des Kongresses und gestattete, die Versöhnler mit ihrer eigenen<br />

Hilfe zu stürzen. Die halbverschleierte Drohung <strong>der</strong> Bolschewiki verfehlte ihre Wirkung<br />

nicht: da sie es noch nicht wagten, mit <strong>der</strong> Sowjetlegalität zu brechen, erklärten die<br />

Führer des Zentral-Exekutivkomitees, sie würden niemand die Ausübung ihrer Pflichten<br />

anvertrauen. Der Kongreß wurde für den 20. Oktober, in weniger als einem Monat,<br />

angesetzt.<br />

Kaum aber waren die Provinzdelegierten auseinan<strong>der</strong>gefahren, als den Führern des<br />

Zentral-Exekutivkomitees plötzlich die Augen aufgingen: <strong>der</strong> Kongreß sei unzeitgemäß,<br />

er würde die örtlichen Arbeiter von <strong>der</strong> Wahlkampagne ablenken und <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung schaden. Die wirkliche Befürchtung bestand darin, <strong>der</strong> Kongreß<br />

könnte ein kraftvoller Prätendent auf die Macht werden; doch darüber schwieg man<br />

diplomatisch. Schon am 26. September stellte Dan, ohne sich um die notwendige Vorbereitung<br />

bemüht zu haben, beim Büro des Zentral-Exekutivkomitees einen Antrag auf<br />

Verschiebung des Kongresses.<br />

Mit den elementaren Prinzipien <strong>der</strong> Demokratie machten diese patentierten Demokraten<br />

am allerwenigsten Umstände. Soeben hatten sie den Beschluß <strong>der</strong> von ihnen einberufenen<br />

Demokratischen Beratung umgestoßen, <strong>der</strong> eine Koalition mit den Kadetten<br />

verwarf Jetzt bekundeten sie ihre souveräne Geringschätzung für die Sowjets, beginnend<br />

mit dem Petrogra<strong>der</strong>, auf dessen Schultern sie zur Macht emporgestiegen waren. Aber<br />

konnten sie denn in <strong>der</strong> Tat, ohne ihr Bündnis mit <strong>der</strong> Bourgeoisie zu zerreißen, den<br />

Hoffnungen und For<strong>der</strong>ungen von Dutzend Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern, die<br />

hinter den Sowjets standen, Rechnung tragen?<br />

Trotzki beantwortete den Vorschlag Dans dahingehend, <strong>der</strong> Kongreß würde in jedem<br />

Falle einberuien werden, wenn nicht auf konstitutionellem, so auf revolutionärem Wege.<br />

Das im allgemeinen so gefügige Büro lehnte es diesmal ab; dem Weg des sowjetischen<br />

Coup d'état zu folgen. Doch die kleine Nie<strong>der</strong>lage veranlaßte die Verschwörer<br />

keinesfalls, die Waffen zu strecken, im Gegenteil, stachelte sie gleichsam auf. Dan fand<br />

eine einflußreiche Stütze in <strong>der</strong> Militärischen Sektion des Zentral-Exekutivkomitees, die<br />

dahin entschied, die Frontorganisationen zu "befragen", ob <strong>der</strong> Kongreß einzuberufen,<br />

das heißt ob eine vom höchsten Sowjetorgan zweimal getroffene Entscheidung auszuführen<br />

sei. In <strong>der</strong> Zwischenzeit begann die Versöhnlerpresse eine Kampagne gegen den<br />

Kongreß. Beson<strong>der</strong>s wüteten die Sozial-revolutionäre. »Ob <strong>der</strong> Kongreß einberufen wird<br />

o<strong>der</strong> nicht«, schrieb 'Djelo Naroda' - »für die Lösung <strong>der</strong> Machtfrage kann es nicht die<br />

geringste Bedeutung haben ... Kerenskis Regierung wird sich jedenfalls nicht unterwerfen.«<br />

Wem nicht unterwerfen? fragte Lenin. »Der Macht <strong>der</strong> Sowjets«, erläuterte er, »<strong>der</strong><br />

Macht <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern, welche 'Djelo Naroda', um nicht hinter den Pogromisten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 594


und Antisemiten, Monarchisten und Kadetten zuruckzubleiben, die Macht Trotzkis und<br />

Lenins nennt.«<br />

Das Bauern-Exekutivkomitee seinerseits erklärte die Einberufung des Kongresses als<br />

»gefährlich und unerwünscht«. Auf den Sowjetgipfeln entstand bösartiger Wirrwarr. Im<br />

Lande herumreisende Delegierte <strong>der</strong> Versöhnlerparteien mobilisierten die lokalen<br />

Organisationen gegen den Kongreß, den offiziell das höchte Sowjetorgan einberief. Der<br />

Offiziosus des Zentral-Exekutivkomitees druckte tagein tagaus von <strong>der</strong> führenden<br />

Versöhnlerclique bestellte Resolutionen gegen den Kongreß, durchweg ausgehend von<br />

den März-Gespenstern, die allerdings imposante Benennungen hatten. Die 'Iswestja',<br />

trugen die Sowjets in Leitartikeln zu Grabe, erklärten sie für provisorische Baracken, die<br />

abgetragen werden müßten, sobald die Konstituierende Versammlung »das Gebäude des<br />

neuen Regimes« krönen würde.<br />

Die Agitation gegen den Kongreß vermochte am allerwenigsten die Bolschewiki zu<br />

überraschen. Schon am 24. September hatte das Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei, ohne auf die<br />

Entscheidung des Zentral-Exekutivkomitees zu bauen, beschlossen, für den Kongreß eine<br />

Kampagne von unten, durch Lokalsowjets und Frontorganisationen einzuleiten. In die<br />

offizielle Kommission des Zentral-Exekutivkomitees zur Einberufung o<strong>der</strong> richtiger zur<br />

Sabotage des Kongresses ward von den Bolschewiki Swerdlow delegiert. Unter seiner<br />

Leitung wurden die örtlichen Parteiorganisationen und durch diese auch die Sowjets<br />

mobilisiert. Am 27. verlangten sämtliche revolutionäre Institutionen Revals die sofortige<br />

Auflösung des Vorparlaments und die Einberufung des Sowjetkongresses zwecks Schaffung<br />

einer Regierungsmacht, wobei sie sich feierlich verpflichteten, ihn »mit allen in <strong>der</strong><br />

Festung vorhandenen Kräften und Mitteln« zu unterstützen. Viele Lokalsowjets, beginnend<br />

mit den Moskauer Bezirken, schlugen vor, die Sache <strong>der</strong> Einberufung des Kongresses<br />

aus den Händen des illoyalen Zentral-Exekutivkomitees zu nehmen. Im Gegensatz zu<br />

den Resolutionen <strong>der</strong> Armeekomitees gegen den Kongreß ergossen sich For<strong>der</strong>ungen<br />

zugunsten des Kongresses seitens <strong>der</strong> Bataillone, Regimenter, Korps und Garnisonen.<br />

»Der Sowjetkongreß muß die Macht übernehmen und vor nichts haltmachen«, erklärt<br />

eine allgemeine Soldatenversammlung in Kyschtym, Ural. Die Soldaten des Nowgoro<strong>der</strong><br />

Gouvernements rufen die Bauern auf, am Kongreß teilzunehmen ohne Rücksicht auf die<br />

Beschlüsse des Bauern-Exekutivkomitees. Gouvemements- und entlegenste<br />

Kreissowjets, Fabriken und Bergwerke, Regimenter, Dread-noughts, Minenwerfer,<br />

Kriegslazarette, Meetings, eine Automobilkompanie in Petrograd und eine Ambulanzabteilung<br />

in Moskau - alle for<strong>der</strong>n Entfernung <strong>der</strong> Regierung und Übergabe <strong>der</strong> Macht an<br />

die Sowjets.<br />

Ohne sich auf die Agitationskampagne zu beschränken, schaffen die Bolschewiki eine<br />

wichtige Organisationsbasis für sich, indem sie einen Sowjetkongreß des Nordgebietes<br />

einberufen in Stärke von hun<strong>der</strong>tfünfzig Delegierten aus dreiundzwanzig Punkten. Das<br />

war ein gut berechneter Hieb! Das Zentral-Exekutivkomitee unter Leitung seiner großen<br />

Meister für kleine Dinge erklärte den Nordkongreß für eine Privatberatung. Eine<br />

Handvoll menschewistischer Delegierter beteiligte sich an den Arbeiten des Kongresses<br />

nicht und wohnten den Sitzungen nur zu "Informationszwecken" bei. Als ob das um ein<br />

Jota die Bedeutung des Kongresses verringern konnte, auf dem die Sowjets von Petrograd<br />

und Umgebung, Moskau, Kronstadt, Helsingfors und Reval vertreten waren, das<br />

heißt bei<strong>der</strong> Hauptstädte, <strong>der</strong> Marinefestungen, <strong>der</strong> Baltischen Flotte und <strong>der</strong> um Petro-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 595


grad gelegenen Garnisonen. Der durch Antonow eröffnete Kongreß, dem absichtlich ein<br />

militärischer Anstrich verliehen worden war, verlief unter Vorsitz Fähnrich Krylenkos,<br />

des besten Parteiagitators an <strong>der</strong> Front und späteren bolschewistischen Oberbefehlshabers.<br />

Im Mittelpunkt des politischen Referats von Trotzki stand ein neuer Versuch <strong>der</strong><br />

Regierung, die revolutionären Regimenter aus Petrograd hinauszubringen: <strong>der</strong> Kongreß<br />

wird nicht erlauben, »Petrograd zu entwaffnen und den Sowjet zu erdrosseln«. Die Frage<br />

<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sei ein Grundelement des Machtproblems. »Das ganze Volk<br />

stimmt für die Bolschewiki. Das Volk vertraut uns und beauftragt uns, die Macht in<br />

unsere Hände zu nehmen.« Die von Trotzki vorgeschlagene Resolution besagt: »Die<br />

Stunde ist da, wo nur das entschiedene und einmütige Vorgehen aller Sowjets ... die<br />

Frage <strong>der</strong> Zentralmacht entscheiden kann.« Dieser fast unverhüllte Aufruf zum<br />

Aufstande wird mit allen Stimmen bei drei Stimmenthaltungen angenommen.<br />

Laschewitsch for<strong>der</strong>te die Sowjets auf, nach dem Beispiel Petrograds die Verfügung<br />

über die Ortsgarnisonen in ihren Händen zu konzentrieren. Der lettische Delegierte<br />

Peterson versprach zur Verteidigung des Sowjetkongresses vierzigtausend lettische<br />

Schützen. Die begeistert aufgenommene Erklärung Petersons war am allerwenigsten<br />

Phrase. Nach einigen Tagen verkündete <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> lettischen Regimenter: »Nur <strong>der</strong><br />

Volksaufstand ... wird den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets möglich<br />

machen.« Die Radiostationen <strong>der</strong> Kriegsschiffe verbreiteten am 13. über das ganze Land<br />

den Aufruf des Nordkongresses, sich auf den All<strong>russischen</strong> Sowjetkongreß<br />

vorzubereiten. »Soldaten, Matrosen, Bauern und Arbeiter! Eure Pflicht ist, alle Hin<strong>der</strong>nisse<br />

hinwegzuräumen ...«<br />

Den bolschewistischen Delegierten des Nordkongresses schlug das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />

Partei vor, in Erwartung des nun bereits nahen Sowjetkongresses nicht auseinan<strong>der</strong>zufahren.<br />

Einzelne Delegierte begaben sich im Auftrage des vom Kongreß gewählten Büros zu<br />

den Armeeorganisationen und Lokalsowjets, um Bericht zu erstatten, mit an<strong>der</strong>en<br />

Worten, um die Provinz für den Aufstand vorzubereiten. Das Zentral-Exekutivkomitee<br />

erblickte neben sich einen machtvollen Apparat, <strong>der</strong> sich auf Petrograd und Moskau<br />

stützte, sich mit dem Lande durch die Radiostationen <strong>der</strong> großen Schlachtschiffe unterhielt<br />

und jeden Augenblick bereit war, in Fragen <strong>der</strong> Kongreßeinberufung das baufällige<br />

oberste Sowjetorgan abzulösen. Kleine Organisationstricks konnten da den Versöhnlern<br />

keinesfalls helfen.<br />

Der Kampf für und wi<strong>der</strong> den Kongreß gab in <strong>der</strong> Provinz den letzten Anstoß zur<br />

Bolschewisierung <strong>der</strong> Sowjets. In einer Reihe rückständiger Gouvernements, zum<br />

Beispiel Smolensk, erhielten die Bolschewiki, allein o<strong>der</strong> zusammen mit den linken<br />

Sozialrevolutionären, zum erstenmal eine Mehrheit während <strong>der</strong> Kongreßkampagne o<strong>der</strong><br />

bei den Delegiertenwahlen. Sogar auf dem Sibirischen Sowjetkongreß Mitte Oktober<br />

gelang es den Bolschewiki, zusammen mit den linken Sozialrevolutionären eine sichere<br />

Mehrheit zu schaffen, die ihren Stempel leicht sämtlichen lokalen Sowjets aufdrückte.<br />

Am 15. anerkannte <strong>der</strong> Kiewer Sowjet mit einhun<strong>der</strong>tneunundfünfzig Stimmen gegen<br />

achtundzwanzig bei drei Stimmenthaltungen den künftigen Sowjetkongreß »als souveränes<br />

Machtorgan«. Am 16. erklärte <strong>der</strong> Sowjetkongreß des Nordwestdistriktes zu Minsk,<br />

das heißt im Zentrum <strong>der</strong> Westfront, die Einberufung des Sowjetkongresses für unaufschiebbar.<br />

Am 18. nahm <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet Wahlen zum bevorstehenden Kongreß<br />

vor: für die bolschewistische Liste (Trotzki, Kamenjew, Wolodarski, Jurenjew und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 596


Laschewitsch) wurden vierhun<strong>der</strong>tdreiundvierzig Stimmen abgegeben; für die sozialrevolutionäre<br />

- einhun<strong>der</strong>tzweiundsechzig; das waren alles linke Sozialrevolutionäre, die<br />

zu den Bolschewiki neigten; für die Menschewiki - vierundvierzig Stimmen. Der unter<br />

Vorsitz Krestinikis tagende Kongreß <strong>der</strong> Uraler Sowjets, wo auf einhun<strong>der</strong>tundzehn<br />

Delegierte achtzig Bolschewiki kamen, verlangte im Namen von<br />

zweihun<strong>der</strong>tdreiundzwanzigtausendundneunhun<strong>der</strong>t organisierten Arbeitern und Soldaten<br />

die Einberufung des Kongresses zu festgelegter Frist. Am gleichen Tage, dem 19.,<br />

sprach sich die Allrussische Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees, die unmittelbarste und<br />

unbestrittenste Vertretung des Proletariats des ganzen Landes, für den sofortigen<br />

Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets aus. Am 20. erklärte Iwanowo-Wosnessensk<br />

alle Sowjets des Gouvernements »im Zustande des offenen und unerbittlichen<br />

Kampfes gegen die Provisorische Regierung« und for<strong>der</strong>te sie auf, über wirtschaftliche<br />

und administrative Fragen am Orte selbständig zu entscheiden. Gegen die Resolution, die<br />

die Absetzung <strong>der</strong> lokalen Regierungsbehörden bedeutete, erhob sich nur eine Stimme<br />

bei einer Stimmenthaltung. Am 22. veröffentlichte die bolschewistische Presse eine neue<br />

Liste von sechsundfünfzig Organisationen, die den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets<br />

for<strong>der</strong>ten: das alles sind die wahren Massen, zum großen Teil bewaffnet.<br />

Der machtvolle Wi<strong>der</strong>hall <strong>der</strong> Ka<strong>der</strong> des nahenden Umsturzes hin<strong>der</strong>te Dan nicht, dem<br />

Büro des Zentral-Exekutivkomitees zu berichten, daß von den neunhun<strong>der</strong>tundsiebzehn<br />

bestehenden Sowjetorganisationen nur fünfzig sich bereit erklärt hätten, Delegierte zu<br />

entsenden und auch diese »ohne jegliche Begeisterung«. Es ist nicht schwer zu begreifen,<br />

daß jene wenigen Sowjets, die es noch für angebracht hielten, ihre Gefühle dem Zentral-<br />

Exekutivkomitee anzuvertrauen, keine Begeisterung für den Kongreß bezeugten. Doch<br />

die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Lokalsowjets und Soldatenkomitees ignorierte einfach<br />

das Zentral-Exekutivkomitee.<br />

Obwohl sie sich durch ihre Arbeit für die Kongreßsprengung bloßstellten und kompromittierten,<br />

wagten die Versöhnler dennoch nicht, die Sache zu Ende zu führen. Als es<br />

augenscheinlich wurde, <strong>der</strong> Kongreß sei nicht zu vermeiden, vollzogen sie eine schroffe<br />

Wendung und riefen alle lokalen Organisationen auf, Delegierte zum Kongreß zu<br />

wählen, um eine bolschewistische Mehrheit zu verhin<strong>der</strong>n. Aber zu spät auf diesen<br />

Gedanken gekommen, sah sich das Zentral-Exekutivkomitee gezwungen, drei Tage vor<br />

<strong>der</strong> angesetzten Frist den Kongreß auf den 25. Oktober zu verschieben.<br />

Das Februar-Regime und mit ihm die bürgerliche Gesellschaft erhielten dank dem<br />

letzten Manöver <strong>der</strong> Versöhnler eine unerwartete Fristverlängerung, aus <strong>der</strong> sie allerdings<br />

nichts Wesentliches mehr gewinnen konnten. Dafür aber nutzten die Bolschewiki<br />

die gewonnenen fünf Tage mit großem Erfolg aus. Später gaben das auch die Feinde zu.<br />

»Die Aufschiebung <strong>der</strong> Erhebung«, erzählt Miljukow; »nutzten die Bolschewiki vor allem<br />

zur Festigung ihrer Positionen unter den Petrogra<strong>der</strong> Arbeitern und Soldaten aus.<br />

Trotzki erschien auf Meetings bei den verschiedenen Truppenteilen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Garnison. Die durch ihn hervorgerufene Stimmung läßt sich dadurch charakterisieren,<br />

daß man beispielsweise im Semjonowski-Regiment die nach ihm auftretenden Mitglie<strong>der</strong><br />

des Exekutivkomitees, Skobeljew und Goz, nicht sprechen ließ.«<br />

Der Umschwung im Semjonowski-Regiment, dessen Name in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> mit unheilvollen Zeichen eingeschrieben war, besaß symbolische Bedeutung:<br />

im Dezember 1905 hatten die Semjonowsker die Hauptarbeit zur Unterdrückung des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 597


Aufstandes in Moskau geleistet. Der Regimentskommandeur General Min, befahl<br />

damals: »Verhaftete darf es nicht gehen.« Auf dem Eisenbahnabschnitt Moskau - Golurwino<br />

erschossen die Semjonowiker hun<strong>der</strong>tfünfzig Arbeiter und Angestellte. Der für<br />

seine Heldentaten vom Zaren ausgezeichnete General Min wurde im Herbst 1906 von <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionärin Konopljanikowa getötet. Völlig im Netz <strong>der</strong> alten Traditionen hielt<br />

sich das Semjonowski-Regiment länger als die meisten an<strong>der</strong>en Gar<strong>der</strong>egimenter. Die<br />

Reputation seiner "Zuverlässigkeit" war so stark, daß die Regierung trotz dem traurigen<br />

Mißerfolge Skobeljews und Goz' auf die Semjonowsker beharrlich weiter baute bis zum<br />

Tage <strong>der</strong> Umwälzung und sogar danach.<br />

Die Frage des Sowjetkongresses blieb die zentrale politische Frage während <strong>der</strong> fünf<br />

Wochen, die die Demokratische Beratung vom Oktoberaufstande trennten. Schon die<br />

bolschewistische Deklaration in <strong>der</strong> Demokratischen Beratung verkündete den künftigen<br />

Sowjetkongreß als souveränes Organ des Landes. »Nur solche Beschlüsse und Anträge<br />

dieser Beratung ... können den Weg zur Verwirklichung finden, die die Zustimmung<br />

seitens des All<strong>russischen</strong> Kongresses <strong>der</strong> Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten<br />

haben werden.« Die Resolution für den Boykott des Vorparlaments, unterstützt von <strong>der</strong><br />

einen Hälfte <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees gegen die an<strong>der</strong>e Hälfte, lautete: »Die<br />

Frage <strong>der</strong> Beteiligung unserer Partei am Vorparlament stellen wir jetzt in direkte Abhängigkeit<br />

von jenen Maßnahmen, die <strong>der</strong> Allrussische Sowjetkongreß zur Schaffung einer<br />

revolutionären Macht treffen wird.« Die Appellation an den Sowjetkongreß geht durch<br />

alle bolschewistischen Dokumente dieser Periode fast ohne Ausnahme.<br />

Unter den Bedingungen des entfachten Bauernkrieges, <strong>der</strong> sich verschärfenden nationalen<br />

Bewegung, sich vertiefenden Desorga-nisation, <strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>fallenden Front, <strong>der</strong><br />

in Auflösung befindlichen Regierung werden die Sowjets zum einzigen Bollwerk schöpferischer<br />

Kräfte. Jede Frage verwandelt sich in eine Machtfrage, das Machtproblem aber<br />

führt zum Sowjetkongreß. Er wird die Antwort auf alle Fragen geben müssen, darunter<br />

auch auf die Frage über die Konstituierende Versammlung.<br />

Noch nahm keine <strong>der</strong> Parteien die Parole <strong>der</strong> Konstituierenden Versammiung zurück,<br />

auch nicht die Bolschewiki. Aber fast unmerklich war die wichtigste demokratische<br />

Losung, die während an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnten dem heroischen Kampf <strong>der</strong> Massen Farbe<br />

verliehen hatte, im Laufe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sereignisse ausgeblieben und verblaßt, als sei sie<br />

zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben, leere Spreu, nackte, inhaltlose Form geworden,<br />

Tradition, aber nicht Perspektive. An diesem Prozeß war nichts Rätselhaftes. In Entwicklung<br />

geriet die <strong>Revolution</strong> an den unmittelbaren Waffengang <strong>der</strong> zwei Kernklassen <strong>der</strong><br />

Gesellschaft um die Macht: Burgeoisie und Proletariat. We<strong>der</strong> <strong>der</strong> einen noch <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en vermochte die Konstituierende Versammlung noch etwas zu bieten. Die Kleinbourgeoisie<br />

in Stadt und Land konnte bei diesem Waffengang nur eine untergeordnete<br />

und nebensächliche Rolle spielen. Die Macht in die eigenen Hände zu nehmen, war sie<br />

jedenfalls unfähig: wenn die vorangegangenen Monate etwas bewiesen hatten, so gerade<br />

dies. In <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung indes konnte die Kleinbourgeoisie noch eine<br />

Mehrheit bekommen und hat sie später tatsächlich bekommen. Wozu? Nur um nicht zu<br />

wissen, welchen Gebrauch davon zu machen. Darin eben äußerte sich die Unzulänglichkeit<br />

<strong>der</strong> formalen Demokratie an er tiefen historischen Wende. Die Macht <strong>der</strong> Tradition<br />

zeigte sich darin, daß noch am Vorabend des letzten Waffengangs nicht eines <strong>der</strong> Lager<br />

auf den Namen <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung verzichtete. In Wirklichkeit aber<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 598


hatte die Bourgeoisie von <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an Kornilow appelliert, die<br />

Bolschewiki an den Sowjetkongreß.<br />

Es darf mit Sicherheit angenommen werden, daß ziemlich breite Volksschichten, sogar<br />

bestimmte Zwischenschichten <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, in bezug auf den Sowjetkongreß<br />

gewisse konstitutionelle Illusionen hegten, das heißt damit die Vorstellung von<br />

einem automatischen und schmerzlosen Übergang <strong>der</strong> Macht aus den Händen <strong>der</strong> Koalition<br />

in die Hände <strong>der</strong> Sowjets verbanden. In Wirklichkeit mußte man die Macht mit<br />

Gewalt nehmen, mit einer Abstimmung war es nicht zu erreichen: nur <strong>der</strong> bewaffnete<br />

Aufstand konnte die Frage entscheiden.<br />

Aber von allen Illusionen, die als unvermeidliche Beimischung jede große, auch die<br />

realistischste Volksbewegung begleiten, war die Illusion des Sowjet-"Parlamentarismus"<br />

aus <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> Bedingungen heraus die ungefährlicliste. Die Sowjets kämpften<br />

in Wirklichkeit um die Macht, stützten sich immer mehr auf die Militärgewalt, wurden zu<br />

lokalen Machtorganen, eroberten kämpfend ihren eigenen Kongreß. Für konstitutionetle<br />

lllusionen blieb nicht gar so viel Platz übrig, und auch er wurde im Prozeß des Kampfes<br />

weggeschwemmt.<br />

Indem sie die revolutionären Bemühungen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten des ganzen<br />

Landes koordinierte, ihnen Zieleinheit und Zeiteinheit verlieh, verdeckte die Losung des<br />

Sowjetkongresses durch ständige Appellation an die legale Vertretung <strong>der</strong> Arbeiter,<br />

Soldaten und Bauern gleichzeitig die halbkonspirative, halboffene Vorbereitung des<br />

Aufstandes. Indem er die Kräftesaminlung für die Umwälzung erleichterte, mußte <strong>der</strong><br />

Sowjetkongreß dann <strong>der</strong>en Resultate sanktionieren und eine neue, für das Volk unbestrittene<br />

Macht aufrichten.<br />

Das militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

Trotz dem Ende Juli begonnenen Umschwung herrschten in <strong>der</strong> erneuerten Petrogra<strong>der</strong><br />

Garnison während des August noch immer Sozialrevolutionäre und Menschewiki.<br />

Einzelne Truppenteile blieben infiziert von scharfem Mißtrauen gegen die Bolschewiki.<br />

Das Proletariat besaß keine Waffen: in den Händen <strong>der</strong> Roten Garde waren nur einige<br />

tausend Gewehre verblieben. Ein Aufstand hätte unter solchen Umständen mit einer<br />

schweren Nie<strong>der</strong>lage enden können, obwohl die Massen wie<strong>der</strong> den Bolschewiki<br />

zuströmten.<br />

Die Lage verän<strong>der</strong>te sich dauernd im Laufe des September. Nach dem Aufruhr <strong>der</strong><br />

Generale verloren die Versöhnler rapid die Stütze in <strong>der</strong> Garnison. Mißtrauen gegen die<br />

Bolschewiki wich <strong>der</strong> Sympathie, schlimmstenfalls abwarten<strong>der</strong> Neutralität. Doch die<br />

Sympathie war nicht aktiv. Die Garnison blieb politisch sehr locker und auf Muschikenart<br />

argwöhnisch: ob nicht auch die Bolschewiki betrügen? Ob sie tatsächlich Frieden und<br />

Brot geben werden? Für diese Ziele unter dem Banner <strong>der</strong> Bolschewiki zu kämpfen - war<br />

noch nicht die Absicht <strong>der</strong> Soldatenmehrheit. Da überdies in <strong>der</strong> Garnison eine fast völlig<br />

unauflösbare, den Bolschewiki feindliche Min<strong>der</strong>heit erhalten geblieben war (fünf- bis<br />

sechstausend Junker, drei Kosakenregimenter, ein Bataillon Radfahrer, eine Panzerdivision),<br />

mußte <strong>der</strong> Ausgang eines Zusammenstoßes auch im September bedenklich erscheinen.<br />

Um <strong>der</strong> Sache zu helfrn, brachte <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Entwicklung noch eine<br />

Anschauungslektion, wobei sich das Schicksal <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Soldaten offenbarte als<br />

untrennbar verbunden mit dem Schicksale <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 599


Das Recht, über Abteilungen bewaffneter Menschen zu verfügen, ist das Grundrecht<br />

einer Staatsmacht. Die erste Provisorische Regierung, dem Volke vom Exekutivkomitee<br />

aufgezwungen, hatte sich verpflichtet, die an <strong>der</strong> Februarumwälzung beteiligt gewesenen<br />

Truppenteile nicht zu entwaffnen und nicht aus Petrograd hinauszuführen. Das war <strong>der</strong><br />

formale Beginn des militärischen Dualismus, von <strong>der</strong> Doppelherrschaft im Kern untrennbar.<br />

Die großen politischen Erschütterungen <strong>der</strong> folgenden Monate - Aprildemonstration,<br />

Julitage, Vorbereitung des Kornilow-Aufstandes und seine Liquidierung - mündeten<br />

unvermeidlich jedesmal in die Frage nach <strong>der</strong> Botmäßigkeit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison.<br />

Doch die Konflikte zwischen Regierung und Versöhnlern auf diesem Gebiete waren<br />

letzten Endes familiären Charakters und endeten gütlich. Mit <strong>der</strong> Bolschewisierung <strong>der</strong><br />

Garnison wurde die Sache an<strong>der</strong>s. Nun erinnerten die Soldaten selbst an die im März von<br />

<strong>der</strong> Regierung dem Zentral-Exekutivkomitee gegenüber eingegangene und von beiden<br />

treulos gebrochene Verpflichtung. Am 8. September erhebt die Soldatensektion des<br />

Sowjets die For<strong>der</strong>ung, die im Zusammenhang mit den Juliereignissen an die Front<br />

geschickten Regimenter nach Petrograd zurückzubringern. Indessen zerbrachen sich die<br />

Koalitionspartner darüber den Kopf, wie auch die übrigen Regimenter hinauszuschaffen.<br />

In einer Reihe von Provinzstädten stand die Sache ungefähr ebenso wie in <strong>der</strong> Hauptstadt.<br />

Während <strong>der</strong> Monate Juli und August machten die örtlichen Garnisonen eine<br />

patriotische Auffrischung durch, im August und September verfielen die erneuerten<br />

Garnisonen <strong>der</strong> Bolschewisierung. Man mußte vom Anfang beginnen, das heißt sie<br />

wie<strong>der</strong> vermischen und erneuern. In Vorbereitung des Schlags gegen Petrograd begann<br />

die Regierung mit <strong>der</strong> Provinz. Politische Motive wurden sorgsamst hinter strategischen<br />

versteckt. Am 27. September beschloß eine vereinigte Versammlung <strong>der</strong> Sowjets von<br />

Reval Stadt und Festung, zur Frage <strong>der</strong> Regimenterversetzung: Truppenumgruppierungen<br />

nur zu billigen nach vorheriger Zustimmung <strong>der</strong> betreffenden Sowjets. Die Führer<br />

<strong>der</strong> Sowjets in Wladimir befragten Moskau, ob sie sich Kerenskis Befehl betreffs Versetzung<br />

<strong>der</strong> gesamten Garnison unterwerfen sollten. Das Moskauer Distriktbüro <strong>der</strong><br />

Bolschewiki stellte fest, daß »Befehle solcher Art Regel werden in bezug auf revolutionär<br />

gestimmte Garnisonen«. Bevor sie aller ihrer Rechte verlustig ging, versuchte die Provisorische<br />

Regierung von dem Grundrecht je<strong>der</strong> Regierung Gebrauch zu machen, - über<br />

die bewaffneten Menschenabteilungen zu verfügen.<br />

Die Umformierung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison wurde um so unaufschiebbarer, als <strong>der</strong><br />

nahende Sowjetkongreß auf die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Art den Kampf um die Macht zur<br />

Entscheidung bringen mußte. Die bürgerliche Presse, geführt von <strong>der</strong> kadettischen<br />

'Rjetsch', wie<strong>der</strong>holte tagein tagaus, man dürfe den Bolschewiki nicht die Möglichkeit<br />

lassen, »den Moment zur Proklamierung des Bürgerkrieges zu wählen«. Das bedeutete:<br />

selber rechtzeitig gegen die Bolschewiki losschlagen. Der Versuch, vorher das Kräfteverhältnis<br />

in <strong>der</strong> Garnison zu än<strong>der</strong>n, ergab sich daraus unvermeidlich. Die Argumente<br />

strategischen Charakters sahen nach dem Fall Rigas und dem Verlust <strong>der</strong> Monsundinseln<br />

recht beachtenswert aus. Der Bezirksstab verschickte Befehle über Umformierung <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Truppenteile zwecks Abmarschs zur Front. Gleichzeitig wurde auf Anregung<br />

<strong>der</strong> Versöhnler die Frage in die Soldatensektion getragen. Der gegnerische Plan war nicht<br />

übel: dem Sowjet ein strategisches Ultimatum zu stellen, um so mit einem Schlage den<br />

Bolschewiki die militärische Stütze unter den Füßen zu entreißen o<strong>der</strong> aber, im Falle des<br />

Wi<strong>der</strong>standes seitens des Sowjets, einen akuten Konflikt heraufzubeschwören zwischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 600


<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison und <strong>der</strong> Front, die Ersatz und Ablösung brauchte.<br />

Die Sowjetführer, die sich über die ihnen gestellte Falle hinlänglich klar waren,<br />

wollten, ehe sie einen unwi<strong>der</strong>ruflichen Schritt unternahmen, den Boden gut abtasten.<br />

Rundweg die Erfüllung des Befehls verweigern konnte man nur unter <strong>der</strong> sicheren<br />

Voraussetzung, die Front würde die Motive <strong>der</strong> Verweigerung richtig verstehen. An<strong>der</strong>nfalls<br />

konnte es sich als vorteilhafter erweisen, nach Verständigung mit den Schützengräben<br />

einen Ersatz <strong>der</strong> Garnisontruppen durch revolutionäre Fronttruppenteile, die <strong>der</strong><br />

Erholung bedurften, vorzunehmen. In diesem Sinne hatte sich bereits, wie oben gezeigt,<br />

<strong>der</strong> Revaler Sowjet ausgesprochen.<br />

Die Soldaten gingen an die Frage gradliniger heran. Jetzt, im tiefen Herbst, an die<br />

Front gehen, mit einer neuen Winterkampagne sich abfinden - nein, dieser Gedanke fand<br />

in ihren Köpfen keinen Platz. Die patriotische Presse nahm sofort die Garnison unter<br />

Feuer: die in Müßiggang gemästeten Petrogra<strong>der</strong> Regimenter wollen abermals die Front<br />

verraten. Die Arbeiter nahmen sich <strong>der</strong> Soldaten an. Die Putilower protestierten als erste<br />

gegen die Versetzung <strong>der</strong> Regimenter. Die Frage verschwand nicht mehr von <strong>der</strong> Tagesordnung,<br />

nicht nur in den Kasernen, son<strong>der</strong>n auch in den Betrieben. Das brachte die zwei<br />

Sektionen des Sowjets einan<strong>der</strong> näher. Die Regimenter begannen einmütig die For<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung zu unterstützen.<br />

Bemüht, den Patriotismus <strong>der</strong> Massen durch die Drohung mit dem Verlust Petrograds<br />

aufzustacheln, brachten die Versöhnler am 9. Oktober im Sowjet den Antrag vor, ein<br />

"Komitee <strong>der</strong> revolutionären Verteidigung" zu schaffen, das die Aufgabe haben sollte,<br />

unter aktiver Mitwirkung <strong>der</strong> Arbeiter an <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt teilzunehmen.<br />

Während er es ablehnte, »für die sogenannte Strategie <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, im<br />

beson<strong>der</strong>en für die Entfernung <strong>der</strong> Truppen aus Petrograd« die Verantwortung zu<br />

übernehmen, beeilte sich <strong>der</strong> Sowjet nicht, zu dem Befehl an sich Stellung zu nehmen,<br />

son<strong>der</strong>n beschloß, dessen Motive und Grund lagen nachzuprüfen. Die Menschewiki<br />

versuchten zu protestieren: es sei nicht zulässig, sich in operative Maßnahmen des<br />

Kommandos einzumischen. Aber erst an<strong>der</strong>thalb Monate vorher hatten sie das gleiche<br />

über die verschwörerischen Befehle Kornilows gesagt - und sie wurden daran erinnert.<br />

Um nachzuprüfen, ob die Versetzung <strong>der</strong> Regimenter militärischen o<strong>der</strong> politischen<br />

Erwägungen entsprang, war ein kompetentes Organ erfor<strong>der</strong>lich. Zur höchsten Verwun<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Versöhnler akzeptierten die Bolschewiki die Idee eines "Komitees <strong>der</strong> Verteidigung":<br />

gerade dieses Komitee sollte die Aufgabe haben, alles auf die Verteidigung <strong>der</strong><br />

Hauptstadt Bezügliche in seinen Händen zu konzentrieren. Das war ein wichtiger Schritt.<br />

Indem er die gefährliche Waffe den Händen des Gegners entwand, behielt <strong>der</strong> Sowjet die<br />

Möglichkeit, je nach den Umständen den Beschluß über die Versetzung <strong>der</strong> Truppen in<br />

die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Richtung zu wenden, jedenfalls aber gegen Regierung und Versöhnler.<br />

Die Bolschewiki griffen um so selbstverständlicher das menschewistische Projekt eines<br />

militärischen Komitees auf, als in ihren eigenen Reihen schon vorher wie<strong>der</strong>holt die<br />

Rede von <strong>der</strong> Notwendigkeit gewesen war, rechtzeitig ein autoritatives Sowjetorgan für<br />

die Leitung <strong>der</strong> künftigen Umwälzung zu schaffen. In <strong>der</strong> Militärischen Parteiorganisation<br />

war sogar ein entsprechen<strong>der</strong> Entwurf in Bearbeitung. Die Schwierigkeit, die man<br />

bisher nicht zu überwinden vermocht hatte, bestand in <strong>der</strong> Verbindung des Aufstandsorganes<br />

mit dem gewählten und offen auftretenden Sowjet, dem überdies Vertreter feindli-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 601


cher Parteien angehörten. Die patriotische Initiative <strong>der</strong> Menschewiki ,kam höchst<br />

gelegen, die Schaffung des revolutionären Stabes zu erleichtern, <strong>der</strong> bald in "Militärisches<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee" umgetauft und zum Haupthebel <strong>der</strong> Umwälzung wurde.<br />

Zwei Jahre nach den hier geschil<strong>der</strong>ten Ereignissen schrieb <strong>der</strong> Autor dieses Buches in<br />

einem <strong>der</strong> Oktoberumwälzung gewidmeten Artikel: »Sobald <strong>der</strong> Befehl über die Versetzung<br />

<strong>der</strong> Truppenteile vom Bezirksstab dem Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets<br />

übergeben worden war ... wurde klar, daß diese Frage in ihrer weiteren Entwicklung von<br />

entscheiden<strong>der</strong> politischer Bedeutung werden konnte.« Die Idee des Aufstandes begann<br />

jäh Gestalt anzunehmen. Es war nicht mehr notwendig, ein Sowjetorgan zu erfinden. Die<br />

wirkliche Bestimmung des künftigen Komitees wurde unzweideutig durch die Tatsache<br />

unterstrichen, daß Trotzki in <strong>der</strong> gleichen Sitzung seine Rede zum Auszug <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

aus dem Vorparlament mit dem Ruf schloß: »Es lebe <strong>der</strong> offene und direkte Kampf<br />

um die revolutionäre Macht im Lande!« Das war die in die Sprache <strong>der</strong> Sowjetlegalität<br />

übersetzte Losung: »Es lebe <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand!«<br />

Gerade am nächsten Tage, dem 10., nahm das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki in einer<br />

Geheimsitzung Lenins Resolution an, die den bewaffneten Aufstand als die praktische<br />

Aufgabe <strong>der</strong> nächsten Tage stellte. Die Partei bekam von nun an eine klare und imperative<br />

Kampfeinstellung. Das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung wurde in die Perspektive des<br />

unmittelbaren Kampfes um die Macht eingeschaltet.<br />

Die Regierung und ihre Verbündeten umgaben die Garnison mit konzentrischen<br />

Kreisen. Am 11. meldete <strong>der</strong> Kommandierende <strong>der</strong> Nordfront, General Tscheremissow,<br />

dem Kriegsminister die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Armeekomitees, die ermüdeten Fronttruppenteile<br />

durch Petrogra<strong>der</strong> Reserven zu ersetzen. Der Frontstab war in diesem Falle nur eine<br />

Vermittlungsinstanz zwischen den Versöhnlern bei <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong>en Petrogra<strong>der</strong><br />

Führern, die eine breitere Deckung für Kerenskis Pläne anstrebten. Die Koalitionspresse<br />

begleitete die Umkreisungsoperation mit einer Symphonie patriotischer Raserei. Die<br />

täglichen Versammlungen <strong>der</strong> Regimenter und Betriebe jedoch bewiesen, daß die Musik<br />

<strong>der</strong> Regierenden unten nicht den geringsten Eindruck machte. Am 12. gab die Versammlung<br />

einer <strong>der</strong> revolutionärsten Fabriken <strong>der</strong> Hauptstadt (Stari-Parvyeinen) auf die Hetze<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Presse die Antwort: »Wir erklären kategorisch, daß wir auf die Straße<br />

gehen werden, sobald wir es für nötig erachten sollten. Uns schreckt nicht <strong>der</strong> nahe<br />

bevorstehende Kampf, und wir glauben fest, daß wir aus ihm als Sieger hervorgehen<br />

werden.«<br />

Indem es die Kommissionen zur Ausarbeitung <strong>der</strong> Verordnung für das "Komitee <strong>der</strong><br />

Verteidigung" ins Leben riet, hatte das Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets für das<br />

Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit <strong>der</strong><br />

Nordfront und dem Stab des Petrogra<strong>der</strong> Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem<br />

Distriktsowjet von Finnland zur Klärung <strong>der</strong> militärischen Situation und <strong>der</strong> notwenigen<br />

Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes <strong>der</strong> Garnison von<br />

Petrograd und Umgebung, wie auch <strong>der</strong> Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung<br />

von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Disziplin in den Soldaten- und Arheitermassen.<br />

Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten<br />

sich fast sämtlich an <strong>der</strong> Grenze zwischen Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt und bewaffnetem<br />

Aufstande. Aber diese zwei bisher einan<strong>der</strong> ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt<br />

tatsächlich einan<strong>der</strong> genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 602


Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das<br />

Element <strong>der</strong> Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen<br />

worden, son<strong>der</strong>n ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des<br />

Vorabends des Aufstandes.<br />

Zum Zwecke <strong>der</strong> gleichen Maskierung wurde an die Spitze <strong>der</strong> Kommission zur<br />

Ausarbeitung <strong>der</strong> Verordnung des Komitees nicht ein Bolschewik gestellt, son<strong>der</strong>n ein<br />

Sozialrevolutionär, <strong>der</strong> junge, bescheidene Intendanturbeamte Lasimir, einer jener linken<br />

Sozialrevolutionäre, die bereits vor dem Aufstande vorbehaltlos mit den Bolschewiki<br />

gingen, allerdings nicht immer voraussahen, wohin sie dies führen sollte. Lasimirs<br />

ursprüngliches Projekt war von Trotzki nach zwei Richtungen hin umredigiert worden:<br />

die praktischen Aufgaben zur Eroberung <strong>der</strong> Garnison wurden präzisiert und das allgemeine<br />

revolutionäre Ziel stärker vertuscht. Das vom Exekutivkomitee unter dem Protest<br />

zweier Menschewiki gutgeheißene Projekt einverleibte <strong>der</strong> Zusammensetzung des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees die Präsidien von Sowjet und Soldatensektion, Vertreter <strong>der</strong><br />

Flotte, des Distriktkomitees Finnlands, <strong>der</strong> Eisenbahnergewerkschaft, <strong>der</strong><br />

Fabrikkomitees, Gewerkschaften, militärischen Parteiorganisationen, <strong>der</strong> Roten Garde<br />

und so weiter. Das organisatorische Fundament war das gleiche wie in vielen an<strong>der</strong>en<br />

Fällen. Aber die personelle Zusammensetzung des Komitees war durch seine neuen<br />

Aufgaben bestimmt. Man ging davon aus, daß die Organisationen Vertreter entsenden<br />

würden, die mit militärischen Fragen vertraut sind o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Garnison nahestehen. Die<br />

Funktion sollte den Charakter des Organs bedingen.<br />

Nicht unwichtiger war eine an<strong>der</strong>e Neugründung: dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

wurde eine permanente Garnisonberatung angeglie<strong>der</strong>t. Die Soldatensektion vertrat<br />

die Garnison politisch: die Deputierten wurden gewählt im Zeichen <strong>der</strong> Parteien. Die<br />

Garnisonberatung dagegen sollte aus den Regimentskomitees zusammengesetzt werden,<br />

die das Alltagsleben ihrer Truppenteile leiteten und <strong>der</strong>en praktische, unmittelbarere<br />

"Berufs"vertretung darstellten. Die Analogie zwischen Regimentskomitees und Fabrikkomitees<br />

drängt sich von selbst auf. Vermittels <strong>der</strong> Arbeitersektion des Sowjets konnten<br />

sich die Bolschewiki in großen politischen Fragen fest auf die Arbeiter stützen. Um aber<br />

Herr im Betriebe zu werden, war es nötig, die Fabrikkomitees hinter sich zu haben. Die<br />

Zusammensetzung <strong>der</strong> Soldatensektion sicherte den Bolschewiki die politische Sympathie<br />

<strong>der</strong> Garnisonmehrheit. Um aber praktisch über die Truppenteile zu verfügen, mußte<br />

man sich unmittelbar auf die Regimentskomitees stützen können. Dies erklärt, weshalb<br />

die Garnisonberatung in <strong>der</strong> dem Aufstande vorangehenden Periode in den Vor<strong>der</strong>grund<br />

rückte und natürlicherweise die Soldatensektion verdrängte. Die angeseheneren Delegierten<br />

<strong>der</strong> Sektion gehörten übrigens auch <strong>der</strong> Beratung an.<br />

In einem kurz vor jenen Tagen geschriebenen Artikel "Die Krise ist reif?" fragte Lenin<br />

vorwurfsvoll: »Was hat die Partei getan für das Studium <strong>der</strong> Truppenaufstellung und so<br />

weiter ...?« Trotz <strong>der</strong> aufopfernden Arbeit <strong>der</strong> Militärischen Organisation war Lenins<br />

Vorwurf berechtigt. Das rein stabsmäßige Studium <strong>der</strong> militärischen Kräfte und Mittel<br />

fiel <strong>der</strong> Partei schwer: es fehlte die Übung, es ermangelte <strong>der</strong> Einstellung. Die Lage<br />

verän<strong>der</strong>te sich jäh mit dem Augenblick, wo auf die Bühne die Garnisonberatung trat:<br />

von nun an rollte tagein, tagaus vor den Augen <strong>der</strong> Führer ein lebendiges Panorama <strong>der</strong><br />

Garnison ab, nicht nur <strong>der</strong> Hauptstadt, son<strong>der</strong>n auch des sie näher umgehenden Militärringes.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 603


Am 12. prüfte das Exekutivkomitee die vom Kommissar Lasimir ausgearbeitete<br />

Verordnung. Trotz dem geschlossenen Charakter <strong>der</strong> Sitzung trugen die Debatten in<br />

hohem Maße allegorischen Charakter: »Hier wurde eines gesprochen und ein an<strong>der</strong>es<br />

gemeint«, schreibt mit Recht Suchanow. Nach den Leitsätzen sollten dem Komitee<br />

Verteidigungs-, Ausrüstungs-, Verbindungs, Informationsabteilungen und so weiter<br />

angeschlossen werden: das war <strong>der</strong> Stab o<strong>der</strong> Konterstab. Als Ziel <strong>der</strong> Beratung wurde<br />

die Hebung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Garnison proklamiert. Darin war keine Lüge. Doch<br />

die Kampffähigkeit konnte verschiedene Anwendung finden. In ohnmächtiger Wut<br />

erkannten die Menschewiki, daß <strong>der</strong> von ihnen zu patriotischen Zwecken aufgestellte<br />

Gedanke sich in eine Deckung des in Vorbereitung befindlichen Aufstandes verwandelte.<br />

Die Maskierung war nichts weniger als undurchsichtig: alle erkannten klar, um was es<br />

sich handelte, doch gleichzeitig blieb sie unangreifbar: hatten doch die Versöhnler früher<br />

das gleiche Verfahren angewandt, indem sie in kritischen Momenten die Garnison um<br />

sich gruppierten und parallel zu den Staatsorganen Machtorgane schufen. Die Bolschewiki<br />

folgten gewissermaßen bloß den Traditionen <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Doch trugen sie<br />

in die alten Formen neuen Inhalt hinein. Was früher <strong>der</strong> Verständigung diente, führte<br />

jetzt zum Bürgerkrieg. Die Menschewiki verlangten, ins Protokoll aufzunehmen, daß sie<br />

gegen das ganze Unternehmen seien. Dieser platonischen Bitte wurde entsprochen.<br />

Am nächsten Tage kam in <strong>der</strong> Soldatensektion, die jüngst noch die Garde <strong>der</strong> Versöhnler<br />

gewesen war, die Frage über das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee und die Garnisonberatung<br />

zur Diskussion. Den Hauptplatz in dieser bemerkenswerten Sitzung nahm mit<br />

Recht <strong>der</strong> Vorsitzende des Zentrobalt ein, <strong>der</strong> Matrose Dybenko, ein schwarzbärtiger<br />

Riese, <strong>der</strong> um ein Wort nie verlegen war. Die Rede des Helsingforser Gastes drang als<br />

frische und scharfe Meeresbrise in die abgestandene Atmosphäre <strong>der</strong> Garnison. Dybenko<br />

berichtete vom endgültigen Bruch <strong>der</strong> Flotte mit <strong>der</strong> Regierung und von den neuen<br />

Beziehungen zum Kommando. Vor Beginn <strong>der</strong> letzten Seeoperationen hatte sich <strong>der</strong><br />

Admiral an den in jenen Tagen stattfindenden Kongreß <strong>der</strong> Seeleute mit <strong>der</strong> Anfrage<br />

gewandt: werden Kampfbefehle ausgeführt werden? »Wir antworteten: sie werden es -<br />

unter unserer Kontrolle. Aber ... sollten wir erkennen, daß <strong>der</strong> Flotte Untergang droht,<br />

dann wird <strong>der</strong> Kommandierende als erster an einem Maste aufgehängt werden.« Für die<br />

Petrogra<strong>der</strong> Garnison war dies eine neue Sprache. Sie war auch in <strong>der</strong> Flotte erst in den<br />

allerletzten Tagen zur Anwendung gekommen. Es war die Sprache des Aufstands. Ein<br />

Häuflein Menschewiki knurrte verwirrt in einem Winkel. Das Präsidium betrachtete<br />

nicht ohne Besorgnis die kompakte Masse <strong>der</strong> grauen Uniformen. Nicht eine Proteststimme<br />

aus den ganzen Reihen! Die Augen brennen in erregten Gesichtern. Ein Geist <strong>der</strong><br />

Verwegenheit weht über <strong>der</strong> Versammlung.<br />

Von <strong>der</strong> allgemeinen Sympathie angefeuert, erklärte Dybenko zum Schluß mit sicherer<br />

Stimme: »Man spricht von <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Petrogra<strong>der</strong> Garnison zum Schutze<br />

<strong>der</strong> Zugänge Petrograds, im beson<strong>der</strong>en Revals, zu versetzen. Glaubt dem nicht. Reval<br />

werden wir selbst verteidigen. Bleibt hier und verteidigt die Interessen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ...<br />

Wenn wir eure Hilfe brauchen sollten, werden wir es euch selbst sagen, und ich bin<br />

überzeugt, daß ihr uns unterstützen werdet.« Dieser Appell, den die Soldaten so gut<br />

begriffen, rief einen Sturm echter Begeisterung hervor, in dem die Proteste einzelner<br />

Menschewiki spurlos untergingen. Die Frage <strong>der</strong> Versetzung <strong>der</strong> Regimenter konnte man<br />

von nun an als entschieden betrachten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 604


Der von Lasimir vorgetragene Entwurf <strong>der</strong> Leitsätze wurde mit einer Mehrheit von<br />

zweihun<strong>der</strong>tdreiundachtzig gegen eine Stimme bei dreiundzwanzig Stimmenthaltungen<br />

angenommen. Diese Zahlen, überraschend selbst für die Bolschewiki, ließen den revolutionären<br />

Druck <strong>der</strong> Massen erkennen. Die Abstimmung bedeutete, daß die Soldatensektion<br />

offen und offiziell die Verwaltung <strong>der</strong> Garnison aus den Händen des<br />

Regierungsstabes in die Hände des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees übertrug. Die<br />

nahe Zukunft wird zeigen, daß dies keine leere Demonstration war.<br />

Am gleichen Tage veröffentlichte das Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets die<br />

Mitteilung, daß eine eigene Sektion <strong>der</strong> Roten Garde ihm angeglie<strong>der</strong>t sei. Die von den<br />

Versöhnlem in Acht getane und sogar verfolgte Sache <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung wurde zur<br />

wichtigsten Aufgabe des bolschewistischen Sowjets. Das argwöhnische Verhalten <strong>der</strong><br />

Soldaten zur Roten Garde lag weit zurück. Im Gegenteil, fast in allen Regimentsresolutionen<br />

wird die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung hervorgehoben. Rote Garde und<br />

Garnison stehen von nun an in einer Reihe. Bald werden sie sich noch enger verbinden<br />

durch gemeinsame Unterordnung unter das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee.<br />

Die Regierung wurde unruhig. Am Morgen des 14. fand bei Kerenski eine Ministerberatung<br />

statt, die den vom Stab getroffennen Maßnahmen gegen diese sich vorbereitende<br />

"Erhebung" zustimmte. Die Machthaber schwankten: wird sich die Sache diesmal auf<br />

eine bewaffnete Demonstration beschränken, o<strong>der</strong> aber wird es zum Aufstande kommen?<br />

Der Bezirkskommandierende erklärte Pressevertretern: »Wir sind für jeden Fall<br />

gerüstet.« Todgeweihte verspüren nicht selten einen Kräftezustrom gerade am Vorabend<br />

ihres Unterganges.<br />

In einer vereinigten Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees for<strong>der</strong>te Dan, die Juni-Intonationen<br />

des nach dem Kaukasus verschwundenen Zeretelli nachahmend, von den Bolschewiki<br />

Antwort auf die Frage: Gedenken sie hervorzutreten, und wenn sie es denken; wann<br />

also? Aus Rjasanows Antwort zog <strong>der</strong> Menschewik Bogdanow die nicht unbegründete<br />

Schlußfolgerung, die Bolschewiki bereiten den Aufstand vor und werden an <strong>der</strong> Spitze<br />

<strong>der</strong> Aufständischen sein. Die menschewistische Zeitung schrieb: »Auf die Nichtversetzung<br />

<strong>der</strong> Garnison stützen sich offenbar die Berechnungen <strong>der</strong> Bolschewiki bei <strong>der</strong><br />

bevorstehenden Machtergreifung.« Machtergreifung wurde aber dabei in Anführungsstriche<br />

gesetzt: die Versöhnler glaubten noch nicht ernstlich an die Gefahr. Sie fürchteten<br />

weniger einen Sieg <strong>der</strong> Bolschewiki als den Triumph <strong>der</strong> Konterrevolution infolge neuer<br />

Ausbrüche des Bürgerkrieges.<br />

Nachdem er die Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter in seine Hände genommen, mußte sich <strong>der</strong><br />

Sowjet den Weg zu den Waffen bahen. Das geschah nicht mit einem Mal. Je<strong>der</strong> praktische<br />

Schritt vorwärts wurde auch hier von den Massen souffliert. Man mußte nur<br />

aufmerksam auf ihre Vorschläge achten. Vier Jahre nach den Ereignissen erzählte<br />

Trotzki auf einem <strong>der</strong> Oktoberrevolution gewidmeten Gedenkabend: »Als eine Delegation<br />

von den Arbeitern kam und sagte: "Wir brauchen Waffen", antwortete ich: "Aber<br />

das Arsenal ist ja nicht in unseren Händen." Sie sagten: "Wir waren in <strong>der</strong> Sestrorezki-<br />

Waffenfabrik." - "Nun, und?" - "Man hat uns dort gesagt: wenn <strong>der</strong> Sowjet befiehlt,<br />

werden wir liefern. Ich stellte eine Or<strong>der</strong> aus auf fünftausend Gewehre, und die Arbeiter<br />

erhielten sie am gleichen Tage. Das war das erste Experiment.« Die feindliche Presse<br />

stimmte sofort ein Geheul an, eine staatliche Fabrik habe Waffen ausgeliefert aufgrund<br />

<strong>der</strong> Or<strong>der</strong> einer unter Anklage des Hochverrats stehenden und nur gegen Kaution aus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 605


dem Gefängnis freigelassenen Person. Die Regierung schwieg. Aber auf die Bühne trat<br />

das oberste Organ <strong>der</strong> Demokratie mit strengem Befehl: ohne seine, des Zentral-Exekutivkomitees,<br />

Erlaubnis seien an niemand Waffen auszuliefern. Es sollte scheinen, daß in<br />

Fragen <strong>der</strong> Waffenilieferung Dan o<strong>der</strong> Goz ebensowenig verbieten konnten, wie Trotzkti<br />

erlauben o<strong>der</strong> befehlen: Fabriken und Arsenale unterstanden <strong>der</strong> Regierung. Doch<br />

Mißachtung <strong>der</strong> offiziellen Behörden in allen ernsten Augenblicken bildete eine Tradition<br />

des Zentral-Exekutivkomitees und gehörte zu den festen Gewohnheiten <strong>der</strong> Regierung<br />

selbst, denn sie entsprach <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Dinge. Die Verletzung <strong>der</strong> Tradition und<br />

Gewohnheit war vom an<strong>der</strong>en Ende gekommen: als sie auffiörten, die Donner des<br />

Exekutivkomitees von den Blitzen Kerenskis zu trennen, begannen die Arbeiter und<br />

Soldaten die einen wie die an<strong>der</strong>en zu ignorieren.<br />

Es war bequemer, die Versetzung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Regimenter im Namen <strong>der</strong> Front zu<br />

for<strong>der</strong>n als im Namen <strong>der</strong> Hinterlandkanzleien. Aus diesen Erwägungen heraus unterstellte<br />

Kerenski die Petrogra<strong>der</strong> Garnison dem Höchstkommandierenden <strong>der</strong> Nordfront,<br />

Tscheremissow. Indem er die Hauptstadt in militärischer Hinsicht von seinem eigenen<br />

Amtsbereiche als Regierungshaupt ausnahm, tröstete sich Kerenski mit dem Gedanken,<br />

sie sich als dem Höchstkommandierenden zu unterstellen. General Tscheremissow, dem<br />

es bevorstand, eine harte Nuß zu knacken, suchte seinerseits Hilfe bei den Kommissaren<br />

und Komiteevertretern. Mit vereinten Kräften wurde ein Plan für die nächstfolgenden<br />

Operationen ausgearbeitet. Auf den 17. berief <strong>der</strong> Frontstab gemeinsam mit den Armeeorganisationen<br />

Vertreter des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets nach Pskow, um ihnen vor dem Antlitz<br />

<strong>der</strong> Schützengräben seine For<strong>der</strong>ung direkt zu stellen.<br />

Dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig, als die Herausfor<strong>der</strong>ung anzunehmen.<br />

An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Sitzung vom 16. geschaffenen Delegation von einigen<br />

Dutzend Mann, etwa zu gleichen Hälften aus Sowjetmitglie<strong>der</strong>n und aus Vertretern <strong>der</strong><br />

Regimenter, standen: <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> Arbeitersektion, Fedorow, und die Führer <strong>der</strong><br />

Soldatensektion wie <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, Laschewitseh,<br />

Sadowski, Mechonoschin, Daschkewitsch und an<strong>der</strong>e. Einige in die Delegation aufgenommene<br />

linke Sozialrevolutionäre und Menschewiki-Intemationalisten hatten sich<br />

verpflichtet, in Pskow die Politik des Sowjets zu verteidigen. In <strong>der</strong> Besprechung <strong>der</strong><br />

Delegation vor <strong>der</strong> Abreise wurde eine von Swerdlow entworfne Erklärung<br />

angenommen.<br />

In <strong>der</strong> gleichen Sowjetsitzung wurde die Verordnung über das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

behandelt. Kaum entstanden, erhielt diese Institution in den Augen <strong>der</strong><br />

Gegner von Tag zu Tag verhaßtere Gestalt. »Die Bolschewiki geben keine Antwort«, rief<br />

<strong>der</strong> Redner <strong>der</strong> Oppüsition, »auf die direkte Frage: ob sie eine Erhebung vorbereiten?<br />

Das ist Feigheit o<strong>der</strong> Zweifel an den eigenen Kräften.« In <strong>der</strong> Versammlung ertönt<br />

einmütiges Lachen: ein Vertreter <strong>der</strong> Regierungspartei verlangt, daß die Partei des<br />

Aufstandes ihm ihr Herz öffne. Das neue Komitee, fährt <strong>der</strong> Redner fort, sei nichts<br />

an<strong>der</strong>es als »ein revolutionärer Stab für die Machtergreifüng«. Sie, die Menschewiki,<br />

würden da nicht hineingehen. »Wie viele seid ihr?« ertönte es von den Plätzen. Im<br />

Sowjet sind <strong>der</strong> Menschewiki zwar nicht viele, etwa fünfzig Mann, aber es ist ihnen<br />

genau bekannt, daß »die Massen mit <strong>der</strong> Erhebung nicht sympathisieren«. In seiner<br />

Replik leugnet Trotzki nicht, daß die Bolschewiki sich auf die Machtergreifung vorbereiten:<br />

»Wir machen daraus kein Geheimnis.« Doch gehe es jetzt nicht darum. Die Regie-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 606


ung habe die For<strong>der</strong>ung gestellt, die revolutionären Truppen aus Petrograd zu entfernen,<br />

»und wir müssen sagen: ja o<strong>der</strong> nein«. Lasimirs Entwurf wird mit vernichten<strong>der</strong><br />

Stimmenmehrheit angenommen. Der Vorsitzende for<strong>der</strong>t das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

auf, am nächsten Tage an die Arbeit zu gehen. So ist ein weiterer Schritt vorwärts<br />

getan.<br />

Der Bezirkskommandierende Polkownikow berichtete an diesem Tage <strong>der</strong> Regierung<br />

von <strong>der</strong> sich vorbereitenden Erhebung <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Meldung ist in zuversichtlichen<br />

Tönen gehalten: die Garnison sei im allgemeinen auf seiten <strong>der</strong> Regierung, die<br />

Junkerschulen hätten Bereitschaftsbefehl bekommen. In seinem Aufruf an die Bevölkerung<br />

versprach Polkownikow, nötigenfalls »zu äußersten Maßnahmen« zu greifen.<br />

Bürgermeister Schrei<strong>der</strong>, ein Sozialrevolutionär, flehte seinerseits, »zur Vermeidung des<br />

sicheren Hungers in <strong>der</strong> Hauptstadt keine Unruhen zu veranstalten«. Drohend und<br />

beschwörend, sich Mut machend und sich ängstigend, schlug die Presse immer schrillere<br />

Töne an.<br />

Um die Phantasie <strong>der</strong> Delegation des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets zu beeinflussen, war für den<br />

Empfang in Pskow eine kriegstheatralische Ausstattung vorbereitet worden. Im Sitzungsraum<br />

des Stabes an mit achtunggebietenden Karten bedeckten Tischen saßen Generale,<br />

hohe Kommissare mit Wojtinski an <strong>der</strong> Spitze und Vertreter <strong>der</strong> Armeekomitees. Die<br />

Chefs <strong>der</strong> Stabsabteilungen erstatteten Berichte über die Kriegslage zu Lande und zu<br />

Wasser. Die Schlußfolgerungen <strong>der</strong> Berichterstatter trafen sich in einem Punkte: es sei<br />

unerläßlich, zwecks Verteidigung <strong>der</strong> Zugänge zur Hauptstadt die Petrogra<strong>der</strong> Garnison<br />

sofort zu versetzen. Kommissare und Komiteevertreter wiesen mit Entrüstung den<br />

Verdacht an irgendwelche geheimen politischen Motive zurück: die gesamte Operation<br />

sei von strategischer Notwendigkeit diktiert. Direkte Gegenbeweise hatten die Delegierten<br />

nicht: in solchen Fällen liegt das Korpus delikti nicht auf <strong>der</strong> Straße. Doch die ganze<br />

Situation wi<strong>der</strong>legte die Argumente <strong>der</strong> Strategie. Nicht an Menschen mangelte es <strong>der</strong><br />

Front, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Menschen, Krieg zu führen. Die Verfassung <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Garnison war keinesfalls <strong>der</strong>art, um die erschütterte Front zu festigen.<br />

Außerdem waren die Lehren <strong>der</strong> Kornilowtage allen noch frisch im Gedächtnis. Die von<br />

<strong>der</strong> Richtigkeit ihrer Einstellung überzeugte Delegation wi<strong>der</strong>stand leicht dem Druck des<br />

Stabes und kehrte nach Petrograd noch einmütiger zurück, als sie hingereist war.<br />

Jene direkten Korpora delikti, die damals den Beteiligten fehlten, stehen jetzt dem<br />

Historiker zur Verfügung. Die militärische Geheimkorrespondenz legt Zeugnis ab dafür,<br />

daß nicht die Front die Petrogra<strong>der</strong> Regimenter for<strong>der</strong>te, son<strong>der</strong>n Kerenski sie <strong>der</strong> Front<br />

aufzuzwingen suchte. Auf ein Telegramm des Kriegsministers antwortete <strong>der</strong> Oherkommandierende<br />

<strong>der</strong> Nordfront: »Geheim. 17. X. Die Initiative zur Sendung von Truppen <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Garnison an die Front ging von Ihnen aus, nicht aber von mir ... Als<br />

bekannt wurde, daß die Truppenteile <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sich weigerten, an die<br />

Front zu gehen, das heißt, daß sie nicht kampffähig seien, sagte ich in einem Privatgespräch<br />

mit Ihrem Vertreter, einem Offizier, daß ... wir solcher Truppenteile an <strong>der</strong> Front<br />

zur Genüge hätten; aber in Anbetracht des von Ihnen geäußerten Wunsches, sie an die<br />

Front zu schicken, lehnte ich es nicht ab und lehne es auch heute nicht ab, falls Sie die<br />

Versetzung <strong>der</strong> Truppen aus Petrograd auch weiterhin als notwendig betrachten<br />

sollten.« Der halb polemische Charakter des Telegramms läßt sich damit erklären, daß<br />

Tscheremissow, ein zur höheren Politik neigen<strong>der</strong> General, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Zarenarmee als<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 607


"Roter" galt und später nach Miljukows Äußerung »Favorit <strong>der</strong> revolutionären<br />

Demokratie« wurde, inzwischen offenbar zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung gelangt war, daß es<br />

besser sei, sich von <strong>der</strong> Regierung bei <strong>der</strong>en Konflikt mit den Bolschewiki beizeiten<br />

abzugrenzen. Tscheremissows Verhalten in den Tagen <strong>der</strong> Umwälzung bestätigt diese<br />

Deutung vollauf<br />

Der Kampf um die Garnison verflocht sich mit dem Kampf um den Sowjetkongreß.<br />

Bis zu dem ursprünglich vorgesehenen Termin blieben vier bis fünf Tage. Man erwartete<br />

die "Erhebung" im Zusammenhang mit dem Kongreß. Es wurde angenommen, daß die<br />

Bewegung, wie in den Julitagen, sich nach dem Typus einer bewaffneten Massendemonstration<br />

mit Straßenkämpfen entwickeln würde. Der rechte Menschewik Potressow,<br />

offenbar gestützt auf Angaben <strong>der</strong> Konterspionage o<strong>der</strong> <strong>der</strong> französischen<br />

Militärmission, die kühn falsche Dokumente fabrizierte, schil<strong>der</strong>te in <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Presse den Plan <strong>der</strong> bolschewistischen Erhebung, die in <strong>der</strong> Nacht auf den 17. Oktober<br />

stattfinden sollte. Die findigen Autoren des Planes vergaßen nicht, vorzusehen, daß die<br />

Bolschewiki bei einer ihrer Sperrketten »dunkle Elemente« mitnehmen würden. Soldaten<br />

<strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>egimenter können ebensogut lachen wie die Götter Homers. Die weißen<br />

Säulen und die Lüster des Smolny erbebten vor Lachsalven beim Verlesen des Potressowschen<br />

Artikels in einer Sitzung des Sowjets. Doch die weise Regierung, die nicht zu<br />

erkennen vermochte, was vor ihren Augen geschah, war ernstlich erschrocken über die<br />

unsinnige Fälschung und versammelte sich in aller Eile um zwei Uhr nachts, um die<br />

»dunklen Elemente« abzuwehren. Nach neuen Beratungen Kerenskis mit den Militärbehörden<br />

wurden erfor<strong>der</strong>liche Maßnahmen ergriffen: die Wachen des Winterpalais und<br />

<strong>der</strong> Staatsbank verstärkt; zwei Fähnrichschulen aus Oranienbaum angefor<strong>der</strong>t und sogar<br />

ein Panzerzug von <strong>der</strong> rumänischen Front. »In letzter Minute gaben die Bolschewiki«,<br />

nach Miljukows Worten, »ihre Vorbereitungen auf. Warum sie das taten, ist unklar.«<br />

Mehrere Jahre nach den Ereignissen zog es <strong>der</strong> gelehrte Geschichtsschreiber immer noch<br />

vor, einer sich selbst wi<strong>der</strong>legenden Erfindung zu glauben.<br />

Die Behörden beauftragten die Miliz, eine Rekognoszierung in den Außenbezirken <strong>der</strong><br />

Stadt vorzunehmen, um die Spuren des sich vorbereitenden Aufstandes zu entdecken.<br />

Die Berichte <strong>der</strong> Miliz bilden eine Mischung von lebendigen Beobachtungen und<br />

Polizeistumpfsinn. Im Alexandro-Newski-Stadtteil, wo eine Reihe <strong>der</strong> größten Fabriken<br />

liegt, beobachteten die Kundschafter völlige Ruhe. Im Wyborger Bezirk predigte man<br />

offen die Notwendigkeit des Regierungssturzes, aber »nach außen« war alles ruhig. Im<br />

Wassiliostrower Bezirk ist die Stimmung bewegt, aber auch dort »keine äußeren Anzeichen<br />

einer nahenden Erhebung«. Auf <strong>der</strong> Narwaer Seite wird heftig für den Aufstand<br />

agitiert, aber auf die Frage, wann eigentlich, konnte man von niemand Antwort erhalten:<br />

entwe<strong>der</strong> wird Tag und Stunde streng geheim gehalten, o<strong>der</strong> aber keiner kennt sie<br />

tatsächlich. Es wird beschlossen: die Patrouillen in den Außenbezirken zu verstärken und<br />

durch Milizkommissare die Posten häufiger zu kontrollieren.<br />

Die Korrespondenz einer Moskauer liberalen Zeitung ergänzt nicht übel den Bericht<br />

<strong>der</strong> Miliz: »In den Außenbezirken, in den Newski-, Obuchow- und Putilow-Werken, ist<br />

die bolschewistische Agitation für den Aufstand in voller Entfaltung. Die Stimmung <strong>der</strong><br />

Arbeiter ist <strong>der</strong>art, daß sie jeden Augenblick bereit sind, zu marschieren. In den letzten<br />

Tagen ist in Petrograd ein unerhörter Zustrom von Deserteuren zu beobachten ... Auf<br />

dem Warschauer Bahnhof kann man sich kaum bewegen vor verdächtig aussehenden<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 608


Soldaten mit brennenden Augen und erregten Gesichtern ... Man berichtet, daß in<br />

Petrogtad ganze Diebesbanden, die Beute wittern, eingetroffen seien. Dunkle Elemente,<br />

die Teehäuser und Spelunken füllen, werden organisiert ...« Spießerängste und Polizeimärchen<br />

verflechten sich hier mit <strong>der</strong> rauhen Wirklichkeit. Der Lösung nahegerückt,<br />

wühlte die revolutionäre Krise bis auf den Grund die gesellschaftlichen Tiefen auf.<br />

Deserteure, Diebesbanden, Spelunken hatten sich tatsächlich auf das Gedröhn des nahenden<br />

Erdbebens hin erhoben. Die Spitzen <strong>der</strong> Gesellschaft blickten mit physischem<br />

Grauen auf die entfesselten Kräfte ihres Regimes, dessen Laster und Gebresten. Die<br />

<strong>Revolution</strong> hatte sie nicht geschaffen, son<strong>der</strong>n nur bloßgelegt.<br />

In diesen Tagen schrieb im Korpsstab zu Dwinsk <strong>der</strong> uns bereits bekannte Baron<br />

Budberg, galliger Reaktionär, nicht ohne Beobachtungsgabe und eigenartigem Scharfsinn:<br />

»Kadetten, Kadetoiden, Oktobristen und <strong>Revolution</strong>äre verschiedener Färbungen,<br />

<strong>der</strong> alten und <strong>der</strong> Märzformationen, wittern ihr nahes Ende und kreischen aus aller<br />

Kraft, Muselmanen ähnlich, welche die Mondfinsternis durch Klappern abwenden<br />

möchten.«<br />

Am 18. wird zum erstenmal die Garnisonberatung einberufen. Ein Funktelegramm an<br />

die Truppenteile for<strong>der</strong>te auf, von eigen-mächtigen Aktionen abzusehen und nur jene<br />

Stabsbefehle auszuführen, die durch die Soldatensektion bekräftigt sind. Der Sowjet<br />

machte somit einen entscheidenden Versuch, offen die Kontrolle über die Garnison in<br />

seine Hände zu nehmen. Der Fernspruch stellte im Grunde nichts an<strong>der</strong>es dar als einen<br />

Aufruf zur Absetzung <strong>der</strong> bestehenden Behörden. Doch konnte man, wenn man wollte,<br />

ihn deuten als friedlichen Akt <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong> Versöhnler durch die Bolschewiki in <strong>der</strong><br />

Doppelherrschaftsmechanik. Praktisch kam es auf dasselbe hinaus, nur ließ die biegsamere<br />

Deutung Raum für Illusionen. Das Präsidium des Zentral-Exekutivkomitees, das<br />

sich als Herr des Smolny betrachtete, machte den Versuch, die Verbreitung des<br />

Fernspruchs zu unterbinden. Dadurch hatte es sich nur um ein übriges kompromittiert.<br />

Die Versammlung <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Regiments und Kompaniekomitees Petrograds und<br />

Umgebung trat zur festgesetzten Stunde zusammen und war außerordentlich zahlreich<br />

besucht.<br />

Dank <strong>der</strong> von den Gegnern geschaffenen Atmosphäre konzentrierten sich die Referate<br />

<strong>der</strong> Teilnehmer an <strong>der</strong> Garnisonberatung automatisch auf die Frage <strong>der</strong> bevorstehenden<br />

"Erhebung". Es erfolgte ein bemerkenswerter namentlicher Appell, zu dem sich die<br />

Führer kaum aus eigener Initiative entschlossen haben würden. Gegen die Erhebung<br />

sprechen sich aus: die Fähnrichschule von Peterhof und das 9. Kavallerieregiment. Die<br />

Marschschwadronen <strong>der</strong> Gardekavallerie neigen zu Neutralität. Die Fähnrichschule von<br />

Oranienbaum wird nur den Befehlen des Zentral-Exekutivkomitees gehorchen. Darauf<br />

beschränken sich die feindlichen o<strong>der</strong> neutralen Stimmen. Die Bereitschaft, sich auf den<br />

ersten Ruf des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets zu erheben, erklären: die Jäger-, Moskauer-,<br />

Wolyner-, Pawlowsker-, Keksholmer-, Semjonowsker-, Ismajlowsker-, 1. Schützen- und<br />

3. Reserveregimenter, die 2. Baltische Equipage, das Elektrotechnische Bataillon, die<br />

Artillerie-Gardedivision. Das Grenadierregiment will hervortreten erst nach Auffor<strong>der</strong>ung<br />

des Sowjetkongresses: dies genügt. Kleinere Truppenteile schließen sich <strong>der</strong><br />

Mehrheit an. Vertretern des Zentral-Exekutivkomitees, das noch vor kurzem, und nicht<br />

ohne Berechtigung, als die Quelle seiner Macht die Petrogra<strong>der</strong> Garnison betrachtet<br />

hatte, wird diesmal fast einstimmig das Wort verweigert. In ohnmächtiger Wut verlassen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 609


sie die »unrechtmäßige« Versammlung, die auf Antrag des Vorsitzenden sofort<br />

beschließt: ohne Gegenzeichnung des Sowjets sind Befehle ungültig.<br />

Was sich im Bewußtsein <strong>der</strong> Garnison während <strong>der</strong> letzten Monate und beson<strong>der</strong>s<br />

Wochen vorbereitet hatte, kristallisierte sich jetzt. Die Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> Regierung<br />

erwies sich größer, als man hatte vermuten können. Während die Stadt erfüllt war<br />

von Gerüchten über Erhebung und blutige Kämpfe, machte die Beratung <strong>der</strong> Regimentskomitees,<br />

die ein erdrückendes Übergewicht <strong>der</strong> Bolschewiki ergab, sowohl Demonstrationen<br />

wie Massenkämpfe unnötig. Die Garnison ging sicheren Schrittes <strong>der</strong> Umwälzung<br />

entgegen, die sie nicht als Aufstand empfand, son<strong>der</strong>n als Verwirklichung des unbestrittenen<br />

Rechtes <strong>der</strong> Sowjets, über das Schicksal des Landes zu verfügen. In dieser<br />

Bewegung lag unüberwindliche Kraft, doch gleichzeitig auch Schwerfälligkeit. Die<br />

Partei mußte ihr Handeln geschickt dem politischen Schritt <strong>der</strong> Regimenter anpassen,<br />

<strong>der</strong>en Mehrzahl auf den Ruf des Sowjets, einige aber auf den des Sowjetkongresses<br />

warteten.<br />

Und die Gefahr einer auch nur vorübergehenden Verwirrung in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Offensive abzuwenden, war es unbedingt notwendig, Antwort zu geben auf die Frage,<br />

die nicht nur Feind, son<strong>der</strong>n auch Freund bewegte: wird wirklich, wenn nicht heute, so<br />

doch morgen, <strong>der</strong> Aufstand entbrennen? In Trams, Straßen, Geschäften ist von nichts<br />

an<strong>der</strong>em mehr die Rede als vom kommenden Aufstande. Auf dem Schloßplatz, vor dem<br />

Winterpalais und dem Stabsgebäude lange Reihen Offiziere, die <strong>der</strong> Regierung ihre<br />

Dienste anbieten und im Austausch dafür Revolver erhalten: im Augenblick <strong>der</strong> Gefahr<br />

wird man we<strong>der</strong> von den Revolvern noch vön <strong>der</strong>en Besitzern etwas merken. Der Frage<br />

des Aufstandes sind heute die Leitartikel sämtlicher Zeitungen gewidmet.Gorki for<strong>der</strong>t<br />

von den Bolschewiki, wenn sie nicht »das willenlose Spielzeug einer verwil<strong>der</strong>ten<br />

Menge« seien, die Gerüchte zu wi<strong>der</strong>legen. Der Druck <strong>der</strong> Ungewißheit dringt auch in<br />

die Arbeiterviertel und vor allem in die Regimenter. Dort entsteht <strong>der</strong> Anschein, es<br />

bereite sich ein Aufstand vor ohne sie. Von wem? Warum schweigt das Smolny? Die<br />

wi<strong>der</strong>spruchsvolle Stellung des Sowjets als offenes Parlament und revolutionärer Stab<br />

schuf an <strong>der</strong> letzten Etappe große Schwierigkeiten. Weiter zu schweigen wurde unmöglich.<br />

»Die letzten Tage«, sagt Trotzki am Schluß <strong>der</strong> Abendsitzung des Sowjets, »ist die<br />

Presse voll von Meldungen, Gerüchten und Artikeln über die bevorstehende Erhebung<br />

... Beschlüsse des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets werden zur allgemeinen Kenntnis veröffentlicht.<br />

Der Sowjet ist eine gewählte Institution und ... es kann keine Beschlüsse gehen, die den<br />

Arbeitern und Soldaten nicht bekannt wären ... Ich erkläre im Namen des Sowjets:<br />

keinerlei bewaffnete Demonstrationen sind von uns angesetzt worden. Wäre aber <strong>der</strong><br />

Sowjet nach dem Gang <strong>der</strong> Dinge gezwungen, eine Erhebung anzusetzen, die Arbeiter<br />

und Soldaten würden auf seinen Ruf wie ein Mann hervortreten ... Man verweist<br />

darauf, daß ich eine Or<strong>der</strong> auf fünftausend Gewehre unterschrieben habe ... Ja, ich<br />

habe unterschrieben ... Der Sowjet wird auch künftighin die Arbeitergarde organisieren<br />

und bewaffnen.« Die Delegierten begriffen: die Schlacht ist nahe, doch ohne sie<br />

o<strong>der</strong> unter Umgehung ihrer wird das Signal nicht gegeben werden.<br />

Aber außer <strong>der</strong> beruhigenden Erklärung braucht die Masse eine klare revolutionäre<br />

Perspektive. Der Redner verknüpft zwei Fragen miteinan<strong>der</strong>: die Versetzung <strong>der</strong> Garnison<br />

und den bevorstehenden Sowjetkongreß. »Wir haben mit <strong>der</strong> Regierung einen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 610


Konflikt, <strong>der</strong> einen sehr scharfen Charakter annehmen kann ... Wir gestatten nicht ...<br />

Petrograd seiner revolutionären Garnison zu entblößen.« Dieser Konflikt hängt seinerseits<br />

von einem an<strong>der</strong>en heranrückenden Konflikt ab. »Es ist <strong>der</strong> Bourgeoisie bekannt,<br />

daß <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet dem Sowjetkongreß vorschlagen wird, die Macht in seine<br />

Hände zu nehmen ... Und nun versuchen die bürgerlichen Klassen, in Voraussicht des<br />

unvermeidlichen Kampfes, Petrograd zu entwaffnen.« Die politische Verknotung <strong>der</strong><br />

Umwälzung wurde in dieser Rede zum erstenmal konkret gezeigt: wir sind im Begriff,<br />

die Macht zu ergreifen, wir brauchen die Garnison, wir werden sie uns nicht nehmen<br />

lassen. »Beim ersten Versuch <strong>der</strong> Konterrevolution, den Kongreß zu sprengen, werden<br />

wir mit einer Gegenoffensive antworten, die unbarmherzig sein wird und die wir restlos<br />

durchführen werden.« Die Ankündigung <strong>der</strong> entschiedenen politischen Offensive<br />

schließt auch diesmal mit <strong>der</strong> Formel <strong>der</strong> militärischen Verteidigung.<br />

Suchanow, <strong>der</strong> in die Sitzung gekommen war mit dem aussichtslosen Projekt, den<br />

Sowjet für eine Ehrung Gorkis zu gewinnen, hat später den an diesem Tage geknüpften<br />

revolutionären Knoten recht gut charakterisiert. Für das Smolny sei die Frage <strong>der</strong> Garnison<br />

die Frage des Aufstandes. Für die Soldaten sei es die Frage ihres Schicksals. »Es ist<br />

schwer, sich einen gelungeneren Ausgangspunkt für die Politik dieser Tage<br />

vorzustellen.« Das hin<strong>der</strong>t Suchanow nicht, die Gesamtpolitik <strong>der</strong> Bolschewiki für<br />

ver<strong>der</strong>blich zu halten. Gemeinsam mit Gorki und Tausenden radikaler Intellektuellen<br />

fürchtete er am meisten jene angeblich »verwil<strong>der</strong>te Menge«, die mit bemerkenswerter<br />

Planmäßigkeit tagaus, tagein ihren Angriff entwickelte.<br />

Der Sowjet ist mächtig genug, um offen das Programm <strong>der</strong> Staatsumwälzung zu<br />

proklamieren und sogar die Frist dafür anzusetzen. Gleichzeitig ist er - bis auf den von<br />

ihm selbst vorgesehenen Tag des vollen Sieges - ohnmächtig in tausend großen und<br />

kleinen Fragen. Kerenski, <strong>der</strong> politisch bereits auf Null hinabgesunken ist, erläßt noch<br />

Dekrete im Winterpalais. Lenin, <strong>der</strong> Inspirator <strong>der</strong> unerschütterlichen Massenbewegung,<br />

hält sich verborgen, und <strong>der</strong> Justizminister Maljantowitsch befiehlt in diesen Tagen dem<br />

Staatsanwalt erneut, Lenins Verhaftung anzuordnen. Sogar im Smolny, auf seinem<br />

eigenen Territorium, lebt <strong>der</strong> allmächtige Petrogra<strong>der</strong> Sowjet scheinbar nur von Gnaden.<br />

Die Verwaltung von Gebäuden, Kasse, Expedition, Automobilen, Telephonen ist noch<br />

immer in Händen des Zentral-Exekutivkomitees, das sich selbst an den dünnen Fäden <strong>der</strong><br />

Erbfolge hält.<br />

Suchanow erzählt, wie er nach <strong>der</strong> Sitzung, spät nachts, in die Anlagen des Smolny<br />

hinausging, in höllisehe Finsternis und strömenden Regen. Eine ganze Menge Delegierter<br />

stampfte hoffnungslos vor den paar rauchenden und qualmenden Automobilen, die die<br />

reichen Garagen des Zentral-Exekutivkomitees dem bolschewistischen Sowjet überlassen<br />

hatten. »An die Automobile«, erzählt <strong>der</strong> allgegenwärtige Beobachter, »ging auch <strong>der</strong><br />

Vorsitzende Trotzki heran. Doch nachdem er eine Minute stehengeblieben war und<br />

zugesehen hatte, lächelte er, patschte durch die Pfützen davon und verschwand in <strong>der</strong><br />

Dunkelheit.« Auf <strong>der</strong> Trambahnplattform stieß Suchanow mit einem kleinen Mann von<br />

bescheidenem Aussehen, mit schwarzem Spitzbärtchen zusammen. Der Unbekannte<br />

bemühte sich, Suchanow über die Unbill des langen Weges zu trösten. »Wer ist das?«<br />

fragte Suchanow seine Begleiterin, eine Bolsehewikin. »Der alte Parteiarbeiter Swerdlow.«<br />

Kaum zwei Wochen später wird dieser kleine Mann mit dem schwarzen Bärtchen<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> des Zentral-Exekutivkomitees sein, des obersten Organs <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 611


Sowjetrepublik. Allem Anschein nach tröstete Swerdlow seinen Reisebegleiter aus einem<br />

Dankbarkeitsgefühl heraus: acht Tage zuvor hatte in Suchanows Wohnung, allerdings<br />

ohne dessen Wissen, jene Sitzung des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki stattgefünden,<br />

die den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung stellte.<br />

Am nächsten Morgen unternimmt das Zentral-Exekutivkomitee einen Versuch, das<br />

Rad <strong>der</strong> Ereignisse zurückzudrehen. Das Präsidium beruft eine "gesetzmäßige" Garnisonversammlung<br />

ein, wobei es auch jene zurückgebliebenen, seit langem nicht mehr neu<br />

gewählten Komitees hinzuzieht, die am Vorabend gefehlt hatten. Die Nachprüfung <strong>der</strong><br />

Garnison, die etliches Neue brachte, bestätigte um so krasser das gestrige Bild. Gegen<br />

eine Erhebung sprachen sich diesmal aus: die meisten Komitees <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung<br />

stationierten Truppenteile und die Komitees <strong>der</strong> Panzerdivision: die einen wie die<br />

an<strong>der</strong>en erklärten ihre Unterordnung unter das Zentral-Exekutivkomitee. Das ist nicht zu<br />

ignoneren.<br />

Die auf <strong>der</strong> kleinen von <strong>der</strong> Newa und <strong>der</strong>en Kanal umspülten Insel zwischen <strong>der</strong><br />

Innenstadt und zwei Bezirken liegende Festung beherrscht die nächsten Brücken und<br />

deckt o<strong>der</strong> aber entblößt von <strong>der</strong> Flußseite her die Zugänge zum Winterpalais, dem Sitz<br />

<strong>der</strong> Regierung. Ohne militärische Bedeutung bei Operationen größeren Maßstabes, kann<br />

die Festung ein gewichtiges Wort im Straßenkampf mitsprechen. Außerdem, und das ist<br />

vielleicht das wichtigste, befindet sich bei <strong>der</strong> Festung das reiche Kronwerksker Arsenal:<br />

die Arbeiter brauchen Gewehre, aber auch die revolutionären Regimenter sind fast ohne<br />

Waffen. Die Wichtigkeit von Panzerwagen für den Straßenkampf bedarf keiner Erläuterungen:<br />

auf seiten <strong>der</strong> Regierung können sie viele unnötige Opfür for<strong>der</strong>n; auf seiten des<br />

Aufstandes - den Weg zum Siege abkürzen. Der Festung und <strong>der</strong> Panzerdivision werden<br />

die Bolschewiki in den nächsten Tagen beson<strong>der</strong>es Augenmerk zuwenden müssen. Im<br />

übrigen erwies sich das Kräfieverhältuis in <strong>der</strong> Beratung als das gleiche wie tags zuvor.<br />

Der Versuch des Zentral-Exekutivkomitees, seinen sehr, vorsichtig gehaltenen Beschluß<br />

durchzusetzen, fand kühle Zurückweisung seitens <strong>der</strong> erdrückenden Mehrheit: einberufen<br />

nicht vom Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, hält sich die Versammlung nicht für befugt,<br />

Beschlüsse zu fassen. Die Versöhnlerführer hatten sich selbst diesem ergänzenden<br />

Schlag ausgesetzt.<br />

Da es den Zugang zu den Regimentern von unten verbarrikadiert fand, versuchte das<br />

Zentral-Exekutivkomitee, sich <strong>der</strong> Garnison von oben zu bemächtigen. im Einvernehmen<br />

mit dem Stab ernannte es zum Hauptkommissar des gesamten Bezirkes Stabskapitän<br />

Malewski, einen Sozialrevolutionär, und erklärte sich bereit, die Sowjetkommissare<br />

anzuerkennen, vorausgesetzt, daß diese sich dem Hauptkommissar unterordnen. Dieser<br />

Versuch, sich vermittels eines völlig unbekannten Stabskapitäns rittlings auf die bolschewistische<br />

Garnison zu setzen, war offensichtlich aussichtslos. Der Sowjet wies ihn<br />

zurück und stellte die Verhandlungen ein.<br />

Der von Potressow entlarvte Aufstand fand am 17. nicht statt. Nun nannten die Gegner<br />

mit Bestimmtheit ein neues Datum: den 20. Oktober. Für diesen Tag war ja ursprünglich<br />

die Eröffnung des Sowjetkongresses geplant, <strong>der</strong> Aufstand aber folgte dem Kongreß wie<br />

ein Schatten. Zwar hatte man inzwischen den Kongreß um fünf Tage verlegt; doch einerlei:<br />

<strong>der</strong> Gegenstand war verschoben, <strong>der</strong> Schatten blieb. Die Regierung traf auch diesmal<br />

alle nötigen Maßnahmen zur Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> "Erhebung". An <strong>der</strong> Stadtperipherie<br />

wurden verstärkte Sperrketten aufgestellt, Kosakenpatrouillen durchzogen die Arbeiter-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 612


viertel während <strong>der</strong> ganzen Nacht. An verschiedenen Punkten Petrograds hielt man berittene<br />

Reserven versteckt. Die Miliz ist in Kampfbereitschaft gebracht, und eine Hälfte<br />

ihres Bestandes hält dauernd Wache in den Kommissariaten. Vor dem Winterpalais sind<br />

Panzerwagen, leichte Artillerie und Maschinengewehre postiert. Die Zugänge zum Palais<br />

werden durch Wachposten geschützt.<br />

Der Aufstand, den niemand vorbereitet und zu dem niemand aufgerufen hatte, erfolgte<br />

auch diesmal nicht. Der Tag verlief ruhiger als viele an<strong>der</strong>e, die Arbeit in den Fabriken<br />

wurde nicht unterbrochen. Die von Dan geleiteten 'lswestja' feierten einen Sieg über die<br />

Bolschewiki: »Ihr Abenteuer mit <strong>der</strong> bewaffneten Erhebung in Petrograd ist aus.« Die<br />

Bolschewiki waren vernichtet allein schon durch das Gezeter <strong>der</strong> vereinigten<br />

Demokratie: »Sie ergeben sich bereits.« Man konnte buchstäblich glauben, die kopflos<br />

gewordenen Gegner hätten sich die Aufgabe gestellt, durch vorzeitige Ängste und noch<br />

vorzeitigere Siegesposaunen die eigene "öffentliche Meinung" zu verwirren und die<br />

Pläne <strong>der</strong> Bolschewiki zu decken.<br />

Der ursprünglich am 9. angenommene Beschluß über Schaffung des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees kam erst eine Woche später vor das Sowjetplenum: <strong>der</strong> Sowjet ist<br />

keine Partei, seine Maschine arbeitet schwerfällig. Vier weitere Tage waren erfor<strong>der</strong>lich<br />

für die Bildung des Komitees. Diese zehn Tage verstrichen jedoch nicht unnütz: die<br />

Eroberung <strong>der</strong> Garnison war im vollen Gange, die Beratung <strong>der</strong> Regimentskomitees<br />

konnte ihre Lebensfähigkeit beweisen, die Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter machte Fortschritte,<br />

so daß das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee, das erst am 20., fünf Tage vor dem Aufstande,<br />

an die Arbeit gehen konnte, gleich eine hinlänglich wohlgeordnete Wirtschaft<br />

übernahm. Unter Boykott seitens <strong>der</strong> Versöhnler gingen in das Komitee nur Bolschewiki<br />

und linke Sozialrevolutionäre hinein: das erleichterte und vereinfachte die Aufgabe. Von<br />

den Soziatrevolutionären arbeitete nur Lasimir, <strong>der</strong> sogar an die Spitze des Büros gestellt<br />

wurde, um den Sowjet- und nicht den Parteicharakter <strong>der</strong> Institution - desto krasser zu<br />

unterstreichen. Im wesentlichen jedoch stützte sich das Komitee, dessen Vorsitzen<strong>der</strong><br />

Trotzki, dessen Hauptmitarbeiter, Podwojski, Antonow-Owssejenko, Laschewitseh,<br />

Sadowski und Mechonoschin waren, ausschließlich auf die Bolschewiki. In voller<br />

Zusammensetzung, gemeinsam mit den Vertretern aller in <strong>der</strong> Verordnung aufgezählten<br />

Organisationen, hat das Komitee wohl nicht ein einziges Mal getagt. Die laufende Arbeit<br />

erledigte das Büro unter Leitung des Vorsitzenden mit Hinzuziehung von Swerdlow in<br />

allen wichtigen Fällen. Das eben war <strong>der</strong> Stab des Aufstandes.<br />

Das Bulletin des Komitees registriert bescheiden seine ersten Schritte: Für die aktiven<br />

Truppenteile <strong>der</strong> Garnison, einige Ämter und Lager sind »zur Überwachung und<br />

Leitung« Kommissare ernannt. Das bedeutete, daß <strong>der</strong> Sowjet, nachdem er die Garnison<br />

politisch erobert hatte, sie sich nun auch organisatorisch unterordnete. Bei <strong>der</strong> Auswahl<br />

<strong>der</strong> Kommissare spielte die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki eine große Rolle.<br />

Unter den nahezu tausend Mitglie<strong>der</strong>n, die sie in Petrograd besaß, gab es nicht wenige<br />

entschlossene und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> treu ergebene Soldaten und junge Offiziere, die nach<br />

den Julitagen in Kerenskis Gefängnissen die nötige Stählung erhalten hatten. Die aus<br />

ihrer Mitte erwählten Kommissare fanden bei den Truppenteilen einen wohl-vorbereiteten<br />

Boden: man zählte sie zu den eigenen Leuten und unterwarf sich ihnen bereitwilligst.<br />

Die Initiative zur Besetzung von Ämtern kam am häufigsten von unten. Die Arbeiter<br />

und Angestellten des Arsenals bei <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung erklärten eine Kontrolle über<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 613


die Waffenausgabe für notwendig. Der dorthin entsandte Kommissar konnte noch einer<br />

erneuten Bewaffnung <strong>der</strong> Junker Einhalt tun und zehntausend für das Dongebiet und<br />

kleinere Partien für eine Reihe verdächtiger Organisationen und Personen bestimmte<br />

Gewehre aufhalten. Die Kontrolle erstreckte sich bald auch auf an<strong>der</strong>e Lager und sogar<br />

auf private Waffengeschäfte. Man brauchte sich nur an ein Soldaten-, Arbeiter- o<strong>der</strong><br />

Angestelltenkomitee eines Amtes o<strong>der</strong> eines Geschäftshauses zu wenden, damit <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stand seitens <strong>der</strong> Admimstration sogleich gebrochen wurde. Die Waflenausgabe<br />

erfolgte von nun an nur auf Or<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommissare.<br />

Durch ihren Verband machten die Druckereiarbeiter das Komitee auf das Anwachsen<br />

von Flugblättern und Broschüren <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>t aufmerksam. Es wurde beschlossen,<br />

daß <strong>der</strong> Verband <strong>der</strong> graphischen Arbeiter sich in allen zweifelhaften Fällen an das<br />

Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee wenden sollte. Die Kontrolle durch die Druckereiarbeiter<br />

war die wirksamste von allen Arten <strong>der</strong> Kontrolle über die gedruckte Agitation <strong>der</strong><br />

Konterrevolution.<br />

Sich nicht auf die formale Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Gerüchte über den Aufstand beschränkend,<br />

beraumte <strong>der</strong> Sowjet offen für Sonntag, den 22., eine friedliche Truppenschau seiner<br />

Kräfte an, aber nicht in Form von Straßenumzügen, son<strong>der</strong>n von Meetings in Betrieben,<br />

Kasernen und allen großen Räumen Petrograds. Mit dem offenkundigen Zweck, eine<br />

blutige Verwirrung hervorzurufen, setzten geheimnisvolle Beter für diesen Tag eine<br />

Kirchenprozession durch die Straßen <strong>der</strong> Hauptstadt an. Der Aufruf im Namen<br />

unbekannter Kosaken lud die Bürger ein, am Kirchgang teilzunehmen »zum Andenken an<br />

die Befreiung Moskaus im Jahre 1812 von den Feinden«. Der gewählte Anlaß war nicht<br />

sehr aktuell; aber die Veranstalter schlugen dem Allmächtigen darüber hinaus vor, die<br />

Kosakenwaffen »zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Erde gegen die Feinde« zu segnen,<br />

was sich schon offenkundig auf das Jahr 1917 bezog.<br />

Eine ernste konterrevolutionäre Kundgebung zu befürchten war kein Grund: die Geistlichkeit<br />

war in den Petrogra<strong>der</strong> Massen ohnmächtig, unter die Kirchenfahnen konnte sie<br />

nur die jämmerliehen Reste <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>tbanden gegen die Sowjets locken. Doch<br />

mit Hilfe erfahrener Provokateure aus <strong>der</strong> Konterspionage und dem Kosakenoffizierkorps<br />

waren blutige Zusammenstöße nicht ausgeschlossen. Als Vorbeugungsmaßnahme<br />

begann das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee mit verstärkter Beeinflussung <strong>der</strong> Kosakenregimenter.<br />

Im Gebäude des revolutionärsten Stabes selbst wurde ein strengeres Regime<br />

eingeführt. »Es wurde nun nicht leicht, in das Smolny hineinzukommen«, schreibt John<br />

Reed, »das System <strong>der</strong> Passierscheine wechselte alle paar Stunden, weil es den Spionen<br />

immer wie<strong>der</strong> gelang, ins Innere einzudringen.«<br />

In <strong>der</strong> Garnisonberatung am 21., gewidmet dem morgigen »Tag des Sowjets«, schlug<br />

<strong>der</strong> Berichterstatter eine Reihe von Maßnahmen vor, um eventuellen Straßenzusammenstößen<br />

vorzubeugen. Das 4. Kosakenregiment, das linkeste, erklärte durch den Mund<br />

seines Delegierten, daß es sich am Kirchgang nicht beteiligen werde. Das 14. Kosakenregiment<br />

versicherte, es werde mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen Anschläge<br />

<strong>der</strong> Konterrevolution kämpfen, gleichzeitig aber halte es eine Erhebung zum Zwecke <strong>der</strong><br />

Machtergreifung für »unzeitgemäß«. Von den drei Kosakenregimentern fehlte nur das<br />

Uraler, eines <strong>der</strong> rückständigsten, nach Petrograd versetzt im Juli zur Nie<strong>der</strong>schlagung<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Die Beratung nahm auf Trotzkis Antrag drei kurze Resolutionen an: 1. »Die Garnison<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 614


von Petrograd und Umgebung verspricht dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee volle<br />

Unterstützung bei all seinen Schritten« ... 2. »Der Tag des 22. Oktober ist ein Tag <strong>der</strong><br />

friedlichen Kräfteschan ... Die Garnison wendet sich an die Kosaken: ... Wir laden euch<br />

zu unseren morgigen Versammlungen ein. Seid willkommen, Brü<strong>der</strong>-Kosaken!« 3. »Der<br />

Alltussische Sowjetkongreß muß die Macht in seine Hände nehmen und dem Volke<br />

Frieden, Land und Brot sichern.« Die Garnison verspricht feierlich, alle ihre Kräfte dem<br />

Kongreß zur Verfügung zu stellen. »Verlaßt euch auf uns bevollmächtigte Vertreter <strong>der</strong><br />

Soldaten, Arbeiter und Bauern. Wir alle sind auf unseren Posten, bereit, zu siegen o<strong>der</strong><br />

zu sterben.« Hun<strong>der</strong>te Hände erhoben sich für diese Resolutionen, die das Programm des<br />

Aufstandes bekräftigten. Siebenundfünfrig Mann enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung: das<br />

waren »Neutrale«, das heißt schwankend gewordene Gegner. Nicht eine Hand erhob sich<br />

dagegen. Die Schlinge am Hals des Februarregimes zog sich zu einem festen Knoten<br />

zusammen. Im Laufe des Tages wurde bekannt, daß die geheimen Urheber <strong>der</strong> Prozession<br />

»auf Ersuchen des Oberbefehlshabers des Bezirkes« die Demonstration aufgegeben<br />

hatten. Dieser ernste moralische Erfolg, <strong>der</strong> die Stärke des Druckes <strong>der</strong> Garnisonberatung<br />

am besten ermessen ließ, gestattete, bestimmt damit zu rechnen, daß die Feinde<br />

überhaupt nicht wagen würden, morgen die Köpfe auf die Straße hinauszustecken.<br />

Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee wählt in den Bezirksstab drei Kommissare:<br />

Sadowski, Mechonoschin und Lasimir. Befehle des Kommandierenden können nur Kraft<br />

erhalten, wenn sie durch die Unterschrift einer dieser drei Personen bestätigt sind. Auf<br />

einen Telephonanruf aus dem Srnolny entsendet <strong>der</strong> Stab ein Automobil für die Delegation:<br />

die Gebräuche <strong>der</strong> Doppelherrschaft bleiben noch in Kraft. Doch aller Erwartung<br />

zuwi<strong>der</strong> bedeutete das Entgegenkommen des Stabes nicht die Bereitschaft zu Zugeständnissen.<br />

Nach Anhören <strong>der</strong> von Sadowski abgegebenen Erklärung antwortete Polkownikow,<br />

daß er keinerlei Kommissare anerkenne und <strong>der</strong> Vormundschaft nicht bedürfe. Auf die<br />

Anspielung <strong>der</strong> Delegation, <strong>der</strong> Stab riskiere auf diesem Wege, dem Wi<strong>der</strong>stand seitens<br />

<strong>der</strong> Truppen zu begegnen, erwi<strong>der</strong>te Polkownikow trocken, die Garnison sei in seinen<br />

Händen und ihre Unterordnung gesichert. »Seine Festigkeit war aufrichtig«, schreibt in<br />

seinen Erinnerungen Mechonoschin, »nichts Falsches verspürte man.« Für die Rückkehr<br />

in das Smolny erhielten die Delegierten das Staatsautomobil bereits nicht mehr.<br />

Die außerordentliche Beratung, zu <strong>der</strong> Trotzki und Swerdlow geholt wurden, faßte den<br />

Beschluß: den Bruch mit dem Stab als vollzogene Tatsache zu betrachten und ihn zum<br />

Ausgangspunkt für die weitere Offensive zu machen. Erste Vorbedingung des Erfolges:<br />

die Bezirke müssen über alle Etappen und Episoden des Kampfes unterrichtet sein. Der<br />

Gegner darf die Massen nicht plötzlich überraschen können. Durch die Bezirkssowjets<br />

und Parteikomitees werden Informationen in alle Stadtteile gesandt. Die Regimenter<br />

unverzüglich von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt. Es wird erneut beschlossen:<br />

nur jenen Befehlen ist nachzukommen, die von den Kommissaren bestätigt sind; auf<br />

Wachposten sind nur die zuverlässigsten Soldaten zu schicken.<br />

Aber auch <strong>der</strong> Stab beschloß, Maßnahmen zu ergreifen. Offenbar angestiftet von<br />

seinen versöhnlerischen Ratgebern, rief Polkownikow für 1 Uhr mittags seine eigene<br />

Gamisonberatung ein, unter Beteiligung von Vertretern des Zentral-Exekutivkomitees.<br />

Dem Gegner zuvorkommend, veranstaltete das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee um 11-<br />

Uhr eine außerordentliche Beratung <strong>der</strong> Regimentskomitees, die den Beschluß faßte,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 615


dem Bruch mit dem Stabe Form zu verleihen. Der sofort entworfrne Appell an die<br />

Truppen Petrograds und Umgebung redete die Sprache einer Kriegserklärung. »Indem er<br />

mit <strong>der</strong> organisierten Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt brach, wird <strong>der</strong> Stab offenes Werkzeug<br />

<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte.« Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee lehnt die Verantwortung<br />

für die Handlungen des Stabes ab und übernimmt, indem es sich an die Spitze<br />

<strong>der</strong> Garnison stellt, »den Schutz <strong>der</strong> revolutionären Ordnung gegen konterrevolutionäre<br />

Anschläge«.<br />

Das war ein entschlossener Schritt auf dem Wege zum Aufstande. O<strong>der</strong> aber vielleicht<br />

nur <strong>der</strong> fällige Konflikt in <strong>der</strong> konfliktreichen Mechanik <strong>der</strong> Doppelherrschaft? So<br />

nämlich versuchte, zum eigenen Troste, das Vorgefallene <strong>der</strong> Stab auszulegen, <strong>der</strong> sich<br />

mit Vertreternjener Truppenteile beriet, die die Einladungen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skornitees<br />

nicht rechtzeitig erhalten hatten. Eine vom Smolny abgeordnete Delegation<br />

unter Führung des bolschewistischen Fähnrichs Daschkewitsch meldete dem Stab kurz<br />

die Entscheidung <strong>der</strong> Gamisonberatung. Die wenigen Vertreter <strong>der</strong> Truppenteile bekräftigten<br />

dem Sowjet ihre Treue und gingen unter Verzicht auf Beschlußfassung auseinan<strong>der</strong>.<br />

»Nach einem kurzen Meinungsaustausch«, berichtete später aufgrund von Angaben<br />

des Stabes die Presse, »wurden keine bestimmten Beschlüsse angenommen; es wurde als<br />

notwendig er-klärt, erst die Lösung des Konfliktes zwischen Zentral-Exekutiv-komitee<br />

und Petrogra<strong>der</strong> Sowjet abzuwarten.« Seine Entthronung schil<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Stab als einen<br />

Streit zwischen zwei Sowjetinstanzen darüber, wer von ihnen seine Tätigkeit zu kontrollieren<br />

habe. Die Politik <strong>der</strong> freiwilligen Blindheit hatte den Vorzug, daß sie von <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit befreite, dem Smolny den Krieg zu erklären, wofür den Regierenden die<br />

Kräfte fehlten. So wurde <strong>der</strong> schon nach außen durchzubrechen bereite Konflikt mit<br />

Hilfe <strong>der</strong> Regierungsorgane wie<strong>der</strong> in die legalen Rahmen <strong>der</strong> Doppelherrschaft zurückgeleitet:<br />

in seiner Angst, <strong>der</strong> Wirklichkeit in die Augen zu schauen, trug <strong>der</strong> Stab um so<br />

sicherer zur Maskierung des Aufstandes bei.<br />

War aber nicht das leichtfertige Verhalten <strong>der</strong> Behörden nur eine Maskierung ihrer<br />

wirklichen Absichten? Plante <strong>der</strong> Stab nicht unter dem Schein bürokratischer Naivität,<br />

gegen das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee einen überraschenden Schlag zu führen?<br />

Einen solchen Überfall seitens <strong>der</strong> verwirrten und demoralisierten Organe <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung hielt man im Smolny für wenig wahrscheinlich. Inimerhin traf das<br />

Militärische Revölutionskomitee die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen: in den nächstgelegenen<br />

Kasernen wachten Tag und Nacht Kompanien unter Waffen, bereit, auf das erste<br />

Alarmsignal hin dem Smolny zu Hilfe zu kommen.<br />

Trotz dem abgesagten Kirchgang prophezeite die bürgerliche Presse für den Sonntag<br />

Blutvergießen. Eine Versöhnlerzeitung meldete am Morgen: »Die Behörden erwarten für<br />

den heutigen Tag Demonstrationen mit größerer Wahrscheinlichkeit als am 20.« So<br />

bereits zum drittenmal während einer Woche: den 17., 20. und 22., täuschte <strong>der</strong> lügenhafte<br />

Knabe das Volk durch den falschen Alarm »ein Wolf!« Das viertemal wird <strong>der</strong><br />

Knabe, glaubt man <strong>der</strong> alten Fabel, dem Wolf zwischen die Zähne geraten.<br />

Die Presse <strong>der</strong> Bolschewiki rief die Massen zu Versammlungen auf und sprach von<br />

friedlicher Musterung <strong>der</strong> revolutionären Kräfte am Vorabend des Sowjetkongresses.<br />

Das entsprach durchaus <strong>der</strong> Absicht des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees: Duchführung<br />

einer gigantischen Truppenschau, ohne Zusammenstöße, ohne Anwendung von<br />

Waffen und sogar ohne <strong>der</strong>en Demonstrierung. Man mußte <strong>der</strong> Masse die Möglichkeit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 616


geben, sich selbst zu sehen, ihre Zahl, ihre Stärke, ihre Entschlossenheit. Durch die<br />

Einmütigkeit <strong>der</strong> Vielheit wollte man die Feinde zwingen, sich zu verstecken, zu verbergen,<br />

nicht hervorzutreten. Durch die Entblößung <strong>der</strong> Ohnmacht <strong>der</strong> Bourgeoisie vor dem<br />

Massenaufgebot <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten sollten in <strong>der</strong>en Bewußtsein die letzten<br />

hemmenden Erinnerungen an die Julitage ausgelöscht werden. Man mußte erreichen, daß<br />

die Massen, sich erblickend, selbst erkannten: niemand und nichts kann uns mehr wi<strong>der</strong>stehen.<br />

»Die eingeschüchterte Bevölkerung«, schrieb fünf Jahre später Miljukow, »blieb zu<br />

Hause o<strong>der</strong> hielt sich abseits.« Zu Hause war die Bourgeoisie geblieben: sie war tatsächlich<br />

von ihrer Presse eingeschüchtert worden. Die ganze übrige Bevölkerung strebte seit<br />

dem Morgen zu Versammlungen: Junge und Alte, Männer und Frauen, Halbwüchsige<br />

und Mütter mit Kin<strong>der</strong>n auf den Armen. Solche Meetings hatte es seit Beginn <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> noch nicht gegeben. Ganz Petrograd, mit Ausnahme <strong>der</strong> oberen Schichten,<br />

war ein durchgehendes Meeting. In den bis zur Absperrung überfüllten Räumen<br />

wechselte das Auditorium im Verlauf einiger Stunden. Neue und neue Wellen von Arbeitern,<br />

Soldaten und Matrosen rollten an die Gebäude heran und äberfüllten sie. Das kleine<br />

Stadtvolk kam in wogende Bewegung, geweckt durch das Geheul und die Warnungen,<br />

die es hatten einschüchtem sollen. Zehntausende umspülten das gigantische Gebäude des<br />

Volkshauses, ergossen sich durch Korridore in dichter, erregter und gleichzeitig disziplinierter<br />

Masse, füllten Theatersäle, Gänge, Büfetts, Foyers. An ehernen Säulen und<br />

Fenstern hingen Girlanden und Trauben menschlicher Köpfr, Beine, Arme. Die Luft war<br />

von jener elektrischen Spannung erfüllt, die eine nahe Entladung anzeigt. Nie<strong>der</strong> mit<br />

Kerenski! Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Nicht einer <strong>der</strong> Versöhnler<br />

wagte nunmehr vor dieser bis zum Rotglühen erhitzten Menge mit Entgegnungen o<strong>der</strong><br />

Warnungen aufzutreten. Das Wort gehörte den Bolschewiki. Sämtliche Rednerkräfte <strong>der</strong><br />

Partei einschließlich <strong>der</strong> zum Kongreß eingetroffenen Provinzdelegierten waren auf die<br />

Beine gebracht. Manchmal sprachen linke Sozialrevolutionäre, hie und da Anarchisten.<br />

Doch die einen wie die an<strong>der</strong>en waren bemüht, so wenig wie möglich von den Bolschewiki<br />

abzustechen.<br />

Stundenlang standen Menschen aus entlegenen Stadtteilen, aus Kellerwohnungen und<br />

Dachstuben, in verschlissenen Mänteln und grauen Uniformen, mit Mützen und schweren<br />

Tüchern auf den Köpfen, mit Schubzeug, in das <strong>der</strong> Straßenschlamm eindrang, mit in<br />

<strong>der</strong> Kehle steekengebliebenem Herbsthusten, Schulter an Schulter gedrängt, immer enger<br />

zusammenrückend, um neu Hinzukommenden, um allen Platz zu lassen, und lauschten<br />

unermüdlich, begierig, leidenschaftlich, gebieterisch, in Angst, etwas zu überhören, was<br />

zu begreifen, sich zu eigen zu machen, zu tun wichtig wäre. Man hätte glauben sollen, in<br />

den letzten Monaten, den letzten Wochen, den allerletzten Tagen seien schon alle Worte<br />

gesagt worden. Doch nein, heute klingen sie an<strong>der</strong>s. Die Massen erleben sie auf eine<br />

neue Art, nicht mehr als Predigt, son<strong>der</strong>n als Gebot zur Tat. Die Erfahrung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>,<br />

des Krieges, des schweren Kampfes, des ganzen bitteren Lebens ersteht aus <strong>der</strong> Tiefe<br />

<strong>der</strong> Erinnerung eines jeden von Not bedrückten Menschen und geht in diese einfachen<br />

und gebieterischen Parolen ein. So kann es nicht weitergehen. Es muß ein Ausgang in die<br />

Zukunft durchgebrochen werden.<br />

Zu diesem einfachen und seltsamen Tage, <strong>der</strong> sich grell abhob von dem ohnehin<br />

farbenreichen Hintergrunde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, kehrte später in Gedanken je<strong>der</strong> Teilnehmer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 617


<strong>der</strong> Ereignisse zurück. Das Bild <strong>der</strong> vergeistigten und in ihrer Unbezähmbarkeit verhaltenen<br />

menschlichen Lava hatte sich für immer ins Gedächtnis <strong>der</strong> Augenzeugen<br />

eingeprägt. »Der Tag des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets«, schreibt <strong>der</strong> linke Sozialrevolutionär<br />

Mstislawski, »verlief in unzähligen Meetings unter großer Begeisterung.« Der Bolschewik<br />

Pestkowski, <strong>der</strong> in zwei Betrieben des Wassiljewski-Ostrow sprach, bekundet: »Wir<br />

redeten zu den Massen klar von <strong>der</strong> bevorstehenden Machtergreifung durch uns und<br />

vernahmen nichts außer Zustimmung.« - »Um mich herum«, erzählt Suchanow von dem<br />

Meeting im Volkshause, »herrschte eine Stimmung nahe <strong>der</strong> Ekstase ... Trotzki formulierte<br />

irgendeine kurze Resolution ... Wer dafür ist ... Eine tausendköpfige Menge erhebt<br />

wie ein Mann die Hände. Ich sah die erhobenen Hände und die brennenden Augen <strong>der</strong><br />

Männer, Frauen, Jugendlichen, Arbeiter, Soldaten, Bauern und typisch kleinbürgerlichen<br />

Gestalten ... Trotzki sprach weiter. Eine unübersehbare Menge fuhr fort, die Arme<br />

erhoben zu halten. Trotzki prägte die Worte: diese eure Abstimmung möge euer Schwur<br />

sein ... Eine unübersehbare Menge hält die Hände erhoben. Sie ist bereit, sie schwört.«<br />

Der Bolschewik Popow erzählt von dem begeisterten Eid, den die Massen ablegten<br />

»Vorzustürmen auf den ersten Ruf des Sowjets.« Mstislawski spricht von <strong>der</strong> elektrisierten<br />

Menge, die den Sowjets Treue schwur. Das gleiche Bild, nur in kleinerem Mafistabe,<br />

war in allen Stadtteilen, im Zentrum wie an <strong>der</strong> Peripherie, zu beobachten. Hun<strong>der</strong>ttausende<br />

Menschen erhoben in den gleichen Stunden die Hände und schworen, den Kampf<br />

bis zu Ende zu führen.<br />

Hatten die täglichen Sitzungen des Sowjets, <strong>der</strong> Soldatensektion, <strong>der</strong><br />

Garnisonberatung, <strong>der</strong> Fabrilikomitees den inneren Zusammenschluß <strong>der</strong> breiten Führerschicht<br />

gebracht, die einzelnen Massenversammlungen Fabriken und Regimenter zusammengeschweißt,<br />

so verschmolz <strong>der</strong> Tag des 22. Oktober bei höchster Temperatur in<br />

einem gigantischen Kessel das wahre Volk. Die Massen erblickten sich und ihre Führer,<br />

die Führer erblickten und vernahmen die Massen. Beide Teile waren voneinan<strong>der</strong> befriedigt.<br />

Die Führer gewannen die Überzeugung: Weiter darf man nicht verschieben! Die<br />

Massen sagten sich: Diesmal wird das Werk getan!<br />

Der Erfolg <strong>der</strong> Sonntag-Truppenschau <strong>der</strong> bolschewistischen Kräfte drückte das<br />

Selbstvertrauen Polkownikows und seiner hohen Behörde hinab. Im Einvernehmen mit<br />

Regierung und Zentral-Exekutivkomitee unternahm <strong>der</strong> Stab einen Versuch, sich mit<br />

dem Smolny zu verständigen. Warum auch tatsächlich nicht die alten, guten, freundschaftlichen<br />

Gepflogenheiten des Kontaktes und <strong>der</strong> Verständigung wie<strong>der</strong>herstellen?<br />

Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee lehnte nicht ab, Vertreter zu einem Meinungsaustausch<br />

zu delegieren: eine bessere Auskundschaftung konnte man sich nicht wünschen.<br />

»Die Verhandlungen waren kurz«, schreibt Sadowski. »Die Bezirksvertreter waren mit<br />

allen schon früher vom Sowjet gestellten Bedingungen einverstanden ..., im Austausch<br />

dafür sollte <strong>der</strong> Befehl des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees vom 22. Oktober annulliert<br />

werden.« Es handelte sieh um das Dokument, das den Stab als Werkzeug <strong>der</strong> konterrevolutionären<br />

Kräfte erklärte. Die gleichen Delegierten des Komitees, die Polkownikow<br />

zwei Tage zuvor so unhöflich nach Hause geschickt hatte, verlangten und bekamen zur<br />

Berichterstattung im Smolny den vom Stab unterschriebenen Entwurf eines Übereinkommens<br />

ausgehändigt. Noch am Sonnabend wären diese Bedingungen einer halbehrenvollen<br />

Kapitulation angenommen worden. Heute, Montag, war sie überholt. Der Stab<br />

wartete auf Antwort, bekam sie aber nicht.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 618


Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee wandte sich an die Bevölkerung von Petrograd<br />

mit <strong>der</strong> Benachrichtigung über die Ernennung von Kommissaren bei den Truppenteilen<br />

und den beson<strong>der</strong>s wichtigen Punkten <strong>der</strong> Hauptstadt und Umgebung. »Die Kommissare<br />

sind als Vertreter des Sowjets unantastbar. Wi<strong>der</strong>stand gegen die Kommissare ist Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen den Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten.« Die Bürger werden<br />

ersucht, bei Mißständen sich an die nächsten Kommissare zu wenden zwecks Herbeiholung<br />

bewaffneter Kräfte. Das ist die Sprache <strong>der</strong> Macht. Doch gibt das Komitee noch<br />

immer nicht das Signal zum offenen Aufstande. Suchanow fragt: »Macht das Smolny<br />

Dummheiten, o<strong>der</strong> spielt es mit dem Winterpalais wie die Katze mit <strong>der</strong> Maus, um einen<br />

Überfall zu provozieren?« We<strong>der</strong> dies noch jenes. Mit dem Druck <strong>der</strong> Massen, dem<br />

Gewicht <strong>der</strong> Garnison verdrängt das Komitee die Regierung. Es nimmt kampflos, was es<br />

nehmen kann. Es rückt seine Position vor ohne einen Schuß, schweißt und festigt im<br />

Marsche seine Armee; mißt durch sein Vordrängen die Wi<strong>der</strong>standskraft des Feindes,<br />

ohne ihn dabei auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Je<strong>der</strong> Schritt<br />

vorwärts verän<strong>der</strong>t die Disposition zugunsten des Smolny. Arbeiter und Garnison<br />

wachsen in den Aufstand hinein. Wer als erster zu den Waffen rufen wird, das soll sich<br />

im Verlaufe des Angriffs und des Hinausdrängens ergeben. Jetzt ist es nur noch eine<br />

Frage von Stunden. Findet die Regierung im letzten Augenblick den Mut o<strong>der</strong> die<br />

Verzweiflung, das Kampfsignal zu geben, so wird die Verantwortung auf das Winterpalais<br />

fallen, die Initiative aber jedenfalls beim Smolny bleiben. Der Akt vom 23. Oktober<br />

bedeutete die Absetzung <strong>der</strong> Behörden, vor <strong>der</strong> Absetzung <strong>der</strong> Regierung selbst. Das<br />

Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee band dem feindlichen Regime die Glie<strong>der</strong>, bevor es ihm<br />

den Schlag aufs Haupt versetzte. Diese Taktik des »friedlichen Durchdringens«<br />

anzuwenden, dem Feinde legal die Knochen zu brechen und den Rest seines Willens<br />

hypnotisch zu paralysieren, erlaubte nur jenes unzweifelhafte Kräfteübergewicht, das auf<br />

seiten des Komitees war und von Stunde zu Stunde wuchs.<br />

Das Komitee las täglich die vor ihm weitausgebreitete Karte <strong>der</strong> Garnison, kannte die<br />

Temperatur jedes Regiments, verfolgte die in den Kasernen vor sich gehenden Verschiebungen<br />

<strong>der</strong> Ansichten und Sympathien. Überraschungen konnten von dieser Seite nicht<br />

kommen. Auf <strong>der</strong> Karte verblieben allerdings einige dunkle Flecke. Man mußte sie<br />

austilgen o<strong>der</strong> doch verkleinern. Noch am 19. hatte sich gezeigt, daß die meisten<br />

Komitees in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung mißgünstig o<strong>der</strong> mindestens zweideutig gestimmt<br />

waren. Jetzt, wo die gesamte Garnison hinter dem Komitee steht und um die Festung,<br />

wenigstens politisch, ein Ring gezogen ist, wird es Zeit, entschieden an ihre Einnahme<br />

heranzugehen. Der zum Kommissar ernannte Leutnant Blagonrawow stieß auf Wi<strong>der</strong>stand:<br />

<strong>der</strong> Festungskommandant <strong>der</strong> Regierung lehnte es ab, die bolschewistische<br />

Vormundschaft anzuerkennen, und rühmte sich sogar, wie Gerüchte verlauteten, damit,<br />

den jungen Vormund verhaften zu wollen. Man mußte handeln, und zwar sofort.<br />

Antonow schlug vor, ein zuverlässiges Bataillon des Pawlowsker Regiments in die<br />

Festung hineinzuführen und die feindlichen Truppenteile zu entwaffnen. Doch das wäre<br />

eine zu scharfe Operation gewesen, die von den Offizieren hätte ausgenutzt werden<br />

können, um Blutvergießen hervorzurufen und die Einmütigkeit <strong>der</strong> Garnison zu zerschlagen.<br />

Besteht tatsächlich Notwendigkeit, zu einer so radikalen Maßnahme zu greifen?<br />

»Zur Beratung dieser Frage wurde Trotzki herbeigeholt ...«, erzählt Antonow in seinen<br />

Erinnerungen. »Trotzki spielte damals die entscheidende Rolle; er hatte mit seinem<br />

revolutionären Instinkt erfaßt, was uns zu raten war die Festung von innen einzunehmen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 619


"Es kann nicht sein, daß dort die Truppen nicht mit uns sympathisieren", sagte er - und<br />

das bestätigte sich. Trotzki und Laschewitsch begaben sich zu einem Meeting in die<br />

Festung.« Im Smolny erwartete man in großer Aufregung die Resultate des Unternehmens,<br />

das sehr riskant schien. Trotzki erinnerte sich später: »Am 23. gegen 2 Uhr mittags<br />

fuhr ich in die Festung. Im Hofe fand ein Meeting statt. Die Redner des rechten Hügels<br />

waren im höchsten Maße vorsichtig und ausweichend ... Auf uns hörte man, mit uns ging<br />

man.« In <strong>der</strong> dritten Etage des Smolny atmete man aus voller Brust auf, als das Telephon<br />

die freudige Nachricht brachte: Die Garnison <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung habe sich feierlich<br />

verpflichtet, von nun an ausschließlich dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee Folge zu<br />

leisten.<br />

Die Wandlung im Bewußtsein <strong>der</strong> Festungstruppen war selbstverständlich nicht das<br />

Resultat einer o<strong>der</strong> zweier Reden. Sie war solide von <strong>der</strong> Vergangenheit vorbereitet. Die<br />

Soldaten standen viel linker als ihre Komitees. Nur die Hülle <strong>der</strong> alten Disziplin, völlig in<br />

Rissen, hatte sich hinter <strong>der</strong> Festungsmauer etwas länger gehalten als in den Stadtkasernen.<br />

Blagonrawow konnte sich jetzt in <strong>der</strong> Festung sicher nie<strong>der</strong>lassen, seinen kleinen Stab<br />

aufschlagen, mit dem bolschewistischen Sowjet des Nachbarbezirkes und den Komitees<br />

<strong>der</strong> nächsten Kasernen die Verbindung herstellen. Inzwischen treffen Delegationen von<br />

Betrieben und Truppenteilen ein mit dem Ersuchen um Waffenausgabe. In <strong>der</strong> Festung<br />

tritt unbeschreibliches Leben ein. »Das Telephon schnarrt ununterbrochen und bringt<br />

Nachrichten von unseren neuen Erfolgen in Versammlungen und Meetings.« Ab und zu<br />

berichtet eine unbekannte Stimme, auf dem Bahnhof seien Exekutionsabteilungen von<br />

<strong>der</strong> Front angekommen. Eine sofortige Nachprüfung ergibt, daß dies vom Feind verbreitete<br />

Erfindungen sind.<br />

Die Abendsitzung des Sowjets zeichnet sich an diesem Tage durch beson<strong>der</strong>e<br />

Menschenfülle und gehobene Stimmung aus. Besetzung <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung und<br />

endgültige Einnahme des Kronwerksker Arsenals, das hun<strong>der</strong>ttausend Gewehre barg sind<br />

ein ernstes Pfand des Erfolges. Im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees spricht<br />

Antonow. Strich um Strich gibt er ein Bild von <strong>der</strong> Verdrängung <strong>der</strong> Regierungsorgane<br />

durch Beauftragte des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees: diese werden überall als<br />

Vertraute empfangen: ihnen gehorcht man nicht aus Furcht, son<strong>der</strong>n aus freien Stücken.<br />

»Von überall kommen For<strong>der</strong>ungen nach Ernennung von Kommissaren.« Rückständige<br />

Truppenteile beeflen sich, den fortgeschritteneren nachzueifern. Das Preobraschensker<br />

Regiment, das im Juli als erstes auf die Verleumdung vorn deutschen Gold hineingefallen<br />

war, erhebt jetzt durch seinen Kommissar Tschudnowski stürmischen Protest gegen<br />

die Gerüchte, die Preobraschensker ständen hinter <strong>der</strong> Regierung: ein solcher Gedanke<br />

wird als ärgster Schimpf empfunden! ... Zwar wird <strong>der</strong> Wachdienst wie üblich erfüllt,<br />

erzählt Antonow, doch geschieht dies mit Zustimmung des Komitees. Befehle des Stabes<br />

über Ausgabe von Waffen und Automobilen werden nicht ausgeführt. Der Stab bekommt<br />

auf diese Weise die volle Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, wer Herr <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

ist.<br />

Auf die Frage: ob dem Komitee bekannt sei, daß Regierungstruppen von <strong>der</strong> Front und<br />

aus <strong>der</strong> Umgebung anrücken, und welche Maßnahmen dagegen ergriffen sind, antwortet<br />

<strong>der</strong> Referent: von <strong>der</strong> rumänischen Front seien Kavallerietruppenteile im Anmarsch<br />

gewesen, doch in Pskow aufgehalten worden; die 17. Infanteriedivision, die unterwegs<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 620


erfahren hatte, wohin und zu welchem Zwecke sie geschickt wird, weigerte sich, weiterzufahren;<br />

in Wenden leisteten zwei Regimenter Wi<strong>der</strong>stand gegen ihren Abtransport<br />

nach Petrograd; es bleibt vorläufig noch das Schicksal <strong>der</strong> angeblich aus Kiew entsandten<br />

Kosaken und Junker und <strong>der</strong> aus Zarskoje Selo herbeigerufenen Stoßtrupps<br />

unbekannt. »Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee anzutasten wagt man nicht und wird<br />

man nicht wagen.« Diese Worte klingen nicht übel im weißen Saale des Smolny.<br />

Antonows Referat macht beim Lesen den Eindruck, als habe <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> Umwälzung<br />

bei offenen Türen gearbeitet. Und in <strong>der</strong> Tat, das Smolny hat fast nichts mehr zu verbergen.<br />

Die politische Verknotung <strong>der</strong> Umwälzung ist <strong>der</strong>art günstig, daß sich nun auch die<br />

Offenheit in eine Form <strong>der</strong> Verschleierung verwandelt: geschieht denn ein Aufstand so?<br />

Das Wort "Aufstand" wird jedoch von keinem <strong>der</strong> Führer ausgesprochen. Nicht nur aus<br />

formaler Vorsicht, son<strong>der</strong>n auch deshalb, weil dieser Terminus <strong>der</strong> realen Lage nicht<br />

entspricht: den Aufstand zu machen, bleibt sozusagen Kerenskis Regierung überlassen.<br />

Im Bericht <strong>der</strong> 'Iswestja' heißt es allerdings, daß Trotzki in <strong>der</strong> Sitzung vom 23. zum<br />

erstenmal als das Ziel des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees offen die Machtergreifung<br />

bezeichnet. Zweifellos hatten sich alle weit entfernt von <strong>der</strong> Ausgangsposition, wo als<br />

Aufgabe des Komitees eine Nachprüfung <strong>der</strong> strategischen Argumente Tscheremissows<br />

erklärt worden war. Die Versetzung <strong>der</strong> Regimenter war inzwischen fast in Vergessenheit<br />

geraten. Doch auch am 23. war die Rede nicht vom Aufstand, son<strong>der</strong>n von "Verteidigung"<br />

des bevorstehenden Sowjetkongresses, wenn nötig, mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand.<br />

In ebendiesem Sinne wurde auch eine dem Referat Antonows entsprechende Resolution<br />

angenommen.<br />

Wie wurden die sich abspielenden Ereignisse auf den Regierungshöhen eingeschätzt?<br />

Während er in <strong>der</strong> Nacht zum 22. über die direkte Leitung dem Stabschef des Hauptquartiers,<br />

Duchonin, von den Versuchen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, die<br />

Regimenter dem Kommando zu entreißen, berichtet, fügt Kerenski hinzu: »Ich glaube,<br />

daß wir damit leicht fertigwerden.« Seine, des Obersten Befehlshabers, Ankunft im<br />

Hauptquartier verzögere sich keinesfalls aus Befürchtung irgendwelcher Aufstände:<br />

»Damit würde man auch ohne mich fertigwerden, da alles organisiert ist.« Den besorgten<br />

Ministern erklärt Kerenski beruhigend, er persönlich sei im Gegenteil über die bevorstehende<br />

Erhebung sehr froh, da sie ihm die Möglichkeit verschaffen werde, »endgültig<br />

mit den Bolschewiki abzurechnen«. »Ich wäre bereit, eine Messe lesen zu lassen«,<br />

antwortet das Regierungshaupt dem Kadetten Nabokow, einem häufigen Gaste des<br />

Winterpalais, »auf daß die Erhebung stattfinde.« - »Sind Sie aber auch sicher, daß Sie<br />

mit ihnen fertigwerden können?« »Ich verfüge über mehr Kräfte als nötig, - sie werden<br />

endgültig zermalmt werden.«<br />

Während sie nachträglich über Kerenskis optimistischen Leichtsinn spöttelten, litten<br />

die Kadetten offensichtlich an Vergeßlichkeit: in Wirklichkeit betrachtete Kerenski die<br />

Ereignisse mit ihren eigenen Augen. Am 21. schrieb Miljukows Zeitung: sollten die<br />

Bolschewiki, von tiefer, innerer Krise zerfressen, es wagen, sich zu erheben, so werden<br />

sie an Ort und Stelle mühelos zermalmt werden. Eine an<strong>der</strong>e kadettische Zeitung fügte<br />

hinzu: »Ein Gewitter steht bevor, doch gerade dies kann die Atmosphäre reinigen.« Dan<br />

bezeugt, daß Kadetten und diesen nahestehende Gruppen in den Couloirs des Vorparlaments<br />

laut davon träumten, die Bolschewiki mögen nur so schnell wie möglich hervortreten:<br />

»Im offenen Kampfe werden sie sogleich aufs Haupt geschlagen werden.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 621


Angesehene Kadetten sagten John Reed: Die im Aufstande nie<strong>der</strong>geschlagenen Bolschewiki<br />

werden nicht imstande sein, in <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung das Haupt zu<br />

erheben.<br />

Während des 22. und 23. hielt Kerenski Beratungen ab bald mit den Führern des<br />

Zentral-Fxekutivkomitees, bald mit seinem Stab: sollte man nicht das Militärische<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee verhaften? Die Versöhnler rieten davon ab: sie würden selbst versuchen,<br />

die Frage <strong>der</strong> Kommissare beizulegen. Polkownikow war ebenfalls <strong>der</strong> Meinung,<br />

man brauche sich mit <strong>der</strong> Verhaftung nicht zu beeilen: Militärkräfte gäbe es erfor<strong>der</strong>lichenfalls<br />

»mehr als genug«. Kerenski lauschte auf Polkownikow, aber noch mehr auf<br />

seine Freunde-Versöhnler. Er rechnete fest damit, daß das Zentral-Exekutivkomitee im<br />

Falle <strong>der</strong> Gefahr, trotz häuslichen Mißverständnissen, rechtzeitig zu Hilfe kommen<br />

würde: so war es Juli und August gewesen; warum also sollte es auch nicht weiterhin so<br />

sein?<br />

Doch es war bereits nicht mehr Juli und auch nicht August. Es war Oktober. Auf Petrograds<br />

Plätzen und Kais wehten von Kronstadt her naßkalte baltische Winde. Durch die<br />

Straßen zogen mit übermütigen Lie<strong>der</strong>n, die die Unruhe übertönten, Junker in Uniformmänteln<br />

bis an die Fersen. Es paradierten berittene Milizionäre mit Revolvern in nagelneuen<br />

Futteralen. Nein, die Macht sah noch recht imposant aus! O<strong>der</strong> ist es nur<br />

Augentäuschung? An einer Ecke des Newski kaufte John Reed, <strong>der</strong> Amerikaner mit den<br />

naiven und klugen Augen, eine Broschüre von Lenin: "Werden die Bolschewiki die<br />

Macht behalten?" und bezahlte sie mit einer <strong>der</strong> Briefmarken, die damals statt Kleingeld<br />

im Umlauf waren.<br />

Lenin ruft zum Aufstand<br />

Neben Fabriken, Kasernen, Dörfern, Front, Sowjets besaß die <strong>Revolution</strong> noch ein<br />

Laboratorium: Lenins Kopf In Illegalität getrieben, war Lenin gezwungen, hun<strong>der</strong>telf<br />

Tage, vom 6. Juli bis zum 25. Oktober, seine Zusammenkünfte sogar mit den Mitgliedem<br />

des Zentralkomitees einzuschränken. Ohne unmittelbare Verbindung mit den Massen,<br />

ohne Berührung mit den Organisationen, konzentrierte er um so entschiedener seinen<br />

Gedanken auf die Kernfragen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die er - was bei ihm in gleichem Maße<br />

Bedürfnis wie Regel war - zu Grundproblemen des Marxismuß gestaltete.<br />

Das Hauptargument <strong>der</strong> Demokraten, auch <strong>der</strong> allerlinkesten, gegen die Machtergreifung<br />

bestand in <strong>der</strong> Behauptung, die Werktätigen würden unfähig sein, sich des Staatsapparates<br />

zu bemächtigen. Ähnlich waren im wesentlichen auch die Befürchtungen <strong>der</strong><br />

opportunistischen Elemente innerhalb des Bolschewismus selbst. "Staatsapparat!" Je<strong>der</strong><br />

Kleinbürger ist erzogen in Ehrfurcht vor diesem mystischen Prinzip, das sich über<br />

Menschen und Klassen erhebt. Der gebildete Philister trägt in seinen Knochen das<br />

gleiche Beben wie sein Vater o<strong>der</strong> Großvater, <strong>der</strong> Krämer o<strong>der</strong> wohlhabende Bauer vor<br />

den allmächtigen Institutionen, wo Fragen über Krieg und Frieden entschieden, wo<br />

Handelslizenzen erteilt werden, wo die Geißel <strong>der</strong> Steuern herstammt, wo man straft,<br />

aber manchmal auch Gnade übt, wo man Ehen und Geburten gesetzlich registriert, wo<br />

sogar <strong>der</strong> Tod sich ehrfurchtsvoll anstellen muß, ehe ihm Bestätigung zuteil wird. Staatsapparat!<br />

In Gedanken nicht nur den Hut, son<strong>der</strong>n auch die Stiefel abnehmend, betritt <strong>der</strong><br />

Kleinbourgeois mag er Kerenski, Laval, Macdonald o<strong>der</strong> Hilferding heißen - auf den<br />

Sockenspitzen den Tempel des Idols, erheben ihn <strong>der</strong> persönliche Erfolg o<strong>der</strong> die Macht<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 622


<strong>der</strong> Verhältnisse zum Minister. Für diese Gnade kann er sich nicht an<strong>der</strong>s erkenntlich<br />

erweisen als durch demütige Ergebenheit vor dem "Staatsapparat". Die <strong>russischen</strong> radikalen<br />

Intellektuellen, die sich sogar während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Macht nicht an<strong>der</strong>s zu<br />

beteiligen wagten als hinter dem Rücken <strong>der</strong> hochtitulierten Gutsbesitzer und <strong>der</strong> Männer<br />

des Kapitals, blickten mit Angst und Entrüstung auf die Bolschewiki: diese Straßenagitatoren,<br />

diese Demagogen gedenken sich des Staatsapparates zu bemächtigen!<br />

Nachdem die Sowjets im Kampfe gegen Kornilow angesichts <strong>der</strong> Willenlosigkeit und<br />

Ohnmacht <strong>der</strong> offiziellen Demokratie die <strong>Revolution</strong> gerettet hatten, schrieb Lenin:<br />

»Mögen an diesem Beispiel alle Kleingläubigen lernen. Möge sich schämen, wer da<br />

sagt: "Wir haben keinen Apparat, <strong>der</strong> den alten, unvermeidlich zur Verteidigung <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie hinneigenden Apparat ersetzen könnte." Denn dieser Apparat ist da. Es<br />

sind eben die Sowjets. Fürchtet nicht Initiative und Selbständigkeit <strong>der</strong> Massen,<br />

vertraut euch den revolutionären Organisationen <strong>der</strong> Massen an - und ihr werdet auf<br />

allen Gebieten des Staatslebens die gleiche Kraft, Größe und Unbesiegbarkeit <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Bauern erkennen, die diese in ihrer Einigkeit, in ihrem Anstürmen gegen<br />

die Kornilowiade bewiesen haben.«<br />

In den ersten Monaten seiner Illegalität schreibt Lenin das Buch "Staat und<br />

<strong>Revolution</strong>", für das er das Hauptmaterial bereits in <strong>der</strong> Emigration, in den Kriegsjahren<br />

ausgewählt hatte. Mit <strong>der</strong> gleichen Sorgfalt, mit <strong>der</strong> er praktische Tagesaufgaben<br />

überlegte, bearbeitet er jetzt theoretische Probleme des Staates. Er kann nicht an<strong>der</strong>s: für<br />

ihn ist die Theorie tatsächlich eine Anleitung zum Handeln. Lenin stellt sich dabei nicht<br />

einen Augenblick die Aufgabe, ein neues Wort in die Theorie hineinzubringen. Im<br />

Gegenteil, seiner Arbeit verleiht er einen äußerst bescheidenen, unterstrichen schülermäßigen<br />

Charakter. Seine Aufgabe ist - die wahre »Lehre des Marxismus vom Staate«<br />

wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />

Durch die sorgfältige Auswahl <strong>der</strong> Zitate und <strong>der</strong>en detaillierte polemische Deutung<br />

mag das Buch pedantisch erscheinen ... wirklichen Pedanten, die unfähig sind, hinter <strong>der</strong><br />

Analyse <strong>der</strong> Texte den mächtigen Puls des Gedankens und Willens zu verspüren. Allein<br />

durch Wie<strong>der</strong>aufrichtung <strong>der</strong> Klassentheorie vom Staat, auf einer neuen, höheren historischen<br />

Grundlage verleiht Lenin Marxens Gedanken neue Konkretheit und somit auch<br />

neue Bedeutsamkeit. Doch ihre unermeßliche Wichtigkeit erhält die Arbeit über den<br />

Staat vor allem dadurch, daß sie eine wissenschaftliche Einführung in die historisch<br />

größte Umwälzung darstellt. Marxens "Kommentator" bereitete seine Partei auf die<br />

revolutionäre Eroberung eines Sechstels des Erdterritoriums vor.<br />

Wäre es möglich, den Staat den Bedürfnissen eines neuen historischen Regimes<br />

einfach anzupassen, es würden keine <strong>Revolution</strong>en entstehen. Indes kam die Bourgeoisie<br />

selbst bis jetzt nicht an<strong>der</strong>s an die Macht als auf dem Wege <strong>der</strong> Umwälzung. Nun ist die<br />

Reihe an den Arbeitern. Lenin gab auch in dieser Frage dem Marxismus seine Bedeutung<br />

wie<strong>der</strong> als theoretischem Werkzeug <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>.<br />

Die Arbeiter werden außerstande sein, sich des Staatsapparates zu bemächtigen? Aber<br />

es geht ja gar nicht darum, lehrt Lenin, sich <strong>der</strong> alten Maschinen für neue Ziele zu<br />

bemächtigen: das ist reaktionäre Utopie. Die Auswahl <strong>der</strong> Menschen im alten Apparat,<br />

ihre Erziehung, ihre gegenseitigen Beziehungen - das alles wi<strong>der</strong>spricht den historischen<br />

Aufgaben des Proletariats. Hat man erst die Macht erobert, dann heißt es nicht den alten<br />

Apparat umzuformen, son<strong>der</strong>n ihn in Stücke zu zerschlagen. Wodurch ihn ersetzen?<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 623


Durch die Sowjets. Aus Führern <strong>der</strong> revolutionären Massen, aus Organen des Aufstandes<br />

werden sie zu Organen einer neuen Staatsordnung werden.<br />

Im Strudel <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> würde die Arbeit wenig Leser finden, sie wird auch erst<br />

nach dem Aufstande herausgegeben werden. Lenin bearbeitet das Problem des Staates<br />

vor allem für die eigene innere Sicherheit und - für die Zukunft. Die Wahrung <strong>der</strong> geistigen<br />

Nachfolgeschaft bildete eine seiner ständigen Sorgen. Im Juli schreibt er Kamenjew:<br />

»Entre nous, sollte man mir den Garaus machen, bitte ich Sie, mein Heft "Der Marxismus<br />

über den Staat" (in Stockholm steckengeblieben) herauszugeben. Blauer Umschlag,<br />

gebunden. Gesammelt sämtliche Zitate aus Marx und Engels, wie auch Kautsky gegen<br />

Pannekoek. Enthält eine Reihe Anmerkungen und Notizen. Formulieren. Ich glaube, die<br />

Herausgabe ist möglich nach einer Woche Arbeit. Erachte es als wichtig, denn nicht nur<br />

Plechanow und Kautsky verwirrten. Bedingung: all dies absolut entre nous.« Der revolutionäre<br />

Führer, gehetzt als Agent eines feindlichen Staates und mit <strong>der</strong> Möglichkeit eines<br />

Attentates seitens <strong>der</strong> Feinde rechnend, sorgt sich um die Herausgabe eines "blauen"<br />

Heftes mit Zitaten aus Marx-Engels: das ist sein Geheimtestament. Das Wörtchen<br />

»Garaus machen« muß als Gegengift dienen gegen die verhaßte Pathetik: <strong>der</strong> Auftrag ist<br />

seinem Wesen nach pathetischen Charakters.<br />

Während er aber einen Schiag in den Rücken erwartete, bereitete Lenin sich darauf<br />

vor, einen Schlag in die Brust zu führen. Indes er zwischen Zeitunglesen und Abfassen<br />

instruktiver Briefe das endlich aus Stockholm eingetroffene wertvolle Heft ordnete, hielt<br />

das Leben nicht still. Es nahte die Stunde, wo bevorstand, die Frage des Staates praktisch<br />

zu lösen.<br />

Aus <strong>der</strong> Schweiz hatte Lenin gleich nach dem Sturze <strong>der</strong> Monarchie geschrieben: »...<br />

Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger <strong>der</strong> Machtergreifung durch eine Min<strong>der</strong>heit<br />

...« Den gleichen Gedanken entwickelte er nach Ankunft in Rußland: »Wir sind jetzt in<br />

<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit, - die Massen glauben uns vorläufig nicht. Wir werden warten können ...<br />

Sie werden uns zuströmen, und wir werden dann unter Berücksichtigung des Kräfteverhältnisses<br />

sagen: unsere Zeit ist gekommen.« Die Frage <strong>der</strong> Machteroberung stand in<br />

diesen ersten Monaten als Frage <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Mehrheit in den Sowjets.<br />

Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung proklamierte Lenin: die Macht kann von nun an nur vermittels<br />

des bewaffneten Aufstandes ergriffen werden; dabei wird man sich allem Anschein<br />

nach stützen müssen nicht auf die durch die Versöhnler demorahsierten Sowjets, son<strong>der</strong>n<br />

auf die Fabrikkomitees; Sowjets als Organe <strong>der</strong> Macht werden nach dem Siege neu<br />

geschaffen werden müssen. In Wirklichkeit entrissen die Bolschewiki bereits zwei<br />

Monate später die Sowjets den Versöhnlern. Die Art des Leninschen Irrtums in dieser<br />

Frage ist in höchstem Maße charakteristisch für sein strategisches Genie: für die allerkühnsten<br />

Pläne macht er Berechnungen, ausgehend von den allerungünstigsten Voraussetzungen.<br />

Wie er im April, als er durch Deutschland nach Rußland reiste, glaubte, vom<br />

Bahnhof ins Gefängnis zu geraten, wie er am 5. Juli sagte: »sie werden uns wohl abschießen«,<br />

so meinte er auch jetzt: die Versöhnler werden uns hin<strong>der</strong>n, die Mehrheit in den<br />

Sowjets zu erobern.<br />

»Es gibt keinen kleinmütigeren Menschen als mich, wenn ich einen Kriegsplan ausarbeite«,<br />

schrieb Napoleon an General Bertier, »ich übertreibe alle Gefahren und alle<br />

möglichen Mißgeschicke ... Ist aber mein Entschluß gefaßt, ist alles vergessen außer was<br />

seinen Erfolg sichern kann.« Läßt man die Pose, die sich in dem wenig angebrachten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 624


Worten "Kleinmut" äußert, beiseite, kann man den Kern des Gedankens vollständig auf<br />

Lenin beziehen. Mit <strong>der</strong> Lösung eines strategischen Problems beschäftigt, stattete er den<br />

Feind im voraus mit <strong>der</strong> eigenen Entschlossenheit und dem eigenen Weitblick aus.<br />

Lenins taktische Fehler waren am häufigsten Nebenprodukte seiner strategischen Stärke.<br />

In diesem Falle ist es überhaupt wohl kaum am Platze, von einem Fehler zu sprechen:<br />

wenn ein Diagnostiker an die Feststellung einer Krankheit herangeht vermittels konsequenten<br />

Ausscheidens alles Falschen, stellen seine hypothetischen Annahmen, beginnend<br />

mit den schlimmsten, nicht Irrtümer dar, son<strong>der</strong>n die Methode <strong>der</strong> Analyse.<br />

Sobald die Bolschewiki die beiden hauptsächlichen Sowjets in ihren Händen hatten,<br />

sagte Lenin: »Unsere Zeit ist gekommen.« Im April und Juli hielt er zurück; im August<br />

bereitete er theoretisch die neue Etappe vor; seit Mitte September ermahnte er zur Eile<br />

und treibt aus allen Kräften an. Jetzt besteht die Gefahr nicht im Vorauseilen, son<strong>der</strong>n un<br />

Zurückbleiben. »Verfrühtes kann es in dieser Hinsicht jetzt nicht geben.«<br />

In Artikeln und Briefen an das Zentralkomitee analysiert Lenin die Lage, wobei er<br />

jedesmal die internationalen Bedingungen voranstellt. Symptome und Tatsachen des<br />

Erwachens des europäischen Proletariats sind ihm auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Kriegsereignisse<br />

unbestreitbare Beweise dafür, daß die unmittelbare Bedrohung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

<strong>Revolution</strong> seitens des ausländischen Imperialismus immer mehr abnehmen wird.<br />

Verhaftungen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in Italien und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Aufstand in <strong>der</strong> deutschen<br />

Flotte veranlassen ihn, einen ungeheuren Umschwung in <strong>der</strong> gesamten Weltlage zu<br />

proklamieren: »Wir stehen am Beginn <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution.«<br />

Diese Ausgangsposition Lenins möchte die epigonenhafte Historiographie verschweigen:<br />

sowohl deshalb, weil Lenins Berechnung durch die Ereignisse wi<strong>der</strong>legt scheint,<br />

wie auch, weil die russische <strong>Revolution</strong>, entsprechend den späteren Theorien, unter allen<br />

Umständen sich selbst genügen muß. Indes war die Leninsche Einschätzung <strong>der</strong> internationalen<br />

Lage nichts weniger als illusorisch. Die Symptome, die er durch das Sieb <strong>der</strong><br />

Militärzensur aller Län<strong>der</strong> beobachtete, kündeten tatsächlich das Nahen eines revolutionären<br />

Sturmes. Bei den Mittelmächten erschütterte er ein Jahr später das alte Gebäude bis<br />

auf das Fundament. Aber auch in den Siegerlän<strong>der</strong>n, England und Frankreich, nicht zu<br />

sprechen von Italien, nahm er den regierenden Klassen für lange Zeit die Handlungsfreiheit.<br />

Gegen das starke, konservative, selbstsichere kapitalistische Europa hätte sich die<br />

isolierte, noch nicht erstarkte proletarische <strong>Revolution</strong> in Rußland nicht einmal wenige<br />

Monate halten können. Aber dieses Europa war nicht mehr. Die <strong>Revolution</strong> im Westen<br />

brachte zwar das Proletariat nicht an die Macht - die Reformisten retteten das bürgerliche<br />

Regime -, war aber immerhin stark genug, um die Sowjetrepublik in <strong>der</strong> ersten, gefährlichsten<br />

Periode ihres Daseins zu schützen.<br />

Lenins tiefschürfen<strong>der</strong> Internationalismus äußerte sich nicht nur darin, daß er die<br />

Einschätzung <strong>der</strong> internationalen Lage beständig in den Vor<strong>der</strong>grund schob; er betrachtete<br />

die Machteroberung in Rußland selbst vor allem als einen Anstoß zur europäischen<br />

<strong>Revolution</strong>, die, wie er mehr als einmal wie<strong>der</strong>holte, für das Schicksal <strong>der</strong> Menschheit<br />

unermeßlich größere Bedeutung haben müßte als die <strong>Revolution</strong> im rückständigen<br />

Rußland. Mit welchem Sarkasmus geißelt er jene Bolschewiki, die ihre internationale<br />

Pflicht nicht begreifen. »Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen<br />

Aufständischen an«, höhnt er, »und verwerfen wir den Aufstand in Rußland. Das wird<br />

wahrer, vernünftiger Internationalismus sein!«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 625


In den Tagen <strong>der</strong> demokratischen Beratung schreibt Lenin an das Zentralkomitee:<br />

»Nachdem sie in beiden hauptstädtischen Sowjets ... die Mehrheit erlangt haben ...,,<br />

können und müssen die Bolschewiki die Staatsmacht in ihre Hände nehmen ...« Die<br />

Tatsache, daß die Mehrheit <strong>der</strong> Bauerndelegierten <strong>der</strong> künstlich zusammengesetzten<br />

Demokratischen Beratung gegen eine Koalition mit den Kadetten stimmte, war in Lenins<br />

Augen von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung: dem Muschik, <strong>der</strong> ein Bündnis mit <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

nicht will, bleibt nichts weiter übrig, als die Bolschewiki zu unterstützen. »Das Volk<br />

ist <strong>der</strong> Schwankungen <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre müde. Nur unser Sieg in<br />

den Hauptstädten wird die Bauern mitreißen.« Die Aufgabe <strong>der</strong> Partei: »Auf die Tagesordnung<br />

ist zu stellen: bewaffneter Aufstand in Petrograd und Moskau, Machteroberung,<br />

Sturz <strong>der</strong> Regierung.« Niemand hatte sich bis dahin so gebieterisch und nackt die<br />

Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung gestellt.<br />

Lenin verfolgt genau alle Wahlen und Abstimmungen im Lande, sammelt aufmerksam<br />

die Zahlen, die auf das tatsächliche Kräfte-verhältnis ein Licht zu werfen imstande sind.<br />

Für die halbanarchistische Gleichgültigkeit gegen Wahlstatistik hatte er nur Verachtung.<br />

Aber gleichzeitig identifizierte Lenin niemals den Index des Parlamentarismus mit dem<br />

tatsächlichen Kräfteverhältnis: er brachte stets eine Korrektur für die direkte Aktion<br />

hinein. »... Die Kraft des revolutionären Proletariats vom Standpunkte des Einwirkens<br />

auf die Massen und ihrer Einbeziehung in den Kampf«, mahnt er, »ist unvergleichlich<br />

größer im außenparlamentarischen Kampfe als im parlamentarischen. Das ist eine sehr<br />

wichtige Beobachtung für die Frage des Bürgerkrieges.«<br />

Mit scharfem Auge entdeckte Lenin als erster, daß die Agrarbewegung eine entscheidende<br />

Phase betreten hatte, und zog daraus sofort alle Schlußfolgerungen. Der Muschik<br />

will nicht länger warten, ebensowenig <strong>der</strong> Soldat,. »Angesichts einer solchen Tatsache<br />

wie <strong>der</strong> Bauernaufstand«, schreibt Lenin Ende September, »hätten alle an<strong>der</strong>en politischen<br />

Symptome, selbst wenn sie dem Heranreifen <strong>der</strong> gesamtnationalen Krise wi<strong>der</strong>sprechen<br />

würden, nicht die geringste Bedeutung.« Die Agrarfrage ist das Fundament <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Der Sieg <strong>der</strong> Regierung über den Bauernaufstand wäre das »Begräbnis <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> ...« Auf günstigere Bedingungen zu hoffen, besteht keine Notwendigkeit. Die<br />

Stunde zum Handeln naht. »Die Krise ist reif. Die gesamte Zukunft <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

<strong>Revolution</strong> steht auf dem Spiel. Die gesamte Zukunft <strong>der</strong> internationalen Arbeiterrevolution<br />

für den Sozialismus steht auf dem Spiel. Die Krise ist reif.«<br />

Lenin ruft zum Aufstand. Aus je<strong>der</strong> einfachen, prosaischen, mitunter eckigen Zeile<br />

klingt höchste Spannung <strong>der</strong> Leidenschaft. »Die <strong>Revolution</strong> geht zugtunde«, schreibt er<br />

Anfang Oktober an die Petrogra<strong>der</strong> Parteikonferenz, »wenn die Kerenski-Regierung von<br />

den Proletariern und Soldaten nicht in <strong>der</strong> allernächsten Zukunft gestürzt wird ... Man<br />

muß alle Kräfte mobilisieren, um den Arbeitern und Soldaten den Gedanken von <strong>der</strong><br />

unbedingten Notwendigkeit des verzweifelten, letzten, entscheidenden Kampfes für den<br />

Sturz <strong>der</strong> Kerenski-Regierung einzuflößen.«<br />

Mehr als einmal hatte Lenin gesagt, die Massen seien linker als die Partei. Er wußte,<br />

daß die Partei linker war als die Oberschicht <strong>der</strong> »alten Bolschewiki«. Zu gut konnte er<br />

sich die inneren Gruppierungen und Stimmungen im Zentralkomitee vergegenwärtigen,<br />

um von dieser Seite irgendwelche riskanten Schritte zu erwarten: dafür befürchtete er<br />

stark überflüssige Vorsicht, Zau<strong>der</strong>n, Versäumung einer jener historischen Situationen,<br />

die sich im Laufe von Jahrzehnten vorbereiten. Lenin vertraut nicht dem Zentralkomitee -<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 626


ohne Lenin: darin liegt <strong>der</strong> Schlüssel zu seinen Briefen aus <strong>der</strong> Illegalität. Und Lenin hat<br />

gar nicht so unrecht in seinem Mißtrauen.<br />

Gezwungen, sich in den meisten Fällen nach bereits gefaßtem Beschluß in Petrograd<br />

zu äußern, kritisiert Lenin unablässig von links die Politik des Zentralkomitees. Seine<br />

Opposition entwickelt sich auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Frage des Aufstandes, beschränkt<br />

sich aber nicht auf sie. Lenin meint, das Zentralkomitee widme zuviel Aufmerksamkeit<br />

dem versöhnlerischen Exekutivkomitee, <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, wie überhaupt<br />

dem parlamentarischen Treiben in den Sowjetgipfeln. Er tritt scharf auf gegen den<br />

Vorschlag <strong>der</strong> Bolschewiki betreffs eines Koalitionspräsidiums im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet.<br />

Er brandmarkt den »schändlichen« Beschluß betreffs Teilnahme am Vorparlament. Er ist<br />

entrüstet über die Ende September veröffentlichte Liste <strong>der</strong> bolschewistischen Kandidaten<br />

für die Konstituierende Versammlung: zuviel Intellektuelle, zu wenig Arbeiter. »Mit<br />

Rednern und Literaten die Konstituierende Versammlung zu füllen, heißt den ausgetretenen<br />

Weg des Opportunismus und Chauvinismus gehen. Das ist <strong>der</strong> III. <strong>Internationale</strong><br />

unwürdig.« Außerdem seien unter den Kandidaten zuviel neue, im Kampfe nicht<br />

erprobte Parteimitglie<strong>der</strong>! Lenin hält es für notwendig, einen Vorbehalt zu machen: »Es<br />

versteht sich von selbst, daß ... niemand gegen eine Kandidatur, beispielsweise<br />

L.D. Trotzkis, Einwände erheben könnte, denn erstens hat Trotzki sogleich nach seiner<br />

Ankunft die Position eines Internationalisten eingenommen; zweitens unter den Interrayonisten<br />

für eine Verschmelzung gekämpft; drittens hat er sich in den schweren Julitagen<br />

auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Aufgabe und als treuer Anhänger <strong>der</strong> Partei des revolutionären<br />

Proletariats gezeigt. Es ist klar, daß man dies von zahlreichen, in die Liste aufgenommenen<br />

gestrigen Parteimitglie<strong>der</strong>n nicht sagen kann ...«<br />

Es könnte scheinen, die Apriltage seien zurückgekehrt: Lenin ist wie<strong>der</strong> in Opposition<br />

zum Zentralkomitee. Die Fragen stehen jetzt an<strong>der</strong>s, aber <strong>der</strong> allgemeine Geist seiner<br />

Opposition ist <strong>der</strong> gleiche: das Zentralkomitee ist zu passiv, unterliegt zu stark <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Meinung intellektueller Kreise, ist zu versöhnlerisch gestimmt in bezug auf die<br />

Versöhnler; und in <strong>der</strong> Hauptsache, verhält sich zu teilnahmlos, fatalistisch, nicht<br />

bolschewistiseh zum Problem des bewaffneten Aufstandes.<br />

Es ist Zeit, von Worten zur Tat überzugehen: »Unsere Partei hält jetzt in <strong>der</strong><br />

Demokratischen Beratung faktisch einen eigenen Kongreß ab, und dieser Kongreß muß<br />

(ob er will o<strong>der</strong> nicht) das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entscheiden.« Es ist aber nur eine<br />

Entscheidung denkbar: <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand. In diesem ersten Brief über den<br />

Aufstand macht Lenin noch den Vorbehalt: »Es handelt sich nicht um den "Tag" des<br />

Aufstandes, nicht um seinen "Moment" im engen Sinne des Wortes. Das wird allein die<br />

Gesamtstimme jener entscheiden, die mit den Arbeitern und Soldaten, mit den Massen<br />

unmittelbar in Berührung stehen.« Aber schon zwei, drei Tage danach (die Briefe aus<br />

dieser Zeit sind in <strong>der</strong> Regel ohne Datum: aus konspirativen Erwägungen, nicht aus<br />

Vergeßlichkeit) besteht Lenin unter offensichtlichem Eindruck <strong>der</strong> Fäulnis <strong>der</strong> Demokratischen<br />

Beratung auf sofortigem Übergang zu Taten und bringt sogleich einen praktischen<br />

Plan vor.<br />

»Wir müssen uns in <strong>der</strong> Beratung unverzüglich zu einer bolschewistischen Fraktion<br />

zusammenschließen, ohne <strong>der</strong> numerischen Stärke nachzujagen ... Wir müssen eine kurze<br />

Deklaration <strong>der</strong> Bolschewiki entwerfen ... Wir müssen unsere gesamte Fraktion in die<br />

Betriebe und Kasernen entsenden. Wir müssen gleichzeitig, ohne eine Minute Zeit zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 627


verlieren, einen Stab aufständischer Abteilungen organisieren, die Kräfte verteilen, die<br />

treuen Regimenter auf die wichtigsten Punkte entsenden, die Alexandrinka (das Theater,<br />

in dem die Demokratische Beratung tagte) umzingeln, die Peter-Paul-Festung besetzen,<br />

Generalstab und Regierung verhaften, zu den Junkern und <strong>der</strong> Wilden Division Abteilungen<br />

abkommandieren, die eher zu sterben bereit sind, als zuzulassen, daß <strong>der</strong> Feind in<br />

die Stadtzentren marschiert; wir müssen bewaffnete Arbeiter mobilisieren, sie zum<br />

verzweifelten Endkampf aufrufen, sogleich Telegraph und Telephon besetzen, unseren<br />

Aufstandsstab bei <strong>der</strong> Telephonzentrale unterbringen, alle Fabriken, alle Regimenter,<br />

alle Punkte des bewaffneten Aufstandes mit ihm verbinden, und so weiter.« Der<br />

Zeitpunkt wird nicht mehr abhängig gemacht von <strong>der</strong> »Gesamtstimme jener, die mit den<br />

Massen unmittelbar in Berührung stehen«. Lenin schlägt vor, unverzüglich zu handeln:<br />

Mit einem Ultimatum aus dem Alexandrinski-Theater hinauszugehen, um dorthin<br />

zurückzukehren an <strong>der</strong> Spitze bewaffneter Massen. Der vernichtende Schlag soll sich<br />

nicht nur gegen die Regierung richten, son<strong>der</strong>n gleichzeitig auch gegen das oberste<br />

Organ <strong>der</strong> Versöhnler.<br />

»... Lenin, <strong>der</strong> in Privatbriefen Verhaftung <strong>der</strong> Demokratischen Beratung for<strong>der</strong>te«, so<br />

enthüllt Suchanow, »schlug in <strong>der</strong> Presse, wie wir wissen, ein "Kompromiß" vor: sollen<br />

doch Menschewiki und Sozialrevolutionäre die ganze Macht nehmen, danach mag <strong>der</strong><br />

Sowjetkongreß sprechen ... Das Gleiche verfolgte hartnäckig auch Trotzki in <strong>der</strong><br />

Demokratischen Beratung und um sie herum.« Suchanow sieht ein Doppelspiel dort, wo<br />

nicht die Spur davon ist. Lenin hatte den Versöhnlern ein Kompromiß vorgeschlagen<br />

gleich nach dem Siege über Kornilow, in den ersten Septembertagen. Achselzuckend<br />

waren die Versöhnler daran vorbeigegangen. Die Demokratische Beratung verwandelten<br />

sie in eine Deckung <strong>der</strong> neuen Koalition mit den Kadetten gegen die Bolschewiki. Die<br />

Möglichkeit einer Verständigung fiel somit von selbst endgültig weg. Die Frage <strong>der</strong><br />

Macht konnte von nun an nur durch den offenen Kampf entschieden werden. Suchanow<br />

bringt hier zwei Stadien durcheinan<strong>der</strong>, von denen das erste dem zweiten um vierzehn<br />

Tage voranging und dieses politisch bedingte.<br />

Aber wenn sich auch <strong>der</strong> Aufstand unvermeidlich aus <strong>der</strong> neuen Koalition ergab, so<br />

überraschte Lenin doch durch die Schroffheit <strong>der</strong> Wendung sogar die Spitzen <strong>der</strong> eigenen<br />

Partei. Auf <strong>der</strong> Basis seines Briefes die bolschewistische Fraktion in <strong>der</strong> Beratung<br />

zusammenzuschließen, wenn auch »ohne <strong>der</strong> numerischen Stärke nachzujagen«, war<br />

offensichtlich unmöglich. Die Stimmung <strong>der</strong> Fraktion war <strong>der</strong>art, daß sie mit siebzig<br />

gegen fünfzig Stimmen den Boykott des Vorparlaments, das heißt den ersten Schritt in<br />

die Richtung des Aufstandes ablehnte. Im Zentralkomitee selbst fand Lenins Plan absolut<br />

keine Unterstützung. Vier Jahre später, auf einem den Erinnerungen gewidmeten Abend,<br />

erzählte Bucharin mit den ihm eigenen Übertreibungen und Anekdötchen, im Grunde<br />

aber richtig über diese Episode. »Der Brief (Lenins) war außerordentlich entschieden<br />

gehalten und drohte uns mit allerhand Strafen [?]. Wir alle waren paff. Niemand hatte<br />

bis dahin die Frage so schroff gestellt ... Alle waren fassungslos. Dann beriet man sich<br />

und faßte einen Beschluß. Vielleicht war das <strong>der</strong> einzige Fall in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> unserer<br />

Partei, wo das Zentralkomitee einstimmig beschloß, Lenins Brief zu verbrennen ... Wir<br />

glaubten zwar, daß es uns unbedingt gelingen würde, in Petrograd und Moskau die<br />

Macht in unsere Hände zu nehmen, meinten aber, daß wir uns in <strong>der</strong> Provinz noch nicht<br />

würden halten können und nach Übernahme <strong>der</strong> Macht und Auseinan<strong>der</strong>jagen <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 628


Demokratischen Beratung außerstande wären, im ganzen übrigen Rußland Fuß zu<br />

fassen.«<br />

Das von Erwägungen <strong>der</strong> Konspiration hervorgerufene Verbrennen einiger Kopien des<br />

gefährlichen Briefes wurde in Wirklichkeit nicht einstimmig beschlossen, son<strong>der</strong>n mit<br />

sechs Stimmen gegen vier bei sechs Stimmenthaltungen. Ein Exemplar wurde für die<br />

<strong>Geschichte</strong> zum Glück aufbewahrt. Doch richtig in Bucharins Erzählung ist, daß sämtliche<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees, wenn auch aus verschiedenen Motiven, Lenins<br />

Vorschlag ablehnten: die einen wi<strong>der</strong>setzten sich dem Aufstande überhaupt, an<strong>der</strong>e<br />

glaubten, <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> Beratung sei <strong>der</strong> ungeeignetste; die dritten schwankten und<br />

warteten einfach ab.<br />

Auf offenen Wi<strong>der</strong>stand stoßend, tritt Lenin in eine Art Verschwörung mit Smilga, <strong>der</strong><br />

sich ebenfalls in Finnland befindet und als Vorsitzen<strong>der</strong> des Distriktiomitees <strong>der</strong> Sowjets<br />

zu jener Zeit beträchtliche reale Macht in seinen Händen konzentriert. Smilga stand 1917<br />

auf dem äullersten linken Flügel <strong>der</strong> Partei und hatte bereits im Jnli dazu geneigt, den<br />

Kampf zur Entscheidung zu bringen: bei Wendungen in <strong>der</strong> Politik fand Lenin stets, auf<br />

wen sich zu stützen. Am 27. September schreibt Lenin an Smilga einen umfangreichen<br />

Brief: »... Was tun wir? Wir nehmen Resolutio nen an? Wir verlieren<br />

Zeit, setzen "Termine" fest (am 20. Oktober - Sowjetkongreß - ist es nicht lächerlich, so<br />

hinauszuschieben? Ist es nicht lächerlich, sich darauf zu verlassen?). Systematische<br />

Arbeit, um ihre militärischen Kräfte für Kerenskis Sturz vorzubereiten, wird von den<br />

Bolschewiki nicht getan ... Man muß in <strong>der</strong> Partei agitieren für ein ernstes Verhalten zum<br />

bewaffneten Aufstand ... Weit über Ihre Rolle ... Ein Geheimkomitee aus zuverlässigen<br />

Militärpersonen schaffen, mit ihnen allseitig beraten, sammeln (und selbst nachprüfen)<br />

genaueste Informationen über Zusammensetzung und Aufstellung <strong>der</strong> Truppen bei Petrograd<br />

und in Petrograd, über den Transport finnländischer Truppen nach Petrograd,<br />

über Flottenbewegungen und so weiter.« Lenin for<strong>der</strong>t »systematische Propaganda unter<br />

den Kosaken, die sich hier, in Finnland, befinden ... Man muß alle Informationen über<br />

die Aufstellung <strong>der</strong> Kosaken studieren und die Hinsendung von Agitatorentrupps aus den<br />

besten Kräften <strong>der</strong> Matrosen und Soldaten Finnlands organisieren«. Schließlich: »Zur<br />

richtigen Vorbereitung <strong>der</strong> Köpfe muß man sofort folgende Losung in Umlauf bringen:<br />

"Die Macht muß unverzüglich in die Hände des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets übergehen, <strong>der</strong> sie<br />

dem Sowjetkongreß übertragen wird. Denn wozu noch weitere drei Wochen Krieg und<br />

kornilowsche Vorbereitungen seitens Kerenskis dulden?"«<br />

Wir haben einen neuen Aufstandsplan vor uns: »ein Geheimkomitee aus den wichtigsten<br />

Militärpersonen« in Helsingfors als Kampfstab; die in Finnland liegenden <strong>russischen</strong><br />

Truppen als Kampfmacht: »wohl das einzige, was wir völlig in unseren Händen<br />

haben können und was eine ernste militärische Rolle spielen wird, sind die finnländischen<br />

Truppen und die Baltische Flotte«. Lenin rechnet somit, den Hauptschlag gegen<br />

die Regierung außerhalb Petrograds zu führen. Gleichzeitig ist erfor<strong>der</strong>lich »eine richtige<br />

Vorbereitung <strong>der</strong> Köpfe«, damit <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Regierung durch die militärischen Kräfte<br />

Finnlands über den Petrogra<strong>der</strong> Sowjet nicht als Überraschung hineinbricht: bis zum<br />

Sowjetkongreß wird er <strong>der</strong> Nachfolger <strong>der</strong> Regierung sein müssen.<br />

Der neue Entwurf des Planes ist wie <strong>der</strong> vorangegangene nicht verwirklicht worden.<br />

Doch ist er nicht ohne Spur geblieben. Die Agitation unter den Kosakendivisionen<br />

zeitigte bald Resultate: davon hörten wir von Dybenko. Hinzuziehung <strong>der</strong> baltischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 629


Seeleute zur Teilnahme am Hauptschlag gegen die Regierung ist ebenfalls in den später<br />

angenommenen Plan eingegangen. Doch nicht das ist die Hauptsache: durch die bis aufs<br />

äußerste zugespitzte Fragestellung erlaubte Lenin niemand auszuweichen o<strong>der</strong> zu lavieren.<br />

Was sich für einen direkten taktischen Vorschlag als unzeitgemäß erwies, gestaltete<br />

sich zweckmäßig als Nachptüfung <strong>der</strong> Stimmungen im Zentralkomitee, als Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Entschlossenen gegen die Schwankenden, als ergänzen<strong>der</strong> Stoß nach links.<br />

Mit allen Mitteln, über die man in <strong>der</strong> Isolierung <strong>der</strong> Illegalität verfügen konnte, war<br />

Lenin bestrebt, die Parteika<strong>der</strong> die Schärfe <strong>der</strong> Situation und die Kraft des Massendrucks<br />

fühlen zu lassen. Er berief einzelne Bolschewiki in seinen Schlupfwinkel, veranstaltete<br />

peinlichste Verhöre, überprüfte Worte und Handlungen <strong>der</strong> Führer, ließ auf Umwegen<br />

seine Parolen in die Partei, nach unten, in die Tiefe, dringen, um das Zentralkomitee vor<br />

die Notwendigkeit zu stellen, zu handeln und bis ans Ende zu gehen.<br />

Am Tage nach seinem Brief an Smilga schreibt Lenin das bereits oben zitierte<br />

Dokument "Die Krise ist reif", das er mit einer Art Kriegserklärung an das Zentralkomitee<br />

abschließt. »Man muß ... die Wahrheit zugeben, daß bei uns im Zentralkomitee und in<br />

den Parteispitzen eine Strömung o<strong>der</strong> Meinung besteht, die für das Abwarten des Sowjetkongresses,<br />

gegen sofortige Machtübernahme, gegen sofortigen Aufstand ist.« Diese<br />

Strömung müsse um jeden Preis überwunden werden. »Besiegt zuerst Kerenski, dann ruft<br />

den Kongreß ein.« In Erwartung des Sowjetkongresses Zeit zu verlieren, ist »vollendete<br />

Idiotie o<strong>der</strong> vollendeter Verrat ...« Bis zu dem auf den 20. angesetzten Kongreß bleiben<br />

mehr als zwanzig Tage: »Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt alles.« Die Lösung<br />

hinauszuziehen, heißt feige auf den Aufstand verzichten, denn während des Kongresses<br />

wird die Machtergreifung unmöglich werden: »Man wird für den Tag des einfältig<br />

"angesetzten" Aufstandes Kosaken aufbieten.«<br />

Schon allein <strong>der</strong> Ton des Briefes zeigt, wie verhängnisvoll Lenin das Zögern <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Führung schien. Doch beschränkt er sich diesmal nicht auf wütende Kritik,<br />

son<strong>der</strong>n kündet als Protest seinen Austritt aus dem Zentralkomitee an. Motive: das<br />

Zentralkomitee habe seit Beginn <strong>der</strong> Beratung auf Lenins Drängen bezüglich <strong>der</strong> Machtergreifung<br />

nicht reagiert; die Redaktion des Parteiorgans (Stalin) drucke seine Artikel mit<br />

absichtlichen Verschleppungen und streiche aus ihnen Hinweise auf solche »himmelschreienden<br />

Fehler <strong>der</strong> Bolschewiki wie <strong>der</strong> schändliche Beschluß, sich am Vorparlament<br />

zu beteiligen«, und so weiter. Diese Politik vor <strong>der</strong> Partei zu decken, hält Lenin<br />

nicht für möglich: »Ich bin gezwungen, um meinen Austritt aus dem Zentralkomitee zu<br />

ersuchen, was ich hiermit auch tue, und mir die Freiheit <strong>der</strong> Agitation in den unteren<br />

Parteischichten und auf dem Parteikongreß vorzubehalten.«<br />

Die Dokumente lassen nicht erkennen, wie sich <strong>der</strong> formale Verlauf <strong>der</strong> Sache weiter<br />

entwickelte. Aus dem Zentralkomitee trat Lenin jedenfalls nicht aus. Durch die Austrittserklärung,<br />

die bei Lenin keineswegs Frucht momentaner Gereiztheit sein konnte, wollte<br />

Lenin sich offenbar die Möglichkeit lassen, im Notfalle an die innere Disziplin des<br />

Zentralkomitees nicht gebunden zu sein: er konnte nicht daran zweifeln, daß, wie im<br />

April, <strong>der</strong> unmittelbare Appell an die unteren Schichten ihm den Sieg sichern würde.<br />

Aber <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> offenen Rebellion gegen das Zentralkomitee setzte die Vorbereitung<br />

eines außerordentlichen Kongresses voraus, erfor<strong>der</strong>te folglich Zeit; und gerade an Zeit<br />

fehlte es. Seine Austrittserklärung bereithaltend, ohne jedoch die Grenzen <strong>der</strong> Parteilegalität<br />

völlig zu verlassen, fährt Lenin fort, bereits mit größerer Freiheit den Angriff auf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 630


den inneren Operationslinien weiter zu entwickeln. Seine Briefe an das Zentralkomitee<br />

schickt er nicht nur an das Petrogra<strong>der</strong> und das Moskauer Komitee, son<strong>der</strong>n sorgt auch<br />

dafür, daß Kopien in Hände <strong>der</strong> zuverlässigsten Genossen in den Bezirken geraten.<br />

Anfang Oktober schreibt Lenin, bereits unter Umgehung des Zentralkomitees, unmittelbar<br />

an das Petrogra<strong>der</strong> und das Moskauer Komitee: »Die Bolschewiki haben nicht das<br />

Recht, auf den Sowjetkongreß zu warten, sie müssen die Macht sofort ergreifen ... Zögern<br />

- ist Verbrechen. Auf den Sowjetkongreß warten, ist Kin<strong>der</strong>spiel mit Formalitäten,<br />

schändliches Spiel mit Formalitäten, Verrat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.« Vom Standpunkte hierarchischer<br />

Beziehungen war Lenins Vorgehen keinesfalls einwandfrei. Aber es ging um<br />

etwas Größeres als um Erwägungen formaler Disziplin.<br />

Ein Mitglied des Wyborger Bezirkskomitees, Sweschnikow, erinnert sich: »lljitsch<br />

schrieb und schrieb aus <strong>der</strong> lliegalität unermüdlich, und Nadeschda Konstantinowna<br />

(Krupskaja) las uns im Bezirkskomitee sehr häufig diese Manuskripte vor ... Die feurigen<br />

Worte des Führers steigerten unsere Kraft ... Ich erinnere mich wie heute <strong>der</strong> gebeugten<br />

Gestalt Nadeschda Konstantinownas, die in einem <strong>der</strong> Zimmer des Bezirksamtes, wo die<br />

Schreibmaschinisten arbeiteten, sorgfältig die Abschrift mit dem Original vergleicht, und<br />

daneben "Djadja" und "Genja", um Kopien bittend.« Djadja und Genja sind alte konspirative<br />

Decknamen zweier Bezirksführer. »Unlängst«, erzählt <strong>der</strong> Bezirks-Parteiarbeiter<br />

Naumow, »erhielten wir von Iljitsch einen Brief zur Weitergabe an das Zentralkomitee ...<br />

Den Brief lasen wir und waren paff. Es stellte sich heraus, daß Lenin schon längst vor<br />

dem Zentralkomitee die Frage des Aufstandes erhob. Wir machten Lärm und begannen<br />

nachzudrücken.« Das gerade war nötig.<br />

Anfang Oktober for<strong>der</strong>t Lenin die Petrogra<strong>der</strong> Parteikonferenz auf, ein machtvolles<br />

Wort zugunsten des Aufstandes zu sprechen. Auf seine Initiative hin »ersucht die Konferenz<br />

dringend das Zentralkomitee, alle Maßnahmen zu treffen für die Leitung des unvermeidlichen<br />

Aufstandes <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten und Bauern«. Dieser eine Satz enthält zwei<br />

Maskierungen, eine juristische und eine diplomatische: von <strong>der</strong> Leitung des »unvermeidlichen<br />

Aufstandes« statt <strong>der</strong> direkten Vorbereitung des Aufstandes wird gesprochen, um<br />

dem Staatsanwalt keine zu guten Trümpfe in die Hand zu spielen; daß die Konferenz<br />

»das Zentralkomitee ersucht«, nicht aber for<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> protestiert, ist offensichtlich ein<br />

Tribut an das Prestige <strong>der</strong> höchsten Parteiorganisation. Jedoch eine an<strong>der</strong>e, ebenfalls von<br />

Lenin verfaßte Resolution sagt mit größerer Offetiheit: »... in den Parteispitzen sind<br />

Schwankungen wahrnehmbar, gewissermaßen Angst vor dem Kampf um die Macht,<br />

Geneigtheit, diesen Kampf durch Resolutionen, Proteste und Kongresse zu ersetzen«.<br />

Das heißt schon beinahe die Partei offen zur Auflehnung gegen das Zentralkomitee<br />

rufen. Lenin entschloß sich nicht leicht zu solchen Schritten. Aber es ging um das<br />

Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, und alle an<strong>der</strong>en Erwägungen treten da in den Hintergrund.<br />

Am 8. Oktober wendet sich Lenin an die bolschewistischen Delegierten des bevorstehenden<br />

Sowjetkongresses des Norddistrikts: »Man darf nicht den All<strong>russischen</strong> Sowjetkongreß<br />

abwarten, da ihn das Zentral-Exekutivkomitee auch bis November verschleppen<br />

kann. Man darf nicht hinziehen und Kerenski erlauben neue Kornilowtruppen heranzubringen.«<br />

Der Distriktkongreß, auf dem Finnland, die Flotte und Reval vertreten sind,<br />

soll die Initiative ergreifen, »um sich unverzüglich gegen Petrograd in Bewegung zu<br />

setzen«. Der direkte Aufruf zum sofortigen Aufstande richtet sich diesmal an die Vertreter<br />

von Dutzenden Sowjets. Er geht persönlich von Lenin aus: ein Parteibeschluß liegt<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 631


nicht vor, die oberste Parteiinstanz hat sich noch nicht geäußert.<br />

Es war großes Vertrauen zum Proletariat und zur Partei notwendig, aber auch sehr<br />

ernstes Mißtrauen zum Zentralkomitee, um unter dessen Umgehung, auf persönliche<br />

Verantwortung, aus <strong>der</strong> Illegalität heraus mit Hilfe kleiner, mit winziger Schrift bedeckter<br />

Briefbogen eine Agitation für den bewaffneten Aufstand zu eröffnen. Wie aber<br />

konnte es geschehen, daß Lenin, den wir Anfang April an <strong>der</strong> Spitze seiner eigenen<br />

Partei isoliert sahen, in <strong>der</strong> gleichen Umgebung wie<strong>der</strong> allein stand im September und<br />

Anfang Oktober? Das läßt sich nicht begreifen, glaubt man <strong>der</strong> törichten Legende, die die<br />

<strong>Geschichte</strong> des Bolschewismus als Ausfluß <strong>der</strong> reinen revolutionären Idee schil<strong>der</strong>t. In<br />

Wirklichkeit hatte sich <strong>der</strong> Bolschewismus in einem bestimmten sozialen Milieu entwikkelt<br />

und war dessen verschiedenartigen Einwirkungen ausgesetzt, darunter auch dem<br />

Einfluß kleinbürgerlicher Umkreisung und kultureller Rückständigkeit. Je<strong>der</strong> neuen<br />

Situation paßte sich die Partei nur auf dem Wege innerer Krisen an.<br />

Damit <strong>der</strong> scharfe Voroktoberkampf in den bolschewistischen Spitzen vor uns im<br />

wahren Lichte escheine, muß man wie<strong>der</strong> einen Blick zurückwerfen auf jene Prozesse in<br />

<strong>der</strong> Partei von denen bereits im ersten Band dieser Arbeit die Rede war. Das ist um so<br />

notwendiger, als gerade gegenwärtig die Stalin-Fraktion unerhörte Anstrengungen<br />

macht, und zwar im internationalen Maßstabe, um aus dem historischen Gedächtnis jegliche<br />

Erinnerung auszulöschen daran, wie sich in Wirklichkeit die Oktoberumwälzung<br />

vorbereitet und vollzogen hat.<br />

In den Jahren vor dem Weltkriege nannten sich die Bolschewiki in <strong>der</strong> legalen Presse<br />

"konsequente Demokraten" Dieses Pseudonym war nicht zufällig gewählt: Die Losungen<br />

<strong>der</strong> revolutionären Demokratie vertrat <strong>der</strong> Bolschewismus, und nur er allein, mutig bis zu<br />

Ende. Aber in <strong>der</strong> Prognose <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ging er nicht weiter als die Demokraten. Der<br />

Krieg jedoch, <strong>der</strong> die bürgerliche Demokratie untrennbar mit dem Imperialismus<br />

verband, enthüllte endgültig, daß das Programm <strong>der</strong> "konsequenten Demokratie" nicht<br />

an<strong>der</strong>s gelöst werden kann als durch die proletarische <strong>Revolution</strong>. Wen von den Bolschewiki<br />

<strong>der</strong> Krieg dies nicht gelehrt hatte, den mußte die <strong>Revolution</strong> fraglos unvorbereitet<br />

finden und in einen linken Mitläufer <strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie verwandeln.<br />

Indes beweist das sorgfältige Studium <strong>der</strong> Materialien, die das Parteileben während des<br />

Krieges und zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kennzeichnen, trotz ihrer äußersten und nicht<br />

zufälligen Unvollständigkeit und ihrem seit dem Jahre 1923 wachsenden tendenziösen<br />

Charakter immer mehr, welch gewaltiges geistiges Hinabgleiten die obere Schicht <strong>der</strong><br />

Bolschewiki während des Krieges durchmachte, als das geregelte Parteileben faktisch<br />

aufgehört hatte. Die Ursache des Hinabgleitens ist eine zweifache: Loslösung von den<br />

Massen und Loslösung von <strong>der</strong> Emigration, das heißt vor allem von Lenin, und als Folge<br />

davon: Versinken in Isoliertheit und in Provinzialismus.<br />

Nicht einer <strong>der</strong> alten Bolschewiki in Rußland formulierte, sich selbst überlassen,<br />

während des ganzen Krieges auch nur ein Dokument, das man wenigstens als einen<br />

kleinen Markstein auf dem Wege von <strong>der</strong> Zweiten zur Dritten <strong>Internationale</strong> betrachten<br />

könnte. »Die Fragen des Friedens, des Charakters <strong>der</strong> künftigen <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> Rolle<br />

<strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> kommenden Provisorischen Regierung und so weiter«, schrieb vor<br />

einigen Jahren ein altes Parteimitglied, Antonow-Saratowski, »stellen sich uns entwe<strong>der</strong><br />

recht verschwommen dar o<strong>der</strong> fielen gar nicht in unseren Gedankenbereich.« Bis auf den<br />

heutigen Tag ist überhaupt nicht eine Arbeit, nicht eine Tagebuchseite, nicht ein Brief<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 632


veröffentlicht worden, worin Stalin, Molotow und die an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> heutigen Führung<br />

auch nur nebenbei, auch nur flüchtig ihre Ansichten über die Perspektiven des Krieges<br />

und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> formuliert hätten. Das heißt natürlich nicht, daß die "alten Bolschewiki"<br />

über diese Fragen in den Jahren des Krieges, des Zusammenbruchs <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

und <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> nichts geschrieben hätten; die<br />

historischen Ereignisse verlangten allzu gebieterisch eine Antwort, und Gefängnis und<br />

Verbannung ließen Muße genug zum Nachdenken und Briefwechsel. Aber in all dem,<br />

was über dieses Thema geschrieben wurde, ist nirgendwo etwas zu finden, was man auch<br />

nur gezwungenermaßen als Annäherung an die Ideen <strong>der</strong> Oktoberrevolution deuten<br />

könnte. Es genügt, darauf zu verweisen, daß das Institut für Parteigeschichte nicht in <strong>der</strong><br />

Lage ist, auch nur eine Zeile aus Stalins Fe<strong>der</strong> aus den Jahren 1914-1917 zu veröffentlichen,<br />

und daß es gezwungen ist, sorgfältigst die wichtigsten Dokumente vom März 1917<br />

zu verbergen. In den offiziellen politischen Biographien <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> heute regierenden<br />

Schicht sind die Kriegsjahre gekennzeichnet als leere Stelle. Dies ist die<br />

ungeschminkte Wahrheit.<br />

Einer <strong>der</strong> neueren jungen Geschichtsschreiber, Bajewski, dem die beson<strong>der</strong>e Aufabe<br />

anvertraut wurde, nachzuweisen, wie die Parteispitzen sich während des Krieges zur<br />

proletarischen <strong>Revolution</strong> hinentwickelt hätten, vermochte bei aller an den Tag gelegten<br />

Biegsamkeit seines wissenschaftlichen Gewissens den Materialien nichts als die magere<br />

Erklärung abzupressen: »Der Hergang dieses Prozesses läßt sich nicht verfolgen, doch<br />

beweisen manche Dokumente und Erinnerungen unzweifelhaft, daß ein unterirdisches<br />

Tasten des Parteidenkens in <strong>der</strong> Richtung <strong>der</strong> Leninschen Aprilthesen vorhanden war ...«<br />

Als ginge es um unterirdisches Tasten und nicht um wissenschaftliche Einschätzungen<br />

und politische Prognosen.<br />

A priori zu den Ideen <strong>der</strong> Oktoberrevolution kommen konnte man nicht in Sibirien,<br />

nicht in Moskau, auch nicht in Petrograd, son<strong>der</strong>n nur an <strong>der</strong> Kreuzung weltgeschichtlicher<br />

Wege. Die Aufgaben <strong>der</strong> verspäteten bürgerlichen <strong>Revolution</strong> mußten sich mit den<br />

Perspektiven <strong>der</strong> proletarischen Weltbewegung kreuzen, damit es möglich werde, das<br />

Programm <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats für Rußland aufzustellen. Es war ein höherer<br />

Standpunkt, nicht ein nationaler, son<strong>der</strong>n ein internationaler Horizont erfor<strong>der</strong>lich, gar<br />

nicht zu sprechen von einer ernsteren Ausrüstung als jener, über die die sogenannten<br />

<strong>russischen</strong> Praktiker <strong>der</strong> Partei verfügten.<br />

Der Sturz <strong>der</strong> Monarchie eröffnete in ihren Augen die Ära eines "freien" republikanischen<br />

Rußland, in dem sie sich anschickten; einen Kampf um den Sozialismus zu beginnen<br />

nach dem Beispiel <strong>der</strong> westlichen Län<strong>der</strong>. Drei alte Bolschewiki, Rykow, Skworzow<br />

und Wegmann, telegraphierten »im Auftrage <strong>der</strong> durch die <strong>Revolution</strong> befreiten Sozialdemokraten<br />

des Narymer Gebiets« im März aus Tomsk: »Wir begrüßen die auferstandene<br />

'Prawda', die so erfolgreich die revolutionären Ka<strong>der</strong> für die Eroberung <strong>der</strong> politischen<br />

Freiheit vorbereitet hat. Wir sprechen unsere tiefe Überzeugung aus, daß es ihr gelingen<br />

wird, diese Ka<strong>der</strong> für den weiteren Kampf im Namen <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> um ihr<br />

Bannerzu vereinigen.« Aus diesem Kollektivtelegramm spricht eine ganze Weltanschauung:<br />

sie ist durch einen Abgrund von Lenins Aprilthesen getrennt. Die Februarumwälzung<br />

verwandelte die führende Parteischicht, mit Kamenjew, Rykow und Stalin an <strong>der</strong><br />

Spitze, sofort in demokratische Landesverteidiger, dabei mit einer Entwicklung nach<br />

rechts in die Richtung einer Annäherung an die Menschewiki. Der spätere Geschichts-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 633


schreiber Jaroslawski, das spätere Oberhaupt <strong>der</strong> Zentral-Kontrollkommission, Ordschonikidse,<br />

und <strong>der</strong> spätere Vorsitzende des ukrainischen Zentral-Exekutivkomitees,<br />

Petrowski, gaben im Monat März in engem Bündnis mit den Menschewiki in Jakutsk die<br />

Zeitschrift 'Der Sozialdemokrat' heraus, die an <strong>der</strong> Grenze von patriotischem Reformismus<br />

und Liberalismus stand: in den späteren Jahren wurde diese Publikation eifrig<br />

gesammelt und vernichtet.<br />

Die Petersburger 'Prawda' versuchte zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine internationalistische<br />

Position einzunehmen, allerdings eine äußerst wi<strong>der</strong>spruchsvolle, die nicht über den<br />

Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie hinausging. Die aus <strong>der</strong> Verbannung eingetroffenen<br />

Bolschewiki von Autorität gaben dem Zentralorgan sogleich eine demokratisch-patriotische<br />

Richtung. Sich gegen den Vorwurf des Opportunismus verteidigend, brachte<br />

Kalinin am 30. Mai in Erinnerung: »Nehmen wir beispielsweise die 'Prawda'. Anfangs<br />

hatte die 'Prawda' eine bestimmte Politik verfolgt. Stalin, Muranow, Kamenjew trafen ein<br />

und drehten das Steuer <strong>der</strong> 'Prawda' nach einer an<strong>der</strong>en Seite.«<br />

»Man muß offen zugeben«, schrieb, als es noch erlaubt war, solche Dinge zu schreiben,<br />

Angarski, einer aus jener Schicht, »daß eine große Zahl alter Bolschewiki vor <strong>der</strong> Aprilkonferenz<br />

<strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> Frage nach dem Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1917 an den<br />

alten bolschewistischen Ansichten von 1905 festhielt und daß die Preisgabe dieser<br />

Ansichten, ihre Liquidierung, nicht so leicht erfolgte.« Es wäre noch hinzuzufügen, daß<br />

die überlebten Ideen von 1905 im Jahre 1917 aufgehört hatten, »alte bolschewistische<br />

Ansichten« zu sein und Ideen des patriotischen Reformismus wurden.<br />

»Lenins Apriltbesen«, lautet eine offizielle historische Version, »waren im Petrogra<strong>der</strong><br />

Komitee vom Mißgeschick geradezu verfolgt. Für diese Thesen, die eine Epoche bilden<br />

sollten, sprachen sich nur zwei, gegen sie dreizehn, bei einer Stimmenthaltung, aus.«<br />

»Allzu kühn schienen Lenins Ansichten sogar seinen begeistertsten Anhängern«,<br />

schreibt Podwojski. Lenins Auftreten hatte - nach Meinung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees<br />

und <strong>der</strong> Militärischen Organisation - »... die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki zur Einsamkeit<br />

verurteilt und damit selbstverständlich die Lage des Proletariats und <strong>der</strong> Partei aufs<br />

äußerste verschlechtert«.<br />

»Man muß offen sagen«, schrieb vor einigen Jahren Molotow, »die Partei besaß we<strong>der</strong><br />

die Klarheit noch die Entschlossenheit, die <strong>der</strong> revolutionäre Moment erfor<strong>der</strong>te ... Der<br />

Agitation wie <strong>der</strong> revolutionären Parteiarbeit insgesamt fehlte die feste Basis, weil <strong>der</strong><br />

Gedanke noch nicht bis zu den kühnen Schlußfolgerungen in bezug auf die Notwendigkeit<br />

des unmittelbaren Kampfes für den Sozialismus und die sozialistische <strong>Revolution</strong> vorgedrungen<br />

war.« Der Umschwung begann erst im zweiten Monat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. »Seit<br />

dem Eintreffen Lenins in Rußland im April 1917«, bezeugt Molotow, »verspürte unsere<br />

Partei festen Boden unter den Füßen ... Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Partei nur<br />

schwach und unsicher ihren Weg abgetastet.«<br />

Stalin trat Ende März ein für militärische Verteidigung, für bedingte Unterstützung <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung, für Suchanows pazifistisches Manifest, für Verschmelzung<br />

mit Zeretellis Partei. »Diese irrige Einstellung«, bekannte im Jahre 1924 Rückschau<br />

haltend Stalin selbst, »habe ich damals mit an<strong>der</strong>en Parteigenossen geteilt und mich von<br />

ihr erst Mitte April völlig losgesagt, als ich mich Lenins Thesen anschloß. Es war eine<br />

Neuonentierung nötig geworden. Diese Neuorientierung gab Lenin <strong>der</strong> Partei in seinen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 634


erühmten Aprilthesen.«<br />

Kalinin war sogar noch Ende April für einen Wahlblock mit den Menschewiki. In <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Stadtkonferenz sagte Lenin: »Ich protestiere scharf gegen Kalinin, denn ein<br />

Block mit ... Chauvinisten ist undenkbar ... Das ist Verrat am Sozialismus.« Kalinins<br />

Stimmungen bildeten sogar in Petrograd keine Ausnahme, In <strong>der</strong> Konferenz wurde<br />

gesagt: »Der Verschmelzungsrausch verflüchtigt sich unter Lenins Einfluß.«<br />

In <strong>der</strong> Provinz hielt sich <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gegen Lenins Thesen bedeutend länger, in<br />

einer Reihe von Gouvemements - fast bis zum Oktober. Nach <strong>der</strong> Erzählung des Kiewer<br />

Arbeiters Siwzow »wurden die [von Lenin] aufgestellten Thesen nicht sogleich von <strong>der</strong><br />

gesamten Kiewer bolschewistischen Organisation angenommen. Eine Reihe Genossen,<br />

darunter auch G. Pjatakow, waren mit den Thesen nicht einverstanden ...« Der Charkower<br />

Eisenbahner Morgunow erzählt: »Die alten Bolschewiki genossen großen Einfluß<br />

unter <strong>der</strong> Eisenbahnermasse ... viele alte Bolsehewiki waren nicht Mitglie<strong>der</strong> unserer<br />

Fraktion ... nach <strong>der</strong> Februarrevolution meldeten sich einige irrtümlich bei den<br />

Menschewiki an, worüber sie später selbst lachten: wie das nur passieren konnte.« An<br />

solchen und ähnlichen Zeugnissen herrscht kein Mangel.<br />

Trotz alledem gilt heute schon die einfache Erwähnung <strong>der</strong> von Lenin im April vollzogenen<br />

Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei bei <strong>der</strong> offiziellen Historiographie als Gotteslästerung.<br />

Dem historischen Kriterium unterstellen die neuesten Geschichtsschreiber das Kriterium<br />

<strong>der</strong> Ehre <strong>der</strong> Parteiuniform. Sie besitzen in dieser Hinsicht nicht einmal das Recht, Stalin<br />

zu zitieren, <strong>der</strong> die ganze Tiefe <strong>der</strong> Aprilschwenkung anzuerkennen gezwungen war. »Es<br />

waren Lenins berühmte Aprilthesen notwendig, damit die Partei mit einem Schwung den<br />

neuen Weg betreten konnte.« "Neuorientierung" und "neuer Weg", das eben ist die<br />

Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei. Aber schon sechs Jahre später wurde Jaroslawski, <strong>der</strong> in<br />

seiner Eigenschaft als Historiker erwähnt hatte, Stalin habe zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

eine »irrige Position in den Kernfragen« eingenommen, von allen Seiten einer wüsten<br />

Hetze ausgesetzt. Das Idol des Prestiges ist das gefräßigste aller Ungeheuer!<br />

Die revolutionäre Tradition <strong>der</strong> Partei, <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong> Arbeiter von unten, Lenins Kritik<br />

von oben zwangen die führende Parteischicht während <strong>der</strong> Monate April-Mai, um mit<br />

Stalins Worten zu sprechen, »den neuen Weg zu betreten«. Doch müßte man von politischer<br />

Psychologie gar keine Ahnung haben, um anzunehmen, die bloße Stimmabgabe für<br />

Lenins Thesen habe die tatsächliche und völlige Preisgabe <strong>der</strong> »irrigen Position in den<br />

Kernfragen« bedeutet. In Wirklichkeit blieben jene vulgär-demokrarischen Ansichten,<br />

die sich in den Kriegsjahren organisch gefestigt hatten, wenn sie sich auch dem neuen<br />

Programm anpaßten, zu ihm in dumpfer Opposition.<br />

Am 6. August tritt Kamenjew, dem Beschluß <strong>der</strong> bolschewistisehen Aprilkonferenz<br />

zuwi<strong>der</strong>, im Exekutivkomitee für die Beteiligung an <strong>der</strong> bevorstehenden Stockholmer<br />

Konferenz <strong>der</strong> Sozialpatrioten ein. Im Zentralorgan <strong>der</strong> Partei findet Kamenjews Schritt<br />

keine Zurückweisung. Lenin schreibt einen wütenden Artikel, <strong>der</strong> aber erst zehn Tage<br />

nach Kamenjews Rede veröffentlicht wird. Es hatte des energischen Druckes seitens<br />

Lenins und an<strong>der</strong>er Zentralkomiteemitglie<strong>der</strong> bedurft, um bei <strong>der</strong> Redaktion, an <strong>der</strong>en<br />

Spitze Stalin stand, das Erscheinen des Protestartikels zu erreichen.<br />

Eine Konvulsion von Schwankungen durchzitterte die Partei nach den Julitagen: die<br />

Isoliertheit <strong>der</strong> proletarischen Avantgarde erschreckte viele Führer, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 635


Provinz. In den Kornilowtagen versuchten diese Erschreckten sich den Versöhnlern zu<br />

nähern, was wie<strong>der</strong>um eine warnende Zurechtweisung durch Lenin zur Folge hatte.<br />

Am 30. August druckt Stalin in seiner Eigenschaft als Redakteur ohne Vorbehalt<br />

Sinowjews Artikel: "Was nicht tun", gerichtet gegen die Vorbereitung des Aufstandes.<br />

»Man muß <strong>der</strong> Wahrheit ins Gesicht sehen: in Petrograd sind jetzt viele Bedingungen<br />

gegeben, die die Entstehung eines Aufstandes vom Typus <strong>der</strong> Pariser Kommune von<br />

1871 begünstigen ...« Am 3. September schreibt Lenin in einem an<strong>der</strong>en Zusammenhang<br />

und ohne Sinowjew zu nennen, den Prellhieb jedoch gegen diesen richtend: »Der<br />

Hinweis auf die Kommune ist höchst oberflächlich und sogar dumm. Denn erstens haben<br />

die Bolschewiki nach 1871 immerhin manches gelernt, sie würden nicht verfehlen, die<br />

Bank in ihre Hände zu nehmen, sie würden auf einen Angriff auf Versailles nicht verzichten;<br />

unter solchen Bedingungen aber hätte auch die Kommune siegen können. Außerdem<br />

konnte die Kommune dem Volke nicht sogleich all das bieten, was die Bolschewiki zu<br />

bieten imstande sein werden, wenn sie die Macht sind, nämlich: Land den Bauern, sofortiges<br />

Friedensangebot ...« Das war eine anonyme, aber unzweideutige Warnung nicht<br />

nur an Sinowjew, son<strong>der</strong>n auch an den Redakteur <strong>der</strong> 'Prawda', Stalin.<br />

Die Frage des Vorparlaments spaltete das Zentralkomitee in zwei Hälften. Der<br />

Beschluß <strong>der</strong> Beratungsfrakrion zugunsten <strong>der</strong> Beteiligung am Vorparlament wurde von<br />

vielen Lokalkomitees, wenn nicht von den meisten, bestätigt. So war es zum Beispiel in<br />

Kiew. »In <strong>der</strong> Frage ... des Hineingehens ins Vorparlament«, sagt in ihren Erinnerungen<br />

E. Bosch, »sprach sieh die Mehrheit des Komitees für Beteiligung aus und wählte zu<br />

ihrem Vertreter Pjatakow.« An vielen Fällen, wie am Beispiel Kamenjews, Rykows,<br />

Pjatakows und an<strong>der</strong>er, läßt sich die Nachfolgeschaft in den Schwankungen feststellen:<br />

gegen Lenins Thesen im April, gegen Boykott des Vorparlaments im September, gegen<br />

den Aufstand im Oktober. Hingegen: die nächste Schicht <strong>der</strong> bolschewistischen Ka<strong>der</strong>,<br />

die den Massen näherstehende und politisch frischere, nahm die Parole des Boykottes<br />

leicht auf und zwang die Komitees, darunter auch das Zentralkomitee, zu einer schroffen<br />

Wendung. Unter dem Einfluß von Lenins Briefen sprach sich die Kiewer Stadtkonferenz<br />

zum Beispiel mit überwiegen<strong>der</strong> Mehrheit gegen das eigene Komitee aus. So stützte sich<br />

Lenin fast an allen schroffen politischen Wendepunkten auf die unteren Schichten des<br />

Apparates gegen die höheren o<strong>der</strong> auf die Parteimasse gegen den Apparat insgesamt.<br />

Die Voroktoberschwankungen konnten unter diesen Umständen am allerwenigsten<br />

Lenin überraschen. Er war von vornherein mit scharfem Mißtrauen gewappnet, lauerte<br />

den besorgniserregenden Symptomen auf, ging von den schlimmsten Vermutungen aus<br />

und hielt es für zweckmäßiger, ein überflüssiges Mal nachzudrücken, als Milde zu<br />

zeigen.<br />

Zweifellos auf Lenins Eingebung hin nahm das Moskauer Distriktbüro Ende September<br />

eine harte Resolution gegen das Zentralkomitee an, beschuldigte es <strong>der</strong> Unentschlossenheit,<br />

<strong>der</strong> Schwankungen, des Hineintragens von Verwirrung in die Reihen <strong>der</strong> Partei<br />

und for<strong>der</strong>te, »eine klare und ausgesprochene Linie auf den Aufstand zu nehmen«. Im<br />

Namen des Moskauer Büros gab Lomow am 3. Oktober im Zentralkomitee diesen<br />

Beschluß bekannt. Das Protokoll vermerkt: »Es wird beschlossen, über den Bericht nicht<br />

zu diskutieren.« Das Zentralkomitee fuhr weiter fort, einer Antwort auf die Frage "Was<br />

tun?" auszuweichen. Doch Lenins Druck auf dem Wege über Moskau blieb nicht ergebnislos:<br />

nach zwei Tagen beschloß das Zentralkomitee, das Vorparlament zu verlassen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 636


Daß dieser Schritt das Betreten des Weges des Aufstandes bedeutete, war klar für<br />

Feinde und Gegner. »Indem Trotzki seine Armee aus dem Vorparlament hinausführte«,<br />

schreibt Suchanow, »nahm er klar Kurs auf gewaltsame Umwälzung.« Der Bericht im<br />

Petrogra<strong>der</strong> Sowjet über den Austritt aus dem Vorparlament schloß mit dem Ruf: »Es<br />

lebe <strong>der</strong> offene und direkte Kampf um die revolutionäre Macht im Lande!« Das war am<br />

9. Oktober.<br />

Am nächsten Tage fand auf Lenins Verlangen die berühmte Sitzung des Zentralkomitees<br />

statt, wo die Frage des Aufstandes in aller Schärfe gestellt wurde. Vom Ausgang<br />

dieser Sitzung machte Lenin seine weitere Politik abhängig: mit dem Zentralkomitee<br />

o<strong>der</strong> gegen das Zentralkomitee. »Oh, neue Späße <strong>der</strong> lustigen Muße <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>!«<br />

schreibt Suchanow. »Diese allerhöchste und entscheidende Sitzung fand in meiner<br />

Wohnung statt, auf <strong>der</strong> gleichen Karpowka (32, Wohn. 31). Doch geschah alles das ohne<br />

mein Wissen.« Die Frau des Menschewiken Suchanow war Bolschewikin. »Dieses Mal<br />

waren für mein Übernachten außerhalb des Hauses beson<strong>der</strong>e Maßnahmen getroffen:<br />

wenigstens erkundigte sich meine Frau ganz genau nach meinen Absichten und gab mir<br />

den freundschaftlichen, uneigennützigen Rat, mich nach <strong>der</strong> Arbeit nicht durch die lange<br />

Fahrt abzumühen. Jedenfalls war die hohe Versammlung gegen mein Eindringen völlig<br />

gesichert.« Sie erwies sich, was viel wichtiger war, auch gegen das Eindringen <strong>der</strong><br />

Kerenskischen Polizei geschützt.<br />

Von einundzwanzig Mitglie<strong>der</strong>n des Zentralkomitees waren zwölf anwesend. Lenin<br />

erschien in Perücke und Brille, ohne Bart. Die Sitzung dauerte etwa zehn Stunden hintereinan<strong>der</strong><br />

bis tief in die Nacht. ln den Pausen trank man Tee und aß Brot mit Wurst zur<br />

Stärkung <strong>der</strong> Kräfte. Und Kräfte waren nötig: die Frage ging um die Machteroberung im<br />

ehemaligen Zarenreich. Wie immer begann die Sitzung mit einem Organisationsbericht<br />

von Swerdlow. Diesmal waren seine Informationen <strong>der</strong> Front gewidmet offenbar nach<br />

vorherigem Übereinkommen mit Lenin, um den notwendigen Schlußfolgerungen<br />

Rückhalt zu verleihen: das entsprach völlig Lenins Praktik. Vertreter <strong>der</strong> Nordfrontarmeen<br />

warnten durch Serdlow, das konterrevolutionäre Kommando bereite irgendeine<br />

»dunkle <strong>Geschichte</strong> mit dem Rückzug <strong>der</strong> Truppen ins Innere vor«. Aus Minsk, dem Stab<br />

<strong>der</strong> Westfront, berichtete man, dort sei eine neue Kornilowiade im Entstehen; in<br />

Anbetracht des revolutionären Charakters <strong>der</strong> Organisation habe <strong>der</strong> Stab die Stadt durch<br />

Kosakentruppenteile eingekreist. »Es finden irgendwelche Verhandlungen verdächtiger<br />

Art statt zwischen den Stäben und dem Hauptquartier.« Den Stab in Minsk gefangenzunehmen,<br />

sei durchaus möglich: die Organisation sei bereit, den Kosakenring zu entwaffnen.<br />

Man könne auch aus Minsk ein revolutionäres Korps nach Petrograd schicken. An<br />

<strong>der</strong> Front sei die Stimmung für die Bolschewiki, man werde gegen Kerenski gehen. So<br />

die Einleitung: sie ist nicht in allen ihren Teilen bestimmt genug, hat aber restlos ermutigenden<br />

Charakter.<br />

Lenin geht sogleich zum Angriff über: »Seit Anfang September ist eine gewisse Gleichgültigkeit<br />

für die Frage des Aufstandes zu beobachten.« Man verweist auf Abkühlung<br />

und Enttäuschung <strong>der</strong> Massen. Nicht verwun<strong>der</strong>lich: »Die Massen sind müde <strong>der</strong> Worte<br />

und Resolutionen.« Man muß die Gesamtiage berücksichtigen. Die Ereignisse in <strong>der</strong><br />

Stadt wickeln sich jetzt ab auf dem Hintergrunde einer gigantischen Bauernbewegung.<br />

Um den Agraraufstand zum Erlöschen zu bringen, hätte die Regierung Riesenkräfte<br />

nötig. »Die politische Situation ist somit reif Es muß über die technische Seite gespro-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 637


chen werden. Das ist <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> gatizen Sache. Indes sind wir gleich den Vaterlandsverteidigern<br />

geneigt, die systematische Vorbereitung des Aufstandes als eine Art politischer<br />

Sünde zu betrachten.« Der Berichterstatter nimmt sich offensichtlich zusammen:<br />

allzu viel ist in seiner Seele angesammelt. »Der Sowjetkongreß des Norddistrikts und <strong>der</strong><br />

Vorschlag aus Minsk müssen ausgenutzt werden für den Beginn entscheiden<strong>der</strong><br />

Handlungen.«<br />

Der Nordkongreß war gerade am Tage <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees eröffnet<br />

worden und sollte in zwei bis drei Tagen geschlossen werden. »Den Beginn entscheiden<strong>der</strong><br />

Handlungen« stellte Lenin als Aufgabe <strong>der</strong> nächsten Tage. Man darf nicht warten.<br />

Man darf nicht hinausschieben. An <strong>der</strong> Front - wir haben es von Swerdlow vernommen -<br />

bereitet man eine Umwälzung vor. Wird <strong>der</strong> Sowjetkongreß zustande kommen? Das ist<br />

unbekannt. Die Macht muß man sofort ergreifen, ohne irgendwelche Kongresse<br />

abzuwarten. »Unaussprechbar und nicht wie<strong>der</strong>zugeben«, schrieb einige Jahre später<br />

Trotzki, »ist <strong>der</strong> Gesamtgeist jener gespannten und leidenschaftlichen Improvisationen,<br />

durchdrungen von dem Bestreben, den Opponierenden, Schwankenden, Zweifelnden den<br />

eigenen Gedanken, den eigenen Willen, die eigene Sicherheit, den eigenen Mut einzuflößen<br />

...«<br />

Lenin hatte großen Wi<strong>der</strong>stand erwartet. Doch seine Befürchtungen waren bald<br />

zerstreut. Die Einmütigkeit, mit <strong>der</strong> das Zentralkomitee im September den sofortigen<br />

Aufstand abgelehnt hatte, war von episodischem Charakter gewesen: <strong>der</strong> linke Flügel<br />

hatte sich gegen die »Einkreisung <strong>der</strong> Alexandrinka« aus Konjunkturerwägungen ausgesprochen;<br />

<strong>der</strong> rechte aus Erwägungen allgemeiner, wenn auch in jenem Augenblick noch<br />

nicht restlos durchdachter Strategie. Während <strong>der</strong> vergangenen drei Wochen war im<br />

Zentralkomitee ein starker Ruck nach links erfolgt. Für den Aufstand stimmten zehn<br />

gegen zwei. Das war ein ernsthafter Sieg!<br />

Bald nach <strong>der</strong> Umwälzung, auf einer neuen Etappe des innerparteilichen Kampfes,<br />

erwähnte Lenin während einer Debatte im Petrogra<strong>der</strong> Komitee, wie er vor <strong>der</strong> Sitzung<br />

des Zentralkomitees »Opportunismus seitens <strong>der</strong> auf dem Boden <strong>der</strong> Vereinigung stehenden<br />

Internationalisten befürchtete, doch die Befürchtungen zerstreuten sich; in unserer<br />

Partei waren etliche Mitglie<strong>der</strong> [des Zentralkomitees] nicht einverstanden. Das hat mich<br />

aufs äußerste betrübt«. Von den »Internationalisten« gehörten außer Trotzki, den Lenin<br />

wohl kaum meinen konnte, dem Zentralkomitee an: Joffe, späterer Gesandter in Berlin,<br />

Uritzki, späterer Leiter <strong>der</strong> Tscheka in Petrograd, und Sokolnikow, <strong>der</strong> spätere Schöpfer<br />

des Tscherwonez: alle drei waren auf Lenins Seite. Als Gegner traten zwei durch ihre<br />

frühere Arbeit Lenin nächststehende alte Bolschewiki auf: Sinowjew und Kamenjew.<br />

Auf sie beziehen sich auch seine Worte: »Das hat mich aufs äußerste betrübt.« Die<br />

Sitzung vom 10. lief fast völlig auf eine leidenschaftliche Polemik mit Sinowjew und<br />

Kamenjew hinaus: den Angriff führte Lenin, die übrigen Teilnehmer wurden einer nach<br />

dem an<strong>der</strong>en hineingezogen.<br />

Die von Lenin mit Bleistiftstummel auf einer karierten Kin<strong>der</strong>heftseite hastig nie<strong>der</strong>geschriebene<br />

Resolution war architektonisch nicht sehr vollendet, bot aber dafür eine<br />

feste Stütze für den Kurs auf den Aufstand. »Das Zentralkomitee stellt fest, daß sowohl<br />

die internationale Lage <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> (Aufstand in <strong>der</strong> deutschen Flotte<br />

als höchster Ausdruck <strong>der</strong> in ganz Europa heranreifenden sozialistischen Weitrevolution,<br />

ferner die Drohung <strong>der</strong> imperialistischen Welt mit dem Ziele <strong>der</strong> Erdrosselung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 638


<strong>Revolution</strong> in Rußland) als auch die militärische Lage (<strong>der</strong> unzweifelhafte Entschluß<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie und <strong>der</strong> Kerenski und Konsorten, Petrograd den Deutschen<br />

zu übergeben) - all das in Verbindung mit dem Bauernaufstand und dem sich unserer<br />

Partei zuwendenden Vertrauen des Volkes (Wahlen in Moskau) und endlich die offenkundige<br />

Vorbereitung einer zweiten Kornilowiade (Abtransport von Truppen aus<br />

Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken vor Petrograd, Umzingelung von Minsk<br />

durch Kosaken und so weiter) - all das stellt auf die Tagesordnung den bewaffneten<br />

Aufstand. Indem es somit feststellt, daß <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand unvermeidlich und<br />

völlig reif ist, for<strong>der</strong>t das Zentralkomitee alle Parteiorganisationen auf, sich danach zu<br />

richten und alle praktischen Fragen von diesem Gesichtspunkte aus zu erörtern und zu<br />

entscheiden (Sowjetkongreß des Norddistrikts, Abtransport von Truppen aus Petrograd,<br />

Auftreten <strong>der</strong> Moskauer und Minsker und so weiter).«<br />

Bemerkenswert sowohl für die Einschätzung des Augenblicks wie für die Charakteristik<br />

des Autors ist allein schon die Anordnung <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Bedingungen für den<br />

Aufstand: an erster Stelle das Heranreifen <strong>der</strong> Weltrevolution; <strong>der</strong> Aufstand in Rußland<br />

wird bloß als ein Glied einer Gesamtkette betrachtet. Das ist Lenins ständige Ausgangsposition,<br />

seine große Voraussetzung: an<strong>der</strong>s konnte er nicht. Der Kurs auf den Aufstand<br />

wird unmittelbar, als Parteiaufgabe, gestellt: das schwierige Problem, die Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Umwälzung mit den Sowjets in Einklang zu bringen ist vorläufig gar nicht berührt.<br />

Der Allrussische Sowjetkongreß ist mit keinem Worte erwähnt. Zu den Stützpunkten des<br />

Aufstandes wird neben dem Kongreß des Norddistrikts und dem »Auftreten <strong>der</strong><br />

Moskauer und Minsker« auf Trotzkis Drängen hinzugefügt »<strong>der</strong> Abtransport von<br />

Truppen aus Petrograd«. Das war die einzige Anspielung auf jenen Aufstandsplan, <strong>der</strong><br />

sich in <strong>der</strong> Hauptstadt durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse von selbst aufdrängte. Taktische<br />

Korrekturen an <strong>der</strong> Resolution, die die strategische Ausgangsposition <strong>der</strong> Umwälzung<br />

bestimmte, schlug niemand vor, ausgenommen Sinowjew und Kamenjew, die die<br />

Notwendigkeit des Aufstandes überhaupt verneinten.<br />

Die späteren Versuche <strong>der</strong> offiziösen Historiographie, die Sache. so darzustellen, als<br />

wäre die gesamte führende Parteischicht, außer Sinowjew und Kamenjew, für den<br />

Aufstand gewesen, zerschellen an den Tatsachen und Dokumenten. Davon abgesehen,<br />

daß auch die für den Aufstand Stimmenden nicht selten dazu neigten, ihn in eine<br />

unbestimmte Zukunft zu verlegen, waren die offenen Gegner <strong>der</strong> Umwälzung, Sinowjew<br />

und Kamenjew, sogar im Zentralkomitee nicht isoliert: ihren Standpunkt teilten restlos<br />

Rykow und Nogin, die in <strong>der</strong> Sitzung vom 10. fehlten, ihnen nahe stand auch Miljutin.<br />

»In den Parteispitzen sind Schwankungen bemerkbar, gleichsam Angst vor dem Kampf<br />

um die Macht«, dies ist das Zeugnis von Lenin selbst. Nach den Worten Antonow-Saratowskis<br />

erzählte Miljutin, <strong>der</strong> nach dem 10. in Saratow eintral, »von einem Brief Iljitschs<br />

mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung "anzufangen", von Schwankungen im Zentralkomitee, von dem<br />

ursprünglichen "Durchfall" des Leninschen Antrags, von Lenins Empörung und schließlich<br />

davon, daß <strong>der</strong> Kurs doch auf den Aufstand genommen sei«. Der Bolschewik<br />

Sadowski schrieb später von <strong>der</strong> »bekannten Unsicherheit und Unentschiedenheit, die zu<br />

dieser Zeit herrschten. Sogar in unserem Zentralkomitee gab es bekanntlich damals<br />

Reibungen und Zusammenstöße in <strong>der</strong> Frage, wie und ob zu beginnen ist«.<br />

Sadowski selbst war in jener Periode einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Militärischen Sektion des<br />

Sowjets und <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch gerade die Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 639


<strong>der</strong> Militärischen Organisation verhielten sich, wie aus einer Reihe von "Erinnerungen"<br />

hervorgeht, im Oktober mit höchster Voreingenommenheit gegen die Idee des Aufstandes:<br />

<strong>der</strong> spezifische Charakter <strong>der</strong> Organisation machte die Führer geneigt zu Unterschätzungen<br />

<strong>der</strong> politischen und Überschätzung <strong>der</strong> technischen Bedingungen. Am i6.<br />

Oktober berichtete Krylenko: »Ein großer Teil des Büros (<strong>der</strong> Militärischen Organisation)<br />

meint, man dürfe die Frage praktisch nicht auf die Spitze treiben, die Min<strong>der</strong>heit<br />

jedoch glaubt, man könne die Initiative ergreifen.« Am 18. sagte ein an<strong>der</strong>er an-gesehener<br />

Teilnehmer <strong>der</strong> Militärischen Organisation, Laschewitsch: »Soll man jetzt die Macht<br />

ergreifen? Ich denke, man darf die Ereignisse nicht forcieren ... Es bestehen keine<br />

Garantien, daß es uns gelingen wird, die Macht zu halten ... Der von Lenin vorgeschlagene<br />

strategische Plan hinkt auf allen vier Beinen.« Antonow-Owssejenko berichtet über<br />

eine Zusammenkunft <strong>der</strong> wichtigsten militärischen Arbeiter mit Lenin: »Podwojski<br />

äußerte Zweifel, Newski stimmt bald ihm bei, bald verfiel er in Iljitschs sicheren Ton; ich<br />

berichtete ihm über die Lage in Finnland ... Iljitschs Sicherheit und Festigkeit wirkt<br />

stärkend auf mich und verleiht Newski Mut. Podwojski jedoch verharrt bei seinen<br />

Zweifeln.« Man darf nicht außer acht lassen, daß in allen solchen Erinnerungen Zweifel<br />

in Aquarellfarben, Sicherheit mit dickem Öl aufgetragen wird.<br />

Entschieden gegen den Aufstand trat Tschudnowski auf Der skeptische Manuilski<br />

wie<strong>der</strong>holte warnend, »die Front ist nicht mit uns«. Gegen den Aufstand war Tomski.<br />

Wolodarski unterstützte Sinowjew und Kamenjew. Bei weitem nicht alle Gegner <strong>der</strong><br />

Umwälzung traten offen auf. In <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees vom 15. sagte<br />

Kalium: »Die Resolution des Zentralkomitees ist eine <strong>der</strong> besten Resolutionen, die das<br />

Zentralkomitee jemals angenommen hat ... Wir sind praktisch an den bewaffneten<br />

Aufstand herangegangen. Wann er aber möglich sein wird - vielleicht in einem Jahr -, ist<br />

unbekannt.« Diese Art "Einverständnis" mit dem Zentralkomitee, für Kalinin äußerst<br />

charakteristisch, war jedoch nicht allein für ihn bezeichnend. Viele schlossen sich <strong>der</strong><br />

Resolution an, um auf diese Weise ihren Kampf gegen den Aufstand zu sichern.<br />

Am wenigsten Einmütigkeit war bei den Spitzen in Moskau zu bemerken. Das Distriktbüro<br />

unterstützte Lenin. Im Moskauer Komitee waren die Schwankungen sehr stark, es<br />

überwogen die Stimmungen zugunsten des Hinausschiebens. Das Gouvernementskomitee<br />

nahm eine unbestimmte Position ein, wobei man im Distriktbüro, nach den Worten<br />

von Jakowlewa, glaubte, im entscheidenden Augenblick würde sich das Gouvernementskomitee<br />

den Gegnern des Aufstandes zuneigen.<br />

Der Saratower Lebedjew erzählt, wie er während seines Besuches in Moskau kurz vor<br />

<strong>der</strong> Umwälzung mit Rykow spazierenging, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Hand auf die Steinhäuser, reichen<br />

Läden, das geschäftige Treiben ringsherum wies und über die Schwierigkeiten <strong>der</strong> bevorstehenden,<br />

Aufgabe klagte. »Hier im Herzen des bürgerlichen Moskau kamen wir uns<br />

wirklich wie Pygmäen vor, die einen Berg zu verschieben planen.«<br />

In je<strong>der</strong> Parteiorganisation, in jedem Gouvernementskomitee waren Menschen von<br />

gleichen Stimmungen wie Sinowjew und Kamenjew, in vielen Komitees bildeten sie die<br />

Mehrheit. Sogar im proletarischen Iwanowo-Wosnessensk, wo die Bolschewiki ungeteilt<br />

herrschten, nahmen die Meinungsverschiedenheiten bei den führenden Spitzen außerordentliche<br />

Schärfe an. Im Jahre 1925, als Erinnerungen sich bereits den Bedürfnissen des<br />

neuen Kurses anpaßten, schrieb Kisseljew, ein alter Arbeiterbolschewik: »Der Arbeiterteil<br />

<strong>der</strong> Partei ging, einzelne Personen ausgenommen, mit Lenin, gegen Lenin traten auf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 640


eine kleine Gruppe Parteiintellektueller und vereinzelte Arbeiter.« In öffentlichen<br />

Diskussionen wie<strong>der</strong>holten die Gegner des Aufstandes die gleichen Argumente wie<br />

Sinowjew und Kamenjew. »In Privatdiskussionen«, schreibt Kisseljew, »nahm die<br />

Polemik schärfere und unverhülltere Formen an, und dort verstieg man sich zu Äußerungen<br />

wie: Lenin ist ein Wahnsinniger, er stößt die Arbeiterklasse in sicheres Ver<strong>der</strong>ben,<br />

bei diesem bewaffneten Aufstande kann nichts her-auskommen, man wird uns zerschmettern,<br />

die Partei und die Arbeiterklasse zerschlagen, das wird die <strong>Revolution</strong> für viele<br />

Jahre zurückwerfen, und so weiter«, dies war im beson<strong>der</strong>en auch Frunses Stimmung,<br />

eines persönlich sehr mutigen, aber nicht durch weiten Horizont sich auszeichnenden<br />

Menschen.<br />

Sogar <strong>der</strong> Sieg des Aufstandes in Petrograd brach bei weitem noch nicht überall die<br />

Tätigkeit des Abwartens und den direkten Wi<strong>der</strong>stand des rechten Flügels. Der Wankelmut<br />

<strong>der</strong> Leitung führte später beinah zum Zusammenbruch des Aufstandes in Moskau. In<br />

Kiew übergab das von Pjatakow geleitete Komitee, das eine reine Defensivpolitik führte,<br />

letzten Endes die Initiative und danach auch die Macht in die Hände <strong>der</strong> Rada. »Die<br />

Woronescher Organisation unserer Partei«, erzählt Wratschew, »machte recht beträchtliche<br />

Schwankungen durch. Die Umwälzung in Woronesch ... wurde nicht vom Parteikomitee<br />

vollzogen, son<strong>der</strong>n von dessen aktiver Min<strong>der</strong>heit, mit Moissejew an <strong>der</strong> Spitze.« In<br />

einer ganzen Reihe von Gouvernementsstädten schlossen die Bolschewiki im Oktober<br />

einen Block mit den Versöhnlern »gegen die Konterrevolution«, als wären nicht die<br />

Versöhnler in diesem Moment eine <strong>der</strong> wichtigsten Stützen dieser Konterrevolution<br />

gewesen. Fast überall bedurfte es eines Anstoßes von oben und von unten zugleich, um<br />

die letzte Unentschlossenheit <strong>der</strong> Lokalkomitees zu brechen, sie zu zwingen, sich von<br />

den Versöhnlern zu trennen und an die Spitze <strong>der</strong> Bewegung zu treten. »Ende Oktober<br />

und Anfang November waren Tage wahrhaft "großer Wirren" in unserer Partei. Viele<br />

ließen sich schnell von Stimmungen hinreißen«, schreibt Schljapnikow, <strong>der</strong> selbst den<br />

Schwankungen keinen geringeren Ttibut gezollt hat.<br />

Alle jene Elemente, die, wie die Charkower Bolschewiki, zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

sich im Lager <strong>der</strong> Menschewiki befanden und dann selbst darüber staunten, »wie das nur<br />

geschehen konnte«, fanden während <strong>der</strong> Oktobertage in <strong>der</strong> Regel keinen Platz für sich,<br />

schwankten, warteten. Um so sicherer meldeten sie ihre Rechte als »alte Bolschewiki an<br />

in <strong>der</strong> Periode geistiger Reaktion. Wie groß in den letzten Jahren die Arbeit zur Vertuschung<br />

dieser Tatsachen auch gewesen sein mag, so sind doch, außer den jetzt dem<br />

Forscher unzugänglichen Geheimarchiven, in Zeitungen aus jener Zeit, in Memoiren,<br />

historische Zeitschriften nicht wenig Zeugnisse dafür erhalten geblieben, daß <strong>der</strong> Apparat<br />

sogar <strong>der</strong> revolutionärsten Partei noch am Vorabend <strong>der</strong> Umwälzung großen Wi<strong>der</strong>stand<br />

entwickelte. In <strong>der</strong> Bürokratie steckt unvermeidlich Konservativismus. <strong>Revolution</strong>äre<br />

Funktionen kann ein Apparat erfüllen nur, solange er als dienende Waffe einer Partei,<br />

das heißt einer Idee unterstellt ist und von <strong>der</strong> Masse kontrolliert wird.<br />

Die Resolution vom 10. Oktober gewann gewaltige Bedeutung. Sie sicherte sofort den<br />

wirklichen Anhängern des Aufstandes den festen Boden des Parteirechts. In allen<br />

Organisationen <strong>der</strong> Partei, in allen Zellen rückten die entsehlossensten Elemente in den<br />

Vor<strong>der</strong>grund. Die Parteiorganisationen, beginnend mit Petrograd, strafften sich, musterten<br />

ihre Kräfte und Mittel, festigten die Verbindungen und verliehen <strong>der</strong> Kampagne für<br />

die Umwälzung konzentrierten Charakter.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 641


Doch die Resolution erledigte nicht die Meinungsverschiedenheiten im<br />

Zentralkomitee. Im Gegenteil, sie verlieh ihnen nur Form und trug sie an die Oberfläche.<br />

Sinowjew und Kamenjew, die noch unlängst in einem gewissen Teil führen<strong>der</strong> Kreise<br />

sich von einer Sympathieatmosphäre umgeben gefühlt hatten, entdeckten erschreckt, wie<br />

schnell die Verschiebung nach links vor sich ging. Sie beschlossen, keine Zeit mehr zu<br />

verlieren, und verbreiteten am nächsten Tage einen umfangreichen Aufruf an die Parteimitglie<strong>der</strong>.<br />

»Vor <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, vor dem internationalen Proletariat, vor <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

<strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiterklasse«, schrieben sie, »besitzen wir nicht das<br />

Recht, auf die Karte des bewaffneten Aufstandes die ganze Zukunft zu setzen.«<br />

Ihre Perspektive bestand darin, als starke Oppositionspartei in die Konstituierende<br />

Versammlung hineinzugehen, die »sich in ihrer revolutionären Arbeit nur auf die<br />

Sowjets wird stützen können«. Daher die Formel: "Konstituierende Versammlung und<br />

Sowjets - das ist jener kombinierte Typ <strong>der</strong> Staatsinstitution, dem wir entgegengehen."<br />

Die Konstituierende Versammlung, wo die Bolschewiki als Min<strong>der</strong>heit gedacht, und die<br />

Sowjets, wo die Bolschewiki die Mehrheit waren, das heißt das Organ <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

und das Organ des Proletariats, sollten zu einem friedlichen System <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />

"kombiniert" werden. Dies war sogar unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Versöhnler nicht zustande<br />

gebracht worden. Wie konnte es unter bolschewistischen Sowjets gelingen?<br />

»Tiefe historische Unwahrheit«, schlossen Sinojew und Kamenjew, »ist eine solche<br />

Fragestellung über den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> proletarischen Partei<br />

wie: entwe<strong>der</strong> sofort o<strong>der</strong> niemals. Nein. Die Partei des Proletariats wird wachsen, ihr<br />

Programm wird immer breiteren Massen klar werden.« Die Hoffnung auf ein weiteres<br />

dauerndes Wachsen des Bolschewismus, unabhängig vom realen Gang <strong>der</strong> Zusammenstöße<br />

<strong>der</strong> Klassen, stand im unversöhnlichen Wi<strong>der</strong>spruch zu dem Leninschen Leitgedanken<br />

jener Zeit: »Der Erfolg <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> und <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> hängt von<br />

zwei - drei Kampftagen ab.«<br />

Es ist wohl kaum nötig zu erläutern, daß das Recht in diesem dramatischen Dialog<br />

restlos auf seiten Lenins war. Eine revolutionäre Situation läßt sich nicht willkürlich<br />

konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober-November die Macht nicht genommen,<br />

sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester<br />

Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhaßt gewordene<br />

Auseinan<strong>der</strong>gehen von Wort und Tat gefunden und sich von <strong>der</strong> Partei, die ihre<br />

Hoffnungen betrogen, im Laufe von zwei - drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher<br />

von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten. Ein Teil <strong>der</strong> Werktätigen<br />

wäre in Indifferentismus verfallen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e würde seine Kräfte in konvulsiven<br />

Bewegungen, anarchischen Ausbrüchen, Partisanenkämpfen, im Terror <strong>der</strong> Rache und<br />

Verzweiflung verpufft haben. Die auf solche Weise entstandene Atempause hätte die<br />

Bourgeoisie ausgenutzt für den Separatfrieden mit Wilhelm II. und die Zerschmetterung<br />

<strong>der</strong> revolutionären Organisationen. Rußland hätte sich wie<strong>der</strong> dem Zyklus kapitalistischer<br />

Staaten als halbimperialistisches, halbkoloniales Land angeglie<strong>der</strong>t. Die proletarische<br />

Umwälzung wäre in eine unbestimmte Ferne gerückt. Das klare Erkennen dieser<br />

Perspektive flößte Lenin seinen alarmierenden Ruf ein: »Der Erfolg <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> und<br />

<strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> hängt von zwei - drei Kampftagen ab.«<br />

Jetzt jedoch, nach dem 10., hatte sich die Lage in <strong>der</strong> Partei radikal verän<strong>der</strong>t. Lenin<br />

war nun nicht mehr ein isolierter "Oppositioneller", dessen Vorschläge das Zentralkomi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 642


tee ablehnte. Als isoliert erwies sich <strong>der</strong> rechte Flügel. Lenin hatte es nicht nötig, mit<br />

dein Preise des Rücktritts seine Agitationsfreiheit zu erkaufen. Die Legalität war auf<br />

seiner Seite. Im Gegenteil, indem Sinowjew und Kamenjew ihr gegen den Mehrheitsbeschluß<br />

des Zentralkomitees gerichtetes Dokument in Umlauf setzten, Waren sie es, die<br />

die Disziplin brachen. Und Lenin ließ im Kampfe selbstkleinere Fehlgriffe des Gegners<br />

nicht ungestraft!<br />

In <strong>der</strong> Sitzung vom 10. wurde auf Dserschinskis Antrag ein politisches Büro aus sieben<br />

Mann gewählt: Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Stalin, Sokolnikow, Bubnow. Die<br />

neue Institution erwies sich jedoch als völlig lebensunfähig: Lenin und Sinowjew waren<br />

noch immer illegal; Sinowjew wie auch Kamenjew setzten außerdem ihren Kämpf gegen<br />

den Aufstand fort. Das politische Büro versammelte sich in <strong>der</strong> Oktober-Zusammensetzung<br />

nicht ein einziges Mal, und man hatte es bald einfach vergessen, wie so viele<br />

an<strong>der</strong>e, im Strudel <strong>der</strong> Ereignisse ad hoc entstandene Organisationen.<br />

Ein praktischer Aufstandsplan, auch nur ein ungefährer, wurde in <strong>der</strong> Sitzung vom 10.<br />

nicht entworfen. Ohne es in die Resolution aufzunehmen, wurde jedoch verabredet, daß<br />

<strong>der</strong> Aufstand dem Sowjetkongreß vorangehen und möglichst nicht später als am 15.<br />

beginnen müsse. Nicht alle gingen auf diesen Termin willig ein: er war offensichtlich zu<br />

kurz für den in Petrograd genommenen Anlauf Doch auf eine Verschiebung zu drängen,<br />

hätte bedeutet, die Rechten zu unterstützen und die Karten zu vermischen. Außerdem ist<br />

es für eine Vertagung niemals zu spät!<br />

Die Tatsache <strong>der</strong> ursprünglichen Terminfestlegung auf den 15. wurde zum erstenmal<br />

veröffentlicht in Trotzkis Erinnerungen an Lenin im Jahre 1924, sieben Jahre nach den<br />

Ereignissen. Die Mitteilung wurde bald von Stalin bestritten, wobei die Frage in <strong>der</strong><br />

<strong>russischen</strong> historischen Literatur beson<strong>der</strong>e Schärfe erhielt. Bekanntlich vollzog sich <strong>der</strong><br />

Aufstand in Wirklichkeit erst am 25., folglich war <strong>der</strong> ursprünglich bestimmte Termin<br />

nicht eingehalten worden. Die epigonenhafte Historiographie meint, in <strong>der</strong> Politik des<br />

Zentralkomitees konnten nicht nur keine Fehler, son<strong>der</strong>n auch keine Fristversäumnisse<br />

vorkommen. »Es stellt sich heraus«, schreibt diesbezüglich Stalin, »das Zentralkomitee<br />

hätte als Frist des Aufstandes den 15. Oktober bestimmt und dann diesen Beschluß selbst<br />

verletzt (!), indem es den Termin des Aufstandes auf den 25. Oktober verschob. Ist das<br />

wahr? Nein, das ist nicht wahr.« Stalin kommt zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung: »Das Gedächtnis<br />

hat Trotzki getäuscht.« Zum Beweis beruft er sich auf die Resolution vom 10. Oktober,<br />

die keinen Termin nennt.<br />

Die strittige Frage <strong>der</strong> Chronologie des Aufstandes ist sehr wichtig zum Verständnis<br />

für den Rhythmus <strong>der</strong> Ereignisse und verlangt nach Aufklärung. Daß die Resolution vom<br />

10. kein Datum enthält, ist ganz richtig. Doch bezog sich diese allgemeine Resolution auf<br />

den Aufstand im ganzen Lande und war bestimmt für Hun<strong>der</strong>te und Tausende führen<strong>der</strong><br />

Parteiarbeiter. Darin das konspirative Datum des bereits für die nächsten Tage vorgesehenen<br />

Aufstandes in Petrograd aufzunehmen, wäre <strong>der</strong> Gipfel <strong>der</strong> Unvernunft gewesen:<br />

ennnern wir daran, daß Lenin aus Vorsicht in jener Zeit sogar seine Briefe nicht datierte.<br />

Ging es doch in diesem Falle um einen so wichtigen und gleichzeitig einfachen<br />

Beschluß, den alle Teilnehmer mühelos im Gedächtnis behalten konnten, überdies nur<br />

wenige Tage. Stalins Berufung auf den Text <strong>der</strong> Resolution bildet somit ein völliges<br />

Mißverständnis.<br />

Wir sind jedoch bereit zuzugeben, daß die Berufung eines <strong>der</strong> Teilnehmer auf das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 643


eigene Gedächtnis, beson<strong>der</strong>s wenn <strong>der</strong> Bericht von einem an<strong>der</strong>en Teilnehmer bestritten<br />

wird, für die historische Untersuchung nicht genügt. Zum Glück wird dieFrage mit aller<br />

Bestimmtheit entschieden auf <strong>der</strong> Basis einer Analyse <strong>der</strong> Bedingungen und Dokumente.<br />

Die Eröffnung des Sowjetkongresses stand für den 20. Oktober bevor. Zwischen dem<br />

Tag <strong>der</strong> Zentralkomiteesitzung und dem Datum des Kongresses blieb eine Zwischenzeit<br />

von zehn Tagen. Der Kongreß sollte nicht für die Macht <strong>der</strong> Sowjets agitieren, son<strong>der</strong>n<br />

sie übernehmen. An sich aber sind einige hun<strong>der</strong>t Delegierte ohnmächtig, die Macht zu<br />

erobern; man mußte sie entreißen für den Kongreß und vor dem Kongreß. »Zuerst<br />

besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein«, dieser Gedanke stand im Mittelpunkt <strong>der</strong><br />

gesamten Leninschen Agitation seit <strong>der</strong> zweiten Septemberhälfte. Im Prinzip stimmten<br />

damit alle überein, die überhaupt für die Machtergreifung waren. Das Zentralkomitee<br />

mußte folglich sich die Aufgabe stellen, die Durchführung des Aufstandes zwischen dem<br />

10. und 20. Oktober zu versuchen. Da man aber nicht voraussehen konnte, wieviel Tage<br />

<strong>der</strong> Kampfdauern würde, so wurde <strong>der</strong> Aufstand für den 15. angesetzt. »Betreffs des<br />

Datums«, schreibt Trotzki in seinen Erinnerungen an Lenin, »gab es, soviel ich mich<br />

erinnere, fast keine Diskussionen. Alle begriffen, daß das Datum nur ungefähren, sozusagen<br />

orientierenden Charakter haben konnte und daß man es je nach den Ereignissen<br />

würde beschleunigen o<strong>der</strong> verschieben müssen. Doch konnte es sich nur um Tage<br />

handeln, um nicht mehr. Die Notwendigkeit des Datums selbst, und zwar eines allernächsten,<br />

war ganz offensichtlich.«<br />

Eigentlich erschöpft schon das Zeugnis <strong>der</strong> politischen Logik die Frage. Doch fehlt es<br />

auch nicht an ergänzenden Beweisen. Lenin schlug eindringlich und unablässig vor, den<br />

Sowjetkongreß des Norddistrikts auszunutzen für den Beginn des militärischen Vorgehens.<br />

Die Resolution des Zentralkomitees eignete sich diesen Gedanken an. Doch <strong>der</strong><br />

Distriktkongreß, <strong>der</strong> am 10. begann, sollte gerade vor dem 15. geschlossen werden.<br />

In <strong>der</strong> Besprechung vom 16. verlangte Sinowjew, <strong>der</strong> auf Zurückziehung <strong>der</strong> sechs<br />

Tage zuvor angenommenen Resolution drängte: »Wir müssen uns offen sagen, daß wir in<br />

den nächsten fünf Tagen keinen Aufstand machen«: Die Rede war von jenen fünf Tagen,<br />

die bis zum Sowjetkongreß geblieben waren. Kamenjew, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> gleichen Besprechung<br />

nachwies, »die Festsetzung des Aufstandes ist Abenteurertum«, erinnerte daran:<br />

»früher wurde gesagt, daß man vor dem 20. beginnen müsse«. Niemand wi<strong>der</strong>sprach ihm<br />

und konnte ihm wi<strong>der</strong>sprechen. Eben die Fristversäumnis des Aufstandes deutete<br />

Kamenjew als Durchfall <strong>der</strong> Leninschen Resolution. Für den Aufstand war, nach seinen<br />

Worten, »in dieser Woche nichts getan worden«. Das war offenbare Übertreibung: Die<br />

Festlegung eines Termins veranlaßte alle, energischer an die Pläne heranzugehen und das<br />

Arbeitstempo zu beschleunigen. Doch ist es zweifellos, daß die in <strong>der</strong> Sitzung vom 10.<br />

vorgesehene fünftägige Frist sich als zu kurz erwiesen hatte. Die Verspätung war Tatsache.<br />

Erst am 17. vertagte das Zentral-Exekutivkomitee die Eröffnung des Sowjetkongresses<br />

auf den 25. Oktober. Diese Vertagung kam höchst gelegen.<br />

Durch die Verzögerung beunruhigt, bestand Lenin, dem in seiner Isoliertheit alle<br />

Hin<strong>der</strong>nisse und Reibungen unvermeidlich vergrößert erscheinen mußten, auf Einberufung<br />

einer neuen Zentralkomiteesitzung unter Teilnahme von Vertretern <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Gebiete <strong>der</strong> Parteiarbeit in <strong>der</strong> Hauptstadt. Gerade in dieser Besprechung, am 16., in<br />

Lessnoj, einem Petrogra<strong>der</strong> Vorort, erhoben Sinowjew und Kamenjew die oben<br />

angeführten Argumente für Wi<strong>der</strong>ruf des alten Termins und gegen Ansetzung eines<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 644


neuen.<br />

Die Debatten wurden mit verdoppelter Kraft wie<strong>der</strong> aufgenommen. Milutin meinte:<br />

»Wir sind nicht fertig, um zum ersten Schlag auszuholen ... Es ersteht eine an<strong>der</strong>e<br />

Perspektive: <strong>der</strong> bewaffnete Zusammenstoß ... Er wächst, und seine Möglichkeit rückt<br />

immer näher. Für diesen Zusammenstoß müssen wir fertig sein. Doch diese Perspektive<br />

unterscheidet sich vom Aufstand.« Miljutin bezog die Defensivposition, die noch eindeutiger<br />

Sinowjew und Kamenjew verteidigten. Schottman, ein alter Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter,<br />

<strong>der</strong> die ganze <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Partei mitgemacht hat, behauptete, in <strong>der</strong> Stadtkonferenz,<br />

im Parteikomitee und in <strong>der</strong> Militärischen Organisation sei die Stimmung viel kampfunlustiger<br />

als im Zentralkomitee. »Wir können nicht losschlagen, aber wir müssen uns<br />

darauf vorbereiten.« Lenin attackierte Miljutin und Schottman für ihre pesimistische<br />

Einschätzung <strong>der</strong> Kräfte: »Es geht nicht um einen Kampf gegen das Heer, son<strong>der</strong>n um<br />

den Kampf eines Teiles des Heeres gegen den an<strong>der</strong>en ... Die Tatsachen beweisen, daß<br />

wir ein Übergewicht vor dem Feinde haben. Warum kann das Zentralkomitee nicht<br />

beginnen?«<br />

Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im<br />

Sowjet die Verordnung über das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee. Aber jenen Standpunkt,<br />

<strong>der</strong> sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte<br />

Krylenko, <strong>der</strong> soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko<br />

den Sowjetkongreß des Norddistriktes geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß<br />

»das Wasser genügend siedend ist«; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen,<br />

»wäre <strong>der</strong> größte Fehler«. Er geht jedoch mit Lenin auseinan<strong>der</strong> »in <strong>der</strong> Frage, wer<br />

beginnt und wie beginnen«. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur<br />

Zeit noch unzweckmäßig. »Doch die Frage des Abtransports <strong>der</strong> Truppen bildet gerade<br />

jenes Moment, wo <strong>der</strong> Kampf einsetzen wird ... Die Tatsache, daß wir angegriffen sind,<br />

ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden ... Sich darum sorgen, wer beginnen<br />

soll, ist überflüssig, denn <strong>der</strong> Beginn ist bereits da.« Krylenko legte dar und verteidigte<br />

die Politik, die das Fundament des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees und <strong>der</strong> Garnisonberatung<br />

bildete. Der Aufstand entwickelte sich in <strong>der</strong> Folge just auf diesem Wege.<br />

Lenin reagierte auf Krylenkos Worte nicht: das lebendige Bild <strong>der</strong> letzten sechs Tage<br />

in Petrograd hatte sich nicht vor seinen Augen abgespielt. Lenin fürchtete Verzögerung.<br />

Seine Aufmerksamkeit war auf die direkten Gegner des Aufstandes gerichtet. Jegliche<br />

Vorbehalte, bedingte Formeln, nicht genügend kategorische Antworten war er geneigt zu<br />

deuten als indirekte Unterstützung Sinowjews und Kamenjews, die gegen ihn auftraten<br />

mit <strong>der</strong> Entschlossenheit von Menschen, die ihre Schiffe verbrannt haben. »Die Resultate<br />

einer Woche«, argumentierte Kamenjew, »sprechen dafür, daß im Augenblick keine<br />

Anhaltspunkte für den Aufstand gegeben sind. Einen Apparat für den Aufstand besitzen<br />

wir nicht; bei unseren Feinden ist dieser Apparat viel mächtiger und sicherlich während<br />

dieser Woche noch gewachsen ... Hier kämpfen zwei Taktiken: die Taktik <strong>der</strong> Verschwörung<br />

und die Taktik des Glaubens an die Triebkräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>.« Opportunisten<br />

glauben stets an Triebkräfte dann, wenn man sich schlagen soll.<br />

Lenin erwi<strong>der</strong>te: »Glaubt man, daß <strong>der</strong> Aufstand reif ist, dann kann von Verschwörung<br />

nicht die Rede sein. Ist <strong>der</strong> Aufstand politisch unvermeidlich, dann muß man sich zum<br />

Aufstand wie zu einer Kunst verhalten.« Gerade auf dieser Linie ging in <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong><br />

grundlegende, wirklich prinzipielle Streit, von dessen Lösung in die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 645


Richtung das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> abhing. Jedoch im Gesamtrahmen <strong>der</strong> Leninschen<br />

Fragestellung, um die sich die Mehrheit des Zentralkomitees vereinigte, erhoben sich<br />

zwar untergeordnete, aber äußerst wichtige Fragen: Wie auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> reifen politischen<br />

Situation an den Aufstand herangehen? Welche Brücke von <strong>der</strong> Politik zur<br />

Technik <strong>der</strong> Umwälzung wählen? Und wie die Massen über diese Brücke führen?<br />

Joffe, <strong>der</strong> zum linken Flügel gehörte, unterstützte die Resolution vom 10. Doch wi<strong>der</strong>sprach<br />

er Lenin in einem Punkte: »Es ist nicht richtig, daß es jetzt um eine rein technische<br />

Frage geht; auch jetzt muß <strong>der</strong> Moment des Aufstandes vom politischen<br />

Standpunkte aus betrachtet werden.« Gerade die letzte Woche hätte gezeigt, daß <strong>der</strong><br />

Aufstand für Partei, Sowjet und Massen noch nicht zu einer reinen Frage <strong>der</strong> Technik<br />

geworden ist. Deshalb eben sei es auch nicht gelungen, die am 10. vorgesehene Frist<br />

einzuhalten.<br />

Lenins neue Resolution, die »alle Organisationen und alle Arbeiter und Soldaten zur<br />

allseitigen und intensivsten Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes« aufrief, wurde mit<br />

zwanzig gegen zwei Stimmen, Sinowjews und Kamenjews, bei drei Stimmenthaltungen<br />

angenommen. Die offiziellen Historiker herufen sich auf diese Zahlen am Beweis <strong>der</strong><br />

völligen Belanglosigkeit <strong>der</strong> Opposition. Doch vereinfachen sie die Frage. Der Ruck<br />

nach links war in <strong>der</strong> Parteimasse bereits <strong>der</strong>art stark, daß die Gegner des Aufstandes,<br />

nicht mehr wagten, offen aufzutreten, Interesse verspürten, die prinzipielle Scheidelinie<br />

zwischen den zwei Lagern zu verwischen. Da sich die Umwälzung trotz dem im voraus<br />

festgelegten Termin bis zum 16. nicht verwirklicht hat, vielleicht ließe es sich erreichen,<br />

daß die Sache auch fernerhin auf einen platonischen "Kurs auf den Aufstand" beschränkt<br />

bleibt? Daß Kalinin nicht gar so vereinsamt war, zeigte sich sehr kraß in <strong>der</strong> gleichen<br />

Sitzung. Sinowjews Resolution: »bewaffnete Demonstrationen sind bis zur Beratung mit<br />

dem bolschewistischen Teil des Sowjetkongresses nicht zulässig«, wurde mit fünfzehn<br />

gegen sechs Stimmen bei drei Stimmenthaltungen abgelehnt. Hier geschah die tatsächliche<br />

Nachprüfung <strong>der</strong> Ansichten: ein Teil <strong>der</strong> "Anhänger" <strong>der</strong> Zentralkomiteeresolution<br />

wollte in Wirklichkeit den Beschluß bis zum Sowjetkongreß und bis zur netten Beratung<br />

mit den in ihrer Mehrheit gemäßigteren Bolschewiki aus <strong>der</strong> Provinz vertagen. Zusammen<br />

mit jenen, die sich <strong>der</strong> Stimme enthielten, waren es ihrer neun von vierundzwanzig<br />

Mann, das heißt mehr als ein Drittel. Das ist natürlich noch mmer eine Min<strong>der</strong>heit,<br />

jedoch für einen Stab recht beträchtlich. Die hoffnungslose Schwäche dieses Stabes<br />

wurde dadurch bestimmt, daß er keine Stütze in den unteren Parteischichten und in <strong>der</strong><br />

Arbeiterklasse besaß.<br />

Am nächsten Tag gab Kamenjew im Einverständnis mit Sinowjew in Gorkis Zeitung<br />

eine gegen den am Vorabend angenommenen Beschluß gerichtete Erklärung ab. »Nicht<br />

nur ich und Sinowjew, son<strong>der</strong>n auch eine Reihe von Genossen, von Praktikern«, so<br />

schrieb Kamenjew, »meinen, die Ergreifung <strong>der</strong> Initiative zum bewaffneten Aufstande<br />

wäre in diesem Moment, unter dem gegebenen Verhältnis <strong>der</strong> gesellschaftlichen Kräfte,<br />

unabhängig vom Sowjetkongreß und einige Tage vor seiner Eröffnung ein unzulässiger<br />

und für das Proletariat und die <strong>Revolution</strong> katastrophaler Schritt ... - Alles zu setzen ...<br />

auf die Karte des bewaffneten Aufstandes für die nächsten Tage - würde heißen, einen<br />

Verzweiflungsschritt tun. Unsere Partei aber ist zu stark, vor ihr steht eine zu große<br />

Zukunft, um solche Schritte zu machen ...« Opportunisten fühlen sich stets »zu stark«, um<br />

sich auf einen Kampf einzulassen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 646


Kamenjews Brief war eine direkte Kriegserklärung an das Zentralkomitee, und dabei<br />

in einer Frage, wo niemand zu spaßen beabsichtigte. Die Lage spitzte sich jäh aufs äußerste<br />

zu. Sie wurde noch verwickelter durch einige an<strong>der</strong>e persönliche Episoden, die den<br />

gleichen politischen Ursprung hatten. In <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets vom 18.<br />

erklärte Trotzki auf eine ihm von den Gegnern gestellte Frage, daß <strong>der</strong> Sowjet für die<br />

nächsten Tage keinen Aufstand festgesetzt hätte; wäre er aber dazu gezwungen, die<br />

Arbeiter und Soldaten würden sich wie ein Mann erheben. Kamenjew, Trotzkis Nachbar<br />

im Präsidium, erhob sich sofort zu einer kurzen Erklärung: er unterschreibe jedes Wort<br />

Trotzkis. Das war ein listiger Schachzug: während Trotzki durch die äußerlich defensive<br />

Formel juristisch die Offensivpolitik deckte, versuchte Kamenjew die Formel Trotzkis;<br />

mit dem er radikal auseinan<strong>der</strong>ging, zur Deckung einer direkt entgegengesetzten Politik<br />

auszunutzen.<br />

Um die Wirkung des Kamenjewschen Manövers zu paralysieren, sagte Trotzki am<br />

selben Tage während eines Referats auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees:<br />

»Der Bürgerkrieg ist unvermeidlich. Man muß ihn nur so unblutig und so schmerzlos wie<br />

möglich organisieren. Das ist nicht durch Schwanken und Unentschlossenheit zu erreichen,<br />

son<strong>der</strong>n nur durch den hartnäckigen und mutigen Kampf uni die Macht.« Die<br />

Worte vom Schwanken waren für alle offensichtlich gegen Sinowjew, Kamenjew und<br />

<strong>der</strong>en Gesinnungsgenossen gerichtet.<br />

Die Frage betreffs Kamenjews Auftritt im Sowjet stellte Trotzki außerdem in <strong>der</strong><br />

nächsten Sitzung des Zentralkomitees zur Debatte. In <strong>der</strong> Zwischenzeit meldete Kamenjew,<br />

um sich die Hände für die Agitation gegen den Aufstand frei zu machen, seine<br />

Demission als Mitglied des Zentralkomitees an. Die Frage wurde in seiner Abwesenheit<br />

behandelt. Trotzki betonte, daß »die entstandene Lage ganz unerträglich ist«, und schlug<br />

vor, Kamenjews Demission anzunehmen 11 .<br />

Swerdlow, <strong>der</strong> Trotzkis Vorschlag (die Demission Kamenjews anzunehmen) unterstützte,<br />

verlas einen Brief Lenins, <strong>der</strong> Sinowjew und Kamenjew für ihr Auftreten in<br />

Gorkis Zeitung als Streikbrecher brandmarkte und ihren Ausschluß aus <strong>der</strong> Partei for<strong>der</strong>te.<br />

»Kamenjews Schlauheit in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets«, schrieb Lenin, »ist<br />

direkt nie<strong>der</strong>trächtig; er ist - man denke nur! - mit Trotzki ganz einverstanden. Aber ist<br />

es denn schwer zu begreifen, daß Trotzki vor dem Feinde, mehr als er gesagt hat, nicht<br />

sagen konnte, nicht das Recht hatte, nicht durfte. Ist es denn schwer zu begreifen, daß ...<br />

<strong>der</strong> Beschluß über die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes, über seine völlige<br />

Reife, seine allseitige Vorbereitung und so weiter ... verpflichtet, in öffentlichen Äußerungen<br />

nicht nur die Schuld, son<strong>der</strong>n auch die Initiative auf den Gegner abzuwälzen ...<br />

Kamenjews Schlauheit ist einfach Gaunerei.«<br />

11 In dem im Jahre 1929 veröffentlichten Protokollen des Zentralkomitees aus dem Jahre 1957 ist gesagt,<br />

Trotzki habe seine Erklärung im Sowjet damit begründet, daß sie »von Kamenjew erzwungen worden war«.<br />

Hier liegt offenbar eine irrige Nie<strong>der</strong>schrift o<strong>der</strong> eine falsche spätere Redaktion vor. Trotzkis Erklärung<br />

brauchte keine beson<strong>der</strong>en Begründungen: sie ergab sich aus den Umständen. Durch einen merkwürdigen<br />

Zufall war das Moskauer Distriktkomitee, das restlos Lenin unterstützte, am gleichen Tage, dem 18., gezwungen,<br />

in <strong>der</strong> Moskauer Parteizeitung eine Erklärung zu veröffentlichen, die Trotzkis Formel fast wörtlich<br />

wie<strong>der</strong>gab: »... Wir sind keine Verschwöterpartei und bestimmen unsere Aktionen nicht im Geheimen. Wenn<br />

wir uns entschließen werden, hervorzutreten, werden wir das in unseren Presseorganen sagen ...« An<strong>der</strong>s<br />

konnte man die direkten Fragen <strong>der</strong> Feinde auch nicht beantworten. Wenn aber Trotzkis Erklärung von<br />

Kamenjew nicht erzwungen war und nicht erzwungen sein konnte, so war sie durch dessen unwahrhaftige<br />

Solidaritätserklärung bewußt kompromittiert, und zwar unter Bedingungen, die es Trotzki unmöglich<br />

machten, den erfor<strong>der</strong>lichen Punkt auf das i zu setzen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 647


Als er seinen entrüsteten Protest durch Swerdlow abschickte, konnte Lenin noch nicht<br />

wissen, daß Sinowjew in einem Brief an die Redaktion des Zentralorgans eine Erklärung<br />

abgegeben hatte: seine, Sinowjews, Ansichten »sind weit entfernt von jenen, die Lenin<br />

anficht«, und er, Sinowjew, »schließt sich Trotzkis gestriger Erklärung im Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjet an«. Im gleichen Sinne trat in <strong>der</strong> Presse auch <strong>der</strong> dritte Gegner des Aufstandes,<br />

Lunatscharski, hervor. Um den böswilligen Wirrwarr voll zu machen, war Sinowjews<br />

Brief, abgedruckt im Zentralorgan gerade am Tage <strong>der</strong> Zentralkomiteesitzung, am 20.,<br />

von sympathisierenden Anmerkungen <strong>der</strong> Redaktion begleitet: »Wir unsererseits drücken<br />

die Hoffnung aus, daß man mit <strong>der</strong> von Sinowjew abgegebenen Erklärung (wie auch mit<br />

Kamenjews Erklärung im Sowjet) die Frage als erschöpft betrachten kann. Der scharfe<br />

Ton in Lenins Artikel än<strong>der</strong>t an <strong>der</strong> Tatsache nichts, daß wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen<br />

bleiben.« Das war ein neuer Stoß in den Rücken, und zwar von einer<br />

Seite, von <strong>der</strong> ihn niemand erwartet hatte. Während Sinowjew und Kamenjew in <strong>der</strong><br />

feindlichen Presse mit <strong>der</strong> offenen Agitation gegen den Beschluß des Zentralkomitees<br />

über den Aufstand hervortreten, rügt das Zentralorgan die »Schärfe« des Leninschen<br />

Tones und konstatiert seine gleiche Gesinnung mit Sinowjew und Kamenjew im<br />

»wesentlichen«. Als hätte es in jenem Augenblick eine wesentlichere Frage als die Frage<br />

des Aufstandes gegeben! Laut einem kurzen Protokoll erklärte Trotzki in <strong>der</strong> Sitzung des<br />

Zentralkomitees: »Sinowjews und Lunatscharskis Briefe im Zentralorgan wie die Anmerkung<br />

<strong>der</strong> Redaktion können nicht geduldet werden.« Swerdlow unterstützte den Protest.<br />

Zur Redaktion gehörten damals Stalin und Sokolnikow. Das Protokoll lautet: »Sokolnikow<br />

teilt mit, daß er an <strong>der</strong> Redaktionserklärung zu Sinowjews Brief unbeteiligt war, und<br />

hält diese Erklärung für einen Fehler.« Es stellt sich heraus, daß Stalin allein - gegen das<br />

an<strong>der</strong>e Redaktionsmitglied und die Mehrheit des Zentralkomitees - Kamenjew und<br />

Sinowjew im kritischsten Moment, vier Tage vor dem Aufstand, durch eine Sympathieerklärung<br />

unterstützt hatte. Die Empörung war groß.<br />

Stalin sprach gegen Kamenjews Demission und versuchte nachzuweisen, daß »unsere<br />

gesamte Lage wi<strong>der</strong>spruchsvoll ist«, das heißt, er übernahm die Verteidigung jener<br />

Verwirrung, die von Mitglie<strong>der</strong>n des Zentralkomitees, die gegen den Aufstand auftraten,<br />

in die Köpfe getragen wurde. Mit fünf gegen drei Stimmen wird Kamenjews Rücktrittsgesuch<br />

angenommen. Mit sechs Stimmen, wie<strong>der</strong>um gegen Stalin, wird ein Beschluß<br />

gefaßt, <strong>der</strong> Kamenjew und Sinowjew verbietet, gegen die Politik des Zentralkomitees<br />

einen Kampf zu führen. Das Protokoll lautet: »Stalin erklärt seinen Austritt aus <strong>der</strong><br />

Redaktion.« Um die ohnehin nich leichte Lage nicht zu verschärfen, lehnt das Zentralkomitee<br />

Stalin Demission ab.<br />

Stalins Verhalten mag unerklärlich erscheinen im Licht <strong>der</strong> um ihn geschaffenen<br />

Legende; in Wirklichkeit entspricht es völlig seinem geistigen Wesen und seinen politischen<br />

Methoden. Vor großen Problemen zieht sich Stalin stets zurück - nicht infolgt<br />

mangelnden Charakters wie Kamenjew, son<strong>der</strong>n infolge <strong>der</strong> Engc seines Horizonts und<br />

des Mangels an schöpferischer Phantasie. Lauernde Vorsicht zwingt ihn fast organisch,<br />

in Momenten großer Entschlüsse und tiefer Meinungsverschiedenbeiten in den Schatten<br />

zu treten, abzuwarten und womöglich sich für zwei Fälle zu versichern. Stalin stimmte<br />

mit Lenin für den Aufstand. Sinowjew und Kamenkew kämpften offen gegen den<br />

Aufstand. Doch - läßt man die »Schärfe des Tones« <strong>der</strong> Leninschen Kritik beiseite -<br />

»bleiben wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen«. Seine Anmerkung hatte Stalin<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 648


keinesfalls aus Leichtsinn gemacht: im Gegentefl, er hatte sorgfältig Umstände und<br />

Worte erwogen. Aber am 20. Oktober hielt er es nicht für möglich, unwi<strong>der</strong>ruflich die<br />

Brücke zum Lager <strong>der</strong> Aufstandsgegner abzubrechen.<br />

Die Angaben <strong>der</strong> Protokolle, die wir nicht nach dem Original, son<strong>der</strong>n nach dem offiziellen,<br />

in <strong>der</strong> Stalinschen Kanzlei bearbeiteten Text zu zitieren gezwungen sind, zeigen<br />

nicht nur die tatsächliche Verteilung <strong>der</strong> Figuren im bolschewistischen Zentralkomitee,<br />

son<strong>der</strong>n entrollen vor uns auch, trotz Kürze und Trockenheit, das wahre Panorama <strong>der</strong><br />

Parteileitung, wie sie in <strong>der</strong> Wirklichkeit war: mit all ihren inneren Wi<strong>der</strong>sprüchen und<br />

unvermeidlichen persönlichen Schwankungen. Nicht nur die <strong>Geschichte</strong> in ihrer Gesamtheit,<br />

son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong>en kühnste Umwälzungen werden von Menschen vollzogen, denen<br />

nichts Menschliches fremd ist. Kann das die Bedeutung des Vollbrachten<br />

beeinträchtigen?<br />

Würde man auf einer Leinwand den glänzendsten <strong>der</strong> Siege Napoleons abrollen, <strong>der</strong><br />

Filmstreifen würde uns neben Genialität, Schwung, Scharfsinn, Heroismus - auch Unentschlossenheit<br />

einzelner Marschälle zeigen, Verwirrung <strong>der</strong> Generale, die Karten nicht<br />

lesen können, Stumpfsinn <strong>der</strong> Offiziere und Panik ganzer Abteilungen bis inklusive<br />

Darmerkrankungen aus Angst. Dieses realistische Dokument würde nur dafür Zeugnis<br />

ablegen, daß Napoleons Armee nicht aus Automaten einer Legende bestand, son<strong>der</strong>n aus<br />

lebendigen Franzosen, erzogen an <strong>der</strong> Wende zweier Jahrhun<strong>der</strong>te. Und das Bild<br />

menschlicher Schwächen würde nur das Grandiose des Ganzen greller unterstreichen.<br />

Es ist leichter, über eine Umwälzung nachträglich zu theoretisieren, als sie in Fleisch<br />

und Blut in sich aufzunehmen, bevor sie sich vollzogen hat. Das Herannahen eines<br />

Aufstandes hat stets unvermeidlich Krisen in den Parteien des Aufstandes hervorgerufen<br />

und wird sie hervorrufen. Davon zeugt die Erfahrung <strong>der</strong> gestähltesten und revolutionärsten<br />

Partei, die die <strong>Geschichte</strong> je gekannt hat. Es genügt die Tatsache, daß Lenin wenige<br />

Tage vor <strong>der</strong> Schlacht sich gezwungen sah, den Ausschluß zweier seiner nächsten und<br />

angesehensten Schüler zu for<strong>der</strong>n. Spätere Versuche, den Konflikt durch "Zufälle"<br />

persönlichen Charakters zu bagatellisieren, sind von rein kirchlicher Idealisierung <strong>der</strong><br />

Parteivergangenheit suggeriert. Wie Lenin vollständiger und entschiedener als die<br />

an<strong>der</strong>en in den Herbstmonaten 1917 die objektive Notwendigkeit des Aufstandes und<br />

den Willen <strong>der</strong> Massen zur Umwälzung ausdrückte, so verkörperten Sinowjew und<br />

Kamenjew offenherziger als die an<strong>der</strong>en die bremsenden Tendenzen <strong>der</strong> Partei,<br />

Stimmungen <strong>der</strong> Unentschlossenheit. Einflüsse kleinbürgerlicher Bindungen und den<br />

Druck <strong>der</strong> herrschenden Klassen.<br />

Wären alle Beratungen, Debatten, Privarstreitereien, die in <strong>der</strong> oberen Schicht <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei während des einen Monats Oktober stattfanden, stenographiert<br />

worden, die Nachkommen könnten sich überzeugen, durch welch gespannten inneren<br />

Kampf an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Partei sich die für die Umwälzung nötige Entschlossenheit<br />

formte. Das Stenogramm würde gleichzeitig beweisen, wie sehr eine revolutionäre Partei<br />

<strong>der</strong> inneren Demokratie bedarf: <strong>der</strong> Wille zum Kampf wird nicht auf Vorrat angeschafft<br />

und nicht von oben diktiert - er muß jedesmal selbständig erneuert und gestählt werden.<br />

Indem er sich auf die Behauptung des Autors dieses Buches berief, wonach »als<br />

wesentlichstes Instrument <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung die Partei dient«, fragte Stalin<br />

im Jahre 1924: »Wie konnte unsere <strong>Revolution</strong> siegen, wenn ihr wesentlichstes Instrument<br />

sich als untauglich erwies?« Die Ironie verschleiert nicht die primitive Unwahrhaf-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 649


tigkeit <strong>der</strong> Erwi<strong>der</strong>ung. Zwischen den Heiligen, wie sie die Kirche schil<strong>der</strong>t, und den<br />

Teufeln, wie sie von den Kandidaten für Heiligenposten geschil<strong>der</strong>t werden, befinden<br />

sich die lebendigen Menschen: und sie machen die <strong>Geschichte</strong>. Die hohe Stählung <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei hatte sich nicht im Fehlen von Meinungsverschiedenheiten,<br />

Schwankungen und sogar Erschütterungen geäußert, son<strong>der</strong>n darin, daß sie in schwierigster<br />

Lage rechtzeitig mit inneren Krisen fertig wurde und sich die Möglichkeit sicherte,<br />

in die Ereignisse entscheidend einzugreifen. Und dies eben heißt, daß die Partei als<br />

Ganzes ein taugliches Instrument <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war.<br />

Eine reformistische Partei betrachtet in <strong>der</strong> Praxis als unerschütterlich die Grundlagen<br />

dessen, was zu reformieren sie sich anschickt. Damit allein schon unterwirft sie sich<br />

unausweichbar den Ideen und <strong>der</strong> Moral <strong>der</strong> herrschenden Klasse. Aufgestiegen auf <strong>der</strong><br />

Schulter des Proletariats, wurde die Sozialdemokratie nur eine bürgertiche Partei zweiter<br />

Sorte. Der Bolschewismus hat den Typ des wahren <strong>Revolution</strong>ärs geschaffen, <strong>der</strong> den<br />

historischen, mit <strong>der</strong> bestehenden Gesellschaft nicht zu versöhnenden Zielen die Bedingungen<br />

seines persönlichen Daseins, seine Ideen, seine sittlichen Kriterien unterwirft.<br />

Die nötige Distanz zur bürgerlichen Ideologie wurde in <strong>der</strong> Partei durch die wachsame<br />

Unversöhnlichkeit, <strong>der</strong>en Inspirator Lenin war, aufrechterhalten. Er wurde nicht müde,<br />

mit <strong>der</strong> Lanzette zu arbeiten, um jene Bindungen zu zerschneiden, die die kleinbürgerliche<br />

Umgebung zwlschen Partei und offizieller öffentlicher Meinung schuf Gleichzeitig<br />

lehrte Lenin die Partei, sich eine eigene öffentliche Meinung zu formen, die sich auf<br />

Gedanken und Gefühle <strong>der</strong> emporsteigenden Klasse stützt. So schuf sich die bolschewistische<br />

Partei durch Auslese und Erziehung in ständigem Kampfe nicht nur ihr politisches,<br />

son<strong>der</strong>n auch ihr moralisches, von <strong>der</strong> bürgerlichen öffentlichen Meinung<br />

unabhängiges und dieser unversöhnlich entgegengesetztes Milieu. Nur dies allein hat den<br />

Bolschewiki ermöglicht, die Schwankungen in den eigenen Reihen zu überwinden und<br />

durch die Tat jene kühne Entschlossenheit zu entwickeln, ohne die <strong>der</strong> Oktobersieg nicht<br />

möglich gewesen wäre.<br />

Die Kunst des Aufstandes<br />

Die Menschen machen eine <strong>Revolution</strong> wie auch einen Krieg nicht gern. Der Unterschied<br />

jedoch ist, daß im Kriege die entscheidende Rolle <strong>der</strong> Zwang spielt; in <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> gibt es keinen Zwang, sieht man vom Zwang <strong>der</strong> Verhältnisse ab. Eine<br />

<strong>Revolution</strong> geschieht dann, wenn kein an<strong>der</strong>er Weg übrigbleibt. Der Aufstand, <strong>der</strong> sich<br />

über die <strong>Revolution</strong> erhebt wie ein Gipfel in <strong>der</strong> Bergkette, kann ebensowenig willkürlich<br />

hervorgerufen werden wie die <strong>Revolution</strong> in ihrer Gesamtheit. Die Massen vollziehen<br />

wie<strong>der</strong>holte Angriffe und Rückzüge, ehe sie sich zum entscheidenden Sturm<br />

entschließen.<br />

Die Verschwörung wird gewöhnlich als das planmäßige Unternehmen einer Min<strong>der</strong>heit<br />

dem Aufstande als <strong>der</strong> Elementarbewegung einer Mehrheit gegenübergestellt. Und<br />

in <strong>der</strong> Tat: <strong>der</strong> siegreiche Aufstand, <strong>der</strong> nur Sache einer Klasse sein kann, die berufen ist,<br />

sich an die Spitze <strong>der</strong> Nation zu stellen, ist seiner historischen Bedeutung und seinen<br />

Methoden nach durch einen Abgrund getrennt von <strong>der</strong> Umwälzung durch Verschwörer,<br />

die hinter dem Rücken <strong>der</strong> Massen handeln.<br />

Im Wesen birgt jede Klassengesellschaft genügend Wi<strong>der</strong>sprüche in sich, daß man in<br />

ihren Rissen eine Verschwörung bauen kann. Doch beweist die historische Erfahrung,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 650


daß immerhin ein bestimmter Krankheitsgrad <strong>der</strong> Gesellschaft nötig ist - wie in Spanien,<br />

Portugal, Südamerika -, damit die Verschwörerpolitik dauernd Nahrung findet. Eine<br />

reine Verschwörung kann selbst im Falle ihres Sieges nur die Ablösung einzelner<br />

Cliquen <strong>der</strong> gleichen regierenden Klasse an <strong>der</strong> Macht ergeben, o<strong>der</strong> noch weniger:<br />

Ablösung <strong>der</strong> Regierungsfiguren. Den Sieg eines sozialen Regimes über ein an<strong>der</strong>es hat<br />

in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> bisher nur <strong>der</strong> Massenaufstand gebracht. Während periodische<br />

Verschwörungen am häufigsten nur Ausdruck von Stillstand und Fäulnis <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

sind, entsteht dagegen <strong>der</strong> Volksaufstand gewöhnlich als Folge einer vorangegangenen<br />

schnellen, das alte Gleichgewicht <strong>der</strong> Nation erschütternden Entwicklung. Die<br />

chronischen "<strong>Revolution</strong>en" <strong>der</strong> südamerikanischen Republiken haben mit <strong>der</strong> permanenten<br />

<strong>Revolution</strong> nichts gemein, sie bilden vielmehr in gewissem Sinne ihren Gegensatz.<br />

Doch bedeutet das Gesagte keinesfalls, daß Volksaufstand und Verschwörung einan<strong>der</strong><br />

unter allen Umständen ausschließen. Das Element <strong>der</strong> Verschwörung ist in dem einen<br />

o<strong>der</strong> dem an<strong>der</strong>en Maße fast immer im Aufstande enthalten. Eine historisch bedingte<br />

Etappe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bildend, ist <strong>der</strong> Massenaufstand niemals rein elementar. Sogar<br />

wenn er für die Mehrzahl seiner Teilnehmer überraschend zum Ausbruch kommt, ist er<br />

von jenen Ideen befruchtet, in denen die Aufständischen Ausweg aus Daseinslasten<br />

erblicken. Doch kann man den Massenaufstand voraussehen und vorbereiten. Kann ihn<br />

im voraus organisieren. In diesem Falle ist die Verschwörung dem Aufstand<br />

unterworfen, sie dient ihm, erleichtert seinen Gang, beschleunigt seinen Sieg. Je höher<br />

die revolutionäre Bewegung ihrem politischen Niveau nach ist, je ernster ihre Führung,<br />

einen um so größeren Raum nimmt die Verschwörung im Volksaufstande ein.<br />

Richtig das Verhältnis zwischen Aufstand und Verschwörung, in ihrem Gegensatz wie<br />

in ihrem Sichergänzen, zu verstehen, ist um so notwendiger, als <strong>der</strong> Gebrauch des<br />

Wortes "Verschwörung" sogar in <strong>der</strong> marxistischen Literatur einen nach außen hin<br />

wi<strong>der</strong>spruchsvollen Charakter hat, je nachdem, ob es sich um das selbständige Unternehmen<br />

einer initiativen Min<strong>der</strong>heit handelt o<strong>der</strong> um den durch die Min<strong>der</strong>heit vorbereiteten<br />

Aufstand <strong>der</strong> Mehrheit.<br />

Die <strong>Geschichte</strong> zeigt allerdings, daß <strong>der</strong> Volksaufstand unter bestimmten Bedingungen<br />

auch ohne Verschwörung siegen kann. Entstanden "elementar", aus allgemeiner<br />

Empörung, vereinzelten Protesten, Demonstrationen, Streiks, Straßenzusammenstößen,<br />

kann <strong>der</strong> Aufstand einen Teil <strong>der</strong> Armee mitreißen, die Kräfte des Feindes paralysieren<br />

und die alte Macht stürzen. So bis zu einem gewissen Grade geschah dies im Februar<br />

1917 in Rußland. Ungefähr das gleiche Bild bot die Entwicklung <strong>der</strong> deutschen und <strong>der</strong><br />

österreichisch-ungarischen <strong>Revolution</strong> im Herbst 1918. Soweit in diesen Fällen an <strong>der</strong><br />

Spitze <strong>der</strong> Aufitändischen keine von den Interessen und Zielen des Aufstandes durch und<br />

durch erfüllte Partei stand, mußte sein Sieg unabwendbar die Macht in die Hände jener<br />

Parteien legen, die bis zum letzten Augenblick dem Aufstand entgegengewirkt hatten.<br />

Die alte Macht stürzen - ist eines. Die Macht übernehmen - ein an<strong>der</strong>es. Die Bourgeoisie<br />

ist in <strong>der</strong> Lage, in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Macht zu übernehmen, nicht weil sie revolutionär<br />

ist, son<strong>der</strong>n weil sie die Bourgeoisie ist: in ihren Händen befinden sich Besitz,<br />

Bildung, Presse, ein Netz von Stützpunkten, eine Hierarchie von Institutionen. An<strong>der</strong>s<br />

das Proletariat: bar jedes außerhalb seiner selbst liegenden sozialen Vorranges, kann das<br />

aufständische Proletariat nur auf seine zahlenmäßige Stärke, seine Geschlossenheit, seine<br />

Ka<strong>der</strong>, seinen Stab rechnen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 651


Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen,<br />

so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine<br />

für diese Aufgabe geeignete Organisation. In <strong>der</strong> Verknüpfung von Massenaufstand und<br />

Verschwörung, <strong>der</strong> Unterordnung <strong>der</strong> Verschwörung unter den Aufstand, <strong>der</strong> Organisierung<br />

des Aufstandes durch die Verschwörung besteht jenes komplizierte und verantwortliche<br />

Gebiet <strong>der</strong> revolutionären Politik, das Marx und Engels »die Kunst des Aufstandes«<br />

nannten. Sie setzt voraus eine richtige Gesamtführung <strong>der</strong> Massen, eine elastische Orientierung<br />

in den sich verän<strong>der</strong>nden Bedingungen, einen durchdachten Angriffsplan,<br />

Vorsicht bei <strong>der</strong> technischen Vorbereitung und Kühnheit beim Zuschlagen.<br />

Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche<br />

Massenbewegung, die - geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime - we<strong>der</strong> klare<br />

Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewußt zum Siege führende<br />

Leitung besitzt. Der elementare Aufstand genießt die wohlwollende Anerkennung <strong>der</strong><br />

offiziellen Historiker, wenigstens <strong>der</strong> demokratischen, als unabwendbares Übel, für das<br />

die Verantwortung auf das alte Regime fällt. Die wahre Ursache des Wohlwollens<br />

besteht darin, daß "elementare" Aufstände über die Rahmen des bürgerlichen Regimes<br />

nicht hinausgehen können.<br />

Die gleiche Bahn geht auch die Sozialdemokratie: sie verneint nicht die <strong>Revolution</strong> im<br />

allgemeinen, als soziale Katastrophe, wie sie Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, Sonnenfinstemisse<br />

und Pestepidemien nicht verneint. Was sie als "Blanquismus" o<strong>der</strong> noch<br />

schlimmer als Bolschewismus verneint, ist die bewußte Vorbereitung <strong>der</strong> Umwälzung,<br />

<strong>der</strong> Plan, die Verschwörung. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Sozialdemokratie ist bereit, allerdings<br />

post factum, jene Umwälzungen zu sanktionieren, die die Macht in die Hände <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie übergeben, verurteilt aber gleichzeitig unversöhnlich jene Methoden, die<br />

allein imstande sind, die Macht in die Hände des Proletariats zu übergeben. Unter dem<br />

scheinbaren Objektivismus verbirgt sich die Politik des Schutzes <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Gesellschaft.<br />

Aus den Beobachtungen und Betrachtungen über die Mißerfolge vieler Aufstände,<br />

<strong>der</strong>en Teilnehmer o<strong>der</strong> Zeuge er gewesen, leitete Auguste Blanqui eine Reihe taktischer<br />

Regeln ab, ohne <strong>der</strong>en Wahrung <strong>der</strong> Sieg des Aufstandes äußerst erschwert, wenn nicht<br />

gar unmöglich sei. Blanqui for<strong>der</strong>te rechtzeitige Schaffung regelrechter revolutionärer<br />

Abteilungen unter zentralisierter Leitung, <strong>der</strong>en regelrechte Ausrüstung, gut berechnete<br />

Verteilung <strong>der</strong> Barrikaden von bestimmter Konstruktion mit einer systematischen, nicht<br />

episodischen Verteidigung. Alle diese sich aus den Kriegsaufgaben des Aufstandes<br />

ergebenden Regeln müssen sich selbstverständlich unvermeidlich zusammen mit den<br />

sozialen Bedingungen und <strong>der</strong> Kriegstechnik verän<strong>der</strong>n; an sich aber sind sie keinesfalls<br />

"Blanquismus" in dem Sinne, wie dieser Begriff dem deutschen "Putschismus" o<strong>der</strong> dem<br />

revolutionären Abenteurertum nahesteht.<br />

Der Aufstand ist eine Kunst und hat wie jede Kunst seine Gesetze. Blanquis Regeln<br />

waren For<strong>der</strong>ungen des kriegsrevolutionären Realismus. Blanquis Irrtum bestand nicht in<br />

seinem direkten Theorem, son<strong>der</strong>n in dessen Umkehrung. Aus <strong>der</strong> Tatsache, daß die<br />

taktische Hilflosigkeit den Aufstand zum Untergang verurteilte, zog Blanqui die Schlußfor<strong>der</strong>ung,<br />

daß die Einhaltung <strong>der</strong> Regeln <strong>der</strong> Insurrektionstaktik an sich imstande sei,<br />

den Sieg zu sichern. Erst von da ab beginnt die berechtigte Gegenüberstellung von<br />

Blanquismus und Marxismus. Die Verschwörung ersetzt den Aufstand nicht. Die aktive<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 652


Min<strong>der</strong>heit des Proletariats, so gut sie auch organisiert sein mag, ist nicht fähig, unabhängig<br />

vom Gesamtzustande des Landes die Macht zu ergreifen: in diesem Sinne hat die<br />

<strong>Geschichte</strong> über den Blanquismus ihr Urteil gesprochen. Aber nur in diesem Sinne. Das<br />

direkte Theorem behält seine volle Geltung. Zur Machteroberung genügt dem Proletariat<br />

nicht <strong>der</strong> elementare Aufstand. Nötig ist die entsprechende Organisation, nötig <strong>der</strong> Plan,<br />

nötig die Verschwörung. So ist die Leninsche Fragestellung.<br />

Die von Engels geübte Kritik am Barrikadenfetischismus stützte sich auf die Evolution<br />

<strong>der</strong> allgemeinen und <strong>der</strong> militärischen Technik. Die Insurrektionstatistik des Blanquismus<br />

entsprach dem Charakter des alten Paris, des halb auf Handwerk fußenden Proletariats,<br />

<strong>der</strong> engen Straßen und des Militärsystems Louis Philipps. Der prinzipielle Irrtum des<br />

Blanquismus bestand in <strong>der</strong> Gleichsetzung von <strong>Revolution</strong> und Insurrektion, Der technische<br />

Irrtum des Blanquismus lag darin, daß er Insurrektion und Barrikade einan<strong>der</strong><br />

gleichsetzte. Die marxistische Kritik war gegen beide Irrtümer gerichtet. Einer Meinung<br />

mit dem Blanquismus, <strong>der</strong> Aufstand sei eine Kunst, deckte Engels indes nicht nur die<br />

untergeordnete Stellung des Aufstandes innerhalb <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf, son<strong>der</strong>n auch die<br />

schwindende Rolle <strong>der</strong> Barrikade im Aufstand, Engels' Kritik hatte nichts gemein mit<br />

Verzicht auf die revolutionären Methoden zugunsten des reinen Parlamentarismus, wie<br />

dies seinerzeit Philister <strong>der</strong> deutschen Sozialdemokratie unter Beihilfe <strong>der</strong> Hohenzollernzensur<br />

hinzustellen versuchten. Für Engels blieb die Frage <strong>der</strong> Barrikade die Frage nach<br />

einem <strong>der</strong> technischen Elemente des Umsturzes. Die Reformisten hingegen suchten aus<br />

<strong>der</strong> Verneinung einer entscheidenden Bedeutung <strong>der</strong> Barrikade die Verneinung <strong>der</strong><br />

revolutionären Gewalt überhaupt abzuleiten. Dies ist beinahe dasselbe, als wollte man<br />

aus Erwägungen über die wahrscheinlich abnehmende Bedeutung des Schützengrabens<br />

im künftigen Kriege auf den Zusammenbruch des Militarismus schließen.<br />

Die Organisation, mit <strong>der</strong>en Hilfe das Proletariat imstande ist, nicht nur die alte Macht<br />

zu stürzen, son<strong>der</strong>n auch sie abzulösen, sind die Sowjets. Was später Sache historischer<br />

Erfahrung wurde, war vor <strong>der</strong> Oktoberumwälzung theoretische, allerdings auf die einleitende<br />

Erfahrung von 1905 gestützte Prognose. Die Sowjets sind Organe <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

<strong>der</strong> Massen für den Aufstand, Organe des Aufstandes, und nach dem Siege - Organe<br />

<strong>der</strong> Macht.<br />

Freilich, die Sowjets an sich lösen die Frage noch nicht. In Abhängigkeit von<br />

Programm und Führung können sie verschiedenen Zwecken dienen. Das Programm wird<br />

den Sowjets von <strong>der</strong> Partei gegeben. Wenn die Sowjets unter den Bedingungen <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> - außerhalb <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sind sie überhaupt undenkbar - die gesamte<br />

Klasse erfassen, mit Ausnahme <strong>der</strong> gänzlich rückständigen, passiven o<strong>der</strong> demoralisierten<br />

Schichten, so stellt die revolutionäre Partei den Kopf <strong>der</strong> Klasse dar. Die Aufgabe <strong>der</strong><br />

Machteroberung kann nur gelöst werden durch eine bestimmte Verbindung von Partei<br />

und Sowjets o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, den Sowjets mehr o<strong>der</strong> weniger gleichwertigen Massenorganisationen.<br />

Der von <strong>der</strong> revolutionären Partei geführte Sowjet strebt bewußt und rechtzeitig die<br />

Machteroberung an. In Übereinstimmung mit den Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> politischen Situation<br />

und <strong>der</strong> Massenstimmungen bereitet er Stützpunkte des Aufstandes vor, verbindet<br />

die Stoßtruppen durch die Einheitlichkeit des Zieles, entwirft im voraus den Plan des<br />

Angriffs und des letzten Ansturms: dieses eben bedeutet, organisierte Verschwörung in<br />

den Massenaufstand hineinbringen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 653


Die Bolschewiki mußten mehr als einmal, schon lange vor <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, die<br />

von den Gegnern gegen sie gerichtete Beschuldigung des Verschwörertums und<br />

Blanguismus wi<strong>der</strong>legen. Indes hat niemand einen so unversöhnlichen Kampf gegen das<br />

System <strong>der</strong> reinen Verschwörung geführt wie Lenin. Die Opportunisten <strong>der</strong> internationalen<br />

Sozialdemokratie haben mehr als einmal die alte sozialrevolutionäre Taktik des<br />

individuellen Terrors gegen die Agenten des Zarismus in Schutz genommen vor <strong>der</strong><br />

erbarmungslosen Kritik <strong>der</strong> Bolschewiki, die dem individualistischen Abenteurertum <strong>der</strong><br />

Intelligenz den Kurs auf den Massenaufstand entgegenstellten. Während er jedoch alle<br />

Abarten des Blanquismus und Anarchismus verwarf hat Lenin sich keine Minute vor <strong>der</strong><br />

"Heiligkeit" <strong>der</strong> Massenspontaneität gebeugt. Er hat früher und tiefer als die an<strong>der</strong>en das<br />

Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Faktoren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, zwischen<br />

elementarer Bewegung und Parteipolitik, zwischen Volksmassen und fortgeschrittener<br />

Klasse, zwischen Proletariat und dessen Avantgarde, zwischen Sowjets und Partei,<br />

zwischen Aufstand und Verschwörung durchdacht.<br />

Aber wenn es richtig ist, daß man einen Aufstand nicht willkürlich hervorrufen kann,<br />

daß man ihn für den Sieg gleichzeitig organisieren muß, dann entsteht vor <strong>der</strong> revolutionären<br />

Führung die Aufgabe einer richtigen Diagnose: man muß rechtzeitig den anwachsenden<br />

Aufstand erfassen, um ihn durch die Verschwörung zu ergänzen. Die<br />

geburtshilfliche Einmischung in die Entbindungsqualen, so sehr dies Bild mißbraucht<br />

worden ist, bleibt dennoch die krasseste Illustration des bewußten Eingriffs in den<br />

elementaren Prozeß. Herzen hat erstmals seinen Freund Bakunin beschuldigt, dieser habe<br />

bei allen seinen revolutionären Vorhaben unabän<strong>der</strong>lich den zweiten Monat <strong>der</strong> Schwangerschaft<br />

für den neunten gehalten. Herzen selbst neigte eher dazu, die Schwangerschaft<br />

auch im neunten Monat zu bestreiten. Im Februar wurde die Frage des Geburtstermins<br />

fast überhaupt nicht gestellt, insoweit <strong>der</strong> Aufstand "überraschend" ohne zentralisierte<br />

Führung ausgebrochen war. Aber gerade deshalb ging die Macht nicht an jene über, die<br />

den Aufstand vollzogen, son<strong>der</strong>n an jene, die ihn gebremst hatten. Ganz an<strong>der</strong>s verhielt<br />

sich die Sache mit dem neuen Aufstand: er wurde bewußt von <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Partei vorbereitet. Die Aufgabe: den Moment für das Angriffssignal richtig zu erfassen,<br />

fiel somit dem bolschewistischen Stab zu.<br />

Das Wort "Moment" darf man nicht gar zu buchstäblich nehmen, als auf Tag und<br />

Stunde bestimmt: auch für die Geburt läßt die Natur eine beträchtliche Schwankungszeit<br />

zu, für <strong>der</strong>en Grenzen sich nicht nur die Kunst <strong>der</strong> Geburtshilfe interessiert, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Kasuistik des Erbrechts. Zwischen dem Moment, wo <strong>der</strong> Versuch, einen Aufstand<br />

hervorzurufen, sich unvermeidlich als noch verfrüht erweisen und zur revolutionären<br />

Fehlgeburt führen muß, und dem Moment, wo man die günstige Situation schon als<br />

hoffnungslos verpaßt betrachten muß, verläuft eine gewisse <strong>Revolution</strong>speriode - sie läßt<br />

sich nach Wochen, manchmal nach Monaten messen -, während <strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufstand mit<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann. Das Erfassen dieser<br />

verhältniismäßig kurzen Frist und die Wahl des Moments, bereits im präzisen Sinne von<br />

Tag und Stunde, für den letzten Schlag, stellen die revolutionäre Führung vor die verantwortungsvollste<br />

Aufgabe. Man kann sie mit vollem Recht als das Knotenproblem<br />

bezeichnen, denn sie verbindet die revolutionäre Politik mit <strong>der</strong> Technik des Aufstandes:<br />

muß man daran erinnern, daß <strong>der</strong> Aufstand wie <strong>der</strong> Krieg die Fortsetzung <strong>der</strong> Politik nur<br />

mit an<strong>der</strong>en Mitteln darstellt?<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 654


Intuition und Erfahrung sind für revolutionäre Leitung ebenso erfor<strong>der</strong>lich wie für alle<br />

an<strong>der</strong>en Gebiete des Schaffens. Aber dies genügt nicht. Auch die Kunst <strong>der</strong> Kurpfuscher<br />

kann sich nicht ohne Erfolg auf Intuition und Erfahrung stützen. Politische Kurpfuscherei<br />

reicht aber nur aus für Epochen o<strong>der</strong> Perioden, die im Zeichen <strong>der</strong> Routine stehen. Eine<br />

Epoche großer historischer Umwälzungen duldet keine Kurpfuscherei. Auch die von<br />

Intuition beseelte Erfahrung genügt ihr nicht. Es ist eine synthetische Doktrin erfor<strong>der</strong>lich,<br />

die die Wechselwirkung <strong>der</strong> wichtigsten historischen Kräfte umfaßt. Es ist die<br />

materialistische Methode erfor<strong>der</strong>lich, die es gestattet, hinter den chinesischen Schatten<br />

von Programmen und Parolen die wirkliche Bewegung <strong>der</strong> sozialen Körper zu<br />

entdecken.<br />

Grundvoraussetzung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist, daß sich das bestehende gesellschaftliche<br />

Regime als unfähig erweist, die lebensnotwendigen Aufgaben <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Nation zu lösen. Die <strong>Revolution</strong> wird aber nur dann möglich, wenn innerhalb <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

eine neue Klasse existiert, die zur Lösung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> gestellten<br />

Aufgaben an die Spitze <strong>der</strong> Nation zu treten vermag. Der Vorbereitungsprozeß <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> besteht darin, daß die objektiven, in den Wirtschafts- und Klassenwi<strong>der</strong>sprüchen<br />

enthaltenen Aufgaben sich im Bewußtsein <strong>der</strong> lebendigen Menschenmassen Bahn<br />

brechen, es verän<strong>der</strong>n und ein neues politisches Kräfteverhältnis schaffen.<br />

Die herrschenden Klassen verlieren infolge ihrer in <strong>der</strong> Tat offenbarten Unfähigkeit,<br />

das Land aus <strong>der</strong> Sackgasse herauszuführen, den Glauben an sich; die alten Parteien<br />

zerfallen; es entsteht ein erbitterter Kampf zwischen Gruppen und Cliquen; die Hoffnungen<br />

werden auf ein Wun<strong>der</strong> o<strong>der</strong> einen Wun<strong>der</strong>täter übertragen. All das bildet eine <strong>der</strong><br />

politischen Voraussetzungen des Umsturzes, eine äußerst wichtige, wenn auch passive.<br />

Erbitterte Feindschaft gegen die bestehende Ordnung und Bereitschaft, die heroischsten<br />

Anstrengungen und Opfer zu wagen, um das Land auf den Weg des Aufstieges<br />

hinauszufübren - dies ist das neue politische Bewußtsein <strong>der</strong> revolutionären Klasse, das<br />

die wichtigste aktive Voraussetzung <strong>der</strong> Umwälzung bildet.<br />

Die zwei Hauptlager - Großbesitz und Proletariat - erschöpfen jedoch die Nation nicht.<br />

Zwischen ihnen liegen die breiten Schichten <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie, die in allen Farben<br />

des ökonomischen und politischen Regenbogens schillern. Die Unzufriedenheit <strong>der</strong><br />

Zwischenschichten, ihre Enttäuschung an <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> regierenden Klasse, ihre<br />

Ungeduld und Empörung, ihre Bereitschaft, bilden die dritte politische Bedingung <strong>der</strong><br />

Umwälzung, eine teils passive, insofern sie die Spitze <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie neutralisiert,<br />

eine teils aktive, insofern sie <strong>der</strong>en untere Schichten in den direkten Kampf stößt, Seite<br />

an Seite mit den Arbeitern.<br />

Die gegenseitige Bedingtheit dieser Voraussetzungen ist offensichtlich: je entschlossener<br />

und sicherer das Proletariat handelt, um so mehr Möglichkeiten hat es, die Zwischenschichten<br />

mitzureißen, um so isolierter ist die herrschende Klasse, um so tiefergehend die<br />

Demoralisierung in <strong>der</strong>en Mitte. Und umgekehrt: <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> Herrschenden gießt<br />

Wasser auf die Mühle <strong>der</strong> revolulutionären Klasse.<br />

Von <strong>der</strong> für die Umwälzung notwendigen Zuversicht zu seinen Kräften kann das Proletariat<br />

nur erfüllt sein, wenn sich vor ihm eine klare Perspektive entrollt, wenn es die<br />

Möglichkeit besitzt, aktiv das sich zu seinen Gunsten verän<strong>der</strong>nde Kräfteverhältnis<br />

nachzuprüien, wenn es über sich eine weitblickende, feste und sichere Leitung fühlt. Das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 655


führt uns zu <strong>der</strong> - <strong>der</strong> Reihe, nicht aber <strong>der</strong> Bedeutung nach - letzten Bedingung <strong>der</strong><br />

Machteroberung: zur revolutionären Partei, als <strong>der</strong> eng verschmolzenen und gestählten<br />

Avantgarde <strong>der</strong> Klasse.<br />

Dank <strong>der</strong> günstigen Verknüpfüng historischer Bedingungen, innerer wie internationaler,<br />

erhielt das russische Proletariat an seine Spitze eine Partei von auflergewöhnlicher<br />

politischer Klarheit und beispielloser revolutionärer Stählung: nur dies allein gestattete<br />

<strong>der</strong> zahlenmäßig kleinen und jungen Klasse, eine dem Außmaße nach nie dagewesene<br />

historische Aufgabe zu erfüllen. Im allgemeinen erwies sich nach dem Zeugnis <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> - Pariser Kommune, deutsche und österreichische <strong>Revolution</strong> von 1918,<br />

Sowjetungarn und Bayern, italienische <strong>Revolution</strong> von 1919, deutsche Krise von 1923,<br />

chinesische <strong>Revolution</strong> von 1925 bis 1927, spanische <strong>Revolution</strong> von 1931 - als das<br />

schwächste Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Bedingungen bis jetzt das Parteiglied: für die Arbeiterklasse<br />

ist es am schwierigsten, eine revolutionäre, auf <strong>der</strong> Höhe ihrer historischen<br />

Aufgabe stehende Organisation zu schaffen. In den älteren und zivilisierten Län<strong>der</strong>n sind<br />

mächtige Kräfte am Werke zur Schwächung und Zersetzung <strong>der</strong> revolutionären Avantgarde.<br />

Einen wichtigen Bestandteil dieser Arbeit bildet <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

gegen "Blanquismus", unter welchem Namen das revolutionäre Wesen des Marxismus<br />

figuriert.<br />

Trotz <strong>der</strong> großen Zahl sozialer und politischer xrisen konnte man ein Zusammentreffen<br />

aller für eine siegreiche und wi<strong>der</strong>standsfähige proletarische Umwälzung notwendigen<br />

Bedingungen bis jetzt in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> nur einmal beobachten: im Oktober 1917 in<br />

Rußland. Eine revolutionäre Situation ist nicht von ewiger Dauer. Die schwankendste<br />

Voraussetzung <strong>der</strong> Umwälzung ist die Stimmung <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie. Während nationaler<br />

Krisen geht sie hinter jener Klasse, die ihr nicht durch Worte, son<strong>der</strong>n auch durch<br />

Taten Vertrauen einflößt. Fähig zum impulsiven Aufstieg, sogar zu revolutionärer<br />

Raserei, fehlt <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie Ausdauer, sie verliert bei Mißerfolg leicht den Mut<br />

und fällt aus flammenden Hoffnungen in Enttäuschung. Die scharfen und jähen Wechsel<br />

ihrer Stimmungen verleihen eben je<strong>der</strong> revolutionären Situation eine solche Unbeständigkeit.<br />

Ist die proletarische Partei nicht genügend entschlossen, um die Erwartungen und<br />

Hoffnungen <strong>der</strong> Volksmassen rechtzeitig in revolutionäre Handlung umzusetzen, wird<br />

die Flut schnell von <strong>der</strong> Ebbe abgelöst: die Zwischenschichten wenden ihre Blicke von<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ab und suchen die Retter im feindlichen Lager. Wie während <strong>der</strong> Flut das<br />

Proletariat die Kleinbourgeoisie mitreißt, so reißt während <strong>der</strong> Ebbe die Kleinbourgeoisie<br />

bedeutende Schichten des Proletariats mit. Dies ist die Dialektik <strong>der</strong> kommunistischen<br />

und faschistischen Wellen in <strong>der</strong> politischen Evolution Europas nach dem Kriege.<br />

Bemüht, sich auf den Marxschen Grundsatz zu stützen: kein Regime verschwindet von<br />

<strong>der</strong> Bühne, ehe es alle seine Möglichkeiten erschöpft hat, bestritten die Menschewiki die<br />

Zulässigkeit des Kampfes um die Diktatur des Proletariats im rückständigen Rußland, wo<br />

<strong>der</strong> Kapitalismus sich noch längst nicht erschöpft hatte. Diese Beurteilung enthielt zwei<br />

Irrtümer, von denen je<strong>der</strong> fatal war. Der Kapitalismus ist kein nationales, son<strong>der</strong>n ein<br />

Weltsystem. Der imperialistische Krieg und seine Folgen haben gezeigt, daß das System<br />

des Kapitalismus sich im Weltmaßstabe erschöpft hat. Die <strong>Revolution</strong> in Rußland war<br />

die Sprengung des schwächsten Gliedes im kapitalistischen Weltsystem.<br />

Aber das Irrige an <strong>der</strong> menschewistischen Konzeption offenbart sich auch unter dem<br />

nationalen Gesichtswinkel. Vom Standpunkte <strong>der</strong> ökonomischen Abstraktion läßt sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 656


vielleicht behaupten, daß <strong>der</strong> Kapitalismus in Rußland seine Möglichkeiten nicht<br />

erschöpft hatte. Aber die ökonomischen Prozesse verlaufen nicht im Äther son<strong>der</strong>n im<br />

konkreten historischen Milieu. Der Kapitalismus ist keine Abstraktion: er ist ein lebendiges<br />

System von Klassenbeziehungen, das vor allem einer Staatsmacht bedarf. Daß die<br />

Monarchie, unter <strong>der</strong>en Schutz sich <strong>der</strong> russische Kapitalismus entwickelte, ihre<br />

Möglichkeiten erschöpft hatte, bestritten auch die Menschewiki nicht. Die Februarrevolution<br />

versuchte ein staatliches Zwischenregime zu errichten. Wir haben seine<br />

<strong>Geschichte</strong> verfolgt: im Laufe von acht Monaten hatte es sich restlos erschöpft. Welche<br />

an<strong>der</strong>e Staatsordnung hätte denn unter diesen Umständen vermocht, die weitere Entwicklung<br />

des <strong>russischen</strong> Kapitalismus zu sichern?<br />

»Die bürgerliche Republik, verteidigt allein nur von <strong>Sozialisten</strong> <strong>der</strong> gemäßigten<br />

Strömungen, die im Volke keine Stütze fanden ..., konnte sich nicht halten. Ihr ganzer<br />

Kern war verwittert, es blieb nur die äußere Schale.« Diese treffende Charakteristik<br />

gehört Miljukow. Das Schicksal des verwitterten Systems mußte, nach sein Worten, das<br />

gleiche sein wie das Schicksal <strong>der</strong> Zarenmonarchie: »Beide haben den Boden für die<br />

<strong>Revolution</strong> vorbereitet, und am Tage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> fanden beide keinen einzigen Verteidiger.«<br />

Schon seit Juli-August charakterisierte Miljukow die Lage mit <strong>der</strong> Alternative <strong>der</strong> zwei<br />

Namen: Kornilow o<strong>der</strong> Lenin. Kornilow jedoch hatte bereits seine Erfahrung gemacht,<br />

die mit dem kläglichen Fiasko endete. Für das Kerenskiregime war jedenfalls kein Platz<br />

mehr übrig. Bei allem Unterschiede <strong>der</strong> Stimmungen, hezeugt Suchanow, »war gemeinsam<br />

nur <strong>der</strong> Haß für die Kerenskiade«. Wie sich die Zarenmonarchie am Ende auch in<br />

den Augen <strong>der</strong> Spitzen des Adels und sogar <strong>der</strong> Großfürsten unmöglich gemacht hatte, so<br />

wurde die Kerenskiregierung sogar den offenen lnspiratoren des Regimes, den "Großfürsten"<br />

<strong>der</strong> Versöhnlerspitze, verhaßt. In dieser allgemeinen Unzufriedenheit, in diesem<br />

heftigen politischen Unwohlsein aller Klassen besteht eines <strong>der</strong> wichtigsten Merkmale<br />

für die Reife <strong>der</strong> revolutionären Situation. So ist je<strong>der</strong> Muskel, je<strong>der</strong> Nerv, jede Fiber<br />

eines Organismus unerträglich gespannt, bevor ein schweres Geschwür durchbricht.<br />

Die Resolution des Julikongresses <strong>der</strong> Bolschewiki, die die Arbeiter vor vorzeitigen<br />

Zusammenstößen warnte, wies gleichzeitig daraufhin, daß man den Kampf werde<br />

aufnehmen müssen, »wenn die nationale Krise und <strong>der</strong> tiefe Massenaufstieg günstige<br />

Bedingungen für den Übergang <strong>der</strong> Armut in Stadt und Land auf die Seite <strong>der</strong> Arbeiter<br />

geschaffen haben wird«. Dieser Moment war im September-Oktober gekommen.<br />

Der Aufstand durfte von nun an auf Erfolg rechnen, da er sich auf die wahre Volksmehrheit<br />

stützen konnte. Dies ist selbstverständlich nicht formal zu verstehen. Würde<br />

man in <strong>der</strong> Frage des Aufstandes vorher eine Volksabstimmung veranstalten, sie ergäbe<br />

äußerst wi<strong>der</strong>spruehsvolle und schwankende Resultate. Die innere Bereitschaft, eine<br />

Umwälzung zu unterstützen, ist keinesfalls identisch mit <strong>der</strong> Fähigkeit, sich im voraus<br />

klare Rechenschaft über <strong>der</strong>en Notwendigkeit abzulegen. Außerdem wären die Antworten<br />

in hohem Maße von <strong>der</strong> Fragestellung selbst und von dem Organ, das die Umfrage<br />

leitet, ahhängig o<strong>der</strong>, einfacher gesagt, von <strong>der</strong> Klasse, die an <strong>der</strong> Macht steht.<br />

Die Methoden <strong>der</strong> Demokratie haben ihre Grenzen. Man kann alle Reisenden über den<br />

wünschenswertesten Wagentyp befragen, aber es ist nicht möglich, sie darüber zu befragen,<br />

ob man den in voller Fahrt befindlichen Zug, dem eine Katastrophe droht, bremsen<br />

soll. Indes, ist die Rettungsaktion geschickt und rechtzeitig vollzogen, darf man <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 657


Zustimmung <strong>der</strong> Passagiere im voraus gewiß sein.<br />

Parlamentarische Konsultationen des Volkes werden gleichzeitig vorgenommen,<br />

während in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die verschiedenen Schichten des Volkes zur gleichen Schlußfolgerung<br />

in unvermeidlichen, mitunter sehr geringen Zeitabständen gelangen. Indes die<br />

Avantgarde vor revolutionärer Ungeduld brannte, begannen die rückständigen Schichten<br />

sich erst zu rühren. In Petrograd und Moskau standen alle Massenorganisationen unter<br />

Führung <strong>der</strong> Bolschewiki; im Tambower Gouvernement, das eine Bevölkerung von über<br />

drei Millionen zählte, das heißt etwas weniger als beide Hauptstädte zusammen, tauchte<br />

die bolschewistische Fraktion erst kurz vor <strong>der</strong> Oktoberumwälzung zum ersten Male im<br />

Sowjet auf.<br />

Die Syllogismen <strong>der</strong> objektiven Entwicklung fallen keinesfalls - auf den Tag - mit den<br />

Syllogismen des Massendenkens zusammen. Und wird ein großer praktischer Entschluß<br />

durch den Gang <strong>der</strong> Dinge unaufschiebbar, läßt er am allerwenigsten eine Volksabstimmung<br />

zu. Niveau- und Stimmungsunterschiede <strong>der</strong> einzelnen Volksschichten werden<br />

durch die Aktion überwunden: die Fortgeschrittenen reißen die Schwankenden mit und<br />

isolieren die Wi<strong>der</strong>strebenden. Die Mehrheit wird nicht gezählt, son<strong>der</strong>n erobert. Der<br />

Aufstand reift gerade dann heran, wenn ein Ausweg aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen sich nur auf<br />

dem Wege <strong>der</strong> unmittelbaren Aktion eröffnet.<br />

Ohnmächtig, aus ihrem Krieg gegen die Gutsbesitzer die notwendigen politischen<br />

Schlußfolgerungen selbst zu ziehen, schloß sich die Bauernschaft allein durch die Tatsache<br />

des Agraraufstandes von vornherein dem Aufstand <strong>der</strong> Städte an, rief ihn hervor,<br />

for<strong>der</strong>te ihn. Sie bekundete ihren Willen nicht durch weiße Stimmzettel, son<strong>der</strong>n durch<br />

den roten Hahn: das war eine ernste Volksabstimmung. In den Grenzen, in denen die<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Bauernschaft für die Errichtung <strong>der</strong> Sowjetdiktatur erfor<strong>der</strong>lich war,<br />

hat sie auch bestanden. »Diese Diktatur«, erwi<strong>der</strong>te Lenin den Zweiflern, »würde den<br />

Bauern Land und den Bauernkomitees am Orte die ganze Macht geben: wie kann man,<br />

ohne verrückt zu sein, da noch zweifeln, daß die Bauern diese Diktatur unterstützen<br />

würden?« Damit die Soldaten, Bauern, unterdrückten Nationalitäten, herumirrend im<br />

Wirbel <strong>der</strong> Wahlzettel, die Bolschewiki wirklich kennenlernten, war notwendig, daß die<br />

Bolsehewiki die Macht ergriffen.<br />

Wie aber mußte das Kräfteverhälmis sein, um dem Proletariat die Machteroberung zu<br />

erlauben? »Im entscheidenden Augenblick am entscheidenden Punkte ein erdrückendes<br />

Kräfteübergewicht zu haben«, schrieb Lenin später, als er die Oktoberumwälzung erläuterte,<br />

»dieses Gesetz <strong>der</strong> Kriegserfolge ist auch das Gesetz des politischen Erfolges,<br />

beson<strong>der</strong>s in jenem erbitterten, stürmischen Klassenkrieg, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> heißt. Die<br />

Hauptstädte und überhaupt die großen Handels- und Industriezentren ... entscheiden in<br />

hohem Maße das politische Schicksal des Volkes, - selbstverständlich unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />

daß die Zentren von genügenden örtlichen Dorfkräften unterstützt werden, wenn es<br />

auch keine sofortige Unterstützung ist.« In diesem dynamischen Sinne sprach Lenin von<br />

<strong>der</strong> Mehrheit des Volkes. Und das war <strong>der</strong> einzige reale Sinn des Begriffes Mehrheit.<br />

Die demokratischen Gegner trösteten sich damit, daß das Volk,<br />

das mit den Bolschewiki geht, - nur Rohstoff historischer Lehm ist; Töpfer zu sein sind<br />

doch nur die Demokraten berufen unter Mitarbeit <strong>der</strong> gebildeten Bourgeois. »Sehen diese<br />

Menschen nicht«, fragte die menschewistische Zeitung, »daß das Petrogra<strong>der</strong> Proletariat<br />

und die Garnison noch niemals von allen an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Schichten so<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 658


isoliert gewesen waren?« Das Unglück des Proletariats und <strong>der</strong> Garnison bestand darin,<br />

daß sie von jenen Klassen "isoliert" waren, denen die Macht wegzunehmen sie sich<br />

anschickten.<br />

Konnte man sich tatsächlich ernsthaft auf die Sympathie und Unterstützung <strong>der</strong><br />

dunklen Massen <strong>der</strong> Provinz und Front verlassen? Ihr Bolschewismus, schrieb verächtlich<br />

Suchanow, »war nichts an<strong>der</strong>es als Haß gegen die Koalition und Sehnsucht nach<br />

Land und Frieden«. Als wäre das wenig! Haß gegen die Koalition bedeutete das Bestreben,<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie die Macht zu entreißen, Sehnsucht nach Land und Frieden war ein<br />

grandioses Programm, das Bauern und Soldaten verwirklichen wollten unter Führung <strong>der</strong><br />

Arbeiter. Die Nichtigkeit <strong>der</strong> Demokraten, sogar <strong>der</strong> linkesten, ergab sich aus dem<br />

Unglauben <strong>der</strong> "gebildeten" Skeptiker an die finsteren Massen, die die Ereignisse im<br />

großen sehen, ohne sich auf Details und Nuancen einzulassen. Das intelligenzlerische,<br />

talmi-aristokratische, verächtliche Verhalten zum Volke war dem Bolschewismus fremd,<br />

seiner Natur zuwi<strong>der</strong>. Die Bolschewiki waren keine Kiebitze, keine Schreibtischfreunde<br />

des Volkes, keine Pedanten. Sie fürchteten sich nicht vor jenen rückständigen Schichten,<br />

die zum ersten Male vom tiefsten Grunde emporstiegen. Die Bolschewiki nahmen das<br />

Volk so, wie es die vorangegangene <strong>Geschichte</strong> geschaffen hatte und wie es berufen war,<br />

die <strong>Revolution</strong> zu vollbringen. Ihre Mission erblickten die Bolschewiki darin, sich an die<br />

Spitze dieses Volkes zu stellen. Gegen den Aufstand waren »alle« außer den Bolschewiki.<br />

Die Bolschewiki aber - das war das Volk.<br />

Die tragende politische Kraft <strong>der</strong> Oktoberumwälzung war das Proletariat, und in ihm<br />

nahmen den ersten Platz die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter ein. In <strong>der</strong> Avantgarde <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

wie<strong>der</strong>um stand <strong>der</strong> Wyborger Bezirk. Der Aufstandsplan erwählte diesen ausschlaggebenden<br />

proletarischen Bezirk zur Ausgangsbasis füt die Entwicklung des Angriffs.<br />

Versöhnler aller Schattierungen, beginnend mit Martow, versuchten schon nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung den Bolschewismus als eine Soldatenströmung hinzustellen. Die europäische<br />

Sozialdemokratie griff freudig diese Theorie auf. Dabei wurden die grundlegenden<br />

historischen Tatsachen ignoriert: daß das Proletariat als erstes auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

überging; daß die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter den Arbeitern des ganzen Landes den Weg<br />

wiesen; daß Garnison und Front viel länger Stützpunkt <strong>der</strong> Versöhnler blieben; daß<br />

Sozialrevolutionäre und Menschewiki im Sowjetsystem verschiedentliche Privilegien für<br />

die Soldaten zum Schaden <strong>der</strong> Arbeiter geschaffen, gegen die Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter<br />

gekämpft und die Soldaten gegen sie gehetzt hatten; daß nur unter dem Einfluß <strong>der</strong><br />

Arbeiter ein Umschwung in den Truppen sich vollzog; daß die Führung <strong>der</strong> Soldaten im<br />

entscheidenden Augenblick in den Händen <strong>der</strong> Arbeiter lag; schließlich, daß ein Jahr<br />

später die Sozialdemokratie in Deutschland nach dem Beispiel ihrer <strong>russischen</strong> Gesinnungsgenossen<br />

sich im Kampfe gegen die Arbeiter auf die Soldaten stützte.<br />

Gegen Herbst hatten die rechten Versöhnler endgültig die Möglichkeit eingebüßt, in<br />

Fabriken und Kasernen aufzutreten. Die linken jedoch versuchten noch, die Massen vom<br />

Wahnsinn des Aufstandes zu überzeugen. Martow, <strong>der</strong> im Kampfe gegen die im Juli<br />

angreifende Konterrevolution einen Pfad zum Bewußtsein <strong>der</strong> Massen gefunden hatte,<br />

verrichtete jetzt wie<strong>der</strong>um eine hoffnungslose Sache. »Wir können nicht damit rechnen«,<br />

gestand er selbst am 14. Oktober in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees, »daß die<br />

Bolschewiki auf uns hören werden.« Nichtsdestoweniger erblickte er seine Pflicht darin,<br />

»die Massen zu warnen«. Die Massen aber verlangten nach Taten, nicht nach Belehrun-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 659


gen. Sogar in den Fällen, wo sie verhältnismäßig geduldig einen bekannten Warner<br />

anhörten, »dachten sie sich weiter das Ihre«, gesteht Mstislawski. Suchanow erzählt, wie<br />

er unter regnerischem Himmel die Putilower zu überzeugen versuchte, daß die Sache<br />

sich ohne Aufstand gutmachen lasse. Er wurde von ungeduldigen Stimmen unterbrochen.<br />

Zwei - drei Minuten hörte man zu, unterbrach dann wie<strong>der</strong>. »Nach einigen Versuchen<br />

gab ich die Sache auf. Es kam nichts dabei heraus ..., <strong>der</strong> Regen aber fiel immer stärker<br />

auf uns.« Unter dem unfreundlichen Oktoberhimmel sehen die armen linken Demokraten<br />

sogar in ihrer eigenen Schil<strong>der</strong>ung wie nasse Hühner aus.<br />

Beliebtes politisches Argument <strong>der</strong> "linken" Gegner <strong>der</strong> Umwälzung wurde, auch unter<br />

den Bolschewiki, <strong>der</strong> Hinweis auf das Fehlen des Kampfwillens in den unteren<br />

Schichten. »Die Stimmung <strong>der</strong> Werktätigen- und <strong>der</strong> Soldatenmassen«, schrieben<br />

Sinowjew und Kamenjew am 11. Oktober, »erinnert nicht einmal an die Stimmung vor<br />

dem 3' Juli.« Das hatte seine Gründe: unter dem Petrogra<strong>der</strong> Proletariat herrschte eine<br />

gewisse Nie<strong>der</strong>geschlagenheit infolge des zu langen Wartens. Es setzte eine Enttäuschung<br />

ein, auch an den Bolschewiki: sollten auch sie betrügen? Am 16. Oktober sagte<br />

Rachia, einer <strong>der</strong> aktivsten Petrogra<strong>der</strong> Bolschewiki, <strong>der</strong> Abstammung nach Finne, in <strong>der</strong><br />

Sitzung des Zentralkomitees: »Offensichtlich verspätet sich unsere Losung, denn es<br />

bestehen Zweifel, ob wir das tun werden, wozu wir aufrufen.« Doch die Müdigkeit vom<br />

Warten, die nach Erschlaffung aussah, währte nur bis zum ersten Kampfsignal.<br />

Die Aufgabe jedes Aufstandes besteht zunächst darin, auf seine Seite die Truppen<br />

herüberzuziehen. Dazu eben dienen hauptsächlich Generalstreik, Massenaufzüge,<br />

Straßenzusammenstöße, Bar-rikadenkämpfe. Die beson<strong>der</strong>e, nie und nirgends zuvor in<br />

solcher Vollendung beobachtete Eigenart <strong>der</strong> Oktoberumwälzung bildet die Tatsache,<br />

daß es <strong>der</strong> proletarischen Avantgarde infolge glücklicher Fügung <strong>der</strong> Umstände gelang,<br />

die Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt noch vor Beginn des offenen Aufstandes auf ihre Seite<br />

hinüberzuziehen; und nicht nur hinüberzuziehen, son<strong>der</strong>n diesen Gewinn auch durch die<br />

Garnisonberatung organisatorisch zu verankern. Man kann die Mechanik <strong>der</strong><br />

Oktoberumwälzung nicht begreifen, ohne sich vollständig darüber klarzusein, daß die<br />

wichtigste, im voraus am schwierigsten zu berechnende Aufgabe des Aufstandes in<br />

Petrograd im Kern bereits vor dem Beginn des bewaffneten Kampfes gelöst war.<br />

Das heißt jedoch nicht, daß <strong>der</strong> Aufstand sich erübrigt hatte. Auf seiten <strong>der</strong> Arbeiter<br />

war zwar die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Garnison; eine Min<strong>der</strong>heit aber war gegen die<br />

Arbeiter, gegen die Umwälzung, gegen die Bolschewiki. Diese kleine Min<strong>der</strong>heit<br />

bestand aus den qualifiziertesten Elementen <strong>der</strong> Armee: Offizieren, Junkern, Stoßbrigadlern,<br />

vielleicht auch Kosaken. Politisch waren diese Elemente nicht zu erobern: man<br />

mußte sie besiegen. Der letzte Teil <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung, <strong>der</strong> in die <strong>Geschichte</strong><br />

eben unter dem Namen Oktoberaufstand eingegangen ist, hatte somit rein militärischen<br />

Charakter. Entscheiden mußten auf <strong>der</strong> letzten Etappe Gewehre, Bajonette, Maschinengewehre,<br />

vielleicht auch Kanonen. Auf diesen Weg führte die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />

Welches waren die milit~ tischen Kräfte des bevorstehenden Zusammenstoßes? Boris<br />

Sokolow, <strong>der</strong> die militärische Arbeit <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei leitete, erzählt, daß<br />

in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Umwälzung vorangegangenen Periode »in den Regimentern alle Parteiorganisationen<br />

außer den bolschewistischen auseinan<strong>der</strong>fielen und die Bedingungen für Schaffung<br />

neuer Organisationen keinesfalls günstig waren. Die Stimmung <strong>der</strong> Soldaten war<br />

zwar ausgesprochen bolschewistisch, doch ihr Bolschewismus war passiv, und es fehlten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 660


ihnen alle Tendenzen zur aktiven bewaffneten Erhebung.« Sokolow versäumt nicht<br />

hinzuzufügen: »Ein bis zwei zuverlässige und kampffähige Regimenter hätten genügt, um<br />

die ganze Garnison in Gehorsam zu halten.« Durchwegs allen, von den monarchistischen<br />

Generalen bis zu den "sozialistischen" Intellektuellen, fehlten gegen die proletarische<br />

<strong>Revolution</strong> »ein bis zwei Regimenter«. Aber es ist richtig, daß die Garnison, in ihrer<br />

überwältigenden Masse <strong>der</strong> Regierung tief kindlich, auch auf seiten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

nicht kampffähig gewesen wäre. Der Grund lag in <strong>der</strong> unüberbrückbaren Kluft zwischen<br />

<strong>der</strong> alten Militärstruktur <strong>der</strong> Truppenteile und ihrer neuen politischen Struktur. Rückgrat<br />

einer kampffähigen Truppe bildet <strong>der</strong> Kommandobestand. Dieser war gegen die Bolschewiki.<br />

Das politische Rückgrat <strong>der</strong> Truppenteile stellten die Bolschewiki dar. Sie aber<br />

vermochten nicht nur nicht das Kommando auszuüben, sie wußten in <strong>der</strong> Mehrzahl auch<br />

schlecht mit <strong>der</strong> Waffe umzugehen. Die Soldatenmasse war nicht einheitlich. Die<br />

aktiven, kampffähigen Elemente bildeten, wie immer, die Min<strong>der</strong>heit. Die Mehrheit <strong>der</strong><br />

Soldaten sympathisierte mit den Bolschewiki, stimmte für sie, wählte sie, erwartete aber<br />

von ihnen auch die Lösung. Den Bolschewiki feindliche Elemente waren in den<br />

Truppenteilen zu verschwindend gering, um irgendeine Initiative zu wagen. Die politische<br />

Verfassung <strong>der</strong> Garnison war somit für den Aufstand außerordentlich günstig. Aber<br />

das Gewicht ihres Kampfgeistes war nicht groß, das war von vornherein sichtbar.<br />

Doch die Garnison völlig von <strong>der</strong> Kampfwaage hinunterzuwerfen, war keineswegs<br />

notwendig. Tausende von Soldaten, bereit, auf seiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu kämpfen, waren<br />

zerstreut unter <strong>der</strong> passiveren Masse, die sie gerade deshalb mehr o<strong>der</strong> weniger mitzogen.<br />

Einzelne Truppenteile von glücklicherer Zusammensetzung bewahrten Disziplin und<br />

Kampffähigkeit. Man traf feste revolutionäre Kerne auch in gelockerten Regimentern. Im<br />

6. Reservebataillon mit einer Gesamtzahl von etwa zehntausend Mann zeichnete sich<br />

unter den fünf Kompanien die erste stets aus, galt fast von Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an als<br />

bolschewistisch und zeigte sich in den Oktobertagen auf <strong>der</strong> Höhe. Die Durchschnittsregimenter<br />

<strong>der</strong> Garnison existierten als geschlossene Regimenter zwar nicht, ihr Verwaltungsmechanismus<br />

war desorganisiert: sie waren zu einer andauernden<br />

Kampfanstrengung unfähig; doch waren dies immerhin Anhäufungen bewaffneter<br />

Menschen, von denen die Mehrzahl bereits im Feuer gewesen. Alle Truppen verband<br />

eine gemeinsame Stimmung: so schnell wie möglich Kerenski stürzen, heimkehren und<br />

eine neue Bodenordnung einführen. So mußte die völlig in Auflösung befindliche Garnison<br />

in den Oktobertagen sich noch einmal zusammenschließen und eindrucksvoll mit den<br />

Waffen rasseln, ehe sie endgültig auseinan<strong>der</strong>stob.<br />

Welche Macht stellten, vom militärischen Standpunkte gesehen, die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />

dar? Das ist die Frage nach <strong>der</strong> Roten Garde. Es ist nun an <strong>der</strong> Zeit, Ausführlicheres<br />

über sie zu sagen: ihr steht bevor, in den nächsten Tagen in die große historische Arena<br />

zu treten.<br />

Mit ihren Traditionen in das Jahr 1905 zurückreichend, erlebte die Arbeitergarde ihre<br />

Wie<strong>der</strong>geburt zusammen mit <strong>der</strong> Februar-revolution und teilte in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong>en Schicksalswandlungen.<br />

Komilow, <strong>der</strong> damalige Oberbefehishaber des Petrogra<strong>der</strong> Miiitärbezirkes,<br />

behauptete, es seien in den Tagen des Sturzes <strong>der</strong> Monarchie aus den Artillerielagern<br />

dreißigtausend Revolver und vierzigtausend Gewehre weggeschwommen. Eine große<br />

Anzahl von Waffen geriet überdies in die Hände des Volkes bei Entwaffnung <strong>der</strong> Polizei<br />

durch befreundete Regimenter. Der Auffor<strong>der</strong>ung, die Waffen abzuliefern, kam niemand<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 661


nach. Die <strong>Revolution</strong> lehrt die Flinte schätzen. Den organisierten Arbeitern fiel jedoch<br />

nur ein ganz geringer Teil dieses Gutes anheim.<br />

In den ersten vier Monaten stand die Frage des Aufstandes über-haupt nicht vor den<br />

Arbeitern. Das demokratische Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft gab den Bolschewiki die<br />

Möglichkeit, in den Sowjets die Mehrheit zu erobern. Bewaffnete Arbeitermannschaften<br />

bildeten einen Bestandteil <strong>der</strong> demokratischen Miliz. Aber es war doch mehr Form als<br />

Inhalt. Die Flinte in <strong>der</strong> Hand des Arbeiters bedeutete ein ganz an<strong>der</strong>es historisches<br />

Prinzip als die gleiche Flinte in <strong>der</strong> Hand des Studenten.<br />

Daß die Arbeiter im Besitze von Waffen waren, beunruhigte die besitzenden Klassen<br />

von Anfang an, da dies das Kräfteverhältnis in den Betrieben zusehends verschob. In<br />

Petrograd, wo <strong>der</strong> Staatsapparat, unterstützt vom Zentral-Exekutivkomitee, anfangs eine<br />

unbestrittene Macht darstellte, war die Arbeitermiliz noch nicht so bedrohlich fühlbar. In<br />

den Industriebezirken <strong>der</strong> Provinz jedoch bedeutete die Festigung <strong>der</strong> Arbeitergarde eine<br />

Umwälzung aller Verhältnisse nicht nur innerhalb des Unternehmens, son<strong>der</strong>n auch in<br />

seiner weiteren Umgebung. Bewaffnete Arbeiter setzten Meister und Ingenieure ab,<br />

nahmen sogar Verhaftungen vor. Auf Beschluß von Fabrikversammlungen wurde den<br />

Rotgardisten nicht selten aus den Betriebskassen Löhnung gezahlt. Im Ural, mit seinen<br />

reichen Traditionen des Partisanenkampfes aus dem Jahre 1905, führten die Mannschaften<br />

unter Leitung <strong>der</strong> alten Kämpfer Ordnung ein. Bewaffnete Arbeiter liquidierten fast<br />

unbemerkt die offizielle Macht und ersetzten sie durch Organe <strong>der</strong> Sowjets. Durch die<br />

Sabotage seitens <strong>der</strong> Besitzer und Administratoren fiel den Arbeitern <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong><br />

Betriebe zu; <strong>der</strong> Maschinen, Lager, Kohle- und Rohstoffvorräte. Die Rollen hatten<br />

gewechselt. Der Arbeiter hielt fest das Gewehr in <strong>der</strong> Hand zur Verteidigung <strong>der</strong> Fabrik,<br />

in <strong>der</strong> er die Quelle seiner Macht sah. So bildeten sich in Betrieben und Bezirken<br />

Elemente <strong>der</strong> Arbeiterdiktatur heraus, bevor noch das Proletariat in seiner Gesamtheit die<br />

Macht im Staate erobert hatte.<br />

Wie stets die Ängste <strong>der</strong> Besitzenden wi<strong>der</strong>spiegelnd, wirkten die Versöhnler mit aller<br />

Kraft <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung in den Hauptstädten entgegen und reduzierten sie auf ein<br />

Minimum. Nach Minitschjew bestanden die gesamten Waffen des Narwaer Bezirkes<br />

»aus etwa fünfzehn Gewehren und einigen Revolvern«. In <strong>der</strong> Stadt häuften sich unterdessen<br />

Gewaltakte und Plün<strong>der</strong>ungen. Von überall trafen beunruhigende Gerüchte ein,<br />

Vorboten neuer Erschütterungen. Am Vorabend <strong>der</strong> Julidemonstration hatte man<br />

erwartet, daß <strong>der</strong> Bezirk in Brand gesteckt werden würde. Die Arbeiter suchten nach<br />

Waffen, klopften an alle Türen, brachen sie zuweilen auch auf.<br />

Von <strong>der</strong> Demonstration des 3. Juli hatten die Putilower eine Trophäe herangeschleppt:<br />

ein Maschinengewehr und fünf Kisten Munitionsgürtel. »Wir freuten uns wie Kin<strong>der</strong>«,<br />

erzählt Minitschjew. Einzelne Betriebe waren besser bewaffnet. Nach Litschkows<br />

Worten waren die Arbeiter seiner Fabrik im Besitze von achtzig Gewehren und zwanzig<br />

großen Revolvern. Das war schon ein Reichtum! Durch den Stab <strong>der</strong> Roten Garde erhielten<br />

sie zwei Maschinengewehre; das eine wurde im Speiseraum, das an<strong>der</strong>e auf dem<br />

Dach aufgestellt. »Unser Vorgesetzter«, erzählt Litsehkow, »war Kotscherowski, seine<br />

nächsten Gehilfen - Tomtschak, von den Weißgardisten in den Oktobertagen bei Zarskoje<br />

Selo ermordet, und Jefimow, von den weißen Banden bei Jamburg erschossen.« Die<br />

knappen Zeilen gewähren einen Blick in die Fabrik-laboratorien, wo die Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Oktoberumwälzung und <strong>der</strong> späteren Roten Armee sieh formierten, ausgewählt wurden,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 662


Kommandoführung lernten, wo die Tomtschak und Jefimow, die Hun<strong>der</strong>te und Tausende<br />

namenloser Arbeiter gestählt wurden, die die Macht eroberten, sie unter Selbstaufopferung<br />

gegen die Feinde verteidigten und später auf allen Schlachtfel<strong>der</strong>n fielen.<br />

Die Juliereignisse verän<strong>der</strong>ten jäh die Lage <strong>der</strong> Roten Garde. Die Entwaffnung <strong>der</strong><br />

Arbeiter geschieht bereits vollkommen offen, nicht mehr durch Ermahnungen, son<strong>der</strong>n<br />

mit Gewaltanwendung. Unter dem Schein <strong>der</strong> Waffen liefern jedoch die Arbeiter nur den<br />

alten Kram aus. Alles Wertvollere wird sorgfältigst versteckt. Gewehre werden zuverlässigen<br />

Parteimitglie<strong>der</strong>n anvertraut. Maschinengewehre eingefettet in die Erde vergraben.<br />

Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde verschwinden und tauchen in Illegalität unter, sich enger<br />

den Bolschewiki anschließend.<br />

Die Sache <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung konzentrierte sich ursprünglich in den Händen von<br />

Fabrik- und Bezirkskomitees <strong>der</strong> Partei. Nachdem sie sich von <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung<br />

erholt hat, geht die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, die früher nur in <strong>der</strong><br />

Garnison und an <strong>der</strong> Front gearbeitet hatte, zum ersten Male an den Aufbau <strong>der</strong> Roten<br />

Garde, indem sie den Arbeitern militärische Instruktoren und in einigen Fällen auch<br />

Waffen liefert. Die von <strong>der</strong> Partei aufgestellte Perspektive des bewaffneten Aufstandes<br />

bereitet allmählich die fortgeschrittenen Arbeiter auf die neue Bestimmung <strong>der</strong> Roten<br />

Garde vor. Das ist bereits keine Miliz <strong>der</strong> Fabriken und Arbeiterviertel, son<strong>der</strong>n es sind<br />

Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong> zukünftigen Aufstandsarmee.<br />

Im August häufen sich Brände in Fabriken und Werkstätten. Je<strong>der</strong> heranrückenden<br />

Krise geht eine Konvulsion des Kollektiv-bewußtseins voraus, die sich durch eine Welle<br />

<strong>der</strong> Beunruhigung ankündigt. Die Fabrikkomitees entwickeln eine intensive Tätigkeit<br />

zum Schutze <strong>der</strong> Betriebe gegen Attentate. Die versteckten Gewehre kommen wie<strong>der</strong><br />

hervor. Der Kornilowaufstand legalisiert endgültig die Rote Garde. In die Mannschaftslisten<br />

tragen sich etwa fünfundzwanzigtausend Arbeiter ein, die freilich nicht durchwegs -<br />

mit Gewehren, teils mit Maschinengewehren ausgerüstet werden können. Die Arbeiter<br />

<strong>der</strong> Schlüsselburger Pulverfabrik liefern über die Newa einen Schleppkahn voll Granaten<br />

und Explosivstoffe: gegen Kornilow! Das Versöhnler-Zentral-Exekutivkomitee verzichtet<br />

auf das Danaergeschenk. Die Rotgardisten <strong>der</strong> Wyborger Seite belieferten in <strong>der</strong><br />

Nacht die Bezirke mit den gefährlichen Gaben.<br />

»Der Unterricht in <strong>der</strong> Kunst des Waffengebrauchs, früher in Wohnungen und<br />

Kämmerchen ausgeübt«, erzählt <strong>der</strong> Arbeiter Skorinko, »wurde ins Helle und Freie, in<br />

Gärten, in Boulevards verlegt.« - »Die Werkstatt verwandelte sich in ein Lager«, erinnert<br />

sich <strong>der</strong> Arbeiter Rakitow. »... Hinter den Werkbänken stehen Dreher, über die Schulter<br />

die Patronentasche, das Gewehr an <strong>der</strong> Werkbank.« In <strong>der</strong> Granatenwerkstatt schreiben<br />

sich bald alle in die Garde ein, außer den alten Sozialrevolutionären und Menschewiki.<br />

Nach Arbeitsschluß stellen sie sich im Hof zum Unterricht auf »Es stehen nebeneinan<strong>der</strong><br />

bärtiger Arbeiter und Lehrling, und beide lauschen aufrnerksam auf den Instruktor ...«<br />

Während die alten zaristischen Heere endgültig auseinan<strong>der</strong>fielen, wurde in den Fabriken<br />

das Fundament <strong>der</strong> späteren Roten Armee gelegt.<br />

Sobald die Kornilowgefahr vorbei war, begannen die Versöhnler die Erfüllung ihrer<br />

Verpflichtungen zu bremsen: für die dreißigtausend Putilower wurden insgesamt<br />

dreihun<strong>der</strong>t Gewehre ausgegeben. Bald wurde die Waffenausgabe überhaupt eingestellt:<br />

die Gefahr rückte jetzt nicht von rechts heran, son<strong>der</strong>n von links; man mußte nun Schutz<br />

suchen nicht bei den Proletariern, son<strong>der</strong>n bei den Junkern.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 663


Fehlen eines unmittelbaren praktischen Zieles und Mangel an Waffen brachten ein<br />

Abfluten <strong>der</strong> Arbeiter von <strong>der</strong> Roten Garde. Doch war dies nur eine kurze Atempause.<br />

Kernka<strong>der</strong> haben sich unterdessen in jedem Betrieb zusammengeschlossen. Zwischen<br />

den einzelnen Mannschaften bildeten sich feste Verbindungen heraus. Die Ka<strong>der</strong> wissen<br />

aus Erfahrung, daß sie ernsthafte Reserven besitzen, die in <strong>der</strong> Stunde <strong>der</strong> Gefahr auf die<br />

Beine gebracht werden können.<br />

Der Übergang des Sowjets in die Hände <strong>der</strong> Bolschewiki verän<strong>der</strong>t radikal die Lage<br />

<strong>der</strong> Roten Garde. Bisher gehetzt und geduldet, wird sie offizielles Organ des Sowjets, <strong>der</strong><br />

bereits die Hand nach <strong>der</strong> Macht ausstreckt. Die Arbeiter finden nicht selten selbst den<br />

Weg zu den Waffen und verlangen vom Sowjet nur noch dessen Sanktion. Seit Ende<br />

September, beson<strong>der</strong>s seit dem 10. Oktober, steht die Vorbereitung des Aufstandes offen<br />

auf <strong>der</strong> Tagesordnung. Einen Monat vor <strong>der</strong> Umwälzung finden in einigen Dutzend<br />

Fabriken und Werkstätten Petrograds intensive militärische Übungen statt, hauptsächlich<br />

Schießunterricht. Um die Oktobermitte erklimmt das Interesse für die Waffen eine neue<br />

Höhe. In einigen Betrieben tragen sich fast alle in die Mannschaftsliste ein. Immer<br />

ungeduldiger verlangen die Arbeiter vom Sowjet Waffen, doch gibt es viel weniger<br />

Flinten, als Hände sich danach ausstrecken. »Ich kam täglich in den Smolny«, erzählt <strong>der</strong><br />

ingenieur Kosmin, »und beobachtete, wie vor und nach <strong>der</strong> Sowjet-sitzung Arbeiter und<br />

Matrosen an Trotzki herantraten, Waffen zur Ausrüstung <strong>der</strong> Arbeiter anbietend o<strong>der</strong><br />

for<strong>der</strong>nd, berichterstattend, wo und wie diese Waffen verteilt sind, und fragend: "Wann<br />

geht's nun los?" Die Ungeduld war groß ...«<br />

Formell bleibt die Rote Garde parteilos. Doch je näher zur Entscheidung, um so mehr<br />

rücken in den Vor<strong>der</strong>grund Bolschewiki: sie bilden den Kern je<strong>der</strong> Mannschaft, in ihren<br />

Händen liegen Kommandoapparat und Verbindung mit den an<strong>der</strong>en Betrieben und Bezirken.<br />

Parteilose Arbeiter und linke Sozialrevolutionäre gehen mit den Bolschewiki.<br />

Jedoch auch jetzt, am Vorabend des Aufstandes, sind die Reihen <strong>der</strong> Garde nicht<br />

zahlreich. Am 16. schätzte Uritzki, Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, das<br />

Arbeiterheer Petrograds auf vierzigtausend Bajonette. Die Zahl ist eher übertrieben. Die<br />

Hilfsquellen <strong>der</strong> Bewaffnung blieben noch immer sehr beschränkt: bei aller Ohnmacht<br />

<strong>der</strong> Regierung konnte man nicht an<strong>der</strong>s in den Besitz <strong>der</strong> Arsenale gelangen als auf dem<br />

Wege des offenen Aufstandes.<br />

Am 22. tagte eine Stadtkonferenz <strong>der</strong> Roten Garde: hun<strong>der</strong>t Delegierte vertraten etwa<br />

zwanzigtausend Kämpfer. Die Zahl darf man nicht zu buchstäblich nehmen: nicht alle<br />

Eingetragenen entwickelten Aktivität; dafür aber ergoß sich in die Abteilungen in<br />

Augenblicken des Alarms ein breiter Strom Freiwilliger. Die am nächsten Tag von <strong>der</strong><br />

Konferenz angenommenen Statuten bezeichnen die Rote Garde als »Organisation <strong>der</strong><br />

bewaffneten Kräfte des Proletariats zum Kampfe gegen die Konterrevolution und zur<br />

Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>serrungenschaften«. Man beachte dies: noch vierundzwanzig<br />

Stunden vor dem Aufstande wird die Aufgabe in den Termini <strong>der</strong> Verteidigung, nicht<br />

aber des Angriffs ausgedrückt.<br />

Grundkampfeinheit ist die Zehnergruppe; vier Zehnergruppen sind ein Zug; drei Züge<br />

eine Mannschaft; drei Mannschaften - ein Bataillon. Mit dem Kommandobestand und<br />

den Fachgruppen zählt ein Bataillon über fünfhun<strong>der</strong>t Mann. Die Bataillone eines<br />

Bezirks bilden eine Abteilung. In großen Fabrlken, wie im Putilowwerk, werden eigene<br />

Abteilungen aufgestellt. Technische Son<strong>der</strong>kommandos (Minenwerfer, Radfahrer,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 664


Telegraphisten, Maschinengewehrschützen, Artilleristen) werden in den entsprechenden<br />

Betrieben angeworben und entwe<strong>der</strong> den Schützenabteilungen zugeteilt, o<strong>der</strong> sie operieren<br />

selbständig, je nach dem Charakter <strong>der</strong> Aufgabe. Der gesamte Kommandobestand ist<br />

wählbar. Dies bildet keine Gefahr: hier sind alle Freiwillige, und alle kennen einan<strong>der</strong><br />

gut.<br />

Die Arbeiterinnen gründen Sanitätsabteilungen. In <strong>der</strong> Fabrik kriegsmedininischer<br />

Bedarfsartikel werden Vorlesungen über Verwundetenpflege angekündigt. »Fast schon<br />

in allen Fabriken«, schreibt Tatjana Graf, »tun Arbeiterinnen, mit dem notwendigen<br />

Verbandstoff versehen, als Sanitäterinnen Wachtdienst.« Die Organisation ist äußerst<br />

arm an Geld und technischen Mitteln. Nach und nach beginnen die Fabrikkomitees für<br />

die Sanitätspunkte und die fliegenden Abteilungen Material zu schicken. In den Stunden<br />

<strong>der</strong> Umwälzung werden sich die schwachen Zellen sehr schnell entwickeln: sie erhalten<br />

sofort bedeutende technische Mittel zur Verfügung gestellt. Am 24. wird <strong>der</strong> Wyborger<br />

Bezirkssowjet anordnen: »Unverzüglich alle Automobile requirieren ... eine Bestandaufnahme<br />

aller ambulatorischen Verbandsmittel durchführen und in den Ambulatorien<br />

Wachen errichten.«<br />

Immer mehr parteilose Arbeiter strömten zu Schießübungen und Manövern. Die Zahl<br />

<strong>der</strong> Überwachungsposten wuchs. In den Fabriken hielt man Tag und Nacht Wache. Die<br />

Stäbe <strong>der</strong> Roten Garde übersiedelten in größere Räume. In <strong>der</strong> Trubotschny<br />

(Röhren)-Fabrlk fand am 23. ein Examen <strong>der</strong> Rotgardisten statt. Der Versuch eines<br />

Menschewiken, gegen die Erhebung zu sprechen, geht im Entrüstungssturm unter:<br />

genug, die Zeit des Diskutierens ist vorbei! Die Bewegung ist unaufhaltsam, sie reißt<br />

auch Menschewiki mit. Sie »tragen sich bei <strong>der</strong> Roten Garde ein«, erzählt Tatjana Graf<br />

»übernehmen die verschiedensten Aufträge und entwickeln sogar Initiative«. Skorinko<br />

schil<strong>der</strong>t, wie sich am 23. in einer Abteilung Sozialrevolutionäre und Menschewiki,<br />

junge wie alte, mit den Bolschewiki verbrü<strong>der</strong>ten und wie er, Skorinko selbst, sich vor<br />

Freude mit seinem Vater, einem Arbeiter <strong>der</strong> gleichen Fabrik, umarmte. Der Arbeiter<br />

Peskowoj erzählt: in <strong>der</strong> bewaffneten Abteilung »waren jugendliche Arbeiter, etwa<br />

sechzehnjährige, und alte, etwa fünftigjährige«. Die Buntheit <strong>der</strong> Lebensalter verlieh<br />

»Mut und Kampfgeist«.<br />

Die Wyborger Seite bereitet sich beson<strong>der</strong>s eifrig auf die Kämpfe vor. Man bemächtigt<br />

sich <strong>der</strong> Schlüssel zu den beweglichen Brücken, die auf die Wyborger Seite führen,<br />

erforscht die schwachen Stellen des Bezirkes, wählt ein eigenes militärisches <strong>Revolution</strong>skomitee,<br />

die Betriebskomitees errichten einen ständigen Wachtdienst. Mit berechtigtern<br />

Stolz schreibt Kajurow über die Wyborger: »Sind als erste in den Kampf gegen das<br />

Selbstherrschertum gegangen, haben als erste in ihrem Bezirk den Achtstundent4 eingeführt,<br />

als erste gegen die zehn Minister-Kapitalisten bewaffnet demonstriert, als erste am<br />

7. Juli einen Protest gegen die Verfolgung unserer Partei angenommen und waren nicht<br />

die letzten am entscheidenden Tage des 25. Oktober.« Was wahr ist, ist wahr!<br />

Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Roten Garde ist zum großen Teil die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Doppelherrschaft:<br />

durch ihre inneren Wi<strong>der</strong>sprüche und Zusammenstöße hat diese es den Arbeitern<br />

erleichtert, schon vor dem Aufstande eine beachtenswerte bewaffnete Macht zu schaffen.<br />

Die Gesamtzahl <strong>der</strong> Arbeiterabteilungen des ganzen Landes im Augenblick des Aufstandes<br />

zu berechnen - ist eine kaum durchführbare Aufgabe, wenigstens im gegenwärtigen<br />

Moment. Jedenfalls waren es Zehntausend und aber Zehntausend bewaffneter Arbeiter,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 665


die die Ka<strong>der</strong> des Aufstandes bildeten. Die Reserven waren fast unerschöpflich.<br />

Die Organisation <strong>der</strong> Roten Garde war natürlich von Vollkommenheit weit entfernt.<br />

Alles wurde in Hast, im rohen, nicht immer geschickt gemacht. Die Rotgardisten waren<br />

in <strong>der</strong> Mehrzahl wenig ausgebildet, <strong>der</strong> Verbindungsdienst ungenügend organisiert, die<br />

Ausrüstung hinkte, <strong>der</strong> Sanitätsanteil ließ vieles zu wünschen übrig. Doch zusammengesetzt<br />

aus den opfermütigsten Arbeitern, brannte die Rote Garde im Verlangen, diesmal<br />

den Kampf zu Ende zu führen. Das hat auch den Ausschlag gegeben.<br />

Der Unterschied zwischen den Arbeiterabteilungen und den Bauernregimentern war<br />

nicht allein durch den sozialen Bestand <strong>der</strong> einen und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en bestimmt. Viele dieser<br />

schwerfälligen Soldaten werden, nachdem sie in ihre Dörfer zurückgekehrt sind und das<br />

gutsherrliche Land untereinan<strong>der</strong> verteilt haben, zuerst in Partisanenabteilungen, dann in<br />

<strong>der</strong> Roten Armee verzweifelt gegen die Weißgardisten kämpfen. Neben dem sozialen<br />

Unterschied besteht ein an<strong>der</strong>er, unmittelbarerer: während die Garnison eine zwangsweise<br />

Anhäufung alter, gegen den Krieg sich wehren<strong>der</strong> Soldaten ist, sind die Abteilungen<br />

<strong>der</strong> Roten Garde neue Gebilde, geschaffen durch persönliche Auswahl, auf neuer<br />

Basis, im Namen neuer Ziele.<br />

Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee verfügt noch über eine dritte Gattung bewaffneter<br />

Kräfte: die Seeleute <strong>der</strong> Baltischen Flotte. Nach ihrer sozialen Zusammensetzung<br />

stehen sie den Arbeitern näher als die Infanterie. Unter ihnen sind nicht wenige Petrogra<strong>der</strong><br />

Arbeiter. Das politische Niveau <strong>der</strong> Seeleute ist unvergleichlich höher als das <strong>der</strong><br />

Soldaten. Zum Unterschiede von den unkriegerischen Reservisten, denen das Gewehr<br />

etwas längst Vergessenes war, hatten die Seeleute den aktiven Dienst nie unterbrochen.<br />

Für aktive Operationen konnte man fest rechnen mit den bewaffneten Kommunisten,<br />

den Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde, dem fortgeschrittenen Teil <strong>der</strong> Matrosen und den<br />

intakt gebliebenen Regimentern. Die Elemente dieser kombinierten Armee ergänzten<br />

einan<strong>der</strong>. Der zahlreichen Garnison fehlte es am Willen zum Kampfe. Den Matrosenabteilungen<br />

an Zahlenstärke. Der Roten Garde an Übung. Die Arbeiter zusammen mit den<br />

Seeleuten brachten Energie, Kühnheit, Schwung hinein. Die Regimenter <strong>der</strong> Garnison<br />

bildeten eine wenig bewegliche Reserve, die durch Zahl imponierte und durch Masse<br />

erdrückte.<br />

Tagein, tagaus mit den Arbeitern, Soldaten und Matrosen in Berührung kommend,<br />

legten sich die Bolschewiki klar Rechenschaft ab über die tiefen qualitativen Unterschiede<br />

in den Bestandteilen jener Armee, die in den Kampf zu führen ihnen bevorstand.<br />

Auf <strong>der</strong> Berechnung dieser Unterschiede baute sich auch in hohem Maße <strong>der</strong><br />

Aufstandsplan auf.<br />

Die soziale Kraft des an<strong>der</strong>en Lagers bildeten die besitzenden Klassen. Das heißt sie<br />

bildeten seine militärische Schwäche. Die soliden Männer des Kapitals, <strong>der</strong> Presse, des<br />

Kathe<strong>der</strong>s, wo und wann hatten sie gekämpft? Die Resultate <strong>der</strong> Kämpfe, die ihr Schicksal<br />

entschieden, waren sie gewohnt telephonisch o<strong>der</strong> telegraphisch zu erfahren. Und die<br />

jüngere Generation, Söhne, Studenten? Sie waren fast durchwegs <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

feind. Doch in ihrer Mehrzahl warteten sie, gemeinsam mit den Vätern, beiseitestehend<br />

den Ausgang <strong>der</strong> Kämpfe ab. Ein Teil schloß sich später den Offizieren und<br />

Junkem an, die sich auch früher im hohen Maße aus <strong>der</strong> Studentenschaft rekrutiert<br />

hatten. Volk stand hinter den Besitzenden nicht. Arbeiter, Soldaten, Bauern kehrten sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 666


gegen sie. Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Versöhnlerparteien bedeutete, daß die besitzenden<br />

Klassen ohne Armee geblieben waren.<br />

Entsprechend <strong>der</strong> hohen Bedeutung <strong>der</strong> Eisenbahnschienen im Leben mo<strong>der</strong>ner Staaten<br />

nahm in den politischen Berechnungen bei<strong>der</strong> Lager einen großen Platz die Frage <strong>der</strong><br />

Eisenbahner ein. Die hierarchische Zusammensetzung des Dienstpersonals gab einer<br />

außerordentlichen politischen Buntheit Raum und schuf somit günstige Bedingungen für<br />

die Diplomaten des Versöhnlertums. Die spät entstandene Eisenbahner-Gewerkschaft<br />

(Wikschel) hatte unter den Angestellten und sogar unter den Arbeitern viel festere<br />

Wurzeln als zum Beispiel die Armeekomitees an <strong>der</strong> Front. Mit den Bolschewiki ging<br />

nur eine Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Eisenbahner, hauptsächlich die Depot- und Werkstättenarbeiter.<br />

Nach dem Bericht von Schmidt, einem <strong>der</strong> bolschewistischen Führer <strong>der</strong> Gewerkschaftsbewegung,<br />

standen <strong>der</strong> Partei am nächsten die Eisenbahner <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und<br />

Moskauer Knotenpunkte.<br />

Aber auch unter <strong>der</strong> versöhnlerisehen Masse <strong>der</strong> Angestellten und Arbeiter vollzog<br />

sich eine schroffe Wendung nach links mit dem Augenblick des Eisenbahnerstreiks Ende<br />

September. Die Unzufriedenheit mit dem Wikschel, <strong>der</strong> sich durch Lavieren kompromittiert<br />

hatte, wuchs von unten immer entschiedener an. Lenin vermerkte: »Die Armeen <strong>der</strong><br />

Eisenbahn- und Postangestellten verharren in scharfem Konflikt mit <strong>der</strong> Regierung.«<br />

Vom Standpunkte <strong>der</strong> unmittelbaren Aufgaben des Aufstandes genügte dies beinahe.<br />

Weniger günstig verhielt sich die Sache im Post- und Telegraphenamt. Nach den<br />

Worten des Bolschewiken Bokij »sitzen an den Telegraphenapparaten meist Kadetten«.<br />

Doch das untere Personal stellte sich auch hier in feindlichen Gegensatz zu den<br />

Oberschichten. Unter den Briefträgern bestand eine Gruppe, bereit, im heißen Augenblick<br />

das Amt zu besetzen.<br />

Alle Eisenbahn- und Postangestellten durch Worte umzustimmen, wäre jedenfalls ein<br />

hoffnungsloses Unternehmen gewesen. Bei Unentschlossenheit <strong>der</strong> Bolschewiki würden<br />

das Übergewicht die Kadetten- und Versöhnlerspitzen behalten haben. Bei entschlossener<br />

revolutionärer Führung mußten die unteren Schichten die Zwischengruppen unweigerlich<br />

mitreißen und die Spitze des Wikschel isolieren. Für revolutionäre Berechnungen<br />

genügt die Statistik allein nicht: es ist <strong>der</strong> Koeffizient <strong>der</strong> lebendigen Tat erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Die Gegner des Aufstandes in den Reihen <strong>der</strong> bolschewistischen Partei selbst fanden<br />

immerhin Grund genug für pessimistische Schlußfolgerungen. Sinowjew und Kamenjew<br />

warnten vor Ünterschätzung <strong>der</strong> gegnerischen Kräfte. »Es entscheidet Petrograd, in<br />

Petrograd aber besitzen die Feinde ... bedeutende Kräfte: fünftausend Junker, vorzüglich<br />

bewaffnet und im Schlagen geübt, dann <strong>der</strong> Stab, dann die Stoßbrigadler, dann die<br />

Kosaken, dann ein bedeuten<strong>der</strong> Teil <strong>der</strong> Garnison, dann eine sehr beträchtliche, fächerartig<br />

um Petrograd gruppierte Artillerie. Ferner werden die Gegner bestimmt versuchen,<br />

mit Hilfe des Zentral-Exekutivkomitees Truppen von <strong>der</strong> Front heranzubringen ...« Die<br />

Aufzählung klingt imposant, es ist aber nur eine Aufzählung. Ist die Armee als Ganzes<br />

ein Abbild <strong>der</strong> Gesellschaft, so stellen, tritt <strong>der</strong> Fall ihrer offenen Spaltung ein, beide<br />

Armeen Abbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> kämpfenden Lager dar. Die Armee <strong>der</strong> besitzenden Klasse trug in<br />

sich den Wurmstich <strong>der</strong> Isoliertheit und des Zerfalls.<br />

Die Offiziere, die die Hotels, Restaurants und Spelunken überschwemmten, standen<br />

nach dem Bruch zwischen Kerenski und Kornilow zu <strong>der</strong> Regierung feindlich. Unermeß-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 667


lich schärfer war allerdings ihr Haß gegen die Bolschewiki. Im allgemeinen zeigten die<br />

größte Aktivität auf seiten <strong>der</strong> Regierung die monarchistischen Offiziere. »Teuerste<br />

Kornilow und Krymow, was euch nicht gelang, wird mit Gottes Hilfe vielleicht uns gelingen<br />

...«, ist das Gebet des Offiziers Sinegub, eines <strong>der</strong> ruhmreichsten Verteidiger des<br />

Winterpalais am Tage <strong>der</strong> Umwälzung. Tatsächliche Kampfbereitschaft aber haben, trotz<br />

<strong>der</strong> zahlenmäßigen Stärke des Offizierkorps, nur einzelne bewiesen. Schon die Kornilowsche<br />

Verschwörung hatte offenbart, daß das restlos demoralisierte Offizierkorps<br />

keinerlei Kampfmacht darstellte.<br />

Die soziale Zusammensetzung <strong>der</strong> Junker ist nicht einheitlich. Einmütigkeit gibt es<br />

unter ihnen nicht. Neben den erblichen Militärs, Offizierssöhnen und -enkeln, sind da<br />

nicht wenig zufällige Elemente, zusammengebracht unter dem Druck <strong>der</strong> Kriegsbedürfnisse<br />

noch zur Zeit <strong>der</strong> Monarchie. Der Leiter <strong>der</strong> militärischen Ingenieurschule sagt zum<br />

Offizier: »Ich und du müssen zugrunde gehen ... wir sind doch Adelige und können nicht<br />

an<strong>der</strong>s denken.« Von den demokratischen Junkern reden diese großsprecherischen<br />

Herren, die dem adeligen Zugrundegehen mit Erfolg auszuweichen wußten, wie von<br />

Knoten, Muschiks »mit groben, stumpfen Gesichtern«. Die Scheidung in rotes und<br />

blaues Blut dringt tief in die Junkerschulen ein, wobei auch hier als eifrigste Hüter <strong>der</strong><br />

republikanischen Regierung gerade jene auf-treten, die die Monarchie am stärksten<br />

betrauern. Die demokratischen Junker erklären, sie seien nicht für Kerenski, son<strong>der</strong>n für<br />

das Zentral-Exekutivkomitee. Die <strong>Revolution</strong> hatte zum ersten Male die Türen <strong>der</strong><br />

Junkerschulen den Juden geöffnet. Bemüht, den privilegierten Spitzen nicht nachzustehen,<br />

benehmen sich die Söhnchen <strong>der</strong> jüdischen Bourgeoisie äußerst kriegerisch gegen<br />

die Bolschewiki. Aber ach, das genügt nicht nur nicht für die Rettung des Regimes,<br />

son<strong>der</strong>n auch nicht für die Verteidigung des Winterpalais. Die bunte Zusammensetzung<br />

<strong>der</strong> Kriegsschulen und ihr völliges Losgetrenntsein von <strong>der</strong> Armee führte dazu, daß in<br />

den kritischen Stunden auch die Junker anfingen, Meetings abzuhalten: was werden die<br />

Kosaken tun? wird außer uns noch jemand den Kampf aufnehmen? und lohnt es sich<br />

überhaupt, sich für die Provisorische Regierung zu schlagen?<br />

Nach Podwojskis Bericht zählte man Anfang Oktober in den Petrogra<strong>der</strong> Kriegsschulen<br />

insgesamt etwa hun<strong>der</strong>tundzwanzig Junker-<strong>Sozialisten</strong>, darunter zweiundvierzig bis<br />

dreiundvierzig Bolschewiki. »Die Junker sagen, <strong>der</strong> gesamte Kommandohestand <strong>der</strong><br />

Schulen sei konterrevolutionär gestimmt. Sie werden ausgesprochen darauf gedrillt, im<br />

Falle einer Erhebung den Aufstand zu unterdrücken ... « Die Zahl <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> und<br />

beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Bolschewiki ist, wie wir sehen, verschwindend gering. Doch verschaffen<br />

sie dem Smolny die Möglichkeit, über alles Wesentliche, was bei den Junkern geschieht,<br />

unterrichtet zu sein. Zur Vervollständigung des Ganzen ist die Topographie <strong>der</strong> Kriegsschulen<br />

sehr ungünstig: die Junker sind eingepfercht zwischen Kasernen, und obwohl sie<br />

von den Soldaten verächtlich sprechen, schauen sie sich doch ängstlich nach ihnen um.<br />

Grund zur Angst gibt es genug. Aus den benachbarten Kasernen und den Arbeitervierteln<br />

werden dte Junker von Tausenden feindlicher Augen beobachtet. Diese Überwachung<br />

ist um so wirksamer, als in je<strong>der</strong> Schule ein Soldatenkommando besteht, das in<br />

Worten Neutralität wahrt, in <strong>der</strong> Tat aber zu den Aufständischen hinneigt. Die Lager <strong>der</strong><br />

Schulen sind in Händen <strong>der</strong> Bedienungsmannschaft. »Diese Lümmel«, schreibt ein<br />

Offizier <strong>der</strong> Ingenieurschule »hatten nicht nur die Lagerschlüssel verloren so daß ich<br />

Befehl erteilen mußte, die Türe aufzubrechen, son<strong>der</strong>n auch die Schlösser von den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 668


Maschinengewehren abgenommen und versteckt.« In dieser Atmosphäre kann man von<br />

den Junkern schwer Wun<strong>der</strong> an Heroismus erwarten.<br />

Drohte dem Petrogra<strong>der</strong> Aufstand nicht ein Schlag von außen, von den Nachbargarnisonen?<br />

Noch in den letzten Tagen ihres Daseins hatte die Monarchie nicht aufgehört, auf<br />

den kleinen militärischen Ring zu hoffen, <strong>der</strong> die Hauptstadt umgab. Die Monarchie hatte<br />

sich verrechnet. Aber wie wird es diesmal sein? Solche Bedingungen zu sichern, die jede<br />

Gefahr ausschließen, hieße den Aufstand selbst überflüssig machen: sein Ziel ist ja, die<br />

Hin<strong>der</strong>nisse zu brechen, die sich politisch nicht auflösen lassen. Man kann nicht alles im<br />

voraus berechnen. Aber alles, was man berechnen konnte, war berechnet.<br />

Anfang Oktober fand in Kronstadt eine Sowjetkonferenz des Petrogra<strong>der</strong> Gouvernements<br />

statt. Die Delegierten <strong>der</strong> Garnisonen <strong>der</strong> Hauptstadtperipherie - Gatschina,<br />

Zarskoje, Krassnoje, Oranienbaum, Kronstadt selbst - intonierten die höchsten Töne,<br />

nach <strong>der</strong> Stimmgabel <strong>der</strong> Baltischen Matrosen. Ihrer Resolution schloß sich <strong>der</strong> Sowjet<br />

<strong>der</strong> Bauerndeputierten des Petrogra<strong>der</strong> Gouvernements an: die Muschiks lenkten schroff<br />

um, über die linken Sozialrevolutionäre zu den Bolschewiki.<br />

In <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees am 16. Oktober gab ein Funktionär aus dem<br />

Gouvernement, Stepanow, ein etwas buntes Bild vom Kräfteverhältnis im Gouvernement<br />

immerhin in überwiegend bolschewistischen Farben. In Sestrorezk und Kolpino bewaffnen<br />

sich die Arbeiter, die Stimmung ist kampffroh. In Novij Peterhof hören die Übungen<br />

im Regiment auf; das Regiment ist desorganisiert. In Krassnoje Selo ist das 176.<br />

Regiment bolsehewistisch (das gleiche, das am 4. Juli am Taurischen Palais die Wachen<br />

besetzte); das 172. Regiment ist auf seiten <strong>der</strong> Bolschewiki; »aber außerdem ist dort<br />

auch Kavallerie«. In Luga hat die dteißigtausendköpfige Garnison eine Wendung in die<br />

Richtung zum Bolschewismus gemacht, ein Teil schwankt; <strong>der</strong> Sowjet ist noch immer für<br />

Landesverteidigung. Das Regiment in Gdowa - bolschewistisch. In Kronstadt ist die<br />

Stimmung gesunken; die Garnison war in den vorangegangenen Monaten zu überschäumend,<br />

<strong>der</strong> beste Teil <strong>der</strong> Matrosen ist bei <strong>der</strong> aktiven Flotte. In Schlüsselburg, sechzig<br />

Werst von Petrograd entfernt, ist <strong>der</strong> Sowjet schon lange die einzige Macht geworden;<br />

die Arbeiter <strong>der</strong> Pulverfabrik sind je<strong>der</strong>zeit bereit, die Hauptstadt zu unterstützen.<br />

In Verbindung mit den Resultaten <strong>der</strong> Kronstädter Sowjetkonferenz kann man die<br />

Angaben über die Reserven ersten Aufgebots als durchaus ermutigend betrachten. Die<br />

Ausstrahlungen des Februaraufstandes hatten genügt, um die Disziplin im weiten<br />

Umkreise aufzulösen. Um so zuversichtlicher konnte man auf die <strong>der</strong> Hauptstadt nächstgelegenen<br />

Garnisonen jetzt blicken, wo ihre Verfassung im voraus genügend bekannt<br />

war.<br />

Zu den Reserven zweiten Aufgebots gehören die Truppen Finnlands und <strong>der</strong><br />

Nordfront. Hier steht die Sache noch günstiger. Smilgas, Antonows und Dybenkos<br />

Arbeit hat unschätzbare Resultate ergeben. Gemeinsam mit <strong>der</strong> Helsingforser Garnison<br />

hatte sich die Flotte auf dein Territorium Finnlands in eine souveräne Macht verwandelt.<br />

Die Regierung besaß dort nicht die geringste Gewalt. Die nach Helsingfors gebrachten<br />

zwei Kosakendivisionen - von Kornilow für den Schlag gegen Petrograd ausersehen -<br />

hatten sich inzwischen den Matrosen eng genähert und unterstützten die Bolschewiki<br />

o<strong>der</strong> die linken Sozialrevolutionäre, die sich in <strong>der</strong> Baltischen Flotte immer weniger von<br />

den Bolschewiki unterschieden.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 669


Helsingfors reichte seinen Arm den Seeleuten <strong>der</strong> Revaler Basis, <strong>der</strong>en Stimmung bis<br />

dahin unentschedener war. Der Sowjetkongreß des Norddistrikts, wohl ebenfalls auf<br />

Initiative <strong>der</strong> Baltischen Flotte einberufen, vereinigte die Sowjets <strong>der</strong> um Petrograd<br />

liegenden Garnisonen in so weitem Ünikreise, daß er auf <strong>der</strong> einen Seite Moskau, auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Archangelsk erfaßte. »Auf diese Weise«, schreibt Antonow, »wurde die Idee<br />

verwirklicht, die Hauptstadt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu panzern gegen eventuelle Überfälle <strong>der</strong><br />

Kerenskischen Truppen.« Smilga kehrte vom Kongreß nach Helsingfors zurück, um aus<br />

Matrosen, Infanteristen und Artilleristen eine Son<strong>der</strong>abteilung zusammenzustellen für<br />

den Abtransport nach Petrograd aufs erste Signal hin. Die finnländische Flanke des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes war aufs beste gesichert. Von dort war nicht ein Schlag, son<strong>der</strong>n<br />

nur starke Hilfe zu erwarten.<br />

Aber auch an den an<strong>der</strong>en Frontabschnitten war alles günstig, jedenfalls viel günstiger,<br />

als es sich in jenen Tagen die optimistischsten Bolschewiki vorstellten. Während des<br />

Oktober fanden in <strong>der</strong> Armee Neuwahlen <strong>der</strong> Komitees statt, überall mit scharfer<br />

Wendung in Richtung zu den Bolschewiki. Im Armeekorps bei Dwinsk fielen die »alten<br />

vernünftigen Soldaten« bei den Wahlen zu den Regiments und Kompaniekomitees durch;<br />

ihre Stelle nahmen »düstere graue Subjekte ... mit bösen bohrenden Augen und Wolfsschnauzen«<br />

ein. An den an<strong>der</strong>en Abschnitten geschah das gleiche. Ȇberall finden<br />

Neuwahlen <strong>der</strong> Komitees statt, überall werden nur Bolschewiki und Defätisten gewählt.«<br />

Die Regierungskommissare begannen den Reisen zu den Truppenteilen auszuweichen:<br />

»jetzt ist ihre Lage nicht besser als die unsrige«. Wir zitieren Baron Budberg. Zwei<br />

Kavallerieregimenter seines Korps, ein Husaren- und ein Uraler Kosakenregiment, die<br />

am längsten in den Händen <strong>der</strong> Kommandeure verharrt und die Teilnahme an die Unterdrückung<br />

aufständischer Regimenter nicht verweigert hatten, kamen auf einmal ins<br />

Schwanken und verlangten, daß man sie »von <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Unterdrücker und Gendarruen<br />

befreie«. Des bedrohlichen Sinnes dieser Warnung war sich <strong>der</strong> Baron klarer als<br />

sonst jemand. »Man kann über einen Haufen Hyänen, Schakale und Schafe nicht mittels<br />

Geigenspielens verfügen«, schrieb er, »... Rettung besteht nur in <strong>der</strong> Möglichkeit einer<br />

Massenanwendung glühenden Eisens.« Und sogleich ein tragisches Geständnis: »das<br />

nicht vorhanden und nicht zu erlangen ist«.<br />

Wenn wir ähnliche Aussagen über an<strong>der</strong>e Korps und Divisionen nicht anführen, so nur<br />

deshalb, weil <strong>der</strong>en Führer nicht solche Beobachtungsgabe besaßen wie Baron Budberg<br />

o<strong>der</strong> keine Tagebücher führten, o<strong>der</strong> aber weil diese Tagebücher noch nicht an die<br />

Oberfläche gedrungen sind. Doch unterschied sich das Korps bei Dwinsk außer durch<br />

den krassen Stil seines Kommandeurs in nichts Wesentlichem von den an<strong>der</strong>en Korps <strong>der</strong><br />

5. Armee, die ihrerseits den an<strong>der</strong>en Armeen nur wenig vorauseilte.<br />

Das schon längst in <strong>der</strong> Luft hängende Versöhnlerkomitee <strong>der</strong> 5. Armee fuhr fort,<br />

telegraphische Drohungen nach Petrograd zu senden- mit dem Bajonett Ordnung schaffen<br />

zu wollen. »Das ist alles nur Prahlerei und Lufterschütterung«, schreibt Budberg.<br />

Das Komitee lebte in Wirklichkeit seine letzten Tage. Am 23. wurde es neu gewählt.<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> des neuen, bolschewistischen Komitees wurde Doktor Skljanski, ein ausgezeichneter<br />

junger Organisator, <strong>der</strong> bald danach seine Begabung auf dem Gebiete des<br />

Aufbaues <strong>der</strong> Roten Armee weitgehend entfaltete und später einen zufälligen Tod bei<br />

einer Spazierfahrt auf einem amerikanischen See fand.<br />

Der Gehilfe des Regierungskommissars <strong>der</strong> Nordfront berichtete am 22. Oktober dem<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 670


Kriegsminister, die Ideen des Bolschewismus gewännen in <strong>der</strong> Armee immer mehr an<br />

Boden, die Masse wolle Frieden, und sogar die Artillerie, die sich bis zur allerletzten Zeit<br />

gehalten hätte, werde »empfänglich für die defätistische Propaganda«. Das war kein<br />

unwesentliches Symptom. »Die Provisorische Regierung genießt keine Autorität«, so<br />

berichtet <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong>en direkter Agent bei <strong>der</strong> Armee drei Tage vor <strong>der</strong> Umwälzung.<br />

Gewiß, das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee kannte damals alle diese Dokumente<br />

nicht. Aber auch das, was es kannte, genügte vollauf. Am 23. defilierten Vertreter<br />

verschiedener Frontteile vor dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet und for<strong>der</strong>ten Frieden; an<strong>der</strong>nfalls<br />

würden die Truppen zurückluten und »alle Parasiten vernichten, die sich anschicken,<br />

noch zehn Jahre Krieg zu führen«. Ergreift die Macht, sagten die Frontler dem Sowjet:<br />

»die Schützengräben werden euch unterstützen«.<br />

An den entfernteren und rückständigen Fronten, <strong>der</strong> südwestlichen und <strong>der</strong> rumänischen,<br />

waren die Bolschewiki immer noch vereinzelte Exemplare, seltsame Erscheinungen.<br />

Die Stimmungen <strong>der</strong> Soldaten waren aber auch dort die gleichen. Eugenia Bosch<br />

erzählt, daß bei dem in <strong>der</strong> Umgebung von Schmerinka liegenden 2. Gardekorps auf<br />

sechzigtausend Soldaten ein junger Kommunist und zwei Sympathisierende kamen; das<br />

hin<strong>der</strong>te das Korps nicht, sich in den Oktobertagen zur Unterstützung des Aufstandes zu<br />

erheben.<br />

Auf das Kosakentum hofften die Regierungskreise bis zur allerletzten Stunde. Doch<br />

weniger verblendete Politiker des rechten Lagers hatten begriffen, daß es auch hier mit<br />

<strong>der</strong> Sache gar schlimm bestellt war. Fast alle Kosakenoffiziere waren Kornilowianer. Die<br />

gemeinen Kosaken strebten immer mehr nach links. In <strong>der</strong> Regierung wollte man das<br />

lange nicht begreifen und erklärte sich die Kühle <strong>der</strong> Kosakenregimenter für das Winterpalais<br />

mit ihrem Gekränktsein Kaledins wegen. Aber letzten Endes leuchtete es auch dem<br />

Justizminister Matjantowitsch ein, daß hinter Kaledin »nur die Kosakenoffiziere standen,<br />

die gemeinen Kosaken jedoch, wie alle Soldaten, einfach zum Bolschewismus neigten«.<br />

Von jener Front, die in den ersten Märztagen Hände und Füße des liberalen Popen<br />

küßte, die Kadettenminister auf Schultern trug, sich an Kerenskis Reden berauschte und<br />

daran glaubte, daß die Bolschewiki deutsche Agenten seien - war nichts übrig geblieben.<br />

Die rosigen Illusionen waren eingestampft in den Schmutz <strong>der</strong> Schützengräben, den die<br />

Soldaten mit ihren durchlöcherten Stiefeln weiterzukneten sich weigerten. »Die Lösung<br />

naht«, schrieb am Tage des Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes Budberg, »und an ihrem Ausgang<br />

kann kein Zweifel bestehen; an unserer Front gibt es keinen Truppenteil mehr, <strong>der</strong> nicht<br />

in <strong>der</strong> Gewalt <strong>der</strong> Bolschewiki wäre.«<br />

Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

Alles verän<strong>der</strong>te sich, und alles blieb gleich. Die <strong>Revolution</strong> hatte das Land erschüttert,<br />

den Zerfall vertieft, die einen eingeschüchtert, die an<strong>der</strong>en verhärtet, aber noch nichts bis<br />

zu Ende gewagt, nichts ersetzt. Das kaiserliche St. Petersburg schien eher in lethargischen<br />

Schlaf versunken als tot. Den gußeisernen Denkmälern <strong>der</strong> Monarchie hatte die<br />

<strong>Revolution</strong> rote Fähnchen in die Hand gesteckt. Große rote Leinwandtücher wehten über<br />

den Fronten <strong>der</strong> Regierungsgebäude. Aber die Paläste, Ministerien, Stäbe lebten ganz<br />

geson<strong>der</strong>t von ihren roten Bannern, die noch dazu unter dem herbstlichen Regen gehörig<br />

ausgeblieben waren. Die Doppeladler mit Zepter und Reichsapfel sind, wo nur möglich,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 671


heruntergerissen, häufiger allerdings verhängt o<strong>der</strong> in aller Eile übermalt. Sie scheinen<br />

sich verborgen zu halten. Das ganze Rußland hält sich verborgen, mit vor Wut verzerrten<br />

Kiefern.<br />

Die wenig gewichtigen Gestalten <strong>der</strong> Milizionäre an den Straßenkreuzungen erinnern<br />

noch am häufigsten an die Umwälzung, die die lebenden Monumenten ähnelnden<br />

"Pharaonen" hinweggefegt hat. Außerdem nennt sich Rußland nun seit fast zwei<br />

Monaten Republik. Die Zarenfamilie befindet sich in Tobolsk. Nein, <strong>der</strong> Februarwirbel<br />

ist nicht spurlos vorübergegangen. Aber die Zarengenerale bleiben Generale, Senatoren -<br />

Senatoren, Geheimräte schützen ihre Würden, die Rangliste bleibt in Kraft, bunte<br />

Mützenrän<strong>der</strong> und Kokarden erinnern an die bürokratische Hierarchie, und gelbe Knöpfe<br />

mit Adler kennzeichnen Studenten. Und die Hauptsache, Gutsbesitzer bleiben Gutsbesitzer,<br />

das Kriegsende ist nicht abzusehen, die Ententediplomaten halten das offizielle<br />

Rußland frecher denn je an <strong>der</strong> Strippe.<br />

Alles bleibt beim alten, und doch erkennt keiner sich wie<strong>der</strong>. Die aristokratischen<br />

Viertel fühlen sich in den Hintergrund geschoben. Die Viertel <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie<br />

sind dichter an die Aristokratie herangerückt. Aus einem patriotischen Mythos ist das<br />

Volk furchtbare Realität geworden. Unter den Füßen schwankt alles und bröckelt auseinan<strong>der</strong>.<br />

Der Mystizismus flackert mit heftiger Kraft in jenen Kreisen auf, die noch vor gar<br />

nicht so langer Zeit über den Aberglauben <strong>der</strong> Monarchie höhnten.<br />

Börsianer, Advokaten, Ballerinen verfluchen die eingetretene Verfinsterung <strong>der</strong> Sitten.<br />

Der Glaube an die Konstituierende Versammlung verflüchtigt sich mit jedem Tage mehr.<br />

Gorki prophezeite in seiner Zeitung den herannalienden Zusammenbruch <strong>der</strong> Kultur. Die<br />

seit den Junitagen verstärkte Flucht aus dem wilden und hungrigen Petrograd in die friedlichere<br />

und sattere Provinz nimmt im Augenblick <strong>der</strong> Oktoberumwälzung epidemiseben<br />

Charakter an. Solide Familien, denen es nicht gelungen war, die Hauptstadt zu verlassen,<br />

sind vergeblich bemüht, sieh durch Steinmauern und Eisendach gegen die Wirklichkeit<br />

abzusperren. Das Echo des Sturms dringt von überall herein: durch den Markt, wo alles<br />

teurer und alles knapp wird; durch die wohlmeinende Presse, die sich in ein Geheul von<br />

Haß und Angst verwandelt hat; durch die brodelnde Straße, wo manchmal vor den<br />

Fenstern geschossen wird, und schließlich durch den Hintereingang, über die Dienstboten<br />

die nicht mehr gewillt sind, sich geduldig zu unterwerfen. Hier trifft die <strong>Revolution</strong><br />

vielleicht die empfindlichste Stelle: <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Haussklaven zerstört endgültig<br />

die Stabilität <strong>der</strong> häuslichen Ordnung.<br />

Und doch wehrt sich die Alltagsroutine aus aller Kraft. Schüler lernen in den Schulen<br />

nach alten Lehrbüchern, Beamte beschreiben Papiere, die niemand braucht, Dichter<br />

schwitzen Verse, die niemand liest, Ammen erzählen Märchen vom Zarewitsch Iwan.<br />

Aus <strong>der</strong> Provinz gekommene Adels- und Kaufmannstöchter studieren Musik o<strong>der</strong> suchen<br />

Bräutigame. Die alte Kanone verkündet von den Mauern <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung herab<br />

die Mittagsstunde im Mariinski-Theater geht ein neues Ballett, und <strong>der</strong> Außenminister<br />

Tereschtschenlko, stärker in Choreographie als in Diplomatie, findet vermutlich Zeit, die<br />

Spitzenkappe <strong>der</strong> Ballerina zu bewundem und so die Festigkeit des Regimes zu demonstrieren.<br />

Überbleibsel alter Feste sind noch sehr zahlreich, und für Geld ist alles zu haben.<br />

Gardeoffiziere klirren noch vernehmlich mit den Sporen und suchen Abenteuer. In den<br />

Chambres séparées <strong>der</strong> teuren Restaurants finden wüste Zechgelage statt. Die Absper-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 672


ung des elektrischen Lichtes um Mitternacht hin<strong>der</strong>t das Blühen von Spielklubs nicht,<br />

wo bei Stearinkerzen Champagner funkelt, erlauchte Plün<strong>der</strong>er des Staatsschatzes nicht<br />

weniger erlauchte deutsche Spione schröpfen, monarchistische Verschwörer semitischen<br />

Kontrabandisten Paß! ansagen und astronomische Einsatzziffern gleichzeitig Ausmaß <strong>der</strong><br />

Ausschweifung wie Ausmaß <strong>der</strong> Inflation anzeigen.<br />

Führt wirklich eine einfache Trambahn, vernachlässigt, schmutzig, saumselig, mit<br />

Menschentrauben behängt, aus diesem in Agonie liegenden St. Petersburg zu den in<br />

leidenschafthcher Spannung lebenden Arbeitervierteln? Die hellblauen, mit Gold ausgelegten<br />

Kuppeln des Smolny-Klosters bezeichnen aus <strong>der</strong> Ferne den Stab des Aufstandes:<br />

am Rande <strong>der</strong> alten Stadt, wo die Trambahnlinie endet und die Newa eine schroffe<br />

Biegung nach Süden macht, das Zentrum von den Vorstädten trennend. Ein langes<br />

graues, dreistöckiges Gebäude, Erziehungskaserne für Adelstöchter, ist nun die Feste <strong>der</strong><br />

Sowjets. Die endlosen hauenden Korridore sind wie geschaffen für den Unterricht in<br />

Gesetzen <strong>der</strong> Perspektive. An den Türen vieler Dutzende Zimmer die Korridore entlang<br />

sind noch emaillierte Schil<strong>der</strong> erhalten: "Lehrerzimmer", "Dritte Klasse", "Vierte<br />

Klasse", "Klassendame". Aber neben den alten Schil<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> diese verdeckend sind<br />

flüchtig Papierbogen mit geheimnisvollen <strong>Revolution</strong>shieroglyphen angeheftet: ZK d.<br />

P.S.R., S-D.-Menschewiki, S-D.-Bolschewiki, Linke S.-R., Anarchisten-Kommunisten,<br />

Expedition des ZJK, usw. usw. John Reeds achtsames Auge entdeckte an den Wänden<br />

Plakate: »Genossen, im Interesse eurer eigenen Gesundheit haltet auf Sauberkeit.« Aber,<br />

ach, keiner hält auf Sauberkeit, angefangen bei <strong>der</strong> Natur. Das Oktober-Petrograd lebt<br />

unter einer Regenkuppel. Die Straßen, schon lange nicht gereinigt, sind schmutzig. Im<br />

Hofe des Smolny unermeßliche Pfützen. Die Soldatensohlen tragen den Schmutz in<br />

Korridore und Säle. Doch niemand blickt jetzt nach unten, vor die Füße; alle blicken<br />

vorwärts.<br />

Das Smolny kommandiert immer fester und gebieterischer, gehoben von <strong>der</strong> leidenschaftlichen<br />

Sympathie <strong>der</strong> Massen. Die Zentralleitung erfaßt unmittelbar nur die oberen<br />

Glie<strong>der</strong> jenes revolutionären Systems, dem in seiner Gesamtheit die Vollziehung <strong>der</strong><br />

Umwälzung obliegt. Das Wichtigste wird unten - und wie von selbst getan. Fabriken und<br />

Kasernen, - das sind in diesen Tagen und Nächten die Brandherde <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>. Im<br />

Wyborger Bezirk konzentrieren sich, wie im Februar, die Hauptkräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>,<br />

doch zum Unterschiede vom Februar besitzt er jetzt seine mächtige Organisation, eine<br />

offene, allgemein anerkannte. Aus Straßen, Fabrikküchen, Klubs, Kasernen laufen alle<br />

Fäden zusammen im Hause Nummer dreiunddreißig auf dem Sampsonjewski-Prospekt,<br />

wo Bezirkskomitee <strong>der</strong> Bolschewiki, Wyborger Sowjet und Kampfstab sich befinden.<br />

Die Bezirksmiliz verschmilzt mit <strong>der</strong> Roten Garde. Der Bezirk ist völlig in <strong>der</strong> Gewalt<br />

<strong>der</strong> Arbeiter. Würde die Regierung den Smolny nie<strong>der</strong>schlagen, <strong>der</strong> Wyborger Bezirk<br />

allein könnte das Zentrum wie<strong>der</strong>herstellen und den weiteren Angriff sichern.<br />

Die Entscheidung war dicht herangerückt, doch die Regierenden glaubten bis zum<br />

letzten Moment o<strong>der</strong> gaben sich wenigstens den Anschein, daß sie keine beson<strong>der</strong>en<br />

Ursachen zur Besorgnis hätten. Die britische Gesandtschaft, die Grund genug hatte, die<br />

Ereignisse in Petrograd aufmerksam zu verfolgen, erhielt, nach den Worten des damaligen<br />

<strong>russischen</strong> Gesandten in London, zuverlässige Meldungen über die bevorrstehende<br />

Umwälzung. Buchanans besorgte Fragen beantwortete Tereschtschenko nach dem traditionellen<br />

Diplomatenfrühstück mit heißen Beteuerungen: »So etwas« könne nicht passie-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 673


en, die Regierung halte die Zügel fest in den Händen. Die russische Botschaft in London<br />

erfuhr von <strong>der</strong> Umwälzung in Petrograd aus einer Meldung <strong>der</strong> britischen Telegraphenagentur.<br />

Der Hüttenmagnat Auerbach, <strong>der</strong> in jenen Tagen den Minister-gehilfen Paltschinski<br />

besuchte, erkundigte sich nach einer Unter-haltung über ernstere Geschäfte so nebenbei<br />

nach den »schwarzen Wolken am politischen Horizont« und erhielt eine vollkommen<br />

beruhigende Antwort: das fällige Gewitter, sonst nichts; es wird sich verziehen und<br />

wie<strong>der</strong> hell werden, - »schlafen Sie ruhig«. Paltschinski selbst hatte nur noch eine o<strong>der</strong><br />

zwei schlaflose Nächte zu verbringen, bevor er verhaftet wurde.<br />

Je ungenierter Kercnski mit den Versöhnlerführem umsprang, um so weniger bezweifelte<br />

er, daß sie im Augenblicke <strong>der</strong> Gefahr rechtzeitig zu Hilfe kommen würden. Je<br />

schwächer die Versöhnler wurden, desto sorgsamer hielten sie um sich eine Atmosphäre<br />

von Illusionen aufrecht. Indem sie von ihren Petrogra<strong>der</strong> Höhen mit den Spitzenorganisationen<br />

von Provinz und Front gegenseitige Ermunterungen austauschten, schufen<br />

Menschewiki und Sozialrevolurionäre eine Fälschung <strong>der</strong> öffentlichen Meinung und<br />

führten, ihre Ohnmacht maskierend, Weniger die Feinde als sich selbst irre.<br />

Der schwerfällige, ganz untaugliche Staatsapparat, eine Mischung aus Märzsozialist<br />

und Zarenbürokrat, war sehr gut für Zwecke <strong>der</strong> Selbsttäuschung geeignet. Der frischgebackene<br />

Sozilalist fürchtete, dem Bürokraten als nicht genügend reifer Staatsmann zu<br />

erscheinen. Der Bürokrat hatte Angst, Mangel an Achtung vor den neuen Ideen zu<br />

bekunden. So entstand ein Netz von offizieller Lüge, wo Generale, Staatsanwälte,<br />

Zeitungsleute, Kommissare und Adjutanten um so mehr flunkerten, je näher sie an <strong>der</strong><br />

Quelle <strong>der</strong> Macht standen. Der Kommandierende des Petregra<strong>der</strong> Militärbezirks gab<br />

tröstliche Berichte, weil Kerenski angesichts <strong>der</strong> trostlosen Wirklichkeit ihrer bedurfte.<br />

Die Traditionen <strong>der</strong> Doppelherrschaft wirkten in <strong>der</strong> gleichen Richtung. Wurden doch<br />

die laufenden Verfügungen des Bezirksstabes, gegengezeichnet vom Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee, wi<strong>der</strong>spruchslos erfüllt. Die Wachen in <strong>der</strong> Stadt wurden von<br />

Garnisontruppenteilen in üblicher Weise bezogen, und man darf sagen, die Regimenter<br />

hatten schon lange den Wachtdienst nicht mit solchem Eifer ausgeführt wie jetzt.<br />

Unzufriedenheit <strong>der</strong> Massen? "Meuternde Sklaven" sind immer unzufrieden. An Meuterei<br />

versuchen könnte sich nur <strong>der</strong> Auswurf <strong>der</strong> Hauptstadtbevölkerung beteiligen. Die<br />

Soldatensektion gegen den Stab? Dafür aber steht die Militärische Sektion des Zentral-Exekutivkomitees<br />

hinter Kerenski. Die gesamte Organisierte Demokratie mit Ausnahme<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki unterstützt die Regierung. So verwandelte sich <strong>der</strong> rosige Märznimbus<br />

in blauen Dunst, <strong>der</strong> die realen Umrisse <strong>der</strong> Dinge verhüllte.<br />

Erst nachdem <strong>der</strong> Bruch zwischen Smolny und Stab erfolgt war, versuchte die Regierung<br />

an den Konflikt ernster heranzutreten: unmittelbare Gefahr bestehe selbstverständlich<br />

nicht, doch müsse man diesmal die Gelegenheit wahrnehmen, um mit den<br />

Bolschewiki Schluß zu machen. Außerdem drängten aus aller Kraft auch die bürgerlichen<br />

Verbündeten. In <strong>der</strong> Nacht zum 24. faßte die Regierung Mut und verfügte gegen<br />

das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee Strafverfolgung einzuleiten; bolschewistische<br />

Zeitungen, die zum Aufstande aufrufen, zu verbieten; zuverlässige Truppenteile aus <strong>der</strong><br />

Umgebung und von <strong>der</strong> Front anzufor<strong>der</strong>n. Die Ausführung des im Prinzip angenommen<br />

Antrages, das ganze Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee zu verhaften, wurde verschoben:<br />

für ein so großes Unternehmen müsse man sich erst <strong>der</strong> Unterstützung des Vorparlaments<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 674


vergewissern.<br />

Das Gerücht über die von <strong>der</strong> Regierung getroffenen Beschlüsse verbreitete sich sofort<br />

in <strong>der</strong> Stadt. Im Gebäude des Hauptstabes, neben dem Winterpalais, hatten in <strong>der</strong> Nacht<br />

zum 24. Wachtdienst Soldaten des Pawlowsker Regiments, eines <strong>der</strong> sichersten Truppenteile<br />

des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees. Vor den Soldaten wurden Reden geführt<br />

über das Heranholen <strong>der</strong> Junker, über Hochziehen <strong>der</strong> Brücken, über Verhaftungen.<br />

Alles, was die Pawlowsker auffangen und festhalten konnten, meldeten sie sogleich den<br />

Bezirken und dem Smolny. Im revolutionären Zentrum verstand man nicht immer die<br />

Nachrichten dieses freiwilligen Aufklärungsdienstes auszunutzen. Doch erfüllte er eine<br />

unersetzliche Aufgabe. Die Arbeiter und Soldaten <strong>der</strong> ganzen Stadt erfuhren von den<br />

Absichten des Feindes und verstärkten ihre Bereitschaft, Wi<strong>der</strong>stand zu leisten.<br />

Vom frühen Morgen an trafen die Behörden Vorbereitungen zur Einleitung <strong>der</strong> feindseligen<br />

Aktionen. Den Junkerschulen <strong>der</strong> Hauptstadt wurde befohlen, sich kampfbereit<br />

zu halten. Dein in <strong>der</strong> Newa postierten Kreuzer "Aurora" mit dem bolschewistisch<br />

gestimmten Kommando - ins Meer zu gehen und sich <strong>der</strong> übrigen Flotte anzuschließen.<br />

Aus <strong>der</strong> Umgebung sind Truppenteile herbeibefohlen: ein Stoßtruppbataillon aus<br />

Zarskoje Selo, Junker aus Oranienbaum, Artillerie aus Pawlowsk. Der Stab <strong>der</strong><br />

Nordfront ist beauftragt, sofort zuverlässige Truppen in die Hauptstadt zu entsenden. Als<br />

Maßnahme unmittelbarer Kriegsvorsicht wird befohlen: die Wachen des Winterpalais zu<br />

verstärken; die Brücken über die Newa hochzuziehen; den Junkern - die Automobile zu<br />

kontrollieren; aus dem Telephonnetz die Apparate des Smolny auszuschalten. Justizminister<br />

Maljantowitsch ordnete an, jene gegen Kaution entlassenen Bolschewiki unverzüglich<br />

zu verhaften; die sich wie<strong>der</strong> durch regierungsfeindliche Tätigkeit ausgezeichnet<br />

hatten: <strong>der</strong> Schlag richtete sich in erster Linie gegen Trotzki. Wandel <strong>der</strong> Zeiten! Maljantowitsch,<br />

wie sein Vorgänger Sarudny, waren im Jahre 1905 Trotzkis Anwälte gewesen.<br />

Auch damals handelte es sich um die Führung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Der Charakter<br />

<strong>der</strong> erhobenen Beschuldigungen war in beiden Fällen gleich; nur fügten die einstigen<br />

Verteidiger, zu Anklägern geworden, noch den kleinen Punkt von deutschen Golde<br />

hinzu.<br />

Der Stab des Militärbezirkes hatte unterdessen beson<strong>der</strong>s fieberhafte Tätigkeit in <strong>der</strong><br />

typographischen Sphäre entwickelt. Dokument folgte auf Dokument: keinerlei Demonstrationen<br />

würden geduldet werden; die Schuldigen hätten strengster Strafe gewärtig zu<br />

sein; Verbot für die Truppenteile <strong>der</strong> Garnison, ohne Weisung des Stabes die Kasernen<br />

zu verlassen; »sämtliche Kommissare des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets sind zu entfernen«; über<br />

<strong>der</strong>en ungesetzliche Tätigkeit ist eine Untersuchung einzuleiten »zwecks Verfolgung<br />

durch das Kriegsgericht«. In den dräuenden Befehlen wird jedoch nicht gesagt, wie und<br />

durch wen ihre Ausführung gesichert werden soll.<br />

Unter Androhung persönlicher Haftbarmachung for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Kommandierende die<br />

Besitzer von Autos auf, diese »zwecks Verhütung eigenmächtiger Expropriationen« dem<br />

Stabe zur Verfügung zu stellen; doch niemand rührte dataufhin auch nur einen Finger.<br />

Das Zentral-Exekutivkomitee geizte gleichfalls nicht mit Mahnungen und Drohungen.<br />

Ihm auf den Fersen folgten: Bauern-Exekutivkomitee, Stadtduma, Zentralkomitees <strong>der</strong><br />

Menschewiki und Sozialrevolutionäre. An literarischen Hilfsquellen waren alle diese<br />

Institutionen reich genug. In den Aufrufen, die die Mauern und Zäune bedeckten, war<br />

beständig die Rede von einem Häuflein Wahnsinniger, von Gefahr blutiger Kämpfe und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 675


Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />

Um 5 Uhr 30 morgens erschien in <strong>der</strong> Druckerei <strong>der</strong> Bolschewiki ein Regierungskommissar<br />

mit einer Abteilung Junker, die die Ausgänge besetzten und einen Befehl des<br />

Stabes über sofortiges Verbot des Zentralorgans und des Blattes 'Der Soldat' vorzeigten.<br />

Was? Der Stab? Existiert denn das noch? Hier würden keine Befehle ohne Sanktion des<br />

Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees anerkannt. Doch das hilft nichts: die Stereotypen<br />

werden zerschlagen, das Gebäude versiegelt. Die Regierung kann den ersten Erfolg<br />

verzeichnen.<br />

Ein Arbeiter und eine Arbeiterin in <strong>der</strong> bolschewistischen Druckerei kommen atemlos<br />

in das Smolny gelaufen, wo sie Podwojski und Trotzki vorfinden: wenn das Komitee<br />

ihnen Schutz gegen die Junker stellt, wollen die Arbeiter die Zeitung herausbringen. Die<br />

Form <strong>der</strong> ersten Antwort auf den Regierungsangriff ist gefunden. Es wird ein Befehl an<br />

das Litowsker Regiment geschrieben, sofort eine Kompanie zum Schutze <strong>der</strong> Arbeiterpresse<br />

zu schicken. Die Abgesandten <strong>der</strong> Druckerei bestehen darauf, daß auch das 6.<br />

Pionierbataillon hinzugezogen werde: das seien nahe Nachbarn und treue Freunde Ein<br />

Fernspruch wird sogleich an beide Adressen weitergeleitet. Die Litowsker und die<br />

Pioniere marschieren unverzüglich aus. Die Siegel werden vom Gebäude heruntergerissen,<br />

die Matrizen neu gegossen, die Arbeit geht rastlos vonstatten. Mit Verspätung von<br />

einigen Stunden erscheint die von <strong>der</strong> Regierung verbotene Zeitung unter dem Schutze<br />

von Truppen des Komitees, das selbst zu verhaften ist. Das eben ist <strong>der</strong> Aufstand. So<br />

kommt er zum Entrollen.<br />

Gleichzeitig wandte sich <strong>der</strong> Kreuzer "Aurora" an das Smolny mit <strong>der</strong> Frage: ins Meer<br />

gehen o<strong>der</strong> in den Newagewässern bleiben? Die Matrosen, die im August das Winterpalais<br />

vor Kornilow geschützt hatten, brennen nun darauf, mit Kerenski die Rechnung zu<br />

begleichen. Die Regierungsvorschrift wird vom Komitee an Ort und Stelle aufgehoben<br />

und das Kommando erhält den Befehl Nr. 1218: »gegen einen eventuellen Überfall auf<br />

die Petrogra<strong>der</strong> Garnison seitens <strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte hat sich <strong>der</strong> Kreuzer<br />

"Aurora" durch Schlepper, Dampfer und Dampfkutter zu sichern«. Der Kreuzer erfüllt<br />

begeistert den Befehl, auf den er nur gewartet hat.<br />

Diese zwei Akte des Wi<strong>der</strong>standes, angeregt von Arbeitern und Matrosen und dank <strong>der</strong><br />

Sympathie <strong>der</strong> Garnison vollkommen reibungslos durchgeführt, wurden zu politischen<br />

Ereignissen allerersten Ranges. Die letzten Reste des Machtfetischismus zerfielen zu<br />

Staub. »Es wurde auf einmal klar«, sagt ein Teilnehmer des Kampfes, »das die Sache<br />

schon beendet ist.« Wenn auch nicht beendet, so jedenfalls weitaus einfacher, als man am<br />

Vorabend dachte.<br />

Der Versuch, die Zeitung zu verbieten, <strong>der</strong> Haftbefehl gegen das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee,<br />

die Verfügung über die Entfernung <strong>der</strong> Kommissare, die Ausschaltung <strong>der</strong><br />

Smolnytelephone, alle diese Nadelstiche genügen gerade, um die Regierung <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

einer konterrevolutionären Umwälzung anzuklagen. Kann auch <strong>der</strong> Aufstand nur<br />

als Angriff siegen, so entfaltet er sich um so erfolgreicher, je mehr er einer Verteidigung<br />

gleicht. Ein Stückchen amtlichen Siegellacks an <strong>der</strong> Türe <strong>der</strong> bolschewistischen Redaktion<br />

- als Kriegsmaßnahnie - ist wenig. Aber welch ein vortreffliches Kampfsignal! Ein<br />

Feruspruch an alle Bezirke und Garnisonteile gibt Kunde vom Vorfall: »Die Feinde des<br />

Volkes sind nachts zum Angriff übergegangen ... Das Miliärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

leitet die Abwehr des Ansturms <strong>der</strong> Verschwörer.« Verschwörer - das sind die Organe<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 676


<strong>der</strong> offiziellen Macht. Aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> revolutionärer Verschwörer klingt diese Bezeichnung<br />

überraschend. Doch entspricht sie völlig <strong>der</strong> Situation und dem Empfinden <strong>der</strong><br />

Massen. Aus allen Positionen verdrängt, gezwungen den Weg <strong>der</strong> verspäteten Verteidigung<br />

zu beschreiten, unfähig, die dafür notwendigen Kräfte zu mobilisieren o<strong>der</strong> auch<br />

nur nachzuprüfen, ob solche vorhanden sind, begeht die Regierung vereinzelte, unüberlegte<br />

und nicht miteinan<strong>der</strong> in Einklang gebrachte Handlungen, die sich den Augen <strong>der</strong><br />

Massen unvermeidlich als bösartige Attentate darstellen. Ein Fernspruch des Komitees<br />

ordnet an: »Das Regiment in Kampfbereitschaft bringen und weitere Befehle abwarten.«<br />

Das ist die Stimme <strong>der</strong> Macht. Die Kommissare des Komitees, die zu entfernen sind,<br />

setzen mit doppelter Sicherheit die Entfernung jener fort, die zu entfernen ihnen notwendig<br />

erscheint.<br />

Die "Aurora" auf <strong>der</strong> Newa bedeutete nicht nur eine vorzügliche Kampfeinheit im<br />

Dienste des Aufstandes; son<strong>der</strong>n war auch gerüstet für die Arbeit einer Radiostation. Ein<br />

unschätzbarer Vorzug! Der Matrose Kurkow erinnert sich: »Wir wurden von Trotzki<br />

beauftragt, per Radio zu übermitteln ..., daß die Konterrevolution zum Angriff übergegangen<br />

sei.« Die Verteidigungsform <strong>der</strong> Nachricht verhüllte auch hier den Appell zum<br />

Aufstand, <strong>der</strong> sich nunmehr an das ganze Land wandte. Den Garnisonen, die die<br />

Zugänge zu Petrograd schützten, wird durch den Radiosen<strong>der</strong> <strong>der</strong> "Aurora" befohlen, die<br />

konterrevolutionären Staffeln aufzuhalten und, falls Überredung nicht genügt, Gewalt<br />

anzuwenden. Allen revolutionären Organisationen wird zur Pflicht gemacht, »in Permanenz<br />

zu tagen und alle Nachrichten und Pläne über Handlungen <strong>der</strong> Verschwörer in<br />

ihren Händen zu konzentrieren«. Mangel an Aufrufen herrschte, wie man sieht, auch auf<br />

seiten des Komitees nicht. Doch ging bei ihm das Wort mit <strong>der</strong> Tat nicht auseinan<strong>der</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n kommentierte sie.<br />

Nicht ohne Verspätung geht man an eine ernste Befestigung des Smolny. Beim Verlassen<br />

des Gebäudes um 3 Uhr in <strong>der</strong> Nacht zum 24. fielen John Reed Maschinengewehre<br />

an den Eingangstüren und starke Patrouillen auf, die Tor und anliegende Straßenkreuzungen<br />

bewachten: die Posten waren schon am Vorabend durch eine Kompanie des Litowsker<br />

Regiments und durch eine Maschinengewehrabteilung mit vierundzwanzig<br />

Maschinengewehren verstärkt worden. Im Laufe des Tages erfuhr die Wache ununterbrochen<br />

Erweiterung. »Im Bezirk des Smolny«, schreibt Schljapnikow, »konnte man<br />

bekannte Bil<strong>der</strong> beobachten, wie in den ersten Tagen <strong>der</strong> Februarrevolution vor dem<br />

Taurischen Palais«: die gleiche Fülle an Soldaten, Arheitern und Waffen aller<br />

Gattungen. Im geräumigen Hof sind gewaltige Holzmassen auf-gestapelt, die als sichere<br />

Deckung gegen Gewehrfeuer dienen können. Lastautomobile fahren Proviant und<br />

Munition heran. »Das ganze Smolny«, erzählt Raskolnikow, »war in ein Kriegslager<br />

verwandelt. Draußen vor den Kolonnaden - Kanonen in Stellung. Daneben Maschinengewehre<br />

... Fast auf jedem Treppenabsatz die "Maxims", Spielzeugkanonen ähnelnd.<br />

Und in allen Korridoren ... <strong>der</strong> schnelle, laute, lustige Schritt von Soldaten und<br />

Arbeitern, Matrosen und Agitatoren.« Suchanow, <strong>der</strong> nicht ohne Grund die Organisatoren<br />

<strong>der</strong> Umwälzung mangeln<strong>der</strong> Kriegsumsicht beschuldigt, schreibt: »Erst jetzt, am<br />

Tage und am Abend des 24., begannen bewaffnete Abteilungen Rotgardisten und Soldaten<br />

im Smolny einzutreffen zum Schutze des Stabes des Aufstandes ... Gegen Abend des<br />

24. begann die Bewachung des Smolny nach etwas auszusehen.«<br />

Diese Frage ist nicht ohne Bedeutung. Im Smolny, aus dem das Versöhnler-Exekutiv-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 677


komitee sich verstohlen in die Räumlichkeiten des Regierungsstabes zu begeben<br />

vermochte, sind jetzt die Spitzen sämtlicher von den Bolschewiki geleiteten revolutionären<br />

Organisationen konzentriert. Hier tritt an diesem Tage die Sitzung des Zentralkomitees<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki zusammen, um die letzten Entscheidungen vor dem Schlage zu<br />

treffen. Es sind elf Mitglie<strong>der</strong> anwesend. Bei <strong>der</strong> Sitzung fehlt Sinowjew, <strong>der</strong> nach dem<br />

temperamentvollen Ausdruck Dserschinskis »sich versteckt hält und an <strong>der</strong> Parteiarbeit<br />

keinen Anteil nimmt«. Dagegen ist Kamenjew, Sinowjews Gesinnungsgenosse, sehr aktiv<br />

im Stabe des Aufstandes tätig. Der Sitzung ferngeblieben ist Stalin: er erscheint im<br />

Smolny überhaupt nicht und verbringt seine Zeit in <strong>der</strong> Redaktion des Zentralorgans. Die<br />

Sitzung findet, wie stets, unter Swerdlows statt. Das offizielle Protokoll ist knapp;<br />

vermerkt aber das wichtigste. Zur Ermittlung <strong>der</strong> führenden Teilnehmer <strong>der</strong> Umwälzung<br />

und <strong>der</strong> Verteilung <strong>der</strong> Funktionen unter ihnen ist es unersetzbar.<br />

Es ist darum, im Laufe <strong>der</strong> nächsten vierundzwanzig Stunden Petrogiad endgültig zu<br />

erobern. Das heißt: von jenen politischen und technischen Institutionen Besitz zu ergreifen,<br />

die noch in den Händen <strong>der</strong> Regierung verblieben sind. Der Sowjetkongreß muß<br />

stattfinden unter <strong>der</strong> Sowjetmacht. Die praktischen Maßnahmen für den Nachtangriff<br />

sind ausgearbeitet o<strong>der</strong> in Ausarbeitung beim Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee und <strong>der</strong><br />

Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki. Das Zentralkomitee soll den Schlußstrich<br />

ziehen.<br />

Zuallererst wird Kamenjews Antrag angenommen: »Heute darf ohne beson<strong>der</strong>e Verfügung<br />

nicht ein Mitglied des Zentralkomitees sich aus dem Smolny entfernen.« Es wird<br />

überdies beschlossen, hier einen Waehtdienst aus Mitglie<strong>der</strong>n des Petrogra<strong>der</strong> Parteikomitees<br />

einzurichten. Das Protokoll lautet weiter: »Trotzki schlägt vor, dem Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee zur Anbahnung <strong>der</strong> Verbindung mit den Post-, Telegraphen- und<br />

Eisenbahnbeamten zwei Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees zur Verfügung zu stellen; ein<br />

drittes Mitglied zur Überwachung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung.« Es wird beschlossen:<br />

zum Post- und Telegraphenamt Dserschinski zu delegieren, zur Eisenbahn Bubnow.<br />

Anfangs wird, wohl auf Swerdlows Initiative, geplant, mit <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung Podwojski zu beauftragen. Das Protokoll vermerkt: »Einwände<br />

gegen Podwojski; das Mandat erhält Swerdlow.« Miljutin, <strong>der</strong> als Wirtschaftler gilt, wird<br />

mit <strong>der</strong> Ernährungssache betraut. Die Verhandlungen mit den linken Sozialrevolutionären<br />

werden Kamenjew zugewiesen, <strong>der</strong> den Ruf eines geschickten, wenn auch zu<br />

nachgiebigen Parlamentärs genießt: selbstverständlich nachgiebig im bolschewistischen<br />

Maßstabe. »Trotzki schlägt vor«, lesen wir weiter, »einen Reservestab in <strong>der</strong> Peter-Paul-<br />

Festung einzurichten und zu diesem Zwecke ein Mitglied des Zentralkomitees dorthin zu<br />

entsenden.« Beschlossen wird: »Mit <strong>der</strong> allgemeinen Überwachung Laschewitsch und<br />

Blagonrawow, mit <strong>der</strong> Aufrechterhaltung einer ständigen Verbindung mit <strong>der</strong> Festung<br />

Swerdlow zu betrauen.« Außerdem: »Allen Mitglie<strong>der</strong>n des Zentralkomitees Passierscheine<br />

für die Festung auszustellen.«<br />

Auf <strong>der</strong> Parteilinie liefen alle Fäden in Swerdlows Händen zusammen, <strong>der</strong> die bolschewistischen<br />

Ka<strong>der</strong> kannte wie keiner. Er verband das Smolny mit dem Parteiapparat,<br />

versorgte das Militärische Revolurionskomitee mit den notwendigen Mitarbeitern und<br />

wurde dorthin in allen kritischen Momenten zur Beratung gerufen. Da das Komitee eine<br />

zu breite, teilweise fluktuierende Zusammensetzung hatte, so wurden die Maßnahmen<br />

konspirativerer Art durch die Spitze <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki o<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 678


durch Swerdlow erledigt, <strong>der</strong> <strong>der</strong> inoffizielle, aber um so wirklichere "Generalsekretär"<br />

<strong>der</strong> Oktoberumwälzung war.<br />

Die in diesen Tagen zum Sowjetkongreß eintreffenden bolschewistischen Delegierten<br />

gerieten zuallererst in Swerdlows Hände und blieben nicht eine überflüssige Stunde ohne<br />

Arbeit. Am 24. zählte man in Petrograd bereits zwei-, dreihun<strong>der</strong>t Provinzdelegierte, und<br />

die Mehrzahl davon wurde auf die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Weise in die Mechanik des Aufstandes<br />

eingefügt. Um 2 Uhr mittags versammelten sie sich im Smolny zu einer Fraktionssitzung,<br />

um einen Berichterstatter vom Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei anzuhören. Unter ihnen<br />

waren Schwankende, die, wie Sinowjew und Kamenjew, eine abwartende Politik vorgezogen<br />

haben würden; und auch einfach nicht genügend zuverlässige Rekruten. Von einer<br />

Darstellung des Aufstandsplanes vor <strong>der</strong> Fraktion konnte nicht die Rede sein: was in<br />

einer großen, wenn auch geschlossenen Versammlung gesprochen wird, wird unvermeidlich<br />

nach außen getragen. Man darf noch nicht einmal die Defensivhülle des Angriffes<br />

zerreißen und beiseitewerfen, ohne zu riskieren, im Bewußtsein einzelner Garnisonteile<br />

Verwirrung zu stiften. Doch muß man gleichzeitig zu verstehen geben, daß <strong>der</strong> Entscheidungsksampf<br />

bereits begonnen und dem Kongreß lediglich verbleibt ihn zu krönen.<br />

Mit Berufung auf die kürzlich erschienenen Artikel von Lenin beweist Trotzki, daß<br />

»eine Verschwörung den Prinzipien des Marxismus nicht wi<strong>der</strong>spricht«, wenn die objektiven<br />

Verhältnisse einen Aufstand möglich und unvermeidlich machen. »Die physische<br />

Barriere auf dem Wege zur Macht muß man durch einen Schlag überwinden« ... Jedoch<br />

ging bis jetzt die Politik des Militärischen Revolurionskomitees über den Rahmen <strong>der</strong><br />

Defensive noch nicht hinaus. Natürlich will diese Defensive recht weit gefaßt sein. Die<br />

Sicherung des Erscheinens <strong>der</strong> bolschewistischen Presse mit Hilfe einer bewaffneten<br />

Macht o<strong>der</strong> das Zurückhalten <strong>der</strong> "Aurora" in <strong>der</strong> Newa - »ist das Verteidigung, Genossen?«<br />

- »Das ist Verteidigung!« Wenn es <strong>der</strong> Regierung einfallen sollte, uns zu<br />

verhaften, so sind für diesen Fall auf dem Dache des Smolny Maschinengewehre aufgestellt.<br />

»Auch das ist Verteidigung, Genossen.« Und was soll mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung werden? lautet eine schriftliche Anfrage. »Sollte Kerenski versuchen, sich<br />

dem Sowjetkongreß nicht zu unterwerfen«, antwortete <strong>der</strong> Referent, »so würde <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Regierung "eine polizeiliche und nicht eine politische Frage" schaffen.«<br />

Im Wesen war dem beinahe so.<br />

In diesem Augenblick wird Trotzki hinausgerufen zur Aussprache mit einer soeben<br />

eingetroffenen Deputarion <strong>der</strong> Stadtduma. In <strong>der</strong> Hauptstadt herrscht allerdings vor<strong>der</strong>hand<br />

Ruhe, doch sind beunruhigende Gerüchte im Umlauf. Das Stadtoberhaupt stellt<br />

Fragen. - Beabsichtigt <strong>der</strong> Sowjet einen Aufstand zu machen? Und was soll mit <strong>der</strong><br />

Ordnung in <strong>der</strong> Stadt werden? Und was wird dabei mit <strong>der</strong> Duma geschehen, wenn sie<br />

die Umwälzing nicht anerkennt? Diese ehrenwerten Herren möchten gar zuviel wissen.<br />

Die Frage <strong>der</strong> Macht, lautet die Antwort, unterliegt <strong>der</strong> Entscheidung des Sowjetkongresses.<br />

Ob es zum bewaffneten Kampf kommen wird, »hängt nicht so sehr von den Sowjets<br />

wie von jenen ab, die entgegen dem einmütigen Willen des Volkes die Staatsmacht in<br />

ihren Händen festhalten«. Sollte <strong>der</strong> Kongreß die Macht von sich weisen, so wird <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Sowjet sich dem unterwerfen. Doch die Regierung selbst sucht offensichtlich<br />

einen Zusammenstoß. Ein Haftbefehl gegen das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee ist<br />

erlassen. Darauf können die Arbeiter und Soldaten nur mit erbittertstem Wi<strong>der</strong>stand<br />

antworten. Plün<strong>der</strong>ungen und Gewaltakte von Verbrecherbanden? Der heute erlassene<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 679


Befehl des Komitees lautet: »Beim ersten Versuch dunkler Elemente, in den Petrogra<strong>der</strong><br />

Straßen Wirren, Plün<strong>der</strong>ungen, Messerstechereien o<strong>der</strong> Schießereien hervorzurufen,<br />

werden die Verbrecher vom Antlitz <strong>der</strong> Erde ausgetilgt werden.« Hinsichtlich <strong>der</strong> Stadtduma<br />

würde sich im Falle eines Konfliktes die konstitutionelle Methode anwenden<br />

lassen: Auflösung und Neuwahlen. Die Delegation ging unbefriedigt davon. Aber worauf<br />

hatte sie eigentlich gerechnet?<br />

Dei offizielle Besuch <strong>der</strong> Stadtväter im Lager <strong>der</strong> Meuterer war eine allzu offene<br />

Ohnmachtsdemonstration <strong>der</strong> Regierung. »Vergeßt nicht, Genossen«, sagte Trotzki, zur<br />

bolschewistischen Fraktion zurückgekehrt, »daß noch vor wenigen Wochen, als wir die<br />

Mehrheit erhielten, wir nur eine Firma waren - ohne Druckerei, ohne Kasse, ohne Filialen<br />

-, und jetzt kommt eine Deputation <strong>der</strong> Stadtduma zum verhafteten Militärischen<br />

Revolurionskomitee, sich über das Geschick von Stadt und Staat zu erkundigen.«<br />

Die Peter-Paul-Festung, politisch erst gestern erobert, trifft heute ihre Rüstungen. Das<br />

Masehinengewehrkommando, <strong>der</strong> revolutionärste Truppenteil, wird in Kampfform<br />

gebracht. Es geht ein eifriges Putzen <strong>der</strong> Colt-Maschinengwehre: es sind ihrer achtzig<br />

Stück. Zur Kontrolle des Kais und <strong>der</strong> Troizki-Brücke werden Maschinengewehre auf<br />

<strong>der</strong> Festungsinauer aufgestellt. Vor dem Tor bezieht eine verstärkte Wache Posten. In die<br />

Umgegend nnd Patrouillen ausgeschickt. Doch im Fieber <strong>der</strong> Morgenstunden erweist<br />

sieh, daß im Innern <strong>der</strong> Festung selbst die Lage noch nicht als völlig gesichert betrachtet<br />

werden kann. Unklarheit wird von einem Radfahrerbataillon hineingetragen. Gleich den<br />

aus wohlhabenden und reichen Bauern rekrutierten Kavalleristen stellen die Radfahrer,<br />

gebildet aus den bürgerlichen Zwischenschichten, die konservativsten Teile <strong>der</strong> Armee<br />

dar. Ein Thema für idealistisehe Psychologen: Es genügt dem Menschen, zumindest in<br />

einem so armen Lande wie Rußland, sich zum Unterschiede von den an<strong>der</strong>en auf zwei<br />

Rä<strong>der</strong>n mit Übersetzung zu fühlen - und seitn Stolz beginnt sich zu blähen wie seine<br />

Radreifen. In Amerika ist für einen solchen Effekt schon ein Automobil nötig.<br />

Zur Unterdrückung <strong>der</strong> Julibewegung herbeigeholt, war das Bataillon seinerzeit eifrig<br />

um die Einnahme des Kschessinskaja-Palais bemüht gewesen und dann als beson<strong>der</strong>s<br />

zuverlässiger Truppenteil in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung untergebracht worden. Am gestrigen<br />

Meeting, welches über das Schicksal <strong>der</strong> Festung entschied, hatten, wie sieh<br />

herausstellte, die Radler nicht teilgenommen: die Disziplin im Bataillon war noch so weit<br />

erhalten, daß es den Offizieren gelang, die Soldaten vom Hinausgehen in den Festungshof<br />

abzuhalten. Auf die Radfahrer rechnend, trägt <strong>der</strong> Festungskommandant den Kopf<br />

hoch, spricht häufig telephonisch mit Kerenskis Stab und plant scheinbar, sogar den<br />

Kommissar des Militärischen <strong>Revolution</strong>ikomitees zu verhaften. Man darf diese<br />

ungeklärte Lage nicht eine Minute länger dulden! Auf Befehl aus dem Smolny schneidet<br />

Blagonrawow dem Gegner den Weg ab: über den Kommandanten wird Hausarrest<br />

verhängt, die Telephonapparate werden in allen Offizierswohnungen abgenommen. Aus<br />

dem Regierungsstab fragt man erregt an, weshalb <strong>der</strong> Kommandant verstummt sei und<br />

was denn überhaupt in <strong>der</strong> Festung vor sich gehe. Blagonrawow meldet ehrerbietig durch<br />

durch das Telephon, die Festung komme von nun an nur noch den Befehlen des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>ikomitees nach, an das sich die Regierung fernerhin auch wenden<br />

müsse.<br />

Alle Truppenteile <strong>der</strong> Festungsgarnison nehmen die Verhaftung des Kommandanten<br />

mit voller Befriedigung auf. Doch die Radler verhalten sich ausweichend. Was steckt<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 680


hinter ihrem düsteren Schweigen: lauernde Feindseligkeit o<strong>der</strong> letztes Schwanken? »Wir<br />

beschließen, ein Son<strong>der</strong>meeting für die Radler zu veranstalten«, schreibt Blagonrawow,<br />

»und dazu unsere besten agitatorischen Kräfte einzuladen, in erster Linie Trotzki, <strong>der</strong><br />

riesige Autorität und Einfluß bei den Soldatenmassen genießt.« Gegen 4 Uhr nachmittags<br />

versammelte sich das ganze Bataillon im Gebäude des benachbarten Zirkus Mo<strong>der</strong>n. Als<br />

Sprecher <strong>der</strong> Regierung trat Generalquartiermeister Poradelow auf <strong>der</strong> als Sozialrevolutionär<br />

galt. Seine Einwände waren <strong>der</strong>art vorsichtig, daß sie zweideutig klangen. Um so<br />

vernichten<strong>der</strong> griffen die Vertreter des Komitees an. Die letzte oratorische Schlacht um<br />

die Peter-Paul-Festung endete, wie zu erwarten war: mit allen Stimmen gegen dreißig<br />

hieß das Bataillon Trotzkis Resolution gut. Wie<strong>der</strong> war einer <strong>der</strong> niöglichen bewaffneten<br />

Konflikte vor dem Kampfe und ohne Blut entschieden worden. Das eben ist <strong>der</strong> Oktoberaufstand.<br />

Dieses sein Stil.<br />

Aufdie Festung konnte man sich von nun an mit ruhiger Sicherheit verlassen. Aus dem<br />

Arsenal wurden ohne alle Hin<strong>der</strong>nisse Waffen geliefert. Im Smolny, im Zimmer <strong>der</strong><br />

Fabrikkomitees, standen Betriebsdelegierte Schlange, um Waffenanweisungen zu erhalten.<br />

Die Hauptstadt hatte in den Kriegsjahren viele Schlangen gesehen: jetzt entstanden<br />

die ersten um Gewehre. Aus allen Bezirken strömten Lastautos zum Arsenal. »Die Peter-<br />

Paul-Festung war nicht wie<strong>der</strong>zuerkennen«, schreibt <strong>der</strong> Arbeiter Skorinko, »ihre<br />

gepriesene Stille war vom Automobilkeuchen, Wagenknarren, Schreien gestört. An den<br />

Lagern herrschte beson<strong>der</strong>es Gedränge ... Hier führte man an uns auch die ersten<br />

Gefangenen vorbei Offiziere und Junker.« An diesem Tage erhielt Gewehre das 180.<br />

Infanterieregiment, entwaffnet wegen aktiver Teilnahme am Juliaufstande.<br />

Die Folgen des Meetings im Zirkus Mo<strong>der</strong>n äußerten sich auch auf <strong>der</strong> Gegenseite: die<br />

Radfahrer, die seit dem Monat Juli das Winterpalais zu schützen hatten, verließen eigenmächtig<br />

die Posten und erklärten, die Regierung nicht mehr schützen zu wollen. Das war<br />

ein ernster Schlag. Die Radfahrer mußten durch Junker ersetzt werden. Militärische<br />

Stütze <strong>der</strong> Regierung blieben immer mehr die Offiziersschulen. Das engte nicht nur die<br />

Ordnungsarmee äußerst ein, son<strong>der</strong>n enthüllte auch restlos <strong>der</strong>en sozialen Bestand.<br />

Die Arbeiter <strong>der</strong> Putilow-Werft, und nicht sie allein, schlugen dem Smolny vor, an die<br />

schnellste Entwaffnung <strong>der</strong> Junkerschulen zu gehen. Wäre diese Maßnahme nach<br />

sorgfältiger Vorbereitung und Verständigung mit den Bedienungskommandos <strong>der</strong><br />

Schulen in <strong>der</strong> Nacht zum 25. durchgeführt worden, die Einnahme des Winterpalais am<br />

nächsten Tag hätte keine Schwierigkeiten bereitet. Wären die Junker wenigstens in <strong>der</strong><br />

Nacht zum 26. entwaffnet worden, nach Einnahme des Winterpalais, <strong>der</strong> Versuch des<br />

Gegenaufstandes am 29. Oktober wäre nicht erfolgt. Aber die Leiter zeigten noch in<br />

vielen Dingen "Großmut", in Wirklichkeit Überfluß an optimistischer Sicherheit, und<br />

horchten nicht immer mit genügen<strong>der</strong> Aufmerksamkeit <strong>der</strong> nüchternen Stimme von<br />

unten: Lenins Abwesenheit äußerte sich auch darin. Die Folgen <strong>der</strong> Versäumnisse und<br />

Fehler mußten die Massen wettmachen, mit unnötigen Opiern auf beiden Seiten. Im<br />

ernsten Kampfe gibt es keine schlimmere Grausamkeit als unzeitgemäße "Großmut"!<br />

In <strong>der</strong> Tagessitzung des Vorparlaments sang Kerenski seinen Schwanengesang. In <strong>der</strong><br />

letzten Zeit befände sich die Bevölkerung Rußlands, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Hauptstadt, in Alarm:<br />

»Appelle zum Aufstand werden täglich in den Zeitungen <strong>der</strong> Bolschewiki gedruckt.« Der<br />

Redner zitierte die Artikel des steckbrieflich verfolgten Staatsverbrechers Wladimir<br />

Uljanow-Lenin. Die Zitate sprachen deutlich und bewiesen unwi<strong>der</strong>legbar, daß die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 681


obengenannte Person zum Aufstand rief. Und in welcher Situation? In dem Augenblicke,<br />

wo die Regierung über die Frage <strong>der</strong> Übergabe des Bodens in die Hände <strong>der</strong> Bauerukomitees<br />

und über Maßnahmen zur Beendigung des Kriege's diskutiert. Die hätten bisher<br />

mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Verschwörer gezögert, um diesen die Möglichkeit zu geben,<br />

ihre Fehler selbst gutzumachen. »Das eben ist das Schlimme«, tönt es aus dem Sektor,<br />

den Miljukow anführt. Doch Kerenski kommt nicht aus <strong>der</strong> Fassung: »Ich ziehe im allgemeinen<br />

vor, daß die Regierungsmacht langsamer, dafür aber zuverlässiger und im erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Augenblick entschiedener vorgeht.« Solche Worte klingen seltsam aus diesem<br />

Munde! Jedenfalls seien »gegenwärtig alle Fristen überschritten«, die Bolschewiki<br />

hätten nicht nur nicht Buße getan, son<strong>der</strong>n zwei Kompanien angefor<strong>der</strong>t und eigenmächtige<br />

Verteilung von Waffen und Patronen vorgenommen. Die Regierung beabsichtige<br />

diesmal, den Exzessen des Pöbels ein Ende zu bereiten. »Ich sage mit vollem<br />

Bewußtsein: Pöbel.« Rechts nimmt man die Beleidigung an die Adresse des Volkes mit<br />

stürmischem Applaus auf. Er, Kerenski, habe bereits befohlen, notwendig gewordene<br />

Verhaftungen vorzunehmen. »Beson<strong>der</strong>s beachtenswert sind die Reden des Vorsitzenden<br />

des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, Bronstein-Trotzkis.« Man möge wissen: die Regierung habe<br />

Kräfte mehr als genug; von <strong>der</strong> Front kämen dauernd For<strong>der</strong>ungen nach entschiedenen<br />

Maßnahmen gegen die Bolschewiki. In diesem Augenblick überreicht Konowalow dem<br />

Redner ein Funktelegramm des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees an die Garnisontruppen:<br />

»Das Regiment in volle Kampffbereitschaft bringen und weitere Befehle abwarten.«<br />

Kerenski schließt feierlich: »In <strong>der</strong> Sprache des Gesetzes und <strong>der</strong> Justiz wird dies als<br />

Aufstand bezeichnet.« Miljukow bezeugt: »Kerenski brachte diese Worte im zufriedenen<br />

Tone eines Advokaten hervor, dem es endlich gelang, seinen Gegner zu überführen.«<br />

»Jene Gruppen und Parteien, die es gewagt haben, die Hand gegen den Staat zu<br />

erheben, werden wir unverzüglich und restlos liquidieren.« Der ganze Saal mit<br />

Ausnahme des linken Teiles applaudiert demonstrativ. Die Rede schließt mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung:<br />

noch heute, in dieser Sitzung, Antwort zu geben, kann die Regierung bei »Erfüllung<br />

ihrer Pflicht mit Sicherheit auf die Unterstützung dieser hohen Versammlung<br />

rechnen«?<br />

Ohne erst die Abstimmung abzuwarten, kehrte Kcrenski in den Stab zurück, nach<br />

seinen eigenen Worten überzeugt, daß noch keine Stunde verstreichen dürfte, bis er den<br />

ihm - unbekannt wofür - erfor<strong>der</strong>lichen Beschluß erhalten würdc. Es kam jedoch an<strong>der</strong>s.<br />

Von zwei bis sechs Uhr abends gingen im Mariinski-Palais fraktionelle und interfraktionelle<br />

Beratungen über den Text <strong>der</strong> Übergangsformel: die Teilnehmer hatten noch nicht<br />

begriffen, daß es um einen Übergang ins Nichts ging. Keine <strong>der</strong> Versöhnlergruppen<br />

wollte sich mit <strong>der</strong> Regierung identifizieren. Dan sagte: »Wir Menschewiki sind bereit,<br />

bis zum letzten Blutstropfen die Provisorische Regierung zu verteidigen; doch muß sie<br />

<strong>der</strong> Demokratie die Möglichkeit geben, sich um sie zusammenzuschließen.« Gegen<br />

Abend einigten sich die zersplitterten, demoralisierten, vom Suchen nach einem Ausweg<br />

erschöpften linken Fraktionen des Vorparlaments auf eine von Dan bei Martow entlehnte<br />

Formel, die die Verantwortung für den Aufstand nicht nur den Bolschewiki, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>der</strong> Regierung zuschob, sofortige Übergabe des Grund und Bodens zur Verwaltung<br />

an die Landkomitees, Schritte bei den Alliierten zugunsten von Friedensverhandlungen<br />

und so weiter for<strong>der</strong>te. So suchten die Apostel <strong>der</strong> Mäßigkeit in letzter Minute Losungen<br />

nachzuäffen, die sie gestern noch als Demagogie und Abenteurertum gebrandmarkt<br />

hatten. Bedingungslose Unterstützung <strong>der</strong> Regierung versprachen außer den Genossen-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 682


schaftlern nur Kadetten und Kosaken; zwei Gruppen, die die Absicht hatten, Kerenski<br />

bei <strong>der</strong> ersten Gelegenheit zu stürzen. Sie blieben aber in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Die Unterstützung<br />

des Vorparlaments hätte <strong>der</strong> Regierung zwar auch nicht viel einbringen können.<br />

Dennoch hat Miljukow recht: die Verweigerung dieser Unterstützung nahm <strong>der</strong> Regierung<br />

die letzten Reste von Autorität. War doch die Zusammensetzung des Vorparlaments<br />

wenige Wochen zuvor von <strong>der</strong> Regierung selbst festgelegt worden!<br />

Während im Mariinski-Palais eine rettende Formel gesucht wurde, trat im Smolny <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Sowjet zusammen, um sich über die Ereignisse zu informieren. Der Berichterstatter<br />

findet für nötig, auch hier daran zu erinnern, daß das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

entstanden sei »nicht als Organ des Aufstandes, son<strong>der</strong>n auf dem Boden <strong>der</strong><br />

Selbstverteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Das Komitee habe Kerenski an <strong>der</strong> Entfernung <strong>der</strong><br />

revolutionären Truppen aus Petrograd gehin<strong>der</strong>t und die Arbeiterpresse unter seinen<br />

Schutz genommen. »Ist das ein Aufstand?« Die "Aurora" steht heute dort, wo sie gestern<br />

nacht war. »Ist das ein Aufstand?« - »Bei uns besteht eine Scheinmacht, <strong>der</strong> das Volk<br />

nicht vertraut und die sich selbst nicht vertraut, denn sie ist innerlich tot. Diese Seheinmacht<br />

wartet darauf, vom historischen Besen hinweggefegt zu werden und den Platz zu<br />

räumen für die wahre Macht des revolutionären Volkes.« Morgen werde <strong>der</strong> Sowjetkongreß<br />

eröffnet. Pflicht <strong>der</strong> Garnison und <strong>der</strong> Arbeiter sei, dem Kongreß ihre ganze Kraft<br />

zur Verfügung zu stellen. »Wenn die Regierung aber versuchen sollte, die vierundzwanzig<br />

o<strong>der</strong> achtundvierzig Stunden, die ihr geblieben sind, zu benutzen, um <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

das Messer in den Rücken zu stoßen, so erklären wir aufs neue: die vor<strong>der</strong>sten Reihen<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> werden Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren.« Diese offene<br />

Drohung ist gleichzeitig die politische Deckung des in <strong>der</strong> Nacht bevorstehenden Schlages.<br />

Trotzki teilt zum Schluß mit, daß die Vorparlarnentsfraktion <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre<br />

nach dem heutigen Auftreten Kerenskis und dem Mäusetreiben <strong>der</strong><br />

Versöhnlerfrakrionen eine Delegation in das Smolny entsandt und ihre Bereitschaft<br />

ausgesprochen habe, offiziell in das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee einzutreten. In <strong>der</strong><br />

Wendung <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre begrüßte <strong>der</strong> Sowjet freudig die Wi<strong>der</strong>spiegelung<br />

tieferer Prozesse: den wachsenden Schwung des Bauerrikrieges und den erfolgreichen<br />

Verlauf des Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes.<br />

Den Bericht des Petrogra<strong>der</strong> Sowjetvorsitzenden kommentierend, schreibt Miljukow:<br />

»Dies war auch wahrscheinlich Trotzkis ursprünglicher Plan: Nach getroffenen Kampfvorbereitungen<br />

die Regierung von Angesicht zu Angesicht zu stellen mit dem "einmütigen<br />

Willen des Volks", zum Ausdruck gebracht durch den Sowjetkongreß, um so <strong>der</strong> neuen<br />

Macht den Anschein legalen Ursprungs zu verleihen. Doch die Regierung erwies sich<br />

schwächer, als er erwartet hatte. Und die Macht fiel ihm von selbst in die Hände, bevor<br />

<strong>der</strong> Kongreß sich versammeln und äußern konnte.« An diesen Worten ist zutreffend, daß<br />

die Schwäche <strong>der</strong> Regierung alle Erwartungen übertraf Doch bestand <strong>der</strong> Plan von<br />

Anfang an darin, die Macht vor Eröffnung des Kongresses zu ergreifen. Miljukow gibt<br />

dies übrigens in einem an<strong>der</strong>en Zusammenhange selbst zu. »Die wirklichen Absichten<br />

<strong>der</strong> Aufstandführer«, schreibt er, »gingen viel weiter als diese offiziellen Erklärungen<br />

Trotzkis... Der Sowjetkongreß sollte vor eine vollendete Tatsache gestellt werden.«<br />

Der rein militärische Plan bestand ursprünglich darin, die baltischen Seeleute mit den<br />

bewaffneten Wyborger Arbeitern zu vereinigen: die Matrosen sollten mit <strong>der</strong> Eisenbahn<br />

kommen und auf dem Finnländischen Bahnhof, <strong>der</strong> im Wyborger Bezirk liegt,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 683


aussteigen. Von diesem Sammelpunkt aus sollte sich <strong>der</strong> Aufstand durch Hinzukommen<br />

weiterer Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde und Truppen <strong>der</strong> Garnison auf an<strong>der</strong>e Bezirke<br />

ausbreiten, um nach Besetzung <strong>der</strong> Brücken ins Zentrum einzudringen und den endgültigen<br />

Schlag zu führen. Dieser sich naturgemäß aus <strong>der</strong> Lage ergebende und offenbar von<br />

Antonow ausgearbeitete Plan beruhte auf <strong>der</strong> Vermutung, <strong>der</strong> Gegner könnte noch<br />

bedeutenden Wi<strong>der</strong>stand leisten. Doch diese Voraussetzung wurde bald hinfällig: Von<br />

einem beschränkten Sammelpunkt aus vorzugehen, bestand keine Notwendigkeit; die<br />

Regierung erwies sich überall, wo die Aufständischen es für nötig erachteten, gegen sie<br />

einen Schlag zu führen, als völlig ungeschützt. Der strategische Plan erfuhr Verän<strong>der</strong>ungen<br />

auch in bezug auf die Fristen, und zwar in zweierlei Richtung: Der Aufstand brach<br />

früher aus und endete später, als vorausgesehen war. Der Anschlag <strong>der</strong> Regierung vom<br />

Morgen rief soforrige Wi<strong>der</strong>standsmaßnahmen defensiver Art seitens des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees hervor. Die dabei offenbar gewordene Ohnmacht <strong>der</strong> Behörden<br />

stieß den Smolny schon im Laufe des Tages zu Offensivmaßnahmen, die allerdings einen<br />

unfertigen, halbmaskierten, vorbereitenden Charakter trugen. Der Hauptschlag sollte<br />

nach wie vor nachts geführt werden: in diesem Sinne blieb <strong>der</strong> Plan in Kraft. Er wurde<br />

jedoch im Verlaufe <strong>der</strong> Durchführung umgestoßen, nunmehr aber in entgegengeqizter<br />

Richtung. Für die Nacht war die Einnahme aller Kommandohöhen vorgesehen, in erster<br />

Linie des Winterpalais, wo sich die Zentralmacht verborgen hielt. Aber die Zeiteinteilung<br />

ist bei einem Aufstande noch schwieriger als im regulären Krieg. Die Leiter hatten sich<br />

mit dem Zusammenziehen <strong>der</strong> Kräfte um viele Stunden verspätet, und die Operationen<br />

gegen das Winter-palais, die in <strong>der</strong> Nacht nicht einmal eingeleitet werden konnten, bildeten<br />

ein beson<strong>der</strong>es Kapitel <strong>der</strong> Umwälzung, das erst in <strong>der</strong> Nacht auf den 26., das heißt<br />

mit einer Verspätung um volle vierundzwanzig Stunden, seinen Abschluß fand. Ohne<br />

ernste Versager ist auch <strong>der</strong> glänzendste Sieg nicht zu erringen!<br />

Nach Kerenskis Auftreten im Vorparlament versuchten die Behörden, ihre Offensive<br />

auszudehnen. Junkerabteilungen besetzten die Bahnhöfe. An großen Straßenkreuzungen<br />

sind Wachtposten aufgestellt mit <strong>der</strong> Weisung, die dem Staate nicht abgelieferten<br />

Privatautos zu requirieren. Gegen 3 Uhr nachmittags wurden die Brücken auseinan<strong>der</strong>genommen,<br />

mit Ausnahme <strong>der</strong> Schloßbrücke, die unter starker Bewachung von Junkem für<br />

den Verkehr frei blieb. Diese Maßnahme, von <strong>der</strong> Monarchie hei allen Unruhen<br />

angewandt, zuletzt in den Februartagen, war von <strong>der</strong> Angst vor den Arbeiterbezirken<br />

diktiert. Das Auseinan<strong>der</strong>nehmen <strong>der</strong> Brücken bildete in den Augen <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

gleichsam die offizielle Bestätigung dessen, daß <strong>der</strong> Aufstand begonnen habe. Die Stäbe<br />

<strong>der</strong> interessierten Bezirke beantworteten den Kriegsakt <strong>der</strong> Regierung sogleich auf ihre<br />

Art durch Entsendung bewaffneter Abteilungen zu den Brücken. Dem Smolny blieb nur<br />

übrig, diese Initiative zu unterstützen. Der Kampf um die Brücken hatte für beide<br />

Parteien den Charakter einer Kräfteprüfung. Bewaffnete Arbeiter- und Soldatentrupps<br />

drängten bald mit Zureden, bald mit Drohungen gegen Junker und Kosaken an. Die<br />

Wachen traten schließlich ah, ohne einen direkten Zusammenstoß zu wagen. Einige<br />

Brücken wurden mehrere Male hintereinan<strong>der</strong> geöffnet und geschlossen.<br />

Die "Aurora" erhielt unmittelbar vom Militärischen <strong>Revolution</strong>skoniitee Befehl: »Mit<br />

allen euch zur Verfügung stehenden Mitteln den Verkehr auf <strong>der</strong> Nikolajewski-Brücke<br />

wie<strong>der</strong>herstellen.« Der Kommandant des Kreuzers versuchte, die Ausführung des<br />

Befehls hintanzuhalten, doch nachdem gegen ihn und sämtliche Offiziere symbolische<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 684


Verhaftung angewandt worden war, übernahm er gehorsanist den Befehl über das Schiff.<br />

An beiden Ufern rückten Ketten von Matrosen vor. Ehe noch die "Aurora" vor <strong>der</strong><br />

Brücke Anker werfen konnte, erzählt Kurkow, war von den Junkern jede Spur<br />

verschwunden. Die Matrosen schlossen die Brücke und stellten Posten. Nur die Schloßbrücke<br />

verblieb noch einige Stunden in den Händen <strong>der</strong> Regierungswachcn.<br />

Trotz dem offensichtlichen Mißlingen <strong>der</strong> ersten Aktionen versuchten einzelne Regierungsorgane<br />

auch weiterhin ihre Schläge zu führen. Eine Milizabteilung erschien abends<br />

in einer großen Privatdruckerei, um die Zeitung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, 'Arbeiter und<br />

Soldat', zu beschlagnahmen. Zwölf Stunden vorher waren die Arbeiter <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Druckerei aus dem gleichen Anlaß um Hilfe in das Smolny geeilt; nun ist dies<br />

nicht mehr nötig. Gemeinsam mit zwei zufällig anwesenden Matrosen nahmen die<br />

Druckereiarbeiter das mit Zeitungen beladene Automobil weg, wobei sich ihnen sogleich<br />

ein Teil <strong>der</strong> Milizionäre anschloß. Der Inspektor <strong>der</strong> Miliz floh. Die entrissenen Zeitungen<br />

wurden wohlbehalten im Smolny abgeliefert. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

sandte zwei Kolonnen des Preobraschensker Regiments zum Schutze. Die erschrockene<br />

Administration übergab die Leitung <strong>der</strong> Druckerei sogleich dem Rat <strong>der</strong> Arbeiterältesten.<br />

Zwecks Vornahme von Verhaftungen in das Smolny einzudringen, kam den Justizbehörden<br />

nicht einmal in den Sinn: es war zu offensichtlich, daß dies das Signal zum<br />

Bürgerkriege bedeutet hätte mit einer im voraus sicheren Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Regierung.<br />

Dafür aber wurde im Wege administrativer Konvulsion im Wyborger Bezirk, wo auch in<br />

besseren Tagen die Behörden es tunlichst vermieden, sich zu zeigen, <strong>der</strong> Versuch unternommen,<br />

Lenin zu verhaften. Spät abends drang irgendein Oberst mit einem Dutzend<br />

Junker statt in die bolschewistische Redaktion irrtümlich in einen Arbeiterklub ein, <strong>der</strong><br />

sich in demselben Hause befand: die Kämpen vermuteten aus irgendeinem Grunde, daß<br />

Lenin in <strong>der</strong> Redaktion auf sie warte. Vom Klub aus informierte man unverzüglich den<br />

Bezirksstab <strong>der</strong> Roten Garde. Während <strong>der</strong> Oberst durch verschiedene Etagen irrte, sogar<br />

zu den Menschewiki geriet, trafen Rotgardisten ein, verhafteten ihn zusammen mit den<br />

Junkern, brachten ihn zum Wyborger Bezirksstab und von dort in die<br />

Peter-Paul-Festung. So stieß <strong>der</strong> mit Donnerstimme angekündigte Feldzug gegen die<br />

Bolschewiki bei jedem Schritt auf unüberwindliche Schwierigkeiten, verwandelte sich in<br />

zusammenhanglose Überfälle und kleine Anekdoten, verflog und verdampfte in Nichts.<br />

Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitec arbeitete indessen unablässig. Bei den Truppenteilen<br />

hielten Kommissare Wache. Der Bevölkerung wurde durch beson<strong>der</strong>en Aufruf<br />

bekanntgegeben, an wen sie sich im Falle konterrevolutionärer o<strong>der</strong> pogromistischer<br />

Anschläge zu wenden habe: »Hilfe wird unverzüglich geleistet werden.« Es genügt ein<br />

nachdrücklicher Besuch des Kommissars des Kexholmer Regiments im Telephonamt,<br />

damit die Apparate des Smolny wie<strong>der</strong> angeschlossen waren. Die Telephonverbindung,<br />

die schnellste von allen, verlieh den sich entwickelndenen Sicherheit und Planmäßigkeit.<br />

Indem es seine Kommissare in jene Ämter entsandte, die noch nicht unter seiner<br />

Kontrolle standen, erweiterte und festigte das Miltärische <strong>Revolution</strong>skomitee die<br />

Ausgangspositionen für den bevorstehenden Angriff. Am Tage händigte Dserschinski<br />

dem alten <strong>Revolution</strong>är Pestkowski einen Papierfetzen aus, <strong>der</strong> ein Mandat auf den<br />

Posten eines Kommissars des Haupttelegraphenamtes darstellen sollte. - »Wie das<br />

Telegraphenamt besetzen?« fragte nicht ohne Staunen <strong>der</strong> neue Kommissar. - »Dort hält<br />

das Kexholmcr Regiment Wache, das auf unserer Seite ist!« Weiterer Erklärungen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 685


edurfte Pestkowski nicht. Es haben zwei mit Gewehren versehene Kexholmer am<br />

Stromschalter genügt, um ein zeitweiliges Kompromiß mit den feindlichen Telegraphenbeamten,<br />

unter denen es nicht einen Bolschewik gab, zu erreichen.<br />

Um 9 Uhr abends besetzte ein an<strong>der</strong>er Kommissar des Militärisshen <strong>Revolution</strong>skomitees,<br />

Stark, mit einer kleinen Abteilung Seeleute unter dem Kommando des Matrosen<br />

Sawin, eines früheren Emigranten, die amtliche Telegraphenagentur, was nicht nur das<br />

Schicksal <strong>der</strong> Institution selbst, son<strong>der</strong>n bis zu einem gewissen Grade auch sein eigenes<br />

bestimmte: Stark war erster Sowjetdirektor <strong>der</strong> Agentur, bevor er Sowjetgesandtcr in<br />

Afghanistan wurde.<br />

Stellten diese zwei bescheidenen Operationen Akte des Aufstandes dar o<strong>der</strong> nur Episoden<br />

<strong>der</strong> Doppelherrschaft, allerdings von dem versöhnlerischen auf das bolschewistische<br />

Geleise umgeleitet? Die Frage kann begründeterweise kasuistisch erscheinen. Aber für<br />

die Tarnung des Aufstandes hatte sie immer noch gewisse Bedeutung. Tatsache ist, daß<br />

sogar das Eindringen <strong>der</strong> bewaffneten Matrosen noch den Charakter <strong>der</strong> Halbheit trug:<br />

formell handelte es sich vorläufig nicht um die Besetzung des Amtes, son<strong>der</strong>n nur um die<br />

Errichtung einer Telegrammzensur. Somit wurde bis zum Abend des 24. die Nabelschnur<br />

<strong>der</strong> "Legalität" nicht endgültig durchschnitten, die Bewegung deckte sich noch immer mit<br />

den Resten <strong>der</strong> Doppelherrsehaftstradition.<br />

Bei <strong>der</strong> Ausarbeitung <strong>der</strong> Aufstandspläne hatte das Smolny große Hoffnung auf die<br />

baltischen Seeleute gesetzt als eine Kampfabteilung, hei <strong>der</strong> sich proletarische Entschlossenheit<br />

mit soli<strong>der</strong> militärischer Ausbildung verband. Das Eintreffen <strong>der</strong> Matrosen in<br />

Petrograd war im voraus dem Sowjetkongreß angepaßt. Ein früheres Herbeirufen <strong>der</strong><br />

baltischen Seeleute hätte bedeutet, offen den Weg des Aufstands zu beschreiten. Daraus<br />

erwuchs eine Schwierigkeit, die zur Verspätung führte.<br />

Im Smolny trafen im Laufe des 24. zwei Delegierte des Kronstädter Sowjets zum<br />

Kongreß ein: <strong>der</strong> Bolschewik Flerowski und <strong>der</strong> Anarchist Jartschuk, <strong>der</strong> mit den<br />

Bolschewiki ging. In einem Zimmer des Smolny stießen sie mit Tschudnowski zusammen,<br />

<strong>der</strong> eben von <strong>der</strong> Front gekommen war und sich unter Berufung auf die Soldatenstimmungen<br />

gegen einen Aufstand in <strong>der</strong> nächsten Periode aussprach. »Beim heftigsten<br />

Streit«, erzählt Flerowski, »betrat das Zimmer Trotzki ... Er rief mich beiseite und<br />

empfahl mir, unverzüglich nach Kronstadt zurückzukehren: "die Ereignasse reifen so<br />

schnell, daß je<strong>der</strong> auf seinem Platze sein muß" ... In <strong>der</strong> kurzen Weisung empfand ich<br />

scharf die Disziplin des heranrückenden Aufstandes.« Der Streit brach ab. Der empfängliche<br />

und leidenschaftliche Tschudnowski stellte seine Zweifel zurück, um an <strong>der</strong> Ausarbeitung<br />

<strong>der</strong> Kriegspläne teilzunehmen. Flerowski und Jartschuk eilte ein Funkspruch<br />

hinterher: »Mit den bewaffneten Kräften Kronstadts beim Morgengrauen zur Verteidigung<br />

des Sowjetkongresses ausrücken.«<br />

Durch Swerdlow sandte das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee in <strong>der</strong> Nacht ein<br />

Telegramm nach Helsingfors an Smilga, den Vorsitzenden des Distriktkomitees <strong>der</strong><br />

Sowjets in Finnland: »Schicke Statuten.« Das bedeutete: schicke sofort tausendfünfhun<strong>der</strong>t<br />

ausgewählte baltische Matrosen bis an die Zähne bewaffnet. Wenn auch die baltischen<br />

Matrosen erst im Laufe des nächsten Tages eintreffen können, so besteht dennoch<br />

keine Ursache, die Kampfhandlungen aufzuschieben: es gibt genügend lokale Kräfte, -<br />

auch besteht dazu nicht die Möglichkeit: die Operationen sind bereits in vollem Gange.<br />

Sollten <strong>der</strong> Regierung von <strong>der</strong> Front Verstärkungen zu Hilfe kommen, so werden die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 686


Seeleute früh genug da sein, um sie von <strong>der</strong> Flanke o<strong>der</strong> im Rücken anzugreifen.<br />

Die taktische Ausarbeitung des Schemas <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Hauptstadt ist vorwiegend<br />

das Werk <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki. Generalstabsoffiziere würden<br />

an dem Plane <strong>der</strong> Profanen viele Lücken entdecken. Doch pflegen Militärakademiker<br />

nicht teilzunehmen an <strong>der</strong> Vorbereitung eines revolutionären Aufstandes. Das Allernotwendigste<br />

ist jedenfalls vorgesehen. Die Stadt ist in Kampfreviere eingeteilt, die den<br />

nächsten Stäben unterstellt sind. An den wichtigsten Punkten sind Mannschaften <strong>der</strong><br />

Roten Garde zusammengezogen und in Verbindung gebracht mit den benachbarten<br />

Truppenteilen, wo Wachtkompanien in Bereitschaft liegen. Die Ziele je<strong>der</strong> einzelnen<br />

Operation und die Kräfte dafür sind im voraus festgelegt. Alle Teilnehmer des Aufstandes,<br />

von oben bis unten - darin liegt seine Macht, darin aber in gewissen Augenblicken<br />

auch seine Achillesferse -, sind von <strong>der</strong> Überzeugung durchdrungen, <strong>der</strong> Sieg werde<br />

ohne Opfer errungen werden.<br />

Die Hauptoperationen begannen gegen 2 Uhr nachts. Mit kleineren militärischen<br />

Gruppen, in <strong>der</strong> Regel mit einem Kern aus bewaffneten Arbeitern o<strong>der</strong> Matrosen unter<br />

Leitung von Kommissaren, wurden gleichzeitig o<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> Bahnhöfe, Elektrizitätszentrale,<br />

Militär- und Proviantlager, Wasserleitung, Schlossbrücke, Telephonzentrale,<br />

Staatsbank, die großen Druckereien besetzt, Telegraph und Post gesichert, überall zuverlässige<br />

Wachen aufgestellt.<br />

Dürftig und farblos sind die Berichte über die Episoden <strong>der</strong> Oktobernacht: sie gleichen<br />

einem Polizeiprotokoll. Alle Kampfteilnehmer schüttelt Nervenfieber. Es ist niemand da<br />

und es is keine Zeit für Beobachtungen und Aufzeichnungen. Die bei den Stäben einlaufenden<br />

Informationen werden nicht o<strong>der</strong> nur nachlässig zu Papier gebracht, auch gehen<br />

die Notizen verloren. Die nachträglichen Erinnerungen sind trocken und nicht immer<br />

genau, da sie meist von zufälligen Teilnehmern und Beobachtern stammen. Jene<br />

Arbeiter, Matrosen und Soldaten aber, die die wirklichen Inspiratoren und Leiter <strong>der</strong><br />

Operationen zur Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt waren, gelangten bald an die Spitze <strong>der</strong> ersten<br />

Abteilungen <strong>der</strong> Roten Arniee und ließen in den meisten Fällen bald ihr Leben auf den<br />

verschiedenen Schauplätzen des Bürgerkrieges. Bei <strong>der</strong> Ermittlung des Charakters und<br />

<strong>der</strong> Aufeinan<strong>der</strong>folge <strong>der</strong> einzelnen Episoden stößt <strong>der</strong> Forscher auf große Verworrenheiten,<br />

die die Zeitungsberichte nur noch komplizierter gestalten. Es scheint mitunter, daß<br />

im Herbst 1917 Petrograd zu erobern leichter war, als vierzehn Jahre später diesen<br />

Prozeß zu rekonstruieren<br />

Die erste Kompanie des Pionierbataillons, die festeste und revolutionärste, wurde mit<br />

<strong>der</strong> Einnahme des benachbarten Nikolajewski-Bahnhofs betraut. Schon nach einer<br />

Viertelstunde war <strong>der</strong> Bahnhof ohne einen Schuß mit starken Wachen besetzt: die regierungstreuen<br />

Posten hatten sich einfach in die Dunkelheit verflüchtigt. Voll verdächtigen<br />

Lärms und geheimnisvoller Bewegung ist die kalte durchdringende Nacht. Die scharfe<br />

Unruhe in ihrem Herzen unterdrückend, halten Soldaten gewissenhaft Vorbeigehende<br />

und Vorbeifahrende an, um sorgfältig <strong>der</strong>en Papiere zu prüfen. Nicht immer wissen sie,<br />

wie zu verfahren, schwanken, - lassen meistens vorbei. Doch mit je<strong>der</strong> Stunde steigt die<br />

Sicherheit. Gegen 6 Uhr morgens halten die Pioniere zwei Kraftwagen mit Junkem an,<br />

etwa sechzig Mann, entwaffnen sie und bringen sie in das Smolny.<br />

Das gleiche Bataillon erhält Befehl, fünfzig Mann zum Schutze eines Proviantlagers zu<br />

schicken, einundzwanzig Mann zur Bewachung <strong>der</strong> Elektrischen Zentrale. Eine Or<strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 687


löst die an<strong>der</strong>e ab, bald aus dem Smolny, bald aus dem Bezirk. Niemand wi<strong>der</strong>spricht,<br />

niemand murrt. Nach <strong>der</strong> Meldung eines Kommissars werden die Befehle »umgehend<br />

und exakt« durchgeführt. Die Bewegungen <strong>der</strong> Soldaten bekommen eine längst nicht<br />

mehr dagewesene Präzision. So sehr diese morsche Garnison auch aufgelockert, nur noch<br />

zum Abbruch tauglich ist, erwacht diese Nacht <strong>der</strong> alte Soldatendrill wie<strong>der</strong> in ihr und<br />

spannt - zum letztenmal - jeden Muskel im Dienste des neuen Zieles.<br />

Kommissar Uralow erhielt zwei Mandate: eins zur Besetzung <strong>der</strong> Druckerei <strong>der</strong><br />

reaktionären Zeitung 'Russkaja Wolja' ('Russischer Wille'), einstmals gegründet von<br />

Protopopow, kurz bevor er Nikolaus II. letzter Innenminister geworden; das zweite - eine<br />

Kolonne Soldaten aus dem Semjonowsker Gar<strong>der</strong>egiment zu holen, das die Regierung<br />

aus alter Gewohnheit noch als das ihrige betrachtete. Die Semjonowsker wurden<br />

gebraucht zur Besetzung einer Druckerei, die Druckerei - zur Herausgabe <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Zeitung in großem Format und großer Auflage. Die Soldaten waren bereits beim<br />

Schlafengehen. Der Kommissar setzte ihnen kurz den Zweck seiner Mission auseinan<strong>der</strong>:<br />

»Kaum war ich fertig, als von allen Plätzen Hurrarufe erschallten. Die Soldaten sprangen<br />

von ihren Pritschen auf und umringten mich im engen Kreise.« Vollbeladen mit<br />

Semjonowsker Soldaten fuhr das Lastauto zur Druckerei. Im Rotationsmaschinensaal<br />

versammelte sich im Nu die Nachtschicht <strong>der</strong> Arbeiter. Der Kommissar setzte ihnen den<br />

Zweck seines Erscheinens auseinan<strong>der</strong>. »Wie in <strong>der</strong> Kaserne antworteten auch hier die<br />

Arbeiter mit Rufen Hurra! und Hoch die Sowjets!« Die Mission ist erfüllt. Ungefähr in<br />

<strong>der</strong> gleichen Weise vollzog sich auch die Einnahme an<strong>der</strong>er Institutionen. Gewaltanwendung<br />

war nicht erfor<strong>der</strong>lich, da es keinen Wi<strong>der</strong>stand gab. Die aufständischen Massen<br />

breiteten die Ellenbogen aus und verdrängten die gestrigen Herren.<br />

Der Bezirkskommandierende Polkownikow meldete nachts ins Hauptquartier und in<br />

den Stab <strong>der</strong> Nordfront über die militärischen Drahtleitungen: »Lage in Petrograd<br />

erschreckend. Straßenkundgebungen und Unruhen finden nicht statt. Aber es geht eine<br />

planmäßige Besetzung von Ämtern und Bahnhöfen, Verhaftungen ... Die Junker verlassen<br />

die Wachtposten ohne Wi<strong>der</strong>stand. Es bestehen keine Garantien, daß nicht ein<br />

Versuch zur Verhaftung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung unternommen wird.« Polkownikow<br />

hat recht: es bestehen tatsächlich keine Garantien.<br />

In Militärkreisen erzählte man, Agenten des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees hätten<br />

bei dem Petrogra<strong>der</strong> Kommandanten aus dessen Tisch Parolen und Abberufungsor<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Garnisonwachen gestohlen. Unwahrscheinlich wäre das nicht: beim unteren Personal<br />

aller Ämter hatte <strong>der</strong> Aufstand Freunde genug. Aber doch ist die Version von den<br />

entwendeten Parolen aller Wahrscheinlichkeit nach entstanden, um jene allzu kränkende<br />

Leichtigkeit zu erklären, mit <strong>der</strong> die bolschewistischen Wachen die Stadt einnahmen.<br />

An die Garnison ist während <strong>der</strong> Nacht ein Befehl ergangen: Offiziere, die die Macht<br />

des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees nicht anerkennen, sind zu verhaften. In vielen<br />

Regimentern waren die Kommandeure bereits von selbst verschwunden, um an einem<br />

stillen Platze die unruhigen Tage abzuwarten. In an<strong>der</strong>en Truppenteilen wurden die<br />

Offiziere entfernt o<strong>der</strong> verhaftet. Überall bildeten sich eigene revolutionäre Komitees<br />

o<strong>der</strong> Stäbe, die Hand in Hand mit den Kommissaren arbeiteten. Daß das improvisierte<br />

Kommando nicht auf <strong>der</strong> Höhe war, versteht sich von selbst. Dafür aber war es zuverlässig.<br />

Und die Frage wurde vor allem in <strong>der</strong> politischen Instanz entschieden.<br />

Doch entwickelten bei all ihrer Unerfahrenheit die Stäbe einzelner Truppenteile bedeu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 688


tende militärische Initiative. Das Komitee des Pawlowsker Regiments schickte von sich<br />

aus Kundschafter in den Bezirksstab, um zu erfahren, was dort geschehe. Das Reserve-<br />

Chemiebataillon beobachtete aufmerksam die unruhigen Nachbarn: die Junker <strong>der</strong><br />

Pawlowsker und Wladimirsker Schulen und die Schüler des Kadettenkorps. Die Chemiker<br />

entwaffneten häufig auf <strong>der</strong> Straße Junker und hielten sie damit in Angst. Durch<br />

Verbindung mit dem Soldaterrkommando <strong>der</strong> Pawlowsker Schule erreichte <strong>der</strong> Stab des<br />

Chemischen Bataillons, daß die Schlüssel zu den Waffen in die Hände des Kommandos<br />

gerieten.<br />

Die Zahlenstärke <strong>der</strong> an <strong>der</strong> nächtlichen Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt unmittelbar Beteiligten<br />

ist schwer zu bestimmen: nicht nur, weil niemand sie gezählt und notitiert hat,<br />

son<strong>der</strong>n auch des Charakters <strong>der</strong> Operation wegen. Die Reserven zweiten und dritten<br />

Grades verschmolzen fast mit <strong>der</strong> gesamten Garnison Doch brauchte man nur episodisch<br />

zu den Reserven zu greifen. Einige tausend Rotgardisten, zwei-, dreitausend Seeleute -<br />

morgen mit dem Eintreffen <strong>der</strong> Kronstädter und Helsingforser wird ihre Zahl sich<br />

annähernd verdreifachen -, etwa zwanzig Infanteriekompanien und -kommandos -, das<br />

waren die Kräfte ersten und zweiten Aufgebots, mit <strong>der</strong>en Hilfe die Aufständischen die<br />

Hauptstadt einnahmen.<br />

Um 3 Uhr nachts meldete <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> politischen Verwaltung des<br />

Kriegsministeriums, Menschewik Seher, über die direkte Leitung nach dem Kaukasus:<br />

»Es tagt eine Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees gemeinsam mit den zum Sowjetkongreß<br />

eingetroffenen Delegierten, in überwiegen<strong>der</strong> Mehrheit Bolschewiki. Trotzki wurde<br />

eine Ovation bereitet. Er erklärte, daß er auf einen unblutigen Ausgang des Aufstandes<br />

hoffe, da die Macht in ihren Händen sei. Die Bolschewiki sind zu aktiven Handlungen<br />

übergegangen. Sie haben die Nikolajewski-Brücke besetzt, dort Panzerwagen aufgefahren.<br />

Das Pawlowsker Regiment hat auf <strong>der</strong> Milljonaja-Straße neben dem Winterpalais<br />

Posten aufgestellt, hält alle an, verhaftet und führt ins Smolny-Institut ab. Verhaftet sind<br />

Minister Kartaschew und <strong>der</strong> Geschäftsführer <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Halperin.<br />

Der Baltische Bahnhof ist ebenfalls in den Händen <strong>der</strong> Bolschewiki. Wenn die Front sich<br />

nicht einmischt, verfügt die Regierung über keine Kräfte, den vorhandenen Truppen<br />

Wi<strong>der</strong>stand zu leisten.«<br />

Die Vereinigte Sitzung des Exekutivkoniitees, von <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bericht Leutnant Sehers<br />

spricht, wurde im Smolny nach Mitternacht eröffnet. Die Delegierten des Sowjetkongresses<br />

füllten den Saal als Gäste. Korridore und Gänge sind durch verstärkte Wachen<br />

besetzt. Feldgraue Mäntel, Gewehre, in den Fenstern Maschinengewehre. Die Mitglie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Exekutivkomitees ertranken in <strong>der</strong> vielköpfigen und feindlichen Masse <strong>der</strong> Provinzler.<br />

Das oberste Organ <strong>der</strong> "Demokratie" schien bereits Gefangener des Aufstandes zu<br />

sein. Es fehlte die gewohnte Figur des Vorsitzenden Tschcheidse. Es fehlte <strong>der</strong> unvermeidliche<br />

Referent Zeretelli. Eingeschüchtert durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse, hatten<br />

beide einige Wochen vor dem Kampfe ihre verantwortlichen Posten nie<strong>der</strong>gelegt und<br />

waren, Petrograd seinem Schicksal überlassend, in ihr heimatliches Georgien abgereist.<br />

Führer des Versöhnlerblocks blieb Dan. Er besaß we<strong>der</strong> die listige Gutmütigkeit<br />

Tschcheidses noch die pathetische Beredsamkeit Zeretellis; dafür überragte er beide an<br />

starrer Kurzsichtigkeit. Einsam auf <strong>der</strong> Präsidiumstribüne eröffnete <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />

Goz die Sitzung. Dan nahm das Wort unter völligem Schweigen des Saales, das<br />

Suchanow lau schien und John Reed »fast bedrohlich«. Das Steckenpferd des Redners<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 689


war eine frischgebackene Resolution des Vorparlaments, die versuchte, dem Aufstand<br />

das blasse Echo seiner eigenen Losungen entgegenzustellen, »Es wird zu spät werden,<br />

wenn ihr diesen Beschluß nicht beachtet«, sagte Dan, drohend mit dem unvermeidlichen<br />

Hunger und <strong>der</strong> Demoralisierung <strong>der</strong> Massen. »Niemals war die Konterrevolution so<br />

stark wie in diesem Augenblick«, das heißt in <strong>der</strong> Nacht auf den 25. Oktober 1917! Der<br />

erschrockene Kleinbürger sieht angesichts großer Ereignisse nichts als Gefahren und<br />

Hin<strong>der</strong>nisse. Seine einzige Kraftquelle ist - das Pathos <strong>der</strong> Angst. »In den Betrieben und<br />

Kasernen hat die Schwarzhun<strong>der</strong>t-Presse bedeutend größeren Erfolg als die sozialistische.«<br />

Wahnsinnige führen die <strong>Revolution</strong> ins Ver<strong>der</strong>ben, wie 1905, »als an <strong>der</strong> Spitze<br />

des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets <strong>der</strong> gleiche Trotzki stand«. Doch nein. Das Zentral-Exekutivkomitee<br />

wird einen Aufstand nicht zulassen: »Nur über seiner Leiche werden sich die<br />

Bajonette <strong>der</strong> kämpfenden Parteien kreuzen.« Von den Plätzen erschallen Rufe: »Aber es<br />

ist ja längst eine Leiche.« Das Treffende dieses Zwischenrufes empfand <strong>der</strong> ganze Saal:<br />

Über <strong>der</strong> Leiche des Versöhnlertums kreuzten sich bereits die Bajonette von Bourgeoisie<br />

und Proletariat. Die Stimme des Redners geht im feindlichen Lärm unter. Die Präsidentenglocke<br />

bleibt wirkungslos, Beschwörungen verfangen nicht, Drohungen schrecken<br />

nicht. Zu spät, zu spät...<br />

Ja, das ist <strong>der</strong> Aufstand. In seiner Antwort namens des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees,<br />

<strong>der</strong> Bolschewistischen Partei und <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten wirft<br />

Trotzki endlich die letzten Formalitäten beiseite. Ja, die Massen sind mit uns, und wir<br />

führen sie zum Sturm. »Wenn ihr nicht wanken werdet«, ruft er über den Kopf des<br />

Zentral-Exekutivkomitees hinweg den Kongreßdelegierten zu, »wird es keinen Bürgerkrieg<br />

geben, denn die Feinde werden sofort kapitulieren, und ihr werdet den Platz<br />

einnehmen, <strong>der</strong> euch von Rechts wegen gebührt - den Platz des Herrn <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Erde.« Die bestürzten Mitglie<strong>der</strong> des Zentral-Exekutivkomitees finden nicht einmal die<br />

Kraft zum Protest. Bisher hatte die Verteidigungssprache des Smolny trotz allen Vorgängen<br />

einen schwachen Hoffnungsschimmer in ihnen genährt. Jetzt ist auch er erloschen. In<br />

diesen tiefen Nachtstunden erhebt <strong>der</strong> Aufstand hoch das Haupt.<br />

Die an Zwischenfällen reiche Sitzung endete gegen 4 Uhr morgens. Bolschewistische<br />

Redner ersöhienen auf dem Podium, um sofort zum Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

zurückzukehren, wo aus allen Enden <strong>der</strong> Stadt Berichte eintrafen, durchwegs günstige:<br />

die Sperrketten in den Straßen wachen; Regierungsämter werden eines nach dem an<strong>der</strong>n<br />

besetzt; <strong>der</strong> Gegner leistet nirgends Wi<strong>der</strong>stand.<br />

Es hieß, die Zentrale des Fernsprechamtes sei beson<strong>der</strong>s stark gesichert. Aber gegen 7<br />

Uhr morgens wurde auch sie von einem Kommando des Kexholmer Regiments kampflos<br />

besetzt. Nun brauchten die Aufständischen nicht nur nicht mehr um ihre eigene Verbindung<br />

besorgt zu sein, son<strong>der</strong>n erhielten auch die Möglichkeit, die Telephonverbindung<br />

des Gegners zu kontrollieren. Die Apparate des Winterpalais und Hauptstabes wurden<br />

übrigens sofort ausgeschaltet.<br />

Fast zu <strong>der</strong> gleichen Zeit bemächtigte sich eine Matrosenabteilung <strong>der</strong> Gardeequipage,<br />

etwa vierzig Mann des Gebäudes <strong>der</strong> Staatsbank am Jekaterininski-Kanal. Der Bankbeamte<br />

Ralzewitsch erinnert sich, wie die »Matrosenabteilung jählings vorging« und bei<br />

den Telephonapparaten Wachen aufstellte, um die Möglichkeit, Hilfe von außen anzufor<strong>der</strong>n,<br />

abzuschneiden. Die Besetzung des Gebäudes erfolgte »ohne jeglichen Wi<strong>der</strong>stand<br />

trotz Anwesenheit eines Zuges des Semjonowsker Regiments«. Der Einnahme <strong>der</strong> Bank<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 690


wurde in gewissem Sinne symbolische Bedeutung beigemessen. Die Parteika<strong>der</strong> waren<br />

erzogen an <strong>der</strong> Marxschen Kritik <strong>der</strong> Pariser Kommune von 1871, <strong>der</strong>en Führer bekanntlich<br />

nicht gewagt hatten, die Hand gegen die Staatsbank zu erheben. »Nein, wir werden<br />

diesen Fehler nicht wie<strong>der</strong>holen«, sagten sich viele Bolschewiki schon lange vor dem 25.<br />

Oktober. Die Kunde von <strong>der</strong> Besetzung <strong>der</strong> geheiligtsten aller bürgerlichen Staatsinstitutionen<br />

durchflog sogleich die Bezirke, wo sie eine heiße Welle des Triumphes erzeugte.<br />

In den frühen Morgenstunden wurden besetzt <strong>der</strong> Warschauer Bahnhof, die Druckerei<br />

<strong>der</strong> 'Birschewyja Wedomosti' und, direkt vor Kerenskis Fenstern, die Schloßbrücke, Ein<br />

Kommissar des Komitees kam ins Kresty-Gefängnis und zeigte den diensthabenden<br />

Soldaten des Wolynsker Regiments eine Or<strong>der</strong> über Freilassung einer Reihe von Gefangenen<br />

laut Liste des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Vergeblich versuchte die Gefängnisadministration,<br />

Anweisungen vom Justizminister zu erhalten: <strong>der</strong> hatte an<strong>der</strong>es im Kopf. Die<br />

befreiten Bolschewiki, darunter <strong>der</strong> junge Kronstädter Führer Roschal, erhielten sogleich<br />

Kampfaufgaben zugewiesen.<br />

Am Morgen lieferte man im Smolny eine aufdem Nikolajewski Bahnhof von Pionieren<br />

angehaltene Gruppe Junker ein, die mit Lastwagen aus dem Winterpalais nach Proviant<br />

ausgefahren waren. Podwojski erzählt: »Trotzki erklärte ihnen, sie würden unter <strong>der</strong><br />

Bedingung entlassen, daß sie das Versprechen geben, nichts mehr gegen die Sowjetmacht<br />

zu unternehmen, sie könnten dann zu ihren Beschäftigungen in die Schule zurückkehren.<br />

Die Knaben, die ein Blutgericht erwartet hatten, waren darüber unsäglich<br />

erstaunt.« Inwiefern die sofortige Freilassung richtig war, ist zweifelhaft. Der Sieg war<br />

noch nicht abgeschlossen, die Junker stellten die Hauptkraft des Gegners dar. An<strong>der</strong>erseits<br />

war es bei den schwankenden Stimmungen in den Militärschulen wichtig, durch die<br />

Tat zu zeigen, daß die Übergabe auf Gnade und Ungnade des Siegers die Junker mit<br />

keinen Strafen bedrohe. Die Argumente für und wi<strong>der</strong> hielten sich gleichsam die Waage.<br />

Aus dem von den Aufständischen noch nicht besetzten Kriegs-ministerium meldete<br />

morgens General Lewitzki mittels direkter Leitung ins Hauptquartier dem General<br />

Duchonin: »Die Truppenteile des Petrogra<strong>der</strong> Garnison ... gingen zu den Bolschewiki<br />

über. Aus Kronstadt trafen Matrosen mit einem leichten Kreuzer ein. Die hochgezogenen<br />

Brücken werden von ihnen wie<strong>der</strong> geschlossen. Die ganze Stadt ist von Wachtposten<br />

überzogen, doch finden keine Demonstrationen statt [!]. Die Telephonzentrale ist in den<br />

Händen <strong>der</strong> Garnison. Die im Winterpalais untergebrachten Truppen tun nur formell<br />

Dienst, da sie beschlossen haben, aktiv nicht hervorzutreten. Im allgemeinen hat man<br />

den Eindruck, als befände sieh die Provisorische Regierung in <strong>der</strong> Hauptstadt eines<br />

feindlichen Staates, <strong>der</strong> die Mobilisierung durchgeführt, aber aktive Handlungen noch<br />

nicht begonnen hat.« Ein unschätzbares militärisches und politisches Zeugnis! Der<br />

General kommt allerdings den Ereignissen zuvor, wenn er sagt, aus Kronstadt seien<br />

Matrosen eingetroffen: sie werden erst in einigen Stunden eintreffen. Die Brücke ist<br />

tatsächlich von <strong>der</strong> "Aurora" geschlossen worden. Naiv ist die am Schluß des Berichtes<br />

ausgesprochene Hoffnung, daß die Bolschewiki, »die schon lange die faktische Möglichkeit<br />

besitzen, mit uns allen abzurechnen ... nicht wagen werden, <strong>der</strong> Ansicht <strong>der</strong> Frontarmee<br />

zuwi<strong>der</strong>zuhandeln«. Illusionen in bezug auf die Front - das war alles, was den<br />

Hinterlandsgeneralen wie den Hinterlandsdemokraten übriggeblieben war. Dagegen wird<br />

das Bild von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die sich »in <strong>der</strong> Hauptstadt eines feindlichen<br />

Staates« befindet, für immer in die <strong>Geschichte</strong> eingehen als die beste Erklärung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 691


Oktoberumwälzung.<br />

Im Smolny gingen ununterbrochen Sitzungen. Agitatoren, Organisatoren, Betriebs-,<br />

Regiments-, Bezirksleiter kamen für eine - zwei Stunden, mitunter auch nur für einige<br />

Minuten, um Neuigkeiten zu erfahren, sich zu überprüfen und auf ihre Posten zurückzukehren.<br />

Beim Zimmer Nr. 18, wo die bolschewistische Sowjetfraktion untergebracht war,<br />

herrschte ein unbeschreibliches Gedränge. Die vor Müdigkeit erschöpften Besucher<br />

schliefen nicht selten im Sitzungssaal ein, den schweren Kopf an eine <strong>der</strong> weißen Säulen<br />

gelehnt, o<strong>der</strong> im Korridor an <strong>der</strong> Wand, die Flinte fest im Arm; manchmal streekten sie<br />

sich einfach auf dem schmutzigen, nassen Fußboden aus. Laschewitsch empfing die<br />

militärischen Kommissare und erteilte ihnen die letzten Anweisungen. Im Raume des<br />

Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, in <strong>der</strong> dritten Etage, verwandelten sich die von allen<br />

Seiten zusammenströmenden Meldungen in Befehle: dort schlug das Herz des Aufstandes.<br />

Die Bezirkszentren wi<strong>der</strong>spiegelten das Bild des Smolny, nur in kleinerem Maßstabe.<br />

Auf <strong>der</strong> Wyborger Seite, gegenüber dem Stab <strong>der</strong> Roten Garde, auf dem Sampsonjewski-<br />

Prospekt, war ein ganzes Lager entstanden: die Straße sperrten mit ihren Pferden<br />

bespannte Wagen, Automobile, Lastautos. Die Bezirksinstitutionen wimmelten von<br />

bewaffneten Arbeitern. Sowjet, Duma, Gewerkschaften, Fabrikkomitees, alles in diesem<br />

Bezirk diente <strong>der</strong> Sache des Aufstandes. In Betrieben, Kasernen, Ämtern ging im kleinen<br />

das gleiche vor sich wie in <strong>der</strong> gesamten Hauptstadt: die einen wurden abgesetzt, an<strong>der</strong>e<br />

ernannt. Reste alter Verbindungen zerrissen, neue gefestigt. Die bis jetzt noch gezögert<br />

hatten, nahmen Resolutionen an, in denen sie sich dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

unterstellten. Menschewiki und Sozialrevolutionäre drückten sich gemeinsam mit den<br />

Betriebsadministratoren und Vorgesetzten von Truppenteilen in den Winkeln herum. In<br />

ununterbrochenen Versammlungen wurden neue Informationen ausgegeben, die Kampfzuversicht<br />

gestärkt, Verbindungen befestigt. Die Menschenmassen gruppierten sich um<br />

neue Achsen. Die Umwälzung war im Gange.<br />

Schritt für Schritt haben wir in diesem Buche die Vorbereitung des Oktoberaufstandes<br />

zu verfolgen gesucht: Die zunehmende Unzufriedenheit <strong>der</strong> Arbeitermassen, den<br />

Übergang <strong>der</strong> Sowjets unter das bolschewistische Banner, das Meutern <strong>der</strong> Armee, den<br />

Feldzug <strong>der</strong> Bauern gegen die Gutsbesitzer, das Überschwemmen <strong>der</strong> Volksbewegung,<br />

die wachsende Furcht und Verwirrung <strong>der</strong> Besitzenden und Regierenden, endlich den<br />

Kampf innerhalb <strong>der</strong> bolschewistischen Partei um den Aufstand. Die abschließende<br />

Umwälzung scheint nach all dem gar zu kurz, zu trocken, zu sachlich, dem historischen<br />

Schwang <strong>der</strong> Ereignisse gleichsam nicht angemessen. Der Leser empfindet eine Art<br />

Enttäuschung. Er gleicht einem Bergsteiger, <strong>der</strong>, während er die Hauptschwierigkeiten<br />

noch vor sich wähnt, plötzlich entdeckt, daß er bereits o<strong>der</strong> beinahe auf dem Gipfel steht.<br />

Wo ist <strong>der</strong> Aufstand? Das Bild des Aufstandes fehlt. Die Ereignisse fügen sich zu keinem<br />

Bilde. Die kleinen, im voraus berechneten und vorbereiteten Operationen bleiben im<br />

Raum und in <strong>der</strong> Zeit voneinan<strong>der</strong> getrennt. Sie sind verbunden durch die Einheit von<br />

Ziel und Absicht, nicht aber verschmolzen durch den Kampf selbst. Es fehlen große<br />

Massenhandlungen, fehlen dramatische Zusammenstöße mit den Truppen. Es fehlt alles,<br />

was die an den Ereignissen <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> erzogene Einbildungskraft mit <strong>der</strong> Vorstellung<br />

des Aufstandes verbindet.<br />

Der Gesamtcharakter <strong>der</strong> Umwälzung in <strong>der</strong> Hauptstadt wird später neben vielen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 692


an<strong>der</strong>en auch Masaryk Anlaß geben zu schreiben: »Die Oktoberumwälzung ... war<br />

keineswegs eine Bewegung <strong>der</strong> Volksmassen. Diese Umwälzung war das Werk von<br />

Führern, die hinter den Kulissen von oben herab arbeiteten.« In Wirklichkeit hatte dieser<br />

Aufstand von allen Aufständen in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> am stärksten den Charakter einer<br />

Massenbewegung. Die Arbeiter brauchten nicht auf die Straße zu gehen, um in eins zu<br />

verschmelzen: sie stellten ohnehin politisch und moralisch ein Ganzes dar. Den Soldaten<br />

war sogar untersagt worden, die Kasemen ohne Weisung zu verlassen: in diesem Punkte<br />

fiel <strong>der</strong> Befehl des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees mit Polkownikows Befehl zusammen.<br />

Aber diese unsichtbaren Massen gehen mehr denn je im Gleichschritt mit den<br />

Ereignissen. Betriebe und Kasernen verlieren nicht eine Minute die Verbindung mit den<br />

Bezirksstäben, die Bezirke nicht mit dem Smolny. Die Abteilungen <strong>der</strong> Rotgardisten<br />

fühlen hinter sich die Unterstützung <strong>der</strong> Betriebe. Die in die Kasernen zurückkehrenden<br />

Soldatenkommandos finden die Ablösung in Bereitschaft. Nur mit schweren Reserven im<br />

Rücken vermochten die revolutionären Abteilungen mit solcher Sicherheit an die Erfüllung<br />

ihrer Aufgaben heranzugehen. Die zersplitterten Regierungsposten hingegen, im<br />

voraus besiegt durch die eigene Isoliertheit, mußten sogar den Gedanken an einen Wi<strong>der</strong>stand<br />

fallen lassen. Die bürgerlichen Klassen hatten Barrikaden, Feuerbrände, Plün<strong>der</strong>ungen,<br />

Blutströme erwartet. In Wirklichkeit herrschte Stille, schrecklicher als alle Donner<br />

<strong>der</strong> Welt. Lautlos verschob sich <strong>der</strong> soziale Boden, einer Drehbühne gleich, die die<br />

Volksmassen in den Vor<strong>der</strong>grund hob und die gestrigen Herren in die Unterwelt hinabtrug.<br />

Schon um 10 Uhr morgens - am 25. hielt das Smolny es für möglich, <strong>der</strong> Hauptstadt<br />

und dem Lande die Siegeskunde zu geben: »Die Provisorische Regierung ist gestürzt.<br />

Die Staatsmacht ist in die Hände des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees übergegangen.«<br />

In gewissem Sinne griff diese Kundgebung stark vor. Die Regierung existierte noch,<br />

wenigstens auf dem Territorium des Winterpalais. Es existierte das Hauptquartier. Die<br />

Provinz hatte sich nicht geäußert. Der Sowjetkongreß war noch nicht eröffnet. Doch die<br />

Leiter des Aufstandes sind keine Geschichtsschreiber: um für die Geschichtsschreiber die<br />

Ereignisse vorzubereiten, sind sie gezwungen, vorzugreifen. In <strong>der</strong> Hauptstadt war das<br />

Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee bereits unbeschränkter Herr <strong>der</strong> Lage. An <strong>der</strong> Sanktion<br />

des Kongresses konnte kein Zweifel bestehen. Die Provinz wartete auf Petrograds Initiative.<br />

Um die Macht restlos zu erobern, mußte man als Macht zu handeln beginnen. In<br />

einem Appell an die militärischen Front- und Hinterlandsorganisationen rief das Komitee<br />

die Soldaten auf, das Verhalten des Kommandobestandes scharf zu überwachen, Offiziere,<br />

die sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht anschließen, zu verhaften, und vor Gewaltanwendung<br />

nicht haltzumachen beim Versuch, feindselige Truppenteile gegen Petrograd zu werfen.<br />

Der am Vorabend von <strong>der</strong> Front eingetroffene Stankewitseh, oberster Kommissar des<br />

Hauptquartiers, unternahm, um im Reiche <strong>der</strong> Passivität und Auflösung nicht ganz ohne<br />

Arbeit zu bleiben, am Morgen an <strong>der</strong> Spitze einer halben Kompanie Ingenieur-Junker<br />

einen Versuch, die Telephonzentrale von den Bolschewiki zu säubern. Bei dieser<br />

Gelegenheit erfuhren die Junker zum ersten Male, in wessen Händen sich das Telephonamt<br />

befand. »Hier, von denen, stellt sich heraus, kann man Energie lernen«, ruft zähneknirschend<br />

<strong>der</strong> Offizier Sinegub aus, »woher haben sie nur solche Führung!« Die im<br />

Gebäude <strong>der</strong> Telephonzentrale sitzenden Matrosen könnten mühelos die Junker von den<br />

Fenstern aus abschießen. Doch die Aufständischen sind mit allen Kräften bestrebt,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 693


Blutvergießen zu vermeiden. Stankewitseh seinerseits untersagt strengstens, das Feuer zu<br />

eröffnen: man könnte die Junker beschuldigen, daß sie in das Volk schießen. Der<br />

kommandierende Offizier denkt sich: »Wenn wir Ordnung schaffen, wer hat da den<br />

Mund aufzutun?« Und er schließt seine Erwägungen mit dem Ausruf: »Verdammte<br />

Komödianten!« Das eben ist die Formel des Verhältnisses <strong>der</strong> Offiziere zur Regierung.<br />

Aus eigener Initiative schickt Sinegub ins Winterpalais nach Handgranaten und Pyroxylinbomben.<br />

In <strong>der</strong> Zwischenzeit beginnt ein monarchistischer Leutnant mit einem<br />

bolschewistischen Fähnrich vor dem Tor <strong>der</strong> Telephonzentrale eine politische<br />

Diskussion: Wie die Helden Homers überhäufen sie einan<strong>der</strong> vor dem Kampfe mit<br />

starken Worten. Zwischen zwei - vorläufig nur mit Worten gespeiste - Feuer geraten,<br />

lassen die Telephonistinnen ihre Nerven spielen. Die Matrosen schicken sie nach Hause.<br />

»Was ist? Frauen? ...« Mit hysterischen Schreien stürzen sie aus den Toren. »Die öde<br />

Morskaja-Straße«, erzählt Sinegub, »belebte sich plötzlich mit laufenden, hüpfenden<br />

Klei<strong>der</strong>n und Hüten.« Mit <strong>der</strong> Arbeit an den Apparaten werden die Matrosen schon<br />

irgendwie selbst fertig. Im Hofe <strong>der</strong> Zentrale trifft bald ein Panzerwagen <strong>der</strong> Roten ein,<br />

ohne den erschrockenen Junkern etwas zuzufügen. Diese ihrerseits besetzen zwei Lastautos<br />

und verbarrikadieren von außen das Tor <strong>der</strong> Zentrale. Vom Newski her taucht ein<br />

zweiter Panzerwagen auf, dann ein dritter. Das Ganze beschränkte sich auf Manöver und<br />

gegenseitige Einschüchterungsversuche. Der Kampf um die Zentrale wird ohne Pyroxylin<br />

entschieden: Stankewitsch hebt die Belagerung auf, nachdem er sich freien Abzug für<br />

seine Junker ausbedungen hat.<br />

Die Waffe dient überhaupt vorläufig nur als äußeres Zeichen <strong>der</strong> Macht: sie wird fast<br />

nicht angewandt. Unterwegs zum Winterpalais stößt Stankewitschs Halbkompanie auf<br />

ein Matrosenkommando mit schußbereiten Gewehren. Die Gegner messen sich nur mit<br />

den Blicken. We<strong>der</strong> die eine noch die an<strong>der</strong>e Seite will sich schlagen: die eine - im<br />

Bewußtsein ihrer Kraft, die an<strong>der</strong>e - im Gefühl ihrer Schwäche. Wo sich jedoch die<br />

Gelegenheit bietet, gehen die Aufitändischen, beson<strong>der</strong>s die Rotgardisten, an die<br />

Entwaffnung des Gegners. Die zweite Halbkompanie <strong>der</strong> Ingenieur-Junker wurde von<br />

Rotgardisten und Soldaten umstellt, mit Hilfe von Panzerwagen entwaffnet und gefangen<br />

genommen. Ein Kampf fand allerdings auch dabei nicht statt; die Junker leisteten keinen<br />

Wi<strong>der</strong>stand. »So endete«, bezeugt <strong>der</strong> Initiator, »soviel ich weiß, <strong>der</strong> einzige Versuch<br />

aktiven Wi<strong>der</strong>standes gegen die Bolschewiki.« Stankewitsch meint die Operationen<br />

außerhalb des Bezirks des Winterpalais.<br />

Gegen Mittag werden die Straßen um das Mariinski-Palais von Truppen des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees besetzt. Die Mitglie<strong>der</strong> des Vorparlaments versammelten sich<br />

eben zu einer Sitzung. Das Präsidium machte den Versuch, die letzten Informationen zu<br />

bekommen: die Herzen erstarrten jäh, als sich herausstellte, die Telephone des Palais sind<br />

ausgeschaltet. Der Ältestenrat erörterte, was zu tun sei. Die Deputierten flüsterten in den<br />

Ecken. Awksentjew versuchte zu trösten: Kerenski sei zur Front gereist, bald werde er<br />

zurückkehren und alles gutmachen. Vor <strong>der</strong> Auffahrt hielt ein Panzerwagen. Soldaten des<br />

Litowsker und des Kexholmer Regiments und Matrosen <strong>der</strong> Gardeequipage betraten das<br />

Gebäude, stellten sich die Treppe entlang auf und besetzten den ersten Saal. Der Führer<br />

<strong>der</strong> Abteilung for<strong>der</strong>te die Versammelten auf unverzüglich das Palais zu verlassen. »Der<br />

Eindruck war nie<strong>der</strong>schmetternd«, bestätigt Nabokow. Die Mitglie<strong>der</strong> des Vor-parlaments<br />

beschlossen. auseinan<strong>der</strong>zugehen und »vorübergehend ihre Tätigkeit zu unterbre-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 694


chen«. Dagegen stimmen achtundvierzig Rechte: sie wissen im voraus, daß sie in <strong>der</strong><br />

Min<strong>der</strong>heit bleiben werden. Die Deputierten steigen friedlich die prunkvolle Treppe<br />

zwischen zwei Gewehrspalieren hinab. Augenzeugen berichten: »Nichts Dramatisches<br />

war an <strong>der</strong> ganzen Sache.« - »Gewöhnliche, ausdruckslose, stumpfe, boshafte Physiognomien«,<br />

schreibt <strong>der</strong> liberale Patriot Nabokow über die <strong>russischen</strong> Soldaten und<br />

Matrosen. Unten am Ausgang prüften Wachen die Legitimation und ließen alle hinaus.<br />

»Man erwartete eine Sortierung <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> und manche Verhaftungen«, schreibt<br />

<strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>en herausgelassene Miljukow, »aber <strong>der</strong> revolutionäre Stab hatte an<strong>der</strong>e<br />

Sorgen.« Nicht nur das: <strong>der</strong> revolutionäre Stab hatte wenig Erfahrung. Der Auftrag des<br />

Komitees lautete: »Eventuelle Regierungsmitglie<strong>der</strong> sind zu verhaften.« Aber es waren<br />

keine da. Die Mitglie<strong>der</strong> des Vorparlaments wurden unbehin<strong>der</strong>t entlassen, darunter auch<br />

jene, die bald Organisatoren des Bürgerkrieges werden sollten.<br />

Der parlamentarische Blendling, <strong>der</strong> sein Dasein um zwölf Stunden früher aushauchte<br />

als die Provisorische Regierung, hatte achtzehn Lebenstage hinter sich: Das ist die Frist<br />

zwischen Auszug <strong>der</strong> Bolschewiki aus dem Mariinski-Palais auf die Straße und Eindringen<br />

<strong>der</strong> bewaffneten Straße in das Mariinski-Palais. Unter allen Parodien auf eine Regierung,<br />

an denen die <strong>Geschichte</strong> so reich ist, war "<strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Republik" wohl<br />

die lächerlichste.<br />

Nachdem er das unglückselige Gebäude verlassen hatte, begab sich <strong>der</strong> Oktobrist<br />

Schidlowski in die Stadt, um die Kämpfe zu beobachten: diese Herren glaubten, das Volk<br />

würde sieh zu ihrer Verteidigung erheben. Kämpfe waren jedoch nicht zu entdecken.<br />

Dagegen lachte, nach Schidlowskis Worten, das gesamte Publikum in den Straßen - die<br />

auserwählte Menge des Newski-Prospektes. »Haben Sie gehört: die Bolschewiki haben<br />

die Macht ergriffen? Das ist doch nicht länger als für drei Tage! Ha ha ha.« Schidlowski<br />

beschloß, in <strong>der</strong> Hauptstadt zu bleiben »für die Frist, die die öffentliche Meinung <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Herrschaft zubilligte«. Die drei Tage haben sich bekanntlich stark in<br />

die Länge gezogen.<br />

Zu lachen hat das Publikum des Newski übrigens erst gegen Abend begonnen. Am<br />

Morgen war die Stimmung <strong>der</strong>art besorgt gewesen, daß in den Stadtvierteln <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie sich nur wenige entschlossen, auf die Straße zu gehen. Gegen 9 Uhr lief <strong>der</strong><br />

Journalist Knischnik auf den Kamenoostrowski-Prospekt nach Zeitungen, aber Zeitungsverkäufer<br />

waren nicht da. In einem kleinen Haufen Bürger erzählte man sich, in <strong>der</strong><br />

Nacht hätten die Bolschewiki Telephon, Telegraph und Bank besetzt. Eine Soldatenpatrouille<br />

hörte zu und ersuchte das Publikum, keinen Lärm zu machen. »Aber auch<br />

ohnehin waren alle eigentümlich still.« Es marschierten bewaffnete Arbeiterabteilungen<br />

vorbei. Die Trams verkehrten wie üblich, das heißt langsam. »Die Seltenheit an Passanten<br />

bedrückte mich«, schreibt Knischnik über seine Eindrücke auf dem Newski. In den<br />

Restaurants wurde gespeist, aber vorwiegend in den hinteren Räumen. 12 Uhr mittags<br />

krachte die Kanone nicht lauter und nicht leiser als sonst von den Mauern <strong>der</strong> von den<br />

Bolschewiki verläßlich besetzten Peter-Paul-Festung. Mauern und Zäune waren mit<br />

Aufrufen beklebt, die vor Demonstrationen warnten. Doch an<strong>der</strong>e Aufrufe schoben sich<br />

bereits vor, die den Sieg des Aufstandes verkündeten. Man fand noch keine Zeit, sie<br />

anzukleben, und warf sie aus Automobilen ab. Die Soeben gedruckten Flugblätter rochen<br />

nach frischer Farbe, wie die Ereignisse selbst.<br />

Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde sind aus ihren Bezirken ausmarschiert. Der Arbeiter mit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 695


Gewehr, Bajonett über Mütze o<strong>der</strong> Hut hinausragend, Riemen über Zivilmantel, dieses<br />

Bild ist untrennbar vom 25. Oktober. Vorsichtig und noch unsicher brachte <strong>der</strong> bewaffnete<br />

Arbeiter Ordnung in die Hauptstadt, die er sich erobert hatte.<br />

Die Ruhe in den Straßen erfüllte mit Ruhe die Herzen. Die Bürger begannen, sich in<br />

den Straßen zu sammeln. Gegen Abend herrschte unter ihnen weniger Unruhe als in den<br />

vorangegangenen Tagen. Die Arbeit in den staatlichen und öffentlichen Ämtern hatte<br />

allerdings aufgehört. Viele Geschäfte aber blieben geöffnet, manche schlossen, doch eher<br />

aus Vorsicht als aus Notwendigkeit. Aufstand? Macht man denn so Aufstand? Es<br />

vollzieht sich einfach eine Ablösung <strong>der</strong> Februar- durch die Oktober-Wachen.<br />

Gegen Abend war <strong>der</strong> Newski mehr denn je von jenem Publikum erfüllt, das den<br />

Bolschewiki drei Tage Leben verhieß. Die Soldaten des Pawlowsker Regiments flößten,<br />

obwohl ihre Sperrketten durch Panzerwagen und sogar Flugzeugabwehrkanonen<br />

verstärkt waren, keine Angst mehr ein. Gewiß, irgend etwas Ernstes geht beim Winterpalais<br />

vor, und man wird dort nicht durchgelassen. Aber <strong>der</strong> ganze Aufstand kann sich doch<br />

nicht auf dem Schloßplatz konzentrieren? Ein amerikanischer Journalist sah, wie Greise<br />

in kostbaren Pelzen den Pawlowskern die Fäuste zeigten und aufgeputzte Frauen die<br />

Soldaten mit kreischenden Stimmen beschimpften. »Die Soldaten parierten schwach mit<br />

verlegenem Lächeln.« Sie fühlten sich offensichtlich unbehaglich auf dem eleganten<br />

Newski, dem es erst bevorstand, sich in den "Prospekt des 25. Oktober" zu verwandeln.<br />

Claude Anet, offiziöser französischer Journalist in Petrograd, war ehrlich erstaunt: die<br />

unvernünftigen Russen machen eine <strong>Revolution</strong> an<strong>der</strong>s, als er aus alten Büchern herausgelesen.<br />

»Die Stadt ist ruhig!« Anet unterhält sich telephonisch, empfängt Besuche, geht<br />

aus. Soldaten, die ihm auf <strong>der</strong> Mojka den Weg kreuzen, marschieren in voller Ordnung,<br />

»wie unter dem alten Regime«. Auf <strong>der</strong> Milljonaja-Straße zahlreiche Patrouillen.<br />

Nirgendwo fällt ein Schuß. Der Riesenplatz des Winterpalais ist zu dieser Mittagsstunde<br />

fast leer. Patrouillen auf <strong>der</strong> Morskaja-Straße und dem Newski-Prospekt. Die Soldaten in<br />

guter Haltung und tadelloser Uniform. Auf den ersten Blick scheint es unzweifelhaft, daß<br />

es Regierungstruppen sind. Auf dem Mariinski-Platz, von wo aus Anet ins Vorparlament<br />

zu gelangen beabsichtigte, halten ihn Soldaten und Matrosen auf, »fürwahr sehr höflich«.<br />

Die beiden ans Palais grenzenden Straßen sind durch Autos und Wagen verbarrikadiert<br />

Auch ein Panzerwagen ist dabei. All das untersteht dem Smolny. Das Militärische<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee schickte in die Stadt Patrouillen aus, stellte Wachen, löste das<br />

Vorparlament auf, herrschte über die Hauptstadt, schuf eine »seit <strong>Revolution</strong>sbeginn<br />

nicht mehr erlebte« Ordnung. Abends berichtet die Portierfrau dem französischen<br />

Mieter, man habe aus dem Sowjetstab Telephonnummern abgegeben, durch die man bei<br />

eventuellen Überfällen, verdächtigen Haussuchungen und so weiter je<strong>der</strong>zeit militärische<br />

Hilfe anfor<strong>der</strong>n könne. »Wahrlich, wir waren niemals besser geschützt.«<br />

Um 2 Uhr 35 mittags - die ausländischen Journalisten blickten auf die Uhr, den <strong>russischen</strong><br />

stand <strong>der</strong> Sinn nicht danach - wurde eine außerordentliche Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets eröffnet mit einem Bericht Trotzkis, <strong>der</strong> im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />

erklärte, die Provisorische Regierung bestehe nicht mehr. »Man hat uns<br />

gesagt, <strong>der</strong> Aufstand werde die <strong>Revolution</strong> in Blutströmen ertränken ... Uns ist kein einziges<br />

Opfer bekannt.« Es gab in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> kein Beispiel einer revolutionären<br />

Bewegung, an <strong>der</strong> so gewaltige Massen beteiligt gewesen wären und die so unblutig<br />

verlief »Das Winterpalais ist noch nicht genommen, doch sein Schicksal wird sich in den<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 696


nächsten Minuten entscheiden.« Die nächsten zwölf Stunden werden beweisen, daß diese<br />

Voraussage zu optimistisch war.<br />

Trotzki teilt mit: von <strong>der</strong> Front rücken Truppen an gegen Petrograd, man muß sofort<br />

Sowjetkommissare an die Front und ins ganze Land schicken zur Informierung über die<br />

stattgefundene Umwälzung. Aus dem kleinen rechten Sektor ertönen Stirnmen: »Ihr<br />

greift dem Willen des Sowjetkongresses vor.« Der Berichterstatter antwortet: »Der Wille<br />

des Kongresses ist im voraus bestimmt durch die gewaltige Tatsache des Aufstandes <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Uns bleibt jetzt nur übrig, unseren Sieg zu entwikkeln.«<br />

Lenin, <strong>der</strong> hier zum ersten Male nach dem Verlassen seines Verstecks öffentlich<br />

auftrat, entwarf in seiner Rede kurz das Programm <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: den alten Staatsapparat<br />

zerschlagen; ein neues Regierungssystem vermittels <strong>der</strong> Sowjets schaffen; Maßnahmen<br />

ergreifen zur sofortigen Beendigung des Krieges, gestützt auf die revolutionäre<br />

Bewegung in den an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n; das gutsherrliehe Eigentum abschaffen und damit<br />

das Vertrauen <strong>der</strong> Bauern gewinnen; eine Arbeiterkontrolle über die Produktion<br />

errichten. »Die dritte russische <strong>Revolution</strong> muß im Endresultat zum Siege des Sozialismus<br />

führen.«<br />

Einnahme des Winterpalais<br />

Kerenski empfing den von <strong>der</strong> Front zur Berichterstattung eingetroffenen Stankewitsch<br />

in gehobener Stimmung: er kehre soeben aus dem Rat <strong>der</strong> Republik zurück, wo er den<br />

Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki endgültig entlarvt habe. »Den Aufstand?« - »Ja, wissen Sie<br />

denn nicht, daß wir den bewaffneten Aufstand haben?« Stankewitsch lachte: die Straßen<br />

sind ja absolut ruhig. Kann denn ein richtiger Aufstand so aussehen? Jedenfalls müsse<br />

man mit diesen ewigen Erschütterungen Schluß machen. Damit ist Kerenski durchaus<br />

einverstanden: er warte nur auf die Resolution des Vorparlaments.<br />

Um 9 Uhr abends versammelte sich die Regierung im Malachitsaal des Winterpalais,<br />

um Mittel zur »entschiedenen und endgültigen Liquidierung« <strong>der</strong> Bolschewiki auszuarbeiten.<br />

Der zur Beschleunigung <strong>der</strong> Sache in das Mariinski-Palais entsandte Stankewitsch<br />

berichtete voller Entrüstung von <strong>der</strong> soeben angenommenen Formel des halben<br />

Mißtrauens. Selbst die Bekämpfung des Aufstandes sollte gemäß <strong>der</strong> Resolution des<br />

Vorparlaments nicht <strong>der</strong> Regierung, son<strong>der</strong>n einem beson<strong>der</strong>en Komitee <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Rettung obliegen. Kerenski erklärte hitzig, unter solchen Bedingungen werde er »keine<br />

Minute länger an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung bleiben«. Die Versöhnler-Führer wurden<br />

sogleich telephonisch ins Palais berufen. Die Möglichkeit des Rücktritts Kerenskis<br />

überraschte sie nicht weniger als Kerenski - ihre Resolution. Awksentjew rechtfertigte<br />

sich: sie hätten doch die Resolution betrachtet als »rein theoretisch und zufällig und nicht<br />

daran gedacht, daß sie praktische Schritte zur Folge haben könne«. Ja, sie sähen jetzt<br />

selbst ein, daß die Resolution »vielleicht nicht ganz glücklich redigiert ist«. Diese<br />

Menschen ließen keine Gelegenheit vorbei, zu zeigen, was sie wert sind.<br />

Die nächtliche Unterhaltung <strong>der</strong> demokratischen Führer mit dem Staatsoberhaupt<br />

scheint ganz unglaubhaft auf dem Hintergrunde des sich entfaltenden Aufstandes. Dan,<br />

einer <strong>der</strong> Haupttotengräber des Februarregimes, verlangt, die Regierung möge sofort,<br />

noch in <strong>der</strong> Nacht, Plakate in <strong>der</strong> Stadt anschlagen lassen mit <strong>der</strong> Erklärung, sie habe die<br />

Verbündeten aufgefor<strong>der</strong>t, Friedensverhandlungen einzuleiten. Kerenski antwortet, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 697


Regierung bedarf solcher Ratschläge nicht. Man kann schon glauben, daß sie eine starke<br />

Division vorgezogen haben würde. Aber dies konnte Dan nicht bieten. Die Verantwortung<br />

für den Aufstand bemüht sich Kerenski selbstverständlich seinen Verhandlungspartnern<br />

unterzuschieben. Dan erwi<strong>der</strong>t, die Regierung übertreibe die Ereignisse unter dem<br />

Einfluß ihres »reaktionären Stabes«. Zur Demission bestehe jedenfalls keine Notwendigkeit:<br />

die ungelegene Resolution sei notwendig, um einen Stimmungsumschwung in den<br />

Massen hervorzurufen. Die Bolschewiki werden »schon morgen« gezwungen sein, ihren<br />

Stab aufzulösen, wenn die Regierung Dans Eingebungen folgt. »Gerade um diese Zeit«,<br />

fügt Kerenski mit berechtigter Ironie hinzu, »besetzte die Rote Garde ein Regierungsgebäude<br />

nach dem an<strong>der</strong>en.«<br />

Noch war die so inhaltsreiche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den linken Freunden nicht<br />

beendet, als bei Kerenski Freunde von rechts in Gestalt einer Delegation vom Sowjet <strong>der</strong><br />

Kosakenheere erschienen. Die Offiziere taten so, als hänge von ihrem Willen das Verhalten<br />

<strong>der</strong> drei in Petrograd liegenden Kosakenregimenter ab, und stellten Kerenski Bedingungen,<br />

diametral entgegengesetzt den Bedingungen Dans: keinerlei Zugeständnisse an<br />

die Sowjets, die Abrechnung mit den Bolschewiki müsse diesmal bis zu Ende durchgeführt<br />

werden, nicht wie im Juli, wo die Kosaken unnütz Opfer gebracht hätten. Kerenski,<br />

<strong>der</strong> selbst nichts an<strong>der</strong>es ersehnte, versprach alles, was sie von ihm for<strong>der</strong>ten, und<br />

entschuldigte sich vor seinen Verhandlungspartnern, daß er bis jetzt aus Erwägungen <strong>der</strong><br />

Vorsicht Trotzki als den Vorsitzenden des Sowjets <strong>der</strong> Deputierten noch nicht verhaftet<br />

habe. Die Delegierten verließen ihn mit <strong>der</strong> Versicherung, die Kosaken würden ihre<br />

Pflicht erfüllen. An die Kosakenregimenter erging alsbald vom Stab ein Befehl: »Im<br />

Namen <strong>der</strong> Freiheit, <strong>der</strong> Ehre und des Ruhmes <strong>der</strong> Heimaterde und zur Rettung des<br />

untergehenden Rußland sind Zentral-Exekutivkomitee und Provisorische Regierung zu<br />

unterstützen.« Diese stolze Regierung, die so eifersüchtig über ihre Unabhängigkeit vom<br />

Zentral-Exekutivkomitee gewacht hatte, ist jedesmal gezwungen, sich in <strong>der</strong> Minute <strong>der</strong><br />

Gefahr demütig hinter dessen Rücken zu verstecken. Flehentliche Befehle ergehen auch<br />

an die Junkerschulen in Petrograd und Umgebung. Die Eisenbahn ist angewiesen: »Die<br />

von <strong>der</strong> Front nach Petrograd kommenden Truppenstaffeln sind außerhalb je<strong>der</strong> Reihenfolge,<br />

wenn notwendig unter Einstellung des Personenverkehrs, unverzüglich weiterzuleiten.«<br />

Nachdem die Regierung alles, was sie vermochte, unternommen hatte und um 2 Uhr<br />

nachts auseinan<strong>der</strong>gegangen war, verblieb im Palais mit Kerenski nur dessen Vertreter,<br />

<strong>der</strong> liberale Moskauer Kaufmann Konowalow. Der Bezirkskommandierende Polkownikow<br />

kam zu ihnen mit dem Vorschlag, sofort mit Hilfe <strong>der</strong> treuen Truppen eine Expedition<br />

zur Einnahme des Smolny zu organisieren. Kerenski akzeptierte bereitwilligst diesen<br />

herrlichen Plan. Doch konnte man aus den Worten des Kommandierenden absolut nicht<br />

entnehmen, auf welche Kräfte er sich denn zu stützen gedachte. Nun erst begriff<br />

Kerenski, nach seinem eigenen Geständnis, daß Polkownikows Rapporte <strong>der</strong> letzten zehn<br />

bis zwölf Tage über die völlige Bereitschaft seines Stabes zum Kampfe gegen die<br />

Bolschewiki »jeglicher Grundlage entbehrten«. Als habe Kerenski für die Einschätzung<br />

<strong>der</strong> politischen und militärischen Situation wirklich keine an<strong>der</strong>en Quellen gehabt als die<br />

Kanzleimeldungen eines mittelmäßigen Obersten, <strong>der</strong>, unbekannt aus welchem Grunde,<br />

an die Spitze des Militärbezirkes geraten war. Während <strong>der</strong> bitteren Betrachtungen des<br />

Regierungshauptes brachte ein Kommissar <strong>der</strong> Stadthauptmannschaft, Rogowski, eine<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 698


Reihe Meldungen: einige Schiffe <strong>der</strong> Baltischen Flotte seien kampfbereit in die Newa<br />

eingefahren; etliche davon hätten vor <strong>der</strong> Nikolajewski-Brücke Anker geworfen und sie<br />

besetzt; Abteilungen Aufständischer rückten gegen die Schloßbrücke vor. Rogowski<br />

lenkte Kerenskis Aufmerksamkeit beson<strong>der</strong>s auf die Tatsache, daß »die Bolschewiki<br />

ihren gesamten Plan in vollster Ordnung durchführen, ohne irgendwo auf Wi<strong>der</strong>stand<br />

seitens <strong>der</strong> Regierungstruppen zu stoßen«. Welche Truppen als Regierungstruppen zu<br />

bezeichnen waren, läßt das Gespräch jedenfalls offen.<br />

Kerenski und Konowalow stürzten aus dem Palais in den Stab: »Es war keine Minute<br />

Zeit mehr zu verlieren.« Das imposante rote Gebäude des Stabes war von Offizieren<br />

überfüllt. Sie kamen hierher nicht in Angelegenheiten ihrer Truppenteile, son<strong>der</strong>n um<br />

sich vor diesen zu verbergen. »In dem Militärgewühl huschten überall Zivilisten herum,<br />

die niemand kannte.« Polkownikows neuer Bericht überzeugt Kerenski endgültig von <strong>der</strong><br />

Unmöglichkeit, sich auf den Kommandierenden und dessen Offiziere zu verlassen. Das<br />

Regierungshaupt beschließt, um seine Person »alle Pflichttreuen« zu sammeln. Sich<br />

erinnernd, daß er Parteimann ist - so erinnern sich manche erst in letzter Todesqual <strong>der</strong><br />

Kirche -, for<strong>der</strong>t Kerenski telephonisch die sofortige Absendung <strong>der</strong> sozial-revolutionären<br />

Kampfmannschaften. Bevor jedoch - wenn überhaupt - dieser plötzliche Appell an<br />

die bewaffneten Kräfte <strong>der</strong> Partei einen Erfolg zeitigen konnte, mußte er, nach Miljukows<br />

Worten, »alle rechteren Elemente, die auch ohnehin Kerenski feindselig gesinnt<br />

waren, von ihm abstoßen«. Seine Isoliertheit, die sich bereits in den Tagen des Kornilowaufstandes<br />

anschaulich gezeigt hatte, bekam jetzt noch fataleren Charakter. »Quälend<br />

schleppten sie sich hin, die langen Stunden dieser Nacht«, wie<strong>der</strong>holt Kerenski seinen<br />

Satz vom August. Verstärkungen kamen von nirgendwo. Die Kosaken hielten Beratungen<br />

ab, die Vertreter <strong>der</strong> Regimenter sagten, man könnte zwar - allgemein gesprochen -<br />

eine Aktion unternehmen, warum auch nicht, doch seien dafür Maschinengewehre,<br />

Panzerautos und hauptsächlich Infanterie notwendig. Ohne Bedenken versprach ihnen<br />

Kerenski Panzerwagen, die sich gerade anschickten, ihn zu verlassen, und Infanterie,<br />

über die er nicht verfügte. Er vernahm als Antwort, die Regimenter würden bald alle<br />

Fragen erwägen und »an das Satteln <strong>der</strong> Pferde gehen«. Die Kampfkräfte <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />

Partei gaben überhaupt kein Lebenszeichen von sich. Existieren sie noch? Wo<br />

ist überhaupt die Grenze zwischen Sein und Schein. Das im Stab versammelte Offizierskorps<br />

verhielt sich gegen Oberkommandierenden und Regierungshaupt »immer herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong>«.<br />

Kerenski behauptet sogar, unter den Offizieren seien Reden geführt worden<br />

über die Notwendigkeit seiner Verhaftung. Das Stabsgebäude blieb noch immer ohne<br />

Schutz. Offizielle Verhandlungen wurden in Anwesenheit Frem<strong>der</strong> geführt, abwechselnd<br />

mit erregten Privatgesprächen. Die Stimmung von Hoffnungslosigkeit und Zerfall<br />

sickerte aus dem Stab in das Winterpalais. Die Junker waren nervös, das Kommando <strong>der</strong><br />

Panzerautos aufgeregt. Von unten keine Hilfe, oben erschreckende Kopflosigkeit. Läßt<br />

sich unter solchen Bedingungen <strong>der</strong> Untergang vermeiden?<br />

Um 5 Uhr morgens befahl Kerenski den Leiter des Kriegsministeriums in den Stab. An<br />

<strong>der</strong> Troizki-Brücke wurde General Manikowski von Patrouillen angehalten, in die<br />

Kaserne des Pawlowsker Regiments gebracht, dort aber nach kurzer Vernehmung freigelassen:<br />

<strong>der</strong> General hatte wohl zu überzeugen gewußt, daß seine Verhaftung zur Zerrüttung<br />

des gesamten administrativen Mechanismus führen und den Soldaten an <strong>der</strong> Front<br />

schaden könnte. Ungefähr um die gleiche Zeit wurde beim Winterpalais Stankewitschs<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 699


Automobil angehalten, aber auch ihn entließ das Regimentskomitee. »Es waren Aufständische«,<br />

erzählt <strong>der</strong> Verhaftete, »die jedoch äußerst unentschieden handelten. Ich berichtete<br />

darüber von zu Hause telephonisch ins Winterpalais, erhielt aber von dort<br />

beruhigende Versicherungen, es sei ein Mißverständnis.« In Wirklichkeit war ein<br />

Mißverständnis, daß Stankewitsch entlassen worden war: einige Stunden später<br />

versuchte er, wie wir bereits wissen, den Bolschewiki die Telephonzentrale zu entreißen.<br />

Kerenski for<strong>der</strong>te vom Hauptquartier in Mohilew und vom Stab <strong>der</strong> Nordfront in<br />

Pskow sofortige Absendung zuverlässiger Regimenter. Aus dem Hauptquartier versicherte<br />

Duchonin über die direkte Leitung, es seien alle Maßnahmen zum Abtransport von<br />

Truppen gegen Petrograd getroffen, einige Truppenteile müßten dort bereits angekommen<br />

sein. Aber sie kamen nicht an. Die Kosaken waren noch immer dabei, »die Pferde<br />

zu satteln«. Die Lage in <strong>der</strong> Stadt verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. Als<br />

Kerenski und Konowalow, um Atem zu schöpfen, ins Palais zurückkehrten, brachte ein<br />

Feldjäger die Eilmeldung: alle Telephone im Palais seien ausgeschaltet, die<br />

Schloßbrücke, vor Kerenskis Fenstern, durch Matrosen besetzt. Der Platz vor dem<br />

Winterpalais blieb noch immer menschenleer; »von Kosaken keine Spur«. Kerenski<br />

stürzt wie<strong>der</strong> in den Stab. Aber auch dort trostlose Nachrichten. Die Junker wären von<br />

den Bolschewiki aufgefor<strong>der</strong>t worden, das Palais zu räumen, und seien sehr aufgeregt.<br />

Panzerautos hätten die Kampflinie verlassen, zu unrechter Zeit den "Verlust" irgendwelcher<br />

wichtiger Zubehörteile entdeckend. Noch immer keine Nachrichten von den<br />

abgesandten Staffeln. Die näheren Zugänge zu Palais und Stab völlig ungeschützt: wenn<br />

die Bolschewiki bis jetzt nicht eindrangen, so nur aus mangeln<strong>der</strong> Kenntnis <strong>der</strong> Lage.<br />

Das seit dem Abend von Offizieren überfüllte Gebäude leerte sich schnell: je<strong>der</strong> rettete<br />

sich auf sein Weise. Es erschien eine Junkerdelegation: sie seien bereit, ihre Pflicht auch<br />

weiter zu erfüllen, »wenn nur Hoffnung auf irgend welche Verstärkungen besteht«. Doch<br />

gerade Verstärkungen gab's<br />

nicht.<br />

Kerenski berief dringend die Minister in den Stab. Die meisten hatten keine Automobile<br />

zur Verfügung: diese wichtigen Verkehrsmittel, die dem mo<strong>der</strong>nen Aufstand neue<br />

Tempos verleihen, waren entwe<strong>der</strong> von den Bolschewiki weggenommen o<strong>der</strong> von den<br />

Ministern durch Ketten Aufständischer abgeschnitten. Es kam nur Kischkin, später<br />

gesellte sich Maljantowitsch hinzu. Was soll das Oberhaupt <strong>der</strong> Regierung beginnen?<br />

Unverzüglich den Staffeln entgegenfahren, um mit ihnen über alle Hin<strong>der</strong>nisse hinweg<br />

vorzurücken: etwas an<strong>der</strong>es weiß niemand auszudenken.<br />

Kerenski befiehlt, seinen »vorzüglichen offenen Tourenwagen« vorzufahren. Aber hier<br />

schiebt sich in die Kette <strong>der</strong> Ereignisse ein neuer Faktor ein, in Gestalt <strong>der</strong> unverbrüchlichen<br />

Solidarität, die die Regierungen <strong>der</strong> Entente in Glück und Unglück verbindet. »Auf<br />

eine mir unerklärliche Weise gelangte die Kunde von meiner Abfahrt zu den alliierten<br />

Gesandtschaften,« Die Vertreter Großbritanniens und <strong>der</strong> Vereinigten Staaten äußerten<br />

sogleich den Wunsch, daß das aus <strong>der</strong> Hauptstadt flüchtende Regierungsoberhaupt »ein<br />

Automobil mit amerikanischer Flagge begleite«. Kerenski selbst hielt diesen Vorschlag<br />

für überflüssig und sogar hemmend, akzeptierte ihn aber als Solidaritätsausdruck <strong>der</strong><br />

Alliierten.<br />

Der amerikanische Gesandte David Francis gibt eine an<strong>der</strong>e, einem Weihnachtsmärchen<br />

etwas unähnlichere Version. Einem amerikanischen Automobil folgte angeblich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 700


durch die Straßen bis zur Gesandtschaft ein Wagen mit <strong>russischen</strong> Offizieren, <strong>der</strong> die<br />

Überlassung des Gesandtschaftsautomobils für Kerenskis Reise zur Front for<strong>der</strong>te.<br />

Nachdem sich die Gesandtschaftsbeamten untereinan<strong>der</strong> beraten hatten, kamen sie zu<br />

dem Entschluß, sich <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Umstände zu beugen, da das Automobil bereits<br />

faktisch "enteignet" sei - was absolut nicht <strong>der</strong> Fall war. Der russische Offizier soll sich<br />

trotz den Protesten <strong>der</strong> Herren Diplomaten geweigert haben, die amerikanische Fahne zu<br />

entfernen. Was auch nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich ist: verlieh doch allein dieser farbige<br />

Fetzen dem Automobil Immunität. Francis hieß die Handlungsweise <strong>der</strong> Gesandtschaftsbeamten<br />

gut, befahl jedoch, »zu niemand davon zu sprechen«.<br />

Aus <strong>der</strong> Gegenüberstellung <strong>der</strong> zwei Angaben, die unter verschiedenen Graden die<br />

Wahrheitslinie schneiden, ergibt sich ein hinreichend klares Bild: natürlich haben nicht<br />

die Alliierten Kerenski das Automobil aufgezwungen, son<strong>der</strong>n er hat es sich selbst<br />

erbeten; da die Diplomaten aber <strong>der</strong> Heuchelei des Nichteingreifens in innere Angelegenheiten<br />

Tribut zollen mußten, wurde verabredet, das Automobil sei "enteignet" worden,<br />

und die Gesandtschaft habe gegen den Mißbrauch <strong>der</strong> Flagge "protestiert". Nachdem<br />

diese delikate Sache erledigt war, nahm Kerenski im eigenen Wagen Platz; <strong>der</strong> amerikanische<br />

folgte hinterher in Reserve. »Es braucht nicht gesagt zu werden«, erzählt<br />

Kerenski weiter, »daß mich die ganze Straße, Passanten wie Soldaten, sofort erkannte.<br />

Ich grüßte wie immer, ein wenig nachlässig und leicht lächelnd.« Ein unvergleichliches<br />

Bild: nachlässig und lächelnd - so ging das Februarregime in das Reich <strong>der</strong> Schatten ein.<br />

An den Stadtausgängen standen überall Feldwachen und Patrouillen aus bewaffneten<br />

Arbeitern. Beim Anblick <strong>der</strong> rasenden Autos stürzten die Rotgardisten auf die Chaussee,<br />

doch zu schießen entschlossen sie sich nicht. Schießen vermied man überhaupt noch.<br />

Vielleicht hielt auch das amerikanische Fähnchen davon ab. Die Automobile jagten<br />

wohlbehalten vorüber.<br />

»In Petrograd also gibt es keine Truppen, bereit, die Provisorische Regierung zu<br />

verteidigen?« fragte verwun<strong>der</strong>t Maljantowitsch, <strong>der</strong> bis zur Stunde im Reiche <strong>der</strong><br />

ewigen Rechtswahrheiten gelebt hatte. - »Ich weiß nichts.« Konowalow machte eine<br />

abwehrende Handbewegung. »Schlimm«, fügte er hinzu. - »Und was sind das für<br />

Truppen, die da kommen?« forschte Maljantowitsch weiter. - »Ich glaube, ein Bataillon<br />

Radfahrer.« Die Minister seufzten. In Petrograd und Umgebung zählte man zweihun<strong>der</strong>ttausend<br />

Soldaten. Schlimm steht's mit einem Regime, wenn das Regierungshaupt mit<br />

einem amerikanischen Fähnchen im Rücken einem Bataillon Radler entgegenrasen muß!<br />

Die Minister würden sicherlich noch tiefer geseufzt haben, hätten sie gewußt, daß das<br />

3. Radfahrerbataillon, von <strong>der</strong> Front ausgesandt, auf <strong>der</strong> Station Peredolskaja haltmachte<br />

und beim Petrogra<strong>der</strong> Sowjet telegraphisch anfragte, zu welchem Zwecke es eigentlich<br />

geholt werde. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee entbot dem Bataillon einen brü<strong>der</strong>lichen<br />

Gruß und empfahl ihm, sofort Delegierte zu schicken. Die Behörden suchten,<br />

fanden aber die Radler nicht, <strong>der</strong>en Delegierte am gleichen Tage im Smolny eintrafen.<br />

Das Winterpalais sollte den vorbereiteten Plänen nach in <strong>der</strong> Nacht zum 25. gleichzeitig<br />

mit allen an<strong>der</strong>en Kommandohöhen <strong>der</strong> Hauptstadt besetzt werden. Bereits am 23.<br />

wurde für die Einnahme des Palais ein beson<strong>der</strong>er Dreierausschuß gebildet mit<br />

Podwojski und Antonow als Hauptfiguren. Ingenieur Sadowski, <strong>der</strong> im Militärdienst<br />

stand, war als dritter ausersehen, kam aber bald, mit Angelegenheiten <strong>der</strong> Garnison<br />

beschäftigt, in Wegfall. Ihn ersetzte Tschudnowski, <strong>der</strong> im Mai zusammen mit Trotzki<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 701


aus dem Konzentrationslager in Kanada angekommen und als Soldat drei Monate an <strong>der</strong><br />

Front gewesen war. Engsten Anteil an <strong>der</strong> Operation nahm Laschewitseh, ein alter<br />

Bolschewik, <strong>der</strong> es in <strong>der</strong> Armee bis zum Unteroffizier gebracht hatte. Drei Jahre später<br />

erinnerte sich Sadowski, wie in seinem kleinen Zimmerchen im Smolny Podwojski und<br />

Tschudnowski über <strong>der</strong> Karte Petrograds um den besten Aktionsplan gegen das Palais<br />

grimmig stritten. Endlich wurde beschlossen, den Bezirk des Winterpalais in dichtem<br />

Oval, dessen Längsachse das Newaufer bilden sollte, einzuschließen. Von <strong>der</strong> Flußseite<br />

her sollte die Umkreisung mit <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung, <strong>der</strong> "Aurora" und an<strong>der</strong>en aus<br />

Kronstadt und von <strong>der</strong> aktiven Flotte herbeigerufenen Schiffen abschließen. Um eventuellen<br />

Angriffsversuchen <strong>der</strong> Kosaken und Junkertruppen im Rücken zuvorzukommen<br />

o<strong>der</strong> sie zu paralysieren, wurde beschlossen, beträchtliche Deckungen aus revolutionären<br />

Abteilungen aufzustellen.<br />

Der Plan in seiner Gesamtheit war zu schwerfällig und kompliziert für die Aufgabe,<br />

die er zu lösen hatte. Die für die Vorbereitung bemessene Zeit war unzureichend. Kleine<br />

Mißverhältnisse und Rechenfehler ergaben sich, wie üblich, bei jedem Schritt. An einer<br />

Stelle war die Richtung falsch angegeben, an <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en hatte sich <strong>der</strong> Operarionsleiter,<br />

<strong>der</strong> die Instruktionen verwechselte, verspätet, an <strong>der</strong> dritten wartete man auf den rettenden<br />

Panzerwagen. Die Truppenteile herauszuführen, sie mit den Rotgardisten vereinigen,<br />

die Kampfreviere besetzen, sie miteinan<strong>der</strong> und mit dem Stab verbinden - all das erfor<strong>der</strong>te<br />

viel mehr Stunden, als die Leiter vermutet hatten, die über <strong>der</strong> Karte Petrograds<br />

stritten.<br />

Als das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee gegen 10 Uhr morgens die Regierung als<br />

gestürzt proklamierte, war das Ausmaß <strong>der</strong> Verspätung sogar den unmittelbaren Leitern<br />

<strong>der</strong> Operation noch nicht klar. Podwojski versprach den Fall des Winterpalais »nicht<br />

später als um 12 Uhr«. Bis dahin war auf dem militärischen Gebiet alles <strong>der</strong>art glatt<br />

vonstatten gegangen, daß niemand Grund hatte, an dieser Frist zu zweifeln. Doch zur<br />

Mittagsstunde stellte sich heraus, daß die Belagerung noch immer nicht komplett war, die<br />

Kronstädter noch fehlten, während die Verteidigung des Palais ausgebaut wurde. Der<br />

Zeitverlust führte, wie es stets zu sein pflegt, zu neuen Verzögerungen. Unter einem<br />

starken Druck des Komitees wurde die Einnahme des Palais für 3 Uhr angesetzt, diesmal<br />

"endgültig". Gestützt auf die neue Frist sprach <strong>der</strong> Berichterstatter des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees in <strong>der</strong> Tagessitzung des Sowjets die Hoffnung aus, <strong>der</strong> Fall des<br />

Winterpalais sei Sache <strong>der</strong> nächsten Minuten. Doch eine neue Stunde verstrich und<br />

brachte keine Entscheidung. Podwojski, <strong>der</strong> selbst wie im Feuer brannte, versicherte<br />

telephonisch, das Palais werde bis 6 Uhr um jeden Preis genommen sein. Aber die alte<br />

Zuversicht war nicht mehr vorhanden. Und in <strong>der</strong> Tat, die Uhr schlug 6, doch die<br />

Entscheidung fiel nicht. Aufgebracht über die Antreibereien des Smolny, lehnten<br />

Podwojski und Antonow es ab, irgendwelche weiteren anzugeben. Das erzeugte ernste<br />

Besorgnis. Politisch hielt man es für notwendig, daß zur Eröffnung des Sowjetkongresse<br />

die gesamte Hauptstadt sich in Händen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees befände:<br />

das sollte die Aufgabe gegenüber <strong>der</strong> Opposition auf dem Kongreß vereinfachen, indem<br />

es sie vor eine vollendete Tatsache stellte. Indessen war die Stunde <strong>der</strong> Kongreßeröffnung<br />

gekommen, verschoben worden und wie<strong>der</strong> gekommen: das Winterpalais hielt sich.<br />

So wurde die Belagerung de Palais infolge ihres schleppenden Charakters für nicht<br />

weniger als zwölf Stunden die Zentralaufgabe des Aufstandes.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 702


Der Hauptstab <strong>der</strong> Operation blieb im Smolny, wo alle Fäden in Laschewitschs<br />

Händen zusammenliefen. Der Feldstab befand sich in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung, wo Verantwortlicher<br />

Blagonrawow war. Untergeordnete Stäbe gab es drei: einen auf <strong>der</strong> "Aurora",<br />

einen zweiten in <strong>der</strong> Kaserne des Pawlowsker Regiments, den dritten in <strong>der</strong> Kaserne <strong>der</strong><br />

Flottenequipage. Auf den Aktionsfeld lag die Leitung bei Podwojski und Antonow, wohl<br />

ohne klar ausgesprochenes Rangverhältnis.<br />

Im Gebäude des Hauptstabes gab es ebenfalls drei über de Karte: den Bezirkskommandierenden,<br />

Oberst Polkownikow; <strong>der</strong> Stabschef General Bagratuni und den als höchste<br />

Autorität zu Beratung hinzugezogenen General Alexejew. Trotz dieser so hochqualifizierten<br />

Leitung waren die Pläne <strong>der</strong> Verteidigung unvergleichlich verschwommener als<br />

die des Angriffs. Zwar verstanden es die unerfahrenen Marschälle des Aufstandes nicht,<br />

ihr Truppen schnell zusammenzuziehen und rechtzeitig den Schlag zu führen. Die<br />

Truppen aber waren vorhanden. Die Marschälle <strong>der</strong> Verteidigung hatten statt Truppen<br />

unklare Hoffnungen: vielleicht werden die Kosaken sich besinnen; vielleicht finden sich<br />

treue Truppen in den Nachbargarnisonen; vielleicht wird Kerenski Truppen von <strong>der</strong><br />

Front heranbringen. Polkownikows Stimmung ist aus seinem Nachttelegramm an das<br />

Hauptquartier bekannt: er betrachtete die Sache als verloren. Alexejew, zu Optimismus<br />

noch weniger neigend, verließ bald den verlorener Posten.<br />

Delegierte <strong>der</strong> Junkerschulen wurden zur Verbindung in den Stab gerufen, wo man<br />

versuchte, ihren Mut zu heben durch Versicherungen, bald würden Truppen aus Gatschina,<br />

Zarskoje Selo und von <strong>der</strong> Front eintreffen. Doch diesen nebelhaften Versprechungen<br />

wurde kein Glaube geschenkt. Durch die Militärschulen krochen nie<strong>der</strong>drückende<br />

Gerüchte: »Im Stab herrscht Panik, niemand tut was.« So war es auch. Kosakenoffiziere,<br />

die in den Stab gekommen waren mit dem Vorschlag, die Panzerwagen aus <strong>der</strong> Michajlow-Manege<br />

herauszuholen, fanden Polkownikow an einem Fensterbrett sitzend im<br />

Zustande völliger Erschöpfung vor. Die Manege besetzen? »Besetzen Sie, ich habe<br />

niemand, ich allein kann nichts machen.«<br />

Während <strong>der</strong> trägen Mobilisierung <strong>der</strong> Schulen zur Verteidigung des Winterpalais<br />

versammelten sich die Minister zu einer Sitzung. Der Platz vor dem Palais und die anliegenden<br />

Straßen waren noch frei von Aufständischen. An <strong>der</strong> Ecke <strong>der</strong> Morskaja und des<br />

Newski hielten bewaffnete Soldaten vorbeifahrende Automobile an und ließen die Insassen<br />

aussteigen. Die Menge erging sich in Vermutungen darüber, ob es Soldaten <strong>der</strong><br />

Regierung o<strong>der</strong> des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees seien, Die Minister genossen<br />

diesmal alle Vorteile ihrer Unpopularität: niemand interessierte sich für sie, und wohl<br />

kaum wurden sie unterwegs von jemand erkannt. Es varsammelten sich alle, außer<br />

Prokopwitsch, den man zufällig in einer Droschke verhaftet hatte, allerdings im Laufe<br />

des Tages wie<strong>der</strong> freiließ.<br />

Im Palais waren noch die alten Diener geblieben. Sie hatten vieles sehen müssen, sich<br />

zu wun<strong>der</strong>n aufgehört, aber sind noch nicht von <strong>der</strong> Furcht erholt. Streng dressiert, in<br />

blauer Livree mit rotem Kragen und goldenen Tressen, hielten diese Splitter des Vergangenen<br />

im prunkvollen Gebäude eine Atmosphäre <strong>der</strong> Ordnung und Beständigkeit<br />

aufrecht. An diesem sorgenvollen Morgen flößten wohl nur sie allein den Ministern eine<br />

Illusion <strong>der</strong> Macht ein. Erst um 11 Uhr beschloß die Regierung endlich, eines ihrer<br />

Mitglie<strong>der</strong> an die Spitze <strong>der</strong> Verteidigung zu stellen. General Manikowski hatte bereits<br />

bei Tagesanbruch auf die von Kerenski zugedachte Ehre verzichtet. Der an<strong>der</strong>e Militär<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 703


unter den Regierungsmitglie<strong>der</strong>n, Admiral Wer<strong>der</strong>ewski, war noch unkriegerischer<br />

gestimmt. An die Spitze <strong>der</strong> Verteidigung mußte ein Zivilist treten: Wohlfahrtsminister<br />

Kischkin. Über seine Ernennung wurde sogleich ein mit den Unterschriften aller versehener<br />

Erlaß an den Senat verfaßt: diese Menschen hatten Zeit, sich mit bürokratischem<br />

Firlefanz zu beschäftigen. Dafür aber dachte keiner daran, daß Kischkin als Mitglied <strong>der</strong><br />

Kadettenpartei den Soldaten im Hinterlande und an <strong>der</strong> Front doppelt verhaßt war.<br />

Kischkin seinerseits wählte sich als Gehilfen Paltschinski und Rutenberg. Schützling <strong>der</strong><br />

Industriellen und För<strong>der</strong>er von Aussperrungen, genoß Paltschinski den Haß <strong>der</strong> Arbeiter.<br />

Ingenieur Rutenberg war Adjutant Sawinkows gewesen, den sogar die allumfassende<br />

Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre als Kornilowianer ausgeschlossen hatte. Der des Verrates<br />

verdächtigte Polkownikow wurde entlassen. An seiner Stelle General Bagratuni ernannt,<br />

<strong>der</strong> sich in nichts von ihm unterschied.<br />

Obwohl die Stadttelephone des Winterpalais und des Stabes ausgeschaltet waren, blieb<br />

das Palais durch eigene Anschlüsse in Verbindung mit den wichtigsten Ämtern, insbeson<strong>der</strong>e<br />

mit dem Kriegsministerium, von wo aus eine direkte Leitung zum Hauptquartier<br />

führte. Es ist wahrscheinlich, daß in <strong>der</strong> Eile auch nicht alle Stadtapparate ausgeschaltet<br />

worden waren. In militärischer Hinsicht war das allerdings ohne Bedeutung, moralisch -<br />

verschlimmerte dies eher die Lage <strong>der</strong> Regierung, denn es raubte ihr die Illusionen.<br />

Die Leiter <strong>der</strong> Verteidigung for<strong>der</strong>ten seit dem Morgen lokale Verstärkungen, in<br />

Erwartung jener von <strong>der</strong> Front. Der eine o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Stadt versuchte ihnen zu<br />

helfen. Der an dieser Sache eng beteiligte Doktor Feit, Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />

sozialrevolutionären Partei, erzählte einige Jahre später in einer Gerichtsverhandlung von<br />

<strong>der</strong> »seltsamen, blitzartigen Verän<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Truppenteile«. Aus zuverlässigsten<br />

Quellen meldete man die Bereitschaft dieses o<strong>der</strong> jenes Truppenteils, sich zur<br />

Verteidigung <strong>der</strong> Regierung zu erheben, doch genügte ein direkter telephonischer Anruf,<br />

und ein Truppenteil nach dem an<strong>der</strong>n sagte rundweg ab. »Das Resultat ist Ihnen<br />

bekannt«, sagte <strong>der</strong> alte Narodniki »keiner rückte an, und das Winterpalais wurde<br />

genommen.« In Wirklichkeit hatten keinerlei blitzartige Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Garnison<br />

stattgefunden. Doch die letzten Illusionen <strong>der</strong> Regierungsparteien stürzten tatsächlich<br />

blitzartig zusammen.<br />

Die Panzerwagen, auf die man im Winterpalais und im Stab beson<strong>der</strong>s gerechnet hatte,<br />

zerfielen in zwei Gruppen: eine bolschewistische und eine pazifistische; eine Regierungsgruppe<br />

gab es überhaupt nicht. Auf dem Wege zum Winterpalais stieß. eine halbe<br />

Kompanie Ingenieur-Junker mit Hoffnung und Angst im Herzen auf zwei Panzerwagen:<br />

Freunde o<strong>der</strong> Feinde? Es zeigte sich, daß sie Neutralität wahrten und auf <strong>der</strong> Straße<br />

waren um Zusammenstöße zwischen den Parteien zu verhin<strong>der</strong>n. Von den sechs im<br />

Schlosse stationierten Panzerautos war nur eins zum Schutze des Schloßeigentums<br />

verblieben; die fünf übrigen waren weg. Mit den Erfolgen des Aufstandes wuchs die<br />

Zahl <strong>der</strong> bolschewistischen Panzerwagen, schmolz die Neutralitätsarmee: dies ist<br />

überhaupt das Schicksal des Pazifismus in jedem ernsten Kampfe.<br />

Die Mittagsstunde naht. Der Riesenplatz vor dem Winterpalais ist noch immer leer.<br />

Die Regierung kann ihn mit niemand füllen. Die Truppen des Komitees besetzen ihn<br />

nicht, von <strong>der</strong> Durchführung des zu komplizierten Planes in Anspruch genommen. In<br />

weiterem Umkreis sammeln sich Truppen, Arbeiterabteilungen, Panzerwagen. Der<br />

Sehloßbezirk beginnt einem verpesteten Ort zu ähneln, den man an <strong>der</strong> Peripherie, weit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 704


von dem unmittelbaren Seuchenherd, absperrt.<br />

Der Hof des Winterpalais, <strong>der</strong> zum Platz führt, ist wie <strong>der</strong> Hof des Smolny von<br />

Holzstapeln angefüllt. Rechts und links stehen dreizöllige Feldgeschütze. An mehreren<br />

Stellen Gewehrpyramiden. Die geringe Wache des Palais drückt sieh eng an das<br />

Gebäude. Im Hof wie in <strong>der</strong> unteren Etage liegen zwei Fähnrichschulen aus Oranienbaum<br />

und Peterhof, bei weitem nicht vollzählig, und ein Zug <strong>der</strong> Konstantinowsker<br />

Artillerieschule mit sechs Geschützen.<br />

In <strong>der</strong> zweiten Tageshälfte trifft ein Junkerbataillon <strong>der</strong> Inge-nieurschule ein, das<br />

unterwegs eine halbe Kompanie verloren hat. Das Bild, das <strong>der</strong> Ankunftsort bietet, ist<br />

kaum imstande, die Kampfbereitschaft <strong>der</strong> Junker zu heben, an <strong>der</strong> es ihnen, nach<br />

Stankewitschs Aussage, auch unterwegs schon fehlte. Es stellt sich heraus, daß im<br />

Schlosse fast völliger Mangel an Lebensmitteln herrscht: nicht einmal dafür hatte man<br />

rechtzeitig gesorgt. Ein Lastwagen mit Brot war von Patrouillen des Komitees abgefangen<br />

worden. Ein Teil <strong>der</strong> Junker hat Wachtdienst, die an<strong>der</strong>en quälte Untätigkeit,<br />

Unsicberheit, Hunger. Die Hand einer Leitung war nirgendwo zu verspüren. Auf dem<br />

Platz vor dem Schlosse und am Kai begannen Gruppen scheinbar friedlicher Passanten<br />

aufzutauchen, die im Vorübergehen unter Bedrohung mit Revolvern den Posten stehenden<br />

Junkern Gewehre entrissen.<br />

Unter den Junkern tauchen "Agitatoren" auf. Sind sie von außen eingedrungen? Nein,<br />

noch sind es aller Wahrscheinlichkeit nach innere Friedensstörer. Es gelang ihnen, unter<br />

den Oranienbaumern und Peterhofern Gärung hervorzurufen. Die Komitees <strong>der</strong> Schulen<br />

organisierten im Weißen Saal des Schlosses eine Versammlung und verlangten nach<br />

einem Regierungsvertreter zwecks Aufklärung. Es erschienen sämtliche Minister mit<br />

Konowalow an <strong>der</strong> Spitze. Die Diskussion währte eine ganze Stunde. Konowalow wurde<br />

wie<strong>der</strong>holt unterbrochen und - verstummte. Landwirtschaftsminister Maslow trat in <strong>der</strong><br />

Eigenschaft des alten <strong>Revolution</strong>ärs auf. Kischkin setzte den Junkem auseinan<strong>der</strong>, daß<br />

die Regierung beschlossen habe, sich bis zur letzten Möglichkeit zu halten. Nach Stankewitschs<br />

Zeugnis machte ein Junker den Versuch, die Bereitschaft <strong>der</strong> Truppe, für die<br />

Regierung in den Tod zu gehen, zum Ausdruck zu bringen, aber »die offenkundige Kühle<br />

<strong>der</strong> übrigen Kameraden mäßigte seinen Drang«. Die Reden an<strong>der</strong>er Minister riefen<br />

bereits direkte Gereiztheit bei den Junkern hervor, die Zwischenrufe machten, schrien<br />

und sogar zu pfeifen begannen. Die Junker von blauem Blut entschuldigten das Verhalten<br />

<strong>der</strong> Mehrheit ihrer Kameraden mit <strong>der</strong>en nie<strong>der</strong>er sozialer Abstammung: »All das<br />

sind Leute vom Pflug, Halbanalphabeten, ungebildetes Vieh ... gemeines Volk.«<br />

Das Meeting <strong>der</strong> Minister mit den Junkern im belagerten Palais endete immerhin<br />

versöhnlich: die Junker erklärten sich zum Bleiben bereit, nachdem ihnen aktive Führung<br />

und eine richtige Beleuchtung <strong>der</strong> Ereignisse versprochen worden war. Der zum<br />

Kommandanten <strong>der</strong> Verteidigung ernannte Vorsteher <strong>der</strong> Ingenieurschule fuhr mit dem<br />

Bleistift über den Schloßplan und zeichnete die Namen <strong>der</strong> Truppenteile ein. Die vorhandenen<br />

Kräfte wurden nach Kampfabschnitten aufgeteilt. Ein großer Teil <strong>der</strong> Junker<br />

wurde in <strong>der</strong> ersten Etage untergebracht, von wo aus sie durch die Fenster den Schloßplatz<br />

unter Feuer halten konnten. Doch war es ihnen verboten, das Feuer als erste zu<br />

eröffnen. Ein Bataillon <strong>der</strong> Ingenieurschule besetzt den Hof zur Deckung <strong>der</strong> Artillerie.<br />

Trupps für Verschanzungsarbeiten werden ausgeson<strong>der</strong>t Ein Verbindungskommando aus<br />

vier Mann von jedem Truppenteil wird geschaffen. Eine Artillerieabteilung mit <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 705


Verteidigung des Tores für den Fall eines Durchbruchversuchs beauftragt. Im Hofe und<br />

vor dem Tor werden Abwehrschanzen aus Holz errichtet. Es entstand so etwas wie<br />

Ordnung. Die Wachen begannen sich sicherer zu fühlen.<br />

Der Bürgerkrieg ist, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> ersten Zeit, vor Bildung regulärer Armeen und<br />

vor <strong>der</strong>en Stählung, ein Krieg bloßgelegter Nerven. Sobald sich eine kleine Steigerung<br />

<strong>der</strong> Aktivität bei den Junkern zeigte, die, hinter den Barrikaden verschanzt, den Platz<br />

durch Feuer säuberten, überschätzte man im Lager <strong>der</strong> Angreifer außerordentlich Kräfte<br />

und Mittel <strong>der</strong> Verteidigung. Trotz <strong>der</strong> Unzufriedenheit <strong>der</strong> Rotgardisten und Soldaten<br />

beschlossen die Leiter, die Erstürmung bis zum Aufmarsch <strong>der</strong> Reserven zu verschieben;<br />

man wartete hauptsächlich auf das Eintreffen <strong>der</strong> Matrosen aus Kronstadt.<br />

Die dadurch entstandene Atempause von einigen Stunden brachte den Belagerten<br />

kleine Verstärkungen. Nachdem Kerenski <strong>der</strong> Kosakendelegation Infanterie versprochen<br />

hatte, tagte <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Kosakenheere, tagten Regimentskomitees, tagten allgemeine<br />

Regimentsversainmlungen. Es wurde beschlossen: zwei Hun<strong>der</strong>tschaften und ein<br />

Masehinengewehrkommando des Uraler Regiments, im Juli von <strong>der</strong> Front gekommen zur<br />

Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, rücken unverzüglich zum Winterpalais aus, die<br />

übrigen - nicht vor <strong>der</strong> tatsächlichen Erfüllung <strong>der</strong> Versprechungen, das heißt nach Lieferung<br />

von Infanterieverstärkungen. Aber auch mit den zwei Hun<strong>der</strong>tschaften lief die<br />

Sache nicht ohne Reibungen ab. Die Kosakenjugend wi<strong>der</strong>setzte sich, die "Alten" sperrten<br />

die Jungen sogar in den Pferdestall ein, damit sie sie nicht hin<strong>der</strong>ten, sich für den<br />

Marsch zu rüsten. Erst in <strong>der</strong> Dämmerung, als man sie bereits nicht mehr erwartete,<br />

erschienen im Palais bärtige Uraler. Sie wurden empfangen wie Retter. Sie selbst aber<br />

blickten düster drein. In Schlössern zu kämpfen, waren sie nicht gewohnt. Und es war<br />

auch nicht sehr klar, wo die Wahrheit ist.<br />

Nach einiger Zeit erschienen ganz unerwartet etwa vierzig Mann Georgsritter, unter<br />

Befehl eines einbeinigen Stabsrittmeisters mit einer Prothese. Patriotische Invaliden als<br />

letzte Reserve <strong>der</strong> Demokratie ... Immerhin wurde es gemütlicher. Bald kam hinzu die<br />

Stoßkompanie eines Frauenbataillons. Am meisten ermunterte die Tatsache, daß die<br />

Verstärkungen ohne Kampfdurchbrachen. Die Ketten <strong>der</strong> Belagerer vermochten o<strong>der</strong><br />

wagten nicht, ihnen den Zutritt zum Palais zu versperren. Klar: <strong>der</strong> Gegner ist schwach.<br />

»Gott sei Dank, die Sache beginnt, in Fluß zu kommen«, trösteten die Offiziere sich und<br />

die Junker. Die Neueingetroffenen erhielten Kampfabschnitte zugewiesen und lösten die<br />

Ermüdeten ab. Jedoch blickten die Uraler mißbilligend auf die "Weiber" mit Gewehren.<br />

Und wo bleibt die richtige Infanterie?<br />

Die Belagerer versäumten offensichtlich Zeit. Es verspäteten sich die Kronstädter,<br />

wenn auch nicht durch eigenes Verschulden: sie waren zu spät gerufen worden. Nach<br />

angestrengter nächtlicher Vorbereitung verluden sie sich gegen Morgen auf Schiffe. Das<br />

Minensperrschiff "Amur" und das Meldeschiff "Jastreb" begeben sich direkt nach Petrograd.<br />

Der alte Panzerkreuzer "Sarja Swobody" soll nach Landung <strong>der</strong> Besatzung in<br />

Oranienbaum, wo eine Entwaffnung <strong>der</strong> Junker geplant ist, im Eingang zum Morskoj-<br />

Kanal Aufstellung nehmen, um im Norfall die baltische Eisenbahn unter Feuer zu halten.<br />

Fünftausend Matrosen und Soldaten verließen am frühen Morgen die Insel Kotlin, um an<br />

<strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> zu landen. In <strong>der</strong> Offizierskajüte düsteres Schweigen: man führt<br />

diese Menschen, für eine ihnen verhaßte Sache zu kämpfen. Der Kommissar <strong>der</strong> Abteilung,<br />

Bolschewik Flerowski, erklärt ihnen: »Mit euren Sympathien rechnen wir nicht,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 706


aber wir for<strong>der</strong>n, daß ihr auf euren Posten seid. Überflüssige Prüfungen werden wir<br />

euch ersparen.« Es erfolgt die kurze Seemannsantwort: »Es sei.« Alle nahmen ihre<br />

Plätze ein, <strong>der</strong> Kommandeur bestieg die Brücke.<br />

Bei <strong>der</strong> Einfahrt in die Newa - jubelndes Hurra: die Seeleute empfangen die Ihren. Von<br />

<strong>der</strong> über die Mitte des Flusses sich ausbreitenden "Aurora" donnert ein Orchester.<br />

Antonow begrüßt die Angekommenen mit einer kurzen Ansprache: »Hier das Winterpalais<br />

... es muß genommen werden.« In <strong>der</strong> Kronstädter Abteilung vollzog sich von selbst<br />

eine Auslese <strong>der</strong> Entsehlossensten und Kühnsten. Diese Matrosen in den schwarzen<br />

Anzügen, mit Gewehren und Patronentaschen, werden bis ans Ende gehen. Schnell wird<br />

die Landung beim Konogwardejski-Boulevard vollzogen. Auf dem Schiff verbleibt nur<br />

eine Kampfwache.<br />

Jetzt gibt es Kräfte mehr als genug. Auf dem Newski - starke Sperren, auf <strong>der</strong> Brücke<br />

des Jekaterininski-Kanals und auf <strong>der</strong> Brücke <strong>der</strong> Mojka Panzerautos und Flugzeugabwehrgeschütze,<br />

auf das Winterpalais blickend. Jenseits <strong>der</strong> Mojka haben Arbeiter<br />

Maschinengewehre in Deckung aufgestellt. Ein Panzerwagen hält Wacht auf <strong>der</strong> Morskaja.<br />

Die Newa und ihre Brücken sind in den Händen <strong>der</strong> Angreifer. Tschudnowski und<br />

Unterleutnant Daschkewitsch ist befohlen, aus den Gar<strong>der</strong>egimentern Sperrketten auf das<br />

Marsfeld zu schicken. Blagonrawow soll von <strong>der</strong> Festung aus über die Brücke die Sperrkette<br />

des Pawlowsker Regiments berühren. Die eingetroffenen Kronstädter treten mit <strong>der</strong><br />

Festung und <strong>der</strong> ersten Flottenequipage in Verbindung. Nach einer Artilleriebeschießung<br />

soll die Erstürmung beginnen.<br />

Von <strong>der</strong> aktiven baltischen Flotte kommen unterdessen fünf Kampfschiffe, ein<br />

Kreuzer, zwei große Torpedoboote und zwei kleine. »So sehr wir auch mit den schon<br />

vorhandenen Kräften des Sieges gewiß gewesen waren«, schreibt Flerowski, »hob<br />

dennoch das Geschenk <strong>der</strong> aktiven Flotte bei allen gewaltig die Stimmung.« Admiral<br />

Wer<strong>der</strong>ewski konnte von den Fenstern des Malachitsaales aus die imposante revolutionäre<br />

Flottille beobachten, die nicht nur das Palais und dessen Umgebung, son<strong>der</strong>n auch<br />

die wichtigsten Stadtzugänge beherrschte.<br />

Gegen 4 Uhr mittags berief Konowalow telephonisch alle <strong>der</strong> Regierung nahestehenden<br />

Politiker ins Palais: die belagerten Minister bedurften wenigstens moralischer Stütze.<br />

Von all den Geladenen erschien allein Nabokow; die übrigen zogen vor, ihr Mitgefühl<br />

telephonisch auszusprechen. Minister Tretjakow beklagte sieh über Kerenski und das<br />

Schicksal: das Regierungshaupt ist geflohen und hat seine Kollegen ohne Schutz gelassen.<br />

- Aber vielleicht werden Verstärkungen kommen? - Vielleicht. Warum sind sie aber<br />

noch nicht da? Nabokow zeigte Teilnahme, blickte verstohlen auf die Uhr und hatte es<br />

eilig, sich zu verabschieden. Er ging rechtzeitig weg. Bald nach 6 Uhr wurde endlich das<br />

Winterpalais von Truppen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees dicht umstellt: es gab<br />

keinen Durchgang mehr, we<strong>der</strong> für Verstärkungen, noch für Einzelpersonen.<br />

Aus <strong>der</strong> Richtung des Konogwardejski-Boulevards, des Admiralitätskais, <strong>der</strong> Morskaja-Straße,<br />

des Newski-Prospekts, des Marsfeldes, <strong>der</strong> Milljonaja-Straße und des Schloßkais<br />

verdichtete und verkürzte sich das Oval <strong>der</strong> Belagerung. Machtvolle Ketten zogen<br />

sich von den Gartengittern des Winterpalais, die bereits in den Händen <strong>der</strong> Belagerer<br />

waren, vom Bogen zwischen dem Schloßplatz und <strong>der</strong> Morskaja-Straße, von den Gräben<br />

an <strong>der</strong> Eremitage, von den in <strong>der</strong> Nähe des Palais liegenden Ecken <strong>der</strong> Admiralität und<br />

des Newski. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Flusses lauerte drohend die Peter-Paul-Festung.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 707


Von <strong>der</strong> Newa blickten die Sechszöller <strong>der</strong> "Aurora". Torpedobonte patrouillierten den<br />

Fluß auf und ab. Der Aufstand bot in jenen Stunden den Anblick militärischer Manöver<br />

großen Stils.<br />

Auf dem Schloßplatze, vor etwa drei Stunden durch die Junker gesäubert, erschienen<br />

Panzerwagen und besetzten Ein- und Ausgänge. Die alten patriotischen Namen traten<br />

noch auf <strong>der</strong> Panzerung unter den neuen Bezeichnungen, die man in Hast mit roter Farbe<br />

angebracht hatte, hervor. Im Schutz <strong>der</strong> stählernen Ungetüme fühlten sich die Angreifer<br />

auf dem Platz immer sicherer. Ein Panzerwagen fuhr ganz dicht an das Hauptportal des<br />

Palais heran, entwaffnete die Junkerposten und entfernte sich unbehin<strong>der</strong>t.<br />

Trotz <strong>der</strong> endlich vollständigen Blockade konnten die Belagerten immer noch die<br />

Verbindung mit <strong>der</strong> Außenwelt telephonisch aufrechterhalten. Zwar hatte um 5 Uhr eine<br />

Abteilung des Kexholmer Regiments das Gebäude des Kriegsministeriums besetzt, durch<br />

das das Winterpalais mit dem Hauptquartier Verbindung besaß. Aber auch danach<br />

verblieb ein Offizier allem Anschein nach noch einige Stunden am Hughes-Apparat im<br />

Mansardenraum des Ministeriums, wo nachzusehen den Siegern nicht eingefallen war.<br />

Doch nützte die Verbindung auch weiterhin nichts. Die Antworten von <strong>der</strong> Nordfront<br />

wurden immer ausweichen<strong>der</strong>. Verstärkungen trafen nicht ein. Das mysteriöse<br />

Radfahrerbataillon blieb unauffindbar. Kerenski selbst war wie von <strong>der</strong> Erdoberfläche<br />

verschwunden. Die Freunde in <strong>der</strong> Stadt beschränkten sich auf immer lakonischere<br />

Teilnahmsäußerungen. Die Minister waren bedrückt. Worüber noch sprechen, worauf<br />

noch hoffen? Sie waren einan<strong>der</strong> und ihrer selbst überdrüssig. Die einen saßen stumpfsinnig<br />

da, die an<strong>der</strong>en pendelten automatisch von einer Ecke zur an<strong>der</strong>en. Zu Verallgemeinerungen<br />

neigend, blickten sie zurück in die Vergangenheit, Schuldige suchend. Das<br />

Finden fiel nicht schwer: die Demokratie! Sie hat sie in die Regierung geschickt, ihnen<br />

eine große Last auferlegt und sie im Augenblick <strong>der</strong> Gefahr ohne Hilfe gelassen. Diesmal<br />

waren Kadetten und <strong>Sozialisten</strong> völlig solidarisch: ja, schuld ist die Demokratie. Zwar<br />

hatten beide Gruppen, die Koalition eingehend, sogar <strong>der</strong> ihnen so nahestehenden<br />

Demokratischen Beratung den Rücken gekehrt. In <strong>der</strong> Unabhängigkeit von <strong>der</strong> Demokratie<br />

bestand ja die Hauptidee <strong>der</strong> Koalition. Doch gleichwie: zu welchem Zwecke existiert<br />

die Demokratie, wenn nicht zur Rettung <strong>der</strong> in Not geratenen bürgerlichen Regierung?<br />

Landwirtschaftsminister Maslow, rechter Sozialrevolutionär, schrieb einen von ihm<br />

selbst als posthum bezeichneten Zettel: feierlich verpflichtete er sich, nicht an<strong>der</strong>s zu<br />

sterben als mit Flüchen an die Adresse <strong>der</strong> Demokratie auf den Lippen. Von dieser seiner<br />

schicksalsschweren Absicht beeilten sich seine Kollegen telephonisch <strong>der</strong> Duma Mitteilung<br />

zu machen. Der Tod blieb zwar im Stadium eines Projektes, an Flüchen allerdings<br />

war kein Mangel.<br />

Oben, neben <strong>der</strong> Kommandantur, befand sich ein Speiseraum, wo Hoflakaien den<br />

Herren Offizieren ein »köstliches Essen mit Wein« servierten. Man konnte hier für eine<br />

Weile die Unbilden vergessen. Die Offiziere rechneten die Rangstufen nach, stellten<br />

neidische Vergleiche an, fluchten über die saumselige Produktion unter <strong>der</strong> neuen Macht.<br />

Beson<strong>der</strong>s bekam es Kerenski; gestern habe er im Vorparlament geschworen, auf seinem<br />

Posten zu sterben, und heute sei er, als Krankenschwester verkleidet, aus <strong>der</strong> Stadt<br />

geflüchtet. Einige Offiziere versuchten den Regierungsmitglie<strong>der</strong>n die Sinnlosigkeit<br />

eines weiteren Wi<strong>der</strong>standes zu beweisen. Der energische Paltschinski erklärte sie für<br />

Bolschewiki und versuchte sogar, sie zu verhaften.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 708


Die Junker wollten wissen, was weiter werden solle, und for<strong>der</strong>ten von <strong>der</strong> Regierung<br />

Antworten, die zu geben diese unfähig war. Während <strong>der</strong> neuerlichen Besprechung <strong>der</strong><br />

Junker mit den Ministern traf Kischkin aus dem Hauptstab ein mit dem dorthin durch<br />

einen Radfahrer ans <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung überbrachten und dem Generalquartiermeister<br />

Poradelow eingehändigten Ultimatum mit Antonows Unterschrift: sich ergeben und<br />

die Garnison des Winterpalais entwaffnen, an<strong>der</strong>nfalls wird aus den Geschützen <strong>der</strong><br />

Festung und <strong>der</strong> Kriegsschiffe Feuer eröffnet: zwanzig Minuten Bedenkzeit. Diese Frist<br />

war zu kurz. Poradelow erwirkte weitere zehn Minuten. Die militärischen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Regierung, Manikowski und Wer<strong>der</strong>ewski, gingen an die Sache einfach heran: kann man<br />

nicht kämpfen, muß man an Übergabe denken, das heißt das Ultimatum annehmen. Doch<br />

die Zivilminister blieben unbeugsam. Schließlich wurde beschlossen, das Ultimatum<br />

nicht zu beantworten, son<strong>der</strong>n sich an die Stadtduma zu wenden, als das einzige gesetzliche<br />

Organ in <strong>der</strong> Hauptstadt. Der Appell an die Duma war ein letzter Versuch, das eingeschlafene<br />

Gewissen <strong>der</strong> Demokratie zu wecken.<br />

Poradelow, <strong>der</strong> die Einstellung des Wi<strong>der</strong>standes für notwendig hielt, ersuchte um<br />

Enthebung von seinem Posten: ihm »fehlt die Überzeugung von <strong>der</strong> Richtigkeit des<br />

seitens <strong>der</strong> Provisorischen Regierung eingeschlagenen Weges«. Die Schwankungen des<br />

Obersten fanden ihre Lösung, ehe noch seine Demission angenommen werden konnte.<br />

Nach Ablauf <strong>der</strong> halbstündigen Frist besetzte eine Abteilung Rotgardisten, Matrosen und<br />

Soldaten unter Führung eines Fähnrichs des Pawlowsker Reginients, ohne auf Wi<strong>der</strong>stand<br />

zu stoßen, den Hauptstab und verhaftete den mutlos gewordenen Generalquartiermeister.<br />

Die Einnahme des Hauptstabes wäre eigentlich längst möglich gewesen; das<br />

Gebäude war von innen völlig ungeschützt. Doch vor dem Erscheinen <strong>der</strong> Panzerwagen<br />

auf dem Platze befürchteten die Belagerer, sie könnten durch einen Ausfall <strong>der</strong> Junker<br />

aus dem Winterpalais abgeschnitten werden.<br />

Nach Verlust des Stabes fühlte sich das Winterpalais noch verwaister. Aus dem<br />

Malachitsaal, dessen Fenster auf die Newa gingen und sich gleichsam einem<br />

"Aurora"-Geschoß aufdrängten, übersiedelten die Minister in einen <strong>der</strong> zahllosen Räume<br />

des Palais mit den Fenstern zum Hof. Die Lichter wurden gelöscht. Nur auf dem Tisch<br />

brannte eine einsame Lampe, gegen die Fenster mit einem Zeitungsblatt abgedeckt.<br />

»Was droht dem Palais, wenn die "Aurora" das Feuer eröffnen wird?« fragten die<br />

Minister ihren Marinekollegen. »Es wird in einen Trümmerhaufen verwandelt werden«,<br />

erklärte bereitwilligst <strong>der</strong> Admiral, nicht ohne Gefühl des Stolzes auf die Marineartillerie.<br />

Wer<strong>der</strong>ewski zog die Übergabe vor und wollte gerne die Zivilisten, die am falschen Orte<br />

die Tapferen spielten, ein wenig schrecken. Aber die "Aurora" schoß nicht. Es schwieg<br />

auch die Festung. Vielleicht werden die Bolschewiki überhaupt nicht wagen, ihre<br />

Drohung auszuführen?<br />

General Bagratuni, den man an die Stelle des nicht genügend standhaften Polkownikow<br />

gesetzt hatte, hielt es gerade an <strong>der</strong> Zeit, zu erklären, er verzichte, die Pflichten des<br />

Bezirkskommandierenden weiter zu erfüllen. Auf Kischkins Befehl wurde <strong>der</strong> General<br />

»als unwürdige abgesetzt und aufgefor<strong>der</strong>t, das Palais unverzüglich zu verlassen. Als er<br />

aus dem Tor hinaustrat, geriet <strong>der</strong> ehemalige Kommandierende in die Arme von Matrosen,<br />

die ihn in die Kaserne <strong>der</strong> Baltischen Equipage brachten. Dem General hätte es<br />

schlimm ergehen können, hätte nicht Podwojski, <strong>der</strong> die Frontabschnitte vor dem letzten<br />

Angriff inspizierte, den unglückseligen Heerführer unter seinen Schutz genommen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 709


Von den anliegenden Straßen und Kais aus beobachteten viele, wie das Palais, das<br />

soeben in Hun<strong>der</strong>ten elektrischer Lampen gespielt hatte, plötzlich in Dunkelheit tauchte.<br />

Unter den Beobachtern waren auch Freunde <strong>der</strong> Regierung. Ein Kampfgefährte<br />

Kerenskis, Redemeister, schrieb nie<strong>der</strong>: »Die Finstemis, in die das Winterpalais versank,<br />

drohte wie irgendein Geheimnis.« Anstalten, es zu enträtseln, unternahmen die Freunde<br />

nicht. Man muß auch gestehen, daß ihre Möglichkeiten gering waren.<br />

Versteckt hinter den Holzstapeln verfolgten die Junker gespannt die Ketten auf dem<br />

Schloßplatze und reagierten auf jede Bewegung des Feindes mit Gewehr- und Maschinengewehrfeuer.<br />

Man antwortete ihnen mit gleichem. Die Schießerei wurde um die<br />

Nachtstunden immer heftiger. Es gab die ersten Toten und Verwundeten. Doch waren die<br />

Opfer vereinzelt. Auf dem Platz, am Kai, auf <strong>der</strong> Milljonaja-Straße paßten sich die<br />

Belagerer dem Gelände an, verbargen sich hinter Vorsprüngen, versteckten sich in<br />

Vertiefungen, drückten sich an die Mauern. Bei <strong>der</strong> Reserve wärmten sich Soldaten und<br />

Rotgardisten an Scheiterhaufen, die mit Einbruch <strong>der</strong> Dunkelheit zu rauchen begannen,<br />

und schimpften ein wenig auf die Saumseligkeit <strong>der</strong> Führer.<br />

Im Winterpalais hatten die Junker in Korridoren, auf Treppen, bei den Einfahrten, im<br />

Hofe Stellung bezogen; die Außenposten klebten an Gelän<strong>der</strong>n und Mauern. Das Gebäude,<br />

das Tausende authehmen konnte, barg nur Hun<strong>der</strong>te. Die ungeheuren Räumlichkeiten<br />

hinter <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Verteidiger schienen ausgestorben. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Dienerschaft<br />

hielt sich versteckt o<strong>der</strong> war auseinan<strong>der</strong>gelaufen. Viele Offiziere hatten sich im<br />

Büfettraum verborgen, wo sie die Diener, die noch keine Zeit gehabt hatten, sich zu<br />

verkriechen, zwangen, immer neue Batterien von Weinflaschen aufzutragen. Das Trinkgelage<br />

<strong>der</strong> Offiziere im agonisierenden Palais konnte für Junker, Kosaken, Invaliden,<br />

Stoßbrigadlerinnen kein Geheimnis bleiben. Die Entscheidung bereitete sich nicht nur<br />

außen, son<strong>der</strong>n auch innen vor.<br />

Der Offizier eines Artilleriezuges meldete plötzlich dem Kommandanten <strong>der</strong> Verteidigutig:<br />

die Geschütze seien auf die Protzwagen gestellt, und die Junker gingen heim,<br />

entsprechend dem des Vorstehers <strong>der</strong> Konstantinowski-Schule. Das war ein treubrüchiger<br />

Schlag! Der Kommandant versuchte, Einspruch zu erheben: außer ihm habe hier<br />

niemand Befehle zu erteilen. Die Junker wußten das wohl, zogen jedoch vor, dem Schulvorsteher<br />

zu gehorchen, <strong>der</strong> seinerseits unter dem Druck des Kommissars vom Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee handelte. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Artilleristen verließ mit vier von<br />

sechs Geschützen das Palais. Am Newski durch eine Soldatenpatrouille aufgehalten,<br />

versuchten sie Wi<strong>der</strong>stand zu leisten, wurden aber von Sperrtruppen des Pawlowsker<br />

Regiments, die mit einem Panzerwagen herbeieilten, entwaffnet und mit zwei Geschützen<br />

in die Regimentskaserne geschickt; die zwei übrigen Geschütze wurden auf dem<br />

Newski und an <strong>der</strong> Mojka-Brücke mit <strong>der</strong> Mündung gegen das Winterpalais aufgestellt.<br />

Die zwei Hun<strong>der</strong>tschaften Uraler warteten vergeblich auf Zuzug von Kameraden.<br />

Sawinkow, mit dem Sowjet <strong>der</strong> Kosakenheere eng verbunden, von diesem sogar ins<br />

Vorparlament geschickt, bemühte sich mit Hilfe des Generals Alexejew, die Kosaken in<br />

Bewegung zu bringen. Doch die Häupter des Kosakensowjets konnten, nach einer richtigen<br />

Bemerkung Miljukows, »ebensowenig über die Kosakenregimenter verfügen wie <strong>der</strong><br />

Stab über die Truppen <strong>der</strong> Garnison«. Nachdem sie die Sache von allen Seiten durchgesprochen<br />

hatten, erklärten die Kosakenregimenter endgültig, sie würden ohne Infanterie<br />

nicht kämpfen, und boten dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee ihre Dienste an für die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 710


Bewachung des Staatseigentums. Gleichzeitig beschloß das Uralcr Regiment, Delegierte<br />

in das Winterpalais zu entsenden, um die zwei Hun<strong>der</strong>tschaften in die Kaserne zurückzuholen.<br />

Dieser Vorschlag entsprach ganz <strong>der</strong> Stimmung, die bei den "Alten" <strong>der</strong> Uraler<br />

endgültig Platz gegriffen hatte. Ringsum nur Fremde: Junker, unter denen nicht selten<br />

Juden waren, invalide Offiziere und dazu Stoßbrigadlerinnen. Mit bösen, finsteren<br />

Gesichtern packten die Kosaken ihre Säcke. Kein Zureden half mehr. Wer blieb als<br />

Kerenskis Schutz? »Juden und Weiber ... das russische Volk aber ist dort, mit Lenin<br />

geblieben.« Bei den Kosaken fand sich eine Verbindung mit den Belagerern, und diese<br />

öffneten ihnen einen <strong>der</strong> Verteidigung bis dahin unbekannt gewesenen Durchgang.<br />

Gegen 9 Uhr abends verließen die Uraler das Winterpalais. Nur ihre Maschinengewehre<br />

überließen sie den Verteidigern einer hoffnungslosen Sache.<br />

Auf dem gleichen Wege, von <strong>der</strong> Milljonaja-Straße aus, waren schon vorher Bolschewiki<br />

ins Palais gelangt, zum Zwecke <strong>der</strong> Zersetzung des Gegners. Immer häufiger stieß<br />

man in den Korridoren auf geheimnisvolle Gestalten, Seite an Seite mit Junkern. Der<br />

Wi<strong>der</strong>stand sei zwecklos. Die Aufständischen hätten Stadt und Bahnhöfe in <strong>der</strong> Gewalt,<br />

Verstärkung gäbe es nicht, im Palais werde einfach »aus Gewohnheit weitergelogen«.<br />

Was nun tun? fragten die Junker. Die Regierung weigert sich, direkte Befehle zu erteilen.<br />

Die Minister selbst bleiben bei ihrem alten Entschluß, die an<strong>der</strong>en mögen handeln, wie<br />

sie wollen. Das bedeutete: die Proklamierung des freien Abzugs aus dem Palais für alle,<br />

die es wünschten. Im Verhalten <strong>der</strong> Regierung war we<strong>der</strong> Vernunft noch Wille. Die<br />

Minister harrten passiv ihres Geschicks. Maljantowitsch erzählte später: »In einer riesigen<br />

Mausefalle irrten gezeichnete Menschen herum, die nur dann und wann alle zusammen<br />

o<strong>der</strong> in kleineren Gruppen zu kurzen Gesprächen sich trafen, Einsame, von allen<br />

Verlassene. Um uns war Leere, in uns war Leere. Und in ihr erwuchs die unbedenkliche<br />

Entschlossenheit gleichgültiger Teilnahmslosigkeit.«<br />

Antonow-Owssejenko hat mit Blagonrawow verabredet: sobald die Einkreisung des<br />

Winterpalais beendet ist, wird auf dem Festungsmast eine rote Laterne hochgezogen. Auf<br />

dieses Signal hin gibt die "Aurora" einen Blindschuß ab, um zu schrecken. Geben die<br />

Belagerten nicht nach, beginnt die Festung die Beschießung des Palais mit Kampfgeschossen<br />

aus leichten Geschützen. Ergibt sich das Winterpalais auch dann nicht, eröffnet<br />

die "Aurora" wirkliches Feuer aus ihren Sechszölligen. Der Zweck dieser Stufung war,<br />

Opfer und Beschädigungen auf ein Minimum herabzusetzen, gelingt es nicht, sie ganz zu<br />

vermeiden. Aber die zu komplizierte Lösung <strong>der</strong> einfachen Aufgabe drohte zu entgegengesetzten<br />

Resultaten zu führen. Die Schwierigkeiten <strong>der</strong> Durchführung müssen sich<br />

unweigerlich zeigen. Sie beginnen schon mit <strong>der</strong> roten Laterne: sie ist nicht bei <strong>der</strong> Hand.<br />

Man sucht, verliert Zeit, findet endlich. Aber es ist gar nicht ganz einfach, sie so an dem<br />

Mast zu befestigen, daß sie von allen Seiten zu sehen ist. Immer neue und neue Versuche<br />

mit zweifelhaftem Ergebnis. Und die kostbare Zeit verrinnt.<br />

Die Hauptschwierigkeiten setzen jedoch bei Berührung mit <strong>der</strong> Artillerie ein. Nach<br />

Blagonrawows Bericht konnte man die Beschießung des Palais auf das erste Signal schon<br />

mittags beginnen. In Wirklichkeit kam es ganz an<strong>der</strong>s. Da es eine ständige Artillerie in<br />

<strong>der</strong> Festung nicht gab, sieht man von <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>ladekanone ab, die die Mittagsstunde<br />

verkündete, war man gezwungen, auf den Festungsmauern Feldgeschütze aufzustellen.<br />

Dieser Teil des Programms war gegen Mittag tatsächlich durchgeführt. Aber schlimm<br />

stand die Sache mit <strong>der</strong> Geschützbedienung. Es war im voraus bekannt, daß die Artille-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 711


iekompanie, die im Juli auf seiten <strong>der</strong> Bolschewiki gekämpft hatte, wenig zuverlässig<br />

war. Noch am Vorabend hatte sie auf Befehl des Stabes gehorsam eine Brückt bewacht.<br />

War auch von ihr kein Stoß in den Rücken zu erwarten, so trug sie doch kein Verlangen,<br />

für die Sowjets ins Feuer zu gehen. Als die Stunde zum Handeh kam, meldete ein<br />

Fähnrich: die Geschütze seien verrostet, die Kompressoren ohne Öl, Schießen sei<br />

unmöglich. Höchstwahrscheinlich waren die Geschütze tatsächlich nicht in Ordnung,<br />

aber nicht das ist wesentlich: die Artilleristen verkrochen sich einfach vor <strong>der</strong> Verantwortung<br />

und führten den unerfahrenen Kommissar an <strong>der</strong> Nase herum. Antonow eilte<br />

wutschnaubend auf einem Kutter herbei. Wer sprengt den Plan? Blagonrawow erzählt<br />

ihm von <strong>der</strong> Laterne, dem Öl, dem Fähnrich. Beide gehen zu den Kanonen. Nacht,<br />

Dunkelheit, im Hofe Pflützen vom kürzlichen Regen. Von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Flußseite vom<br />

Winterpalais her dringt hitziges Gewehrfeuer und Maschinengewehrknattern. In <strong>der</strong><br />

Dunkelheit verliert Blagonrawow den Weg. Durch Pflüzen patschend, vor Ungeduld<br />

brennend, stolpernd und in den Schmutz fallend, irrt Antonow im dunklen Hof hinter<br />

dem Kommissar her. »An einer <strong>der</strong> schwach flackernden Laternen«, erzählt Blagonrawow,<br />

»... blieb Antonow plötzlich stehen und sah mir forschend, über die Brille hinweg,<br />

fest ins Auge. In seinen Blicken las ich verhaltene Unruhe.« Antonow witterte für einen<br />

Augenblick Verrat, wo nur Leichtsinn war.<br />

Schließlich ist <strong>der</strong> Platz gefunden, wo die Geschütze stehen. Die Artilleristen verharren<br />

dabei: Rost ... Kompressoren... Öl. Antonow läßt Geschützbedienung vom Übungsplatz<br />

<strong>der</strong> Seetruppen holen, das Signal soll aus <strong>der</strong> archaischen, die Mittagsstunde verkündenden<br />

Kanone gegeben werden. Aber die Artilleristen machen sich verdächtig lange an <strong>der</strong><br />

Signalkanone zu schaffen. Sie fühlen deutlich, daß auch dem Kommando, wenn es nicht<br />

fern, am Telephon, son<strong>der</strong>n hier, neben ihnen ist, die feste Entschlossenheit fehlt, zum<br />

Artilleriekampf zu greifen. Allein schon in <strong>der</strong> Schwerfälligkeit des Planes <strong>der</strong> Artilleriebeschießung<br />

verspürt man den gleichen Gedanken: vielleicht gelingt es, ohne sie auszukommen.<br />

Jemand jagt durch die Dunkelheit des Hofes, kommt immer näher, stolpert, fällt in den<br />

Schlamm, schimpft, aber nicht bös, son<strong>der</strong>n freudig, und schreit, außer Atem: »Das<br />

Winterpalais hat sich ergeben, die Unseren sind drin!« Umarmungen des Jubels. Wie<br />

gut, daß eine Verzögerung entstanden war! »Das haben wir ohnehin gedacht.« Die<br />

Kompressoren sind jäh vergessen. Weshalb aber hört die Schießerei jenseits des Flusses<br />

nicht auf? Vielleicht sträuben sich einzelne Junkergruppen gegen die Übergabe?<br />

Vielleicht irgendein Mißverständnis? Als Mißverständnis erwies sich die gute Nachricht:<br />

Genommen ist nicht das Winterpalais, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong> Hauptstab. Die Belagerung des<br />

Palais dauert an.<br />

Nach einer geheimen Vereinbarung mit einer Junkergruppe <strong>der</strong> Oranienbaumer Schule<br />

gelingt es Tschudnowski, ins Palais zu Verhandlungen hineinzukommen: dieser Gegner<br />

des Aufstandes versäumt keine Gelegenheit, sich ins Feuer zu stürzen. Paltschinski läßt<br />

den Verwegenen verhaften, ist aber unter dem Druck <strong>der</strong> Oranienbaumer Schule<br />

gezwungen, sowohl Tschudnowski wie einen Teil Junker hinauszulassen. Sie reißen<br />

einige Georgsritter mit. Das plötzliche Erscheinen <strong>der</strong> Junker auf dem Platz bringt die<br />

Sperrketten in Verwirrung. Dann aber gibt es kein Ende <strong>der</strong> Freudenrufe, als die Belagerer<br />

erfahren, es seien Kapitulanten. Jedoch hat sich nur eine kleine Min<strong>der</strong>heit ergeben.<br />

Die übrigen wehren sich weiter hinter ihren Deckungen. Die Schüsse <strong>der</strong> Angreifer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 712


verdichten sich. Das grelle elektrische Licht im Hofe erhellt die Junker dem Visier. Mit<br />

Mühe gelingt es, die Laternen zu löschen. Ein Unsichtbarer schaltet das Licht wie<strong>der</strong> ein.<br />

Die Junker schießen nach den Laternen, finden dann einen Monteur und zwingen ihn,<br />

den Strom auszuschalten.<br />

Die Stoßbrigadlerinnen verkünden plötzlich ihre Absicht, einen Ausfall zu unternehmen.<br />

Im Hauptstab seien, wie ihnen bekannt, die Schreiber zu Lenin übergegangen und<br />

hätten nach Entwaffnung eines Teiles <strong>der</strong> Offiziere General Alexejew verhaftet, den<br />

einzigen Mann, <strong>der</strong> Rußland retten kann: man müsse ihn befreien, um jeden Preis. Der<br />

Kommandant ist außerstande, sie von dem von Hysterie diktierten Unternehmen abzuhalten.<br />

Im Augenblick des Ausfalls flammt das Licht <strong>der</strong> hohen elektrischen Laternen an<br />

den Seiten des Tores wie<strong>der</strong> auf. Auf <strong>der</strong> Suche nach einem Monteur stürzt sich <strong>der</strong><br />

Offizier rasend auf die Diener: in den ehemaligen Zarenlakaien sieht er Agenten <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong>. Noch weniger vertraut er dem Monteur des Schlosses. »Ich hätte dich längst<br />

ins Jenseits beför<strong>der</strong>t, wenn wir dich nicht brauchen würden.« Trotz Bedrohungen mit<br />

dem Revolver kann <strong>der</strong> Monteur nicht helfen, sein Schaltbrett ist stromlos, die Elektrizitätszentrale<br />

von Matrosen besetzt, sie walten über das Lieht. Die Stoßbrigadlerinnen<br />

halten das Feuer nicht aus und ergeben sich zum größten Teil. Der Kommandant <strong>der</strong><br />

Verteidigung schickt einen Leutnant <strong>der</strong> Meldung an die Regierung, <strong>der</strong> Ausfall <strong>der</strong><br />

Stoßbrigadlerinnen »führte zu ihrem Untergang«, und das Palais wimmele von Agitatoren,<br />

Der Mißerfolg des Ausfalls schafft eine Atempause, etwa von 10 bis 11 Uhr: die<br />

Belagerer sind wohl mit <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Anilleriebeschießung beschäftigt.<br />

Die unerwartete Pause erweckt irgendwelche Hoffnungen bei den Belagerten. Die<br />

Minister versuchen wie<strong>der</strong>, ihre Anhänger in <strong>der</strong> Stadt und im Lande zu ermuntern: »Die<br />

Regierung ist mit Ausnahme Prokopowitschs vollzählig auf ihrem Posten. Die Lage ist<br />

als günstig anzusehen ... Das Palais wird beschossen, aber nur mit Gewehrfeuer und<br />

vollkommen ergebnislos. Es ist festgestellt worden, daß <strong>der</strong> Gegner schwach ist.« In<br />

Wirklichkeit ist <strong>der</strong> Gegner allmächtig, entschließt sich aber nicht, von seiner Stärke den<br />

nötigen Gebrauch zu machen. Die Regierung schickt ins Land einen Bericht über das<br />

Ultimatum, über die "Aurora", darüber, daß sie, die Regierung, die Macht nur an die<br />

Konstituierende Versammlung abgeben könne, wie auch darüber, daß <strong>der</strong> erste Überfall<br />

auf das Winterpalais abgeschlagen sei. »Armee und Volkmögen Antwort geben!« Auf<br />

weIche Weise die Antwort erfolgen sollte, verrieten die Minister nicht.<br />

Laschewitsch schickte unterdessen in die Festung zwei Marineartilleristen. Zwar sind<br />

sie nicht übermäßig erfahren, dafür aber sind es Bolschewiki, bereit, auch aus verrosteten<br />

Geschützen, ohne Öl in den Kompressoren, zu schießen. Nur das wird von ihnen<br />

verlangt: <strong>der</strong> Laut <strong>der</strong> Artillerie ist im Augenblick wichtiger als Zielsicherheit. Antonow<br />

befiehlt, zu beginnen. Die im voraus festgelegte Gradation wird restlos gewahrt. »Nach<br />

dem Signalschuß <strong>der</strong> Festung«, erzählt Flerowski, »krachte die "Aurora". Das Krachen<br />

und die Feuergarbe sind beim Blindschuß viel stärker als beim Scharfschuß. Die Neugierigen<br />

stürzten von <strong>der</strong> Granitbrüstung des Kais hinweg, warfen sich nie<strong>der</strong>, krochen<br />

davon ...« Tschudnowski beeilt sich, die Frage zu stellen: soll man den Belagerten nicht<br />

vorschlagen, sich zu ergeben? Antonow ist sofort mit ihm einverstanden. Wie<strong>der</strong> eine<br />

Pause. Es ergibt sich eine Gruppe von Stoßbrigadlerinnen und Junkern. Tschudnowski<br />

will ihnen die Waffen belassen, doch Antonow protestiert rechtzeitig gegen diesen<br />

Überedelmut. Nachdem sie die Gewehre vor dem Tor zusammengelegt hatten, entfernten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 713


sich die Kapitulanten unter Eskorte durch die Milljonaja-Straße.<br />

Das Winterpalais hält sich noch immer. Es muß ein Ende gemacht werden! Der Befehl<br />

ist erteilt. Das Feuer, kein heftiges und noch weniger ein wirksames, ist eröffnet. Von<br />

den während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>thalb bis zwei Stunden abgegebenen fünfunddreißig Schüssen<br />

waren nur zwei Treffer, und auch diese verletzten nur den Stuck; die übrigen Geschosse<br />

gingen über das Palais hinweg, glücklicherweise ohne Schaden in <strong>der</strong> Stadt anzurichten.<br />

War wirklich Unfähigkeit <strong>der</strong> Grund? Man feuerte doch über die Newa hinweg in direkter<br />

Linie auf ein so breites Ziel wie das Palais: dazu bedarf es keiner großen Kunst: Muß<br />

man nicht eher annehmen, daß sogar Laschewitschs Artilleristen absichtlich über das Ziel<br />

hinwegschossen in <strong>der</strong> Hoffnung auf einen Ausgang ohne Zerstörung und Todesopfer?<br />

Es ist sehr schwierig, jenen Motiven nachzuspüren, die die beiden namenlosen Matrosen<br />

leiteten. Sie selbst haben von sich nichts hören lassen: Sind sie im uferlosen <strong>russischen</strong><br />

Dorf aufgegangen, o<strong>der</strong> haben sie gleich vielen <strong>der</strong> Oktoberkämpfer ihr Leben gelassen<br />

im Bürgerkrieg <strong>der</strong> nächsten Monate und Jahre?<br />

Bald nach den ersten Schüssen brachte Paltschinski den Ministern einen Granatsplitter.<br />

Admiral Wer<strong>der</strong>ewski erkannte den Splitter als den seinen, <strong>der</strong> Marine: von <strong>der</strong><br />

"Aurora". Jedoch vom Kreuzer hatte man nur blind geschossen. So war es verabredet, so<br />

bezeugt es Flerowski, so berichtete später ein Matrose dem Sowjetkongreß. Irrte sich <strong>der</strong><br />

Admiral? Irrte <strong>der</strong> Matrose? Wer kann einen Kanonenschuß kontrollieren, abgegeben in<br />

tiefer Nacht von einem aufständischen Schiff gegen das Zarenpalais, wo die letzte Regierung<br />

<strong>der</strong> Besitzenden ihren Geist aushauchte?<br />

Die Garnison des Palais schrumpfte an Zahl stark zusammen. Hatte sie im Augenblick<br />

des Eintreffens <strong>der</strong> Uraler, Invaliden und Stoßbrigadlerinnen an<strong>der</strong>thalb, vielleicht auch<br />

zweitausend erreicht, fiel sie jetzt auf tausend, vielleicht noch bedeutend niedriger. Nur<br />

ein Wun<strong>der</strong> könnte noch retten. Da dringt plötzlich in die hoffnungslose Atmosphäre des<br />

Winterpalais zwar kein Wun<strong>der</strong>, doch die Kunde von seinem Nahen. Paltschinski meldet:<br />

Soeben habe man aus <strong>der</strong> Stadtduma telephoniert, die Bürger brechen auf um die Regierung<br />

zu befreien. »Sagen Sie es allen«, befiehlt er Sinegub, »das Volk ist hierher unterwegs.«<br />

Der Offizier eilt über Treppen und Korridore mit <strong>der</strong> freudigen Kunde. Er stößt<br />

auf betrunkene Offiziere, die mit ihren Säbeh fechten, übrigens ohne Blutvergießen. Die<br />

Junker erheben das Haupt. Von Mund zu Mund getragen, gewinnt die Nachricht an<br />

Farbe und Bedeutung. Politiker, Kaufmannschaft, das Volk mit <strong>der</strong> Geistlichkeit an <strong>der</strong><br />

Spitze sind unterwegs, um das Palais von <strong>der</strong> Belagerung zu befreien. Das Volk mit <strong>der</strong><br />

Geistlichkeit an <strong>der</strong> Spitze: »Das wird erhaben schön sein!« Reste von Energie flackern<br />

zum letzten Male auf »Hurra, es lebe Rußland!« Die Oranienbaumer Junker, die schon<br />

daran gewesen waren, abzuziehen, än<strong>der</strong>ten ihren Beschluß und blieben.<br />

Aber das Volk mit <strong>der</strong> Geistlichkeit kommt langsam. Die Zahl <strong>der</strong> Agitatoren im Palais<br />

wächst. Gleich wird die "Aurora" zu feuem beginnen, flüstert man in den Korridoren,<br />

und dies Geflüster geht von Mund zu Mund. Plötzlich - zwei Explosionen. Ins Palais<br />

schlichen Matrosen ein und warfen, o<strong>der</strong> verloren vielleicht, von <strong>der</strong> Galerie zwei<br />

Handgranaten, durch die zwei Junker leicht verletzt wurden. Die Matrosen wurden<br />

verhaftet, den Verwundeten legte Kischkin, von Beruf Arzt, Verbände an.<br />

Die innere Entschlossenheit <strong>der</strong> Arbeiter und Matrosen ist groß, doch noch hat sie sich<br />

nicht in Erbitterung verwandelt. Um dies nicht auf ihre Köpfe heraufzubeschwören,<br />

hüten sich die Belagerten, die weitaus schwächere Seite, mit den in das Palais eindrin-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 714


genden Agenten des Feindes streng zu verfahren. Erschießungen erfolgen nicht. Die<br />

ungebetenen Gäste tauchen nun nicht mehr vereinzelt, son<strong>der</strong>n gruppenweise auf. Das<br />

Palais ähnelt immer mehr einem Sieb. Wenn die Junker sich auf die Eindringlinge<br />

stürzen, lassen sich diese entwaffnen. »Welch feiges Pack!« sagt verächtlich Paltschinski.<br />

Nein, diese Menschen sind nicht feige. Zu dem Entschluß, ins Palais voller Offiziere und<br />

Junker einzudringen, gehört hoher Mut. Im Labyrinth des unbekannten Gebäudes, in den<br />

dunklen Korridoren, zwischen unzähligen Türen von denen man nicht weiß, wohin sie<br />

führen und womit sie drohen, bleibt den Verwegenen nichts an<strong>der</strong>es übrig, als sieh zu<br />

ergeben. Die Zahl <strong>der</strong> Gefangenen wächst. Neue Gruppen brechen durch. Bald ist nicht<br />

immer klar, wer wem sich ergibt und wer wen entwaffnet. Es hämmert die Artillerie.<br />

Mit Ausnahme des unmittelbar an das Winterpalais angrenzenden Bezirkes hörte das<br />

Straßenleben bis in die späte Nacht hinein nicht auf. Theater und Kinos spielten. Die<br />

soliden und gebildeten Schichten <strong>der</strong> Hauptstadt schien es gar nicht anzugehen, daß ihre<br />

Regierung beschossen wird. Redemeister beobachtete an <strong>der</strong> Troizki-Brücke ruhig herankommende<br />

Passanten, die von den Matrosen aufgehalten wurden. »Nichts Außerordentliches<br />

ließ sich wahrnehmen.« Von Bekannten, die aus <strong>der</strong> Richtung des Volkshauses<br />

kamen, erfuhr Redemeister unter dem Getöse <strong>der</strong> Kanonade, daß Schaljapin im "Don<br />

Carlos" unvergleichlich gewesen sei. Die Minister fuhren fort, in <strong>der</strong> Mausefalle berumzuirren.<br />

»Es ist festgestellt worden, daß die Angreifer schwach sind.« Vielleicht kommen rechtzeitig<br />

Verstärkungen, hält man noch eine Stunde stand? Kischkin rief in tiefster Nacht<br />

den Gehilfen des Finanzministers, Chruschtschew, ebenfalls einen Kadetten, ans<br />

Telephon und ersuchte ihn, den Parteiführern mitzuteilen, daß die Regierung wenigstens<br />

einer kleinen Unterstützung bedürfe, um bis zu den Morgenstunden durchhalten zu<br />

können, wo doch Kerenski mit Truppen endlich ankommen müsse. »Was ist das für eine<br />

Partei«, entrüstete sich Kischkin, »die nicht imstande ist, auch nur dreihun<strong>der</strong>t bewaffnete<br />

Männer zu schicken?« In <strong>der</strong> Tat: was ist das für eine Partei? Die Kadetten, die in<br />

Petrograd bei den Wahlen Zehntausende Stimmen auf sich versammelten, konnten im<br />

Augenblick <strong>der</strong> Todesgefahr für das bürgerliche Regime nicht dreihun<strong>der</strong>t Kämpfer<br />

auftlringen. Wären die Minister auf den Gedanken gekommen, in <strong>der</strong> Sehloßbibliothek<br />

den Materialisten Hobbes aufzustöbern, sie hätten in dessen Dialogen über den Bürgerkrieg<br />

lesen können, daß man Mut we<strong>der</strong> erwarten noch for<strong>der</strong>n darf von reichgewordenen<br />

Krämem, »die nichts außer dem eigenen Vorteil des Augenblicks sehen und völlig<br />

den Kopfverlieren, allein schon bei dem Gedanken an die Möglichkeit, ausgeraubt zu<br />

werden«. Allerdings war wohl kaum in <strong>der</strong> Zarenbibliothek Hobbes zu finden. Auch<br />

stand den Ministern <strong>der</strong> Sinn nicht nach Geschichtsphilosophie. Kischkins Anruf war <strong>der</strong><br />

letzte Telephonanruf aus dem Winterpalais.<br />

Das Smolny for<strong>der</strong>t kategorisch eine Entscheidung. Man dürfe die Belagerung nicht<br />

bis zum Morgen hinausziehen, die Stadt in Spannung halten, den Kongreß nervös<br />

machen, alle Erfolge in Frage stellen. Lenin schickt zonuge Zettel. Aus dem Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee folgt ein Anruf dem an<strong>der</strong>en. Podwojski gibt verärgerte<br />

Antworten. Man könne die Massen zum Sturmangriff schicken, Willige sind genug da.<br />

Aber wieviel Opfer wird es geben? Und was wird aus den Ministern und Junkern<br />

werden? Jedoch ist die Notwendigkeit, die Sache zu Ende zu bringen, allzu gebieterisch.<br />

Es bleibt nichts weiter übrig, als die Marineartillerie sprechen zu lassen. Aus <strong>der</strong> Peter-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 715


Paul-Festung btingt ein Matrose <strong>der</strong> "Aurora" ein Papierchen: Unverzüglich die Beschießung<br />

des Palais eröffnen. Nun, scheint es, ist alles klar? An den Artilleristen <strong>der</strong><br />

"Aurora" wird die Sache nicht scheitern. Doch den Führern fehlt es noch immer an<br />

Entschlossenheit. Es wird ein neuer Versuch unternommen auszuweichen. »Wir hatten<br />

beschlossen, noch eine Viertelstunde Zu warten«, schreibt Flerowski, »instinktiv die<br />

Möglichkeit eines Wechsels <strong>der</strong> Umstände fühlend.« Unter Instinkt ist die beharrliche<br />

Hoffnung zu verstehen, die Sache würde sich durch bloße demonstrative Mittel entscheiden<br />

lassen. Und diesmal hat <strong>der</strong> "Instinkt" nicht getäuscht: nach Ablauf <strong>der</strong> Viertelstunde<br />

rast ein neuer Bote heran, direkt aus dem Winterpalais: das Palais ist genommen!<br />

Das Palais hatte sich nicht ergeben, son<strong>der</strong>n wurde erstürmt, aber in einem Augenblick,<br />

wo die Wi<strong>der</strong>standskraft des Gegners bereits völlig erschöpft war. In den Korridor<br />

waren, nun nicht nur durch Geheimgänge, son<strong>der</strong>n über den verteidigten Hof, etwa<br />

hun<strong>der</strong>t Feinde eingedrungen, die die demoralisierte Wache für eine Deputation <strong>der</strong><br />

Stadtduma gehalten hatte. Sie konnten aber doch noch entwaffnet werden. Es entfernte<br />

sich im Trubel eine Gruppe Junker. Die übrigen, o<strong>der</strong> doch ein Teil davon, verrichteten<br />

noch weiter den Wachtdienst. Aber die Bajonett- und Feuerbarriere zwischen den<br />

Angreifern und den Verteidigern ist endgültig gefallen.<br />

Der an die Eremitage grenzende Teil des Palais ist bereits vom Feinde überfüllt. Die<br />

Junker versuchen, ihm in den Rücken zu fallen. In den Korridoren ereignen sich gespenstische<br />

Begegnungen und Zusammenstöße. Alle sind bis an die Zähne bewaffnet. In den<br />

erhobenen Händen Revolver. An den Gürteln Handgranaten. Niemand aber schießt, und<br />

niemand schleu<strong>der</strong>t Granaten, denn Freund und Feind sind so vermengt, daß sie nicht<br />

voneinan<strong>der</strong> loskommen können. Doch gleichwie, das Geschick des Winterpalais ist<br />

bereits entschieden.<br />

Arbeiter, Soldaten, Matrosen stoßen draußen in Ketten und Gruppen vor, vertreiben die<br />

Junker von den Barrikaden, dringen durch den Hof ein, stoßen auf den Stufen mit den<br />

Junkern zusammen, drängen sie zurück, werfen sie nie<strong>der</strong>, jagen sie vor sich her. Von<br />

hinten folgt bereits eine neue Welle. Der Platz ergießt sich in den Hof, <strong>der</strong> Hof ergießt<br />

sich ins Palais und flutet über Treppen und Korridore, Auf den verschmutzten Parketts<br />

zwischen Matratzen und Brotlaiben liegen Menschen, Gewehre, Granaten herum. Die<br />

Sieger erfahren, Kerenski sei nicht da, und in ihre stürmische Freude mischt sich flüchtig<br />

die Bitternis <strong>der</strong> Enttäuschung. Antonow und Tschudnowski sind im Palais. Wo ist die<br />

Regierung? Hier die Tür, an <strong>der</strong> Junker in <strong>der</strong> letzten Pose des Wi<strong>der</strong>standes erstarren.<br />

Der Älteste <strong>der</strong> Wache stürzt zu den Ministern mit <strong>der</strong> Frage hinein: ob sie befehlen, sich<br />

bis zu Ende zu wehren? Nein, nein, die Minister befehlen dies nicht. Das Palais sei ja<br />

doch besetzt. Man brauche kein Blut. Man muß <strong>der</strong> Gewalt weichen. Die Minister wollen<br />

sich mit Würde ergeben und setzen sich um den Tisch, damit es wie eine Sitzung<br />

aussieht. Der Kommandant <strong>der</strong> Verteidigung hatte unterdessen das Palais übergeben und<br />

sich dabei die Schonung des Lebens <strong>der</strong> Junker ausbedungen, auf das ohnhin niemand<br />

ein Attentat plante. Bezüglich des Schicksals <strong>der</strong> Regierung weigerte sich Antonow, in<br />

irgendwelche Verhandlungen einzutreten.<br />

Die Junker vor <strong>der</strong> letzten bewachten Türe werden entwaffnet. Die Sieger stürmen in<br />

das Ministerzimmer hinein. »Der Menge voran schritt, bestrebt, die nachdrängenden<br />

Reihen zurückzuhalten, ein kleiner, unansehnlicher Mann; seine Kleidung war in Unordnung;<br />

<strong>der</strong> breitkrempige Hut auf eine Seite geschoben. Auf <strong>der</strong> Nase hielt sich mit Mühe<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 716


ein Zwicker. Aber die kleinen Augen glänzten vor Siegestriumph und Wut gegen die<br />

Besiegten.« Mit diesen herabwürdigenden Strichen ist Antonow geschil<strong>der</strong>t. Unschwer,<br />

zu glauben, daß seine Kleidung und sein Hut in Unordnung geraten waren: es genügt,<br />

sich <strong>der</strong> nächtlichen Reise durch die Pfützen <strong>der</strong> - Peter-Paul-Festung zu erinnern.<br />

Siegestriumph konnte man zweifellos in seinen Augen lesen; aber wohl kaum Wut gegen<br />

die Besiegten. »Ich erkläre Sie, die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, für verhaftet«,<br />

verkündet Antonow im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees. Die Uhr<br />

zeigt 2 Uhr 10 Minuten <strong>der</strong> Nacht auf den 26. Oktober. »Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung beugen sich <strong>der</strong> Gewalt und ergeben sich, um Blutvergießen zu vermeiden«,<br />

antwortete Konowalow. Der unvermeidliche Teil des Rituals ist gewahrt.<br />

Antonow for<strong>der</strong>te fünfundzwanzig Bewafhiete an, die die ersten in das Palais eingedrungenen<br />

Abteilungen aus ihrer Mitte stellten, und beauftragte sie mit <strong>der</strong> Bewachung<br />

<strong>der</strong> Minister. Die Verhafteten wurden, nach Aufnahme eines Protokolls, auf den Platz<br />

hinausgeführt. In <strong>der</strong> Meuge, die Opfer an Getöteten und Verwundeten erlitten hatte,<br />

entbrennt in <strong>der</strong> Tat Wut gegen die Besiegten. »Erschießen! Tod!« Finzelne Soldaten<br />

versuchen gegen die Minister handgreiflich zu werden. Rotgardisten beruhigen die<br />

Ungezügelten: verdunkelt den proletarischen Sieg nicht! Bewaffnete Arbeiter umgeben<br />

Gefangene und Eskorte mit dichtem Ring. »Vorwärts!« Es ist nicht weit zu gehen: durch<br />

die Milljonaja-Straße und über die Troizki-Brücke. Doch die Erregung <strong>der</strong> Menge gestaltet<br />

den kurzen Weg lang und an Gefahren reich. Minister Nikitin schrieb später nicht mit<br />

Unrecht, ohne Antonows energisches Eintreten hätten die Folgen »sehr schwer« sein<br />

können. Zum Überfluß wird die Prozession auf <strong>der</strong> Brücke einer zufälligen Beschießung<br />

ausgesetzt: Verhaftete und Eskorte müssen sich aufs Pflaster werfen. Aber auch hier erlitt<br />

niemand Schaden: man schoß offenbar drüber weg, zur Abschreckung.<br />

Den engen Klubraum <strong>der</strong> Festungsgarnison, beleuchtet von einer blakenden Petroleumlampe<br />

- das elektrische Licht verweigerte heute den Dienst - füllen einige Dutzend<br />

Menschen. Antonow ruft in Anwesenheit des Festungskommissars die Minister namentlich<br />

auf. Es sind ihrer achtzehn Mann, einschließlich <strong>der</strong> nächsten Gehilfen. Die letzten<br />

Formalitäten sind beendet, die Gefangenen in die Zellen <strong>der</strong> historischen Trubetzkoi-Bastion<br />

abgeführt. Von den Verteidigern ist niemand verhaftet: Offiziere und Junker unter<br />

Ehrenwort, nichts gegen die Sowjetmacht zu unternehmen, entlassen. Nur wenige von<br />

ihnen haben ihr Wort gehalten.<br />

Gleich nach Einnahme des Winterpalais verbreiteten sich in bürgerlichen Kreisen<br />

Gerüchte über Erschießungen von Junkern, Vergewaltigungen von Stoßbrigadlerinnen,<br />

Plün<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Schätze des Palais. Alle diese Märchen waren bereits längst wi<strong>der</strong>legt,<br />

als Miljukow in seiner <strong>Geschichte</strong> schrieb: »Jene <strong>der</strong> Stollbrigadlerinnen, die nicht<br />

durch Kugeln umgekommen o<strong>der</strong> von den Bolschewiki festgenommen waren, mußten an<br />

diesem Abend und in <strong>der</strong> Nacht Schreckliches seitens <strong>der</strong> Soldaten erdulden, Mißhandlungen<br />

und Erschießungen.« In Wirklichkeit haben keinerlei Erschießungen stattgefunden<br />

und können nach <strong>der</strong> Stimmung bei<strong>der</strong> Parteien in je<strong>der</strong> Periode nicht stattgefunden<br />

haben. Noch undenkbarer waren Gewaltakte, beson<strong>der</strong>s im Palais, das, neben einzelnen<br />

zufälligen Elementen <strong>der</strong> Straße, Hun<strong>der</strong>te revolutionärer Arbeiter mit Gewehren in den<br />

Händen betraten.<br />

Plün<strong>der</strong>ungsversuche fanden tatsächlich statt, aber gerade sie bewiesen die Disziplin<br />

<strong>der</strong> Sieger. John Reed, <strong>der</strong> keine dramatische <strong>Revolution</strong>sepisode versäumte und das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 717


Winterpalais, <strong>der</strong> heißen Spur <strong>der</strong> ersten Ketten folgend, betrat, erzählt, wie im Kellergewölbe<br />

eine Gruppe Soldaten mit Kolben Deckel von Kisten aufbrach und von dort<br />

Teppiche, Wäsche, Porzellan, Glas herauszerrte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß unter<br />

dem Schein von Soldaten richtige Plün<strong>der</strong>er vorgingen, die sich im letzten Kriegsjahr<br />

stets unter dem Soldatenrock zu verstecken pflegten. Die Plün<strong>der</strong>ungen hatten eben<br />

begonnen, als jemand rief: »Kameraden, nichts anrühren, das ist Volkseigentum.« An<br />

einen Tisch beim Ausgang setzte sich ein Soldat mit Fe<strong>der</strong> und Papier hin; zwei Rotgardisten<br />

mit Revolvern stellten sich daneben. Je<strong>der</strong> Hinausgehende wurde untersucht und<br />

je<strong>der</strong> geraubte Gegenstand ihm abgenommen und notiert. So wurden Statuetten, Flaschen<br />

mit Tinte, Kerzen, Dolche, Seifenstücke und Straußfe<strong>der</strong>n aufgestapelt. Einer sorgfältigen<br />

Untersuchung unterwarf man auch die Junker, <strong>der</strong>en Taschen vollgestopft waren mit<br />

geplün<strong>der</strong>tem Krimskrams. Die Soldaten belegten die Junker mit Schimpfworten und<br />

Drohungen, darüber hinaus aber ging es nicht. Unterdessen bildet sich eine Palaiswache<br />

mit dem Matrosen Prichodjko an <strong>der</strong> Spitze. Überall werden Posten aufgestellt. Das<br />

Palais von Fremden gesäubert. Nach einigen Stunden wird zum Kommandanten des<br />

Winterpalais Tschudnowski ernannt.<br />

Wo aber war das Volk geblieben, das unter Anführung <strong>der</strong> Geistlichkeit sich zur<br />

Befreiung des Palais in Bewegung gesetzt ist notwendig, von diesem heroischen Versuch<br />

zu erzählen, dessen Kunde die Herzen <strong>der</strong> Junker für einen Moment so erschüttert hatte.<br />

Zentrum <strong>der</strong> antibolschewistischen Kräfte bildete die Stadtduma. Ihr Gebäude auf dem<br />

Newski brodelte wie ein Kessel. Parteien, Fraktionen, Unterfraktionen, Gruppen, Splitter<br />

und einfach einflußreiche Persönlichkeiten berieten dort über das verbrecherische<br />

Abenteuer <strong>der</strong> Bolschewiki. Den im Winterpalais schmachtenden Ministern teilte man<br />

von Zeit zu Zeit telephonisch mit, daß <strong>der</strong> Aufstand unter dem Druck <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Empörung unweigerlich ersticken müsse. Über diese moralische lsolierung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

verstrich Stund um Stunde. lnzwisehen begann die Artillerie zu sprechen. Minister<br />

Prokopowitseh, morgens verhaftet und bald wie<strong>der</strong> freigelassen, beschwert sich mit<br />

tränenerstickter Stimme bei <strong>der</strong> Duma, <strong>der</strong> Möglichkeit beraubt zu sein, das Schicksal<br />

seiner Kollegen zu teilen. Man zollt ihm heißes Mitgefühl, und <strong>der</strong> Ausdruck des Mitfühlens<br />

erfor<strong>der</strong>t Zeit.<br />

Aus dem Turmbau von Ideen und Reden erwächst endlich unter stürmischem Applaus<br />

des ganzen Saales ein praktischer Plan: die Duma soll vollzählig zum Winterpalais<br />

ziehen, um, wenn es sein muß, zusammen mit <strong>der</strong> Regierung unterzugehen. Sozialrevolutionäre,<br />

Menschewiki und Genossenschaftler sind in gleichem Maße von <strong>der</strong> Bereitschaft<br />

erfaßt, die Minister zu retten o<strong>der</strong> mit ihnen gemeinsam zu fallen. Die Kadetten, im allgemeinen<br />

gefährlichen Unternehmungen nicht geneigt, wollen diesmal zusammen mit den<br />

an<strong>der</strong>en ihr Leben lassen. Zufällig im Saale anwesende Provinzler, Dumajournalisten und<br />

manche aus dem Publikum bitten in mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> beredten Worten um die<br />

Erlaubnis, das Schicksal <strong>der</strong> Duma teilen zu dürfen. Es wird ihnen erlaubt.<br />

Die bolschewistische Fraktion versucht einen prosaischen Ratschlag zu erteilen: anstatt<br />

im Dunkeln, den Tod suchend, durch die Straßen umherzuirren, lieber die Minister<br />

telephonisch zu bestimmen, sich zu ergeben, ohne die Sache bis zum Blutvergießen zu<br />

treiben. Aber die Demokraten sind entrüstet: die Agenten des Aufstandes möchten ihnen<br />

nicht nur die Macht entreißen, son<strong>der</strong>n auch ihr Recht auf heroischen Tod! Es beschließen<br />

die Stadtverordneten, zur Wahrung <strong>der</strong> geschichtlichen Belange eine namentliche<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 718


Abstimmung vorzunehmen. Letzten Erides kommt <strong>der</strong> Tod, auch ein ruhmreicher Tod,<br />

niemals zu spät. Zweiundsechzig Stadtdumaverordnete bekräftigen: ja, sie gehen tatsächlich,<br />

unter den Ruinen des Winterpalais namentlich umzukommen. Darauf antworten<br />

vierzehn Bolschewiki, es sei besser, mit dem Smolny zu siegen als mit dem Winterpalais<br />

umzukommen, und begeben sich sogleich zur Sitzung des Sowjetkongresses. In den vier<br />

Wänden <strong>der</strong> Duma verbleiben nur drei Menschewiki-Internationalisten: sie haben nicht,<br />

wohin zu gehen und wofür zu sterben.<br />

Die Duma war schon nahe daran, sich auf ihren letzten Weg zu begeben, als das<br />

Läuten des Telephons ihr die Kunde brachte, das gesamte Exekutivkomitee <strong>der</strong> Bauerndeputierten<br />

sei unterwegs, sich mit ihr zu vereinigen. Nichtendenwollen<strong>der</strong> Beifall. Nun<br />

ist das Bild vollständig und klar: Vertreter <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tmillionenstarken Bauernschaft,<br />

gemeinsam mit Vertretern aller Klassen <strong>der</strong> städtischen Bevölkerung, gehen, von <strong>der</strong><br />

Hand eines verschwindenden Häufleins Bedrücker zu sterben. An Reden und Beifallklatschen<br />

ist kein Mangel.<br />

Nach dem Hinzukommen <strong>der</strong> Bauerndeputierten setzte sich endlich die Kolonne über<br />

den Newski in Bewegung. An <strong>der</strong> Spitze schreiten aus: Oberbürgermeister Schrei<strong>der</strong> und<br />

Minister Prokopowitsch. Unter den Teilnehmern entdeckte John Reed den Sozialrevolutionär<br />

Awksentjew, den Vorsitzenden des Bauern-Exekutivkomitees, und die menschewistischen<br />

Führer Chintchuk und Abramowitsch, von denen <strong>der</strong> erste als Rechter, <strong>der</strong><br />

zweite als Linker galt. Prokopowitsch und Schrei<strong>der</strong> trugen zwei Laternen: so war es<br />

telephonisch mit den Ministern verabredet worden, damit die Junker die Freunde nicht<br />

für Feinde hielten. Prokopowitsch trug außerdem einen Regenschirm, übrigens wie viele<br />

an<strong>der</strong>e. Geistlichkeit war nicht dabei. Die Geistlichkeit hatte die arme Phantasie <strong>der</strong><br />

Junker aus nebelhaften Umrissen vaterländischer <strong>Geschichte</strong> geschaffen. Aber auch Volk<br />

war nicht da. Sein Fehlen bestimmte den Charakter des ganzen Vorhabens: drei- bis<br />

vierhun<strong>der</strong>t "Vertreter", aber niemand von denen, die sie vertra-ten. »Es war eine finstere<br />

Nacht«, erinnert sich <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »die Laternen auf dem Newski<br />

brannten nicht. Wir gingen in geordneter Prozession, und man vernahm nur unseren<br />

Gesang <strong>der</strong> Marseillaise. Aus <strong>der</strong> Ferne tönten Kanonenschüsse: die Bolschewiki setzten<br />

die Beschießung des Winterpalais fort.«<br />

Am Jekaterininski-Kanal erstreckt sich quer über den Newski-Prospekt eine Kette<br />

bewaffneter Matrosen, die <strong>der</strong> Kolonne <strong>der</strong> Demokratie den Weg versperrt. »Wir werden<br />

vorwärtsmarschieren«, erklären die Geweihten, »was könnt ihr mit uns machen?« Die<br />

Seeleute antworteten ihnen ohne Umschweife, sie würden Gewalt anwenden: »Geht nach<br />

Hause und laßt uns in Ruhe.« Einer <strong>der</strong> Prozessionsteilnehmer machte den Vorschlag,<br />

sofort hier, an Ort und Stelle, umzukommen. Doch in dem durch namentliche Abstimmung<br />

in <strong>der</strong> Duma gefaßten Beschluß war diese Variante nicht vorgesehen. Minister<br />

Prokopowitsch kletterte auf irgendeine Erhöhung und wandte sich »mit dem Regenschirm<br />

fuchtelnd« - im Herbst sind in Petrograd Regen häufig - an die Demonstranten mit<br />

dem Appell, diese finsteren, irregeleiteten Menschen, die tatsächlich zur Waffe greifen<br />

könnten, nicht in Versuchung führen. »Kehren wir in die Duma zurück, die Mittel zur<br />

Rettung des Landes und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu besprechen.«<br />

Das war ein wahrhaft weiser Vorschlag. Allerdings blieb <strong>der</strong> ursprüngliche Plan<br />

dadurch unausgeführt. Doch was ist mit bewaffneten Grobianen anzufangen, die die<br />

Führer <strong>der</strong> Demokratie hin<strong>der</strong>n, heroisch zu sterben. »Wir blieben eine Weile stehen,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 719


froren durch und durch und beschlossen, umzukehren«, schreibt melancholisch Stankewitsch,<br />

gleichfalls ein Teilnehmer <strong>der</strong> Prozession. Nunmehr ohne Marseillaise, im<br />

Gegenteil, in geballtem Schweigen, begab sich die Prozession durch den Newski zurück<br />

zum Dumagebäude. Dort sollte sie endlich die »Mittel zur Rettung des Landes und <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> finden«.<br />

Nach Einnahme des Winterpalais beherrschte das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee die<br />

Hauptstadt vollständig. Aber wie bei einer Leiche Nägel und Haare weiterwachsen, so<br />

zeigten sich bei <strong>der</strong> abgesetzten Regierung Lebenszeichen vermittels <strong>der</strong> offiziellen<br />

Presse. Der 'Bote <strong>der</strong> Provisorischen Regierung', <strong>der</strong> noch am 24. über Entlassung <strong>der</strong><br />

Geheimräte »mit Uniform und Pension« berichtet hatte, verstummte plötzlich am 25.,<br />

was allerdings niemand bemerkte. Am 26. erschien er wie<strong>der</strong>, als sei nichts geschehen.<br />

Auf <strong>der</strong> ersten Seite hieß es: »Wegen Unterbrechung des elektrischen Stromes ist die<br />

Nummer vom 25. nicht erschienen.« In allem übrigen, mit Ausnahme des Stromes, ging<br />

das Staatsleben seine geordneten Bahnen weiter, und <strong>der</strong> 'Bote' <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Trubetzkoj-Bastion<br />

befindlichen Regierung berichtete über die Ernennung eines Dutzend neuer Senatoren.<br />

In <strong>der</strong> Rubrik "Administrative Nachrichten" empfahl ein Zirkular des Innenministers<br />

Nikitin den Gouvernementskommissaren, »sich durch falsche Gerüchte über Ereignisse<br />

in Petrograd, wo alles ruhig ist, nicht irreführen zu lassen«. Der Minister hatte nicht gar<br />

so unrecht: die Tage <strong>der</strong> Umwälzung verliefen ziemlich ruhig, sieht man von <strong>der</strong><br />

Kanonade ab, die sich überdies auf akustische Effekte beschränkte. Und doch wird <strong>der</strong><br />

Geschichtsschreiber nicht irren, <strong>der</strong> behauptet, am Tage des 25. Oktober habe nicht nur<br />

<strong>der</strong> Strom in <strong>der</strong> Regierungsdruckerei aufgehört, son<strong>der</strong>n auch eine wichtige Seite in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschheit begonnen.<br />

Oktoberaufstand<br />

Naturgeschichtliche Analogien in bezug auf die <strong>Revolution</strong> drängen sich <strong>der</strong>art von<br />

selbst auf, daß einige von ihnen zu abgenutnen Metaphern geworden sind: »vulkanische<br />

Ausbrüche«, »Geburt einer neuen Gesellschaft«, »Siedepunkt« ... Unter dem einfachen<br />

literarischen Bild verbergen sich da intuitiv erfaßte Gesetze <strong>der</strong> Dialektik, das heißt <strong>der</strong><br />

Logik <strong>der</strong> Entwicklung.<br />

Was die <strong>Revolution</strong> als ganzes - im Verhältnis zur Evolution -, ist <strong>der</strong> bewaffnete<br />

Aufstand - im Verhältntis zur <strong>Revolution</strong> selbst: <strong>der</strong> kritische Punkt, wo die angehäufte<br />

Quantität explodierend in Qualität übergeht. Aber auch <strong>der</strong> Aufstand selbst ist kein<br />

einheitlicher, ungeteilter Akt: er hat seine eigenen kritischen Punkte, eigenen inneren<br />

Krisen und Steigerungen.<br />

Äußerst wichtig, sowohl politisch wie theoretisch, ist die kurze Periode, die dem<br />

"Siedepunkt" unmittelbar vorangeht, das heißt, <strong>der</strong> Vorabend des Aufstandes. Die Physik<br />

lehrt, daß ein gleichmäßiger Erwärmungsprozeß plötzlich zum Stillstand kommt, die<br />

Flüssigkeit behält eine bestimmte Zeit unverän<strong>der</strong>t die Temperatur, um erst nach<br />

Aufnahme einer ergänzenden Wärmemenge zu sieden. Die Umgangssprache kommt uns<br />

auch hier zu Hilte, indem sie den Zustand <strong>der</strong> scheinbar ruhigen Konzentration vor <strong>der</strong><br />

Explosion als »Ruhe vor dem Sturm« bezeichnet.<br />

Als auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki die absolute Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

Petrograds übergegangen war, schien die Temperatur des Siedens erreicht. Eben in<br />

diesem Augenblick proklamierte Lenin die Notwendigkeit des sofortigen Aufstandes.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 720


Doch erstaunlich: es fehlte etwas für den Aufstand. Die Arbeiter und beson<strong>der</strong>s die<br />

Soldaten mußten noch eine ergänzende Menge revolutionärer Energie in sich aufnehmen.<br />

Bei den Massen gibt es keinen Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Wort und Tat. Doch erzeugt <strong>der</strong><br />

Übergang vom Wort zur Tat, sogar zum einfachen Streik, um wieviel mehr zum<br />

Aufstand, unvermeidlich innere Reibungen und molekulare Umgruppierungen: die einen<br />

rücken vor, die an<strong>der</strong>en werden zurückgedrängt. Bei seinen ersten Schritten zeg ichnet<br />

sich <strong>der</strong> Bürgerkrieg überhaupt durch äußerste Unentschlossenheit aus. Beide Lager<br />

versinken gleichsam im selben nationalen Boden, können sich von <strong>der</strong> eigenen Peripherie<br />

mit ihren Zwischenschichten und versöhnlerischen Stimmungen nicht losreißen.<br />

Die Ruhe vor dem Sturm in den unteren Schichten bedeutete schroffe Stockung in <strong>der</strong><br />

führenden Schicht. Die Organe und Institutionen, die sich in <strong>der</strong> verhältnismäßig friedlichen<br />

Vorbereitungsperiode herausbildeten - die <strong>Revolution</strong> hat ihre friedlichen Perioden<br />

wie <strong>der</strong> Krieg seine Ruhetage -, erwiesen sich sogar bei <strong>der</strong> gestähltesten Partei als den<br />

Aufgaben des Aufstandes nicht entsprechend o<strong>der</strong> nicht völlig entsprechend: eine<br />

gewisse Verschiebung und Umbildung wird im allerkritischsten Augenblick unvermeidlich.<br />

Bei weitem nicht sämtliche Delegierten des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, die für die Sowjetmacht<br />

gestimmt hatten, waren wahrhaft vom Gedanken durchdrungen, daß <strong>der</strong><br />

bewaffnete Aufstand Tagesaufgabe geworden. Man mußte sie unter kleinsten Erschütterungen<br />

auf den neuen Weg hinüberleiten, um den Sowjet in einen Apparat des Aufstandes<br />

zu verwandeln. Unter den Bedingungen <strong>der</strong> herangereiften Krise waren dafür keine<br />

Monate, nicht einmal viele Wochen erfor<strong>der</strong>lich. Aber gerade in den letzten Tagen war<br />

es am gefährlichsten, außer Schritt zu kommen, einen Sprung zu kommandieren einige<br />

Tage zu früh, bevor <strong>der</strong> Sowjet dafür fertig war, Verwirrung in den eigenen Reihen<br />

hervorzurufen, die Partei vom Sowjet auch nur für vierundzwanzig Stunden zu trennen.<br />

Lenin hatte mehr als einmal wie<strong>der</strong>holt, die Massen seien unvergleichlich linker als die<br />

Partei, wie die Partei linker als das eigene Zentralkomitee. In bezug auf die <strong>Revolution</strong><br />

als ganzes war das absolut richtig. Aber auch diese Wechselbeziehungen haben ihre<br />

eigenen tiefen inneren Schwankungen. Im April, Juni und beson<strong>der</strong>s Anfang Juli stießen<br />

die Arbeiter und Soldaten die Partei ungeduldig auf den Weg entschiedener Taten. Nach<br />

<strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung wurden die Massen vorsichtiger. Sie wollten zwar in alter Weise<br />

und sogar stärker die Umwälzung. Doch nachdem sie sich die Finger tüchtig verbrannt,<br />

befürchteten sie einen neuen Mißerfolg. Juli, August und September hielt die Partei<br />

tagaus tagein die Arbeiter und Soldaten zurück, während die Kornilowianer dagegen sie<br />

mit allen Mitteln auf die Straße zu locken suchten. Die politische Erfahrung <strong>der</strong> letzten<br />

Monate hatte stark die Bremszentren nicht nur bei den Führern, son<strong>der</strong>n auch bei den<br />

Geführten entwickelt. Die dauernden Erfolge <strong>der</strong> Agitation nährten ihrerseits wie<strong>der</strong>um<br />

das Beharrungsvermögen <strong>der</strong> abwartenden Stimmungen. Den Massen genügte die neue<br />

politische Orientierung nicht: sie mußten sich psychologisch umstellen. Der Aufstand<br />

umfaßt um so breitere Massen, je mehr das Kommando <strong>der</strong> revolutionären Partei eins ist<br />

mit dem Kommando <strong>der</strong> Verhältnisse.<br />

Die schwierige Frage des Übergangs von <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Vorbereitung zur Technik des<br />

Aufstandes erhob sich im ganzen Lande, in verschiedenen Formen, doch im Kern<br />

einheitlich. Muralow erzählt, in <strong>der</strong> Moskauer Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

hätte über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Machtergreifung eine Meinung geherrscht; jedoch<br />

»<strong>der</strong> Versuch, die Frage konkret zu entscheiden, wie diese Machtergreifung durchzufüh-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 721


en sei, blieb ungelöst«. Es fehlte das letzte verbindende Glied.<br />

In jenen Tagen, als Petrograd im Zeichen <strong>der</strong> Versetzung <strong>der</strong> Garnison stand, lebte<br />

Moskau in <strong>der</strong> Atmosphäre ununterbrochencr Streikzusammenstöße. Auf Initiative <strong>der</strong><br />

Fabrikkomitees entwarf die bolschewistische Fraktion des Sowjets den Plan: ökonomische<br />

Konflikte auf dem Wege von Dekreten zu lösen. Die vorbereitenden Schritte erfor<strong>der</strong>ten<br />

nicht wenig Zeit. Erst am 23. Oktober nahmen die Moskauer Sowjetorgane das<br />

"<strong>Revolution</strong>äre Dekret Nr. 1" an: Arbeiter und Angestellte in Fabriken und Werken<br />

dürfen von nun an nur mit Zustimmung <strong>der</strong> Fabrik- und Werkkomitees eingestellt und<br />

entlassen werden. Das bedeutete, als Staatsmacht zu handeln beginnen. Der unvermeidliche<br />

Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Regierung mußte nach Ansicht <strong>der</strong> Initiatoren die Massen um den<br />

Sowjet enger zusammenschließen und zum offenen Konflikt führen. Der Plan fand keine<br />

Nachprüfung, da die Umwälzung in Petrograd Moskau wie dem ganzen übrigen Lande<br />

ein gebieterisches Argument für den Aufstand lieferte: man mußte sofort die soeben<br />

entstandene Sowjetregierung unterstützen.<br />

Die angreifende Seite ist fast stets daran interessiert, in <strong>der</strong> Defensive zu erscheinen.<br />

Die revolutionäre Partei ist an legaler Deckung interessiert. Der bevorstehende Sowjetkongreß,<br />

im wesentlichen Kongreß <strong>der</strong> Umwälzung, war für die Massen gleichzeitig<br />

unbestrittener Träger, wenn nicht <strong>der</strong> gesamten, so doch mindestens einer guten Hälfte<br />

<strong>der</strong> Souveränität. Es ging um den Aufstand eines Elements <strong>der</strong> Doppelherrschaft gegen<br />

das an<strong>der</strong>e. Während es an den Kongreß als an die Machtquelle appellierte, beschuldigte<br />

das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee die Regierung von vornherein, sie bereite ein Attentat<br />

auf die Sowjets vor. Diese Beschuldigung ergab sich aus <strong>der</strong> ganzen Situation.<br />

Insofern die Regierung nicht die Absicht hatte, ohne Kampf zu kapitulieren, mußte sie<br />

sich auf Selbstverteidigung vorbereiten. Doch damit allein schon geriet sie unter die<br />

Beschuldigung <strong>der</strong> Verschwörung gegen das höchste Organ <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten und<br />

Bauern. Im Kampf gegen den Sowjetkongreß, <strong>der</strong> Kerenski stürzen sollte, erhob die<br />

Regierung die Hand gegen die Quelle <strong>der</strong> Macht, aus <strong>der</strong> Kerenski hervorgegangen war.<br />

Es wäre grober Irrtum, in alldem nur juristische, dem Volke gleichgültige Finessen zu<br />

sehen: im Gegenteil, gerade so spiegelten sich die grundlegenden Tatsachen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

im Bewußtsein <strong>der</strong> Massen wi<strong>der</strong>. Diese außergewöhnlich günstige Verknüpfung<br />

mußte restlos ausgenutzt werden. Indem sie <strong>der</strong> natürlichen Unlust <strong>der</strong> Soldaten, aus den<br />

Kasernen in die Schützengräben zu wan<strong>der</strong>n, ein großes politisches Ziel verlieh und die<br />

Garnison zur Verteidigung des Sowjetkongresses mobilisierte, band sich die revolutionäre<br />

Führung in keiner Weise die Hände in bezug auf die Frist des Aufstandes. Die Wahl<br />

des Tages und <strong>der</strong> Stunde hing vom weiteren Verlauf des Zusammenstoßes ab. Die<br />

Manövrierfreiheit war bei dem Stärkeren.<br />

»Zuerst besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein«, wie<strong>der</strong>holte Lenin, <strong>der</strong> befürchtete,<br />

<strong>der</strong> Aufstand könnte in ein konstitutionelles Spiel umgefälscht werden. Offensichtlich<br />

hatte Lenin noch nicht Zeit genug gehabt, den neuen Faktor einzuschätzen, <strong>der</strong> in die<br />

Vorbereitung des Aufstandes einschnitt und <strong>der</strong>en gesamten Charakter verän<strong>der</strong>te,<br />

nämlich den scharfen Konflikt zwischen Petrogra<strong>der</strong> Garnison und Regierung. Wenn <strong>der</strong><br />

Sowjetkongreß über die Frage <strong>der</strong> Macht entscheiden soll; wenn die Regierung die<br />

Garnison zerschlagen will, um den Sowjet daran zu hin<strong>der</strong>n, Macht zu werden; wenn die<br />

Garnison, ohne den Sowjetkongreß abzuwarten, sich weigert, <strong>der</strong> Regierung zu so bedeutet<br />

das ja dem Wesen nach, <strong>der</strong> Aufstand habe begonnen, ohne den Sowjetkongreß<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 722


abzuwarten, wenn auch gedeckt durch dessen Autorität. Politisch die Vorbereitung des<br />

Aufstandes von <strong>der</strong> Vorbereitung des Sowjetkongresses zu trennen wäre deshalb falsch<br />

gewesen.<br />

Am besten kann man die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> Oktoberumwälzung begreifen, wenn man<br />

diese <strong>der</strong> vom Februar gegenüberstellt. Bei Anwendung dieses Vergleiches ist es nicht<br />

notwendig, wie in an<strong>der</strong>en Fällen, die Identität einer ganzen Reihe von Umständen<br />

vorauszusetzen; sie sind tatsächlich identisch, da es in beiden Fällen um Petrograd geht:<br />

gleiche Kampfarena, gleiche soziale Gruppierungen, gleiches Proletariat und gleiche<br />

Garnison. Der Sieg wird in beiden Fällen erreicht durch Übergang <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong><br />

Reserveregimenter auf die Seite <strong>der</strong> Arbeiter. Doch im Rahmen dieser gemeinsamen<br />

Grundzüge - welch gewaltiger Unterschied! Historisch einan<strong>der</strong> im Laufe von acht<br />

Monaten ergänzend, sind die zwei Petrogra<strong>der</strong> Umwälzungen durch den Kontrast ihrer<br />

Züge gleichsam im voraus dazu ausersehen, zum besseren Verständnis <strong>der</strong> Natur eines<br />

Aufstandes überhaupt beizutragen.<br />

Den Februaraufstand nennt man elementar. An an<strong>der</strong>er Stelle haben wir in diese<br />

Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls<br />

richtig, daß im Februar niemand die Wege <strong>der</strong> Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand<br />

hat in Fabriken und Kasernen über die Frage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> abgestimmt; niemand von<br />

oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte,<br />

zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s verhielt sich die Sache im Oktober. Während <strong>der</strong> acht Monate hatten die<br />

Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse,<br />

son<strong>der</strong>n lernten auch <strong>der</strong>en Zusammenhänge begreifen; nach je<strong>der</strong> Tat erwogen sie<br />

kritisch <strong>der</strong>en Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des<br />

politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks,<br />

Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden,<br />

konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in <strong>der</strong> Frage des Aufstandes etwa<br />

verzichten?<br />

Aus dieser unschätzbaren und im wesentlichen einzigen Errungenschaft <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

erwuchsen jedoch neue Schwierigkeiten. Man konnte nicht die Masse im<br />

Namen des Sowjets zum Kampf aufrufen, ohne die Frage formell vor dem Sowjet zu<br />

stellen, das heißt, ohne die Aufgabe des Aufstandes zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen<br />

zu machen, und überdies unter Beteiligung von Vertretern des kindlichen Lagers.<br />

Die Notwendigkeit, zur Leitung des Aufstandes ein beson<strong>der</strong>es, möglichst verschleiertes<br />

Sowjetorgan zu schaffen, war offensichtlich. Doch auch dies erfor<strong>der</strong>te demokratische<br />

Wege mit all ihren Vorzügen und all ihren Verzögerungen. Der Beschluß des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees vom 9. Oktober erhält seine endgültige Verwirklichung erst<br />

am 20. Die Hauptschwierigkeit liegt jedoch nicht hier. Die Mehrheit des Sowjets ausnutzen<br />

und ein Komitee nur aus Bolschewiki schaffen, hätte bedeutet, die Unzufriedenheit<br />

<strong>der</strong> Parteilosen hervorzurufen, schon gar nicht zu sprechen von den linken Sozialrevolutionären<br />

und einigen Gruppen <strong>der</strong> Anarchisten. Die Bolschewiki innerhalb des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees unterwarfen sich dem Beschluß ihrer Partei, wenn auch nicht<br />

alle wi<strong>der</strong>spruchslos. Aber es war unmöglich, Disziplin von Parteilosen und linken<br />

Sozialrevolutionären zu for<strong>der</strong>n. Von ihnen a priori einen Beschluß über den Aufstand<br />

für einen bestimmten Tag zu erlangen, war undenkbar; allein schon die Frage vor ihnen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 723


zu stellen, wäre äußerst unvorsichtig gewesen. Vermittels des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />

konnte man die Massen in den Aufstand nur hineinziehen, indem man die<br />

Situation täglich schärfer zuspitzte und den Konflikt unausweichbar gestaltete.<br />

War es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen <strong>der</strong> Partei<br />

aufzurufrn? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens hegen auf <strong>der</strong> Hand. Doch<br />

vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei<br />

sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden:<br />

die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die an<strong>der</strong>e, zahireichste,<br />

die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die<br />

dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.<br />

Diese drei Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau,<br />

son<strong>der</strong>n im großen Maße auch nach <strong>der</strong> sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki<br />

als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier.<br />

Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen,<br />

ging die Mehrheit <strong>der</strong> Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon o<strong>der</strong> trotzdem, daß<br />

darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten<br />

<strong>der</strong> Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den<br />

übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile <strong>der</strong> Armee<br />

emsehließlich <strong>der</strong> Kosaken; die Bauern, die sich von <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />

Partei befreit hatten und sich an <strong>der</strong>en linken Flügel klammerten.<br />

Es wäre ein offener Fehler, die Stärke <strong>der</strong> bolschewistischen Partei mit <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong><br />

von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher,<br />

jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandeh. Es ist dahinter nichts<br />

Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem<br />

in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen<br />

Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein<br />

richtig angewandter Hebel verleiht <strong>der</strong> menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige<br />

Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige<br />

Hand ist <strong>der</strong> Hebel nur eine tote Stange.<br />

In <strong>der</strong> Moskauer Distriktkonferenz <strong>der</strong> Bolschewiki, Ende September, berichtete ein<br />

Delegierter: »In Jegoijewsk ist <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki ungeteilt ... An sich aber ist<br />

die Parteiorganisation schwach; völlig vernachlässigt; es gibt we<strong>der</strong> eine richtige<br />

Registrierung noch Mitgliedsbeiträge.« Das Mißverhältnis zwlschen Einfluß und Organisation,<br />

nicht überall <strong>der</strong>art kraß, war allgemeine Erscheinung. Die breiten Massen<br />

kannten die bolschewistischen Parolen und die Sowjetorganisation. Beides verschmolz<br />

für sie völlig in eins während <strong>der</strong> Monate September-Oktober. Das Volk erwartete, daß<br />

gerade die Sowjets bestimmen würden, wann und wie das bolschewistische Programm zu<br />

verwirklichen sei.<br />

Die Partei selbst erzog die Massen systematisch in diesem Geiste. Als in Kiew das<br />

Gerücht entstand, es bereite sich ein Aufstand vor, trat das bolschewistische Exekutivkomitee<br />

sofort mit einem Wi<strong>der</strong>ruf auf: »keine bewaffnete Demonstration darf ohne Auffor<strong>der</strong>ung<br />

des Sowjets staufinden ... Kein Schritt ohne Sowjet!« Die Gerüchte über einen<br />

angeblich auf den 22. angesetzten Aufstand wi<strong>der</strong>legend, sagte Trotzki am 18.: »Der<br />

Sowjet ist eine gewählte Institution und ... er kann keine Beschlüsse fassen, die den<br />

Arbeitern und Soldaten unbekannt bleiben können ...« Täglich wie<strong>der</strong>holt und durch die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 724


Praxis bekräftigt, gingen solche Formeln in Fleisch und Blut über.<br />

Nach <strong>der</strong> Erzählung des Fähnrichs Bersin äußerten die Delegierten in <strong>der</strong> Militärischen<br />

Oktoberkonferenz <strong>der</strong> Bolschewiki zu Moskau: »Es ist schwer zu sagen, ob die Truppen<br />

dem Ruf des Moskauer Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki Folge leisten werden. Dem Ruf des<br />

Sowjets dürften wohl alle Folge leisten.« Dabei hatte die Moskauer Garnison schon im<br />

September zu neunzig Prozent für die Bolschewiki gestimmt. In <strong>der</strong> Beratung vom 16.<br />

Oktober in Petrograd berichtete Bokij im Namen des Parteikomitees: im Moskauer<br />

Bezirk »wird man auf die Straße gehen auf Auffor<strong>der</strong>ung des Sowjets, nicht aber <strong>der</strong><br />

Partei«; im NewskiBezirk »werden alle mit dem Sowjet gehen«. Wolodarski resümierte<br />

bei dieser Gelegenheit die Einschätzung <strong>der</strong> Stimmungen in Petrograd mit folgenden<br />

Worten: »Der Gesamteindruck ist, daß keiner darauf brennt, auf die Straße zu gehen,<br />

doch werden auf den Ruf des Sowjets alle erscheinen.« Olga Rawitseh trägt eine Korrektur<br />

hinein: »Einige stellten fest, auch auf den Ruf <strong>der</strong> Partei hin.« In <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />

Gamisonberatung vom 18. berichteten die Delegierten, daß ihre Regimenter auf den Ruf<br />

des Sowjets warten, um auf die Straße zu gehen; niemand sprach von <strong>der</strong> Partei, bbwohl<br />

an <strong>der</strong> Spitze vieler Truppenteile Bolschewiki standen; die Einheit in <strong>der</strong> Kaserne konnte<br />

nur gewahrt werden, indem man die Sympathisierenden, Schwankenden und halbfeindlich<br />

Eingestellten durch die Disziplin des Sowjets verband. Das Grenadierregiment<br />

erklärte sogar, es werde auf die Straße gehen nur auf Befehl des Sowjetkongresses.<br />

Schon allein die Tatsache, daß die Agitatoren und Organisatoren bei <strong>der</strong> Einschätzung<br />

des Zustandes <strong>der</strong> Massen jedesmal einen Unterschied zwischen Sowjet und Partei<br />

machen, beweist, welch große Bedeutung dieser Frage vom Standpunkte des Aufrufs<br />

zum Aufstande zukam.<br />

Der Chauffeur Mitrewitsch erzählt, wie in einer Lastauto-Kolonne, wo man einen<br />

Beschluß zugunsten des Aufstandes nicht erreichen konnte, die Bolschewiki einen<br />

Kompromißvorschlag durehbrachten. »Wir werden we<strong>der</strong> für die Bolschewiki noch für<br />

die Mensehewiki auf die Straße gehen, werden aber ... unverzüglich alle For<strong>der</strong>ungen<br />

des zweiten Sowjetkongresses erfüllen.« Die Bolschewiki <strong>der</strong> Lastauto-Kolonne wandten<br />

im kleinen die gleiche Vernebelungstaktik an, die das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

übte. Mitrewitsch will nichts beweisen, son<strong>der</strong>n berichtet - um so überzeugen<strong>der</strong> ist seine<br />

Aussage!<br />

Versuche, den Aufstand unmittelbar durch die Partei zu führen, waren nirgends von<br />

Erfolg. Es ist ein im höchsten Grade interessantes Zeugnis erhalten geblieben in bezug<br />

auf die Vorbereitung <strong>der</strong> Umwälzung in Kineschma, einem bedeutenden Punkt <strong>der</strong><br />

Textilindustrie. Nachdem <strong>der</strong> Aufstand im Moskauer Distrikt auf die Tagesordnung<br />

gestellt worden war, wählte das Parteikomitee in Kineschma für die Nachprüfung <strong>der</strong><br />

militärischen Kräfte und Mittel und die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes eine<br />

beson<strong>der</strong>e Dreierkommission, die aus irgendeinem Grunde Direktorium genannt wurde.<br />

»Doch muß man sagen«, schreibt ein Mitglied des Direktoriums, »daß die gewählte<br />

Dreierkommission in Wirklichkeit anscheinend wenig getan hat. Die Ereignisse nahmen<br />

einen etwas an<strong>der</strong>en Weg ... Es überraschte uns <strong>der</strong> Distriktstreik, und im Augenblick <strong>der</strong><br />

entscheidenden Ereignisse war das Organisationszentrum in das Streikkomitee und den<br />

Sowjet verlegt.« - In bescheidenem Provinzmaßstabe wie<strong>der</strong>holte sich hier dasselbe wie<br />

in Petrograd.<br />

Die Partei brachte den Sowjet in Bewegung. Der Sowjet brachte Arbeiter, Soldaten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 725


und teilweise auch die Bauern in Bewegung. Was man an Masse gewann, verlor man an<br />

Geschwindigkeit. Stellt man sich diesen Transmissionsapparat als Zahnralsystem vor -<br />

ein Vergleich, den Lenin bei an<strong>der</strong>em Anlasse und in einer an<strong>der</strong>en Periode anwandte -,<br />

dann kann man sagen, daß <strong>der</strong> ungeduldige Versuch, das Rad <strong>der</strong> Partei unter Weglassung<br />

Zwischenrades <strong>der</strong> Sowjets unmittelbar mit dem gigantischen <strong>der</strong> Massen zu<br />

verbinden, die Gefahr in sich barg, die Zähne Parteirades zu zerbrechen und dabei doch<br />

nur ungenügende Massen in Bewegung zu bringen.<br />

Nicht weniger real jedoch war auch die entgegengesetzte Gefahr - <strong>der</strong> Versäumnis <strong>der</strong><br />

günstigen Situation als Resultat innerer Reibungen des Sowjetsystems. Theoretisch<br />

betrachtet, läuft <strong>der</strong> günstigste Moment für den Aufstand aufeinen bestimmten Punkt in<br />

<strong>der</strong> Zeit hinaus. Von <strong>der</strong> praktischen Erfassung dieses Idealpunktes kann selbstverständlich<br />

nicht die Rede sein. Der Aufstand kann sich erfolgreich entwickeln auf einer ansteigenden<br />

Kurve, die sich dem idealen Kulminationspunkt nähert, aber auch auf <strong>der</strong><br />

absteigenden Kurve, falls das Kräfteverhälmis noch keine Zeit gehabt hat, sich radikal zu<br />

verän<strong>der</strong>n. Statt des "Moments" entsteht ein Zeitabschnitt, <strong>der</strong> sich nach Wochen,<br />

manchmal nach Monaten messen läßt. Die Bolschewiki wären imstande gewesen, in<br />

Petrograd die Macht bereits Anfang Juli zu erobern. Doch in diesem Falle hätten sie sie<br />

nicht halten können. Seit Mitte September konnten sie darauf hoffen, die Macht nicht nur<br />

zu erobern, son<strong>der</strong>n sie auch in ihren Händen zu behalten. Hätten die Bolschewiki Ende<br />

Oktober mit dem Aufstand gezögert, sie würden wahrscheinlich, aber bei weitem nicht<br />

sicher, innerhalb einer bestimmten Frist noch die Möglichkeit gehabt haben, das<br />

Versäumte nachzuholen. Es läßt sich bedingt annehmen, daß im Laufe von drei bis vier<br />

Monaten, beispielsweise von September bis Dezember, die politischen Voraussetzungen<br />

für die Umwälzung bestanden: bereits reif und noch nicht zerfallen. In diesem Rahmen,<br />

<strong>der</strong> nachträglich leichter festzustellen ist als im Prozeß des Handelns, besaß die Partei<br />

gewisse Wahlfreiheit, die unvermeidliche, mitunter scharfe Meinungsverschiedenheiten<br />

praktischen Charakters erzeugte.<br />

Lenin hatte vorgeschlagen, den Aufstand bereits in den Tagen <strong>der</strong> Demokratischen<br />

Beratung zu beginnen. Ende September hielt er jedes Hinausschieben nicht nur für<br />

gefährlich, son<strong>der</strong>n für katastrophal. »Auf den Sowjetkongreß warten«, schrieb er Anfang<br />

Oktober, »ist kindliches Spiel mit Formalitäten, schändliches Spiel mit Formalitäten,<br />

Verrat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.« Doch wohl kaum ließ sich jemand aus den bolschewistischen<br />

Spitzen in dieser Frage von formalen Erwägungen leiten. Als Sinowjew beispielsweise<br />

auf eine vorherige Beratung mit <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion des Sowjetkongresses<br />

bestand, suchte er keine formale Sanktion, son<strong>der</strong>n rechnete einfach auf politische Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Provinzdelegierten gegen das Zentralkomitee. Doch Tatsache ist, daß die<br />

Abhängigkeit <strong>der</strong> Partei vom Sowjet, <strong>der</strong> seinerseits an den Sowjetkongreß appellierte, in<br />

die Frage des Aufstandtermins ein Element <strong>der</strong> Unbestimmtheit hineintrug, das Lenin<br />

aufs äußerste und nicht ohne Grund beunruhigte.<br />

Die Frage, wann aufrurufen, war eng verbunden mit <strong>der</strong> Frage, wer aufrufen sollte.<br />

Lenin waren die Vorteile eines Arufs im Namen des Sowjets allzu klar; aber früher als<br />

die an<strong>der</strong>en erkannte er, welche Schwierigkeiten auf diesem Wege entstehen würden. Er<br />

mußte befürchten, beson<strong>der</strong>s aus <strong>der</strong> Ferne, daß die Bremseiemente noch stärker sein<br />

würden in <strong>der</strong> Sowjetspitze als im Zentralkomitee, dessen Politik er ohnehin für allzu<br />

unentschlossen hielt. An die Frage, wer beginnen solle, Sowjet o<strong>der</strong> Partei, ging Lenin<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 726


alternativ heran, neigte jedoch in den ersten Wochen entschieden zur selbständigen<br />

Initiative <strong>der</strong> Partei. Es gab da auch nicht den Schatten irgendeiner prinzipiellen Gegensätzlichkeit:<br />

es handelte sich um zwei Einstellungen zum Aufstande auf <strong>der</strong> gleichen<br />

Basis, in <strong>der</strong> gleichen Situation, im Namen des gleichen Zieles. Doch waren es zwei<br />

verschiedene Einstellungen.<br />

Lenins Vorschlag, das Alexandrinski-Theater einzukreisen und die Demokratische<br />

Beratung zu verhaften, ging davon aus, <strong>der</strong> Aufstand werde vertreten werden nicht vorn<br />

Sowjet, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> unmittelbar an die Betriebe und Kasernen appellierenden Partei.<br />

An<strong>der</strong>s konnte es auch nicht sein: einen solchen Plan vermittels des Sowjets durchzusetzen<br />

war völlig undenkbar. Lenin ist sich dessen durchaus klar, daß seine Absicht sogar in<br />

den Parteispitzen auf Wi<strong>der</strong>stand stoßen wird; er empfiehlt im voraus, »nicht nachzujagen<br />

<strong>der</strong> zahlenmäßigen Stärke« <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion <strong>der</strong> Beratung: die<br />

Entschlossenheit oben wird die zahlenmäßige Stärke unten garantieren. Lenins kühner<br />

Plan bot zweifellos Vorteile <strong>der</strong> Schnelligkeit und Plötzlichkeit. Doch entblößte er allzusehr<br />

die Partei und riskierte, in gewissen Grenzen sie zu den Massen in einen Gegensatz<br />

zu stellen. Sogar <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet hätte im Überraschungsfalle beim ersten Mißerfolg<br />

seine noch unstabile bolschewistische Mehrheit einbüßen können.<br />

Die Resolution vom 10. Oktober schlägt den lokalen Partei-Organisationen vor, sämtliche<br />

Fragen praktisch unter dem Gesichtswinkel des Aufstandes zu entscheiden: von den<br />

Sowjets als Aufstandsorganen ist in <strong>der</strong> Resolution des Zentralkomitees nicht die Rede.<br />

In <strong>der</strong> Beratung vom 16. sagte Lenin: »Die Tatsachen beweisen, daß wir dem Feinde<br />

gegenüber im Vorteile sind. Weshalb kann das Zentralkomitee nicht anfangen?« Diese<br />

Frage hatte in Lenins Mund keinesfalls rhetorischen Charakter; sie bedeutete: weshalb<br />

Zeit verlieren und sich <strong>der</strong> komplizierten Sowjettransmission anpassen, wenn das<br />

Zentralkomitee das Signal sofort geben kann? Jedoch schloß die von Lenin vorgeschlagene<br />

Resolution diesmal mit dem Ausdruck »<strong>der</strong> vollen Überzeugung, daß Zentralkomitee<br />

und Sowjet rechtzeitig den günstigen Moment und zweckmäßige Mittel des Angriffs<br />

bestimmen werden«. Die Erwähnung des Sowjets neben <strong>der</strong> Partei und die elastischere<br />

Frag~ stellung hinsichtlich des Aufstandtermins waren das Resultat des Lenin über die<br />

Parteispitzen hinweg nachgeprüften Wi<strong>der</strong>standes <strong>der</strong> Massen.<br />

Am folgenden Tag resümierte Lenin in einer Polemik gegen Sinowjew und Kamenjew<br />

das Ergebnis <strong>der</strong> gestrigen Debatten: »alle sind darin einig, daß auf den Ruf des Sowjets<br />

und zur Verteidigung des Sowjets die Arbeiter sich wie ein Mann erheben werden.« Das<br />

bedeutete: Wenn nicht alle mit ihm, Lenin, einverstanden sind, daß man aufrufen kann<br />

im Namen <strong>der</strong> Partei, so sind alle darin einig, daß man im Namen des Sowjets aufrufen<br />

kann.<br />

»Wer soll die Macht übernehmen?« schreibt Lenin am Abend des 24. »Das ist jetzt<br />

nicht wichtig: möge sie das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee übernehmen o<strong>der</strong> eine<br />

"an<strong>der</strong>e Institution", die erklärt, daß sie die Macht nur den wahren Vertretern <strong>der</strong><br />

Volksinteressen übergeben wird ...« Die "an<strong>der</strong>e Institution", in geheimnisvolle Anführungsstriche<br />

genommen, ist die konspirative Bezeichnung für das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />

Bolschewiki. Lenin erneuert hier seinen Septembervorschlag: Handeln direkt im Namen<br />

des Zentralkomitees - für den Fall, daß die Sowjetlegalität das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

hin<strong>der</strong>n sollte, den Kongreß vor die vollzogene Tatsache <strong>der</strong> Umwälzung zu<br />

stellen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 727


Ungeachtet dessen, daß dieser ganze Kampf um Termine und Methoden des Aufstandes<br />

Wochen gedauert hat, haben sich nicht alle Teilnehmer über seinen Sinn und seine<br />

Bedeutung klar Rechenschaft abgelegt. »Lenin schlug vor, die Macht vermittels <strong>der</strong><br />

Sowjets, des Leningra<strong>der</strong> o<strong>der</strong> des Moskauer, zu übernehmen, nicht hinter <strong>der</strong>en<br />

Rücken«, schrieb Stalin im Jahre 1924. »Wozu hatte Trotzki diese mehr als seltsame<br />

Legende über Lenin nötig?« Und weiter: »Die Partei kennt Lenin als den größten Marxisten<br />

unserer Zeit ..., dem je<strong>der</strong> Schatten von Blanquismus fremd ist.« Indes angeblich bei<br />

Trotzki »nicht <strong>der</strong> Riese Lenin entsteht, son<strong>der</strong>n irgendein Zwerg-Blanquist« ... Nicht<br />

bloß Blanquist, son<strong>der</strong>n auch Zwerg! In Wirklichkeit wird die Frage, in wessen Namen<br />

ein Aufstand zu beginnen und von welcher Institution die Macht zu übernehmen ist,<br />

keinesfalls durch irgendeine Doktrin vorausbestimmt. Beim Vorhandensein allgemeiner<br />

Bedingungen für die Umwälzung verwandelt sich <strong>der</strong> Aufstand in ein praktisches<br />

Problem <strong>der</strong> Kunst, das auf verschiedene Weise gelöst werden kann. In diesem ihrem<br />

Teil entsprechen die Meinungsverschiedenheiten im Zentralkomitee dem Streit <strong>der</strong><br />

Offiziere eines Generalstabs, die, in <strong>der</strong>selben militärischen Doktrin erzogen und die<br />

strategisehe Gesamtsituation in gleicher Weise einschätzend, verschiedene Varianten<br />

vorschlagen für die Lösung <strong>der</strong> nächsten, hervorragend wichtigen Aufgabe, die aber<br />

doch nur eine Teilaufgabe ist. Dabei Fragen des Marxismus und Blanquismus an den<br />

Haaren herbeiziehen, heißt, mangelndes Verständnis sowohl für das eine wie das an<strong>der</strong>e<br />

offenbaren.<br />

Professor Pokrowski bestreitet überhaupt die Bedeutung <strong>der</strong> Alternative: Sowjet o<strong>der</strong><br />

Partei? Soldaten sind ganz und gar nicht Formalisten, ironisiert er: sie brauchten den<br />

Sowjetkongreß nicht, um Kerenski zu stürzen. Bei allem Witz läßt diese Fragestellung<br />

ungeklärt: wozu überhaupt Sowjets schaffen, wenn die Partei genügt? »Interessant«,<br />

fährt <strong>der</strong> Professor fort, »daß aus diesem Bestreben, alles fast legal zu machen, sowjetlegal,<br />

nichts herauskam - und die Macht im letzten Angenblick nicht <strong>der</strong> Sowjet übernahm,<br />

son<strong>der</strong>n eine offen "illegale", ad hoc geschaffene Organisation.« Pokrowski verweist<br />

darauf, daß Trotzki gezwungen war, »im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees«<br />

und nicht des Sowjets die Regierung Kerenski als nicht mehr bestehend zu erklären. Ein<br />

völlig überraschendes Argument: Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee war ein vom<br />

Sowjet gewähltes Organ. Die führende Rolle des Komitees in <strong>der</strong> Umwälzung verletzte<br />

in keiner Weise die Sowjetlegalität, über die <strong>der</strong> Professor so höhnt, die aber die Massen<br />

eifrigst verteidigten. Der Sowjet <strong>der</strong> Volks--kommissare war ebenfalls ad hoc geschaffen,<br />

was ihn nicht hin<strong>der</strong>te, Organ <strong>der</strong> Sowjetmacbt zu sein und zu bleiben, mit Einschluß<br />

Pokrowskis selbst als Stellvertreters des Volksbildungskommissars.<br />

Auf dem Boden <strong>der</strong> Sowjetlegalität und in hohem Maße sogar im Rahmen <strong>der</strong> Doppelherrschaftstraditionen<br />

zu bleiben vermochte <strong>der</strong> Aufstand hauptsächlich infolge <strong>der</strong><br />

Tatsache, daß die Petrogra<strong>der</strong> Garnison sich bereits vor <strong>der</strong> Umwälzung fast völlig dem<br />

Sowjet untergeordnet hatte. In zahlreichen Erinnerungen, Jubiläumsartikeln und in den<br />

ersten historischen Darstellungen galt diese durch zahllose Dokumente belegte Tatsache<br />

als unbestreitbar. »Der Konflikt in Petrograd entwickelte sich bei <strong>der</strong> Frage nach dem<br />

Schicksal <strong>der</strong> Garnison«, sagt das erste Büchlein über den Oktober, das <strong>der</strong> Autor <strong>der</strong><br />

vorliegenden Arbeit nach ganz frischen Erinnerungen in den Pausen zwischen den Brest-<br />

Litowsker Verhandlungen nie<strong>der</strong>schrieb und das während einiger Jahre in <strong>der</strong> Partei die<br />

Rolle eines Geschichtslehrbuches spielte. »Die Kernfrage, um die die gesamte Bewegung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 728


im Oktober aufgebaut und organisiert wurde«, drückt sich noch deutlicher Sadowski aus,<br />

einer <strong>der</strong> unmittelbaren Organisatoren <strong>der</strong> Umwälzung, »bildete die Versetzung <strong>der</strong><br />

Petrogra<strong>der</strong> Garnisonregimenter an die Nordfront ...« Keinem <strong>der</strong> nächsten Führer des<br />

Aufstandes kam es bei einer Kollektivunterhaltung, veranstaltet mit dem direkten Zweck,<br />

den Gang <strong>der</strong> Ereignisse zu rekonstruieren, in den Sinn, Sadowski zu wi<strong>der</strong>sprechen o<strong>der</strong><br />

ihn zu korrigieren. Erst seit dem Jahre 1924 stellte sich plötzlich heraus, daß Trotzki die<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Bauerngarnison zum Nachteil <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter überschätzt: eine<br />

wissenschaftliche Entdeckung, die überaus glücklich die Beschuldigung <strong>der</strong> Unterschätzung<br />

<strong>der</strong> Bauernschaft ergänzt!<br />

Dutzende, junger Historiker mit Professor Pokrowski an <strong>der</strong> Spitze erläuterten in den<br />

letzten Jahren die Bedeutung des Proletariats für die proletarische <strong>Revolution</strong>, entrüsteten<br />

sich darüber, daß wir nicht von Arbeitern sprachen in jenen Zeilen, wo bei uns von<br />

Soldaten die Rede ist, und ühertührten uns, den realen Gang <strong>der</strong> Ereignisse analysiert zu<br />

haben, statt die Schulvorlagen abzuschreiben. Die Resultate dieser Kritik preßt<br />

Pokrowski in <strong>der</strong> Schlußfolgerung zusammen: »Obgleich es Trotzki sehr wohl bekannt<br />

ist, daß <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand von <strong>der</strong> Partei beschlossen wurde ... und es ganz klar<br />

war, daß <strong>der</strong> Vorwand für den Aufstand nur Nebensache blieb, steht nichtsdestoweniger<br />

für ihn im Zentrum des Bildes die Petrogra<strong>der</strong> Garnison ... - als wäre, hätte es diese<br />

nicht gegeben, an den Aufstand nicht zu denken gewesen.« Für unseren Historiker ist nur<br />

<strong>der</strong> "Parteibeschluß" in bezug auf den Aufstand von Bedeutung; wie sich aber <strong>der</strong><br />

Aufstand in Wirklichkeit vollzog, ist »Nebensache«; ein Vorwand findet sieh immer. Mit<br />

Vorwand bezeichnet Pokrowski das Mittel, die Truppen zu gewinnen, das heißt die<br />

Lösung eben jener Frage, aus <strong>der</strong> sich das Schicksal eines jeden Aufstandes ergibt. Die<br />

proletarische <strong>Revolution</strong> wäre zweifellos auch ohne den Konflikt wegen Abtransport <strong>der</strong><br />

Garnison erfolgt; <strong>der</strong> Professor hat recht. Doch wäre das ein an<strong>der</strong>er Aufstand gewesen,<br />

und er würde eine an<strong>der</strong>e Darstellung erfor<strong>der</strong>n. Wir aber meinen jene Ereignisse, die in<br />

Wirklichkeit geschehen sind.<br />

Einer <strong>der</strong> Organisatoren und später Historiker <strong>der</strong> Roten Garde, Malachowski, pocht<br />

seinerseits daraut daß gerade die bewaffneten Arbeiter zum Unterschiede von <strong>der</strong><br />

halbpassiven Garnison im Aufstande Initiative, Entschlossenheit und Disziplin bewiesen.<br />

»Die Rotgardistenabteilungen«, schreibt er, »besetzen während <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

Regierungsämter, Post, Telegraph, sie sind auch in allen Kämpfen vornean« ... und so<br />

weiter. Zweifrllos richtig. Es ist jedoch nicht schwer zu begreifen, daß, wenn die Rotgardisten<br />

Ämter einfach »besetzen« konnten, so nur deshalb, weil die Garnison mit ihnen<br />

war, sie unterstützte o<strong>der</strong> mindestens nicht hin<strong>der</strong>te. Dies entschied auch das Schicksal<br />

des Aufstandes.<br />

Schon die Aufwerfung <strong>der</strong> Frage, wer für die Umwälzung wichtiger sei: die Soldaten<br />

o<strong>der</strong> die Arbeiter?, beweist ein trauriges theoretisches Niveau, bei dem fast kein Platz für<br />

Diskussionen bleibt. Die Oktoberrevolution war <strong>der</strong> Kampf des Proletariats gegen die<br />

Bourgeoisie um die Macht. Aber den Ausgang des Kampfes entschied letzten Endes <strong>der</strong><br />

Muschik. Dieses allgemeine Schema, das für das ganze Land galt, fand in Petrograd den<br />

vollendetsten Ausdruck. Was hier <strong>der</strong> Umwälzung den Charakter eines kurzen Schlages<br />

mit minimalster Zahl an Opfern verlieh, war die Verbindung <strong>der</strong> revolutionären<br />

Verschwörung, des proletarischen Aufstandes mit dem Kampf <strong>der</strong> Bauerngarnison um<br />

die Selbsterhaltung. Geleitet wurde die Umwälzung von <strong>der</strong> Partei; die wichtigste<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 729


treibende Kraft war das Proletariat; die bewaifheten Arbeiterabteilungen bildeten die<br />

Faust des Aufstandes; doch den Ausgang des Kampfes entschied die schwerwiegende<br />

Bauemgarnison.<br />

Gerade in dieser Frage ist die Gegenüberstellung von Februar- und Oktoberumwälzung<br />

beson<strong>der</strong>s unersetzlich. Am Vorabend des Sturzes <strong>der</strong> Monarchie bildete die Garnison<br />

für beide Parteien das große Unbekannte. Die Soldaten selber wußten noch nicht, wie sie<br />

auf einen Aufstand <strong>der</strong> Arbeiter reagieren würden. Erst <strong>der</strong> Generalstreik vermochte die<br />

erfor<strong>der</strong>liche Arena zu schaffen für Massenzusammenstöße von Arbeitern mit Soldaten,<br />

für die Überprüfung <strong>der</strong> Soldaten durch die Tat, für den Übergang <strong>der</strong> Soldaten auf die<br />

Seite <strong>der</strong> Arbeiter. Darin eben bestand <strong>der</strong> dramatische Inhalt <strong>der</strong> fünf Februartage.<br />

Am Vorabend des Sturzes <strong>der</strong> Provisorischen Regierung stand die überwiegende<br />

Mehrheit <strong>der</strong> Garnison offen auf seiten <strong>der</strong> Arbeiter. Nirgendwo im ganzen Lande war<br />

die Regierung <strong>der</strong>art isoliert wie in ihrer Residenz: nicht umsonst drängte sie so, ihr zu<br />

entfliehen. Vergeblich: die feindliche Hauptstadt ließ sie nicht weg. Durch den erfolglosen<br />

Versuch, die revolutionären Regimenter hinauszudrängen, hatte sich die Regierung<br />

endgültig ihr Ver<strong>der</strong>ben bereitet.<br />

Kerenskis passive Politik vor <strong>der</strong> Umwälzung nur mit seinen persönlichen Eigenschaften<br />

erklären zu wollen, heißt an <strong>der</strong> Oberfläche gleiten. Kerenski stand nicht allein. In <strong>der</strong><br />

Regierung saßen Menschen wie Paltschinski, denen es an Energie nicht mangelte. Die<br />

Führer des Exckutivkomitees wußten sehr wohl, daß <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Bolschewiki ihren<br />

politischen Tod bedeuten würde. Doch waren sie alle, einzeln und zusammen,<br />

paralysiert, verharrten, wie Kerenski, in irgendeinem schweren Halbschlaf, wo <strong>der</strong><br />

Mensch, trotz <strong>der</strong> über seinem Haupte sich zusammenziehenden Gefahr, ohnmächtig ist,<br />

die Hand zur eigenen Rettung zu rühren.<br />

Die Verbrü<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiter mit den Soldaten im Oktober erwuchs nicht, wie im<br />

Februar, aus einem offenen Straßenzusammenstoß, son<strong>der</strong>n ging dem Aufstande voraus.<br />

Wenn die Bolschewiki diesmal zum Generalstreik nicht aufriefen, so nicht deshalb, weil<br />

ihnen die Möglichkeit dazu fehlte, son<strong>der</strong>n weil sie keine Notwendigkeit dafür sahen.<br />

Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee fühlte sich bereits vor <strong>der</strong> Umwälzung als Herr <strong>der</strong><br />

Lage: es kannte jeden Truppenteil in <strong>der</strong> Garnison, dessen Stimmung, innere Gruppierung;<br />

es erhielt täglich Informationen, keine aufgemachten, son<strong>der</strong>n solche, die aussprachen,<br />

was ist; es konnte zu je<strong>der</strong> Zeit in jedes Regiment einen bevollmächtigten<br />

Kommissar, einen Radler mit einem Befehl schicken, konnte sich telephonisch mit dem<br />

Komitee eines Truppenteils verbinden o<strong>der</strong> <strong>der</strong> wachthabenden Kompanie eine Or<strong>der</strong><br />

erteilen. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee nahm den Truppen gegenüber die Stellung<br />

eines Regierungsstabes, nicht aber eines Verschwörerstabes ein.<br />

Gewiß, die Kommandohöhen des Staates blieben noch in Händen <strong>der</strong> Regierung. Doch<br />

die materielle Basis war ihnen entrissen. Ministerien und Stäbe thronten über einer Leere.<br />

Telephon und Telegraph waren, wie die Staatsbank, noch im Dienste <strong>der</strong> Regierung.<br />

Doch die militärische Macht, um diese Institutionen in <strong>der</strong> Hand zu behalten, besaß die<br />

Regierung bereits nicht mehr. Winterpalais und Smolny hatten gleichsam die Plätze<br />

gewechselt. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee brachte die gespenstische Regierung in<br />

eine Lage, in <strong>der</strong> sie, ohne die Garnison nie<strong>der</strong>gerungen zu haben, nichts unternehmen<br />

konnte. Undje<strong>der</strong> Versuch Kerenskis, einen Schlag zu führen gegen die Garnison,<br />

beschleunigte nur die Lösung.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 730


Doch die Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung war noch immer ungelöst. Fe<strong>der</strong> und Gesamtmechanismus<br />

<strong>der</strong> Uhr lagen in <strong>der</strong> Hand des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees. Diesem<br />

aber fehlten Zifferblatt und Zeiger. Und ohne diese Details kann eine Uhr ihre Bestimmung<br />

nicht erfüllen. Ohne Telegraph, Telephon, Bank und ohne Stab konnte das Militärische<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee nicht regieren. Es verfügte fast über sämtliche realen<br />

Voraussetzungen und Elemente <strong>der</strong> Macht, aber nicht über die Macht selbst.<br />

Im Februar dachten die Arbeiter nicht an die Besetzung <strong>der</strong> Bank und des<br />

Winterpalais, son<strong>der</strong>n daran, wie <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Armee zu brechen wäre. Sie kämpften<br />

nicht um einzelne Kommandohöhen, son<strong>der</strong>n um die Seele des Soldaten. Als auf<br />

diesem Felde <strong>der</strong> Sieg errungen war, lösten sich alle übrigen Aufgaben von selbst:<br />

nachdem sie ihre Gardebataillone abgegeben hatte, versuchte die Monarchie nicht weiter,<br />

ihre Schlösser und ihre Stäbe zu verteidigen.<br />

Im Oktober klammerte sich Kerenskis Regierung, als sie die Seele des Soldaten<br />

unwi<strong>der</strong>ruflich verloren hatte, noch an die Kommandohöhen. In ihren Händen bildeten<br />

Stäbe, Banken, Telephone nur die Fassade <strong>der</strong> Macht. In die Hände <strong>der</strong> Sowjets gelegt,<br />

mußten sie den Besitz <strong>der</strong> vollen Macht garantieren. Das war die Lage am Vorabend des<br />

Aufstandes: sie bestimmte auch das Handeln in den letzten vierundzwanzig Stunden.<br />

Demonstrationen, Straßenkämpfe, Barrikaden, alles, was in den gewohnten Begriff des<br />

Aufstandes fällt, gab es fast nicht: die <strong>Revolution</strong> hatte nicht nötig, die bereits gelöste<br />

Aufgabe zu lösen. Die Eroberung des Regierungsapparates ließ sich planmäßig durchführen,<br />

mit Hilfe verhältnismäßig weniger, von einem Zentrum aus geleiteter bewaffneter<br />

Abteilungen. Kasernen, Festung, Lager, alle jene Einrichtungen, in denen Arbeiter und<br />

Soldaten ihre Tätigkeit ausübten, konnte man mit <strong>der</strong>en eigenen inneren Kräften erobern.<br />

Aber we<strong>der</strong> Winterpalais, noch Vorparlament, Kreisstab, Ministerien, Junkerschulen<br />

waren von innen her zu nehmen. Das galt auch für Telephon, Telegraph, Post, Staatsbank<br />

die Angestellten dieser Anstalten, von kleinem Gewicht in <strong>der</strong> Gesamtkombination <strong>der</strong><br />

Kräfte, herrschten noch in ihren vier Wänden, die überdies unter verstärktem<br />

Wachschutz standen. In die bürokratischen Höhen mußte man von außen eindringen. Die<br />

politische Eroberung mußte hier durch gewaltsame Eroberung ersetzt werden. Da jedoch<br />

die vorausgegangene Verdrängung <strong>der</strong> Regierung aus ihren militärischen Basen ihr den<br />

Wi<strong>der</strong>stand fast unmöglich machte, verlief die gewaltsame Einnahme <strong>der</strong> letzten<br />

Kommandohöhen in <strong>der</strong> Regel ohne Zusammenstöße.<br />

Allerdings ging es nicht völlig ohne Kämpfe ab: das Winterpalais mußte im Sturm<br />

genommen werden. Aber gerade die Tatsache, daß <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Regierung auf das<br />

Verteidigen des Palais hinauslief, bestimmt klar den Platz des 25. Oktober im Gange des<br />

Kampfes. Das Winterpalais war die letzte Schanze des politisch während <strong>der</strong> acht<br />

Monate seines Bestehens geschlagenen und in den letzten zwei Wochen vollends<br />

entwaffneten Regimes.<br />

Elemente <strong>der</strong> Verschwörung, versteht man darunter Plan und zentralisierte Leitung,<br />

nahmen in <strong>der</strong> Februarrevolution einen verschwindenden Platz ein. Das ergab sich schon<br />

aus <strong>der</strong> Schwäche und Zersplitterung <strong>der</strong> revolutionären Gruppen dank dem Druck des<br />

Zarismus und des Krieges. Eine um so größere Aufgabe fiel den Massen zu. Die<br />

Aufständischen waren keine menschlichen Heuschrecken. Sie hatten ihre politische<br />

Erfahrung, ihre Traditionen, ihre Parolen, ihre namenlosen Führer. Waren aber die im<br />

Aufstande zerstreuten Elemente <strong>der</strong> Führung ausreichend für den Sturz <strong>der</strong> Monarchie,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 731


so reichten sie bei weitem nicht aus, um den Siegern die Früchte ihres eigenen Sieges<br />

einzuhändigen.<br />

Die Ruhe in den Oktoberstraßen, das Fehlen von Massen und Kämpfen gaben den<br />

Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer verschwindenden Min<strong>der</strong>heit, vom Abenteuer<br />

eines Häufleins Bolschewiki zu sprechen. Diese Formel wurde in den dem Aufstande<br />

folgenden Tagen, Monaten und sogar Jahren unzählige Male wie<strong>der</strong>holt. Offenbar um<br />

die Reputation <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung zu verbessern, schreibt Jaroslawski über<br />

den Tag des 25. Oktober: »Dichte Massen des Petrogra<strong>der</strong> Proletariats stellten sich auf<br />

den Ruf des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees unter dessen Banner und überschwemmten<br />

die Straßen Petrograds.« Der offizielle Historiker vergißt zu erklären, zu welchem<br />

Zweck das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee die Massen auf die Straße gerufen hatte und<br />

was sie dort eigentlich getan haben.<br />

Aus <strong>der</strong> Verbindung von Macht und Schwäche <strong>der</strong> Februar-revolution erwuchs <strong>der</strong>en<br />

offizielle Idealisierung als einer allnationalen <strong>Revolution</strong> zum Unterschiede von <strong>der</strong><br />

Oktoberumwälzung als einer Verschwörung. In Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im<br />

letzten Moment den Kampf um die Macht auf eine "Verschwörung" beschränken, nicht<br />

weil sie eine kleine Min<strong>der</strong>heit waren, son<strong>der</strong>n im Gegenteil, weil sie in den Arbeitervierteln<br />

und eine erdrückende, geschlossene, organisierte und diplinierte Mehrheit hinter<br />

sich hatten.<br />

Richtig die Oktoberumwälzung verstehen kann man nur dann, wenn man das Blickfeld<br />

nicht auf ihr abschließendes Glied beschränkt. Ende Februar wurde die Schachpartie des<br />

Auftandes vom ersten bis zum letzten Zug gespielt, das heißt bis zur Waffenstreckung<br />

des Gegners; Ende Oktober lag die Grundpartie bereits zurück, und am Tage des<br />

Aulstandes war nur die ziemlich enge Aufgabe zu lösen: Matt in zwei Zügen. Die<br />

Umwälzungsperiode muß man deshalb vom 9. Oktober rechnen, wo <strong>der</strong> Konflikt wegen<br />

<strong>der</strong> Garnison begann, o<strong>der</strong> vorn 12., wo die Gründung des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />

beschlossen wurde. Das Vernebelungsmanöver zog sich über zwei Wochen hin.<br />

Sein entscheidendster Teil dauerte fünf bis sechs Tage vom Moment <strong>der</strong> Entstehung des<br />

Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees ab. Während dieser ganzen Periode wirkten unmittelbar<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende Arbeiter und Soldaten, defensiv <strong>der</strong> Form, offensiv dem Wesen<br />

nach. Die Schlußetappe, als die Aufständischen die Konventionen <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />

mit <strong>der</strong>en zweifelhafter Legalität und Defensiv-Phraseologie endgültig fallen ließen,<br />

nahm genau vierundzwanzig Stunden in Anspruch: von 2 Uhr nachts zum 25. bis 2 Uhr<br />

nachts auf den 26. Innerhalb dieser Frist wandte das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

offen Waffen an zur Eroberung <strong>der</strong> Stadt und Gefangennahme <strong>der</strong> Regierung: an den<br />

Operationen nahmen im allgemeinen so viel Kräfte teil, wie zur Lösung <strong>der</strong> begrenzten<br />

Aufgabe notwendig waren, jedenfalls kaum mehr als fünfundzwanzig bis dreißig<br />

Tausend.<br />

Ein italienischer Schriftsteller, <strong>der</strong> Bücher nicht nur über "Nächte <strong>der</strong> Eunuchen",<br />

son<strong>der</strong>n auch über höhere Staatsprobleme schreibt, besuchte 1929 Sowjet-Moskau, warf<br />

das wenige durcheinan<strong>der</strong>, was er aus fünftem und zehntem Munde gehört hatte, und<br />

baute auf diesem Fundament ein Buch auf über "Technik des Staatsstreichs". Der Name<br />

dieses Schriftstellers, Malaparte, gestattet, ihn leicht von einem an<strong>der</strong>en Spezialisten in<br />

Staatsstreichen zu unterscheiden, <strong>der</strong> den Namen Bonaparte trug.<br />

Im Gegensatz zu "Lenins Strategie", die mit den sozialen und politischen Bedingungen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 732


Rußlands von 1917 verbunden ist, »ist dagegen Trotzkis Taktik«, nach Malapartes<br />

Worten, »mit den Gesamtbedingungen des Landes nicht verknüpft!« Auf Lenins Betrachtungen<br />

über die politischen Voraussetzungen <strong>der</strong> Umwälzung läßt <strong>der</strong> Autor Trotzki<br />

antworten: »Ihre Strategie erfor<strong>der</strong>t zuviel günstige Bedingungen: die Insurrektion erfor<strong>der</strong>t<br />

nichts. Sie genügt sich selbst.« Wohl kaum ist eine Absurdität denkbar, die mehr<br />

sich selbst genügt. Malaparte wie<strong>der</strong>holt mehreremal, im Oktober habe nicht Lenins<br />

Strategie, son<strong>der</strong>n Trotzkis Taktik gesiegt. Diese Taktik bedrohe auch jetzt die Ruhe <strong>der</strong><br />

europäischen Staaten. »Lenins Strategie bildet keine unmittelbare Gefahr für Europas<br />

Regierungen. Eine aktuelle und dabei ständige Gefahr für sie ist Trotzkis Taktik.« Noch<br />

konkreter: »Man setze an die Stelle Kerenskis Poincaré, - <strong>der</strong> bolschewistische Staatsstreich<br />

vom Oktober 1917 wäre ebensogut gelungen.« Wir würden vergeblich danach<br />

forschen, wozu Lenins von historischen Bedingungen abhängige Strategie überhauptnotwendig<br />

ist, wenn Trotzkis Taktik die gleiche Aufgabe unter allen Bedingungen löst. Es<br />

bleibt hinzuzufügen, daß das hervorragende Buch bereits in mehreren Sprachen vorliegt.<br />

Staatsmänner lernen offenbar nach ihm, Staatsstreiche abzuwehren. Wollen wir ihnen<br />

allen Erfolg wünschen.<br />

Eine Kritik <strong>der</strong> rein militärischen Operationen vom 25. Oktober ist bis jetzt nicht unternommen<br />

worden. Was über diese Frage in <strong>der</strong> Sowjetliteratur existiert, trägt nicht kritischen,<br />

son<strong>der</strong>n rein apologetischen Charakter. Neben den Schriften des Epigonentums<br />

gesehen, hebt sich sogar Suchanows Kritik, trotz all ihren Wi<strong>der</strong>sprüchen, durch<br />

aufmerksames Verhalten zu den Tatsachen günstig ab.<br />

In <strong>der</strong> Bewertung <strong>der</strong> Organisierung des Oktoberaufstandes äußerte Suchanow im<br />

Laufe von einem bis zwei Jahren zwei geradezu diametral entgegengesetzte Ansichten.<br />

In dem <strong>der</strong> Februarrevolution gewidmeten Bande sagt er: »Ich werde später aufgrund<br />

persönlicher Erinnerungen die nach Noten heruntergespielte Oktoberumwälzung<br />

beschreiben.« Jaroslawski wie<strong>der</strong>holt diese Äußerung Suchanows wörtlich. »Der<br />

Aufstand in Petrograd« sagt er, »war gut vorbereitet und wurde von <strong>der</strong> Partei wie nach<br />

Noten heruntergespielt.« Wohl noch entschiedener äußert sich Claude Anet, ein gegnerischer;<br />

aber aufmerksamer, wenn auch nicht tiefer Beobachter: »Der Staatsstreich vom 7.<br />

November läßt nur Bewun<strong>der</strong>ung zu. Nicht eine Bresche, nicht ein Spalt, die Regierung<br />

fällt, ehe sie noch "Uff!" schreien kann.« Hingegen erzählt Suchanow in dem <strong>der</strong><br />

Oktoberumwälzung gewidmeten Bande, wie <strong>der</strong> Smolny »leise, tastend, behutsam und<br />

verworren« an die Liquidierung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung heranging.<br />

Übertreibung ist sowohl im zweiten wie im ersten Urteil enthalten. Doch kann man<br />

unter einem weiten Gesichtspunkte zugeben, daß beide Einschätzungen, so sehr sie sich<br />

auch wi<strong>der</strong>sprechhen, auf Tatsachen fußen. Die Planmäßigkeit <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

erwuchs hauptsächlich aus objektiven Verhältnissen, aus <strong>der</strong> Reife <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> als<br />

Ganzes, aus <strong>der</strong> Lage Petrograds im Lande, aus <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> Regierung in Petrograd, aus<br />

<strong>der</strong> gesamten vorangegangenen Arbeit <strong>der</strong> Partei, endlich aus <strong>der</strong> richtigen Politik <strong>der</strong><br />

Umwälzung. Aber es blieb noch die Aufgabe <strong>der</strong> Kriegstechnik. Da gab es <strong>der</strong> einzelnen<br />

Fehlgriffe nicht wenig, und es kann, faßt man sie zusammen, leicht <strong>der</strong> Eindruck einer<br />

Arbeit ins Blinde hinein entstehen.<br />

Suchanow verweist mehrere Male auf die militärische Schutzlosigkeit des Smolny in<br />

den letzten Tagen vor dem Aufstande. In <strong>der</strong> Tat, noch am 23. war <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

nicht viel besser geschützt als das Winterpalais. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomi-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 733


tee sicherte seine Unangreifharkeit vor allem dadurch, daß es die Verbindung mit <strong>der</strong><br />

Garnison festigte und durch sie die Möglichkeit bekam, alle militärischen Bewegungen<br />

des Gegners zu verfolgen. Ernstere Maßnahmen kriegstechnischer Art traf das Komitee<br />

erst etwa vierundzwanzig Stunden früher als die Regierung. Suchanow ist <strong>der</strong> Überzeugung,<br />

daß die Regierung während des 23. und in <strong>der</strong> Nacht zum 24., hätte sie Initiative<br />

entwickelt, imstande gewesen wäre, das Komitee zu verhaften: »Eine gute Abteilung von<br />

fünfhun<strong>der</strong>t Mann hätte vollständig genügt, um das Smolny mit seinem gesamten Inhalt<br />

zu liquidieren.« Möglich. Doch erstens hätte die Regierung dazu Entschlossenheit und<br />

Mut nötig gehabt, das heißt Eigenschaften, die ihrer Natur entgegengesetzt waren.<br />

Zweitens war »eine gute Abteilung von fünfhun<strong>der</strong>t Mann« erfor<strong>der</strong>lich. Wo sollte man<br />

sie hernehmen? Aus Offizieren zusammenstellen? Wir haben sie Ende August in <strong>der</strong><br />

Verschwörerrolle gesehen: man mußte sie in Nachtlokalen suchen. Die Kampfmannschaften<br />

<strong>der</strong> Versöhnler waren auseinan<strong>der</strong>gefallen. In den Junkerschulen schuf jede<br />

akute Frage Gruppierungen. Noch schlimmer stand es bei den Kosaken. Eine Abteilung<br />

durch individuelle Auslese aus verschiedenen Truppenteilen zusammenzustellen, hätte<br />

bedeutet, sich zehnmal verraten, ehe das Unternehmen beendet gewesen wäre.<br />

Aber auch das Vorhandensein <strong>der</strong> Abteilung hätte noch nichts entschieden. Der erste<br />

Schuß vor dem Smolny würde in den Arbeiterbezirken und in den Kasernen einen<br />

donnernden Wi<strong>der</strong>hall geweckt haben. Dem bedrohten Zentrum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wären zu<br />

je<strong>der</strong> Tages- und Nachtstundc Zehntausende bewaffneter und halbbewaffneter Menschen<br />

zu Hilfe geeilt. Schließlich hatte auch die Gefangennahme des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />

die Regierung nicht zu retten vermocht. Außerhalb <strong>der</strong> Smolnymauern gab es<br />

Lenin und das mit ihm verbundene Zentralkomitee und Petrogra<strong>der</strong> Komitee. In <strong>der</strong><br />

Peter-Paul-Festung saß ein zweiter Stab, auf <strong>der</strong> "Aurora" ein dritter, eigene Stäbe - in<br />

den Bezirken. Die Massen wären nicht ohne Führung geblieben. Die Arbeiter und Soldaten<br />

aber wollten trotz aller Schwerfälligkeit siegen um jeden Preis.<br />

Zweifellos hätte man ergänzende Maßnahmen militärischer Vorsicht immerhin einige<br />

Tage früher ergreifen können und ergreifen sollen. Suchanows Kritik ist in diesem Teil<br />

richtig. Der militärische <strong>Revolution</strong>sapparat arbeitet ungelenk, mit Verspätüngen und<br />

Versäumnissen, die Gesamtleitung ist allzusehr geneigt, Technik durch Politik zu ersetzen.<br />

Lenins Auge fehlt im Smolny sehr. Die an<strong>der</strong>en haben's noch nicht gelernt.<br />

Suchanow hat auch darin recht, daß das Winterpalais in <strong>der</strong> Nacht auf den 25. o<strong>der</strong> am<br />

Morgen dieses Tages unvergleichlich leichter einzunehmen gewesen wäre als in <strong>der</strong><br />

folgenden Nacht. Das Palais wie das benachbarte Stabsgebäude waren von den üblichen<br />

Junkerposten bewacht: ein überraschen<strong>der</strong> Überfall hätte fast mit Bestimmtheit Erfolg<br />

garantiert. Am Morgen fuhr Kerenski unbehin<strong>der</strong>t im Automobil weg: schon das zeigt,<br />

daß es keinen ernsthaften Beobachtungsdienst in bezug auf das Winterpalais gab. Hier<br />

bestand eine offenbare Lücke!<br />

Mit <strong>der</strong> Beobachtung <strong>der</strong> provisorischen Regierung wurden - allerdings viel zu spät:<br />

am 24! - Swerdlow und dessen Gehilfen Laschewitsch und Blagonrawow betraut.<br />

Höchstwahrscheinlich ist Swerdlow, <strong>der</strong> sich ohnehin in Stücke zerriß, kaum an diese<br />

neue Aufgabe herangetreten. Es ist sogar möglich, daß <strong>der</strong> Beschluß selbst, obwohl<br />

protokolliert, in <strong>der</strong> Hitze jener Stunden vergessen ward.<br />

Im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee überschätzte man, trotz allem, die Hilfsquellen<br />

<strong>der</strong> Regierung, insbeson<strong>der</strong>e den Schutz des Winterpalais. Wenn den unmittelbaren<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 734


Leitern <strong>der</strong> Belagerung die inneren Kräfte des Palais auch bekannt waren, so mußten sie<br />

doch befürchten, daß auf den ersten Alarm Verstärkungen eintreffen würden: Junker,<br />

Kosaken, Stoßbrigadler. Der Plan zur Einnahme des Winterpalais war im Stile einer<br />

großen Operation ausgearbeitet: wenn Zivilisten o<strong>der</strong> Halbzivilisten an die Lösung einer<br />

rein militärischen Aufgabe herangehen, neigen sie stets zu strategischen Klügeleien.<br />

Neben übermäßigem Pedantismus mußten sie dabei auch reichlich Unbeholfenheit<br />

entwickeln.<br />

Das Durcheinan<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Einnahme des Palais läßt sich bis zum gewissen Grade auch<br />

mit den persönlichen Eigenschaften <strong>der</strong> Hauptführer erklären. Podwojski, Antonow-<br />

Owssejenko, Tschudnowski - waren Menschen von heroischer Art. Aber vielleicht am<br />

wenigsten Menschen systematischen und disziplinierten Denkens. Podwojski, <strong>der</strong> sich in<br />

den Julitagen zu weit hervorgewagt hatte, war viel vorsichtiger geworden, sogar skeptischer<br />

in bezug auf die nächsten Perspektiven. Doch im wesentlichen blieb er sich treu:<br />

Angesichts einer praktischen Aufgabe war er organisch bestrebt, über ihren Rahmen<br />

hinauszugehen, den Plan zu erweitern, alles und alle hineinzuziehen, ein Maximum dort<br />

zu leisten, wo ein Minimum genügt hätte. An dem Hyperbolischen des Planes läßt sich<br />

mühelos <strong>der</strong> Stempel seines Geistes entdecken. Antonow-Owssejenko, von Charakter<br />

impulsiver Optimist, war viel fähiger zu Improvisation als zu Berechnung. Als ehemaliger<br />

kleiner Offizier verfügte er über etliche militärische Kenntnisse. Während des großen<br />

Krieges Emigrant, leitete er in <strong>der</strong> Pariser Zeitung 'Nasche Slowo' die Kriegsübersicht<br />

und bewies dabei häufig strategischen Spürsinn. Sein empfänglicher Dilettantismus<br />

konnte kein Gegengewicht schaffen zu Podwojskis Überschwenglichkeiten. Der dritte<br />

<strong>der</strong> Heerführer, Tschudnowski, hatte einige Monate an einer passiven Front als Agitator<br />

verbracht: damit war seine militärische Erfahrung erschöpft. Zum rechten Flügel hinneigend,<br />

pflegte jedoch Tschudnowski sich als erster ins Gefecht zu stürzen und stets die<br />

Stellen zu suchen, wo es am heißesten herging. Persönflcher Mut und politische<br />

Kühnheit halten sich bekanntlich nicht immer die Waage. Einige Tage nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />

wurde Tschudnowski in <strong>der</strong> Nähe von Petrograd bei einem Zusammenstoß mit<br />

Kerenskis Kosaken verwundet und wenige Monate später in <strong>der</strong> Ukraine getötet. Es ist<br />

klar, daß auch <strong>der</strong> redselige, impulsive Tschudnowski nicht das ersetzen konnte, was den<br />

beiden an<strong>der</strong>en Führern fehlte. Nicht einer von ihnen hatte Sinn für Details, schon<br />

deshalb, weil sie nicht in das Geheimnis des Handwerks eingeweiht waren. Im Gefühl<br />

ihrer Schwäche in Fragen <strong>der</strong> Erkundung, Verbindung, Manövrierung, verspürten die<br />

roten Marschälle das Bedürfnis, sich mit solcher Übermacht auf das Winterpalais zu<br />

wälzen, daß sich die Frage <strong>der</strong> praktischen Führung erledigte: das Kolossalische eines<br />

Planes kommt dem Fehlen eines solchen fast gleich. Das Gesagte bedeutet keinesfalls,<br />

daß man im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee o<strong>der</strong> in dessen Umgebung bewan<strong>der</strong>tere<br />

militärische Leiter hätte finden können, jedenfalls nicht ergebenere und aufopferungsfähigere.<br />

Der Kampf um das Winterpalais begann mit <strong>der</strong> Umfassung des Bezirks in weiter<br />

Peripherie. Bei Unerfahrenheit <strong>der</strong> Kommandeure, lückenhafter Verbindung,<br />

Ungewandtheit <strong>der</strong> rotgardistischen Abteilungen, Schwerfälligkeit <strong>der</strong> regulären<br />

Truppenteile entwickelte sich die komplizierte Operation äußerst langsam. In den<br />

gleichen Stunden, während die roten Abteilungen den Ring allmählich abdichteten und<br />

Reserven hinter sich sammelten, drangen Junkerkompanien, Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 735


Georgskavaliere und ein Frauenbataillon zum Winterpalais durch. Die Faust des Wi<strong>der</strong>standes<br />

formierte sich gleichzeitig mit dem Angriffsring. Man darf behaupten, daß die<br />

Aufgabe selbst aus jenem allzu großen Umweg erwachsen war, <strong>der</strong> zu ihrer Lösung<br />

angewandt wurde. Indes würde ein vermessener Überfall in <strong>der</strong> Nacht o<strong>der</strong> ein kühner<br />

Angriff bei Tage nicht mehr Opfer gekostet haben als die schleichende Operation. Den<br />

moralischen Effekt <strong>der</strong> "Aurora"-Artillerie hätte man jedenfalls um zwölf und sogar um<br />

vierundzwanzig Stunden früher ausprobieren können: <strong>der</strong> Kreuzer stand in voller Bereitschaft<br />

auf <strong>der</strong> Newa, und die Matrosen klagten nicht über Mangel an Geschützöl. Doch<br />

die Leiter <strong>der</strong> Operation hofften, die Frage ohne Kampf zu entscheiden, schickten Parlamentäre,<br />

stellten Ultimatums und hielten dann die Fristen nicht inne. Rechtzeitig die<br />

Artillerie <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung nachzuprüfen, darauf war man gerade deshalb nicht<br />

gekommen, weil man damit rechnete, ihre Hilfe entbehren zu können.<br />

Die mangelhafte Vorbereitung <strong>der</strong> militärischen Leitung offenbarte sich noch krasser<br />

in Moskau, wo das Kräfteverhältuis als <strong>der</strong>art günstig galt, daß Lenin dringend empfahl,<br />

mit Moskau sogar zu beginnen: »Der Sieg ist sicher, und es ist niemand da, <strong>der</strong> kämpfen<br />

könnte.« In Wirklichkeit nahm <strong>der</strong> Aufstand gerade in Moskau den Charakter sich<br />

hinziehen<strong>der</strong> Kämpfe an, die mit Unterbrechungen acht Tage dauerten. »Bei dieser<br />

heißen Arbeit«, schreibt Muralow, einer <strong>der</strong> Hauptleiter des Moskauer Aufstandes,<br />

»waren wir nicht immer und nicht in allem fest und entschlossen. Obwohl wir zahlenmäßig<br />

vielleicht zehnfach überlegen waren, zogen wir die Kämpfe eine Woche lang hin ...<br />

infolge unserer geringen Fähigkeit, Kampfmassen zu lenken, infolge <strong>der</strong>en Undiszipliniertheit<br />

und einer völligen Unkenntnis <strong>der</strong> Straßenkampftaktik, sowohl bei den Vorgesetzten<br />

wie bei den Soldaten.« Muralow besitzt die Gewohnheit, die Dinge beim Namen<br />

zu nennen: nicht umsonst sitzt er jetzt in <strong>der</strong> sibirischen Verbannung. Doch indem er<br />

vermeidet, die Verantwortung von sich auf an<strong>der</strong>e abzuwälzen, schiebt Muralow in<br />

diesem Falle auf das militärische Kommando den Hauptteil <strong>der</strong> Schuld <strong>der</strong> politischen<br />

Führung, die sich in Moskau durch Wankelmut auszeichnete und dem Einfluß <strong>der</strong><br />

Versöhnlerkreise leicht unterlag. Man darf jedoch auch hier nicht außer acht lassen, daß<br />

die Arbeiter des alten Moskau, <strong>der</strong> Textil- und Le<strong>der</strong>stadt, hinter dem Petrogra<strong>der</strong> Proletariat<br />

sehr weit zurückstanden. Im Februar hatte Moskau sich nicht zu erheben gebraucht:<br />

<strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Monarchie fiel restlos Petrograd zu. Im Juli war Moskau wie<strong>der</strong>um ruhig<br />

geblieben. Das kam im Oktober zum Ausdruck: Arbeiter und Soldaten besaßen keine<br />

Kampierfahrung.<br />

Die Technik des Aufstandes vollendet, was die Politik nicht getan hat. Das gigantische<br />

Anwachsen des Bolschewismus schwächte zweifellos die Aufmerksamkeit ab für die<br />

militärische Seite <strong>der</strong> Sache: Lenins leidenschaftliche Vorwürfe waren berechtigt genug.<br />

Die militärische Leitung war unvergleichlich schwächer als die politische. Wie konnte es<br />

auch an<strong>der</strong>s sein? Noch während einer Reihe von Monaten wird die neue revolutionäre<br />

Macht beträchtliche Ungeschicklichkeit in all den Fällen beweisen, wo es notwendig sein<br />

wird, zur Waffe zu greifen.<br />

Und doch stellten die militärischen Autoritäten des Regierungslagers in Petrograd <strong>der</strong><br />

militärischen Leitung <strong>der</strong> Umwälzung ein durchwegs glänzendes Zeugnis aus. »Die<br />

Aufständischen bewahren Ordnung und Disziplin«, berichtete per Draht das Kriegsministerium<br />

ins Hauptquartier gleich nach dem Fall des Winterpalais. »Plün<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong><br />

Pogrome unterblieben völlig, im Gegenteil, Patrouillen Aufständischer nahmen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 736


torkelnde Soldaten fest ... Der Aufstandsplan war zweifellos im voraus ausgearbeitet<br />

worden und wurde unbeirrt und glatt durchgeführt ...« Nicht ganz »nach Noten«, wie<br />

Suchanow und Jaroslawski schrieben, aber auch nicht gar so »verworren«, wie <strong>der</strong> erste<br />

<strong>der</strong> beiden Autoren später behauptete. Außerdem krönt selbst vor dem Gericht <strong>der</strong> allerstrengsten<br />

Kritik <strong>der</strong> Erfolg die Sache.<br />

Der Kongreß <strong>der</strong> Sowjetdiktatur<br />

Am 25. Oktober sollte im Smolny das demokratischste aller Parlamente <strong>der</strong> Weltgeschichte<br />

eröffnet werden. Wer weiß: vielleicht auch das bedeutendste.<br />

Nachdem sie sich vom Einfluß <strong>der</strong> Versöhnlerintelligenz befreit hatten, entsandten die<br />

Lokalsowjets vorwiegend Arbeiter und Soldaten. Das waren meist Menschen ohne<br />

großen Namen, dafür aber durch die Tat erprobte, die sich daheim das feste Vertrauen<br />

erobert hatten. Als Delegierte <strong>der</strong> aktiven Armee hatten die Blockade <strong>der</strong> Armeekomitees<br />

und <strong>der</strong> Stäbe fast nur einfache Soldaten durchbrochen. Die meisten von ihnen waren erst<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zum politischen Leben erwacht. Die Erfahrung von acht Monaten<br />

hatte sie geformt. Ihr Wissen war nicht groß, aber fest. Das Äußere des Kongresses gab<br />

ein Bild von seiner Zusammensetzung. Offizierachselstücke, Intellektuellenbrillen und<br />

Krawatten des ersten Kongresses waren fast völlig verschwunden. Ungeteilt herrschte die<br />

graue Farbe, in <strong>der</strong> Kleidung wie auf den Gesichtern. Alles war durch die Dauer des<br />

Krieges abgetragen. Viele städtische Arbeiter hatten sich Soldatenmäntel zugelegt. Die<br />

Schützengrabendelegierten sahen gar nicht malerisch aus: seit langem unrasiert, in alten,<br />

zerrissenen Mänteln, in schweren Pelzmützen, aus denen nicht selten Watte herausquoll<br />

über zerzaustem Haar. Grobe verwittene Gesichter, schwere, rissige Hände, von Tabak<br />

gelbe Finger, abgerissene Knöpft, herabhängende Mantelgurte, verschrumpfte, rotgelbe,<br />

längst nicht mehr geschmierte Stiefel. Die plebejische Nation hatte zum erstenmal eine<br />

ehrliche, ungeschminkte Vertretung nach ihrem eigenen Ebenbild entsandt.<br />

Die Statistik des Kongresses, <strong>der</strong> sich in den Stunden des Aufstandes versammelte, ist<br />

äußerst unvollständig. Bei <strong>der</strong> Eröffnung wurden sechshun<strong>der</strong>tfünfzig Teilnehmer mit<br />

beschließen<strong>der</strong> Stimme gezählt. Auf die Bolschewiki entfielen dreihun<strong>der</strong>tueunzig<br />

Delegierte; bei weitern nicht sämtlich Parteimitglie<strong>der</strong>, waren sie dafür Fleisch vom<br />

Fleische <strong>der</strong> Massen; den Massen aber waren keine an<strong>der</strong>en Wege außer den bolschewistischen<br />

übriggeblieben. Viele <strong>der</strong> Delegierten, die Zweifel mitgebracht hatten, reiften<br />

schnell in <strong>der</strong> glühenden Atmosphäre Petrograds.<br />

Wie gründlich war es den Menschewiki und Sozialrevolutionären gelungen, das politische<br />

Kapital <strong>der</strong> Februarrevolution zu vergeuden! Auf dem Sowjetkongreß im Juni<br />

hatten die Versöhnler sechshun<strong>der</strong>t Stimmen bei einer Gesamtzahl von achthun<strong>der</strong>tzweiunddreißig<br />

Delegierten. Jetzt betrug die Versöhnleropposition aller Schattierungen kaum<br />

ein Viertel des Kongresses. Menschewiki zusammen mit den an sie angelehnten nationalen<br />

Gruppen zählte man achtzig Mann, davon etwa die Hälfte "Linke". Von den einhun<strong>der</strong>tneunundfünfzig,<br />

nach an<strong>der</strong>en Angaben einhundenneunzig Sozialrevolutionären<br />

bildeten die Linken etwa drei Fünftel, wobei die Rechten im Verlauf <strong>der</strong> Tagung immer<br />

mehr zusammenschmolzen. Gegen Ende des Kongresses erreichte die Delegiertenzahl<br />

nach manchen Aufstellungen annähernd neunhun<strong>der</strong>t Mann; doch diese nicht wenige<br />

beratende Stimmen einschließende Zahl erfaßt an<strong>der</strong>erseits nicht alle die beschließenden.<br />

Die Registrierung wurde mit Unterbrechungen vorgenommen, Dokumente gingen verlo-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 737


en, die Angaben über Parteizugehörigkeit sind nicht vollständig. Jedenfalls blieb die<br />

vorherrschende Stellung <strong>der</strong> Bolschewiki auf dem Kongreß unbestritten.<br />

Eine unter den Delegierten vorgenommene Enquete ergab, daß fünfhun<strong>der</strong>t Sowjets für<br />

die Übergabe <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets waren; sechsundachtzig für die Macht<br />

<strong>der</strong> "Demokratie"; fünfundfünfzig für eine Koalition; einundzwanzig für eine Koalition,<br />

jedoch ohne Kadetten. Beredt zwar auch in dieser Form, geben jedoch die Zahlen eine<br />

übertriebene Vorstellung vom Rest des Versöhnlereinflusses: für Demokratie und Koalition<br />

waren die Sowjets <strong>der</strong> rückständigsten Gebiete und unwichtigsten Punkte.<br />

Am 25., vom frühen Morgen an, gingen im Smolny Fraktionssitzungen. Bei den<br />

Bolschewiki waren nur jene anwesend, die von Kampfaufträgen frei waren. Die Kongreßeröffnung<br />

verzögerte sich: die bolschewistische Führung wollte vorerst mit dem<br />

Winterpalais Schluß machen. Aber auch die feindlichen Fraktionen trieben nicht zur Eile:<br />

sie mußten beschließen, was zu tun, und das war nicht leicht. Es vergingen Stunden. In<br />

den Fraktionen stritten die Unterfraktionen. Die Spaltung <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre erfolgte,<br />

nachdem die Resolution über das Verlassen des Kongresses mit zweiundneunzig<br />

gegen sechzig Stimmen abgelehnt worden war. Erst am Spätabend begannen linke und<br />

rechte Sozialrevolutionäre in getrennten Zimmern zu tagen. Die Menschewiki ersuchten<br />

uni 8 Uhr um eine neue Vertagung: bei ihnen gab es zu viele Meinungen. Die Nacht<br />

rückte näher heran. Die Operation vor dem Winterpalais zog sich hin. Doch länger zu<br />

warten, war unmöglich: man mußte dem aufhorchenden Lande ein klares Wort sagen.<br />

Die <strong>Revolution</strong> lehrte die Kunst <strong>der</strong> Verdichtung. Delegierte; Gäste, Wachen drängten<br />

sich in <strong>der</strong> Aula des Instituts für adelige Mädchen, um neuen und neuen Eintreffenden<br />

Raum zu lassen. Warnungen vor <strong>der</strong> Gefahr des Fußbodendurchbruchs blieben unbeachtet,<br />

wie auch Ermahnungen, weniger zu rauchen. Alle engten sich ein und rauchten das<br />

Doppelte. Mit Mühe bahnte sich John Reed den Weg durch die lärmende Menge an <strong>der</strong><br />

Tür. Der Saal war nicht geheizt, aber die Luft drückend und heiß.<br />

Zusammengepfercht in Saaltüren und Seitengängen, alle Fensterbretter voll besetzt,<br />

warteten die Delegierten geduldig auf die Klingel des Vorsitzenden. Auf <strong>der</strong> Tribüne<br />

waren we<strong>der</strong> Zeretelli, noch Tscheidse, noch Tschernow. Nur Führer zweiten Ranges<br />

waren zu ihrem Begräbnis erschienen. Ein Mann von kleinem Wuchs, in <strong>der</strong> Uniform<br />

eines Militärarztes, eröffnete, abends 10 Uhr 40, im Namen des Exekutivkomitees die<br />

Tagung. Der Kongreß versammele sich unter so »außerordentlichen Umständen«, daß er,<br />

Dan, den Auftrag des Zentral-Exekutivkomitees erfüllend, von einer politischen Ansprache<br />

absehen wolle: befanden sich doch seine Parteifreunde zur Stunde unter Beschießung<br />

im Winterpalais, wo sie »in aufopfern<strong>der</strong> Weise ihre Pflicht als Minister erfüllen«. Die<br />

Delegierten hatten am allerwenigsten auf den Segen des Zentral-Exekutivkomitees<br />

gewartet. Sie blickten feindselig zur Tribüne hin: falls diese Menschen politisch noch<br />

existieren, welche Beziehung haben sie zu uns und zu unserer Sache?<br />

Im Namen <strong>der</strong> Bolschewiki schlägt <strong>der</strong> Moskauer Delegierte Awanesow ein Präsidium<br />

auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Proportionalität vor: vierzehn Bolschewiki, sieben Sozialrevolutionäre,<br />

drei Menschewiki, ein Internationalist. Die Rechten lehnen sogleich die Teilnahme am<br />

Präsidium ab. Martows Gruppe hält sich vorläufig zurück: sie ist sich noch nicht schlüssig.<br />

Sieben Stimmen gehen zu den linken Sozialrevohitionären über. Der Kongreß<br />

verfolgt düster diese einleitenden Konflikte.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 738


Awanesow verliest die bolschewistischen Präsidiumskandidaten: Lenin, Trotzki,<br />

Sinowjew, Kamenjew, Rykow, Nogin, Skljanski, Krylenko, Antonow-Owssejenko,<br />

Rjasanow, Muranow, Lunatscharski, Kollontay und Stutschka. »Das Präsidium wird<br />

gebildet«, schreibt Suchanow, »aus den wichtigsten bolschewistischen Führern und<br />

sechs [in Wirklichkeit sieben] linken Sozialrevolutionären.« Als autoritäre Parteinamen<br />

werden Sinowjew und Kamenjew in das Präsidium aufgenommen, trotz ihrem Kampf<br />

gegen den Aufstand; Rykow und Nogin als Vertreter des Moskauer Sowjets; Lunatscharski<br />

und Kollontay als in jener Periode populäre Agitatoren; Rjasanow als Vertreter<br />

<strong>der</strong> Gewerkschaften; Muranow als alter Arbeiterbolschewik, <strong>der</strong> sich während <strong>der</strong><br />

Gerichtsverhandlung gegen die Dumadeputierten mutig gehalten hatte; Stutschka als<br />

Führer <strong>der</strong> lettischen Organisation; Krylenko und Skljanski als Vertreter <strong>der</strong> Armee;<br />

Antonow-Owssejenko als Leiter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Kämpfe. Das Fehlen von Swerdlows<br />

Namen läßt sich damit erklären, daß er selbst die Liste zusammengestellt und im Trubel<br />

sie keiner korrigiert hatte. Für die damaligen Parteigebräuche ist es charakteristisch, daß<br />

ins Präsidium <strong>der</strong> gesamte Stab <strong>der</strong> Gegner des Aufstandes kam: Sinowjew, Kamenjew,<br />

Nogin, Rykow, Lunatscharski, Rjasanow. Von den linken Sozialrevolutionären genoß<br />

damals in ganz Rußland Berühmtheit nur die kleine, gebrechliche und mutige Spiridonowa,<br />

die viele Jahre Katorga hinter sich hatte wegen Tötung des Henkers <strong>der</strong> Tambower<br />

Bauern. An<strong>der</strong>e "Namen" besaßen die linken Sozialrevolutionäre nicht. Dafür aber war<br />

den Rechten außer Namen schon fast nichts mehr übriggeblieben.<br />

Der Kongreß begrüßt leidenschaftlich sein Präsidium. Lenin ist nicht auf <strong>der</strong> Tribüne.<br />

Während die Fraktionen sich versammelten und berieten, saß Lenin, noch nicht<br />

abgeschminkt, in Perücke und großer Brille, in Gesellschaft von zwei - drei Bolschewiki<br />

in einem Durchgangszimmer. Unterwegs zu ihrer Fraktion blieben Dan und Skobeljew<br />

vor dem Tische <strong>der</strong> Verschwörer stehen, blickten diese prüfend an und erkannten sichtlich<br />

Lenin. Das bedeutete: es ist Zeit, die Maske abzulegen!<br />

Lenin beeilte sich aber nicht, öffentlich aufzutreten. Er wollte vorläufig noch beobachten,<br />

die Fäden fester in seinen Händen anziehen und einstweilen hinter den Kulissen<br />

bleiben. In seinen im Jahre 1924 veröffentlichten Erinnerungen schreibt Trotzki:<br />

»Im Smolny ging die erste Sitzung des zweiten Sowjetkongresses. Lenin erschien da<br />

nicht. Er blieb in einem Zimmer des Smolny, in dem, wie ich mich entsinne, aus<br />

irgendeinem Grunde kein o<strong>der</strong> fast kein Möbelstück stand. Erst später breitete jemand<br />

Decken auf dem Fußboden aus und legte zwei Kissen darauf Zusammen mit Wladimir<br />

lljitsch ruhten wir aus, nebeneinan<strong>der</strong> liegend. Aber schon nach wenigen Minuten rief<br />

man mich: "Dan 12 spricht, man muß antworten." Nach meiner Replik zurückgekehrt,<br />

legte ich mich wie<strong>der</strong> neben Wladimir Iljitsch, <strong>der</strong> selbstverständlich nicht daran<br />

gedacht harte, einzuschlafen. Wie hätte das auch sein können! Alle fünf bis zehn<br />

Minuten kam jemand aus dem Sitzungssaal gelaufen, um mitzuteilen, was dort<br />

vorgeht.«<br />

Die Glocke des Vorsitzenden kommt in Kamenjews Hände, eines jener Phlegmatiker,<br />

die von <strong>der</strong> Natur selbst bestimmt sind zum Vorsitzführen. Auf <strong>der</strong> Tagesordnung,<br />

verkündet er, stehen drei Fragen: Organisierung <strong>der</strong> Macht; Krieg und Frieden; Einberufung<br />

<strong>der</strong> Konstitutierenden Versammlung. Ein seltsames, dumpfes, beunruhigendes<br />

Krachen durchschneidet von außen her den Versammlungslärm: die Peter-Paul-Festung<br />

12 Es handelte sich wohl um Martow, dem Trotzki antwortete.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 739


ekräftigte die Tagesordnung durch einen Artillerieschuß. Eine Welle <strong>der</strong> Hochspannung<br />

durchläuft den Kongreß, <strong>der</strong> sich sogleich als das zu fühlen beginnt, was er in Wirklichkeit<br />

ist: <strong>der</strong> Konvent des Bürgerkrieges.<br />

Losowski, Gegner des Aufstandes, for<strong>der</strong>t den Bericht vom Petrogra<strong>der</strong> Sowjet. Doch<br />

das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee hat sich verspätet: die Artillerierepliken beweisen,<br />

daß <strong>der</strong> Bericht noch nicht fertig ist. Der Aufstand ist in vollem Gange. Die Führer <strong>der</strong><br />

Bolschewiki verschwinden fortwährend in dem Raume des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees,<br />

um Informationen entgegenzunehmen o<strong>der</strong> Verfügungen zu treffen. Das Echo <strong>der</strong><br />

Kämpfe dringt in den Sitzungssaal wie Flammenzungen. Bei Abstimmungen heben sich<br />

Arme hoch zwischen Bajonettspitzen. Der grau-blaue, beißende Rauch des Machorkatabaks<br />

verhüllt die herrlichen weißen Säulen und Lüster.<br />

Die Wortscharmützel <strong>der</strong> zwei Lager erhalten auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Kanonade<br />

ungeahnte Bedeutsamkeit. Das Wort verlangt Martow. Der Moment, wo die Waagschalen<br />

noch schwanken, ist sein Moment, dieses erfin<strong>der</strong>ischsten Politikers <strong>der</strong> ewigen<br />

Schwankungen. Mit seiner heiseren, tuberkulösen Stimme reagiert Martow sogleich auf<br />

die metallische Stimme <strong>der</strong> Geschütze: »Es ist unbedingt notwendig, die Kriegshandlungen<br />

auf beiden Seiten einzustellen ... Die Frage <strong>der</strong> Macht begann man mittels einer<br />

Verschwörung zu entscheiden ... Alle revolutionären Parteien sind vor eine vollendete<br />

Tatsache gestellt worden ... Der Bürgerkrieg droht mit dem Ausbruch <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />

Die friedliche Lösung <strong>der</strong> Krise kann nur durch Schaffung einer Macht erreicht<br />

werden, die von <strong>der</strong> gesamten Demokratie anerkannt ist.« Ein beträchtlicher Teil des<br />

Kongresses applaudiert. Suchanow bemerkt ironisch: »Viele und viele Bolschewiki, die<br />

den Geist <strong>der</strong> Lehre von Lenin und Trotzki nicht erfaßt haben, wären wohl froh, ebendiesen<br />

Weg zu gehen.« Dem Vorschlag zu friedlichen Verhandlungen schließen sich die<br />

linken Sozialrevolutionäre und die Gruppe <strong>der</strong> vereinigten Internationalisten an. Der<br />

rechte Flügel, vielleicht aber auch Martows nächste Gesinnungsgenossen sind überzeugt,<br />

die Bolschewiki werden den Vorschlag ablehnen. Sie irren. Die Bolschewiki schicken<br />

auf die Tribüne ihren friedliebendsten, samtweichen Redner, Lunatscharski: »Die<br />

Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki hat absolut nichts gegen Martows Vorschlag.« Die Gegner<br />

sind verblüfft. »Lenin und Trotzki kommen ihren eigenen Massen entgegen«, kommentiert<br />

Suchanow, »und entreißen damit gleichzeitig den Rechten den Boden unter den<br />

Füßen.« Martows Vorschlag wird einstimmig angenommen. »Gehen die Menschewiki<br />

und Sozialrevolutionäre jetzt weg, dann haben sie selbst über sich das Kreuz gestellt«,<br />

erwägt man in Martows Gruppe. Man dürfe deshalb hoffen, daß <strong>der</strong> Kongreß »den richtigen<br />

Weg zur Schaffung einer demokratischen Einheitsfront betreten wird«. Eine<br />

Hoffnung! Eine <strong>Revolution</strong> bewegt sich niemals nach <strong>der</strong> Diagonale.<br />

Der rechte Flügel verletzt sofort die soeben gebilligte Initiative zu friedlichen Verhandlungen.<br />

Der Menschewik Charasch, Delegierter <strong>der</strong> 12. Armee, mit Hauptmannssternen<br />

auf den Achseln, gibt eine Erklärung ab: »Politische Heuchler schlagen vor, über die<br />

Frage <strong>der</strong> Macht zu entscheiden. Indes wird sie hinter unsere Rucken entschieden... Die<br />

Schläge gegen das Winterpalais treiben Nägel in den Sarg jener Partei, die ein solches<br />

Abenteuer unternommen hat ...« Die Herausfor<strong>der</strong>ung des Hauptmanns beantwortet <strong>der</strong><br />

Kongreß mit empörtem Murren.<br />

Leutnant Kutschin, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Staatsberatung in Moskau im Namen <strong>der</strong> Front gesprochen<br />

hatte, versucht auch hier durch die Autorität <strong>der</strong> Armeeorganisationen zu wirken:<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 740


»Dieser Kongreß ist unzeitgemäß und sogar unrechtmäßig.« In wessen Namen sprechen<br />

Sie? rufen die zeffetzten Uniformmäntel, auf denen das Mandat mit dem Lehm <strong>der</strong><br />

Schützengräben geschrieben steht. Kutschin zählt sorgfältig elf Armeen auf Doch hier<br />

kann das niemand täuschen. An <strong>der</strong> Front wie im Hinterlande sind die Generale des<br />

Versöhnlertums ohne Soldaten geblieben. Die Frontgruppe, fährt <strong>der</strong> menschewistische<br />

Leutnant fort,. »lehnt jede Verantwortung für die Folgen dieses Abenteuers ab«; das<br />

bedeutet: völliger Bruch mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. »Von nun an wird die Kampfarena in die<br />

einzelnen Orte verlegt«; das bedeutet: Veremigung mit <strong>der</strong> Konterrevolution gegen die<br />

Sowjets. Und als Abschluß: »die Frontgruppe ... verläßt diesen Kongreß«.<br />

Einer nach dem an<strong>der</strong>en besteigen Vertreter <strong>der</strong> Rechten die Tribüne. Sie haben<br />

Pfarren und Kirchen verloren, aber in ihren Händen sind die Glockenstühle geblieben;<br />

sie beeilen sich zum letztenmal, die gesprungenen Glocken läuten zu lassen. <strong>Sozialisten</strong><br />

und Demokraten, die mit allen Mitteln die Verständigung mit <strong>der</strong> imperialistischen<br />

Bourgeoisie verwirklicht hatten, lehnen heute kategorisch eine Verständigung mit dem<br />

aufständischen Volke ab. Ihre politische Berechnung liegt auf <strong>der</strong> Hand: die Bolschewiki<br />

werden in wenigen Tagen herunterpurzeln; man muß sich so schnell wie möglich von<br />

ihnen abgrenzen, sogar sie stürzen helfen, um damit sich und die eigene Zukunft<br />

möglichst zu sichern.<br />

Im Namen <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> rechten Menschewiki gibt Chintschuk, ehemaliger Vorsitzen<strong>der</strong><br />

des Moskauer Sowjets und künftiger Sowjetgesandter in Berlin, eine Erklärung<br />

ab. »Die militärische Verschwörung <strong>der</strong> Bolschewiki ... stürzt das Land in Bru<strong>der</strong>krieg,<br />

sprengt die Konstituierende Versammlung, droht mit einer Kriegskatastrophe und führt<br />

zum Triumph <strong>der</strong> Konterrevolution.« Der einzige Ausweg: »Verhandlungen mit <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung über Bildung einer auf alle Schichten <strong>der</strong> Demokratie sich<br />

stützenden Regierung.« Unbelehrbar, schlagen diese Menschen dem Kongreß vor, ein<br />

Kreuz über den Aufstand zu machen und zu Kerenski zurückzukehren. Durch den Lärm,<br />

das Gebrüll und sogar Pfeifen kann man die Worte des Vertreters <strong>der</strong> rechten Sozialrevolutionäre<br />

kaum verstehen. Die Deklaration seiner Partei verkündet die »Unmöglichkeit<br />

einer gemeinsamen Arbeit« mit den Bolschewiki und erklärt den Sowjetkongreß selbst,<br />

einberufen und eröffnet durch das versöhnlerische Zentral-Exekutivkomitee, für unrechtmäßig.<br />

Die Demonstration <strong>der</strong> Rechten schreckt nicht, son<strong>der</strong>n wirkt nur störend, aufreizend.<br />

Bei den meisten Delegierten hat sich in <strong>der</strong> Seele zu viel Bitternis angesammelt über die<br />

anmaßenden und beschränkten Führer, die anfangs mit Phrasen und dann mit Repressalien<br />

fütterten. Beabsichtigen etwa die Dan, Chintschuk und Kutschin noch weiter zu<br />

belehren und zu kommandieren? Der lettische Soldat Peterson, mit <strong>der</strong> tuberkulösen Röte<br />

<strong>der</strong> Wangen und vor Haß brennenden Augen, entlarvt Charasch und Kutschin als<br />

Mandatsusurpatoren. »Genug <strong>der</strong> Resolutionen und des Geschwätzes! Wir brauchen<br />

Taten! Die Macht muß in unseren Händen liegen. Die Delegierten, die keiner hergeschickt<br />

hat, sollen den Kongreß verlassen, - die Armee ist nicht mit ihnen!« Diese vor<br />

Leidenschaft bebende Stimme erleichtert die Seele des Kongresses, auf den es bis dahin<br />

nur Beleidigungen gehagelt hat. An<strong>der</strong>e Frontler eilen Peterson zu Hilfe. »Die Kutschins<br />

vertreten die Meinung von Häuflein, die seit April in den Armeekomitees sitzen. Die<br />

Armee for<strong>der</strong>t längst <strong>der</strong>en Neuwahl.« - »Die Insassen <strong>der</strong> Schützengräben erwarten mit<br />

Ungeduld den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 741


Aber die Rechten sind noch im Besitz <strong>der</strong> Glockenstühle. Der Vertreter des "Bund"<br />

erklärt für ein »Unglück all das, was in Petrograd geschieht«, und ruft die Delegierten<br />

auf, sich den Dumaabgeordneten anzuschließen, die drauf und dran sind, unbewaffnet<br />

zum Winterpalais zu ziehen, um zusammen mit <strong>der</strong> Regierung zu sterben. »Aus dem<br />

Lärm«, schreibt Suchanow, »ertönen höhnische Bemerkungen, teils roher, teils giftiger<br />

Art.« Der pathetische Redner hat sich offenbar im Auditorium geirrt. Schluß! Deserteure!<br />

rufen Delegierte, Gäste, Rotgardisten, Soldaten <strong>der</strong> Wache den Abziehenden nach. Geht<br />

doch zu Kornilow! Volksfeinde!<br />

Der Abzug <strong>der</strong> Rechten hinterläßt keinen leeren Platz. Die grauen Delegierten lehnen<br />

es offen ab, sich Offizieren und Junkern anzuschließen für den Kampf gegen die Arbeiter<br />

und Soldaten. Von <strong>der</strong> Fraktion des rechten Flügels verließen den Saal etwa siebzig<br />

Delegierte, das heißt etwas mehr als <strong>der</strong>en Hälfte. Die Schwankenden rückten zu den<br />

Mittelgruppcn, die beschlossen hatten, den Kongreß nicht zu verlassen. Wurde vor <strong>der</strong><br />

Eröffnung <strong>der</strong> Sitzung die Zahl <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre aller Richtungen mit einhun<strong>der</strong>tneunzig<br />

gezählt, so stieg in den nächsten Stunden die Zahl allein <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre<br />

auf einhun<strong>der</strong>tachtzig: ihnen gesellten sich all jene zu, die es noch nicht wagten,<br />

sich den Bolschewiki anzuschließen, aber schon bereit waren, diese zu unterstützen.<br />

In <strong>der</strong> Provisorischen Regierung o<strong>der</strong> irgendeinem Vorparlament waren die Menschewiki<br />

und Sonalrevolurionäre bedingungslos geblieben. In <strong>der</strong> Tat, kann man denn mit <strong>der</strong><br />

gebildeten Gesellschaft brechen? Aber die Sowjets - das ist doch nur das Volk. Sowjets<br />

sind gut, solange man sich auf sie für Verständigung mit <strong>der</strong> Bourgeoisie stützen kann.<br />

Ist es aber denkbar, Sowjets zu dulden, die sich einbilden, Herren des Landes zu sein?<br />

»Die Bolschewiki blieben allein«, schrieb später <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »und<br />

von diesem Moment an begannen sie, sich nur auf die rohe physische Gewalt zu stützen.«<br />

Zweifellos hatte das moralische Prinzip gemeinsam mit Dan und Goz die Türe hinter sich<br />

zugewoffen. Das moralische Prinzip wird in einer Prozession von dreihun<strong>der</strong>t Mann, mit<br />

zwei Laternen, zum Winterpalais ziehen, um auf die rohe physische Gewalt <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

zu stoßen und - den Rückzug anzutreten.<br />

Der vom Sowjet gutgeheißene Vorschlag zu friedlichen Verhandlungen blieb in <strong>der</strong><br />

Luft hängen. Hätten die Rechten den Gedanken an eine Verständigung mit dem siegreichen<br />

Proletariat für möglich gehalten, sie hätten sich nicht so beeilt, mit dem Kongreß zu<br />

brechen. Martow muß, das einsehen. Doch er klammert sich an die Idee eines Kompromisses,<br />

mit <strong>der</strong> seine gesamte Politik steht und fällt. »Man muß das Blutvergießen<br />

einstellen« ..., beginnt er wie<strong>der</strong>. - »Das sind nur Gerüchte!« ruft man von den Plätzen. -<br />

»Hierher dringen nicht nur Gerüchte«, antwortet er, »wenn ihr zu den Fenstern geht,<br />

werdet ihr auch Kanonenschüsse hören.« Das läßt sich nicht bestreiten: schweigt <strong>der</strong><br />

Kongreß, dann hört man die Schüsse nicht nur an den Fenstern.<br />

Die von Martow verlesene Erklärung, den Bolschewiki durch und durch feindselig und<br />

in den Schlußfolgerungen leblos, verurteilt den Umsturz als »allein nur von <strong>der</strong> bolschewistischen<br />

Partei vollzogen mit den Mitteln <strong>der</strong> reinen militärischen Verschwörung« und<br />

verlangt, die Arbeit des Kongresses einzustellen bis zur Verständigung mit »allen sozialistischen<br />

Parteien«. In <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>der</strong> Resultante nachzujagen, ist schlimmer, als<br />

seinen eigenen Schatten fangen zu wollen!<br />

In diesem Moment erscheint in <strong>der</strong> Sitzung, mit Joffe, dem künftigen ersten Sowjetgesandten<br />

in Berlin, an <strong>der</strong> Spitze, die bolschewistische Fraktion <strong>der</strong> Stadtduma, die darauf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 742


verzichtet hat, den problematischen Tod vor den Mauern des Winterpalais zu suchen.<br />

Der Kongreß verdichtet sich erneut und empfängt seine Freunde mit freudigen Begrüßungen.<br />

Doch man muß Martow eine Zurückweisung erteilen. Diese Aufgabe fällt Trotzki zu.<br />

»Jetzt, nach dem Auszug <strong>der</strong> Rechten, ist seine Position«, gesteht Suchanow, »ebenso<br />

stark, wie Martows Position schwach ist.« Die Gegner stehen nebeneinan<strong>der</strong> auf <strong>der</strong><br />

Tribüne, von allen Seiten durch einen dichten Ring erregter Delegierten eingezwängt.<br />

»Das, was geschehen ist«, sagt Trotzki, »ist ein Aufstand und keine Verschwörung. Der<br />

Aufstand <strong>der</strong> Volksmassen bedarf nicht <strong>der</strong> Rechtfertigung. Wir haben die revolutionäre<br />

Energie <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten gestählt. Wir haben offen den Willen <strong>der</strong><br />

Massen für den Aufstand und nicht für die Verschwörung geschmiedet ... Unser Aufstand<br />

hat gesiegt. Und jetzt schlägt man uns vor: verzichtet auf euren Sieg, geht eine Verständigung<br />

ein. Mit wem? Ich frage: mit wem sollen wir die Verständigung eingehen? Mit<br />

jenen kläglichen Häuflein, die davongelauten sind? ... Aber wir haben sie in all ihrer<br />

Größe gesehen. Hinter ihnen steht niemand in Rußland. Mit ihnen sollen sich verständigen,<br />

als Gleiche mit Gleichen, Millionen auf diesem Kongreß vertretene Arbeiter und<br />

Bauern, die jene gegen eine Gunst <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht zum ersten - und nicht zum<br />

letztenmal auszutauschen bereit sind. Nein, hier ist eine Verständigung nicht am Platz!<br />

Jenen, die von hier weggegangen sind, wie jenen, die mit solchen Vorschlägen kommen,<br />

müssen wir sagen: ihr seid armselige Einzelgänger, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist<br />

ausgespielt, schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong>!« ...<br />

»Dann gehen wir!« schreit Martow, ohne eine Abstimmung des Kongresses abzuwarten.<br />

»Martow bahnte sich im Zorn und Affekt«, bedauert Suchanow, »den Weg zum<br />

Rampenausgang. Während ich daranging, unsere Fraktion zu einer außerordentlichen<br />

Beratung zusammenzurufen« ... Es hatte sich aber gar nicht um einen Affekt gehandelt.<br />

Ein Hamlet des demokratischen Sozialismus, machte Martow einen Schritt vorwärts,<br />

wenn die <strong>Revolution</strong> im Absteigen war, wie im Juli; jetzt, wo die <strong>Revolution</strong> daran war,<br />

einen Löwensprung zu tun, trat Martow den Rückzug an. Der Abmarsch <strong>der</strong> Rechten<br />

beraubte ihn <strong>der</strong> Möglichkeit des parlamentarischen Manövrierens. Ihm wurde sogleich<br />

ungemütlich. Er eilte, den Kongreß zu verlassen, um sich vom Aufstand loszureißen.<br />

Suchanow opponierte, so gut er konnte. Die Fraktion teilte sich in fast zwei gleiche<br />

Hälften: mit vierzehn gegen zwölf Stimmen siegte Martow.<br />

Trotzki empfiehlt dem Kongreß eine Resolution - einen Anklageakt gegen die<br />

Versöhnler: sie haben den unheilvollen Angriff vom 18. Juni vorbereitet; sie haben die<br />

Regierung des Volksverrats gestützt; sie haben den Betrug an den Bauern in <strong>der</strong> Bodenfrage<br />

gedeckt; sie haben die Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter durchgeführt; sie sind für die<br />

sinnlose Kriegsverlängerung verantwortlich; sie haben <strong>der</strong> Bourgeoisie erlaubt, den<br />

Wirtschaftszerfall zu vertiefen; nachdem sie das Vertrauen <strong>der</strong> Massen verloren, haben<br />

sie sich <strong>der</strong> Einberufung des Sowjetkongresses wi<strong>der</strong>setzt; schließlich haben sie, in die<br />

Min<strong>der</strong>heit geraten, mit den Sowjets gebrochen.<br />

Wie<strong>der</strong> eine Erklärung außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung: wahrhaftig, die Geduld des<br />

bolschewistischen Präsidiums kennt keine Grenzen. Ein Vertreter vom Exekutivkomitee<br />

<strong>der</strong> Bauemsowjets sei mit dem Auftrag gekommen, die Bauern aufzufor<strong>der</strong>n, diesen<br />

»unzeitgemäßen« Kongreß zu verlassen und zum Winterpalais zu ziehen, »um gemein-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 743


sam mit jenen zu sterben, die hingeschickt wurden, unseren Willen in die Tat<br />

umzusetzen.« Die Aufrufe, unter den Ruinen des Winterpalais zu sterben, wirken durch<br />

ihre Monotonie schon reichlich langweilig. Ein soeben im Kongreß erschienener Matrose<br />

<strong>der</strong> "Aurora" erklärt ironisch, es gäbe keine Ruinen, da man vom Kreuzer aus nur Blindschüsse<br />

abgegeben habe. »Setzt die Arbeiten unbesorgt fort.« Der Kongreß ruht seelisch<br />

aus an diesem großartigen, schwarzbärtigen Matrosen, <strong>der</strong> den einfachen und gebieterischen<br />

Willen des Aufstandes verkörpert. Martow mit seiner Gefühls- und Gedankenmosaik<br />

gehört einer an<strong>der</strong>en Welt an: deshalb eben bricht er mit dem Kongreß.<br />

Noch eine Erklärung außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung, diesmal halbfreundschaftlich: »Die<br />

rechten Soziatrevolutionäre«, sagt Kamkow, »sind weggegangen, aber wir, linken, sind<br />

geblieben.« Der Kongreß begrüßt die Dagebliebenen. Aber auch sie erachten die<br />

Verwirklichung <strong>der</strong> revolutionären Einheitsfront für notwendig und sind gegen Trotzkis<br />

scharfe Resolution, die die Türen vor einer Verständigung mit <strong>der</strong> gemäßigten Demokratie<br />

verschließt.<br />

Die Bolschewiki zeigen auch hierbei Entgegenkommen. Derart nachgiebig hat man sie<br />

wohl noch nie gesehen. Nicht verwun<strong>der</strong>lich: sie sind die Herren <strong>der</strong> Lage und haben es<br />

nicht nötig, auf Worte zu bestehen. Auf <strong>der</strong> Tribüne ist wie<strong>der</strong> Lunatscharski. »Die<br />

Schwierigkeit <strong>der</strong> Aufgabe, die uns zugefallen ist, - unterliegt keinem Zweifel.« Eine<br />

Vereinigung aller wahrhaft revolutionären Elemente <strong>der</strong> Demokratie ist notwendig. Aber<br />

haben wir, Bolschewiki, irgendeinen Schritt getan, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Gruppen abstößt? Haben<br />

wir nicht einstimmig Martows Vorschlag angenommen? Man hat uns darauf mit<br />

Beschuldigungen und Drohungen geantwortet. Ist es denn nicht offensichtlich, daß jene,<br />

die den Kongreß verlassen haben, »sogar ihre versöhnlerische Tätigkeit einstellen und<br />

offen ins Lager <strong>der</strong> Kornilowianer übergehen?«<br />

Die Bolschewiki bestehen nicht auf sofortige Abstimmung über Trotzkis Resolution:<br />

sie wollen die Versuche nicht stören, eine Verständigung auf <strong>der</strong> Sowjetbasis zu erreichen.<br />

Die Methode des Anschauungsunterrichts kann auch unter Artilleriebegleitung<br />

erfolgreich angewandt werden! Wie früher die Annahme des Martowschen Antrages, so<br />

enthüllt jetzt auch das Zugeständnis an Kamkow nur die Ohnmacht <strong>der</strong> Versöhnlerzukkungen.<br />

Zum Unterschiede von den linken Menschewiki verlassen jedoch die linken<br />

Sozialrevolutionäre den Kongreß nicht: sie verspüren allzu unmittelbar an sich selbst den<br />

Druck des aufständischen Dorfes.<br />

Die gegenseitige Abtastung ist vorgenommen. Die Ausgangspositionen sind bezogen.<br />

In <strong>der</strong> Entwicklung des Kongresses gibt's eine Stockung. Grundlegende Dekrete annehmen<br />

und eine Sowjetregierung schaffen? Unmöglich: noch sitzt die alte Regierung im<br />

Winterpalais, in dem halbdunklen Saal, wo die einzige Lampe auf dem Tisch mit einer<br />

Zeitung abgedeckt ist. Nach 2 Uhr nachts, verkündet das Präsidium eine Pause von einer<br />

halben Stunde.<br />

Die roten Marschälle nutzten die ihnen gebotene kurze Frist erfolgreich aus. Irgend<br />

etwas Neues wehte in <strong>der</strong> Kongreßatmosphäre, als die Sitzung wie<strong>der</strong> aufgenommen<br />

wurde. Kamenjew verkündet von <strong>der</strong> Tribüne herab, die soeben von Antonow übermittelte<br />

telephonische Meldung: das Winterpalais ist von den Truppen des Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitees genommen; mit Ausnahme von Kerenski ist die gesamte Provisorische<br />

Regierung mit dem Diktator Kischkin an <strong>der</strong> Spitze verhaftet. Obwohl bereits alle<br />

die Kunde von Mund zu Mund effahren hatten, fällt die offizielle Mitteilung gewichtiger<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 744


als ein Kanonensalut. Der Sprung über den Abgrund, <strong>der</strong> die revolutionäre Klasse von<br />

<strong>der</strong> Macht getrennt hatte, ist getan. Im Juli aus <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja verjagt, treten<br />

jetzt die Bolschewiki als Herrscher ins Winterpalais ein. In Rußland gibt es keine an<strong>der</strong>e<br />

Macht außer diesem Kongreß. Der komplizierte Gefühlsknäuel macht sich Luft in Beifall<br />

und Zurufen: Triumph, Hoffnung, aber auch Besorgnis. Neue, immer zuversichtlichere<br />

Beifallsausbrüche. Es ist vollbracht! Auch das allergünstigste Kräfteverhälmis birgt<br />

Überraschungen in sich. Der Sieg wird unbestreitbar, wenn <strong>der</strong> feindliche Stab gefangen<br />

ist.<br />

Kamenjew verliest eindrucksvoll die Liste <strong>der</strong> Verhafteten. Die bekanntesten Namen<br />

rufen beim Kongreß feindselige o<strong>der</strong> ironische Ausrufe hervor. Mit beson<strong>der</strong>er Erbitterung<br />

wird Tereschtschenkos Namen aufgenommen, des Lenkers <strong>der</strong> Außengeschicke<br />

Rußlands. Und Kerenski? Kerenski? Es ist bekannt, daß er um 10 Uhr morgens ohne<br />

großen Erfolg vor <strong>der</strong> Garnison in Gatschina sprach. »Wohin er sich dann begeben hat,<br />

ist nicht genau bekannt: nach Gerüchten - zur Front.«<br />

Die Mitläufer des Umsturzes fühlen sich nicht ganz wohl. Sie ahnen, daß <strong>der</strong> Schritt<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki von nun an fester werden wird. Einer <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre<br />

protestiert gegen die Gefangennahme <strong>der</strong> sozialistischen Minister. Der Vertreter <strong>der</strong><br />

vereinigten Internationalisten warnt: <strong>der</strong> Ackerbauminister Maslow könnte in die gleiche<br />

Zelle geraten, in <strong>der</strong> er unter <strong>der</strong> Monarchie saß. »Die politische Gefangennahme«,<br />

antwortet Trotzki, <strong>der</strong> unter dem Minister Maslow in dem gleichen "Kresty" gesessen<br />

hatte wie unter Nikolaus, »ist keine Frage <strong>der</strong> Rache; sie ist diktiert ... von Erwägungen<br />

<strong>der</strong> Zweckmäßigkeit. Die Regierung ... muß vor Gericht gestellt werden, in erster Linie<br />

für ihre unbestreitbare Verbindung mit Kornilow ... Die Minister-<strong>Sozialisten</strong> werden nur<br />

in Hausarrest gehalten werden.« Einfacher und präziser wäre es gewesen zu sagen, die<br />

Festnahme <strong>der</strong> alten Regierung sei diktiert von den Notwendigkeiten des noch nicht<br />

abgeschlossenen Kampfes. Es ging um die politische Enthauptung des feindlichen Lagers<br />

und nicht um Strafe für vergangene Sünden.<br />

Doch die parlamentarische Anfrage bezüglich <strong>der</strong> Verhaftungen wird sofort von einer<br />

an<strong>der</strong>en, unermeßlich wichtigeren Episode verdrängt: das 3. Radfahrerbataillon, von<br />

Kerenski gegen Petrograd geschickt, ist auf die Seite des revolutionären Volkes übergegangen!<br />

Die allzugünstige Nachricht wirkt unwahrscheinlich; aber es verhält sich<br />

dennoch so: <strong>der</strong> erlesene Truppenteil, als erster von <strong>der</strong> gesamten aktiven Armee ausgeson<strong>der</strong>t,<br />

hatte sich, noch ehe er die Hauptstadt erreichte, dem Aufstande angeschlossen.<br />

War in <strong>der</strong> Freude über die Verhaftung <strong>der</strong> Minister ein Schatten von Zurückhaltung, so<br />

erfaßt jetzt den Kongreß ungeteilte und unaufhaltsame Begeisterung.<br />

Auf <strong>der</strong> Tribüne steht <strong>der</strong> bolschewistische Kommissar von Zarskoje Selo neben dem<br />

Delegierten des Radfahrerbataillons: beide sind soeben eingetroffen, dem Kongreß<br />

Bericht zu erstatten. »Die Garnison von Zarskoje Selo bewacht die Anmarschstraßen zu<br />

Petrograd.« Die Landesverteidiger haben den Sowjet verlassen. »Die gesamte Arbeit fiel<br />

uns allein zu.« Als er vom Herannahen <strong>der</strong> Radfahrer Kenntnis erhielt, machte sich <strong>der</strong><br />

Sowjet von Zarskoje Selo auf eine Abwehr bereit. Aber die Besorgnis erwies sich zum<br />

Glück als überflüssig: »unter den Radfahrern gibt es keine Feinde des<br />

Sowjetkongresses«. Bald wird in Zarskoje ein an<strong>der</strong>es Bataillon eintreffen: diesem bereitet<br />

man schon einen freundschaftlichen Empfang vor. Der Kongreß schlürft diesen<br />

Bericht Schluck um Schluck.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 745


Der Vertreter <strong>der</strong> Radfahrer wird mit einem Sturm, einem Wirbel, einem Zyklon<br />

empfangen. Von <strong>der</strong> Südwestfront hatte man das 3. Bataillon plötzlich auf telegraphischen<br />

Befehl hin nach dem Norden kommandiert: »Petrograd verteidigen.« Die Radfahrer<br />

waren »mit verbundenen Augen« vorgerückt, nur dunkel ahnend, um was es ging.<br />

Auf <strong>der</strong> Station Peredolsk waren sie mit einer Staffel des 5. Radfahrerbataillons zusammengetroffen,<br />

die man ebenfalls nach Petrograd führte. Bei einem gemeinsamen Meering<br />

an Ort und Stelle auf <strong>der</strong> Station ergab sich, daß »unter allen Radfahrern nicht ein Mann<br />

zu finden ist, <strong>der</strong> bereit wäre, gegen die Brü<strong>der</strong> zu kämpfen«. Gemeinsam wird beschlossen:<br />

<strong>der</strong> Regierung den Gehorsam zu verweigern. »Ich erkläre euch konkret«, sagt <strong>der</strong><br />

Radfahrer, »wir werden die Macht keiner Regierung geben, an <strong>der</strong>en Spitze Bourgeois<br />

und Gutsbesitzer stehen!« Das Wort "konkret", von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in den Volksgebrauch<br />

eingeführt, klingt gut in diesem Augenblick!<br />

Ist's lange her, daß man von dieser Tribüne herab dem Kongreß mit Strafen seitens <strong>der</strong><br />

Front drohte? Jetzt hat die Front selbst ihr "konkretes" Wort gesprochen. Mögen die<br />

Armeekomitees den Kongreß sabotieren. Mag <strong>der</strong> einfachen Soldatenmasse es nur in<br />

Ausnahmefällen gelungen sein, ihre Delegierten zu schicken. Mag man in vielen<br />

Regimentern und Divisionen noch nicht gelernt haben, einen Bolschewik von einem<br />

Sozialrevolutionär zu unterscheiden. Das bleibt sich gleich! Die Stimme von <strong>der</strong> Station<br />

Peredolsk ist die echte, unbeirrte, unwi<strong>der</strong>legbare Stimme <strong>der</strong> Armee. Gegen dieses<br />

Verdikt gibt es keine Appellation, Die Bolschewiki und nur sie allein haben rechtzeitig<br />

erkannt, daß <strong>der</strong> Militärkoch des Radfahrerbataillons unermeßlich besser die Front<br />

verkörpert als alle die Charasch und Kutschin mit ihren verwesten Mandaten. In <strong>der</strong><br />

Stimmung <strong>der</strong> Delegierten vollzieht sich eine bedeutsame Wendung. »Man beginnt zu<br />

fühlen«, schreibt Suchanow, »daß die Sache glatt und glücklich verläuft, daß die von<br />

rechts angekündigten Schrecken gar nicht so gefährlich sind und daß die Führer<br />

vielleicht auch in allem an<strong>der</strong>en Recht behalten könnten.«<br />

Diesen Augenblick wählten die unglückseligen linken Menschewiki, um sich in<br />

Erinnerung zu bringen. Sie sind, wie sich herausstellt, noch nicht weggegangen. Sie<br />

haben in ihrer Fraktion nur die Frage beraten, was zu tun sei. In dem Bestreben, die<br />

schwankenden Gruppen mitzureißen, nennt Kapelinski, beauftragt, den angenommenen<br />

Beschluß dem Kongreß mitzuteilen, endlich laut das offenherzigste Argument für den<br />

Bruch mit den Bolschewiki: »Denkt daran, daß nach Petrograd Truppen unterwegs sind.<br />

Uns droht eine Katastrophe.« Was, ihr seid noch hier? ertönt es von verschiedenen<br />

Seiten des Saales. Ihr seid doch schon einmal Weggegangen! Die Menschewiki bewegen<br />

sich im kleinen Häuflein dem Ausgang zu, unter verächtlichen Geleitworten. »Wir<br />

entfernten uns«, trauert Suchanow, »und gaben den Bolschewiki die Hände völlig frei,<br />

indem wir ihnen die gesamte Arena <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> überließen.« Nicht viel hätte sich<br />

geän<strong>der</strong>t, auch wenn sie geblieben wären. Jedenfalls gehen sie auf Grund. Die Wellen<br />

<strong>der</strong> Ereignisse schließen sich unbarmherzig über ihren Köpfen.<br />

Es wäre nun Zeit, daß <strong>der</strong> Kongreß sich mit einem Aufruf an das Volk wendet. Doch<br />

besteht <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> Sitzung wie früher nur aus Erklärungen außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />

Die Ereignisse wollen sich <strong>der</strong> Tagesordnung absolut nicht anpassen. Um 5 Uhr 17<br />

Minuten, morgens besteigt schwankend vor Müdigkeit Krylenko mit einem Telegramm<br />

in <strong>der</strong> Hand die Tribüne: die 12. Armee entsendet dem Kongreß ihren Gruß und meldet<br />

die Bildung eines Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, das die Überwachung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 746


Nordfront übernahm. Versuche <strong>der</strong> Regierung, bewaffnete Hilfe zu bekommen, sind an<br />

dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Truppen zerschellt. Der Hauptkommandierende <strong>der</strong> Nordfront,<br />

General Tscheremissow, hat sich dem Komitee untergeordnet. Der Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung, Wojtinski, hat demissioniert und wartet auf den Nachfolger.<br />

Delegationen von den nach Petrograd entsandten Staffeln erklären eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n<br />

dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee ihren Anschluß an die Petrogra<strong>der</strong> Garnison. »Es<br />

trat etwas Unbeschreibliches ein«, schreibt Reed, »Menschen weinten, einan<strong>der</strong><br />

umarmend.«<br />

Lunatschanki erhält endlich die Möglichkeit, den Aufruf an die Arbeiter, Soldaten und<br />

Bauern zu verlesen. Doch ist es nicht einfach ein Aufruf: schon durch die Darstellung<br />

dessen, was geschehen und was beabsichtigt ist, legt das in aller Eile verfaßte Dokument<br />

den Grundstein zum neuen Staatsregime. »Die Vollmachten des versöhnlerischen<br />

Zentral-Exekutivkomitees sind zu Ende. Die Provisorische Regierung ist abgesetzt. Der<br />

Kongreß nimmt die Macht in seine Hände.« Die Sowjetregierung werde einen sofortigen<br />

Frieden anbieten, den Boden den Bauern übergeben, die Armee demokratisieren,<br />

Kontrolle über die Produktion errichten, beizeiten die Konstituierende Versammlung<br />

einberufen, den Nationen Rußlands das Recht auf Selbstbestimmung garantieren. »Der<br />

Kongreß bestimmt: die ganze Macht an den Orten geht auf die Sowjets über.« Je<strong>der</strong><br />

verlesene Satz löst im Saal Beifalissalven aus. »Soldaten! Seid auf <strong>der</strong> Hut! Eisenbahner!<br />

Haltet alle von Kerenski gegen Petrograd ausgesandten Staffeln auf! ... In euren Händen<br />

liegt das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und das Schicksal des demokratischen Friedens!«<br />

Als sie von Boden hören, horchen die Bauern auf. Statutengemäß vertritt <strong>der</strong> Kongreß<br />

nur die Arbeiter- und Soldatensowjets; doch nehmen an ihm auch Delegierte einzelner<br />

Bauernsowjets teil: jetzt verlangen sie, daß man auch sie im Dokument erwähne. Es wird<br />

ihnen sofort das Recht <strong>der</strong> beschließenden Stimme zugebilligt. Der Vertreter des Petrogra<strong>der</strong><br />

Bauernsowjets unterschreibt »mit Händen und Füßen« den Aufruf. Das bis jetzt<br />

schweigsam gewesene Mitglied des Awksentjewschen Exekutivkomitees, Beresin, teilt<br />

mit, daß von den achtundsechzig Bauernsowjets, die auf eine telegraphische Umfrage<br />

antworteten, die Hälfte sich für den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets ausgesprochen<br />

habe, die an<strong>der</strong>e Hälfte für den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Konstituierende Versammlung.<br />

Wenn das die Stimmung <strong>der</strong> halbbeamteten Gouvernementssowjets ist, kann man<br />

da zweifeln, daß <strong>der</strong> künftige Bauernkongreß die Sowjetmacht unterstützen wird?<br />

Während er die Delegierten im allgemeinen fester zusammenschließt, schreckt und<br />

stößt <strong>der</strong> Aufruf durch seine Unwi<strong>der</strong>ruflichkeit manchen Mitläufer ab. Wie<strong>der</strong> defilieren<br />

auf <strong>der</strong> Tribüne kleine Fraktionen und Absplitterungen. Zum drittenmal bricht mit dem<br />

Kongreß ein Häuflein Menschewiki, wohl die allerlinkesten. Es zeigt sich, daß sie<br />

weggehen, nur um die Möglichkeit zu behalten, die Bolschewiki zu retten: »an<strong>der</strong>nfalls<br />

richtet ihr euch, uns und die <strong>Revolution</strong> zugrunde«. Der Vertreter <strong>der</strong> polnischen sozialistischen<br />

Partei, Lapinski, bleibt zwar auf dem Kongreß, um »den eigenen Standpunkt bis<br />

zu Ende zu verteidigen«, schließt sich jedoch im Wesen Martows Resolution an: »die<br />

Bolschewiki werden mit <strong>der</strong> Macht, die sie übernehmen, nicht fertigwerden«. Die vereinigte<br />

jüdische Arbeiterpartei enthält sich <strong>der</strong> Abstimmung. Ebenso die vereinigten Internationalisten.<br />

Wieviel werden alle diese "Vereinigten" zusammen ausmachen? Der<br />

Aufruf wird mit allen gegen zwei Stimmen, bei zwölf Stimmenthaltungen, angenommen!<br />

Die Kräfte <strong>der</strong> Delegierten reichen kaum noch für den Beifall aus.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 747


Die Sitzung wird endlich gegen 7 Uhr morgens geschlossen. Über <strong>der</strong> Stadt dämmert<br />

ein kalter, grauer Herbstmorgen. In den sich allmählich erhellenden Straßen erlöschen<br />

die brennenden Flecke <strong>der</strong> Holzfeuer. Die fahlen Gesichter <strong>der</strong> Soldaten und <strong>der</strong> Arbeiter<br />

mit Gewehren sind verschlossen und ungewöhnlich. Hat es in Petrograd Astrologen<br />

gegeben, sie müssen wichtige Himmelserscheinungen beobachtet haben.<br />

Die Hauptstadt erwacht unter einer neuen Macht. Einwohner, Beamte, Intellektuelle,<br />

mit <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong> Ereignisse nicht verbunden, stürzen sich morgens auf die Zeitungen,<br />

um zu erfahren, an welches Ufer die nächtliche Welle sie geschlagen hat. Doch ist es<br />

nicht leicht, Klarheit darüber zu gewinnen, was vorgefallen ist. Zwar berichten die<br />

Zeitungen, die Verschwörer hätten sich des Winterpalais und <strong>der</strong> Minister bemächtigt,<br />

aber doch nur wie über eine flüchtige Episode. Kerenski sei ins Hauptquartier abgereist,<br />

über das Schicksal <strong>der</strong> Regierung werde die Front entscheiden. Kongreßberichte bringen<br />

nur die Erklärungen <strong>der</strong> Rechten, führen die Namen jener an, die den Kongreß verlassen<br />

haben, und entlarven die Ohnmacht <strong>der</strong> Verbliebenen. Die politischen Artikel, geschrieben<br />

noch vor <strong>der</strong> Einnahme des Winterpalais, atmen wolkenlosen Optimismus.<br />

Die Gerüchte <strong>der</strong> Straße entsprechen nicht ganz dem Ton <strong>der</strong> Zeitungen. Immerhin<br />

säßen die Minister ja in <strong>der</strong> Festung. Von Kerenskis Verstärkungen sei vorläufig nichts<br />

zu sehen. Beamte und Offiziere sind erregt und beraten miteinan<strong>der</strong>. Journalisten und<br />

Advokaten telephonieren sich gegenseitig an. Die Redaktionen sammeln ihre Gedanken.<br />

Die Salonorakel sagen: man müsse die Usurpatoren mit einer Blockade allgemeiner<br />

Verachtung umgeben. Kaufleute sind im Zweifel: sollen sie die Läden öffnen o<strong>der</strong><br />

geschlossen halten. Die neue Behörde befiehlt, die Läden zu öffnen. Die Restaurants<br />

werden aufgemacht. Die Trambahn fährt. Die Banken werden von schlimmen Ahnungen<br />

gequält. Die Seismographen <strong>der</strong> Börse zeichnen eine konvulsive Kurve. Gewiß, die<br />

Bolschewiki werden sich nicht lange halten, aber bevor sie stürzen, können sie viel<br />

Unheil anrichten.<br />

Der reaktionäre französische Journalist Claude Anet schrieb an diesem Tage: »Die<br />

Sieger singen ein Siegeslied. Und mit vollem Recht. Zwischen all diesen Schwätzern<br />

haben sie gehandelt ... Heute ernten sie die Früchte. Bravo! Tüchtige Arbeit.« Ganz<br />

an<strong>der</strong>s schätzten die Menschewiki die Lage ein. »Vierundzwanzig Stunden sind im<br />

ganzen seit dem "Siege" <strong>der</strong> Bolschewiki vergangen«, schrieb Dans Zeitung, »aber schon<br />

beginnt das historische Geschick sich bitter an ihnen zu rächen ..., um sie herrscht eine<br />

Leere, die sie selbst geschaffen haben ..., sie sind von allen isoliert ..., <strong>der</strong> gesamte<br />

beamtete und technische Apparat verweigert ihnen den Dienst ... Sie ... stürzen just im<br />

Moment ihres Triumphes in den Abgrund .«<br />

Von <strong>der</strong> Beamtensabotage und dem eigenen Leichtsinn ermuntert, glaubten die liberalen<br />

und die Versöhnlerkreise seltsamerweise an ihre Straffreiheit. Über die Bolschewiki<br />

redete und schrieb man in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Julitage: »Wilhelms Mietlinge«, »die Taschen<br />

<strong>der</strong> Rotgardisten sind mit deutscher Mark angefüllt«, »den Aufstand befehligten deutsche<br />

Offiziere«... Die neue Macht mußte diesen Menschen erst ihre feste Hand zeigen, ehe sie<br />

begannen, an diese zu glauben. Die zügellosesten <strong>der</strong> Zeitungen wurden schon in <strong>der</strong><br />

Nacht auf den 26. beschlagnahmt. Einige an<strong>der</strong>e während des Tages konfisziert. Die<br />

sozialistische Presse blieb fürs erste geschont: man mußte den linken Sozialrevolutionären,<br />

aber auch einigen Elementen <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, Zeit lassen, sich zu<br />

überzeugen von <strong>der</strong> Grundlosigkeit <strong>der</strong> Hoffnungen auf eine Koalition mit <strong>der</strong> offiziellen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 748


Demokratie.<br />

Zwischen Sabotage und Chaos entwickelten die Bolschewiki ihren Sieg weiter. Der in<br />

<strong>der</strong> Nacht gebildete provisorische Kriegsstab ging an die Verteidiger Petrograds für den<br />

Fall eines Angriffs seitens Kerenskis. In die Telephonzentrale, wo ein Streik begann,<br />

wurden militärische Telephonisten abkommandiert. Den Armeen wurde vorgeschlagen,<br />

eigene Militärische <strong>Revolution</strong>skomitees zu schaffen. An die Front und in die Provinz<br />

entsandte man haufenweise nach dem Siege frei gewordene Agitatoren und Organisatoren.<br />

Das Zentralorgan <strong>der</strong> Partei schrieb: »Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet hat begonnen - die<br />

Reihe ist nun an den an<strong>der</strong>en Sowjets.«<br />

Im Laufe des Tages kam eine Nachricht, die beson<strong>der</strong>s die Soldaten in Harnisch brachte:<br />

Kornilow ist geflüchtet. In Wirklichkeit war <strong>der</strong> hohe Arrestant, <strong>der</strong> in Bychow unter<br />

Schutz <strong>der</strong> ihm treu ergebenen Tekiner lebte und durch Kerenskis Hauptquartier über alle<br />

Ereignisse informiert wurde, am 26. zu <strong>der</strong> Einsicht gelangt, die Sache nehme eine ernste<br />

Wendung, und hatte ohne alle Schwierigkeiten sein Scheingefängnis verlassen. Die<br />

Verbindung zwischen Kerenski und Kornilow erhielt vor den Augen <strong>der</strong> Massen neuerdings<br />

anschauliche Bestätigung. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee rief telegraphisch<br />

Soldaten und revolutionäre Offiziere auf, beide ehemaligen Höchstkommandierenden zu<br />

fangen und nach Petrograd zu bringen.<br />

Wie im Februar das Taurische Palais, so wurdejetzt das Smolny Mittelpunkt aller<br />

Hauptstadt- und Staatsfunktionen. Hier tagten sämtliche Regierungsinstitutionen. Von<br />

hier ergingen die Befehle, und hierher kam man, sie in Empfang zu nehmen. Hier wurden<br />

Waffen angefor<strong>der</strong>t, und hierher wurden die bei den Feinden konfiszierten Gewehre und<br />

Revolver gebracht. Aus verschiedenen Stadtteilen lieferte man Gefangene ein. Schon<br />

strömten, Recht suchend, Gekränkte herbei. Das bürgerliche Publikum und die verängstigten<br />

Droschkenkutscher machten um den Smolnybezirk einen großen Bogen.<br />

Das Automobil ist ein viel echteres Zeichen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Macht als Zepter und<br />

Krone. Während des Regimes <strong>der</strong> Doppelherrschaft waren die Automobile unter Regierung,<br />

Zentral-Exekutivkomitee und Privatbesitzern verteilt. Jetzt konzentrierten sich alle<br />

beschlagnahmten Kraftwagen im Lager des Aufstandes. Der Smolnybezirk ähnelte einer<br />

gigantischen Feldgarage. Die besten Automobile qualmten vom schlechten Brennstoff.<br />

Die Motorrä<strong>der</strong> knatterten ungeduldig und bedrohlich im Halbdunkel. Die Panzerwagen<br />

heulten mit den Sirenen. Das Smolny schien Fabrik, Bahnhof und Kraftzentrale <strong>der</strong><br />

Umwälzung.<br />

Über die Trottoirs <strong>der</strong> anliegenden Straßen zogen Menschen im dichten Strom. An den<br />

Außen- und Innentoren brannten Holzfeuer. In ihrem flackernden Lichte prüften bewaffnete<br />

Arbeiter und Soldaten streng die Passierscheine. Einige Panzerwagen ratterten im<br />

Hofe mit den angestellten Motoren. Niemand woflte stillstehen, we<strong>der</strong> Maschinen noch<br />

Menschen. An jedem Eingang waren Maschinengewehre, versehen mit zahlreichen<br />

Patronenstreifen. Die endlosen, schwach erhellten, düsteren Korridore hallten von<br />

Stiefelgestampf, Stimmen und Rufen. Kommende und Gehende hasteten die breiten<br />

Treppen auf und nie<strong>der</strong>. Die dichte Menschenlava durchschnitten einzelne ungeduldig<br />

und herrisch, Arbeiter des Smolny, Kuriere, Kommissare, mit Mandaten o<strong>der</strong> Befehlen in<br />

<strong>der</strong> erhobenen Hand, die Flinte an einem Strick auf dem Rücken o<strong>der</strong> die Aktentasche<br />

unterm Arm.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 749


Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee unterbrach die Arbeit nicht für eine Minute,<br />

empfing Delegierte, Kuriere, freiwillige Informatoren, aufopfernde Freunde und auch<br />

Gauner, entsandte in alle Winkel <strong>der</strong> Stadt Kommissare, drückte zahllose Stempel auf<br />

Befehle und Vollmachten - all das unter einem Kreuzfeuer von Auskünften, Eilnachrichten,<br />

Telephonläuten und Waffengeklirr. Erschöpfte Menschen, die seit langem nicht<br />

geschlafen und nichts mehr gegessen hatten, unrasiert, in schmutziger Wäsche, mit<br />

entzündeten Augen, schrien mit heiseren Stimmen, gestikulierten übertrieben, und fielen<br />

sie nicht bewußtlos um, so, wie es schien, nur infolge des sie umgebenden Chaos, das sie<br />

herumwirbelte und auf seinen ungezügelten Flügeln trug.<br />

Abenteurer, Hochstapler, <strong>der</strong> schlimmste Auswurf <strong>der</strong> alten Regime schnupperten in<br />

<strong>der</strong> Luft herum und suchten Passierscheine zum Smolny. Einige fanden auch. Sie wußten<br />

irgendein kleines Geheimnis <strong>der</strong> Verwaltung: wer die Schlüssel zum diplomatischen<br />

Briefwechsel hat, wie Kassenscheine geschrieben werden, wie man in den Besitz von<br />

Benzin o<strong>der</strong> einer Schreibmaschine gelangen kann, und hauptsächlich, wo die besten<br />

Schloßweine aufbewahrt werden. Ins Gefängnis o<strong>der</strong> vor die Kugel gerieten sie nicht<br />

sogleich.<br />

Seit Erschaffung <strong>der</strong> Welt waren nicht so viel Befehle erteilt worden, mündlich, mit<br />

Bleistift, auf <strong>der</strong> Schreibmaschine, telephonisch, einer dem an<strong>der</strong>n nacheilend -<br />

Tausende, Myriaden Befehle -, nicht immer durch jene, die dazu befugt waren, und<br />

selten für einen, <strong>der</strong> fähig war, ihn auszuführen. Doch darin bestand eben das Wun<strong>der</strong>,<br />

daß in diesem verrückten Wirbel ein innerer Sinn war; den Menschen gelang es, sich zu<br />

verständigen, das Wichtigste und Dringlichste wurde doch erledigi; um den alten<br />

Verwaltungsapparat abzulösen, spannten sich die ersten Fäden des neuen, die <strong>Revolution</strong><br />

erstarkte.<br />

Tagsüber arbeitete im Smolny das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki: Es stand die Frage<br />

<strong>der</strong> neuen Regierung in Rußland zur Entscheidung. Protokolle wurden nicht geführt o<strong>der</strong><br />

sind nicht erhalten geblieben. Niemand sorgte sich um die künftigen Historiker, obwohl<br />

gerade für sie nicht wenig Mühe vorbereitet wurde. In <strong>der</strong> Abendsitzung des Kongresses<br />

soll das Ministerkabinett gebildet werden. Mini-ster? Welch kornpromittiertes Wort! Es<br />

stinkt nach hoher bürokratischer Karriere o<strong>der</strong> Krönung des Parlamentsehrgeizes. Man<br />

kommt überein, die Regierung als Rat <strong>der</strong> Volkskommissare zu bezeichnen: das klingt<br />

immerhin frischer. Da die Verhandlungen über eine Koalition <strong>der</strong> "gesamten<br />

Demokratie" vorläufig zu keinem Ergebnis geführt haben, vereinfacht sich die Frage <strong>der</strong><br />

parteimäßigen und personellen Zusammensetzung <strong>der</strong> Regierung. Die linken Sozialrevolutionäre<br />

zieren sich und machen Umstände: sie, die soeben mit Kerenskis Partei gebrochen,<br />

wissen selbst noch nicht recht, was mit sich anzufangen. Das Zentralkomitee<br />

akzeptiert noch als das einzig Denkbare Lenins Vorschlag: eine Regierung nur aus<br />

Bolschewiki zu bilden.<br />

An die Türe dieser Sitzung klopfte Martow an, als Bittgänger für die verhafteten<br />

Minister-<strong>Sozialisten</strong>. Vor gar nicht so langer Zeit hatte er sich bei den Minister-<strong>Sozialisten</strong><br />

für eine Befreiung <strong>der</strong> Bolschewiki verwendet. Das Rad hatte eine tüchtige Drehung<br />

gemacht. Durch ein zu Martow für Verhandlungen hinausgesandtes Mitglied, am<br />

wahrscheinlichsten Kamenjew, ließ das Zentralkomitee wie<strong>der</strong>holen, die Minister-<strong>Sozialisten</strong><br />

würden in Hausarrest übergeführt werden: allem Anschein nach hätte man sie in<br />

<strong>der</strong> Arbeit vergessen, o<strong>der</strong> aber sie hatten die Privilegien abgelehnt, um auch in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 750


Trubetzkoi-Festung das Prinzip <strong>der</strong> ministeriellen Solidarität zu wahren<br />

Die Kongreßsitzung begann um 9 Uhr abends. »Das Bild unterschied sich im allgemeinen<br />

nicht sehr vom gestrigen. Weniger Waffen, weniger Gedränge.« Suchanow, nun<br />

nicht mehr als Delegierter anwesend, son<strong>der</strong>n unter dem Publikum, hat sogar einen freien<br />

Platz gefunden. In dieser Sitzung stand bevor, die Fragen über Frieden, Boden und<br />

Regierung zu entscheiden. Nur drei Fragen: den Krieg beenden, dem Volke Boden<br />

geben, die sozialistische Diktatur errichten. Kamenjew beginnt mit dem Bericht über die<br />

vom Präsidium während des Tages geleistete Arbeit die Todesstrafe an <strong>der</strong> Front, von<br />

Kerenski eingeführt, ist abgeschafft die Agitationsfreiheit in vollem Umfange wie<strong>der</strong>hergestellt<br />

Befehl erteilt, die wegen politischer Überzeugung festgesetzten Soldaten und die<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Landkomitees aus den Gefängnissen zu befreien; sämtliche Kommissare<br />

<strong>der</strong> Provisorischen Regierung sind abgesetzt; es ist befohlen, Kerenski und Kornilow zu<br />

verhaften und herbeizuschaffen. Der Kongreß billigt und bestätigt.<br />

Wie<strong>der</strong>um treten unter Ungeduld und Mißfallen des Saales irgendwelche Splitter von<br />

Splittern auf: die einen erklären, sie gingen weg »im Augenblick des Sieges des Aufstandes,<br />

nicht aber im Augenblick <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage«, die an<strong>der</strong>en dagegen rühmen sich dessen,<br />

daß sie dableiben. Der Vertreter <strong>der</strong> Donez-Bergarheiter ermahnt, eiligst Maßnahmen zu<br />

ergreifen, damit Kaledin nicht den Norden von <strong>der</strong> Kohle abschneidet. Es wird nicht<br />

wenig Zeit vergehen, bis die <strong>Revolution</strong> gelernt hat, Maßnahmen von solchem Umfange<br />

zu ergreifen. Endlich kann man zum ersten Punkt <strong>der</strong> Tagesordnung übergehen.<br />

Lenin, den <strong>der</strong> Kongreß noch nicht gesehen hat, erhält das Wort zur Friedensfrage.<br />

Sein Erscheinen auf <strong>der</strong> Tribüne ruft nicht endenwollende Begrüßungen hervor. Die<br />

Schützengrabendelegierten betrachten mit großen Augen den geheimnisvollen Mann, den<br />

man sie hassen gelehrt und den sie lieben gelernt haben, ehe sie ihn sahen. »Die Hände<br />

fest am Rand des Rednerpultes und mit seinen kleinen Augen die Menge betrachtend,<br />

steht Lenin wartend, offensichtlich ohne die nicht endende Ovation zu beachten, die<br />

Minuten andauert. Als <strong>der</strong> Beifallssturm verstummte, sagte er einfach: "Wir beginnen<br />

jetzt mit dem Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen Ordnung."«<br />

Kongreßprotokolle sind nicht erhalten geblieben. Die zur Nie<strong>der</strong>schrift <strong>der</strong> Verhandlungen<br />

hinzugezogenen Parlamentsstenographinnen hatten zusammen mit den Menschewiki<br />

und Sozial-revolutionären das Smolny verlassen: das war eine <strong>der</strong> ersten<br />

Sabotageepisoden. Die Aufzeichnungen <strong>der</strong> Schriftführer sind im Strudel <strong>der</strong> Ereignisse<br />

spurlos untergegangen. Es sind nur hastige und tendenziöse Zeitungsberichte erhalten<br />

geblieben, geschrieben unter den Klängen <strong>der</strong> Artillerie und dem Zähneknirschen des<br />

politischen Kampfes. Beson<strong>der</strong>s gelitten haben Lenins Reden: infolge des schnellen<br />

Sprechens und <strong>der</strong> komplizierten Satzkonstruktion ließen sie sich auch unter günstigeren<br />

Bedingungen nicht leicht nie<strong>der</strong>schreiben. Jener Einleitungssatz, den John Reed Lenin in<br />

den Mund legt, ist in keinem Zeitungsbericht enthalten. Doch er entspricht durchaus dem<br />

Geiste des Redners. Ausdenken konnte John Reed ihn nicht. Gerade so muß Lenin sein<br />

Auftreten auf dem Sowjetkongreß eingeleitet haben, einfach, ohne Pathos, mit unerschütterlicher<br />

Sicherheit: »Wir beginnen jetzt mit dem Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen Ordnung.«<br />

Aber dazu ist vor allem nötig, mit dem Kriege Schluß zu machen. in <strong>der</strong> Schweizer<br />

Emigration hatte Lenin die Losung erhoben: den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg<br />

umzuwandeln. Jetzt heißt es, den siegreichen Bürgerkrieg in den Frieden<br />

umzuwandeln. Der Referent beginnt sofort mit <strong>der</strong> Verlesung des Entwurfs <strong>der</strong> Deklara-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 751


tion, die von <strong>der</strong> jetzt zu wählenden Regierung herausgegeben werden soll. Der Text<br />

wird nicht verteilt: <strong>der</strong> technische Apparat ist noch sehr schwach. Der Kongreß dringt<br />

gierig in jedes Wort des Dokuments ein.<br />

»Die Arbeiter- und Bauernregierung, aus <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vom 25. und 26. Oktober<br />

hervorgegangen und gestützt auf die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten,<br />

schlägt allen kriegführenden Völkern und <strong>der</strong>en Regierungen vor, unverzüglich<br />

in Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden einzutreten.«<br />

Gerechte Bedingungen schließen Annexionen und Kontributionen aus. Unter Annexionen<br />

ist gewaltsame Einverleibung frem<strong>der</strong> Völker o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Festhaltung gegen ihren<br />

Willen zu verstehen, in Europa wie in den fernen überseeischen Län<strong>der</strong>n. »Gleichzeitig<br />

erklärt die Regierung, daß sie keinesfalls die obengenannten Friedensbedingungen als<br />

ultimativ betrachtet, das heißt, daß sie bereit ist, auch jede an<strong>der</strong>e Bedingung zu prüfen«,<br />

sie verlangt nur schnellste Einleitung <strong>der</strong> Verhandlungen vor aller Öffentlichkeit. Ihrerseits<br />

schafft die Sowjetregierung die Geheimdiplomatie ab und schreitet an die Veröffentlichung<br />

<strong>der</strong> bis zum 25. Oktober 1917 abgeschlossenen Geheimverträge. Alles, was<br />

in diesen Verträgen darauf abzielt, den <strong>russischen</strong> Gutsbesitzern und Kapitalisten Privilegien<br />

und Vorteile zu sichern und an<strong>der</strong>e Völker durch die Großrussen zu unterdrücken,<br />

»wird von <strong>der</strong> Regierung bedingungslos und sofort annulliert«. Um in die Verhandlungen<br />

einzutreten, regt die Regierung den Abschluß eines sofortigen Waffenstillstandes<br />

von mindestens drei Monaten an. Mit ihrem Vorschlag wendet sich die Arbeiter- und<br />

Bauernregierung gleichzeitig »an die Regierungen und an die Völker aller kriegführenden<br />

Län<strong>der</strong> ..., insbeson<strong>der</strong>e an die klassenbewußten Arbeiter <strong>der</strong> drei fortgeschrittensten<br />

Nationen«, England, Frankreich und Deutschland, in <strong>der</strong> Überzeugung, daß gerade<br />

diese »uns helfen werden, erfolgreich die Sache des Friedens und damit die Sache <strong>der</strong><br />

Befreiung <strong>der</strong> werktätigen und ausgebeuteten Mass-sen von jeglicher Sklaverei und jeglicher<br />

Ausbeutung zu Ende zu führen«.<br />

Lenin beschränkt sich auf kurze Erläuterungen zum Text <strong>der</strong> Deklaration. »Wir dürfen<br />

die Regierungen nicht ignorieren, da dies den Abschluß des Friedens hinauszögern<br />

könnte ..., doch haben wir nicht das Recht, uns nicht gleichzeitig auch an die Völker zu<br />

wenden. Überall sind Regierungen und Völker uneins, wir aber müssen den Völkern<br />

helfen, sich in die Fragen von Krieg und Frieden einzumischen« ... »Wir werden selbstverständlich<br />

unser Programm eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen mit<br />

allen Mitteln verteidigen«, doch wir dürfen unsere Bedingungen nicht ultimativ gestalten,<br />

um den Regierungen eine Ablehnung <strong>der</strong> Verhandlungen nicht zu erleichtern. Wir<br />

werden auch alle an<strong>der</strong>en Vorschläge prüfen. »Prüfen - das bedeutet noch nicht, daß wir<br />

sie annehmen werden.«<br />

Das von den Versöhnlern am 14. Mai herausgegebene Manifest hatte den Arbeitern <strong>der</strong><br />

übrigen Län<strong>der</strong> vorgeschlagen, im Namen des Friedens die Bankiers zu stürzen; die<br />

Versöhnler selbst aber hatten nicht nur zum Sturze <strong>der</strong> eigenen Bankiers aufgeruien,<br />

son<strong>der</strong>n mit diesen ein Bündnis abgeschlossen. »Jetzt haben wir die Regierung <strong>der</strong><br />

Bankiers gestürzt.« Das gibt uns das Recht, auch die an<strong>der</strong>en Völker dazu aufzurufen.<br />

Wir haben alle Hoffnung auf den Sieg: »man darf nicht vergessen, daß wir nicht in <strong>der</strong><br />

Tiefe Afrikas wohnen, son<strong>der</strong>n in Europa, wo alles schnell bekannt werden kann«. Das<br />

Siegespfand sieht Lenin, wie stets, in <strong>der</strong> Umwandlung <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> in eine<br />

internationale. »Die Arbeiterbewegung wird siegen und sich den Weg zu Frieden und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 752


Sozialismus bahnen.«<br />

Die linken Sozialrevolutionäre lassen durch ihren Vertreter erklären, daß sie sich <strong>der</strong><br />

verkündeten Deklaration anschlössen: <strong>der</strong>en »Geist und Sinn ihnen verwandt und<br />

verständlich ist«. Die vereinigten Internationalisten sind für die Deklaration, aber unter<br />

<strong>der</strong> Bedingung, daß sie von einer Regierung <strong>der</strong> gesamten Demokratie ausgeht. Lapinski<br />

begrüßt namens <strong>der</strong> polnischen linken Menschewiki »den gesunden proletarischen<br />

Realismus« des Dokuments, Dserschinski von <strong>der</strong> Sozialdemokratie Polens und Litauens,<br />

Stutschka von <strong>der</strong> Sozialdemokratie Lettlands, Kapsukas von <strong>der</strong> litauischen Sozialdemokratie<br />

schließen sich <strong>der</strong> Deklaration vorbehaltlos an. Mit Einwendungen trat nur <strong>der</strong><br />

Bolschewik Jeremejew auf <strong>der</strong> verlangte, daß den Friedeusbedingungen ultimativer<br />

Charakter verliehen werde; an<strong>der</strong>nfalls »könnte man glauben, wir seien schwach, wir<br />

hätten Angst«.<br />

Lenin wi<strong>der</strong>spricht entschieden, ja sogar ungehalten einer ultimativen Formulierung<br />

<strong>der</strong> Bedingungen: damit würden wir nur »unseren Feinden die Möglichkeit geben, die<br />

volle Wahrheit vor dem Volke zu verheimlichen, sie hinter unserer Unversöhnlichkeit zu<br />

verbergen«. Man sagt, daß »unsere nicht ultimative Form unsere Ohnmacht zeigen<br />

würde«. Es ist Zeit, auf die bürgerliche Verlogenheit in <strong>der</strong> Politik zu verzichten. »Wir<br />

brauchen uns nicht zu fürchten, die Wahrheit über die Müdigkeit auszuspreehen« ... Die<br />

späteren Brest-Litowsker Meinungsverschiedenheiten leuchten bereits durch diese<br />

Episode hindurch.<br />

Kamenjew for<strong>der</strong>t auf: wer für die Deklaration ist, möge seine Delegiertenkarte<br />

hochheben. »Ein Delegierter«, schreibt Reed, »wagt es, die Hand dagegen zu erheben,<br />

doch <strong>der</strong> Ausbruch <strong>der</strong> Empörung um ihn herum zwingt ihn, die Hand<br />

herunterzulassen.« Der Appell an die Völker und die Regierungen wird einstimmig<br />

angenommen. Es ist vollbracht! Dieser Akt packt alle Teilnehmer durch die Greifbarkeit<br />

und Nähe seiner Größe.<br />

Suchanow, <strong>der</strong> aufmerksame, wenn auch voreingenommene Beobachter, hatte mehr als<br />

einmal den trägen Verlauf <strong>der</strong> ersten Sitzung des Kongresses vermerkt. Unbestreitbar<br />

waren die Delegierten wie das ganze Volk müde <strong>der</strong> Versammlungen, Kongresse, Reden,<br />

Resolutionen, überhaupt des ganzen Herumstampfens auf einem Platze. Sie waren sich<br />

dessen nicht sicher, daß dieser Kongreß es verstehen und fähig sein würde, die Sache zu<br />

Ende zu führen. Wird nicht das Grandiose <strong>der</strong> Aufgaben und das Unüberwindliche <strong>der</strong><br />

Wi<strong>der</strong>stände zwingen, auch diesmal den Rückzug anzutreten? Zustrom von Sicherheit<br />

brachten die Nachrichten von <strong>der</strong> Einnahme des Winterpalais und danach von dem<br />

Übergang <strong>der</strong> Radfahrer auf die Seite des Aufstandes. Doch diese beiden Tatsachen<br />

hatten sich bezogen auf die Mechanik <strong>der</strong> Umwälzung. Erst jetzt enthüllte sich in<br />

Wirklichkeit ihr historischer Sinn. Der siegreiche Aufstand hatte dem Kongreß <strong>der</strong><br />

Arbeiter und Soldaten das unerschütterliche Fundament <strong>der</strong> Macht errichtet. Die<br />

Delegierten stimmten diesmal ab, nicht für eine Resolution, nicht für einen Aufruf,<br />

son<strong>der</strong>n für einen Regierungsakt von unermeßlicher Bedeutung.<br />

Höret, Völker! Die <strong>Revolution</strong> bietet euch den Frieden an. Man wird sie <strong>der</strong> Verletzung<br />

von Verträgen anklagen. Aber sie ist stolz darauf Bündnisse blutiger Raubgier zu<br />

zerreißen, ist größtes historisches Verdienst. Die Bolschewiki haben's gewagt. Sie allein<br />

haben es gewagt. Stolz sprengt die Brust. Die Augen brennen. Alle haben sich erhoben.<br />

Niemand raucht mehr. Es scheint, als atme niemand. Präsidium, Delegierte, Gäste,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 753


Wachen verschmelzen in den Hymnus des Aufstandes und <strong>der</strong> Verbrü<strong>der</strong>ung. »Plötzlich,<br />

wie auf einen gemeinsamen Impuls«, wird John Reed, Beobachter und Teilnehmer,<br />

Chronist und Poet <strong>der</strong> Umwälzung, uns bald erzählen, »standen wir alle und fielen in die<br />

aufrüttelnden Klänge <strong>der</strong> "<strong>Internationale</strong>" ein. Ein alter, ergrauter Soldat weinte wie ein<br />

Kind. Alexandra Kollontay blinzelte mit den Augen, um nicht in Tränen auszubrechen.<br />

Die mächtigen Klänge brausten durch den Saal, drangen durch Fenster und Türen und<br />

stiegen zum Himmel empor.« Zum Himmel? Eher zu den herbstlichen Schützengräben,<br />

die das unglückliche gekreuzigte Europa durchschnitten, zu dessen verwüsteten Städten<br />

und Dörfern, zu den Frauen und Müttern in Trauer. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde,<br />

die stets man noch zum Hunger zwang!« Die Worte <strong>der</strong> Hymne befreiten sich von ihrem<br />

bedingten Charakter. Sie verschmolzen mit dem Regierungsakt. Deshalb klang aus ihnen<br />

die Kraft <strong>der</strong> direkten Tat. Je<strong>der</strong> fühlte sich größer und bedeuten<strong>der</strong> in dieser Stunde. Das<br />

Herz <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> dehnte sich aus über die ganze Welt. »Uns aus dem Elend zu<br />

erlösen ...« Den Geist <strong>der</strong> Selbständigkeit, Initiative, Kühnheit, jene glückseligen Gefühle,<br />

<strong>der</strong>en die Unterdrückten unter den üblichen Lebensbedingungen beraubt sind, das<br />

brachte jetzt die <strong>Revolution</strong> ... »Das können nur wir selber run!« Wir, die Millionen, die<br />

Monarchie und Bourgeoisie gestürzt haben, werden jetzt den Krieg erdrosseln. Der<br />

Rotgardist des Wyborger Bezirks, <strong>der</strong> graue Frontler mit <strong>der</strong> Narbe, <strong>der</strong> alte<br />

<strong>Revolution</strong>är, <strong>der</strong> Jahre Katorga hinter sich hat, <strong>der</strong> junge schwarzbärtige Matrose von<br />

<strong>der</strong> "Aurora", alle schwören, den letzten, entscheidenden Kampf zu Ende kämpfen zu<br />

wollen. »Wir wollen neu die Welt erbauen!« Erbauen. In diesem Wort, das sich <strong>der</strong><br />

menschlichen Brust entrang, waren schon die späteren Jahre des Bürgerkrieges und die<br />

künftigen Fünfjahrpläne <strong>der</strong> Arbeit und Entbehrungen enthalten. »Nichts sind wir, laßt<br />

uns alles sein!« Alles! Wenn mehr als einmal die Wirklichkeit <strong>der</strong> Vergangenheit zum<br />

Liede wurde, warum soll nicht ein Lied morgige Wirklichkeit werden? Die Schützengrabenmäntel<br />

scheinen nicht mehr Zuchthausgewän<strong>der</strong>. Die Pelzmützen mit <strong>der</strong> hervorquellenden<br />

Watte sitzen auf an<strong>der</strong>e Art über den leuchtenden Augen. »Die <strong>Internationale</strong>,<br />

das wird die Menschheit sein!« Ist es denn auch denkbar, daß sie nicht sein, nicht erstehen<br />

wird aus Unglück und Erniedrigung, aus Schmutz und Blut des Krieges?<br />

»Das gesamte Präsidium mit Lenin an <strong>der</strong> Spitze stand und sang mit erregten, vergeistigten<br />

Gesichtern und brennenden Augen.« So bezeugt <strong>der</strong> Skeptiker, <strong>der</strong> schweren<br />

Gefühls einem fremden Fest zuschaut. »Wie gern wollte ich mich ihm anschließen«,<br />

gesteht Suchanow, »in Gefühl und Stmimung mit dieser Masse und ihren Führern<br />

verschmelzen. Aber ich konnte nicht ...«<br />

Es verklang <strong>der</strong> letzte Laut des Refrains, aber noch immer stand <strong>der</strong> Kongreß zu einer<br />

menschlichen Masse verschmolzen, verzaubert von <strong>der</strong> Größe des Erlebten. Die Blicke<br />

vieler blieben haften auf <strong>der</strong> kleinen, untersetzten Gestalt des Mannes auf <strong>der</strong> Tribüne,<br />

mit dem ungewöhnlichen Kopf, den einfachen Zügen des breitknochigen Gesichts, jetzt<br />

durch das rasierte Kinn verän<strong>der</strong>t, mit durchdringendem Blick <strong>der</strong> kleinen, etwas mongolenhaften<br />

Augen. Vier Monate war er fern gewesen, sein Name hatte sich inzwischen von<br />

dein lebendigen Bilde fast getrennt. Doch nein, er ist kein Mythos, da steht er mitten<br />

unter den Seinen - wie viele "Seine" gibt es jetzt! - mit den Blättern <strong>der</strong> Friedensbotschaft<br />

an die Völker in den Händen. Sogar die Allernächsten, jene, die seinen Platz in <strong>der</strong> Partei<br />

gut kannten, empfanden zum erstenmal restlos, was er für die <strong>Revolution</strong>, für das Volk,<br />

für die Völker bedeutete. Das hat er erzogen. Das hat er gelehrt. Eine Stimme aus <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 754


Tiefe <strong>der</strong> Versammlung schrie einen Hochruf auf den Führer. Als habe <strong>der</strong> Saal nur auf<br />

dies Signal gewartet. Hoch Lenin! Überstandene Aufregungen, überwundene Zweifel,<br />

Stolz auf das Beginnen, Triumph des Sieges, große Hoffhungen, - alles verschmolz im<br />

vulkanischen Ausbruch von Dankbarkeit und Begeisterung. Der skeptische Zeuge<br />

bemerkt trocken: »Zweifellos ein Aufschwung <strong>der</strong> Stimmung ... Man grüßte Lenin, schrie<br />

hoch, warf Mützen in die Luft. Der Trauermarsch wurde gesungen, zum Andenken an die<br />

Kriegsopfer. Und wie<strong>der</strong> Applaus, Schreie und Werfen <strong>der</strong> Mützen.«<br />

Das, was <strong>der</strong> Kongreß in diesen Minuten durchlebte, durchlebte, wenn auch nicht so<br />

konzentriert, am nächsten Tag das ganze Volk. »Man muß sagen«, schreibt Stankewitsch<br />

in seinen Erinnerungen, »daß die kühne Geste <strong>der</strong> Bolschewiki, ihre Fähigkeit, über die<br />

Stacheldrähte hinwegzuschreiten, die vier Jahre lang uns von den Nachbarvölkern<br />

getrennt gehalten haben, an sich gewaltigen Eindruck machte.« Plumper, doch nicht<br />

weniger deutlich, drückt sich Baron Budberg in seinem Tagebuch aus: »Die neue Regierung<br />

des Genossen Lenin entlud sich mit einem Dekret über sofortigen Frieden ... Es ist<br />

im Augenblick ein genialer Schachzug, um die Soldatenmassen für sich zu gewinnen; ich<br />

konnte dies an <strong>der</strong> Stimmung in mehreren Regimentern beobachten, die ich heute bereist<br />

habe. Lenins Telegramm über einen sofortigen Waffenstillstand für drei Monate und<br />

darauffolgenden Frieden hat überall kolossalen Eindruck gemacht und einen Freu-densturm<br />

ausgelöst. Jetzt sind uns die letzten Chancen auf Rettung <strong>der</strong> Front genommen.«<br />

Unter Rettung <strong>der</strong> von ihnen zugrunde gerichteten Front verstanden diese Menschen<br />

schon längst nur die Rettung <strong>der</strong> eigenen sozialen Positionen.<br />

Würde die <strong>Revolution</strong> in sich die Entschlossenheit gefunden haben, im März-April<br />

über die Stacheldrähte hinwegzuschreiten, sie hätte damals noch vermocht, die Armee<br />

eine Zeitlang zusammenzuhalten, vorausgesetzt, daß sie sie gleichzeitig auf die Hälfte<br />

o<strong>der</strong> ein Drittel herabgesetzt und somit für die Außenpolitik eine Position von außerordentlicher<br />

Stärke geschaffen hätte. Aber die Stunde mutiger Taten schlug erst im<br />

Oktober, wo auch nur einen Teil <strong>der</strong> Armee zu retten, und wenn auch nur für eine kurze<br />

Frist, bereits undenkbar war. Das neue Regime mußte auf seine Schultern nehmen nicht<br />

nur die Kosten für den Krieg des Zarismus, son<strong>der</strong>n auch für den verschwen<strong>der</strong>ischen<br />

Leichtsinn <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. In dieser furchtbaren, für alle an<strong>der</strong>en Parteien<br />

hofihungslosen Situation konnte nur <strong>der</strong> Bolschewismus das Land auf einen offenen<br />

Weg hinausführen, indem er durch die Oktoberumwälzung unerschöpfliche Quellen <strong>der</strong><br />

Volksenergie erschloß.<br />

Lenin ist wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Tribüne, diesmal mit Blättchen des Bodendekrets. Er beginnt<br />

mit Anklagen gegen die gestürzte Regierung und die Versöhnlerparteien, die durch<br />

Verschleppung <strong>der</strong> Bodenfrage das Land zum Bauernaufstand gebracht haben. »Wie Lug<br />

und feiger Betrug klingen ihre Worte über Pogrome und Anarchie im Dorfe. Wo und<br />

wann wurden Pogrome und Anarchie durch vernünftige Maßnahmen hervorgerufen?«...<br />

Der Dekretentwurf ist nicht vervielfältigt zum Verteilen: <strong>der</strong> Redner hält in den Händen<br />

das einzige Exemplar in Rohfassung, und es ist, nach Suchanows "Erinnerungen", »so<br />

schlecht ni<strong>der</strong>geschrieben, daß Lenin heim Lesen stolpert, sich nicht zurechtfmdet und<br />

schließlich abbricht. Jemand aus <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Tribüne zusammengedrängten Menge<br />

kommt ihm zu Hilfe. Lenin überläßt diesem willig den Platz und das unleserliche<br />

Papier«. Diese Unebenheiten verringern aber in den Augen des plebejischen Parlaments<br />

nicht um ein Jota die Größe des Sichvollziehenden.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 755


Der Kern des Dekrets ist in den zwei Zeilen des ersten Punktes enthalten: »Das<br />

gutsherrliche Eigentumsrecht an Grund und Boden wird mit sofortiger Wirkung ohne<br />

jede Entschädigung aufgehoben.« Über Guts-, Kron-, Kloster- und Kirchenlän<strong>der</strong>eien<br />

mit lebendem und totem Inventar verfügen bis zur Konstituierenden Versammlung die<br />

Gemeinde-Landkomitees und die Kreissowjets <strong>der</strong> Bauerndeputierten. Der konfiszierte<br />

Besitz wird als Volksvermögen erklärt und unter den Schutz <strong>der</strong> Lokalsowjets gestellt.<br />

Der Boden <strong>der</strong> werktätigen Bauern und Kosaken ist vor Konfiskation gesichert. Das<br />

gesamte Dekret zählt keine drei Dutzend Zeilen: es durchhaut den gordischen Knoten mit<br />

dem Beil.<br />

Dem Haupttext ist eine etwas umfangreichere Instruktion angeschlossen, die restlos<br />

den Bauern selbst entlehnt ist. In den 'Iswestja <strong>der</strong> Bauernsowjets' war am 19. August<br />

eine Zusammenstellung von zweihun<strong>der</strong>tzweiundvierzig "Instruktionen" veröffentlicht,<br />

erteilt von den Wählern an ihre Vertreter auf dem ersten Kongreß <strong>der</strong> Bauerndeputierten.<br />

Obwohl die Ausarbeitung <strong>der</strong> synthetischen Instruktion von Sozialrevolutionären stammte,<br />

hatte dies Lenin nicht abgehalten, das Dokument restlos und vollständig dem Dekret<br />

beizugeben »als Anleitung zur Verwirklichung <strong>der</strong> großen Bodenumgestaltungen«. Die<br />

zusammenfassende Instruktion lautet: »Das Recht des Privateigentums an Boden wird<br />

für alle Ewigkeit abgeschafft.« - »Das Recht <strong>der</strong> Bodennutznießung erhalten alle Bürger<br />

..., die ihn selbst bearbeiten wollen.« - »Lohnarbeit ist unzulässig.« - »Die Bodenbenutzung<br />

muß auf dem Prinzips des Ausgleichs beruhen, das heißt, <strong>der</strong> Boden wird verteilt<br />

unter den Werktätigen, je nach örtlichen Verhältnissen, Arbeits- o<strong>der</strong> Bedarßnorm.«<br />

Bei <strong>der</strong> Aufrechterhaltung des bürgerlichen Regimes, nicht zu reden von <strong>der</strong> Koalition<br />

mit den Gutsbesitzern, mußte die sozial-revolutionäre Instruktion leblose Utopie bleiben,<br />

wenn nicht sich in bewußte Lüge verwandeln. Sie konnte auch unter <strong>der</strong> Herrschaft des<br />

Proletariats nicht in allen ihren Teilen verwirklicht werden. Doch das Schicksal <strong>der</strong><br />

Instruktion verän<strong>der</strong>te sich radikal zusammen mit dem verän<strong>der</strong>ten Verhalten <strong>der</strong> Regierung<br />

ihr gegenüber. Der Arbeiterstaat ließ <strong>der</strong> Bauernschaft Zeit, ihr wi<strong>der</strong>spruchsvolles<br />

Programm in <strong>der</strong> Wirklichkeit zu überprüfen.<br />

»Die Bauern wollen ihre Kleinwirtschaft beibehalten, sie gleichmäßig normieren, sie<br />

periodisch wie<strong>der</strong> ausgleichen«, schrieb Lenin im August. »Sei es. Deswegen wird<br />

kein vernünftiger Sozialist sich mit <strong>der</strong> Bauernarmut streiten. Wenn <strong>der</strong> Boden erst<br />

konfisziert sein wird, so heißt das, die Herrschaft <strong>der</strong> Banken ist gebrochen -, wenn<br />

das Inventar konfisziert sein wird, so heißt das, die Herrschaft des Kapitals ist gebrochen,<br />

dann ... nach Ubergang <strong>der</strong> politischen Macht an das Proletariat, wird das übrig<br />

e... die Praxis selbst diktieren.«<br />

Sehr viele, nicht nur Feinde, son<strong>der</strong>n auch Freunde, haben diese weitblickende, in<br />

hohem Maße pädagogische Stellungnahme <strong>der</strong> bolschewistischen Partei zur Bauernschaft<br />

und ihrem Agrarprogramm nicht begriffen. Die ausgleichende Verteilung des Bodens,<br />

erwi<strong>der</strong>te beispielsweise Rosa Luxemburg, habe mit Sozialismus nichts gemein. Aber in<br />

dieser Hinsicht machten sich auch die Bolschewiki natürlich keine Illusionen. Im Gegenteil,<br />

schon die Konstruktion des Dekrets bezeugt die kritische Wachsamkeit des Gesetzgebers.<br />

Während die Instruktionssammlung lautet, daß <strong>der</strong> gesamte sowohl gutsherrliche<br />

wie bäuerliche Boden »Volkseigentum wird«, verschweigt das Hauptdekret die neue<br />

Form des Bodeneigentums überhaupt. Auch <strong>der</strong> nicht allzu pedantische Jurist muß über<br />

die Tatsache entsetzt sein, daß die Nationalisierung des Bodens, das neue soziale Prinzip<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 756


von welthistorischer Bedeutung, festgelegt wird als Instruktion zum Hauptgesetz. Doch<br />

hegt darin keine redaktionelle Nachlässigkeit. Lenin wollte so wenig wie möglich Partei<br />

und Sowjetmacht auf dem noch unerforschten historischen Gebiet a priori binden. Mit<br />

beispielloser Kühnheit vereinigte er auch hier äußerste Vorsicht. Es stand erst noch<br />

bevor, aus <strong>der</strong> Erfahrung zu erkennen, wie die Bauern selbst den Übergang des Bodens<br />

»in Volkseigentum« verstehen. Sich weit vorwagend, mußte man die Position auch für<br />

den Fall eines Rückzuges sichern: die Verteilung des gutsherrlichen Bodens unter den<br />

Bauern schloß, ohne vor einer bürgerlichen Konterrevolution zu schützen, unter allen<br />

Umständen die feudal-monarchistische Restauration aus.<br />

Von sozialistischen Perspektiven konnte nur gesprochen werden bei Errichtung und<br />

Sicherung <strong>der</strong> Macht des Proletariats; diese Macht aber war nicht an<strong>der</strong>s zu sichern als<br />

dadurch, daß dem Bauern bei <strong>der</strong> Durchführung seiner <strong>Revolution</strong> entschiedene Hilfe<br />

geleistet wurde. Festigte die Bodenaufteilung die sozialistische Regierung politisch, so<br />

war sie damit als nächste Maßnahme vollauf gerechtfertigt. Man mußte den Bauern so<br />

nehmen, wie ihn die <strong>Revolution</strong> vorgefunden hatte. Ihn umzubilden wird erst das neue<br />

Regime imstande sein, und auch nicht jäh, son<strong>der</strong>n im Laufe von vielen Jahren, im Laufe<br />

von Generationen, mit Hilfe einer neuen Technik und einer neuen Wirtschaftsorganisation.<br />

Das Dekret in Verbindung mit <strong>der</strong> Instruktion bedeutete für die Diktatur des Proletariats<br />

die Verpflichtung, sich nicht nur aufmerksam zu verhalten den Interessen des<br />

bäuerlichen Werktätigen gegenüber, son<strong>der</strong>n auch geduldig gegenüber dessen Illusionen<br />

als kleinem Eigentümer. Es war von vornherein klar, daß es in <strong>der</strong> Agrarrevolution noch<br />

manche Etappen und Wendungen geben werde. Die Instruktionssammlung war am allerwenigsten<br />

das letzte Wort. Sie stellte nur die Ausgangsposition dar, die einzunehmen die<br />

Arbeiter bereit waren, um den Bauern bei <strong>der</strong> Verwirklichung ihrer fortschrittlichen<br />

For<strong>der</strong>ungen zu helfen und um sie vor falschen Schritten zu warnen.<br />

»Wir könnten«, sagt Lenin in seiner Rede, »den Beschluß <strong>der</strong> unteren Volksschichten<br />

nicht übergehen, auch wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären ... Wir müsscn den<br />

Volksmassen vollste schöpferische Freiheit lassen ... Es handelt sich darum, daß die<br />

Bauernschaft die feste Uberzeugung gewinnt, daß es im Dorfe keine Gutsbesitzer mehr<br />

gibt und die Bauern alle Fragen selbst entscheiden und ihr Leben selbst einrichten<br />

können.« Opportunismus? Nein, revolutionärer Realismus.<br />

Noch bevor <strong>der</strong> Beifall verstummt war, trat <strong>der</strong> rechte Sozial-revolutionär Pjanych,<br />

vom Bauern-Exekutivkomitee, auf die Tribüne mit einem wütenden Protest darüber, daß<br />

die sozialistischen Minister in Haft wären. »In den letzten Tagen geht etwas vor«, schreit<br />

<strong>der</strong> Redner und hämmert wie besessen auf den Tisch, »was noch in keiner <strong>Revolution</strong><br />

geschah. Unsere Genossen, Mitglie<strong>der</strong> des Exekutivkomitees, Maslow und Salaskin, sind<br />

ins Gefängnis gesperrt. Wir verlangen ihre sofortige Freilassung!« - »Wenn von ihrem<br />

Haupte auch nur ein Haar fällt ...«, droht ein an<strong>der</strong>er Bote in Militäruniform. Beide<br />

erscheinen sie dem Kongreß wie Boten aus dem Jenseits.<br />

Im Moment des Umsturzes saßen unter <strong>der</strong> Anklage des Bolschewismus im Dwinsker<br />

Gefängnis etwa achthun<strong>der</strong>t Mann, in Minsk etwa sechstausend, in Kiew fünfhun<strong>der</strong>tfünfunddreißig,<br />

vorwiegend Soldaten. Und wieviel Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauernkomitees<br />

weilten in verschiedenen Teilen des Landes hinter Schloß und Riegel! Schließlich ist ein<br />

guter Teil <strong>der</strong> Kongreßdelegierten selbst, beginnend mit dem Präsidium, nach dem Juli<br />

durch Kerenskis Gefängnisse hindurchgegangen. Ist es da verwun<strong>der</strong>lich, daß die Entrü-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 757


stung <strong>der</strong> Freunde <strong>der</strong> Provisorischen Regierung nicht damit rechnen durfte, in dieser<br />

Versammlung die Herzen zu erschüttern? Um das Unglück voll zu machen, erhob sich<br />

von seinem Platze ein völlig unbekannter Delegierter, ein Twerer Bauer, mit langem<br />

Haar, im Schafpelz, verneigte sich höflich nach allen vier Seiten und beschwor den<br />

Kongreß im Namen seiner Wähler, auch vor <strong>der</strong> Verhaftung des gesamten Awksentjewschen<br />

Exekutivkomitees nicht haltzumachen: »Das sind nicht Bauerndeputierte,<br />

son<strong>der</strong>n Kadetten.... ihr Platz ist im Gefängnis.« So standen sich diese zwei Gestalten<br />

gegenüber: <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Pjanych, erfahrener Parlamentarier, Vertrauter <strong>der</strong><br />

Minister, Bolschewikenhasser, und <strong>der</strong> namenlose Twerer Bauer, <strong>der</strong> von seinen<br />

Wählern Lenin einen heißen Gruß gebracht hatte. Zwei soziale Schichten, zwei <strong>Revolution</strong>en:<br />

Pjanych sprach im Namen des Februar, <strong>der</strong> Twerer Bauer kämpfte für den<br />

Oktober. Der Kongreß bereitet dem Delegierten im Schafspelz eine wahre Ovation. Die<br />

Boten des Exekutivkomitees entfernen sich fluchend.<br />

»Die Fraktion <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre begrüßt Lenins Projekt als den Sieg ihrer Idee«,<br />

erklärt Kalegajew. Jedoch angesichts <strong>der</strong> außerordentlichen Wichtigkeit <strong>der</strong> Frage sei<br />

eine fraktionelle Beratung erfor<strong>der</strong>lich. Ein Maximalist, Vertreter des äußersten linken<br />

Flügels <strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gefallenen sozialrevolutionären Partei, drängt auf sofortige<br />

Abstimmung: »Wir müßten Ehre einer Partei erweisen, die gleich am ersten Tage, ohne<br />

zu schwatzen, an die Durchführung einer solchen Maßnahme geht.« Lenin besteht<br />

darauf, daß die Pause jedenfalls möglichst kurz sei. »Die für Rußland so wichtigen<br />

Neuigkeiten müssen bis zum Morgen veröffentlicht werden. Keine Verzögerungen!« Das<br />

Bodendekret - das ist nicht nur die Grundlage des neuen Regimes, son<strong>der</strong>n auch das<br />

Werkzeug <strong>der</strong> Umwälzung, die noch vor <strong>der</strong> Aufgabe steht, das Land zu erobern. Nicht<br />

umsonst notiert Reed in diesem Moment eine gebieterische Stimme, die den Saal durchschneidet:<br />

»Fünfzehn Agitatoren ins Zimmer 17. Sofort! Sollen an die Front geschickt<br />

werden!«<br />

Um 1 Uhr nachts beklagt sich <strong>der</strong> Delegierte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen in Mazedonien,<br />

die verschiedenen Petrogra<strong>der</strong> Regierungen, die einan<strong>der</strong> ablösten, hätten sie vergessen.<br />

Die Unterstützung <strong>der</strong> Parole für Frieden und Land sei seitens <strong>der</strong> Soldaten in Mazedonien<br />

sicher! Dies ist die neue Überprüfung <strong>der</strong> Stimmungen in <strong>der</strong> Armee, diesmal im<br />

fernen Winkel des europäischen Südostens. Kamenjew berichtet: das 10. Radfahrerbataillon,<br />

das die Regierung von <strong>der</strong> Front kommen ließ, sei heute morgen in Petrograd<br />

einmarschiert und habe sich, wie seine Vorgänger, dem Sowjetkongreß angeschlossen.<br />

Lebhaftes Händeklatschen beweist, daß immer aufs neue wie<strong>der</strong>holte Bestätigungen <strong>der</strong><br />

eigenen Kraft niemals überflüssig sind.<br />

Nachdem einstimmig und debattelos eine Resolution angenommen ist, die besagt, daß<br />

es Ehrensache <strong>der</strong> Lokalsowjets sei, jüdische und an<strong>der</strong>e Pogrome nicht zu dulden, wird<br />

<strong>der</strong> Gesetzentwurf über den Boden zur Abstimmung gestellt. Gegen eine Stimme bei acht<br />

Stimmenthaltungen nimmt <strong>der</strong> Kongreß unter neuem Ausbruch von Enthusiasmus das<br />

Dekret an, das Schluß macht mit <strong>der</strong> Leibeigenschaft, dieser Grundlage aller Grundlagen<br />

<strong>der</strong> alten <strong>russischen</strong> Kultur. Nunmehr ist die Agrarrevolution Gesetz geworden. Die<br />

<strong>Revolution</strong> des Proletariats gewinnt damit eine mathtvolle Basis.<br />

Bleibt die letzte Aufgabe: Schaffung einer Rcgierung. Kamenjew verliest den vom<br />

Zentralkoinitee <strong>der</strong> Bolschewiki ausgearbeiteten Entwurf. Mit <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> einzelnen<br />

Teile des Staatslebens werden Kommissionen betraut, <strong>der</strong>en Arbeit im Durchführen des<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 758


vom Sowjetkongreß verkündeten Programms zu bestehen hat »in enger Einheit mit den<br />

Massenorganisationen <strong>der</strong> Arbeiter, Arbeiterinnen, Matrosen, Soldaten, Bauern und<br />

Angestellten«. Die Regierungsmacht ist in den Händen eines Kollegiums konzentriert,<br />

das aus Vorsitzenden dieser Kommissionen besteht unter dem Namen Rat <strong>der</strong> Volkskommissare.<br />

Die Kontrolle über die Tätigkeit <strong>der</strong> Regierung hat <strong>der</strong> Sowjetkongreß und sein<br />

Zentral-Exekutivkomitee.<br />

Für den ersten Rat <strong>der</strong> Volkskommissare sind sieben Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees<br />

<strong>der</strong> bolschewistischen Partei in Aussicht genommen: Lenin als Haupt <strong>der</strong> Regierung,<br />

ohne Portefeuille; Rykow als Volkskommissar des Innern; Miljutin als Volkskommissar<br />

für Landwirtschaft; Nogin für Handel und Industrie; Trotzki als Leiter des Auswärtigen;<br />

Lomow - Justiz; Stalin als Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommission für Angelegenheiten <strong>der</strong> Nationalitäten.<br />

Das Kriegs- und Marineamt wird einem Komitee, bestehend aus Antonow-<br />

Owssejenko, Krylenko und Dybenko, übertragen; für die Leitung des<br />

Arbeitskommissariats ist Schljapnikow in Aussicht genommen; das Volksbildungswesen<br />

soll Lunatscharski leiten; die schwere und undankbare Sorge um die Ernährung wird<br />

Teodorowitsch auferlegt; Post und Telegraph dem Arbeiter Glebow. Unbesetzt bleibt<br />

vorläufig <strong>der</strong> Posten des Volkskommissars für Verkehrswesen: die Türe ist offen gelassen<br />

für eine Verständigung mit den Eisenbahnerorganisationen.<br />

Alle fünfzehn Kandidaten, vier Arbeiter und elf Intellektuelle, zählen in ihrer Vergangenheit<br />

Jahre Gefängnis, Verbannung und Emigration; fünf von ihnen saßen bereits unter<br />

dem Regime <strong>der</strong> demokratischen Republik im Gefängnis; <strong>der</strong> künftige Premier ist erst<br />

gestern aus <strong>der</strong> demokratischen Illegalität gekommen. Kamenjew und Sinowjew sind<br />

dem Rat <strong>der</strong> Volkskommissare nicht angeschlossen worden: <strong>der</strong> erstere war als Vorsitzen<strong>der</strong><br />

des neuen Zentral-Exekutivkomitees in Aussicht genommen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e als<br />

Redakteur des offiziellen Sowjetorgans. »Als Kamenjew die Liste <strong>der</strong> Volkskommissare<br />

verlas«, schreibt Reed, »folgte nach jedem Namen ein Beifallssturm, beson<strong>der</strong>s nach<br />

Lenins und Trotzkis Namen.« Suchanow fügt noch Lunatscharski hinzu.<br />

Gegen die vorgeschlagene Regierungsliste tritt mit einer großen Rede als Vertreter <strong>der</strong><br />

vereinigten Internationalisten Awilow auf, ehemaliger Bolschewik, Mitarbeiter <strong>der</strong><br />

Gorkischen Zeitung. Gewissenhaft zählt er die Schwierigkeiten auf, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

auf dem Gebiete <strong>der</strong> Innen- und Außenpolitik stehen. Man müsse »sich klar Rechenschaft<br />

darüber ablegen ... wohin wir gehen ... Vor <strong>der</strong> neuen Regierung stehen die alten<br />

Fragen: Brot und Frieden. Wenn sie diese Fragen nicht lösen wird, wird sie gestürzt<br />

werden«. Brot gebe es im Lande wenig es ist in Händen <strong>der</strong> wohlhabenden Bauernschaft.<br />

Es sei nichts da, was man im Austausch für Brot geben könnte: die Industrie sinke. Es<br />

fehle an Brennmaterial und Rohstoff. Durch Zwangsmaßnahmen in Besitz des Getreides<br />

zu kommen - sei schwierig, langwierig und gefährlich. Man müsse deshalb eine solche<br />

Regierung schaffen, mit <strong>der</strong> nicht nur die Armut, son<strong>der</strong>n auch die wohlhabende Bauernschaft<br />

sympathisieren würde. Dafür sei eine Koalition notwendig.<br />

»Noch schwieriger ist es, einen Frieden zu erlangen.« Auf den Vorschlag des<br />

Kongresses über einen sofortigen Waffenstillstand würden die Ententeregierungen nicht<br />

reagieren. Die Gesandten <strong>der</strong> Alliierten beabsichtigen ohnehin, abzureisen. Die neue<br />

Macht werde isoliert sein, ihre Friedensinitiative in <strong>der</strong> Luft hängen bleiben. Die Volksmassen<br />

<strong>der</strong> kriegführenden Län<strong>der</strong> seien vorläufig von einer <strong>Revolution</strong> noch sehr fern.<br />

Die Folgen könnten zweierlei sein: entwe<strong>der</strong> eine Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 759


die Truppen <strong>der</strong> Hohenzollern o<strong>der</strong> Separatfrieden. Die Friedensbedingungen würden in<br />

beiden Fällen für Rußland von allerschwerster Art sein. Fertig werden mit allen Schwierigkeiten<br />

könnte nur eine »Mehrheit des Volkes«. Das Unglück liege jedoch in <strong>der</strong><br />

Zerspaltenheit <strong>der</strong> Demokratie, <strong>der</strong>en linker Teil im Smolny eine rein bolschewistische<br />

Regierung bilden wolle, während <strong>der</strong> rechte in <strong>der</strong> Stadtduma ein Komitee <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Sicherheit organisiere. Für die Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> müsse eine Regierung aus<br />

beiden Gruppen gebildet werden.<br />

Im gleichen Geiste spricht sich <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> linken Sozial-revolutionäre, Karelin,<br />

aus. Es sei unmöglich, das beschlossene Programm ohne jene Parteien durchzuführen,<br />

die den Kongreß verlassen haben. Allerdings, »die Bolschewiki haben dieses Weggehen<br />

nicht verschuldet«. Das Programm des Kongresses müßte die gesamte Demokratie vereinigen.<br />

»Wir wollen nicht den Weg gehen, <strong>der</strong> zur Isolierung <strong>der</strong> Bolschewiki führt, denn<br />

wir wissen, daß mit dem Schicksal <strong>der</strong> Bolschewiki das Schicksal <strong>der</strong> ganzen <strong>Revolution</strong><br />

verbunden ist: ihr Untergang wird <strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sein.« Wenn sie, die<br />

linken Sozialrevolutionäre, nichtsdestoweniger den Vorschlag, in die Regierung einzutreten,<br />

ablehnten, so in bester Absicht: ihre Hände frei zu behalten für eine Vermittlung<br />

zwischen Bolschewiki und den Parteien, die den Kongreß verlassen haben. »In dieser<br />

Vermittlung ... erblicken die linken Sozialrevolutionärc im gegenwärtigen Moment ihre<br />

Hauptaufgabe.« Die Arbeit <strong>der</strong> neuen Regierung zur Lösung unaufschiebbarer Fragen<br />

würden die linken Sozialrevolutionäre unterstützen. Gleichzeitig stimmen sie gegen die<br />

vorgeschlagene Regierung. Mit einem Wort, die junge Partei verwirrte, so sehr sie nur<br />

konnte.<br />

»Um eine rein bolschewistische Regierung zu verteidigen«, erzählt Suchanow, <strong>der</strong><br />

restlos mit Awilow sympathisierte und hinter den Kulissen Karelin inspirierte, »trat<br />

Trotzki auf. Er war sehr blendend, scharf und hatte in vielem durchaus recht. Aber er<br />

wollte nicht begreifen, worin <strong>der</strong> Kernpunkt <strong>der</strong> Argumentation seiner Gegner bestand«<br />

... Der Kernpunkt <strong>der</strong> Argumentation bestand in einer idealen Diagonale. Im März hatte<br />

man versucht, diese zwischen Bourgeoisie und Versölinlersowjets zu führen. Jetzt träumten<br />

die Suchanow von einer Diagonale zwischen Versöhnlerdemokratie und Diktatur des<br />

Proletariats. Aber <strong>Revolution</strong>en entwickeln sich nicht nach Diagonalen.<br />

»Mit einer Möglichkeit <strong>der</strong> Isolierung des linken Flügels«, sagt Trotzki, »hat man uns<br />

wie<strong>der</strong>holt geschreckt. Vor einigen Tagen, als die Frage des Aufstandes offen gestellt<br />

wurde, sagte man uns, wir gingen dem sicheren Untergang entgegen. Und in <strong>der</strong> Tat,<br />

urteilt man nach <strong>der</strong> politischen Presse über die Kräftegruppierung, dann hat uns<br />

durch den Aufstand <strong>der</strong> sichere Untergang gedroht. Gegen uns standen nicht nur die<br />

konterrevolutionären Banden, son<strong>der</strong>n auch die Landesverteidiger aller Abarten; die<br />

linken Sozialrevolutionäre arbeiteten nur mit einem ihrer Flügel mit uns mutig zusammen<br />

im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee; ihr an<strong>der</strong>er Teil nahm die Position abwarten<strong>der</strong><br />

Neutralität ein. Und dennoch, unter diesen ungünstigen Bedingungen, wo, wie<br />

es schien, wir von allen verlassen waren, hat <strong>der</strong> Aufstand gesiegt ...<br />

Wären die realen Kräfte tatsächlich gegen uns gewesen, wie hätte es geschehen<br />

können, daß wir den Sieg fast ohne Blutvergießen errungen haben? Nein, isoliert<br />

waren nicht wir, son<strong>der</strong>n die Regierung und die Quasidemokraten. Durch ihre<br />

Schwankungen, durch ihr Versöhnlertum haben sie sich aus den Reihen <strong>der</strong> wahren<br />

Demokratie ausgestrichen. Unser großer Vorzug als Partei besteht darin, daß wir eine<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 760


Koalition mit den Klassenkräften geschlossen und das Bündnis <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten<br />

und ärmsten Bauern hergestellt haben.<br />

Politische Gruppierungen verschwinden, doch die grundlegenden Klasseninteressen<br />

bleiben. Es siegt jene Partei, die fähig ist, die grundlegenden For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Klasse<br />

zu fühlen und zu erfüllen ... Auf die Koalition unserer hauptsächlich bäuerlichen<br />

Garnison mit <strong>der</strong> Arbeiterklasse können wir stolz sein. Sie, diese Koalition, ist im<br />

Feuer erprobt. Die Petrogra<strong>der</strong> Garnison und das Proletariat sind gemeinsam in den<br />

großen Kampf eingetreten, <strong>der</strong> ein klassisches Beispiel bleiben wird in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sgeschichte<br />

aller Völker.<br />

Awilow hat von den allergrößten Schwierigkeiten gesprochen, die vor uns stehen. Zur<br />

Behebung dieser Schwierigkeiten schlägt er eine Koalition vor. Dabei aber macht er<br />

keinen Venuch, diese Formel aufzulösen und zu sagen: welcher Art Koalition - von<br />

Gruppen, Klassen, o<strong>der</strong> einfach eine Zeitungskoalition? ...<br />

Es wird gesagt, die Spaltung bei <strong>der</strong> Demokratie sei ein Miß-verständnis. Wenn<br />

Kerenski gegen uns Stoßtruppler anmarschieren läßt, wenn man uns mit Genehmigung<br />

des Zentral-Exekutivkomitees im schärfsten Moment unseres Kampfes gegen die<br />

Bourgeoisie des Telephons beraubt, wenn man uns einen Schlag nach dem an<strong>der</strong>en<br />

versetzt, - kann man da wirklich von Mißverständnis sprechen?<br />

Awilow sagt uns: das Brot ist knapp, man braucht eine Koalition mit den Landesverteidigern.<br />

Würde aber diese Koalition das Brotquantum vergrößern? Die Frage des<br />

Brotes - das ist die Frage des Aktionsprogramms. Der Kampf gegen den Wirtschaftszerfall<br />

erfor<strong>der</strong>t ein bestimmtes System von unten, nicht aber politische Gruppierungen<br />

an <strong>der</strong> Spitze.<br />

Awilow sprach von einem Bündnis mit <strong>der</strong> Bauernschaft; aber wie<strong>der</strong>um: von welcher<br />

Bauernschaft ist die Rede? Heute hat hier ein Bauernvertreter des Twerer Gouvernernents<br />

die Verhaftung Awksentjews verlangt. Man muß wählen zwischen diesem Twerer<br />

Bauern und Awksentjew, <strong>der</strong> die Gefängnisse mit Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bauernkomitees<br />

gefüllt hat. Eine Koalition mit den Kulakenelementen <strong>der</strong> Bauernschaft lehnen wir<br />

entschieden ab im Namen einer Koalition <strong>der</strong> Arbeiterklasse mit den ärmsten Bauern.<br />

Wir sind mit den Twerer Bauern gegen Awksentjew, wir sind mit ihnen bis ans Ende<br />

unzertrennlich.<br />

Wer dem Schatten einer Koalition nachjagt, isoliert sich völlig vom Leben. Die linken<br />

Sozialrevolutionäre werden die Stütze in den Massen verlieren, wenn es ihnen einfallen<br />

sollte, unserer Partei entgegenzuwirken. Jede Gruppe, die sich in Gegensatz stellt zur<br />

Partei des mit <strong>der</strong> Dorfarmut verbundenen Proletariats, isoliert sich von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Offen, vor dem Angesicht des ganzen Volkes, haben wir das Banner des Aufstandes<br />

erhoben. Die politische Formel dieses Aufstandes ist: Alle Macht den Sowjets durch<br />

den Sowjetkongreß. Man sagt uns: ihr habt mit dem Umsturz nicht auf den Kongreß<br />

gewartet. Wir hätten schon gewartet, aber Kerenski wollte nicht warten: die Konterrevolutionäre<br />

haben nicht geschlafen. Wir als Partei haben es als unsere Aufgabe<br />

betrachtet, die reale Möglichkeit für den Sowjetkongreß zu schaffen, die Macht in seine<br />

Hände zu nehmen. Wäre <strong>der</strong> Kongreß von Junkern umstellt worden, wie hätte er die<br />

Macht ergreifen können? Um diese Aufgabe zu verwirklichen, war eine Partei nötig,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 761


die die Macht den Händen <strong>der</strong> Konterrevolution entwinden und euch sagen konnte:<br />

"Hier ist die Macht, ihr habt die Pflicht, sie zu nehmen!" [Stürmischer, nicht enden<br />

wollen<strong>der</strong> Beifall.]<br />

Ungeachtet dessen, daß die Landesverteidiger aller Schattierungen im Kampfe gegen<br />

uns vor nichts zurückschreckten, haben wir sie nicht weggestoßen, - wir haben dem<br />

Kongreß in seiner Gesamtheit angeboten, die Macht zu übernehmen. Wie muß man die<br />

Perspektive entstellen, um nach all dem, was vorgefallen ist, von deser Tribüne herab<br />

von unserer Unversöhnlichkeit zu sprechen! Wenn die in Pulverrauch gehüllte Partei<br />

zu ihnen kommt und sagt: "Nehmen wir die Macht gemeinsam!", dann laufen sie in die<br />

Stadtduma und vereinigen sich dort mit den offenen Konterrevolutionären. Sie sind<br />

Verräter an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, mit denen wir uns niemals vereinigen werden!<br />

Für den Kampf um den Frieden, sagt Awilow, sei die Koalition mit den Versöhnlern<br />

notwendig. Gleichzeitig gesteht er, daß die Alliierten einen Frieden nicht schließen<br />

wollen ... Den Margarinedemokraten Skobelew, berichtet Awilow, hätten die alliierten<br />

Imperialisten ausgelacht. Wenn ihr aber einen Block mit den Margarinedemokraten<br />

schließt, wäre die Sache des Friedens gesichert.<br />

Es gibt zwei Wege im Kampfe um Frieden. Der eine Weg: den Regierungen <strong>der</strong><br />

verbündeten und <strong>der</strong> feindlichen Län<strong>der</strong> die moralische und materielle. Macht <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> entgegenzustellen. Der zweite Weg: ein Block mit Skobeljew, was einen<br />

Block mit Tereschtschenko und völlige Unterwerfung unter den alliierten Imperialismus<br />

bedeutet. In unserem Friedensangebot wenden wir uns gleichzeitig an die Regierungen<br />

und an die Völker. Doch ist das nur eine formelle Symmetrie. Wir glauben<br />

selbstverständlich nicht, die imperialistischen Regierungen mit unseren Aufrufen<br />

beeinflussen zu können; aber solange sie existieren, können wir sie nicht ignorieren.<br />

Unsere ganze Hoffnung jedoch setzen wir darauf, daß unsere <strong>Revolution</strong> die europäische<br />

<strong>Revolution</strong> entfesseln wird. Werden die aufständischen Völker Europas den<br />

Imperialismus nicht erwürgen, dann werden wir erwürgt werden - das ist<br />

unbestreitbar. Entwe<strong>der</strong> wird die russische <strong>Revolution</strong> einen Kampfwirbel im Westen<br />

hervorrufen, o<strong>der</strong> die Kapitalisten aller Län<strong>der</strong> werden unsere <strong>Revolution</strong> erdrosseln.«<br />

»Es gibt einen dritten Weg«, schallt es von einem Platze.<br />

»Der dritte Weg«, antwortet Trotzki, »ist <strong>der</strong> Weg des Zentral-Exekutivkomitees, das<br />

einerseits Delegationen zu den westeuropäischen Arbeitern schickt und an<strong>der</strong>erseits<br />

ein Bündnis schließt mit den Kischkin und Konowalow. Das ist <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Lüge und<br />

Heuchelei, den wir niemals beschreiten werden!<br />

Selbssverständlich wollen wir nicht sagen, daß nur <strong>der</strong> Tag des Aufstandes <strong>der</strong><br />

europäischen Arbeiter <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> Friedensunterzeichnung sein wird. Es ist auch<br />

möglich, daß die Bourgeoisie, eingeschüchtert durch den herannahenden Aufstand <strong>der</strong><br />

Unterdrückten, sich beeilen wird, Frieden zu schließen. Termine sind hier nicht<br />

gegeben. Konkrete Formen vorauszusehen, ist nicht möglich. Aber es ist wichtig und<br />

notwendig, eine Kampfmethode zu bestimmen, die im Prinzip sich gleich bleibt in <strong>der</strong><br />

Außen- wie Innenpolitik. Ein Bündnis <strong>der</strong> Unterdrückten überall und aller Orts - das<br />

ist unser Weg.«<br />

»Die Kongreßdelegierten«, schreibt Reed, »feierten ihn mit einem grenzenlosen<br />

Beifallssturm, entzündet vom kühnen Gedanken, Vorkämpfer <strong>der</strong> Menschheit zu sein.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 762


Jedenfalls konnte es damals keinem <strong>der</strong> Bolschewiki in den Sinn kommen, dagegen zu<br />

protestieren, daß das Schicksal <strong>der</strong> Sowjetrepublik in einer offiziellen Rede namens <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei in direkte Abhängigkeit gestellt wurde von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Weltrevolution.<br />

Das dramatische Gesetz dieses Kongresses bestand darin, daß je<strong>der</strong> bedeutsame Akt<br />

schloß o<strong>der</strong> sogar unterbrochen wurde durch ein kurzes Intermedium, in dem plötzlich<br />

auf <strong>der</strong> Bühne eine Gestalt aus dem an<strong>der</strong>en Lager erschien, Protest einzulegen, mit<br />

einem Ultimatum zu drohen o<strong>der</strong> ein solches zu stellen. Der Vertreter des Wikschel, des<br />

Exekutivkomitees des All<strong>russischen</strong> Eisenbahnerverbandes, will sofort und unverzüglich<br />

das Wort haben; er muß in die Versammlung eine Bombe werfen noch vor <strong>der</strong> Abstimmung<br />

über die Regierungsfrage. Der Redner, von dessen Gesicht Reed unversöhnliche<br />

Feindschaft ablas, beginnt mit <strong>der</strong> Anklage: seine Organisation, »die stärkste in<br />

Rußland«, sei zum Kongreß nicht eingeladen worden. »Dann hat Sie das Zentral-Exekutivkomitee<br />

nicht eingeladen!« ruft man ihm von allen Seiten zu. Man möge zur Kenntnis<br />

nehmen: <strong>der</strong> ursprüngliche Beschluß des Wikschel betreffs Unterstützung des Sowjetkongresses<br />

ist wi<strong>der</strong>rufen! Der Redner beeilt sich, das bereits telegraphisch im ganzen<br />

Lande verbreitete Ultimatum zu verlesen:<br />

<strong>der</strong> Wikschel verurteile die Machtergreifung durch eine Partei; die Regierung müsse<br />

verantwortlich sein <strong>der</strong> »gesamten revolutionären Demokratie«; bis zur Schaffung einer<br />

demokratischen Regierung verfüge über das Eisenbahnnetz ausschließlich <strong>der</strong> Wikschel.<br />

Der Redner setzt hinzu, konterrevolutionäre Truppen würden nach Petrograd nicht<br />

durchgelassen werden; überhaupt würden Truppenbewegungen von nun an nur auf<br />

Befehl des alten Zentral-Exekutivkomitees erfolgen. Im Falle von Repressivmaßnahmen<br />

gegen die Eisenbahner werde <strong>der</strong> Wikschel Petrograd ohne Lebensmittel lassen.<br />

Der Kongreß zuckte auf wie unter einem Hieb. Die Gewaltigen des Eisenbahnerverbandes<br />

versuchten mit <strong>der</strong> Volksvertretung wie von Macht zu Macht zu verhandeln.<br />

Wenn Arbeiter, Soldaten und Bauern die Leitung des Staates in ihre Hände nehmen, will<br />

<strong>der</strong> Wikschel über Arbeiter, Soldaten und Bauern kommandieren. Das gestürzte System<br />

<strong>der</strong> Doppelherrschaft versucht er in kleine Münze umzusetzen. Bemüht, sich nicht auf<br />

ihre zahlenmäßige Stärke, son<strong>der</strong>n auf die außerordentliche Bedeutung <strong>der</strong> Eisenbahn für<br />

Wirtschaft und Kultur des Landes zu stützen, entlarven die Demokraten des Wikschel die<br />

ganze Wackligkeit <strong>der</strong> Kriterien <strong>der</strong> formalen Demokratie in den Grundfragen des sozialen<br />

Kampfes. Wahrlich, die <strong>Revolution</strong> geizt nicht mit genialen Belehrungen!<br />

Den Moment für den Hieb haben die Versöhnler jedenfalls nicht übel gewählt. Die<br />

Gesichter des Präsidiums sind besorgt. Zum Glück ist <strong>der</strong> Wikschel kein unumschränkter<br />

Herr <strong>der</strong> Verkehrswege. Im Lande gehören die Eisenbahner den Lokalsowjets an. Schon<br />

hier, auf dem Kongreß, ruft das Ultimatum des Wikschel Zurückweisung hervor. »Die<br />

gesamte Eisenbahnermasse unseres Gebiets«, sagt <strong>der</strong> Delegierte von Taschkent, »ist für<br />

die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets.« Ein an<strong>der</strong>er Vertreter <strong>der</strong> Eisenbahnarbeiter<br />

nennt den Wikschel eine »politische Leiche«; Das ist wohl übertrieben. Gestützt auf die<br />

recht zahlreiche Oberschicht <strong>der</strong> Eisenbahnangestellten hat <strong>der</strong> Wikschel mehr Lebenskräfte<br />

behalten als an<strong>der</strong>e Spitzenorganisationen <strong>der</strong> Versöhnler. Doch gehört er zweifellos<br />

zum gleichen Typus wie die Armeekomitees o<strong>der</strong> das Zentral-Exekutivkomitee. Seine<br />

Planetenbahn ist im rapiden Nie<strong>der</strong>gang. Die Arbeiter grenzen sich überall von den<br />

Angestellten ab. Die unteren Angestellten stehen in Gegensatz zu den oberen. Das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 763


anmaßende Ultimatum des Wikschel wird diese Prozesse unausbleiblich beschleunigen.<br />

Nein, nicht die Stationsvorsteher werden den Zug <strong>der</strong> Oktoberrevolution aufhalten!<br />

»Es kann keine Rede sein von <strong>der</strong> Unrechtmäßigkeit des Kongresses«, erklärt autoritativ<br />

Karnenjew. »Das Quorum des Kongresses ist nicht von uns bestimmt worden,<br />

son<strong>der</strong>n vom alten Exekutivkomitee ... Der Kongreß ist das oberste Organ <strong>der</strong> Arbeiterund<br />

Soldatenmassen!« Einfacher Übergang zur Tagesordnung!<br />

Der Rat <strong>der</strong> Volkikommissare ist mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit bestätigt. Awilows<br />

Resolution vereinte nach <strong>der</strong> außerordentlich freigebigen Schätzung Suchanows etwa<br />

hun<strong>der</strong>tfünfzig Stimmen, hauptsächlich linker Sozialrevolutionäre. Der Kongreß bestätigt<br />

danach einmütig die Zusammensetzung des neuen Zentral-Exekutivkomitees: von<br />

hun<strong>der</strong>tundeinem Mitglied - zweiundsechzig Bolschewiki, neunundzwanzig linke Sozialrevolutionäre.<br />

Das Zentral-Exekutivkomitee soll später durch Vertreter <strong>der</strong> Bauernsowjets<br />

und <strong>der</strong> neu zu wählenden Armeeorganisationen ergänzt werden. Den Fraktionen,<br />

die den Sowjet verlassen haben, wird anheimgestellt, ihre Delegierten in das Zentral-Exekutivkomitee<br />

auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Proportionalität zu entsenden.<br />

Die Tagesordnung des Kongresses ist erschöpft. Die Sowjetmacht geschaffen. Sie hat<br />

ein Programm. Man kann an die Arbeit gehen, an <strong>der</strong> kein Mangel ist. Um 5 Uhr 15<br />

morgens schließt Kamenjew den Konstituierenden Kongreß des Sowjetregimes. Zu den<br />

Bahnhöfen! Nach Hause! An die Front, in die Fabriken und Kasernen, in die Bergwerke<br />

und fernen Dörfer! Mit den Kongreßdekreten werden die Delegierten die Hefe <strong>der</strong> proletarischen<br />

Umwälzung in alle Enden des Landes tragen.<br />

An diesem Morgen schrieb das Zentralorgan <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, das wie<strong>der</strong><br />

den alten Namen 'Prawda' angenommen hatte: »Sie wollen, daß wir allein die Macht<br />

übernehmen, daß wir allein mit den furchtbaren Schwierigkeiten, die vor dem Lande<br />

stehen, fertig werden ... Nun, wir übernehmen die Macht allein, gestützt auf die Stimme<br />

des Landes und in Erwartung <strong>der</strong> freundschaftlichen Hilfe des europäischen<br />

Proletariats. Aber im Besitze <strong>der</strong> Macht, werden wir gegen die Feinde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

und gegen <strong>der</strong>en Saboteure den eisernen Fausthandschuh anwenden. Sie haben von <strong>der</strong><br />

Diktatur Kornilow geträumt... Wir geben ihnen die Diktatur des Proletariats ...«<br />

Nachwort<br />

In <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>, gerade weil es eine wahrhafte Volksrevolution<br />

ist, die Millionen und Abermillionen in Bewegung brachte, läßt sich eine bemerkenswerte<br />

Folgerichtigkeit <strong>der</strong> Etappen beobachten. Ereignisse lösen einan<strong>der</strong> ab,<br />

gleichsam den Gesetzen <strong>der</strong> Schwere gehorchend. Das Kräfteverhältuis wird an je<strong>der</strong><br />

Etappe zweifach überprüft: zuerst zeigen die Macht ihres Vorstoßes die Massen; danach<br />

enthüllen die besitzenden Klassen, in dem Bestreben, Revanche zu nehmen, um so greller<br />

ihre Isoliertheit.<br />

Im Februar hatten sich die Arbeiter und Soldaten Petrograds zum Aufstand erhoben -<br />

nicht nur entgegen dem patriotischen Willen aller gebildeten Klassen, son<strong>der</strong>n auch<br />

entgegen den Berechnungen <strong>der</strong> revolutionären Organisationen. Die Massen bewiesen,<br />

daß sie unüberwindlich sind. Wären sie sich dessen selbst bewußt gewesen, sie wären die<br />

Macht geworden. Doch stand an ihrer Spitze noch keine starke und autoritäre revolutionäre<br />

Partei. Die Macht geriet in die Hände <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie, gefärbt in<br />

sozialistische Schutztönungen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre waren unfähig, für<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 764


das Vertrauen <strong>der</strong> Massen eme an<strong>der</strong>e Verwendung zu finden, als die liberale Bourgeoisie<br />

ans Steuer zu berufen, welche ihrerseits nichts an<strong>der</strong>es vermochte, als die ihr von den<br />

Versöhnlern unterschobene Macht in den Dienst <strong>der</strong> Entente-Interessen zu stellen.<br />

In den Apriltagen treten empörte Regimenter und Betriebe - wie<strong>der</strong>um ohne Auffor<strong>der</strong>ung<br />

seitens irgendeiner Partei - auf die Straßen Petrograds, um <strong>der</strong> imperialistischen<br />

Politik einer ihnen von den Versöhnlern aufgezwungenen Regierung Wi<strong>der</strong>stand zu<br />

leisten. Die bewaiffnete Demonstration erringt den Schein eines Erfolges. Miljukow, das<br />

Haupt des <strong>russischen</strong> Imperialismus, wird von <strong>der</strong> Macht entfernt. Die Versöhnler treten<br />

in die Regierung ein, nach außen hin als Bevollmächtigte des Volkes, in Wirklichkeit als<br />

Kommis <strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />

Ohne auch nur eine einzige <strong>der</strong> Aufgaben, die die <strong>Revolution</strong> erzeugt hatten, zu lösen,<br />

bricht im Juni die Koalitionsregierung den faktisch entstandenen Waffenstillstand an <strong>der</strong><br />

Front, indem sie die Truppen in eine Offensive wirft. Mit diesem Akt fügt sich das<br />

Februarregime, das ohnehin gekennzeichnet ist durch schwindendes Vertrauen <strong>der</strong><br />

Massen zu den Versöhnlem, einen fatalen Schlag zu. Es beginnt die Periode <strong>der</strong> unmittelbaren<br />

Vorbereitung <strong>der</strong> zweiten <strong>Revolution</strong>.<br />

Anfang Juli verfolgte die Regierung, die hinter sich alle besitzenden und gebildeten<br />

Klassen hatte, jegliche revolutionäre Äußerung als Vaterlandsverrat und Hilfe für den<br />

Feind. Die offiziellen Massenorganisationen - Sowjets und sozialpatriotische Parteien -<br />

kämpften mit den letzten Kräften gegen jede revolutionäre Aktion. Die Bolschewiki<br />

hielten aus taktischen Erwägungen die Arbeiter und Soldaten davor zurück, auf die<br />

Straße zugehen. Dennoch traten die Massen hervor. Die Bewegung erwies sich als unaufhaltsam<br />

und allgemein. Die Regierung war nicht zu sehen. Die Versöhnler hielten sich<br />

versteckt. Die Arbeiter und Soldaten waren in <strong>der</strong> Hauptstadt die Herren <strong>der</strong> Lage. Der<br />

Vorstoß zerschellte jedoch an <strong>der</strong> unzureichenden Vorbereitung <strong>der</strong> Provinz und <strong>der</strong><br />

Front.<br />

Ende August waren sämtliche Organe und Institutionen <strong>der</strong> besitzenden Klassen für<br />

eine konterrevolutionäre Umwälzung: Ententediplomatie, Banken, Verbände <strong>der</strong> Gutsbesitzer<br />

und industriellen, Kadettenpartei, Stäbe, Offizierkorps, große Presse. Als Organisator<br />

<strong>der</strong> Umwälzung trat kein Geringerer hervor als <strong>der</strong> Höchstkommandierende, gestützt<br />

auf den Kommandoapparat <strong>der</strong> Vielmillionenarmee. Beson<strong>der</strong>e, an allen Fronten ausgewählte<br />

Truppenteile wurden nach einer Geheimverständigung mit dem Regierungsoberhaupt<br />

unter dem Schein strategischer Notwendigkeiten auf Petrograd geworfen.<br />

In <strong>der</strong> Hauptstadt schien alles für den Erfolg des Unternehmens vorbereitet: die Arbeiter<br />

von den Behörden unter Mitwirkung <strong>der</strong> Versöhnler entwaffnet; die Bolschewiki<br />

unter dauernden Schlägen gehalten; die revolutionärsten Truppenteile aus <strong>der</strong> Stadt<br />

entfernt; Hun<strong>der</strong>te ausgesuchter Offiziere zu einer Stoßfaust konzentriert; zusammen mit<br />

den Junkerschulen und Kosakenabteilungen sollten sie eine imposante Macht darstellen.<br />

Und was geschah? Die Verschwörung, die, wie es schien, die Götter selbst begünstigten,<br />

zerfiel, kaum auf das revolutionäre Volk gestoßen, sofort zu Staub.<br />

Diese beiden Bewegungen, vom Anfang Juli und Ende August, verhielten sich zueinan<strong>der</strong><br />

wie ein. direktes und ein umgekehrtes Theorem. Die Julitage zeigten die Macht <strong>der</strong><br />

spontanen Massenbewegung. Die Augusttage enthüllten die völlige Ohnmacht <strong>der</strong> Regierenden.<br />

Dieses Verhältnis kündete die Unvermeidlichkeit eines neuen Zusammenstoßes.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 765


Provinz und Front schlossen sich unterdessen enger <strong>der</strong> Hauptstadt an. Dies war vorbestimmend<br />

für den Oktobersieg.<br />

»Die Leichtigkeit, mit <strong>der</strong> es Lenin und Trotzki gelang, die letzte Koalitionsregierung<br />

Kerenskis zu stürzen«, schrieb <strong>der</strong> Kadett Nabokow, »enthüllte die innere Ohnmacht<br />

dieser Regierung. Der Grad dieser Ohnmacht verblüffte damals sogar gut informiene<br />

Menschen.« Nabokow kommt offenbar gar nicht darauf, daß es um seine eigene<br />

Ohnmacht ging, um die Ohnmacht seiner Klasse, seiner Gesellschaftsordnung.<br />

Wie von <strong>der</strong> bewaffneten Julidemonstration die Kurve zum Oktoberaufstand führt, so<br />

läßt sich in <strong>der</strong> Kornilow-Bewegung eine Probe des in den letzten Oktobertagen von<br />

Kerenski unternommenen konterrevolutionären Feldzuges erkennen. Die einzige militärische<br />

Kraft, die <strong>der</strong> unter Deckung eines amerikanischen Fähnchens flüchtige demokratische<br />

Höchstkommandierende an <strong>der</strong> Front gegen die Bolschewiki fand, war das gleiche<br />

3. Kavalleriekorps, das zwei Monate zuvor von Kornilow zum Sturze Kerenskis ausersehen<br />

worden war. An <strong>der</strong> Spitze des Korps stand noch immer <strong>der</strong> Kosakengeneral Krassnow,<br />

kämpferischer Monarchist, auf seinen Posten von Kornilow gestellt: ein<br />

passen<strong>der</strong>er Heerführer konnte zur Verteidigung <strong>der</strong> Demokratie eben nicht gefunden<br />

werden.<br />

Vom Korps war allerdings nur noch <strong>der</strong> Name übriggeblieben: es bestand aus einigen<br />

Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften, die nach dem mißlungenen Versuch <strong>der</strong> Offensive gegen die<br />

Roten sich bei Petrograd mit den revolutionären Matrosen verbrü<strong>der</strong>ten. und Krassnow<br />

den Bolschewiki auslieferten. Kerenski war gezwungen zu flüchten - sowohl vor den<br />

Kosaken wie vor den Matrosen. So stellten sich acht Monate nach dem Sturze <strong>der</strong><br />

Monarchie an die Spitze des Landes die Arbeiter. Und stellten sich fest und sicher hin.<br />

»Wer vermag es zu glauben«, schrieb aus diesem Anlaß mit Entrüstung einer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Generale, Salesski, »daß <strong>der</strong> Portier o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wächter eines Gerichtsgebäudes<br />

plötzlich zum Vorsitzenden eines Friedensrichterkollegiums wird? O<strong>der</strong> <strong>der</strong> Krankenhauswärter<br />

zum Lazarettleiter; <strong>der</strong> Barbier zum hohen Beamten; <strong>der</strong> gestrige<br />

Fähnrich zum Höchstkommandierenden; <strong>der</strong> gestrige Lakai o<strong>der</strong> ungelernte Arbeiter<br />

zum Stadthauptmann; <strong>der</strong> gestrige Wagenschmierer - zum Revier- o<strong>der</strong> Bahnhofsvorsteher;<br />

<strong>der</strong> gestrige Schlosser - zum Werkstattdirektor?«<br />

»Wer vermag es zu glauben?« Man mußte es schon glauben. Wie nicht glauben,<br />

nachdem die Fähnriche Generale geschlagen; ein Stadthauptmann, ungelernter Arbeiter,<br />

den Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> gestrigen Herren nie<strong>der</strong>rang, Wagenschmierer den Transport ordneten;<br />

Schlosser als Direktoren die Industrie in Gang brachten.<br />

Die wichtigste Aufgabe eines politischen Regimes besteht nach einem bekannten englischen<br />

Aphorismus darin, richtige Männer auf den richtigen Platz zu stellen. Wie sieht<br />

unter diesem Gesichtswinkel die Erfahrung von 1917 aus? In den ersten zwei Monaten<br />

befehligte Rußland noch, nach dem Recht <strong>der</strong> Erbmonarchie, ein von <strong>der</strong> Natur benachteiligter<br />

Mann, <strong>der</strong> an Reliquien glaubte und Rasputin gehorchte. Während <strong>der</strong> weiteren<br />

acht Monate versuchten Liberale und Demokraten von ihren Regierungshöhen herab dem<br />

Volke nachzuweisen, <strong>Revolution</strong>en würden dazu gemacht, daß alles beim alten bleibe. Es<br />

ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, wenn diese Menschen über das Land hinweggingen wie schwankende<br />

Schatten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vom 25. Oktober ab trat an Rußlands<br />

Spitze Lenin, die größte Figur <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> politischen <strong>Geschichte</strong>. Es umgab ihn ein<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 766


Stab von Mitarbeitern, die; nach dem Geständnis <strong>der</strong> grimmigsten Feinde, wußten, was<br />

sie wollten, und die für ihre Ziele zu kämpfen verstanden. Welches nun von diesen drei<br />

Systemen hatte sich unter den konkreten Bedingungen fähig gezeigt, richtige Männer auf<br />

den richtigen Platz zu stellen?<br />

Den historischen Aufitieg <strong>der</strong> Menschheit kann man, im ganzen genommen, resümieren<br />

als eine Kette von Siegen des Bewußtseins über die blinden Kräfte - in Natur, Gesellschaft<br />

und im Menschen selbst. Der kritische und schöpferische Gedanke konnte sich bis<br />

auf den heutigen Tag <strong>der</strong> größten Erfolge rühmen im Kampfe mit <strong>der</strong> Natur. Die physikalisch-chemischen<br />

Wissenschaften sind bereits an dem Punkt angelangt, wo <strong>der</strong> Mensch<br />

sich offensichtlich anschickt, Herr <strong>der</strong> Materie zu werden. Die gesellschaftlichen Beziehungen<br />

jedoch gestalten sich noch immer in <strong>der</strong> Art von Koralleninseln. Der Parlamentarismus<br />

hat ein Licht nur auf die Oberfläche <strong>der</strong> Gesellschaft geworfen, und auch da nur<br />

ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und an<strong>der</strong>en Erbschaften von<br />

Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiß eine große<br />

Errungenschaft dar. Doch läßt sie das blinde Spiel <strong>der</strong> Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen<br />

<strong>der</strong> Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewußten<br />

erhob zum erstenmal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und<br />

Plan hineintragen in das Fundament <strong>der</strong> Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen<br />

herrschten.<br />

Die Gegner triumphieren schadenfroh darüber, daß das Land <strong>der</strong> Sowjets an<strong>der</strong>thalb<br />

Jahrzehnte nach <strong>der</strong> Umwälzung einem Reiche des allgemeinen Wohlstandes noch sehr<br />

wenig ähulich sieht. Ein solches Argument könnte diktiert sein von einer übermäßigen<br />

Anbetung <strong>der</strong> magischen Kraft sozialistischer Methoden, wäre es in Wirklichkeit nicht<br />

mit <strong>der</strong> Verblendung <strong>der</strong> Feindseligkeit zu erklären. Der Kapitalismus hat Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

gebraucht, um durch Steigerung <strong>der</strong> Wissenschaft und Technik die Menschheit in die<br />

Hölle des Krieges und <strong>der</strong> Krise zu stürzen. Dem Sozialismus lassen die Feinde nur<br />

an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte, um das Paradies auf Erden zu errichten und einzurichten. Solche<br />

Verpflichtungen haben wir nicht übernommen. Solche Fristen niemals gestellt. Prozesse<br />

großer Umwandlungen müssen mit den ihnen adäquaten Maßstäben gemessen werden.<br />

Aber das Elend, das über die lebendigen Menschen hereinbricht? Aber Feuer und Blut<br />

des Bürgerkrieges? Rechtfertigen überhaupt die Ergebnisse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die durch sie<br />

verursachten Opfer? Die Frage ist teleologisch und deshalb unfruchtbar. Mit gleichem<br />

Recht kann man angesichts <strong>der</strong> Mühen und Leiden des persönlichen Daseins fragen:<br />

lohnt es sich überhaupt, geboren zu werden? Melancholische Betrachtungen aber haben<br />

die Menschen bis jetzt, nicht gehin<strong>der</strong>t, zu gebären und geboren zu werden. Sogar in <strong>der</strong><br />

Zeit <strong>der</strong> heutigen unerträglichen Leiden greift zum Selbstmord trotz allem nur ein kleiner<br />

Prozentsatz <strong>der</strong> Bevölkerung unseres Planeten. Die Völker jedoch suchen aus den<br />

unerträglichen Schwierigkeiten einen Ausweg in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />

Ist es nicht bemerkenswert, daß über die Opfer sozialer Umwälzungen mit größter<br />

Entrüstung am häufigsten jene sprechen, die, wenn sie nicht die unmittelbaren Urheber<br />

<strong>der</strong> Opfer des, Weltkrieges waren, so doch ihn vorbereitet, gepriesen o<strong>der</strong> sich mindestens<br />

mit ihm abgefunden hatten. Wir sind an <strong>der</strong> Reihe, zu fragen: hat sich <strong>der</strong> Krieg<br />

gelohnt? was hat er ergeben? was gelehrt?<br />

Man braucht jetzt wohl kaum bei den Behauptungen <strong>der</strong> gekränkten <strong>russischen</strong> Besitzenden<br />

zu verweilen, die <strong>Revolution</strong> habe zum kulturellen Abstieg des Landes geführt.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 767


Die von <strong>der</strong> Oktoberumwälzung gestürzte Adelskultur stellte letzten Endes nur eine<br />

oberflächliche Nachahmung <strong>der</strong> höheren Muster des Westens dar. Unerreichbar für das<br />

russische Volk, hatte sie nichts Wesentliches zum Schatze <strong>der</strong> Menschheit beigetragen.<br />

Die Oktobcrrevolution hat das Fundament zu einer neuen Kultur gelegt, berechnet für<br />

alle, und gerade darum hat sie internationale Bedeutung. Sogar wenn das Sowjetregime<br />

infolge ungünstiger Umstände und feindlicher Schläge - nehmen wir das für einen<br />

Augenblick an - vorübergehend gestürzt werden sollte, <strong>der</strong> unauslöschliche Stempel <strong>der</strong><br />

Oktoberumwälzung würde dennoch auf <strong>der</strong> ganzen weiteren Menschheitsentwicklung<br />

verbleiben.<br />

Die Sprache <strong>der</strong> zivilisierten Nationen hat deutlich zwei Epochen in Rußlands<br />

Entwicklung vermerkt. Wenn die Adelskultur in den Weltgebrauch solche Barbarismen<br />

luneingetragen hat wie Zar, Pogrom und Nagajka, so hat <strong>der</strong> Oktober solche Worte international<br />

gemacht wie Bolschewik, Sowjet, Pjatilletka. Das allein rechtfertigt die proletarische<br />

<strong>Revolution</strong>, nimmt man überhaupt an, daß sie einer Rechtfertigung bedarf.<br />

<br />

Anhang zu Band 1<br />

Anhang 1<br />

Zum Kapitel "Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands"<br />

Die Frage nach den Eigenarten <strong>der</strong> historischen Entwicklung Rußlands und in Zusammenhang<br />

damit nach seinen zukünftigen Schicksalen bildete fast während des ganzen 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts die Grundlage aller Streitigkeiten und Gruppierungen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Intelligenz.<br />

Das Slawophilentuin und das Westlertum entschieden diese Frage in entgegengesetzten<br />

Richtungen, aber in gleicher Weise kategorisch. Sie wurden von dem<br />

Narodnikitum und dem Marxismus abgelöst. Bevor das Narodnikitum unter dem Einfluß<br />

des bürgerlichen Liberalismus endgültig verblaßte, hatte es lange und beharrlich einen<br />

eigenartigen Entwicklungsweg Rußlands unter Umgehung des Kapitalismus verteidigt.<br />

In diesetn Sinne setzten die Narodniki die slawophile Tradition fort, wobei sie sie jedoch<br />

von den monarchistisch-kirchlich-panslawistischen Elementen reinigten und ihr einen<br />

revolutionär-demokratischen Charakter verliehen.<br />

Im wesentlichen waren die Konzeptionen des Slawophilentums, bei all ihrer reaktionären<br />

Phantasterei, wie auch die des Narodnikitums bei all ihrer demokratischen Illusion,<br />

keinesfalls nackte Spekulationen, son<strong>der</strong>n stützten sieh auf unbestreitbare und dabei<br />

tiefe, bloß einseitig erfaßte und falsch bewertete Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands.<br />

Der russische Marxismus, <strong>der</strong> die Identität <strong>der</strong> Eistwicklungsgesetze für alle Län<strong>der</strong><br />

nachwies, verfiel im Kampfe mit den Narodniki nicht selten in dogmatische Schablonisierung<br />

und zeigte dabei Neigung, mit dem Seifenwasser auch das Kind aus dem Bade zu<br />

schütten. Beson<strong>der</strong>s kraß äußert sich diese Neigung in vielen Arbeiten des bekannten<br />

Professors Pokrowski.<br />

Im Jahre 1922 fiel Pokrowski über die historische Konzeption des Autors dieses<br />

Buches, <strong>der</strong>en Grundlage die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> bildet, her. Wir erachten<br />

es als nützlich, mindestens für Leser, die sich nicht nur für den dramatischen Verlauf<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 768


<strong>der</strong> Ereignisse, son<strong>der</strong>n auch für die Doktrin <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> interessieren, die wesentlichsten<br />

Auszüge aus unserer Antwort an Professor Pokrowski, die in zwei Nummern des<br />

Zentralorgans <strong>der</strong> Partei, 'Prawda' vom 1. und 2. Juli 1922, publiziert wurde, hier<br />

anzuführen.<br />

Über die Eigenarten <strong>der</strong> historischen Entwicklung Rußlands<br />

Pokrowski veröffentlichte einen meinem Buche "1905" gewidmeten Artikel, <strong>der</strong> ein<br />

lei<strong>der</strong> negatives! - Zeugnis dafür ist, welch komplizierte Sache die Anuiendung <strong>der</strong><br />

Methoden des historischen Materialismus auf die lebendige menschliche <strong>Geschichte</strong><br />

darstellt und unter welche Schablonen sogar so weitgehend informierte Menschen wie<br />

Pokrowski nicht selten die <strong>Geschichte</strong> bringen.<br />

Das Buch (das Pukrowski einer Kritik unterwarf) ist in <strong>der</strong> unmittelbaren Absicht<br />

entstanden, die Losung <strong>der</strong> Machteroberung durch das Proletariat sowohl im Gegensatz<br />

zur Losung <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen Republik wie auch zur Losung <strong>der</strong> demokratischen<br />

Regierung des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft historisch zu begründen und<br />

theoretisch zu rechtfertigen ... Dieser Gedankengang hat bei einer nicht geringen Anzahl<br />

Marxisten, richtiger gesagt, bei <strong>der</strong> überwiegenden Mehrheit, die hellste theoretische<br />

Entrüsrung hervorgerufen. Träger dieser Entrüstung waren nicht nur die Menschewiki,<br />

son<strong>der</strong>n auch Kamenew und Roschkow (ein bolsehewistiseher Historiker). Ihr Standpunkt<br />

war im großen und ganzen folgen<strong>der</strong>: die politische Herrschaft <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

muß <strong>der</strong> politischen Herrschaft des Proletariats vorangehen; die bürgerlich-demokratische<br />

Republik muß eine lange historische Schule für das Proletariat sein; <strong>der</strong> Versuch,<br />

diese Stufe zu überspringen, ist Abenteurertum; wenn die Arbeiterklasse im Westen die<br />

Macht nicht erobert hat, wie darf dann das russische Proletariat sich diese Aufgabe<br />

stellen, usw. usw. Vom Standpunkte dieses Scheinmarxismus, <strong>der</strong> sieh auf historische<br />

Schablonen und formale Analogien beschränkt, historische Epochen in eine logische<br />

Aufeinan<strong>der</strong>folge unbeugsamer sozialer Kategorien verwandelt (Feudalismus, Kapitalismus,<br />

Sozialismus, Selbstherrschertum, bürgerliche Repubhk, Diktatur des Proletariats), -<br />

von diesem Standpunkte aus muß die Losung <strong>der</strong> Machteroberung durch die Arbeiterklasse<br />

in Rullland als ungeheuerlicher Verzicht auf den Marxismus erscheinen. Indes<br />

beweist schon eine ernsthafte empirische Bewertung <strong>der</strong> sozialen Kräfte, wie sie in den<br />

Jahren 1903-05 zum Ausdruck kamen, gebieteriseh die ganze Lebensfülle des Kampfes<br />

<strong>der</strong> Arbeiterklasse um die Eroberung <strong>der</strong> Macht. Ist es eine Eigenart, o<strong>der</strong> ist es keine?<br />

Setzt sie tiefe Eigenarten <strong>der</strong> gesamten historischen Entwicklung voraus o<strong>der</strong> nicht? Auf<br />

welche Weise erstand eine solche Aufgabe vor dem Proletariat Rußlands, das beißt des<br />

(mit Pokrowskis Erlaubnis) rückständigsten Landes Europas?<br />

Und worin besteht die Rückständigkeit Rußlands? Darin, daß Rußland die <strong>Geschichte</strong><br />

<strong>der</strong> westeuropäischen Län<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>holt, nur mit einer Verspätung? Aber konnte man<br />

dann von <strong>der</strong> Machteroberung durch das russische Proletariat sprechen? Diese Macht<br />

jedoch hat das Proletariat (wir nehmen uns die Freiheit, daran zu erinnern) erobert.<br />

Worum handelt es sich denn eigentlich? Darum, daß unter Druck und Einfluß <strong>der</strong><br />

höheren Kultur des Westens die unzweifelhafte und unbestrittene Verspätung <strong>der</strong><br />

Entwicklung Rußlands nicht eine einfache Wie<strong>der</strong>holung des westeuropäischen historischen<br />

Prozesses ergibt, son<strong>der</strong>n tiefe Beson<strong>der</strong>heiten, die ein selbständiges Studium<br />

erfor<strong>der</strong>n.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 769


Die tiefe Eigenart unserer politischen Situation, die vor Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in<br />

Europa zur siegreichen Oktoberrevolution geführt hat, war in dem beson<strong>der</strong>en Kräfteverhältuis<br />

zwischen den verschiedenen Klassen und <strong>der</strong> Staatsmacht enthalten. Als<br />

Pokrowski und Roschkow sieh mit Narodniki o<strong>der</strong> Liberalen herumstritten und nachwiesen,<br />

daß Organisation und Politik des Zarismus von <strong>der</strong> wirtschaftlichen Entwicklung<br />

und den Interessen <strong>der</strong> besitzenden Klassen bestimmt wurden, hatten sie im wesentlichen<br />

recht. Wenn aber Pokrowski dies gegen mich zu wie<strong>der</strong>holen versucht, trifft er einfach<br />

daneben.<br />

Folge unserer verspäteten historischen Entwicklung unter den Bedingungen <strong>der</strong><br />

imperialistischen Umkreisung war, daß unsere Bourgeoirie nicht Zeit fand, den Zarismus<br />

beiseite zu stoßen, bevor sich das Proletariat in eine selbständige revolutionäre Kraft<br />

verwandelt hatte.<br />

Für Pokrowski jedoch existiert jene Frage, die für uns das zentrale Thema <strong>der</strong> Untersuchung<br />

bildet, überhaupt nicht ...<br />

Pokrowski schreibt: »Auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> gesamteuropäischen Beeziehungen<br />

jener Zeit das moskowitische Rußland des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu schil<strong>der</strong>n, ist eine höchst<br />

verlockende Aufgabe. Durch nichts läßt sich das bis heute, sogar in marxistischen<br />

Kreisen, herrschende Vorurteil über die angebliche "Primitivität" jener ökonomischen<br />

Basis, auf <strong>der</strong> das russische Selbstherrschertum entstanden ist, besser wi<strong>der</strong>legen.« Und<br />

ferner: »Dieses Selbstherrschertum in seinem wahren historischen Zusammenhang zu<br />

zeigen, als einen <strong>der</strong> Aspekte des handelskapitalistischen Europa ... das ist eine nicht nur<br />

für den Historiker äußerst interessante, son<strong>der</strong>n auch für das lesende Publikum pädagogisch<br />

sehr wichtige Aufgabe: es gibt kein radikaleres Mittel, mit <strong>der</strong> Legende von <strong>der</strong><br />

"Eigenart" des <strong>russischen</strong> historischen Prozesses Schluß zu machen.« Wie wir sehen,<br />

leugnet Pokrowski völlig die Primitivität und Rückständigkeit unserer wirtschaftlichen<br />

Entwicklung und führt gleichzeitig die Eigenart des <strong>russischen</strong> historischen Prozesses in<br />

das Reich <strong>der</strong> Legende zurück. Der Kern <strong>der</strong> ganzen Sache liegt aber darin, daß<br />

Pokrowski durch die von ihm wie auch von Roschkow beobachtete verhältnismäßig<br />

weitgehende Entwicklung des <strong>russischen</strong> Handels im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t völlig hypnotisiert<br />

ist. Es ist schwer begreiflich, wie Pokrowski in einen solchen Irrtum verfallen konnte.<br />

Man müßte tatsächlich annehmen, <strong>der</strong> Handel bilde die Basis des Wirtschaftslebens und<br />

dessen unfehlbaren Maßstab. Der deutsche Nationalökonom Karl Bücher hatte vor etwa<br />

zwanzig Jahren versucht, im Handel (dem Weg vom Produzenten zum Konsumenten)<br />

das Kriterium <strong>der</strong> gesamten Wirtschaftsentwicklung zu entdecken. Struve beeilte sich<br />

natürlich, diese "Entdeckung" in die russische ökonomische "Wissenschaft" zu verpflanzen.<br />

Büchers Theorie fand damals sofort eine ganz selbstverständliche Zurückweisung<br />

seitens <strong>der</strong> Marxisten. Wir suchen das Kriterium <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung in <strong>der</strong><br />

Produktion - in <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong> gesellschaftlichen Organisierung <strong>der</strong> Arbeit -,<br />

während wir den Weg, den das Erzeugnis vom Produzenten zum Konsunsenten durehmacht,<br />

als eine Erscheinung zweiter Ordnung betrachten, <strong>der</strong>en Wurzeln in <strong>der</strong> gleichen<br />

Produktion zu suchen sind.<br />

Das wenigstens in räumlicher Hinsicht große Ausmaß des <strong>russischen</strong> Handels im 16.<br />

Jalsrhun<strong>der</strong>t läßt sich - so paradox das vom Standpunkte des Bücher-Struveschen Kriteriums<br />

auch erscheinen mag gerade mit <strong>der</strong> außerordentlichen Primitivität und Rückständigkeit<br />

<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirtschaft erklären. Die westeuropäische Stadt beherrsehten<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 770


Handwerkszünfte und Handelsgilden. Bei uns waren die Städte in erster Linie administrativ-militätische,<br />

folglich konsumierende und nicht produzierende Zentren. Die<br />

handwerklich-zünftige Lebensform des Westens entstand auf einem verhältnismäßig<br />

hohen Niveau <strong>der</strong> Wirtscaftsentwicklung, als alle grundlegenden Prozesse <strong>der</strong> bearbeitenden<br />

Industrie sich vom Ackerbau getrennt, in selbständige Handwerkszwege verwandelt<br />

und egene Organisationen, ein eigenes Zentrum gebildet hatten, die Stadt, mit einem,<br />

wenn auch in <strong>der</strong> ersten Zeit auf bestimmte Gebiete beschränkten, so doch festen Markt.<br />

Die Grundlage <strong>der</strong> mittelalterlich europäischen Stadt war folglich eine verhältnismäßig<br />

hohe Differenzierung <strong>der</strong> Wirtschaft, die zwischen dem Zentrum Stadt und seiner<br />

landwirtschaftlichen Peripherie geordnete Beziehungen schuf. Dagegen fand unsere<br />

wirtschaftliche Rückständigkeit ihren Ausdruck vor allem darin, daß sich Handwerk von<br />

Ackerbau nicht getrennt in Form von Heimarbeit bewahrt hatte. Hier sind wir Indien<br />

näher als Europa, wie unsere mittelalterlichen Städte den asiatischen näher waren als den<br />

europäischen, und wie unser Selhstherrschertum, zwischen europäischem Absolutismus<br />

und asiatischer Despotie stehend, sich in vielen Zügen <strong>der</strong> letzteren näherte.<br />

Der Austausch <strong>der</strong> Erzeugnisse setzte bei <strong>der</strong> Unermeßlichkeit unseres Raumes und <strong>der</strong><br />

Dünne <strong>der</strong> Bevölkerung (man sollte glauben, ein ebenfalls genügend objektives Merkmal<br />

<strong>der</strong> Rückständigkeit) die Vermittlerrolle des Handelskapitals in breitestem Ausmaße<br />

voraus. Dieses Ausmaß war eben dadurch möglich, daß <strong>der</strong> Westen auf einem viel<br />

höheren Entwicklungsniveau stand, seine komplizierten Bedürfnisse hatte, seine<br />

Kaufleute und seine Ware sandte und damit bei uns den Handelsumsatz auf unserer<br />

primitivsten und zum großen Teil barbarischen Wirtschaftsgrundlage vorwärtsstieß.<br />

Diese größte Eigenart unserer historischen Entwicklung außer acht lassen, heißt unsere<br />

ganze <strong>Geschichte</strong> übersehen.<br />

Mein sibirischer Arbeitgeber (ich hatte bei ihm zwei Monate lang die Pud und Arschin<br />

in das Handelsbuch einzutragen) Jakow Andrejewitsch Tschernych - es war nicht im 16.<br />

son<strong>der</strong>n zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts - herrschte vermittels seiner Handelsoperationen<br />

fast uneingeschränkt in den Grenzen des Kirenskischen Kreises. Jakow Andrejewitsch<br />

kaufte bei den Tungusen Rauchware auf, bei den Popen <strong>der</strong> entlegenen Dorfbezirke das<br />

Deputatgetreide, brachte von den Jahrmärkten in Irbit und Nishnij-Nowgorod Kattun<br />

heim und war hauptsächlich Lieferant von Schnaps (im Gouvernement Irkutsk war zu<br />

jener Zeit das Branntweinmonopol noch nicht eingeführt). Jakow Andrejewitseh war<br />

Analphabet, jedoch Millionär (nach dem damaligen, nicht nach dem heutigen Gewicht<br />

<strong>der</strong> "Nullen"). Seine "Diktatur" als des Vertreters des Handelskapitals war unbestritten.<br />

Er pflegte sogar nicht an<strong>der</strong>s als von »meinen Tungus'chen« zu sprechen. Die Städte<br />

Kirensk, Wercholensk, wie Nischne-Ilimsk waren Hauptstädte <strong>der</strong> Isprawniks und<br />

Pristaws, <strong>der</strong> Kulaken von gegenseitiger hierarchischer Abhängigkeit, allerhand kleiner<br />

Beamter und irgendwelcher armseliger Handwerker. Ich konnte dort kein organisiertes<br />

Handwerk, als die Basis eines städtischen Wirtschaftslebens entdecken, we<strong>der</strong> Zünfte,<br />

noch Zunftfestlichkeiten, noch Gilden, obwohl Jakow Andrejewitsch als »Kaufmann<br />

zweiter Gilde« zählte. Wahrlich, dieses lebendige Stück sibirischer Wirklichkeit führt uns<br />

viel tiefer in das Verständnis für die historischen Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands<br />

ein als das, was Pokrowski darüber sagt. In <strong>der</strong> Tat. Jakow Andrejewitschs Handelsoperationen<br />

erstreckten sich vom Mittellauf <strong>der</strong> Lena und ihren östlichen Nebenflüssen bis<br />

nach Nishnij-Nowgorod und sogar Moskau. Nicht viele Handelsfirmen des kontinentalen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 771


Europa sind in <strong>der</strong> Lage, solche Entfernungen auf ihrer Handelskarte zu verzeichnen.<br />

Indes war dieser Handelsdiktator - in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> sibirischen Bauern <strong>der</strong> »Kreuzkönig«<br />

- das vollendetste und überzeugendste Symbol unserer wirtschaftlichen Rückständigkeit,<br />

Barbarei, Primitivität, Bevölkerungsdünne, Verstreutheit <strong>der</strong> Bauerndörfer und<br />

Gemeinden, <strong>der</strong> unpassierbaren Landwege, die während des Hochwassers im Frühling<br />

und Herbst für die Dauer von zwei Monaten um ganze Kreise, Bezirke und Dörfer eine<br />

Sumpfblockade errichten, wie auch des allgemeinen Analphabetismus, usw. usw.<br />

Tschernych vermochte auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> sibirischen (Mittel-Lena) Barbarei zu<br />

seiner Handelsbedeutung emporzusteigen, weil <strong>der</strong> Westen - »Rußland«, »Moskaus -<br />

drückte und Sibirien ins Schlepptau nahm und so eine Mischung von wirtschaftlich-nomadenhaftem<br />

Urzustand und Warschauer Weckeruhr hervorbrachte.<br />

Das Zunfthandwerk bildete das Fundament <strong>der</strong> mittelalterlichen Stadtkultur, die auch<br />

auf das Dorf ausstrahlte. Mittelalterliche Wissenschaft, Scholastik, religiöse Reformation<br />

erwuchsen auf dem Boden <strong>der</strong> Handwerkszunft. Bei uns gab es das nicht. Gewiß kann<br />

man Keime, Symptome, Anzeichen finden, im Westen aber waren es nicht Anzeichen,<br />

son<strong>der</strong>n gewaltige wirtschaftlich-kulturelle Formationen mit einem handwerkszünftigen<br />

Fundament. Darauf basierte die mittelalterliche europäische Stadt, darauf erwuchs sie,<br />

trat in Kampf gegen Kirche und Feudale und reichte <strong>der</strong> Monarchie die Hand gegen die<br />

Feudalen. Die gleiche Stadt schuf in Form von Feuerwaffen auch die technischen<br />

Voraussetzungen für die stehenden Heere.<br />

Wo gab es denn bei uns Städte mit Handwerkszünften, die auch nur im Entferntesten<br />

den Städten Westeuropas ähnelten? Wo ihren Kampf gegen die Feudalen? O<strong>der</strong> hat <strong>der</strong><br />

Kampf <strong>der</strong> gewerbe- und handeltreibenden Stadt gegen die Feudalen die Basis für die<br />

Entwicklung des <strong>russischen</strong> Selbstherrsehertums geschaffen? Einen solchen Kampf hat<br />

es bei uns schon wegen des Charakters unserer Städte nicht gegeben, wie es bei uns<br />

keine Reformation gegeben hat. Ist das eine Eigenart, o<strong>der</strong> ist es keine?<br />

Unser Handwerk verblieb auf dem Stadium <strong>der</strong> Heimarbeit, das heißt es son<strong>der</strong>te sich<br />

vom bäuerlichen Ackerbau nicht ab. Die Reformation blieb im Stadium bäuerlicher<br />

Sekten, da sie keine Führung seitens <strong>der</strong> Städte fand. Primitivität und Rückständigkeit<br />

schreien hier zum Himmel ...<br />

Der Zarismus als selbständige Staatsorganisation (und dies wie<strong>der</strong>um nur verhältnismäßig,<br />

in den Grenzen des Kampfes <strong>der</strong> lebendigen historischen Kräfte auf wirtschaftlicher<br />

Basis) wuchs empor nicht dank dem Kampfe mächtiger Städte gegen mächtige<br />

Feudale, son<strong>der</strong>n trotz <strong>der</strong> völligen industriellen Blutarmut unserer Städte und dank <strong>der</strong><br />

Blutarmut unserer Feudalen.<br />

Polen stand seiner sozialen Struktur nach zwischen Rußland und dem Westen, wie<br />

Rußland zwischen Asien und Europa. Den polnischen Städten war das Zunfthandwerk<br />

weitaus bekannter als den <strong>russischen</strong>. Aber es gelang ihnen nicht, sich <strong>der</strong>art zu erheben,<br />

um <strong>der</strong> Königsmacht zu helfen, die Feudalen zu besiegen. Die Staatsmacht blieb unmittelbar<br />

in den Händen des Adels. Die Folge: völlige Ohnmacht des Staates und sein<br />

Zerfall.<br />

Was über den Zarismus gesagt ist, gilt auch für Kapital und Proletariat: unbegreiflich,<br />

weshalb Pokrowski seinen Zorn nur gegen das erste Kapitel richtet, das vom Zarismus<br />

handelt. Der russische Kapitalismus hat sich nicht vom Handwerk über die Manufaktur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 772


zur Fabrik entwickelt, weil das europäische Kapital, und zwar anfangs in Form des<br />

Handels- und später in Form des Finanz- und Industriekapitals, sich in jener Periode auf<br />

uns warf, wo das russische Handwerk in seiner Masse sich noch nicht vom Ackerbau<br />

losgelöst hatte. Daher das Auftreten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen kapitalistischen Industrie in Rußland<br />

im Umkreis wirtschaftlicher Primitivität: eine belgische o<strong>der</strong> amerikanische Fabrik, und<br />

ringsherum Siedlungen, Dörfer aus Stroh und Holz, die alljährlich abbrennen, und so<br />

weiter. Die allerprimitivsten Anfänge und die allerletzten europäischen Fortschritte.<br />

Daher - die gewaltige Rolle des westeuropäischen Kapitals in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirtschaft.<br />

Daher - die politische Schwäche <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. Daher - die Leichtigkeit, mit<br />

<strong>der</strong> wir mit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie fertig wurden. Daher - die weiteren Schwierigkeiten,<br />

als sich die europäische Bourgeoisie in die Sache einmischte...<br />

Und unser Proletariat? Ist es durch die Schule <strong>der</strong> mittelalterlichen Brü<strong>der</strong>schaften <strong>der</strong><br />

Handwerksgehilfen gegangen? Besitzt es die jahrhun<strong>der</strong>tealten Traditionen <strong>der</strong> Zünfte?<br />

Nichts davon. Es wurde vom Holzpflug losgerissen und unmittelbar an den Fabrikkessel<br />

geworfen ... Daher - das Fehlen konservativer Traditionen, das Fehlen von Kasten im<br />

Proletariat selbst, die revolutionäre Frische und daher, neben an<strong>der</strong>en Gründen, <strong>der</strong><br />

Oktober, die erste Atbeiterregierung <strong>der</strong> Welt. Aber daher auch Analphabetismus,<br />

Rückständigkeit, Mangel an Organisationsgewohnheiten, an Systematik bei <strong>der</strong> Arbeit,<br />

an kultureller und technischer Erziehung. Wir spüren all diese Mankos in unserem<br />

wirtschaftlich-kulturellen Aufbau auf Schritt und Tritt.<br />

Der russische Staat prallte wie<strong>der</strong>holt mit den militärischen Organisadenen <strong>der</strong><br />

Westnationen, die auf einer ökononsisch, politisch und kulturell höheren Basis standen,<br />

zusammen. So stieß auch das russische Kapital bei seinen ersten Schritten mit dem viel<br />

entwickelteren und mächtigeren Kapital des Westens zusammen und geriet unter dessen<br />

Führung. Und so fand auch die russische Arbeiterklasse bei ihren ersten Schritten fertige,<br />

von <strong>der</strong> Erfahrung des westeuropäischen Proletariats ausgearbeitete Waffen vor: die<br />

marxistische Theorie, die Gewerkschaften, die politische Partei. Wer Wesen und Politik<br />

des Selbstherrschertums nur mit den Interessen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> besitzenden Klassen<br />

erklärt, <strong>der</strong> vergißt, daß es außer den rückständigen, ärmeren und ungebildeteren<br />

Ausbeutern Rußlands auch die reicheren, mächtigeren Ausbeuter des Westens gegeben<br />

bat. Die besitzenden Klassen Rußlands waren gezwungen, mit den, feindlichen o<strong>der</strong><br />

halbfeindlichen, besitzenden Klassen Europas zusatnmenzustoßen. Diese Zusammenstöße<br />

vollzogen sich vermittels <strong>der</strong> Staatsorganisation. Diese Organisarion war das<br />

Selbstherrschertum. Die gesamte Struktur und <strong>Geschichte</strong> des Selbstherrschertums wäre<br />

eine an<strong>der</strong>e geworden, hätte es nicht die europäischen Städte, das eurepäische Pulver<br />

(denn nicht wir haben es erfunden) und die europäische Börse gegeben.<br />

In <strong>der</strong> letzten Epoche seines Daseins war das Selbstherrschertum nicht nur das Organ<br />

<strong>der</strong> besitzenden Klassen Rußlands, son<strong>der</strong>n auch eine Organisation <strong>der</strong> europäischen<br />

Börse zur Ausbeutung Rußlands. Diese doppelte Rolle wie<strong>der</strong>um verlieh ihm eine sehr<br />

beträchtliche Selbständigkeit. Ein krasser Ausdruck dafür war die Tatsache, daß die<br />

französische Börse zur Unterstützung des Selbstherrschertums diesem im Jahre 1905<br />

gegen den Willen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie eine Anleihe gab.<br />

Der Zarismus wurde im imperialistischen Kriege zertrümmert. Weshalb? Weil unter<br />

ihm ein zu niedriges Produktionsfundament stand ("Primitivität"). In kriegstechnischer<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 773


Beziehung war <strong>der</strong> Zarismus bestrebt, sich den vollkommensten Vorbil<strong>der</strong>n<br />

anzugleichen. Die reicheren und zivilisierteren Verbündeten unterstützten ihn darin auf<br />

jede Weise. Deshalb standen dem Zarismus die vollkommensten Kriegsmittel zur Verfügung.<br />

Aber er besaß nicht die Möglichkeit (und konnte sie nicht besitzen), diese Mittel<br />

zu erzeugen und sie (wie auch die Menschenmassen) mit genügen<strong>der</strong> Schnelligkeit auf<br />

Eisenbahnen und Wasserwegen zu transportieren. Mit an<strong>der</strong>en Worten, <strong>der</strong> Zarismus<br />

verteidigte die Interessen <strong>der</strong> besitzenden Klassen Rußlands im internationalen Kampfe,<br />

gestützt auf ein primitiveres Wirt-schaftsfundament als seine Feinde und Verbündeten.<br />

Dieses Fundament beutete <strong>der</strong> Zarismus im Kriege schonungslos aus, das heißt er<br />

verschlang einen viel höheren Prozentsatz an nationalem Besitz und nationalen Einnahmen<br />

als die mächtigen Feinde und Verbündeten. Diese Tatsache fand ihren Ausdruck<br />

einerseits ins System <strong>der</strong> Kriegsschulden, an<strong>der</strong>erseits im völligen Ruin Rußlands...<br />

Alle diese Umstände, die die Oktoberrevolution, den Sieg des Proletariats und dessen<br />

weitere Schwierigkeiten unmittelbar vorausbestimmten, werden durch die Gemeinplätze<br />

Pokrowskis durchaus nicht geklärt.<br />

Anhang 2<br />

Zum Kapitel "Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei"<br />

In <strong>der</strong> New Yorker Tageszeitung 'Nowyi Mir' ('Neue Welt'), die für russische Arbeiter<br />

in Amerika bestimmt war, versuchte <strong>der</strong> Autor dieses Buches, gestützt auf spärliche<br />

Informationen <strong>der</strong> amerikanischen Presse, die Analyse und die Prognose <strong>der</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu geben. »Die innere <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> sich entwickelnden<br />

Ereignisse«, schrieb <strong>der</strong> Autor am 6. März (alten Stils), »ist uns nur aus Bruchstücken<br />

und Anspielungen, die in den offiziellen Telegrammen durchschlüpfen, bekannt.« Die <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> gewidmete Artikelserie beginnt am 27. Februar und bricht, infolge <strong>der</strong><br />

Abreise des Autors aus New York, am 14. März ab. Wir bringen aus dieser Serie in<br />

chronologischer Folge Auszüge, die einen Begriff geben können von den Ansichten über<br />

die <strong>Revolution</strong>, mit denen <strong>der</strong> Autor am, 4. Mai nach Rußland kam.<br />

Am 27. Februar:<br />

»Die desorganisierte, kompromittierte, uneinige Regierung an <strong>der</strong> Spitze; die bis in<br />

ihre Tiefen aufgelockerte Armee, die Unzufriedenheit, Unsicherheit und Angst <strong>der</strong> besitzenden<br />

Klassen; die tiefe Erbitterung <strong>der</strong> Volksmassen; das zahlenmäßige Anwachsen<br />

des im Feuer <strong>der</strong> Ereignisse gestählten Proletariats, - all das gibt uns das Recht, zu<br />

behaupten, daß wir Zeugen <strong>der</strong> beginnenden Zweiten Russischen <strong>Revolution</strong> sind.<br />

Hoffen wir, daß viele von uns ihre Teilnehmer sein werden.«<br />

Am 3. März:<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 774


»Zu früh haben die Rodsjanko und Miljukow von Ordnung zu reden begonnen, und<br />

nicht so bald wird sich das aufgewühlte Rußland beruhigen. Schicht um Schicht wird<br />

sieh das Land jetzt erheben - alle vom Zarismus und den herrschenden Klassen Unterdrückten,<br />

dem Elend Preisgegebenen, Ausgeplün<strong>der</strong>ten - auf dem ganzen unermeßlichen<br />

Raum des all<strong>russischen</strong> Völkergefängnisses. Die Petrogra<strong>der</strong> Ereignisse sind nur <strong>der</strong><br />

Anfang. An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Volksmassen Rußlands wird das revolutionäre Proletariat<br />

seine historische Arbeit verrichten; es wird die monarchische und adlige Reaktion aus all<br />

ihren Zufluchtsstätten vertreiben und seine Hand dem Proletatiat Deutschlands und des<br />

gesamten Europa reichen. Denn nicht nur <strong>der</strong> Zarismus, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Krieg muß<br />

liquidiert werden,«<br />

»Schon stürzt die zweite Welle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> übcr die Häupter <strong>der</strong> Rodsjanko und<br />

Miljukow hinweg, die um Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ordnung und Verständigung mit <strong>der</strong><br />

Monarchie bemüht sind. Aus dem eigenen Schoß wird die <strong>Revolution</strong> ihre Macht hervorbringen,<br />

- das revolutionäre Organ des zum Siege schreitenden Volkes. Hauptschlachten<br />

wie Hauptopfer stehen noch bevor. Und dann erst wird <strong>der</strong> volle und wahre Sieg<br />

kommen.«<br />

Am 4. März:<br />

»Die lang zurückgehaltene Unzufriedenheit <strong>der</strong> Massen drang erst so spät, im 32.<br />

Kriegsmonat, nach außen, nicht weil ein Polizeidamm vor den Massen stand - dieser war<br />

im Kriege überaus gelockert -, son<strong>der</strong>n weil alle liberalen Institutionen und Organe,<br />

einschließlich ihrer sozialpatriotischen Handlanger, einen gewaltigen politischen Druck<br />

auf die unaufgeklärtesten Arbeiterschichten ausübten, indem sie ihnen die Notwendigkeit<br />

"patriotischer" Disziplin und Ordnung suggerierten.«<br />

»Jetzt erst (nach dem Siege des Aufstandes) kam die Duma an die Reihe. Der Zar<br />

versuchte im letzten Augenblick, sie auseinan<strong>der</strong>zujagen. Sie wäre auch "nach dem<br />

Beispiel <strong>der</strong> früheren Jahre" gehorsam auseinan<strong>der</strong>gegangen, wenn sie nur die Möglichkeit<br />

gehabt hätte, auseinan<strong>der</strong>zugehen. Doch in den Hauptstädten herrschte schon das<br />

revolutionäre Volk, dasselbe, das gegen den Willen <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie zum<br />

Kampf auf die Straße gegangen war. Mit dem Volke war die Armee. Hätte die Bourgeoisie<br />

den Versuch, ihre Macht zu organisieren, nicht unternommen, die revolutionäre<br />

Regierung wäre aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> aufständischen Arbeitermassen hervorgegangen. Nie<br />

hätte die Duma des 3. Juni sich entschlossen, die Macht den Händen des Zarismus zu<br />

entreißen. Doch konnte sie das entstandene Interregnum nicht ungenutzt lassen: die<br />

Monarchie war einstweilen von <strong>der</strong> Erdoberfläche verschwunden, die revolutionäre<br />

Macht aber noch nicht zustande gekommen.«<br />

Am 6. März:<br />

»Der offene Konflikt zwischen den Kräften <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, an <strong>der</strong>en Spitze das städtische<br />

Proletariat steht, und <strong>der</strong> antirevolutionären liberalen Bourgeoisie, die vorübergehend<br />

an <strong>der</strong> Macht ist, ist völlig unausbleiblich. Man könnte natürlich - und das werden<br />

die liberalen Bourgeois und die Auchsozialisten kleinbürgerlichen Typs eifrig tun - viele<br />

rührselige Worte finden über den großen Vorzug <strong>der</strong> nationalen Einigkeit vor <strong>der</strong><br />

Klassenspaltung. Doch ist es noch nie und niemand gelungen, durch solche Beschwörun-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 775


gen soziale Gegensätze zu beseitigen und die natürliche Entwicklung des revolutionären<br />

Kampfes aufzuhalten.«<br />

»Das revolutionäre Proletariat muß schon jetzt, sofort, seine revolutionären Organe, die<br />

Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, den Exekutivorganen <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung entgegenstellen. In diesem Kampfe muß sich das Proletariat, indem<br />

es die aufständischen Volksmassen um sich sammelt, die Machteroberung als sein direktes<br />

Ziel stellen. Nur die revolutionäre Arbeiterregierung wird Willen und Fähigkeit besitzen,<br />

schon während <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung eine radikale<br />

demokratische Säuberung im Lande vorzunehmen, die Armee von oben bis unten<br />

umzubauen, in eine revolutionäre Miliz zu verwandeln und die unteren Bauernschichten<br />

durch die Tat zu überzeugen, daß ihre Rettung ausschließlich in <strong>der</strong> Unterstützung des<br />

revolutionären Arbeiterregimes liegt.«<br />

Am 7. März:<br />

»Solange die Clique Nikolaus II. an <strong>der</strong> Macht stand, überwogen in <strong>der</strong> Außenpolitik<br />

dynastisehe und reaktionär-adlige Interessen. Gerade deshalb hoffte man in Berlin und<br />

Wien die ganze Zeit auf einen Separatfrieden mit Rußland. Jetzt jedoch stehen auf dem<br />

Regierungsbanner die Interessen des reinen Imperialismus. "Die zaristische Regierung<br />

existiert nicht mehr", sagen die Gutschkow und Miljukow dem Volke, "jetzt müßt ihr<br />

euer Blut für all-nationale Interessen vergießen!" Unter nationalen Interessen aber verstehen<br />

die <strong>russischen</strong> Imperialisten die Zurücknahme Polens, die Eroberung Galiziens,<br />

Konstantinopels, Armeniens, Persiens. Mit an<strong>der</strong>en Worten, Rußland stellt sich jetzt in<br />

die allgemeine imperialistische Front mit den übrigen europäischen Staaten, vor allem<br />

mit seinen Alliierten England und Frankreich.«<br />

»Der Übergang vom dynastisch-adligen zum rein bürgerlichen Imperialismus kann das<br />

Proletariat Rußlands keinesfalls mit dem Kriege aussöhnen. <strong>Internationale</strong>r Kampf gegen<br />

Weltschlächterei und Imperialismus ist heute mehr als je unsere Aufgabe.«<br />

»Die imperialistische Prahlerei Miljukows, Deutschland, Österreich-Ungarn und die<br />

Türkei zu zertrümmern, kommt jetzt Hohenzollern und Habsburg nur zu gelegen. Miljukow<br />

wird nun für sie die Rolle einer Vogelscheuche spielen. Noch bevor die neue<br />

liberalimperialistische Regierung zu Reformen in <strong>der</strong> Armee geschritten ist, hilft sie dem<br />

Hohenzollern den patriotischen Geist zu heben und die in allen Nähten krachende "nationale<br />

Einigkeit" des deutschen Volkes wie<strong>der</strong>herzustellen. Bekäme das deutsche Proletariat<br />

das Recht, zu glauben, daß hinter <strong>der</strong> neuen bürgerlichen Regierung Rußlands das<br />

gesamte Volk steht mitsamt <strong>der</strong> Hauptkraft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, dem <strong>russischen</strong> Proletariat, -<br />

so wäre das ein furchtbarer Schlag für unsere Gesinnungsgenossen, die revolutionären<br />

<strong>Sozialisten</strong> Deutschlands.«<br />

»Direkte Pflicht des revolutionären Proletariats Rußlands ist, zu zeigen, daß hinter dem<br />

bösen imperialistischen Willen <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie keine Macht steht, da ihr die<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Arbeitermassen fehlt. Die russische <strong>Revolution</strong> muß vor aller Welt ihr<br />

wahres Antlitz enthüllen, das heißt ihre unversöhnliche Feindschaft nicht nur gegen die<br />

dynastisch-adlige Reaktion, son<strong>der</strong>n auch gegen den liberalen Imperialismus.«<br />

Am 8. März:<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 776


»Unter dem Banner "Rettung des Landes" versuchen die liberalen Bourgeois die<br />

Leitung des revolutionären Volkes in ihren Händen festzuhalten, und ziehen zu diesem<br />

Zwecke nicht nur den patriotischen Trudowik Kerenski, son<strong>der</strong>n auch, wie es scheint,<br />

Tschcheidse, den Vertreter <strong>der</strong> opportunistischen Elemente <strong>der</strong> Sozialdemokratie, im<br />

Schlepptau hinter sich her.«<br />

»Die Agrarfrage wird einen tiefen Keil in den heutigen adlig-bürgerlich-sozialpatriotischen<br />

Block treiben. Kerenski wird wählen müssen zwischen den "Liberalen" des<br />

3. Juni 13 , die die ganze <strong>Revolution</strong> für kapitalistische Ziele bestehlen wollen, und dem<br />

revolutionären Proletariat, das sein Programm <strong>der</strong> Agrarrevolution in aller Breite entrollen<br />

wird, das heißt: Konfiszierung <strong>der</strong> zaristischen, gutsherrlichen, fürstlichen, klösterlichen<br />

und kirchlichen Län<strong>der</strong>eien zugunsten des Volkes. Wie die persönliche Wahl<br />

Kerenskis ausfallen wird, ist ohne Bedeutung - An<strong>der</strong>s steht es mit den bäucrliehen<br />

Massen, den unteren Dorfschichten. Sie auf die Seite des Proletariats zu ziehen, ist die<br />

unaufschiebbarste, brennendste Aufgabe.«<br />

»Der Versuch, diese Aufgabe (die Heranziehung <strong>der</strong> Bauernschaft) durch Anpassung<br />

unserer Politik an die nationalpatriotische Beschränktheit des Dorfes zu lösen, wäre ein<br />

Verbrechen: <strong>der</strong> russische Arbeiter beginge Selbstmord, würde er das Bündnis mit <strong>der</strong><br />

Bauernschaft um den Preis des Bruches seines Bündnisses mit dem europäischen Proletariat<br />

erkaufen. Aber dafür besteht auch gar keine politische Notwendigkeit. Wir haben<br />

eine stärkere Waffe in Händen: Während die heutige Provisorische Regierung und das<br />

Ministerium Lwow-Gutschkow-Miljukow-Kerenski 14 gezwungen sind im Namen <strong>der</strong><br />

Erhaltung ihrer Einheit -, die Agrarfrage zu umgehen, können und müssen wir sie in<br />

ihrem ganzen Ausmaß vor den Bauernmassen Ruß lands stellen.<br />

- Wenn eine Agrarreform unmöglich ist, dann sind wir für einen imperialistischen<br />

Krieg! - sagte die russische Bourgeoisie nach <strong>der</strong> Erfahrung von 1905-1907.<br />

- Kehrt dem imperialistischen Krieg deis Rücken, stellt ihm die Agrarrevelution entgegen!<br />

- werden wir den Bauernmassen sagen, indem wir uns auf die Erfahrung von 1914-<br />

1917 berufen.<br />

»Dieselbe Frage, die des Bodenhesitzes, wird eine gewaltige Rolle beim Vereinigungswerk<br />

<strong>der</strong> proletarischen Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong> Armee mit <strong>der</strong>en bäuerlichen Schichten spielen. "Den<br />

gutsherrlichen Boden, aber nicht Konstantinopel!" wird <strong>der</strong> Soldat-Proletarier dem<br />

Soldaten-Bauern sagen und ihm auseinan<strong>der</strong>setzen, wem und welchen Zwecken <strong>der</strong><br />

imperialistische Krieg dient. Und vom Erfolge unserer Agitation und unseres Kampfes<br />

gegen den Krieg - zuallererst unter den Arbeitern und in zweiter Linie unter den Bauernund<br />

Soldatenmassen wird es abhängen, wie schnell die liberalimperialistisehe Regierung<br />

von einer revolutionären Arbeiterregierung abgelöst werden wird, die sich unmittelbar<br />

auf das Proletariat und die sich ihm anschließenden armen Schichten des Dorfes stützt.«<br />

»Die Rodsjanko, Gutschkow, Miljukow werden alles tun, um eine Konstituierende<br />

Versammlung nach ihrem Ebenbilde zu schaffen. Der stärkste Trumpf in ihren Händen<br />

wird <strong>der</strong> allnationale Krieg gegen den äußeren Feind sein. Sie werden dann natürlich von<br />

<strong>der</strong> Notwendigkeit sprechen, die "Errungenschaften <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>" vor dem Anschlag<br />

des Hohenzollern zu verteidigen. Und die Sozialpatrioten werden bald das Lied mitsingen.«<br />

13 Das heißt den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> aus dem Staatsstreieh vom 3. Juni 1907 hervorgegangenen Duma.<br />

14 Unter <strong>der</strong> Provisorischen Regierung verstand die amerikanische Presse das Provisorische Dumakomitee.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 777


»"Gäbe es nur etwas zu verteidigen," wollen wir ihnen antworten. In erster Linie muß<br />

man die <strong>Revolution</strong> gegen den inneren Feind sichern. Man muß, ohne die Konstituierende<br />

Versammlung abzuwarten, das Gerümpel des Monarchismus und <strong>der</strong> Leibeigenschaft<br />

aus allen Winkeln wegfegen. Man muß den <strong>russischen</strong> Bauern lehren, den<br />

Versprechungen Rodsjankos und <strong>der</strong> patriotischen Lüge Miljukows zu mißtrauen. Man<br />

muß die Millionen Bauern unter dem Banner <strong>der</strong> Agrarrevolution und <strong>der</strong> Republik<br />

gegen die liberalen Imperialisten vereinigen. Diese Arbeit in ihrem ganzen Umfange zu<br />

verrichten, ist nur eine revolutionäre Regierung imstande, die, gestützt auf das<br />

Proletariat, die Miljukow und Gutschkow von <strong>der</strong> Macht entfernen wird. Diese Atbeiterregierung<br />

wird alle Mittel <strong>der</strong> Staatsmacht dazu benutzen, um die rückständigsten,<br />

finstersten Schichten <strong>der</strong> werktätigen Massen in Stadt und Land aufzurichten, aufzuklären<br />

und zusammenzuschließen.«<br />

- »Und wenn das deutsche Proletariat sich nicht erheben wird? Was werden wir dann<br />

tun?<br />

- Das heißt, Sie vermuten, die russische <strong>Revolution</strong> könnte spurlos an Deutschland<br />

vorübergehen, auch dann, wenn die <strong>Revolution</strong> bei uns eine Arbeiterregierung an die<br />

Macht brächte? Aber das ist ja völlig unwahrscheinlich.<br />

- Nun, und wenn dennoch? ...<br />

»... Wenn das Uniwahrscheinliche geschehen, wenn die konservative sozialpatriotische<br />

Organisation die deutsche Arbeiterklasse in <strong>der</strong> nächsten Epoche verhin<strong>der</strong>n sollte, sich<br />

gegen ihre herrschenden Klassen zu erheben, - dann wird selbstverständlich die russische<br />

Arbeiterklasse mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand die <strong>Revolution</strong> verteidigen. Die revolutionäre<br />

Arbeiterregierung würde gegen Hohenzollern Krieg führen und das deutsche Bru<strong>der</strong>proletariat<br />

aufrufen, gegen den gemeinsamen Feind aufzustehen. Ebenso wie auch das<br />

deutsche Proletariat, käme es in <strong>der</strong> nächsten Epoche an die Macht, nicht nur das<br />

"Recht", son<strong>der</strong>n die Pflicht hätte, gegen Gntschkow-Miljukow Krieg zu führen, um den<br />

<strong>russischen</strong> Arbeitern zu helfen, mit ihrem imperialistischen Feind fertig zu werden. In<br />

beiden Fällen wäre <strong>der</strong> von <strong>der</strong> proletarischen Regierung geleitete Krieg nur eine bewaffnete<br />

<strong>Revolution</strong>. Es würde nicht um die "Vaterlandsverteidigung" gehen, son<strong>der</strong>n um die<br />

Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Übertragung auf an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>.«<br />

Man braucht wohl kaum zu beweisen, daß in den oben angeführten Auszügen aus den<br />

für Arbeiter bestimmten populären Artikeln die gleiche Ansicht über die Entwicklung <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> vertreten wird, die in Lenins Thesen vom 4. April Ausdruck gefunden hat.<br />

Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Krise, die die bolschewistische Partei in den ersten zwei<br />

Monaten <strong>der</strong> Februarrevolution durchmachte, ist es angebracht, hier ein Zitat aus einem<br />

im Jahre 1909 vom Autor dieses Buches für die polnische Zeitschrift Rosa Luxemburgs<br />

geschriebenen Artikel anzuführen:<br />

»Wenn die Menschewiki, die von <strong>der</strong> Abstraktion ausgehen, "unsere <strong>Revolution</strong> ist<br />

bürgerlich", zu <strong>der</strong> Idee kommen, die gesamte Taktik des Proletariats <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong><br />

liberalen Bourgeoisie, einschließlich <strong>der</strong> Machteroberung durch diese, anzupassen,<br />

kommen die Bolschewiki, ausgehend aus einer ebensolchen reinen Abstraktion:<br />

"demokratische aber nicht sozialistische Diktatur", zur Idee <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen<br />

Selbstbeschränkung des Proletariats, in dessen Händen sich die Staatsmacht befindet.<br />

Gewiß ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen beiden in dieser Frage sehr bedeutend: während<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 778


die antirevolutionären Seiten des Menschewismus sich schon jetzt in all ihrer Stärke<br />

äußern, drohen die antirevolutionären Züge des Bolschewismus erst im Falle des revolutionären<br />

Sieges mit größter Gefahr.«<br />

Diese Worte wurden nach 1923 von den Epigonen im Kampfe gegen den<br />

"Trotzkismus" weitgehend ausgenutzt. Indes gehen sie - acht Jahre vor den Ereignissen -<br />

eine ganz genaue Charakteristik des Verhaltens <strong>der</strong> heutigen Epigonen »im Falle des<br />

revolutionären Sieges«.<br />

Die Partei ist aus <strong>der</strong> Aprilkrise in Ehren hervorgegangen, indem sie mit den "antirevolutionären<br />

Zügen" ihrer herrschenden Schicht fertig wurde. Gerade aus diesem Grunde<br />

versah <strong>der</strong> Autor im Jahre 1922 die obenangeführte Stelle mit folgen<strong>der</strong> Anmerkung:<br />

»Das ist bekanntlich nicht eingetroffen, da <strong>der</strong> Bolschewismus im Frühling 1917, das<br />

heißt vor <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Macht, unter Lenins Leitung (nicht ohne inneren Kampf)<br />

seine geistige Umbewaffnung in dieser wichtigen Frage vorgenommen hatte.«<br />

Im Kampfe mit den opportunistischen Tendenzen <strong>der</strong> führenden Schicht <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

schrieb Lenin im April 1917<br />

»Die bolschewistischen Losungen und Ideen haben sich im allgemeinen vollständig<br />

bestätigt, konkret aber haben sich die Dinge an<strong>der</strong>s gestaltet, als man (wer auch immer)<br />

erwarten konnte, origineller, eigenartiger, bunter. Diese Tatsache zu ignorieren, zu<br />

vergessen, hieße, es jenen "alten Bolschewiki" gleichtun, die schon mehr als einmal eine<br />

traurige Rolle in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine<br />

auswendiggelernte Formel wie<strong>der</strong>holen, anstatt die Eigenart <strong>der</strong> neuen, lebendigen<br />

Wirklichkeit zu untersuchen. Wer jetzt lediglich von "revolutionär-demokratischer Diktatur<br />

des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft" spricht, ist hinter dem Leben zurückgeblieben,<br />

ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, ist gegen den proletarischen<br />

Klassenkampf und gehört in das Archiv für "bolschewistische" vorrevolutionäre Raritäten<br />

(man könnte es nennen Archiv "alter Bolschewiki").«<br />

Anhang 3<br />

Zum Kapitel "Sowjetkongreß und Junidemonstrarion"<br />

An Professor A. Kahun Kalifornien<br />

Universität<br />

Sie interessieren sich dafür, wieweit Suchanow meine Begegnung im Mai 1917 mit <strong>der</strong><br />

formell von Maxim Gorki repräsentierten Redaktion <strong>der</strong> 'Nowaja Schisn' richtig darstellt.<br />

Zum weiteren Verständnis muß ich einige Worte über den allgemeinen Charakter des<br />

siebenbändigen Werkes Suchanows "Aufzeichnungen über die <strong>Revolution</strong>" sagen. Bei<br />

allen Mängeln dieser Arbeit (Weitschweifigkeit, Impressionismus, politische Kurzsichtigkeit),<br />

die mitunter <strong>der</strong>en Lektüre unerträglich gestalten, muß man dennoch die Gewissenhaftigkeit<br />

des Autors anerkennen, die die "Aufzeichnungen" zu einer wertvollen<br />

Quelle für den Historiker macht. Juristen wissen jedoch, daß die Gewissenhaftigkeit des<br />

Zeugen noch keinesfalls die Zuverlässigkeit seiner Aussagen verbürgt: man muß zudem<br />

das Entwicklungsniveau des Zeugen, die Kraft seines Blickes, Gehörs und<br />

Gedächtnisses, seine Stimmung im Augenblick des Vorganges usw. berücksichtigen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 779


Suchanow, Impressionist intellektuellen Typs, ist, wie die Mehrzahl solcher Menschen,<br />

<strong>der</strong> Fähigkeit bar, die politische Psychologie An<strong>der</strong>sgearteter zu begreifen. Trotzdem er<br />

im Jahre 1917 am linken Rande des Versöhnlerlagers, folglich in naher Nachbarschaft<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki stand, war und blieb er aus seiner Hamletnatur heraus <strong>der</strong> Antipode<br />

eines Bolschewiken. In ihm lebt stets das Gefühl feindseliger Abstoßung, von fertigen<br />

Menschen, die sicher wissen, was sie wollen und wohin sie gehen. All das führt dazu,<br />

daß Suchanow in seinen "Aufzeichnungen", sobald er nur versucht, die Beweggründe <strong>der</strong><br />

Handlungen <strong>der</strong> Bolschewiki zu begreifen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en geheime Triebfe<strong>der</strong>n aufzudecken,<br />

durchaus gewissenhaft Fehler auf Fehler häuft. Manchmal scheint es, als verwirre er<br />

bewußt klare und einfache Fragen. In Wirklichkeit ist er, mindestens in <strong>der</strong> Politik,<br />

organisch unfähig, die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten zu finden.<br />

Suchanow bemüht sich nicht wenig, meine Linie <strong>der</strong> Leninschen entgegenzustellen.<br />

Sehr feinfühlig für Couloirstimmungen und Gerüchte intellektueller Kreise - darin liegt<br />

nebenbei einer <strong>der</strong> Vorzüge <strong>der</strong> "Aufzeichnungen", die viel Material zur Charakteristik<br />

<strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> liberalen, radikalen und sozialistischen Spitzen liefern -, wiegte sich<br />

Suchanow natürlicherweise in Hoffnungen und Entstehung von Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen Lenin und Trotzki, um so mehr, als dies, mindestens teilweise, das<br />

wenig beneidenswerte Los <strong>der</strong> 'Nowaja Schisn' zwischen Sozialpatrioten und Bolschewiki<br />

zu stehen, erleichtern mußte. In seinen "Aufzeichnungen" lebt Suchanow unter dem<br />

Schein politischer Erinnerungen und nachträglicher Vermutungen noch immer in <strong>der</strong><br />

Atmosphäre dieser unerfüllten Hoffnungen. Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> Persönlichkeit, des<br />

Temperaments, des Stils versucht er als beson<strong>der</strong>en politischen Kurs zu deuten.<br />

Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> nicht stattgefundenen Kundgebung vom 10. Juni und<br />

hauptsächlich mit den bewaffneten Demonstrationen <strong>der</strong> Julitage sucht Suchanow seitenlang<br />

zu beweisen, daß Lenin in jenen Tagen die unmittelbare Machtergreifung durch<br />

Verschwörung und Aufstand, Trotzki dagegen die wirkliche Macht <strong>der</strong> Sowjets durch die<br />

damals herrschenden Parteien, das heißt die Sozialrevolutionäre und Menschewiki,<br />

angestrebt hätten. All das hat nicht den Schatten einer Begründung für sich.<br />

Auf dem ersten Sowjetkongreß, am 4. Juni, sagte Zeretelli in seiner Rede nebenbei: »in<br />

Rußland gibt es im gegenwärtigen Augenblick keine politische Partei, die sagen würde:<br />

Gebt die Macht in unsere Hände.« Im gleichen Augenblick ertönte <strong>der</strong> Zwischenruf »Es<br />

gibt eine!« Lenin liebte es nicht, Redner zu unterbrechen, und liebte nicht, wenn man ihn<br />

unterbrach. Nur ernste Erwägungen konnten ihn bewegen, diesmal auf seine übliche<br />

Zurückhaltung zu verzichten, Aus <strong>der</strong> Logik Zeretellis ergab sich, daß man, gerät ein<br />

Volk in das Geflecht größter Schwierigkeiten, vor allem bestrebt sein müsse, die Macht<br />

an<strong>der</strong>en zuzuschieben. Darin bestand im Grunde die Weisheit des <strong>russischen</strong> Versöhnlertums,<br />

als es nach dem Februaraufstand die Macht den Liberalen zuschob. Der wenig<br />

anmutigen Angst vor <strong>der</strong> Verantwortung verlieh Zeretelli die Färbung politischer<br />

Uneigennützigkeit und außlerordentlichen Weitblicks. Für einen <strong>Revolution</strong>är, <strong>der</strong> an die<br />

Mission seiner Partei glaubt, ist eine solch feige Prahlerei ganz unerträglich. Eine revolutionäre<br />

Partei, die fähig ist, bei schwierigen Verhältnissen <strong>der</strong> Macht auszuweichen,<br />

verdient nur Verachtung.<br />

In seiner Rede während <strong>der</strong> gleichen Sitzung erläuterte Lenin seinen Zwischenruf:<br />

»Der Bürger-Minister für Post- und Telegraphenwesen, Zeretelli ... sagte, daß es in<br />

Rußland keine politische Partei gäbe, die ihre Bereitschaft aussprechen würde, die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 780


Macht ganz zu übernehmen. Ich antworte, es gibt eine; keine Partei darf darauf verzichten,<br />

und unsere Partei verzichtet darauf nicht. Jeden Augenblick ist sie bereit, die ganze<br />

Macht zu übernehmen (Applaus und Lachen). Ihr mögt Lachen, soviel ihr wollt; wird uns<br />

aber <strong>der</strong> Bürger-Minister vor diese Frage stellen ... er wird die nötige Antwort erhalten.«<br />

Es sollte scheinen, <strong>der</strong> Gedanke Lenins ist absolut klar.<br />

Auf dem gleichen Sowjetkongreß äußerte ich mich, als ich nach dem Ackerbauminister<br />

Pjeschechonow das Wort nahm, folgen<strong>der</strong>maßen: »Ich gehöre mit ihm (Pjeschechonow)<br />

nicht <strong>der</strong> gleichen Partei an, aber wenn man mir sagte, das Ministerium würde aus zwölf<br />

Pjeschechonows gebildet werden, dann würde ich erwi<strong>der</strong>n, es sei ein riesiger Schritt<br />

vorwärts ...«<br />

Ich glaube nicht, daß schon damals, während <strong>der</strong> Ereignisse, meine Worte über ein<br />

Ministerium <strong>der</strong> Pjeschechonows als Antithese zur Leninschen Bereitschaft, die Macht<br />

zu übernehmen, verstanden werden konnten. Als Theoretiker dieser vermeintlichen<br />

Antithese tritt nachträglich Suchanow auf. Indem er die Vorbereitung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

zur Demonstration vom 10. Juni zugunsten <strong>der</strong> Sowjetmacht als Vorbereitung zur Machtergreifung<br />

deutet, schreibt Suchanow: »Zwei, drei Tage vor <strong>der</strong> "Kundgebung" sagte<br />

Lenin öffentlich, daß er bereit sei, die Macht zu übernehmen; während Trotzki damals<br />

sagte, er wünsche zwölf Pjeschechonows an <strong>der</strong> Macht zu sehen. Das ist ein Unterschied.<br />

Dennoch nehme ich an, daß Trotzki zur Aktion des 10. Juni hinzugezogen worden war.<br />

Lenin war auch damals nicht geneigt, ohne den zweifelhaften "Interrayonisten" 15 in den<br />

entscheidenden Kampf zu gehen. Denn Trotzki war ein ihm ähnlicher monumentaler<br />

Partner im monumentalen Spiel, während in Lenins eigener Partei nach ihm lange,<br />

lange, lange niemand kam.«<br />

Diese ganze Stelle ist voller Wi<strong>der</strong>sprüche. Nach Suchanow plante Lenin angeblich<br />

das, wessen ihn Zeretelli beschuldigte: »Die sofortige Machtergreifung durch die proletarische<br />

Min<strong>der</strong>heit.« Den Beweis für diesen Blanquismus sieht Suchanow, so unwahrscheinlich<br />

das ist, in Lenins Worten von <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Bolschewiki, trotz allen<br />

Schwierigkeiten, die Macht zu übernehmen. Hätte aber Lenin tatsächlich die Absicht<br />

gehabt, am 10. Juni durch eine Verschwörung die Macht zu übernehmen, er würde wohl<br />

kaum am 4. Juni in <strong>der</strong> Plenarsitzung des Sowjets die Feinde gewarnt haben. Muß man<br />

daran erinnern, daß Lenin seit dem ersten Tag seiner Ankunft in Petrograd <strong>der</strong> Partei<br />

einschärfte, die Bolschewiki könnten sich die Aufgabe des Sturzes <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung erst nach Eroberung <strong>der</strong> Sowjetmehrheit stellen. In den Apriltagen trat Lenin<br />

entschieden gegen jene Bolschewiki auf, die die Losung: "Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />

Regierung" als Aufgabe des Tages gestellt hatten. Die Leninsche Republik vom 4. Juni<br />

hatte nur einen Sinn: Wir Bolschewiki sind schon heute bereit, die Macht zu<br />

übernehmen, wenn die Arbeiter und Soldaten uns ihr Vertrauen schenken; damit unterscheiden<br />

wir uns von den Versöhnlern, die, im Besitz des Vertrauens <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Soldaten, nicht wagen, die Macht zu übernehmen.<br />

Suchanow stellt Trotzki, den Realisten, Lenin, dem Blanquisten gegenüber. »Ohne<br />

Lenin zu akzeptieren, konnte man sich <strong>der</strong> Fragestellung Trotzkis völlig anschließen.«<br />

15 Suchanow nennt mich einen »zweifelhaften Interrayonisten« (Mitglied <strong>der</strong> "Zwischenbezirksorganisation <strong>der</strong><br />

vereinigten Sozialdemokraten" Russisch abgekürzt "Meschrayonzy" genannt), womit er offenbar sagen will,<br />

daß ich in Wirklichkeit Bolschewik war. Das letztere ist jedenfalls richtig. Ich blieb nur deshalb in <strong>der</strong><br />

"Zwischenbezirksorganisation", um sie in die bolschewistische Partei üherzuleiten, was auch im August<br />

verwirklicht wurde.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 781


Gleichzeitig erklärt Suchanow, daß »Trotzki zur Aktion des 10. Juni hinzugezogen<br />

worden war«, das heißt zur Verschwörung zum Ziele <strong>der</strong> Machtergreifung. Indem er<br />

zwei Linien aufdeckt, wo es keine gab, kann Suchanow sich nicht das Vergnügen versagen,<br />

diese zwei Linien später in eine zusammenzuschließen, um die Möglichkeit zu<br />

haben, auch mich des Abenteuertums zu besehuldigen. Das ist eine eigenartige und etwas<br />

platonische Revanche für die getäuschten Hoffisungen <strong>der</strong> linken Intelligenz auf einen<br />

Zwiespalt zwischen Lenin und Trotzki.<br />

Auf den Plakaten, die von den Bolschewiki für die abgesagte Demonstration vom 10,<br />

Juni vorbereitet worden waren und die dann die Demonstranten des 18. Juni trugen,<br />

stand die Parole "Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten" im Mittelpunkt. Als Ästhet<br />

bewun<strong>der</strong>te Suchanow das schlicht Ausdrucksvolle dieser Losung, doch als Politiker<br />

bezeugt er völhges Unverständnis für <strong>der</strong>en Sinn. In <strong>der</strong> Regierung saßen außer den zehn<br />

"Minister-Kapitalisten" noch sechs Minister-Versöhnler. Auf diese unternahmen die<br />

bolschewistischen Plakate kein Attentat. Im Gegenteil, nach dem Sinn <strong>der</strong> Losung<br />

mußten die Minister-Kapitalisten durch Minister-Versöhnler, Vertreter <strong>der</strong> Sowjetmehrheit,<br />

ersetzt werden. Gerade diesen Gedanken <strong>der</strong> bolschewistischen Plakate hatte ich auf<br />

dens Sowjetkongreß ausgesprochen: Zerreißt den Block mit den Liberalen, entfernt die<br />

bürgerlichen und ersetzt sie durch eigene Pjeschechonows. Indem die Bolschewiki die<br />

Sowjetmehrheit auffor<strong>der</strong>ten, die Macht zu übernehmen, hatten sie sich selbstverständlich<br />

in bezug auf die Pjeschechonows die Hände nicht gebunden; im Gegenteil, sie<br />

verheimlichten nicht, daß sie im Rahmen <strong>der</strong> Sowjetdemokratie gegen diese einen unversöhnlichen<br />

Kampf führen würden - um die Mehrheit in den Sowjets und um die Macht.<br />

Das alles sind schließlich Abc-Wahrheiten. Nur die oben angeführten Eigenschaften<br />

mehr des Typs als <strong>der</strong> Person Suchanows erklären, wie dieser Teilnehmer und Beobachter<br />

<strong>der</strong> Ereignisse in einer so ernsten und gleichzeitig so einfachen Frage solch heillose<br />

Verwirrung anrichten konnte.<br />

Im Lichte <strong>der</strong> untersuchten politischen Episode wird jene falsche Beleuchtung begreiflicher,<br />

die Suchanow meiner Sie interessierenden Begegnung mit <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong><br />

'Nowaja Schisn' gibt. Die Moral meines Zusammenstoßes mit dem Kreise Maxim Gorkis<br />

drückt Suchanow in dem mir in den Mund gelegten Schlußsatz aus: »Ich sehe jetzt, daß<br />

mir nichts an<strong>der</strong>es übrig bleibt, als zusammen mit Lenin eine Zeitung zu gründen.« Es<br />

ergibt sich, daß nur die Unmöglichkeit einer Verständigung mit Gorki und Suchanow,<br />

das heißt mit Menschen, die ich niemals für Politiker o<strong>der</strong> für <strong>Revolution</strong>äre gehalten<br />

habe, mich zwang, den Weg zu Lenin zu finden. Es genügt, diesen Gedanken klar zu<br />

formulieren, um seine Unhaltbarkeit zu zeigen.<br />

Wie charakteristisch ist, nebenbei bemerkt, für Suchanow <strong>der</strong> Satz »zusammen mit<br />

Lenin eine Zeitung zu gründen«, - als liefen die Aufgaben <strong>der</strong> revolutionären Politik auf<br />

eine Zeitung hinaus Für einen Menschen mit <strong>der</strong> kleinsten schöpferischen Einbildungskraft<br />

muß es klar sein, daß ich we<strong>der</strong> so denken, noch meine Aufgaben so bestimmen<br />

konnte.<br />

Um meinen Besuch beim Zeitungszirkel Gorkis zu erklären, muß man daran erinnern,<br />

daß ich Anfang Mai, mehr als zwei Monate nach <strong>der</strong> Umwälzung, einen Monat nach<br />

Lenin in Petrograd ankam. In dieser Zeit war bereits vieles geklärt und festgelegt<br />

worden. Ich brauchte eine unmittelbare, sozusagen empirisehe Orientierung nicht nur<br />

über die grundlegenden Kräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die Stimmungen <strong>der</strong> Arbeiter und Solda-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 782


ten, son<strong>der</strong>n auch über alle Gruppierungen und politischen Schattierungen <strong>der</strong> "gebildeten"<br />

Gesellschaft. Der Besuch bei <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Nowaja Schisn' war für mich eine<br />

kleine politische Auskundschaftung, um die Anziehungs- und Abstoßungskräfte in dieser<br />

"linken" Gruppe, die Chancen einer möglichen Abspaltung <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Elemente, und so weiter, kennenzulernen. Eine kurze Unterhaltung überzeugte mich von<br />

<strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit dieses Zirkelchens spintisieren<strong>der</strong> Literaten, für die die <strong>Revolution</strong><br />

auf einen Leitartikel hinauslief. Da sie zudem die Bolschewiki <strong>der</strong> "Selbstisolierung"<br />

bezichtigten und die Schuld dafür Lenin und seinen Aprilthesen zuschrieben, konnte ich<br />

selbstverständlich ihnen nichts an<strong>der</strong>es sagen, als daß ihre Reden mir zum Überfluß<br />

bewiesen, wie recht Lenin hat, die Partei von ihnen, o<strong>der</strong> richtiger, sie von <strong>der</strong> Partei zu<br />

isolieren. Diese Schlußfolgerung, die ich wegen <strong>der</strong> Wirkung auf die Teilnehmer an <strong>der</strong><br />

Unterhaltung, Rjasanow und Lunatscharski, den Wi<strong>der</strong>sachern einer Vereinigung mit<br />

Lenin, beson<strong>der</strong>s energisch unterstreichen mußte, gab offenbar Anlaß zur Suchanowschen<br />

Version.<br />

Sie haben selbstverständlich mit ihrer Vermutung vollständig recht, daß ich im Herbst<br />

1917 mich keinesfalls bereit erklärt haben würde, von <strong>der</strong> Tribüne des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets zum Jubiläum Gorkis zu sprechen. Suchanow tat diesmal gut daran, auf einen<br />

seiner grillenhaften Gedanken zu verzichten: mich am Vorabend des Oktoberaufstandes<br />

in eine Sache zur Ehrung Gorkis hineinzuziehen, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Barrikade<br />

stand.<br />

Prinkipo, den 29. September 1930<br />

L. Trotzki<br />

Anhang zu Band 2<br />

Außer <strong>der</strong> geschichtlichen Information zur Frage über die Theorie <strong>der</strong> "Permanenten<br />

<strong>Revolution</strong>" haben wir in diesem Anhang zwei selbständige Kapitel verlegt: "Legenden<br />

<strong>der</strong> Bürokratie" und "Sozialismus in einem Lande?" Das Kapitel "Legenden" ist <strong>der</strong> kritischen<br />

Wie<strong>der</strong>herstellung einer Reihe von Tatsachen und Episoden <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

gewidmet, die von <strong>der</strong> Epigonen-Historiographie entstellt wurden. Einer <strong>der</strong><br />

Nebenzwecke dieses Kapitels besteht darin, träge Gehirne zu hin<strong>der</strong>n, statt an eine<br />

Durcharbeitung des Tatsachenmarerial heranzugehen, sich von vornherein bei <strong>der</strong> billigen<br />

Schlußfolgerung zu beruhigen: »Die Wahrheit wird schon irgendwo in <strong>der</strong> Mitte<br />

liegen.«<br />

Das Kapitel "Sozialismus in einem Lande?" ist <strong>der</strong> wichtigen Frage in <strong>der</strong> Ideologie<br />

und dem Programns <strong>der</strong> bolschewistischen Partei gewidmet. Die von uns historisch<br />

beleuchtete Frage behält heute nicht nur ihr volles theoretisches Interesse, son<strong>der</strong>n hat in<br />

den letzten Jahren praktische Bedeutung ersten Ranges gewonnen.<br />

Wir haben die zwei genannten Kapitel aus dem Gesamttext, dessen integralen Teil sie<br />

bilden, nur deshalb abgeson<strong>der</strong>t, um jenem Leser die Sache zu erleichtern, <strong>der</strong> nicht dazu<br />

neigt, sieh mit strittigen Fragen zweiter Ordnung o<strong>der</strong> mit komplizierten theoretischen<br />

Problemen zu beschäftigen. Wenn aber <strong>der</strong> zehnte o<strong>der</strong> auch nur <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tste Teil <strong>der</strong><br />

Leser dieses Buches sich die Mühe nehmen wird, diesen Anhang aufmerksam zu lesen,<br />

wird sich <strong>der</strong> Autor als völlig belohnt betrachten für die von ihm ausgeführte große<br />

Arbeit: durch den nachdenkenden, fleißigen und kritischen Mensehen bahnt sich die<br />

Wahrheit schließlich den Weg zu breiteren Kreisen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 783


Legenden <strong>der</strong> Bürokratie<br />

Die in diesem Buch entwickelte Konzeption <strong>der</strong> Oktoberunswälzung hat <strong>der</strong> Autor<br />

wie<strong>der</strong>holt, allerdings nur in allgemeinen Zügen, bereits in den ersten Jahren des Sowjetregimes<br />

dargestellt. Um seinen Gedanken greller zu beleuchten, gab er ihm mitunter<br />

quantitativen Ausdruck: die Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung, schrieb er, »war zu drei Viertel,<br />

wenn nicht zu neun Zehntel« bereits vor dem 25. Oktober gelöst durch die Methode des<br />

"stillen" o<strong>der</strong> "trockenen" Aufstandes. Verleiht man Zahlen keine größere Bedeutung als<br />

jene, auf die sie in diesem Falle Anspruch erheben dürfen, bleibt <strong>der</strong> Gedanke an sich<br />

unbestreitbar. Seit <strong>der</strong> Zeit jedoch, wo die Umwertung <strong>der</strong> Werte begann, wurde unsere<br />

Konzeption auch in diesem ihrem Teil einer erbitterten Kritik ausgesetzt.<br />

»... War am 9. Oktober <strong>der</strong> "siegreiche" Aufstand zu neun Zehntel bereits vollzogene<br />

Tatsache«, schrieb Kamenjew, »wie soll man dann die geistigen Fähigkeiten jener<br />

einschätzen, die im Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki saßen und am 10. Oktober leidenschaftlich<br />

darüber stritten, ob man den Aufstand beginnen und wann man ihn beginnen<br />

solle? Was kann man von Menschen sagen, die sich am 16. Oktober versammelten ... und<br />

wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> die Chancen des Aufstandes berieten? ... Es stellt sich ja heraus, er<br />

war bereits am 9. "still" und "legal" durchgeführt, und zwar so still, daß we<strong>der</strong> die<br />

Partei noch das Zentralkomitee es erfahren hatten.« Dieses äußerlich so effektvolle<br />

Argument, das von <strong>der</strong> Literatur des Epigonentums kanonisiert wurde und seinen Autor<br />

politisch überlebt hat, ist in Wahrheit eine bestechende Anhäufung von Irrtümern.<br />

Am 9. Oktober konnte <strong>der</strong> Aufstand noch keinesfalls »zu neun Zehntele vollzogene<br />

Tatsache gewesen sein, denn erst an diesem Tage wurde die Frage <strong>der</strong> Versetzung <strong>der</strong><br />

Garnison im Sowjet gestellt, und man konnte nicht wissen, welche Entwicklung sie in<br />

<strong>der</strong> Folge nehnten würde. Gerade deshalb hatte Trotzki am nächsten Tage, dem 10., als er<br />

die Wichtigkeit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Truppenversetzung betonte, noch keine genügenden<br />

Gründe für die For<strong>der</strong>ung, den Konflikt <strong>der</strong> Garnison mit dem Kommando zur Grundlage<br />

des gesamten Planes zu machen. Erst nach zwei Wochen hartnäckiger täglicher Arbeit<br />

war die Hauptaufgabe des Aufstandes - die feste Gewinnung <strong>der</strong> Regierungitruppen für<br />

die Sache des Volkes - »zu drei Viertel, wenn nicht zu neun Zehntel« gelöst. Dies war<br />

noch nicht <strong>der</strong> Fall am 10., auch nicht am 16. Oktober, als das Zentralkomitee zum<br />

zweiten Male die Frage des Aufstandes beriet und Krylenko bereits mit voller Bestimmtheit<br />

die Frage <strong>der</strong> Garnison in den Mittelpunkt stellte.<br />

Aber selbst wenn die Umwälzung schon am 9. zu neun Zehntel gesiegt hätte, wie<br />

Kamenjew unseren Gedanken irrtümlich wie<strong>der</strong>gibt, dies mit Sicherheit festzustellen,<br />

wäre nicht durch Vermutungen möglich gewesen, son<strong>der</strong>n einzig durch die Tat, das heißt<br />

durch den Aufstand: die »geistigen Fähigkeiten« <strong>der</strong> Zentralkomiteemitglie<strong>der</strong> sind auch<br />

in diesem rein hypothetischcn Falle durch die Teilnahme an den leidenschaftlichen<br />

Debatten vom 10. und 16. Oktober nicht im mindesten kompromittiert. Aber auch wenn<br />

die Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees schon am 10. durch apriorische Einschätzungen<br />

vermocht hätten, unerschütterlich festzustellen, <strong>der</strong> Sieg sei tatsächlich zu neun Zehntel<br />

errungen, wäre noch nötig geblieben, das letzte Zehntel zu vollbringen; und dies hätte die<br />

gleiche Aufmerksamkeit erfor<strong>der</strong>t, als wenn es sich um alle zehn Zehntel handelte.<br />

Wieviel solcher "fast" gewonnenen Schlachten und Aufstände zeigt die <strong>Geschichte</strong>, die<br />

Nie<strong>der</strong>lagen brachten nur deshalb, weil sie nicht rechtzeitig bis zur völligen Zerschmetterung<br />

des Gegners durchgeführt wurden! Schließlich - Kamenjew gelingt es, auch dies zu<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 784


vergessen - war <strong>der</strong> Wirkungskreis des Militärischen Revtlutionikomitees auf Petrograd<br />

beschränkt. So groß auch die Bedeutung <strong>der</strong> Hauptstadt ist, es exutiert außer ihr immerhin<br />

noch das Land. Und unter diesem Gesichtspunkte hatte das Zentralkomitee Grund<br />

genug, die Chancen des Aufstandes sorgfältigst zu erwägen, nicht nur am 10. und 16.,<br />

son<strong>der</strong>n auch noch am 26., das heißt nach dem Siege in Petrograd.<br />

In <strong>der</strong> untersuchten Abhandlung nimmt Kamenjew Lenin in Schutz - alle Epigonen<br />

verteidigen sich unter diesem wirkungsvollen Pseudonym-: wie hätte denn Lenin so<br />

leidenschaftlich für den Aufstand kämpfen können, wenn dieser bereits zu neun Zehntel<br />

vollzogen gewesen wäre! Doch schrieb Lenin selbst Anfang Oktober: »Es ist sehr<br />

möglich, daß man gerade jetzt die Macht ohne Aufstand übernehmen kann ...« Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten, Lenin ließ den Gedanken zu, daß eine "stille" Umwälzung schon vor<br />

dem 9. sich vollzogen hätte, und zwar nicht zu neun, son<strong>der</strong>n zu zehn Zehntel, Er begriff<br />

jedoch, daß man diese optimistische Hypothese nicht an<strong>der</strong>s als durch die Tat nachprüfen<br />

könne. Deshalb sagte Lenin im gleichen Brief: »Kann man die Macht nicht ohne<br />

Aufstand übernehmen, dann muß man an den Aufstand sofort herangehen.« Und<br />

ebendiese Frage wurde am 10., 16. und an den übrigen Tagen erwogen.<br />

Die neueste Sowjet-Historiographie hat aus <strong>der</strong> Oktoberrevolution völlig das äußerst<br />

bedeutsame und lehrreiche Kapitel über Lenins Meinungsversehiedenheiten mit dens<br />

Zentralkomitee gestrichen, sowohl im Grundsätzlichen und Prinzipiellen, wo Lenin recht<br />

hatte, wie auch in jenen partiellen, aber äußerst wichtigen Fragen, wo das Recht auf<br />

seiten des Zentralkomitees war: nach <strong>der</strong> neuen Doktrin konnten we<strong>der</strong> das Zentralkomitee<br />

noch Lenin irren, mithin konnte es zwischen ihnen auch keine Konflikte geben. In<br />

den Fällen, wo Meinungsverschiedenheiten nicht abzuleugnen sind, werden sie, einer<br />

allgemeinen Vorschrift entsprechend, auf Trotzki übertragen.<br />

Die Tatsachen aber sprechen an<strong>der</strong>s. Lenin drängte auf Einleitung des Aufstandes in<br />

den Tagen <strong>der</strong> Demokratischen Beratung: nicht ein Mitglied des Zentralkomitees unterstützte<br />

ihn. Eine Woche später schlug Lenin Smilga vor, den Aufstandsstab in Finnland<br />

zu organisieren und von dort mit den Kräften <strong>der</strong> Seeleute einen Schlag gegen die Regierung<br />

zu führen. Nach weiteren zehn Tagen drängte er darauf; den Nordkongreß zum<br />

Ausgangsmoment des Aufstandes zu machen. Auf dem Kongreß unterstützte niemand<br />

diesen Vorschlag. Lenin betrachtete Ende September ein Hinausziehen des Aufstandes<br />

um drei Wochen, bis zum Sowjetkongreß, als verhängnisvoll. Indes endete <strong>der</strong> Aufstand,<br />

vertagt bis zum Vorabend des Kongresses, während dessen Tagung. Lenin hatte vorgeschlagen,<br />

den Kampf in Moskau zu eröffnen, in <strong>der</strong> Annahme, dort werde sich die Sache<br />

ohne Waffengang entscheiden. In Wirklichkeit dauerte <strong>der</strong> Aufstand in Moskau, trotz<br />

dem vorangegangenen Sieg in Petrograd, acht Tage und for<strong>der</strong>te viele Opfer.<br />

Was Lenins Politik charakterisierte, war die Verbindung von kühnen Perspektiven mit<br />

sorgfältiger Einschätzung kleiner Tatsachen und Symptome. Lenins lsolierthrit hin<strong>der</strong>te<br />

ihn nicht, mit unvergleichlicher Tiefe die grundlegenden Etappen und Wendungen <strong>der</strong><br />

Bewegung festzustellen, nahm ihm aber die Möglichkeit, episodische Faktoren und<br />

konjunkturmäßige Verän<strong>der</strong>ungen rechtzeitig einzuschätzen. Die pohtische Situation war<br />

im allgemeinen <strong>der</strong>art günstig für den Aufstand, daß sie die Möglichkeit eines Sieges<br />

-unter mannigfachen Varianten zuließ. Wäre Lenin in Petrograd gewesen und hätte er<br />

Anfang Oktober den Beschluß über den sofortigen Aufstand durchgesetzt, unabhängig<br />

vom Sowjetkongreß, er hätte zweifellos die Durchführung seines eigenen Planes<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 785


politisch <strong>der</strong>art gestaltet, daß dessen Nachteile aufein Minimum hinausgelaufen wären.<br />

Aber es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, daß er in diesem Falle selbst jenen Plan<br />

gewählt hätte, <strong>der</strong> tatsächlich durchgeführt wurde.<br />

Lenin war kein Automat für unfehlbare Beschlüsse. Er war "nur" ein genialer Mensch,<br />

und nichts Menschliches war ihm fremd, darunter auch nicht die Eigenschaft, zu irren.<br />

Lenin sagt über das Verhältnis von Epigonen zu großen <strong>Revolution</strong>ären: »Nach ihrem<br />

Tode versucht man, sie in harmlose Heiligenbil<strong>der</strong> zu verwandeln, sozusagen sie zu<br />

kanonisieren, ihrem Namen einen gebührenden Ruhm zu belassen ...«, um sie in<br />

Wirklichkeit desto gefahrloser zu verraten. Die Epigonen for<strong>der</strong>n Anerkennung <strong>der</strong><br />

Unfehlbarkeit Lenins, um desto leichter dieses Dogma auf sich selbst übertragen zu<br />

können. 16<br />

Die Einschätzung <strong>der</strong> Rolle Lenins in <strong>der</strong> Gesamtstrategie <strong>der</strong> Umwälzung haben wir<br />

in einem beson<strong>der</strong>en Kapitel gegeben. Um unsern Gedanken über die taktischen<br />

Vorschläge Lenins zu präzisieren, wollen wir hinzufügen: ohne Lenins Druck, ohne sein<br />

Drängen, seine Vorschläge und Varianten würde sich das Beschreiten des Weges zum<br />

Aufstande mit unermeßlich größeren Schwierigkriten vollzogen haben; wäre Lenin in<br />

den kritischen Wochen im Smolny gewesen, die Gesamtleitung des Aufstandes hätte,<br />

und #zwar nicht nur in Petrograd, son<strong>der</strong>n auch in Moskau, ein bedeutend höheres<br />

Niveau gehabt; doch Lenin in <strong>der</strong> "Emigration" konnte nicht Lenin im Smolny ersetzen.<br />

Am schärfsten empfand seine ungenügende taktische Orientiertheit Lenin selbst. Am<br />

24. September schreibt er im 'Rabotschyj Putj': »offenkundig wächst eine neue <strong>Revolution</strong><br />

heran wir wissen lei<strong>der</strong> wenig über Auwsdehnung und Tempo dieses Anwachsens«.<br />

Diese Worte bilden sowohl einen Vorwurf an die Adresse <strong>der</strong> Parteileitung wie Klage<br />

über die eigene Uninformiertheit. In seinen Briefen an die wichtigsten Aufstandsregeln<br />

erinnernd, vergißt Lenin nicht, hinzuzufügen: »Das alles als Beispiel, nur zur lllustration<br />

natürlich.« Am 8. Oktober schreibt Lenin an den Sowjetkongreß des Norddistrikts: »Ich<br />

will versuchen, mit meinen Ratschlägen eines Außenstehenden hervorzutreten, für den<br />

Fall, daß die wahrscheinliche Aktion <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten Petrograds ... bald stattfinden<br />

wird, aber noch nicht statt-gefunden hat.« Seine Polemik gegen Sinowjew und<br />

Kamenjew beginnt Lenin mit den Worten: »Der Publizist, <strong>der</strong> durch den Willen des<br />

Geschicks ein wenig abseits vom Hauptstrom <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> gestellt ist, läuft ständig<br />

Gefahr, sich zu verspäten o<strong>der</strong> sich uninformiert zu erweisen, beson<strong>der</strong>s wenn seine<br />

Beiträge mit Venpätung das Licht <strong>der</strong> Welt erblicken.« Hier wie<strong>der</strong>um die Klage über<br />

seine Isoliertheit neben dem Vorwurf an die Redaktion, die die Veröffentlichung allzu<br />

scharfer Artikel Lenins zurückhält o<strong>der</strong> die stacheligsten Stellen aus ihnen hinauswirft.<br />

Eine Woche vor <strong>der</strong> Umwälzung schreibt Lenin in einem konspirativen Brief an die<br />

Parteimitglie<strong>der</strong>: »Was die Frage des Aufstandes betrifft, jetzt, so nah an den 20.<br />

Oktober, so kann ich aus <strong>der</strong> Ferne nicht beurteilen, wieweit die Sache durch das streikbrecherische<br />

Auftreten (Sinowjews und Kamenjews) in <strong>der</strong> außerparteilichen Presse<br />

verdorben ist.« Die Worte »aus <strong>der</strong> Ferne« hat Lenin selbst unterstrichen.<br />

16 Während des dritten Kongresses <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> berief sich Lenin, um seine Schläge<br />

gegen einige "Ultralinke" zu mil<strong>der</strong>n, darauf; daß auch er ultralinke Fehler begangen hätte, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong><br />

Emigration, darunter auch in <strong>der</strong> letzten "Emigration", im Jahre 1917 in Finnland, als er einen ungünstigeren<br />

Aufstandaplan verteidigte als jenen, <strong>der</strong> tatsächlich verwirklicht wurde Auf diesen seinen Fehler verwies<br />

Lenin, wenn uns das Gedächtnis nicht trügt, auch in einer schriftlichen Erklärung in <strong>der</strong> Kommission des<br />

Kongresses für deutsche Angelegenheiten. Lei<strong>der</strong> ist uns das Archiv <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />

nicht zugänglich; die uns hier interessierende Erklärung Lenins ist aber offenbar nicht veröffentlicht worden.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 786


Wie erklärt nun die Epigonenschule das Mißverhältnis zwischen Lenins taktischen<br />

Vorschlägen und dem tatsächlichen Verlauf des Aufstandes in Petrograd? Sie verleiht<br />

den Konflikten entwe<strong>der</strong> andnymen und formlosen Charakter o<strong>der</strong> geht an den<br />

Meinungsverschiedenheiten vorüber, mit <strong>der</strong> Erklärung, daß sie keine Aufmerksamkeit<br />

verdienten; o<strong>der</strong> versucht, feststehende Tatsachen zu bestreiten; o<strong>der</strong> Trotzkis Namen<br />

dort vorzuschieben, wo bei Lenin die Rede vom Zentralkomitee als Ganzem o<strong>der</strong> von<br />

den Gegnern des Aufstandes innerhalb des Zentralkomitees die Rede ist; o<strong>der</strong> aber sie<br />

kombiniert schließlich alle diese Methoden, ohne um <strong>der</strong>en Übereinstimmung besorgt zu<br />

sein.<br />

»Als Muster <strong>der</strong> (bolschewistischen) Strategie«, schreibt Stalin, »kann man die Durchführung<br />

des Oktoberaufstandes betrachten. Die Verletzung dieser Bedingung (<strong>der</strong> richtigen<br />

Wahl des Moments) führt zu dem gefährlichen Fehler, <strong>der</strong> sich "Tempoverlust"<br />

nennt, wo die Partei- hinter dem Gang <strong>der</strong> Bewegung zurückbleibt o<strong>der</strong> ihr vorauseilt<br />

und dabei die Gefahr des Zusammenbruchs heraufbeschwört. Als Beispiel eines solchen<br />

"Tempoverlusts", als Beispiel dafür, wie man den Zeitpunkt des Aufitandes nicht wählen<br />

darf; kann <strong>der</strong> Versuch eines Teiles <strong>der</strong> Genossen gelten, den Aufstand mit <strong>der</strong> Verhaftung<br />

<strong>der</strong> Demokratischen Beratung im August 1917 zu beginnen.« Unter <strong>der</strong> Bezeichnung<br />

»eines Teiles <strong>der</strong> Genossen« figuriert in diesen Zeilen Lenin. Niemand außer ihm<br />

hat vorgeschlagen, den Aufstand mit <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Demokratischen Beratung zu<br />

beginnen, und niemand hat diesen Vorschlag unterstützt. Lenins taktischen Plan<br />

empfiehlt Stalin als »Beispiel dafür, wie man den Zeitpunkt des Aufstandes nicht wählen<br />

darf«. Die anonyme Formel <strong>der</strong> Darstellung erlaubt Stalin gleichzeitig, die Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen Lenin und dem Zentralkomitee rundweg abzuleugnen.<br />

Noch einfacher zieht sich Jaroslawski aus den Schwierigkeiten. »Es handelt sich natürlich<br />

nicht um Einzelheiten«, schreibt er, »es handelt sich nicht darum, ob <strong>der</strong> Aufstand in<br />

Moskau o<strong>der</strong> Pctrograd begonnen hat«, es handelt sich darum, daß <strong>der</strong> gesamte Verlauf<br />

<strong>der</strong> Ereignisse »die Richtigkeit <strong>der</strong> Leninsehen Linie unserer Partei« bewies. Der findige<br />

Historiker vereinfacht aufs äußerste seine Aufgabe. Daß <strong>der</strong> Oktober eine Nachprüfung<br />

<strong>der</strong> Leninschen Strategie gegeben und im beson<strong>der</strong>en gezeigt hat, welche Bedeutung sein<br />

Aprilsieg über die führende Schicht <strong>der</strong> "alten Bolschewiki" hatte - ist unbestreitbar.<br />

Handelt es sich aber überhaupt nicht darum, wo zu beginnen, wann zu beginnen und wie<br />

zu beginnen, so bleibt nicht nur von den episodischen Meinungsverschiedenhcitcn mit<br />

Lenin, son<strong>der</strong>n auch von <strong>der</strong> Taktik überhaupt nichts übrig.<br />

In John Reeds Buch gibt es eine Schil<strong>der</strong>ung, wonach die Führer <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

angeblich am 21. Oktober eine »zweite historische Sitzung« gehabt hätten, in <strong>der</strong>, wie<br />

man Reed berichtete, Lenin gesagt haben soll: »Am 24. Oktober zu beginnen, ist verfrüht:<br />

für den Aufstand ist eine allrussische Basis notwendig, am 24. aber werden noch nicht<br />

alle Kongreß-Delegierten eingetroffen sein. An<strong>der</strong>erseits wird <strong>der</strong> 26. zu spät sein zur<br />

Einleitung <strong>der</strong> Aktion ... Wir müssen am 25. beginnen, am Eröffnungstage des Kongresses<br />

.,,« Reed war ein außerordentlich feiner Beobachter, <strong>der</strong> es vermocht hat, auf die<br />

Seiten seines Buches Gefühle und Leidenschaften <strong>der</strong> entscheidenden <strong>Revolution</strong>stage zu<br />

bannen. Ebendeshalb wünschte Lenin seinerzeit Reeds unvergleichlicher Chronik eine<br />

Verbreitung in Millionen Exemplaren in allen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt. Doch Arbeit im Feuer<br />

<strong>der</strong> Ereignisse, Notizen, aufgezeichnet in Korridoren, auf <strong>der</strong> Straße, an Wachtfeuern, im<br />

Fluge erfaßte Gespräche o<strong>der</strong> Bruchteile von Sätzen, die Notwendigkeit, Hilfe von<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 787


Dolmetschern in Anspruch zu nehmen, all das machte einzelne Irrtümer unvermeidlich.<br />

Der Bericht über die Sitzung vom 21. Oktober bildet einen <strong>der</strong> krassesten Irrtümer in<br />

Reeds Buch. Die Erwägung <strong>der</strong> Notwendigkeit einer "all<strong>russischen</strong> Sowjetbasis" für den<br />

Aufstand konnte keinesfalls von Lenin stammen, denn mehr als einmal hatte dieser die<br />

Jagd nach einer solchen Basis glattweg als »vollkommenen Idiotismus und vollkommenen<br />

Verrat« bezeichnet. Lenins konnte nicht sagen, am 24. sei es verfrüht, sich zu erheben,<br />

denn schon seit Ende September hatte er die Verschiebung des Aufstandes auch nur um<br />

einen Tag für unzulässig gehalten: eine Verspätung ist möglich, aber »Verfrühtes kann es<br />

in dieser Hinsicht jetzt nicht geben«. Jedoch außer diesen an sich entscheidenden<br />

Erwägungen wird Reeds Bericht durch die einfache Tatsache wi<strong>der</strong>legt, daß am 21. keine<br />

»zweite historische Sitzung« stattgefunden hat: eine solche Beratung würde Spuren in<br />

Dokumenten und im Gedächtnis <strong>der</strong> Teilnehmer hinterlassen haben. Es gab nur zwei<br />

Beratungen unter Lenins Teilnahme: am 10. und am 16. Reed konnte das nicht wissen.<br />

Doch die danach veröffentlichten Dokumente lassen keinen Platz für die »historische<br />

Sitzung« vom 21. Oktober. Die Epigonenhistoriographie jedoch hat unbedenklich Reeds<br />

offenkundig irrige Angabe in sämtliche offiziellen Veröffentlichungen übernommen:<br />

dadurch wird das zeitliche Zusammentreffen <strong>der</strong> Leninschen Direktiven mit dem wirklichen<br />

Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse äußerlich erreicht. Zwar bringen dabei die offiziellen Historiographen<br />

Lenin in unverständliche und unerklärliche Wi<strong>der</strong>sprüche mit sich selbst.<br />

Doch handelt es sich im Grunde ja gar nicht um Lenin: die Epigonen haben Lenin<br />

einfach in ihr eigenes historisches Pseudonym verwandelt und bedienen sich seiner<br />

ungeniert zur nachträglichen Bestätigung <strong>der</strong> eigenen Unfehlbarkeit.<br />

Die offiziellen Historiker gehen in <strong>der</strong> Anpassung <strong>der</strong> Tatsachen an die Marschroute<br />

noch weiter. So schreibt Jaroslawski in seiner <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Partei: »In <strong>der</strong> Sitzung des<br />

Zentralkomitees vom 24. Oktober, <strong>der</strong> letzten vor dem Aufstande, war Lenin anwesend.«<br />

Die offiziellen Protokolle, die eine genaue namenthehe Aufzählung <strong>der</strong> Teilnehmer<br />

enthalten, beweisen, daß Lenin nicht anwesend war. »Lenin und Kamenjew wurden<br />

beauftragt, Verhandlungen mit den linken Sozialrevolutionären zu führen«, schreibt<br />

Jaroslawski. Die Protokolle sagen, dieser Auftrag sei Kamenjew und Bersin erteilt<br />

worden. Aber auch ohne die Protokolle dürfte es klar sein, daß das Zentralkomitee mit<br />

zweitrangigen "diplomatischen" Aufträgen nicht Lenin bedacht hätte. Die entscheidende<br />

Zentralkomiteesitzung fand morgens statt. Lenin traf im Smolny erst in <strong>der</strong> Nacht ein.<br />

Ein Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees, Sweschnikow, erzählt, daß Lenin »am Abend<br />

(des 24.) sich entfernte und im Zimmer einen Zettel gelassen hatte, er sei dann und dann<br />

weggegangen. Als wir es erfuhren, ängstigten wir uns in <strong>der</strong> Seele um IIjitich ...« Im<br />

Bezirk wurde bereits »spät abends« bekannt, daß Lenin sich ins Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />

begeben hatte.<br />

Am seltsamsten jedoch ist, daß Jaroslawski ein politisch und menschlich höchst wichtiges<br />

Dokument unbeachtet läßt: den Brief an die Bezirksleiter, geschrieben von Lenin in<br />

den Stunden, wo <strong>der</strong> offene, Aufstand eigentlich schon begonnen hatte. »Genossen! Ich<br />

schreibe diese Zeilen am Abend des 24. ... Mit Aufbietung all meiner Kräfte möchte ich<br />

die Genossen davon überzeugen, daß jetzt alles an einem Haar hängt, daß auf <strong>der</strong><br />

Tagesordnung Fragen stehen, die nicht durch Beratungen, nicht durch Kongresse (seien<br />

es auch Sowjetkongresse) entschieden werden, son<strong>der</strong>n ausschließlich durch die Völker,<br />

durch die Masse, durch den Kampf bewaffneter Massen... Man muß um jeden Preis heute<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 788


abend, heute nacht die Regierung verhaften, indem man die Junker und so weiter<br />

entwaffnet (wenn sie Wi<strong>der</strong>stand leisten, sie nie<strong>der</strong>ringt).« Lenin befürchtet in solchem<br />

Maße Unentschlossenheit seitens des Zentralkomitees, daß er versucht, im allerletzten<br />

Moment einen Druck von unten zu organisieren. »Es ist notwendig«, schreibt er, »daß<br />

alle Bezirke, alle Regimenter, alle Kräfte sofort mobilisiert werden und unverzüglich<br />

Delegationen in das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee, in das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

entsenden mit <strong>der</strong> dringenden For<strong>der</strong>ung: auf keinen Fall die Macht in den Händen<br />

<strong>der</strong> Kerenski & Co. bis zuns 25. zu lassen, unter keinen Umständen - die Sache muß<br />

unbedingt heute, abends o<strong>der</strong> nachts, entschieden werden.« Während Lenin diese Zeilen<br />

schrieb, waren die Regimenter und Bezirke, die er aufrief; sich für einen Druck auf das<br />

Militärische <strong>Revolution</strong>skomitce zu mobilisieren, von diesem bereits mobilisiert für die<br />

Eroberung <strong>der</strong> Stadt und den Sturz <strong>der</strong> Regierung. Aus dem Brief, in dem jede Zeile von<br />

Besorgnis und Leidenschaft bebt, ist jedenfalls erkennbar, daß Lenin we<strong>der</strong> am 21. die<br />

Verschiebung des Aufstandes bis zum 25. vorgeschlagen noch an <strong>der</strong> Morgensitzung<br />

vom 24. teilgenommen haben konnte, wo beschlossen worden war, sofort zum Angriff<br />

überzugehen.<br />

Der Brief enthält immerhin ein rätselhaftes Element: wie konnte Lenin, <strong>der</strong> sich im<br />

Wyborger Bezirk verbarg, bis zum Abend von einem so außerordendich wichtigen<br />

Beschluß keine Kenntnis gehabt haben? Aus <strong>der</strong> Erzählung des gleichen Sweschnikow<br />

wie aus an<strong>der</strong>en Quellen ist ersichtlich, daß die Verbindung mit Lenin an diesem Tage<br />

durch Stalin unterhalten wurde. Es bleibt nur die Vermutung übrig, daß Stalin, <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Morgensitzung des Zentralkomitees nicht erschienen war, bis zum Abend von dem<br />

gefaßten Beschluß nichts erfahren hatte.<br />

Unmittelbarer Anstoß zu Lenins Besorgnis konnten auch die bewußt und beharrlich an<br />

diesem Tage vom Smolny aus verbreiteten Gerüchte gewesen sein, vor Beschluß des<br />

Sowjetkongresses würden keine entscheidenden Schritte unternommen werden. Am<br />

Abend dieses Tages sagte Trotzki in einer außerordentlichen Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />

Sowjets bei einem Bericht über die Tätigkeit des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees:<br />

»Ein bewaffneter Konflikt heute o<strong>der</strong> morgen gehört nicht in unsere Pläne hinein - an<br />

<strong>der</strong> Schwelle des all<strong>russischen</strong> Sowjetkongresses. Wir glauben, daß <strong>der</strong> Kongreß unsere<br />

Parole mit größter Kraft und Autorität durchführen wird. Wenn die Regierung aber<br />

versuchen sollte, die Frist, die ihr zu leben noch geblieben ist - vierundzwanzig, achtundvierzig<br />

o<strong>der</strong> zweiundsiebzig Stunden -, auszunutzen, um <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> das Messer in<br />

den Rücken zu stoßen, so werden wir Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren.«<br />

Das war das Leitmotiv des ganzen Tages. Die Defensiverklärungen hatten zur Aufgabe,<br />

im letzten Monsent vor dem Schlage die ohnehin nicht übermäßig aktive Wachsamkeit<br />

des Gegners einzuschläfern. Und ebendieses Manöver gab aller Wahrscheinlichkeit nach<br />

Dan Veranlassung, Kerenski in <strong>der</strong> Nacht auf den 25. zu versichern, die Bolschewiki<br />

dächten in diesem Augenblick keinesfalls an einen Aufstand. An<strong>der</strong>erseits aber konnte<br />

auch Lenin, wenn ihn eine dieser beruhigenden Erklärungen des Smolny erreichte, im<br />

Zustande gespannten Mißtrauens die Kriegslist für bare Münze nehmen.<br />

List bildet ein notwendiges Element <strong>der</strong> Kriegskunst. Schlimm indes ist jene List, die<br />

gleichzeitig das eigene Lager zu täuschen vermag. Hätte es sich darum gehandelt, die<br />

Massen insgesamt auf die Straße zu rufen, die Worte von den »nächsten zweiundsiebzig<br />

Stunden« hätten unheilvolle Wirkung ausüben können. Doch am 24. bedurfte die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 789


Umwälzung bereits nicht mehr revolutionärer Aufrufe ohne Adresse. Bewaffnete Abteilungen,<br />

bestimmt für Besetzung <strong>der</strong> wichtigsten Punkte <strong>der</strong> Hauptstadt, standen bereit<br />

und warteten auf das Aufstandssignal ihrer durch Telephon mit den nächsten revolutionären<br />

Stäben verbundenen Kommandeure. Unter diesen Umständen war die zweischneidige<br />

Kriegslist des <strong>Revolution</strong>sstabes durchaus am richtigen Platze.<br />

In den Fällen, wo die offiziellen Forscher auf ein unangenehmes Dokument stoßen,<br />

än<strong>der</strong>n sie auf ihm die Adresse. So schreibt Jakowljew: »Die Bolschewiki fielen auf die<br />

"konstitutionellen Illusionen" nicht hinein, als sie Trotzkis Vorschlag, den Aufstand<br />

unbedingt dem zweiten Sowjetkongreß anzupassen, ablehnten und die Macht vor<br />

Kongreßbeginn übernahmen.« Von welchem Vorschlag Trotzkis hier die Rede ist, wo<br />

und wann er beraten wurde, welche Bolschewiki ihn ablehnten - vermerkt <strong>der</strong> Autor<br />

nicht, und keinesfalls zufällig: vergeblich würde man in Protokollen o<strong>der</strong> in beliebigen<br />

Erinnerungen Hinweise suchen auf Trotzkis Vorschlag, den Aufstand »unbedingt dem<br />

zweiten Sowjetkongreß anzupassen«. Jakowljews Behauptung beruht auf einem etwas<br />

stilisierten Mißverständnis, das längst von niemand an<strong>der</strong>em als Lenin aufgeklärt worden<br />

ist.<br />

Wie aus verschiedenen vor langer Zeit veröffentlichten Erinnerungen ersichtlich ist,<br />

hatte Trotzki seit Ende September die Gegner des Aufstandes wie<strong>der</strong>holt darauf verwiesen,<br />

daß die Festsetzung eines Termins des Sowjetkongresses für die Bolschewiki gleichbedeutend<br />

sei mit <strong>der</strong> Festsetzung des Aufstandes. Das sollte natürlich nicht heißen, die<br />

Umwälzung dürfe nicht an<strong>der</strong>s als auf Beschluß des Sowjetkongresses erfolgen - von<br />

solch kindlichem Formalismus konnte nicht die Rede sein. Es handelte sich um die letzte<br />

Frist: man durfte den Aufstand nicht auf unbestimmte Zeit nach dem Sowjetkongteß<br />

verschieben. Durch wen und in welcher Form diese Diskussionen im Zentralkomitee<br />

Lenin erreicht hatten, ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich. Zusammenkünfte mit<br />

Trotzki, <strong>der</strong> den Augen <strong>der</strong> Feinde zu stark ausgesetzt war, hätten eine zu große Gefahr<br />

für Lenin gebildet. Bei seinem damaligen Argwohn konnte Lenin leicht befürchten,<br />

Trotzki lege die Betonung auf Kongreß und nicht auf Aufstand, leiste jedenfalls<br />

Sinowjews und Kamenjews »konstitutionellen Illusionen« nicht den nötigen Wi<strong>der</strong>stand.<br />

Auch die ihm wenig bekannten neuen Zentralkomiteemitglie<strong>der</strong>, frühere Interrayonisten<br />

(o<strong>der</strong> Vereinigungsanhänger), Joffe und Uritzki, mochten Lenins Besorgnis erregt haben.<br />

Einen direkten Hinweis darauf enthält Lenins Rede nach dein Siege in <strong>der</strong> Sitzung des<br />

Petrogra<strong>der</strong> Komitees vom 1. November. »Es wurde in <strong>der</strong> Sitzung (vom 10. Oktober) die<br />

Frage des Aufstandes erhoben. Ich befürchtete Opportunisnsus seitens <strong>der</strong> auf dem<br />

Boden <strong>der</strong> Vereinigung stehenden Internationalisten, doch die Befürchtungen zerstreuten<br />

sich; in unserer Partei waren etliche Mitglie<strong>der</strong> (des Zentralkomitees) nicht einverstanden.<br />

Das hatte mich aufs äußerste betrübt.« Am 10. überzeugte sich Lenin, nach seinen<br />

eigenen Worten, daß nicht nur Trotzki, son<strong>der</strong>n auch die unter dessen direktem Einfluß<br />

stehenden Joffe und Uritzki entschieden für den Aufstand eintraten. Die Frage <strong>der</strong><br />

Termine wurde übehaupt zum erstenmal in jener Sitzung gestellt. Wann also und von<br />

wem wurde »Trotzkis Vorschlag« abgelehnt, den Aufstand nicht ohne vorherigen<br />

Beschluß des Sowjetkongresses zu beginnen? Gleichsam speziell zu dem Zwecke, dem<br />

Radius des Wirrwarrs noch zu vergrößern, schieben die offiziellen Nachschlagwerke,<br />

wie wir bereits wissen, einen gleicheis Vorschlag Lenin zu, unter Berufung auf den<br />

apokryphen Beschluß vom 21. Oktober.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 790


Hier greift Stalin in den Streit ein mit einer neuen Version, die Jakowljew und mit ihm<br />

vieles an<strong>der</strong>e umwirft. Es stellt sieh heraus, daß die Verschiebung des Aufstandes bis<br />

zum Tage des Kongresses, das heißt bis zum 25., an sich Lenins Wi<strong>der</strong>spruch nicht<br />

hervorgerufen hat; die Sache wurde aber verdorben durch die vorzeitige Veröffentlichung<br />

des Aufstandstermins. Überlassen wir jedoch das Wort Stalin selbst: »Der Fehler<br />

des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, <strong>der</strong> den Tag des Aufstandes (den 25. Oktober) offen angesetzt<br />

und veröffentlicht hatte, konnte nicht an<strong>der</strong>s gut gemacht werden als durch den faktischen<br />

Aufstand vor diesens legalen Aufstandsdatum.« Diese Behauptung entwaffnet<br />

durch ihre Unzulänglichkeit. Als habe es sich bei dem Streit mit Lenin um die Wahl<br />

zwischen dem 24. und 25. Oktober gehandelt! In Wirklichkeit schrieb Lenin fast einen<br />

Monat vor dem Aufstande; »Auf den Sowjetkongreß zu warten, ist völlige Idiotie, denn<br />

das heißt Wochen verstreichen lassen, aber Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt<br />

alles.« Wo und wann hatte an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> Sowjet das Datum des Aufstandes veröffentlicht?<br />

Es ist sogar schwer, Motive auszudenken, aus denen heraus er einen solchen<br />

Unsinn hätte begehen können. In Wahrheit war auf den 25. im voraus und öffentlich<br />

nicht <strong>der</strong> Aufstand, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Sowjetkongreß angesetzt; das geschah nicht durch den<br />

Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, son<strong>der</strong>n durch das versöhnlerische Zentral-Exekutivkomitee. Aus<br />

dieser Tatsache heraus, und nicht aus angeblicher Unvorsichtigkeit des Sowjets, ergaben<br />

sich für den Gegner gewisse Schlußfolgerungen: Die Bolschewiki werden, wollen sie<br />

nicht von <strong>der</strong> Bühne verschwinden, versuchen müssen, im Augenblick des Kongresses<br />

die Macht zu erobern. »Aus <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge«, schrieben wir später, »ergab sich, daß<br />

wir den Aufstand auf den 25. Oktober ansetzten. So verstand die Sache auch die gesamte<br />

bürgerliche Presse.« Verschwommene Erinnerungen an die "Logik <strong>der</strong> Dinge" verwandelten<br />

sich bei Stalin in »unvorsichtige« Bekanntgabe des Aufstandstages. So wird<br />

<strong>Geschichte</strong> geschrieben!<br />

Am zweiten Jahrestag <strong>der</strong> Umwälzung verwies <strong>der</strong> Autor dieses Buches in dem soeben<br />

dargelegten Sinne darauf; daß <strong>der</strong> »Oktoberaufstand sozusagen im voraus auf ein<br />

bestimmtes Datum, den 25. Oktober, festgesetzt« und an diesem Tage auch vollbracht<br />

war, und fügte hinzu; vergeblich würden wir in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> das zweite Beispiel eines<br />

Aufstandes suchen, <strong>der</strong> durch den Gang <strong>der</strong> Dinge von vornherein einem bestimmten<br />

Datum angepaßt war. Diese Behauptung ist irrig: <strong>der</strong> Aufstand vom 10. August 1792 war<br />

ebenfalls etwa acht Tage zuvor auf ein bestimmtes Datum festgelegt worden, und gleichfalls<br />

nicht aus Unvorsichtigkeit, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge heraus.<br />

Am 3. August beschloß die Gesetzgebende Versammlung, die Petitionen <strong>der</strong> Pariser<br />

Sektionen, die die Absetzung des Königs for<strong>der</strong>ten, am 9. zur Beratung zu stellen.<br />

»Indem sie den Tag <strong>der</strong> Beratung festlegte«, schreibt Jaurès, <strong>der</strong> manches bemerkt hat,<br />

was den alten Historikern entgangen war, »setzte sie damit allein auch den Tag des<br />

Aufstandes an.« Der Führer <strong>der</strong> Sektionen, Danton, nahm eine Defensivposition ein:<br />

»Bricht eine neue <strong>Revolution</strong> aus«, erklärte er beharriich, »so wird sie ... eine Antwort<br />

auf den Treubrueh <strong>der</strong> Regierung sein.« Die Verweisung <strong>der</strong> Frage durch die Sektionen<br />

zur Beratung an die Gesetzgebende Versammlung war keinesfalls eine »konstitutionelle<br />

Illusion«: sie war nur eine Methode <strong>der</strong> Vorbereitung des Aufstandes und gleichzeitig<br />

dessen legale Deckung. Zur Unterstützung ihrer Positionen erhoben sich bekanntlich die<br />

Sektionen auf ein Sturmläuten mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand.<br />

Der Ähnlichkeitszug <strong>der</strong> zwei voneinan<strong>der</strong> durch einen Abstand von hun<strong>der</strong>tfünfund-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 791


zwanzig Jahren getrennten Umwälzungen ergibt sich keineswegs zufällig. Beide<br />

Aufstände spielen sich nicht zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ab, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong>en zweiter<br />

Etappe, was sie politisch viel bewußter und planvoller macht. In beiden Fällen erreicht<br />

die revolutionäre Krise hohe Reife. Die Massen legen sich im voraus Rechenschaft ab<br />

über die Unabwendbarkeit und Nähe <strong>der</strong> Umwälzung. Das Bedürfnis nach Tateinheit<br />

zwingt sie, ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes "legales" Datum zu konzentrieren<br />

als auf den Brennpunkt <strong>der</strong> heranrückenden Ereignisse. Dieser Logik <strong>der</strong> Massenbewegung<br />

unterwirft sich die Leitung. Bereits die politische Lage beherrschend, schon<br />

fast die Hand auf dens Sieg, nimmt sie nach außen hin eine Defensivposition ein. Den<br />

geschwächten Gegner provozierend, wälzt sie auf ihn im voraus die Verantwortung für<br />

die nahenden Zusammenstöße. So vollzieht sich ein Aufstand an einem »im voraus bestinimten<br />

Datum«.<br />

Die durch ihre Ungereimtheiten verblüffenden Behauptungen Stalins - einige von<br />

ihnen sind in den vorangegangenen Kapiteln angeführt - beweisen, wie wenig er über die<br />

Ereigmsse von 1917 in ihrem inneren Zusammenhang nachgedacht und welch summarische<br />

Spur sie in seinem Gedächtnis hinterlassen haben. Wie das erklären? Es ist bekannt,<br />

daß Menschen <strong>Geschichte</strong> machen, ohne <strong>der</strong>en Gesetze zu kennen, wie sie Speisen<br />

verdauen, ohne einen Begriff von <strong>der</strong> Physiologie <strong>der</strong> Verdauung zu haben. Es mag<br />

scheinen, dieses könne sich nicht auf führende Politiker, dazu noch Führer einer Partei<br />

beziehen, die sich auf ein wissenschaftlich fundiertes Programm stützt. Indes bleibt es<br />

Tatsache, daß viele <strong>Revolution</strong>äre, die auf sichtbaren Posten an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> teilnahmen,<br />

schon nach sehr kurzer Zeit nicht mehr die Fähigkeiten besitzen, den inneren Sinn<br />

dessen zu begreifen, was unter ihrer unmittelbaren Teilnahme geschah. Der außerordentliche<br />

Reichtum <strong>der</strong> Literatur des Epigonentums erweckt den Eindruck, als seien die<br />

gewaltigen Ereignisse über menschliche Gehirne hinweggegangen und hätten sie<br />

zerquetscht, wie eine Eisenwalze Hände und Füße zerquetscht. Bis zu einem gewissen<br />

Grade ist es auch so: eine außerordentlich psychische Spannung verbraucht die<br />

Menschen schnell. Viel wichtiger ist jedoch ein an<strong>der</strong>er Umstand: die siegreiehe <strong>Revolution</strong><br />

verän<strong>der</strong>t radikal die Lage <strong>der</strong> gestrigen <strong>Revolution</strong>äre, schläfert <strong>der</strong>en wissenschaftlichen<br />

Eifer ein, versöhnt sie mit <strong>der</strong> Schablone und läßt sie den gestrigen Tag unter dem<br />

Einfluß neuer Interessen einschätzen. So verschleiert das Gewebe <strong>der</strong> bürokratischen<br />

Legende immer dichter die wirklichen Umrisse <strong>der</strong> Ereignisse.<br />

Im Jahre 1924 versuchte <strong>der</strong> Autor dieses Buches in seiner Arbeit "Die Lehren des<br />

Oktober" klarzulegen, weshalb Lenin gezwungen war, während er die Partei zum<br />

Aufstande führte, mit solcher Schärfe gegen den rechten Flügel, verkörpert durch<br />

Sinowjew und Kamenjew, zu kämpfen. Stalin erwi<strong>der</strong>te darauf: »Waren damals<br />

Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei? Ja; sie waren da. Doch trugen sie<br />

ausschließlich sachlichen Charakter, entgegen den Behauptungen Trotzkis, <strong>der</strong> einen<br />

"rechten" und einen "linken" Flügel <strong>der</strong> Partei zu entdecken bemüht ist ...« »Trotzki<br />

versichert, daß wir in <strong>der</strong> Person Kamenjews und Sinowjews im Oktober einen rechten<br />

Flügel unserer Partei hatten ... Wie konnte es geschehen, daß die Meinungsverschiedenheiten<br />

mit Kamenjew und Sinowjew nur wenige Tage dauerten?... Eine Spaltung hat es<br />

nicht gegeben, die Meinungsverschiedenheiten aber währten deshalb und nur deshalb im<br />

ganzen wenige Tage, weil wir in Kamenjew und Sinowjew Leninisten, Bolschewiki<br />

besaßen.« Hat nicht Stalin genauso sieben Jahre zuvor, fünf Tage vor dem Aufstand,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 792


Lenin übertriebener Schärfe beschuldigt und behauptet, Sinowjew und Kamenjew<br />

ständen auf dem gemeinsamen Boden des "Bolschewismus"? Durch Stalins sämtliche<br />

Zickzacks zieht sieh eine gewisse Kontinuität, die sieh nicht aus durchdachter Weltanschauung,<br />

son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> gesamten Charakteranlage ergibt. Sieben Jahre nach <strong>der</strong><br />

Umwälzung, wie am Vorabend des Aufstandes, konnte er sich in gleicher Weise nur<br />

unklar die Tiefe <strong>der</strong> Meinungsverschiedenheiten in <strong>der</strong> Partei vorstellen.<br />

Prüfstein für einen revolutionären Politiker ist die Frage des Staates. In ihrem gegen<br />

den Aufstand gerichteten Brief vom 11. Oktober schrieben Sinowjew und Kamenjew:<br />

»Bei einer richtigen Taktik können wir ein Drittel und auch mehr Plätze in <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung bekommen ... Konstituierende Versammlung und Sowjets - das ist<br />

jener kombinierte Typus <strong>der</strong> Staatsinstitution, dem wir entgegengehen.« »Richtige<br />

Taktik« bedeutete Verzieht auf Machteroberung durch das Proletariat. »Kombinierter<br />

Typus« des Staates bedeutete Verbindung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung, in <strong>der</strong> die<br />

bürgerlichen Parteien zwei Drittel bilden, mit den Sowjets, in denen die Partei des Proletariats<br />

herrscht. Dieser Typus des kombinierten Staates lag späterhin <strong>der</strong> Hilferdingschen<br />

Idee zugrunde, die Räte in <strong>der</strong> Weimarer Verfassung zu verankern. General von Linsingen,<br />

Oberbefehlshaber in den Marken, <strong>der</strong> am 7. November 1918 die Bildung von Räten<br />

aus dem Grunde verbot, »weil diese Institutionen <strong>der</strong> bestehenden Staatsordesung wi<strong>der</strong>sprechen«,<br />

bewies jedenfalls unvergleichlich größeten Scharfsinn als die Austromarxisten<br />

und die deutsche Unabhängige Partei.<br />

Daß die Konstituierende Versammlung in den Hintergrund treten würde, hatte Lenin<br />

bereits seit April vorausgesagt; dennoch verzichteten we<strong>der</strong> er noch die Partei in ihrer<br />

Gesamtheit während des ganzen Jahres 1917 formell auf die Idee <strong>der</strong> demokratischen<br />

Vertretung: man konnte nicht im voraus mit Bestimmtheit sagen, wie weit die <strong>Revolution</strong><br />

kommen würde. Man nahm an, es würde den Sowjets nach Übernahme <strong>der</strong> Macht<br />

schnell genug gelingen, Armee und Bauern zu gewinnen, so daß die Konstituierende<br />

Versammlung, vor allem bei Erweiterung des Wahlrechts (Lenin schlug insbeson<strong>der</strong>e<br />

vor, das Wahlalter auf achtzehn Jahre herabzusetzen), den Bolschewiki eine Mehrheit<br />

bringen und nur die formelle Krönung des Sowjetregimes darstellen würde. In diesem<br />

Sinne sprach Lenin manchmal vom »kombinierten Typus« des Staates, das heißt von <strong>der</strong><br />

Anpassung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an die Sowjetdiktatur. In Wirklichkeit<br />

nahm die Entwicklung einen an<strong>der</strong>en Weg. Trotz Lenins Drängen entschloß sich das<br />

Zentralkomitee nach <strong>der</strong> Machteroberung nicht, die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung um einige Wochen zu vertagen, und an<strong>der</strong>s war es unmöglich, das<br />

Wahlrecht zu erweitern und vor allem den Bauern Gelegenheit zu geben, ihre Stellung zu<br />

den Sozialrevolutionären und Bolschewiki auf neue Art festzulegen. Die Konstituierende<br />

Versammlung kam in Konflikt mit den Sowjets und wurde aufgelöst. Die in <strong>der</strong><br />

Versammlung vorhandenen feindlichen Lager traten in den Zustand des Bürgerkrieges<br />

ein, <strong>der</strong> Jahre andauerte. Im System <strong>der</strong> Sowjetdiktatur fand sich für die demokratische<br />

Vertretung kein noch so untergeordneter Platz. Die Frage des »kombinierten Typus« war<br />

praktisch von <strong>der</strong> Tagesordnung abgesetzt. Theoretisch jedoch behielt sie ihre ganze<br />

Bedeutung, wie nachträglich die Erfahrung <strong>der</strong> Unabhängigen Sozialdemokratischen<br />

Partei in Deutschland zeigte.<br />

Im Jahre 1924, als Stalin, den For<strong>der</strong>ungen des innerparteilichen Kampfes gehorchend,<br />

zum erstenmal versuchte, die Erfahrtnig <strong>der</strong> Vergangenheit selbständig zu bewerten,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 793


nahm er Sinowjews »kombinierten Staat« unter seinen Schutz und berief sich dabei auf -<br />

Lenin. »Trotzki begreift nicht ... die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> bolschewistischen Taktik, wenn<br />

er gegen die Theorie <strong>der</strong> Verbindung von Konstituieren<strong>der</strong> Versammlung und Sowjets<br />

wie gegen eine Hilferdingiade schnaubt«, schrieb in <strong>der</strong> ihm eigenen Manier Stalin.<br />

»Sinowjew, den Trotzki bereit ist, in einen Hilferdingianer zu verwandeln, hatte voll und<br />

ganz Lenins Standpunkt geteilt.« Das bedeutet: sieben Jahre nach den theoretischen und<br />

politischen Kämpfen Von 1917 hatte Stalin noch immer absolut nicht begriffen, daß bei<br />

Sinowjew wie bei Hilferding die Rede war von <strong>der</strong> Übereinstimmung und Versöhnung<br />

<strong>der</strong> Macht zweier Klassen, <strong>der</strong> Bourgeoisie durch die Konstituierende Versammlung, des<br />

Proletariats durch die Sowjets; während bei Lenin die Rede war von einer kombinierten<br />

Institution, die die Macht ein und <strong>der</strong>selben Klasse, des Proletariats, ausdrückt.<br />

Sinowjews Idee stand, wie Lenin schon damals auseinan<strong>der</strong>setzte, im Gegensatz zu den<br />

marxistischen Elementarlehren vom Staate. »Wenn die Macht in den Händen <strong>der</strong> Sowjets<br />

ist ...«, schreibt Lenin am 17. Oktober gegen Sinowjew und Kamenjew, »lassen alle<br />

diesen "kombinierten Typus" gelten; aber mit dem Wörtehen "kombinierter Typus" jetzt<br />

den Verzicht auf die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets einschmuggeln ... läßt sich zur<br />

Charakterisierung dieses Verhaltens ein parlamentarischer Ausdruck finden?« Wir<br />

sehen: zur Kennzeichnung <strong>der</strong> Sinowjewschen Idee, die Stalin für eine von Trotzki<br />

angeblich nicht begriffene »Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> bolschewistischen Taktik« erklärt, fällt es<br />

Lenin sogar schwer, einen parlamentarischen Ausdruck zu finden, obwohl er sich in<br />

dieser Hinsicht durch übermäßige Hemmungen nicht auszuzeichnen pflegte. Über ein<br />

Jahr später schrieb Lenin unter Hinweis auf Deutschland: »... Der Versuch, die Diktatur<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie mit <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats zu verbinden, ist völlige Preisgabe<br />

sowohl des Marxismus wie des Sozialismus überhaupt ...« Und hätte Lenin an<strong>der</strong>s schreiben<br />

können?<br />

Sinowjews »kombinierter Typus« bedeutete seinem Wesen nach den Versuch, die<br />

Doppelherrschaft zu verewigen, das heißt die Wie<strong>der</strong>belebung des von den Menschewiki<br />

restlos erschöpften Experiments. Und wenn Stalin im Jahre 1924 wie früher in dieser<br />

Frage auf gemeinsamem Boden mit Sintwjew stand, so hieß das, daß er, obwohl er sich<br />

Lenins Thesen angeschlossen hatte, noch immer, wenigstens zur Hälfte, jener Philosophie<br />

<strong>der</strong> Doppelherrschaft treugeblieben war, die er selbst in seiner Rede vom 29. März<br />

1917 entwickelt hatte: »Die Rollen sind verteilt, <strong>der</strong> Sowjet hat faktisch die Initiative zu<br />

revolutionären Umgestaltungen ergriffen ... Die Provisorische Regierung dagegen hat<br />

faktisch die Rolle des Befestigers <strong>der</strong> Errungenschaften des revolutionären Volkes<br />

übernommen.« Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat<br />

werden hier als einfache politische Arbeitsteilung gedeutet.<br />

In <strong>der</strong> letzten Woche vor dem Aufstande manövrierte Stalin offensichtlich zwischen<br />

Lenin, Trotzki und Swerdlow einerseits, Kamenjew und Sinowjew an<strong>der</strong>erseits. Die<br />

redaktionelle Erklärung vom 20., die die Gegner des Aufstandes vor Lenins Schlägen in<br />

Schutz nahm, konnte gerade bei Stalin kein Zufall sein: in Fragen innerparteilichen<br />

Manövrierens ist seine Meisterschaft unbestreitbar. Wie im April, nach Lenins Ankunft,<br />

Stalin vorsichtig Kamenjew vorschob und selbst schweigend abseits wartete, bevor er<br />

sich neu engagierte, so bereitete er sich offensichtlich auch jetzt, am Vorabend <strong>der</strong><br />

Umwälzung, für den eventuellen Fall eines Mißerfolges den Rückzug auf die Linie<br />

Sinowjew-Kamenjew vor. Stalin erreicht auf diesem Wege die Grenze, hinter <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 794


Bruch mit <strong>der</strong> Mehrheit des Zentralkomitees beginnt. Diese Perspektive schreckt ihn. In<br />

<strong>der</strong> Sitzung vom 21. stellt Stalin die halbabgebrochene Brücke zum linken Flügel des<br />

Zentralkomitees wie<strong>der</strong> her, indem er vorschlägt, Lenin mit <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Thesen<br />

über die Kernfragen des Sowjetkongresses zu beauftragen und Trotzki mit dem politischen<br />

Referat zu betrauen. Das eine wie das an<strong>der</strong>e wird einstimmig angenommen.<br />

Nachdem er sich nach links gesichert hat, tritt Stalin im letzten Augenblick in den Schatten:<br />

er wartet ab. Alle neueren Historiker, beginnend mit Jaroslawski, umgehen<br />

sorgsamst die Tatsache, daß Stalin bei <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees vom 24. im<br />

Smolny nicht anwesend war und keine Funktion bei <strong>der</strong> Organisierung des Aufstandes<br />

übernahm! Indes charakterisiert diese dokumentarisch unwi<strong>der</strong>legbar festzustellende<br />

Tatsache am allerbesten Stalins politische Persönlichkeit und Methoden.<br />

Seit dem Jahre 1924 wurden unzählige Anstrengungen gemacht, den leeren Platz, den<br />

<strong>der</strong> Oktober in Stalins politischer Biographie darstellt, auszufüllen. Das geschah unter<br />

zwei Pseudonymen: »Zentralkomitee« und »praktisches Zentrum«. Wir würden we<strong>der</strong><br />

die Mechanik <strong>der</strong> Oktoberleitung noch die Mechanik <strong>der</strong> späteren Epigonenlegende<br />

verstehen, wollten wir nicht an die personelle Zusammensetzung des damaligen Zentralkomitees<br />

etwas näher herangehen.<br />

Lenin, anerkannter Führer, Autorität für alle, doch, wie die Tatsachen beweisen,<br />

keinesfalls "Diktator" in <strong>der</strong> Partei, beteiligte sich vier Monate lang an <strong>der</strong> Arbeit des<br />

Zentralkomitees nicht unmittelbar und stand in einer Reihe taktischer Fragen zu diesem<br />

in scharfer Opposition. Als angesehene Führer galten im alten bolschewistischen Kern, in<br />

großem Abstande von Lenin, aber auch von jenen, die nach ihnen kamen, Sinowjew und<br />

Kamenjew. Sinowjew hielt sich, wie Lenin, verborgen. Vor dem Oktober standen<br />

Sinowjcw und Kamenjew in entschiedener Opposition zu Lenin und <strong>der</strong> Mehrheit des<br />

Zentralkomitees: das entfernte beide aus <strong>der</strong> Front. Von den alten Bolschewiki tat sich<br />

schnell Swerdlow hervor. Doch war er damals noch Neuling im Zentralkomitee. Seine<br />

Begabung als Organisator entfaltete sich erst später, in den Aufbaujahren des Sowjetstaates.<br />

Dserschinski, <strong>der</strong> sich kurz vorher <strong>der</strong> Partei angeschlossen hatte, zeichnete sich<br />

durch revolutionäres Temperament aus, erhob jedoch keinen Anspruch auf selbständige<br />

politische Autorität. Bucharin, Rykow und Nogin lebten in Moskau, Bucharin galt als<br />

begabter, aber unzuverlässiger Theoretiker. Rykow und Nogin waren Gegner des<br />

Aufstandes. Lomow, Bubnow und Miljutin wurden bei Entscheidung großer Fragen<br />

kaum von jemand in Rechnung gezogen; außerdem arbeitete Lomow in Moskau, Miljutin<br />

war meist auf Reisen. Joffe und Uritzki waren durch ihre Emigrantenvergangenheit eng<br />

mit Trotzki verbunden und handelten im Einvernehmen mit ihm. Der junge Smilga arbeitete<br />

in Finnland. Zusammensetzung und innerer Zustand des Zentralkomitees erklären<br />

zur Genüge, weshalb <strong>der</strong> Parteistab vor Lenins Rückkehr an die unmittelbare Leitung<br />

auch nicht im entferntesten jene Rolle spielte und spielen konnte, die ihm später zuteil<br />

wurde. Die Protokolle beweisen, daß die wichtigsten Fragen: des Sowjetkongresses, <strong>der</strong><br />

Garnison, des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, nicht vorher im Zentralkomitee<br />

beraten wurden, nicht seiner Initiative entsprangen, son<strong>der</strong>n im Smolny, aus <strong>der</strong> Praxis<br />

des Sowjets entstanden und im Kreise <strong>der</strong> Sowjetführer, am häufigsten unter Swerdlows<br />

Mitwirkung ausgearbeitet wurden.<br />

Stalin ließ sieh im Smolny überhaupt nicht blicken. Je entschiedener <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong><br />

revolutionären Massen, je größer <strong>der</strong> Schwung <strong>der</strong> Ereignisse, um so mehr taucht Stalin<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 795


unter, um so mehr verblaßt sein politischer Gedanke, um so schwächer wird seine Initiative.<br />

So war es im Jahre 1905. So im Herbst 1917. Das gleiche wie<strong>der</strong>holte sich auch<br />

später jedesmal, wenn große historische Fragen in <strong>der</strong> Weltarena auftauchten. Als es sich<br />

ergab, daß die Veröffentlichung <strong>der</strong> Protokolle des Zentralkomitees über das Jahr 1917<br />

die Oktoberlücke in Stalins Biographie nur entblößte, schuf die bürokratische Historiographie<br />

die Legende vom "praktischen Zentrum", Die Aufklärung dieser in den letzten<br />

Jahren breit popularisierten Version bildet ein notwendiges Element <strong>der</strong> kritischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />

Bei <strong>der</strong> Beratung des Zentralkomitees im Lessnoy, am 16. Oktober, war eines <strong>der</strong><br />

Argumente gegen die Forcierung des Aufstandes <strong>der</strong> Hinweis, daß »wir noch nicht mal<br />

ein Zentrum haben«. Auf Lenins Antrag beschloß das Zentralkomitee an Ort und Stelle,<br />

in einer im Winkel abgehaltenen fliegenden Sitzung, diese Lücke auszufüllen. Das Protokoll<br />

lautet: »Das Zentralkomitee organisiert ein militärisch-revolutionäres Zentrum in<br />

folgen<strong>der</strong> Zusammensetzung: Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzki und Dserschinski.<br />

Dieses Zentrum wird dem <strong>Revolution</strong>ären Sowjetkomitee einverleibt,« Die von allen<br />

vergessene Verfügung wurde in den Archiven zum erstenmal im Jahre 1924 entdeckt.<br />

Man begann sie zu zitieren wie ein wichtiges historisches Dokument. So schrieb<br />

Jaroslawski: »Dieses Organ (und kein an<strong>der</strong>es) leitete alle Organisationen, die am<br />

Aufstande teilnahmen (revolutionäre Truppenteile, Rote Garde).« Die Worte »und kein<br />

an<strong>der</strong>es« zeigen freimütig genug den Zweck dieser ganzen nachträglichen Konstruktion.<br />

Noch freimütiger schrieb Stalin: »In das praktische Zentrum, berufen, den Aufstand zu<br />

leiten, kam seltsamerweise nicht hinein ... Trotzki.« Um die Möglichkeit zu haben, sich<br />

über dieses Thema zu verbreiten, war Stalin gezwungen, die zweite Hälfte <strong>der</strong> Verfügung<br />

wegzulassen: »Dieses Zentrum wird dem <strong>Revolution</strong>ären Sowjetkomitee einverleibt.«<br />

Berücksichtigt man, daß an <strong>der</strong> Spitze des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees Trotzki<br />

stand, dann ist nicht schwer zu begreifen, weshalb sich das Zentralkomitee beschränkte<br />

auf Ernennung neuer Arbeiter zur Unterstützung jener, die bereits ohnehin im Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> Arbeit standen. We<strong>der</strong> Stalin noch Jaroslawski erklärten darüber hinaus,<br />

weshalb man sich des »praktischen Zentrums« zum erstenmal ins Jahre 1924 erinnerte.<br />

Zwischen dem 16. und 20. Oktober stellt sich <strong>der</strong> Aufstand, wie wir gesehen haben,<br />

endgültig auf das Sowjet-Geleise. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee konzentriert in<br />

seinen Händen von den ersten Schritten an die unmittelbare Leitung nicht nur <strong>der</strong> Garnison,<br />

son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Roten Garde, die schon seit dem 13. Oktober dem Pettogra<strong>der</strong><br />

Exekutivkomitee untersteht. Für irgendein an<strong>der</strong>es leitendes Zentrum bleibt kein Platz<br />

übrig. Jedenfalls kann man we<strong>der</strong> in den Protokollen des Zentralkomitees noch in irgendwelchen<br />

an<strong>der</strong>en Materialien aus <strong>der</strong> zweiten Oktoberhälfte die geringste Spur finden<br />

von <strong>der</strong> Tätigkeit eines, wie man doch meinen müßte, so wichtigen Organs. Niemand<br />

berichtet über seine Arbeit, keine Aufträge werden ihm zugeteilt, selbst sein Name wird<br />

von keinem erwähnt, obwohl seine Mitglie<strong>der</strong> in den Sitzungen des Zentralkomitees<br />

anwesend sind und an <strong>der</strong> Lösung jener Fragen teilnelimen, die die direkte Kompetenz<br />

des "praktischen Zentrums" bilden müßten.<br />

Sweschnikow, Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Parteikomitees, <strong>der</strong> während <strong>der</strong> zweiten<br />

Oktoberhälfte fast ununterbrochen im Smolny als Verbindungsmann Wachdienst tat,<br />

müßte doch jedenfalls wissen, wo praktische Anweisungen in Fragen des Aufstandes zu<br />

suchen gewesen waren. Er schreibt folgendes: »Es entsteht das Militärische Revolurions-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 796


komitee. Mit seiner Entstehung gewinnt das Elementare <strong>der</strong> revolutionären Aktivität des<br />

Proletariats ein führendes Zentrum.« Kajurow, den wir aus den Februartagen gut<br />

kennen, erzählt, wie <strong>der</strong> Wyborger Bezirk gespannt auf das Signal aus dem Smolny<br />

wartete: »gegen Abend (des 24.) kam die Antwort des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />

- die Rote Garde für den Kampf bereitzuhalten«. Kajurow weiß nichts von irgendeinem<br />

an<strong>der</strong>en Zentrum im Moment des Übergangs zum offenen Aufstand. Mit gleichem Recht<br />

kann man auf die Erinnerungen Sadowskis, Podwojskis, Antonows, Mechonoschins,<br />

Blagonrawows und an<strong>der</strong>er unmittelbarer Teilnehmer <strong>der</strong> Umwälzung verweisen: nicht<br />

einer von ihnen erwähnt das "praktische Zentrum", das nach Jaroslawskis Behauptung<br />

sämtliche Organisationen geleitet haben soll. Schließlich begnügt sich Jaroslawski selbst<br />

in seiner <strong>Geschichte</strong> mit <strong>der</strong> nackten Mitteilung von <strong>der</strong> Schaffung des Zentrums: über<br />

dessen Tätigkeit sagt er kein Wort. Die Schlußfolgerung drängt sich von selbst auf: ein<br />

leitendes Zentrum, das keiner <strong>der</strong> Geleiteten kennt, existiert für die <strong>Geschichte</strong> nicht.<br />

Doch lassen sich auch direktere Beweise für das Seheindasein des "praktischen<br />

Zentrums" anführen. In <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees vom 20. Oktober verliest<br />

Swerdlow eine Erklärung <strong>der</strong> Militärischen Organisation, die, wie aus <strong>der</strong> Diskussion<br />

ersichtlich ist, die For<strong>der</strong>ung enthält, die Leiter <strong>der</strong> Militärischen Organisation bei<br />

Entschließungen in Fragen des Aufstandes hinzuzuziehen. Joffe schlägt vor, diese For<strong>der</strong>ung<br />

abzulehnen: »Alle, die den Willen zur Arbeit haben, können in das im Sowjet bestehende<br />

<strong>Revolution</strong>äre Zentrum hineingehen.« Trotzki verleiht Joffes Vorschlag eine<br />

gemil<strong>der</strong>te Formulierung: »Alle unsere Organisationen können in das <strong>Revolution</strong>äre<br />

Zentrum hineingehen und dort in unserer Fraktion sämtliche sie interessierenden Fragen<br />

behandeln.« Der in dieser Form angenommene Beschluß zeigt, daß es nur ein <strong>Revolution</strong>äres<br />

Zentrum gab: beim Sowjet, das heißt das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee. Hätte<br />

für die Leitung des Aufstandes irgendein an<strong>der</strong>es revolutionäres Zentrum existiert,<br />

irgendwer hätte mindestens an seine Existenz erinnert. Doch es erinnerte niemand daran,<br />

auch nicht Swerdlow, dessen Name in <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>reihe des "praktischen Zentrums" an<br />

erster Stelle stand.<br />

Womöglich noch lehrreicher ist in dieser Hinsicht das Sitzungsprotokoll vom 24.<br />

Oktober: In den Stunden, die <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Stadt unmittelbar vorangingen, ist nicht<br />

nur keine Rede von dem "praktischen Zentrum" des Aufstandes, auch <strong>der</strong> Beschluß über<br />

seine Schaffung ist im Trubel <strong>der</strong> verflossenen acht Tage <strong>der</strong>art in Vergessenheit geraten,<br />

daß auf Trotzkis Antrag »zur Verfügung des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees« ernannt<br />

werden: Swerdlow, Dserschinski und Bubnow, das heißt jene Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees,<br />

die nach dem Sinn des Beschlusses vom 16. Oktober ohnehin zum Militärischen<br />

<strong>Revolution</strong>skomitee gehören sollten. Die Möglichkeit eines solchen Mißverständnisses<br />

selbst läßt sich so erklären, daß das kaum aus <strong>der</strong> Illegalität herausgenommene Zentralkomitee<br />

sehr wenig <strong>der</strong> gewaltigen allumfassenden Kanzlei späterer Jahre ähnlich war.<br />

Den Hauptteil des Zentralkomitee-Apparats trug Swerdlow in <strong>der</strong> Brusttasche.<br />

Episodische Organe, entstanden am Ende einer Sitzung und sofort in Vergessenheit<br />

versunken, hat es in jener heißen Zeit nicht wenig gegeben. In <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees<br />

vom 7. Oktober wurde geschaffen ein "Informationsbüro zum Kampf gegen die<br />

Konterrevolution": das war die Chiffre des ersten Organs zur Bearbeitung von Fragen<br />

des Aufstandes. Über seine Zusammensetzung sagt das Protokoll: »Vom Zentralkomitee<br />

werden in das Büro drei Mann gewählt: Trotzki, Swerdlow und Bubnow, die mit <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 797


Zusammensetzung des Büros beauftragt sind.« Hat dieses erste "praktische Zentrum" des<br />

Aufstandes existiert? Offenbar nicht, da es keine Spuren hinterlassen hat. Das politische<br />

Büro, das in <strong>der</strong> Sitzung vom 10. geschaffen wurde, erwies sich ebenfalls als lebensunfähig,<br />

denn es trat in keiner Weise hervor: es hat wohl kaum auch nur ein einziges Mal<br />

getagt. Damit die Petrogra<strong>der</strong> Parteiorganisation, die in den Bezirken die Arbeit unmittelbar<br />

leitete, nicht die Verbindung mit dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee verlöre,<br />

wurde auf Lenins Initiative, <strong>der</strong> das System <strong>der</strong> doppelten und dreifachen Sicherung<br />

liebte, Trotzki für die kritischen Wochen in die leitende Spitze des Petrogra<strong>der</strong> Komitees<br />

hineingewählt. Auch dieser Beschluß blieb jedoch auf dem Papier: nicht eine Sitzung hat<br />

unter Trotzkis Beteiligung stattgefunden. Das gleiche Schicksal ereilte auch das<br />

sogenannte "praktische Zentrum". Als selbständige Institution sollte es ja seiner Bestimmung<br />

nach ohnehin nicht existieren, aber auch als Hilfsorgan hat es nicht existiert.<br />

Von den für die Zusammensetzung des "Zentrums" vorgesehenen Fünf widmeten sich<br />

Dserschinski und Uritzki <strong>der</strong> Arbeit des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees völlig erst<br />

nach <strong>der</strong> Umwälzung. Swerdlow spielte die größte Rolle im Verbindungsdienst zwischen<br />

Militärischem <strong>Revolution</strong>skomitee und Partei. Stalin nahm an <strong>der</strong> Arbeit des Militärischen<br />

Rcvolurionskomitees keinen Anteil und erschien niemals in dessen Sitzungen. In<br />

den zahlreichen Dokumenten, Zeugen- und Teilnehmerangaben wie in späteren Erinnerungen<br />

kommt Stalins Name kein einziges Mal vor.<br />

In dem offiziellen Nachschlagewerk für die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist dem Monat<br />

Oktober ein selbständiger Band gewidmet, <strong>der</strong> nach Tagen alle tatsächlichen Berichte aus<br />

Zeitungen, Protokollen, Archiven, Erinnerungen <strong>der</strong> Teilnehmer und so weiter gruppiert.<br />

Obwohl das Sammelwerk im Jahre 1925 erschien, als die Revision <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

bereits in voller Entfaltung war, versieht das Personenregister am Ende des Buches<br />

Stalins Namen nur mit einer einzigen Zahl, und schlagen wir die entsprechende Seite auf;<br />

so finden wir immer den gleichen Text des Zentralkomiteebeschlusses über das "praktische<br />

Zentrum" mit <strong>der</strong> Erwähnung des Namens Stalin als eines <strong>der</strong> fünf Mitglie<strong>der</strong>.<br />

Vergeblich würden wir in diesem, sogar an drittrangigem Material so reichhaltigen<br />

Sammelwerk Angaben darüber suchen, welche Arbeit eigentlich Stalin im Oktober innerhalb<br />

des "Zentrums" o<strong>der</strong> außerhalb desselben geleistet hat.<br />

Um Stalins politische Physiognomie mir einem Wort zu kennzeichnen: er war stets<br />

"Zentrist" im Bolschewismus, das heißt organisch bestrebt, zwischen Marxismus und<br />

Opportunismus zu stehen. Doch es war ein Zentrist, <strong>der</strong> Lenin fürchtete. Je<strong>der</strong> Abschnitt<br />

<strong>der</strong> Stalinschen Kreisbahn bis zum Jahre 1924 läßt sich stets in folgende zwei Kräfte<br />

zerlegen in die eigene zentristische Natur und den revolutionären Druck Lenins. Die<br />

Unzulänglichkeit des Zentrismus zeigt sich am vollkommensten bei <strong>der</strong> Nachprüfung<br />

durch große historische Ereignisse. »Unsere Lage ist wi<strong>der</strong>spruchsvoll«, sagte Stalin am<br />

20. Oktober zur Rechtfertigung Sinowjews und Kamenjews. In Wirklichkeit verhin<strong>der</strong>te<br />

die wi<strong>der</strong>spruchsvolle Natur des Zentrismus Stalin, einen einigermaßen selbständigen<br />

Platz in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> einzunehmen. Dagegen mußten die gleichen Züge, die ihn an<br />

großen geschichtlichen Kreuzungspunkten paralysierten - Abwarten und empirisches<br />

Lavieren -, ihm ernstliche Vorteile sichern, sobald die Massenbewegung wie<strong>der</strong> in die<br />

Ufer zurückzutreten begann und in den Vor<strong>der</strong>grund <strong>der</strong> Beamte rückte, <strong>der</strong> danach<br />

strebte, das Errungene zu festigen, das heißt, vor allem seine eigene Lage gegen neue<br />

Erschütterungen zu sichern. Der im Namen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> herrschende Tschinownik<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 798


edarf <strong>der</strong> revolutionären Autorität. Als "alter Bolschewik" war Stalin die geeignetste<br />

Verkörperung dieser Autorität. Indem er die Massen zuiückdrängt, sagt ihnen <strong>der</strong> Kollektiv-Tschinownik:<br />

»Das alles haben wir für euch getan.« Er beginnt nicht nur über die<br />

Gegenwart zu verfügen, son<strong>der</strong>n auch über die Vergangenheit. Der beamtete Historiker<br />

modelt die <strong>Geschichte</strong> um, repariert Biographien, schafft Reputationen. Es war notwendig,<br />

die <strong>Revolution</strong> zu bürokratisieren, bevor Stalin sie krönen konnte.<br />

In Stalins persönlichem Schicksal, das für die marxistische Analyse von hervorragendem<br />

Interesse ist, besitzen wir eine neue Brechung <strong>der</strong> Gesetze aller <strong>Revolution</strong>en die<br />

Entwicklung des durch den Umsturz geschaffenen Regimes verläuft unvermeidlich durch<br />

Ebben und Fluten, die nach Jahren zählen, wobei Perioden geistiger Reaktion jene<br />

Figuren in den Vor<strong>der</strong>grund rücken, die nach all ihren Haupteigenschaften eine führende<br />

Rolle während des Aufstiegs we<strong>der</strong> gespielt noch zu spielen vermocht hatten.<br />

Die bürokratische Revidierung <strong>der</strong> Partei- und <strong>Revolution</strong>sgeschichte leitet Stalin<br />

unmittelbar. Die Marksteine dieser Arbeit bezeichnen grell die Entwicklungsetappen des<br />

Sowjetapparats. Am 6. November (neuen Stils) 1918 schrieb Stalin in einem Jubiläumsartikel<br />

<strong>der</strong> 'Prawda': »Seele <strong>der</strong> Umwälzung war von Anfang bis zu Ende das Zentralkomitee<br />

<strong>der</strong> Partei mit Genossen Lenin an <strong>der</strong> Spitze. Wladimir lljitsch lebte damals in<br />

Petrograd, auf <strong>der</strong> Wyborger Seite, in einer konspirativen Wohnung. Am 24. Oktober<br />

abends wurde er nach dem Smolny gerufen, um die gesamte Bewegung zu leiten. Die<br />

ganze Arbeit <strong>der</strong> praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter <strong>der</strong> unmittelbaren<br />

Leitung des Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, des Genossen Trotzki. Man darf mit<br />

Bestimmtheit behaupten, daß die Partei den schnellen Übergang <strong>der</strong> Garnison auf die<br />

Seite des Sowjets und die geschickte Arbeitsmethode des Militärischen <strong>Revolution</strong>akomitees<br />

vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki verdankt. Die Genossen<br />

Antonow und Podwojski waren die Haupthilfskräfte des Genossen Trotzki.«<br />

We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Autor dieses Buches noch, wie anzunehmen ist, Lenin, <strong>der</strong> sich von den<br />

sozialrevolutionären Kugeln erholte, beachteten in jenen Tagen diese retrospektive<br />

Rollen- und Verdiensrverteilung. Der Artikel erschien erst einige Jahre später in an<strong>der</strong>em<br />

Lichte und zeigte, daß Stalin schon in den schweren Herbstmonaten 1918 eine neue,<br />

vorläufig äußerst behutsame Darstellung <strong>der</strong> Parteiführung vom Oktober vorbereitete.<br />

»Seele <strong>der</strong> Umwälzung war von Anfang bis zu Ende das Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei mit<br />

Lenin an <strong>der</strong> Spitze.« Dieser Satz enthält eine Polemik gegen jene, die berechtigterweise<br />

glaubten, die wirkliche Seele des Aufstandes sei Lenin gewesen, in hohem Maße im<br />

Kampfe gegen das Zentralkomitee. In dieser Periode konnte Stalin seine Oktoberschwankungen<br />

nicht an<strong>der</strong>s verschleiern als durch das unpersönliche Pseudonym<br />

Zentralkomitee. Die weiteren zwei Sätze, wonach Lenin in einer konspirativen Wohnung<br />

in Petrograd lebte und am Abend des 24. nach dem Smolny gerufen wurde, um die<br />

gesamte Bewegung zu leiten, verfolgen den Zweck, die in <strong>der</strong> Partei vorherrschende<br />

Ansicht, die Umwälzung hätte Trotzki geleitet, abzuschwächen. Die dann folgenden<br />

Trotzki gewidmeten Sätze klingen in <strong>der</strong> heutigen politischen Akustik wie Panegyrik; in<br />

Wirklichkeit waren sie das mindeste, was Stalin, und seine polemischen Anspielungen zu<br />

verschleiern, zu sagen gezwungen war. Die Kompliziertheit <strong>der</strong> Konstruktion und die<br />

vorsorglich gönnerhafte Färbung dieses "Juhiläums"-Arrikels gehen an sich keine<br />

schlechte Vorstellung von <strong>der</strong> damaligen öffentlichen Parteimeinung.<br />

Im Artikel wird, nebenbei gesagt, das "praktische Zentrum" mit keinem Wort erwähnt.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 799


Im Gegenteil, Stalin erklärt kategorisch: »die ganze Arbeit <strong>der</strong> praktischen Organisierung<br />

des Aufstandes ging unter <strong>der</strong> unmittelbaren Leitung von ... Trotzki«. Trotzki aber<br />

gehörte doch dem praktischen Zentrum nicht an; und von Jaroslawski haben wirja<br />

vernommen, daß angeblich »dieses Organ (und kein an<strong>der</strong>es) sämtliche am Aufstand<br />

beteiligten Organisationen leitete«. Die Lösung des Wi<strong>der</strong>spruchs ist einfach: im Jahre<br />

1918 waren die Ereignisse allen noch zu frisch im Gedächtnis, und ein Versuch, aus den<br />

Protokollen den Beschluß über ein "Zentrum" herauszuziehen, das nie existierte, hätte<br />

nicht auf Erfolg rechnen können.<br />

Im Jahre 1924, als vieles bereits vergessen war, erklärte Stalin folgen<strong>der</strong>maßen,<br />

weshalb Trotzki nicht in das "praktische Zentrum" hineinkam: »Ich muß sagen, daß<br />

Trotzki im Oktoberaufstand keine beson<strong>der</strong>e Rolle gespielt hat und auch nicht spielen<br />

konnte.« Stalin verkündete in diesem Jahre direkt als Aufgabe <strong>der</strong> Historiker die Zerstörung<br />

»<strong>der</strong> Legende von Trotzkis beson<strong>der</strong>er Rolle im Oktoberaufstand«. Wie aber bringt<br />

Stalin diese neue Version in Einklang mit seinem eigenen Artikel von 1918? Sehr<br />

einfach: er verbietet, seinen alten Artikel zu zitieren. Historiker, die den Versuch<br />

machen, eine Mittellinie zwischen Stalin von 1918 und Stalin von 1924 zu nehmen,<br />

werden unverzüglich aus <strong>der</strong> Partei ausgeschlossen.<br />

Es existieren jedoch autoritärere Zeugnisse als Stalins erster Jubiläumsartikel. In den<br />

Anmerkungen zur offiziellen Ausgabe <strong>der</strong> Werke Lenins heißt es unter dem Wort Trotzki:<br />

»Wurde, nachdem <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet in die Hände <strong>der</strong> Bolschewiki übergegangen<br />

war, zu dessen Vorsitzenden gewählt, in welcher Eigenschaft er den Aufstand vom<br />

25. Oktober organisiert und geleitet hat.« Auf diese Weise ist die »Legende von <strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>en Rolle« fest eingegangen in Lenins Werke zu Lebzeiten ihres Autors.<br />

An Hand <strong>der</strong> offiziellen Nachschlagewerke läßt sich <strong>der</strong> Bearbeitungsprozeß des historischen<br />

Materials von Jahr zu Jahr verfolgen. So schreibt noch im Jahre 1925, als die<br />

Kampagne gegen Trotzki bereits in voller Blüte war, das offizielle Jahrbuch "Kalen<strong>der</strong><br />

des Kommunisten": »An <strong>der</strong> Oktoberrevolution nimmt Trotzki aktivsten führenden Anteil.<br />

Im Oktober 1917 wird er zum Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>skomitees<br />

gewählt, das den bewaffneten Aufstand organisierte.« In <strong>der</strong> Ausgabe von 1926 ist diese<br />

Stelle durch einen kurzen neutralen Satz abgelöst: »Oktober 1917 - Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

Leningra<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>skomitees.« Seit 1927 stellt Stalins Schule eine neue Version auf;<br />

die in alle Sowjetlehrbücher einging: als Gegncr des "Sozialismus in einem Lande"<br />

mußte Trotzki Gegner des Oktoberaufstandes sein. Glücklicherweise existierte ja das<br />

"praktische Zentrum", das die Sache einens glücklichen Ende zuführte! Die findigen<br />

Historiker unterlassen nur zu erklären, weshalb <strong>der</strong> bolschewistische Sowjet Trotzki zum<br />

Vorsitzenden gewählt und weshalb <strong>der</strong> gleiche Sowjet, von <strong>der</strong> Partei geleitet, Trotzki an<br />

die Spitze des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees gestellt hat.<br />

Lenin war nicht vertrauensselig, beson<strong>der</strong>s in einer Frage, wo es um das Schicksal <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> ging. Mit Wortversicherungen konnte man ihn nicht beruhigen. Aus <strong>der</strong><br />

Ferne war er geneigt, jedes Anzeichen nach <strong>der</strong> schlimmeren Seite hin zu deuten. Er<br />

gewann erst dann endgültig den Glauben, daß die Sache richtig geführt wird, als er sich<br />

mit eigenen Augen davon hatte überzeugen können, das heißt, als er selbst im Smolny<br />

erschien. Trotzki erzählt darüber in seinen Erinnerungen von 1924: »Ich entsinne mich,<br />

welch gewaltigen Eindruck es auf Lenin machte, als er vernahm, wie ich durch schriftlichen<br />

Befehl eine Kompagnie des Litowsker Regiments herbeigeholt hatte, um das<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 800


Erscheinen unserer Partei- und Sowjetzeitung zu sichern ... Lenin war begeistert, was<br />

sich in Ausrufen, Lachen und Hän<strong>der</strong>eiben äußerte. Dann wurde er schweigsam, dachte<br />

nach und sagte: "Nun, man kann auch so. Es kommt nur darauf an, die Macht zu ergreifen."<br />

Mir wurde klar, daß er sich erst in diesem Augenblick mit unserem Verzicht, die<br />

Macht durch konspirative Verschwörung zu ergreifen, aussöhnte. Bis zur letzten Stunde<br />

hatte er befürchtet, <strong>der</strong> Feind könnte uns den Weg abschneiden und überrumpeln. Erst<br />

jetzt ... beruhigte er sich und sanktionierte enelgültig die Bahn, die die Ereignisse<br />

genommen hatten.«<br />

Auch diese Darstellung wurde später bestritten. Indes stützt sie sich erschütterlich auf<br />

die objektive Lage. Am Abend des 24. wurde Lenin vom letzten Ausbruch <strong>der</strong> Besorgnis<br />

<strong>der</strong>art erfaßt, daß er den verspäteten Versuch machte, Soldaten und Arbeiter für einen<br />

Druck auf das Smolny zu mobilisieren. Wie stürmisch mußte seine Stimmung umschlagen,<br />

als er, einige Stunden später die tatsächliche Lage im Smolny erfuhr! Ist es da nicht<br />

klar, daß er, wenn auch nur in einigen Sätzen, in einigen Worten ein Fazit ziehen mußte<br />

unter seine Besorgnis, seine direkten und indirekten Vorwürfe an die Adresse des<br />

Smolny? Komplizierte Erklärungen waren nicht nötig! Jedem <strong>der</strong> beiden Gesprächspartner,<br />

die sich in dieser ungewöhnlichen Stunde Auge in Auge trafen, waren die Quellen<br />

<strong>der</strong> Mißverständnisse vollkommen klar. Jetzt waren sie liquidiert. Es verlohnte nicht, zu<br />

ihnen zurückzukehren. Der eine Satz genügte: »Man kann auch so!« Das hieß:<br />

»Vielleicht war ich zu weit gegangen in nörglerischem Argwohn, aber Sie verstehen<br />

doch? ...« Wer hätte auch nicht verstehen können! Lenin neigte nicht zu Sentimentalitäten.<br />

Sein Satz: »Man kann auch so«, mit dem beson<strong>der</strong>en Lächeln, genügte vollkommen,<br />

um die episodischen Mißverständnisse des gestrigen Tages wegzuräumen und die Bande<br />

des Vertrauens fester zu knüpfen.<br />

Lenins Stimmung am Tage des 25. zeigte sich am krassesten in <strong>der</strong> durch Wolodarski<br />

eingebrachten Resolution, die den Aufstand charakterisierte als »ausnehmend unblutig<br />

und ausnehmend erfolgreich«. Die Tatsache, daß Lenin diese, wie immer hei ihm, an<br />

Worten karge, dem Wesen nach aber sehr hohe Bewertung <strong>der</strong> Umwälzung auf sich<br />

nahm, ist kein Zufall. Gerade er, als Autor <strong>der</strong> "Ratschläge eines Außenstehenden", hielt<br />

sich für unabhängig genug, um nicht nur dem Heroismus <strong>der</strong> Massen, son<strong>der</strong>n auch den<br />

Verdiensten <strong>der</strong> Führung den gebührenden Tribut zu entrichten. Man braucht wohl kaum<br />

daran zu zweifeh, daß Lenin dafür auch ergänzende psychologische Motive besaß: er<br />

hatte die ganze Zeit hindurch den vom Smolny zu langsam genommenen Kurs gefürchtet,<br />

und er beeilte sich nun als erster, dessen durch die Wirklichkeit bewiesene Vorzüge<br />

anzuerkennen.<br />

Von dem Augenblick an, wo Lenin im Smolny erscheint, stellt er sich naturnotwendig<br />

an die Spitze <strong>der</strong> gesamten Arbeit: <strong>der</strong> politischen, organisatorischen und technischen.<br />

Am 29. findet in Petrograd ein Aufstand <strong>der</strong> Junker statt. Kerenski greift an <strong>der</strong> Spitze<br />

einiger Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften Petrograd an. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee steht<br />

vor <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Verteidigung. Diese Arbeit leitet Lenin. In seinen Erinnerungen<br />

schreibt Trotzki: »Ein schneller Erfolg entwaffnet, genau wie eine Nie<strong>der</strong>lage. Den<br />

Hauptfaden <strong>der</strong> Ereignisse nicht aus den Augen verlieren; nach jedem Erfolg sich sagen:<br />

es ist noch nichts erreicht, noch nichts gesichert; fünf Minuten vor dem entscheidenden<br />

Sieg mit <strong>der</strong> gleichen Sorgfalt, Energie, mit dem gleichen Druck wie fünf Minuten vor<br />

dem Beginn <strong>der</strong> bewaffneten Handlungen; fünf Minuten nach dem Siege, noch ehe die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 801


ersten Begrüßungsworte verklungen sind, sich sagen: das Errungene ist noch nicht<br />

gesichert, man darf keine Minute verlieren das ist die Einstellung, das ist die<br />

Handlungsweise, das ist die Methode Lenins, das ist das organische Wesen seines politischen<br />

Charakters, seines revolutionären Geistes.«<br />

Die oben erwähnte Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees vom 1. November, wo Lenin<br />

über seine unbereehtigt gewesenen Befürchtungen bezüglich <strong>der</strong> lnterrayonisten sprach,<br />

war <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Koalitionsregierung mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären<br />

gewidmet. Auf eine Koalition drängen nach dem Siege die Rechten: Sinowjew, Kamenjew,<br />

Rykow, Lunatscharski, Rjasanow, Miljutin und an<strong>der</strong>e. Lenin und Trotzki treten<br />

entschieden gegen jegliche Koalition auf; die über den Rahmen des zweiten Sowjetkongresses<br />

hinausgeht. »Die Meinungsverschiedenheiten«, erklärt Trotzki, »waren von<br />

bedeuten<strong>der</strong> Tiefe vor dem Aufstande - im Zentralkomitee wie in breiten Kreisen unserer<br />

Partei ... Man sagte dasselbe, wie jetzt nach dem siegreichen Aufstand: es werde <strong>der</strong><br />

technische Apparat fehlen. Man trug die Farben dick auf, um zu schrecken, wie jetzt, um<br />

den Sieg nicht auszunutzen.« Hand in Hand mit Lenin führt Trotzki gegen die Anhänger<br />

<strong>der</strong> Koalition den gleichen Kampf; den er vor dem Umsturz gegen die Gegner des<br />

Aufstandes geführt hatte. Lenin sagt in dieser Sitzung: »Verständigung? Ich kann<br />

darüber nicht mal ernsthaft sprechen. Trotzki hat längst gcsagt, eine Vereinigung ist<br />

unmöglich. Trotzki hat das begriffen, und seitdem hat es keinen besseren Bolschewik<br />

gegeben.«<br />

Unter den wichtigsten Bedingungen einer Verständigung stellten die Sozialrevolutionäre<br />

und Menschewiki die For<strong>der</strong>ung auf, aus <strong>der</strong> Regierung die zwei ihnen verhaßtesten<br />

Figuren zu entfernen, »die persönlichen Urheber <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, Lenin und<br />

Trotzki«. Das Verhalten des Zentralkomitees und <strong>der</strong> Partei zu dieser For<strong>der</strong>ung war so,<br />

daß Kamenjew, äußerster Anhänger <strong>der</strong> Verständigung, persönlich auch zu dieser<br />

Konzession bereit, es als notwendig erachtete, in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees<br />

vom 2. November zu erklären: »Der Vorschlag, Lenin und Trotzki auszuschließen,<br />

ist ein Vorschlag zur Enthauptung unserer Partei, und wir nehmen ihn nicht an.«<br />

Den revolutionären Standpunkt - für den Aufstand, gegen die Koalition mit den<br />

Versöhnlern - nannte man in den Bezirken »Lenins und Trotzkis Standpunkt«. Dieser<br />

Ausdruck wurde, wie Dokumente und Protokolle bezeugen, allgemein gebräuchlich. Im<br />

Augenblick <strong>der</strong> Krise innerhalb des Zentralkomitees nahm eine überfüllte Arbeiterinnenkonferenz<br />

in Petrograd einstimmig die Resolution an: »Wir begüßen die Politik des<br />

Zentralkomitees unserer Partei, geführt von Lenin und Trotzki.« Baron Budberg schrieb<br />

bereits im November 1917 in seinem Tagebuch von den »neuen Duumvirn Lenin und<br />

Trotzki«. Als eine Gruppe von Sozialrevolutionären im Dezember beschloß, »den<br />

bolschewistischen Kopf abzuschneiden«, da war es für sie, nach den Worten Boris<br />

Sokolows, eines <strong>der</strong> Verschwörer, »klar, daß die schädlichsten und bedeutendsten <strong>der</strong><br />

Bolschewiki Lenin und Trotzki sind. Man muß mit ihnen beginnen.« In den Jahren des<br />

Bürgerkrieges wurden diese zwei Namen stets zusammen genannt, als wäre die Rede von<br />

einer Person. Parvus, ehemals revolutionärer Marxist und später wüten<strong>der</strong> Feind <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution, schrieb: »Lenin und Trotzki, das ist <strong>der</strong> Sammelname für alle jene,<br />

die aus Idealismus den bolschewistischen Weg gegangen sind ...« Rosa Luxemburg, die<br />

die Politik <strong>der</strong> Oktoberrevolution hart kritisiert hat, bezog ihre Kritik in gleicher Weise<br />

auf Lenin wie auf Trotzki. Sie schrieb: »Lenin und Trotzki mir ihren Freunden waren die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 802


ersten, die dem Welrproletariat mit dem Beispiel vorangingen. Sie sind auch jetzt noch<br />

die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!« Im Oktober 1918<br />

zitierte Lenin in einer feierlichen Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees die ausländische<br />

bürgerliche Presse: »Die italienischen Arbeiter benehmen sich so, daß sie, scheint's, nur<br />

Lenin und Trotzki das Reisen in Italien erlauben würden.« Solche Zeugnisse sind<br />

zahllos. Sie ziehen sieh wie ein Leitmotiv durch die ersten Jahre des Sowjetregimes und<br />

<strong>der</strong> Kommunistisehen <strong>Internationale</strong>. Teilnehmer und Beobachter, Freunde und Feinde,<br />

Nah- und Fernstehende haben Lenins und Trotzkis Tätigkeit in <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />

mit einem so festen Knoten verknüpft, daß ihn zu lösen o<strong>der</strong> zu durchhauen <strong>der</strong> Epigonen-Historiographie<br />

nicht gelingen wird.<br />

Sozialismus in einem Lande?<br />

»Das industriell entwickeltere Land zeigt dem min<strong>der</strong> entwickelten nur das Bild <strong>der</strong><br />

eigenen Zukunft.« Dieser Marxsche Grundsatz, methodologisch nicht von <strong>der</strong> Weltwirtschaft<br />

als Ganzem ausgehend, son<strong>der</strong>n vom einzelnen kapitalistischen Lande als Typ,<br />

wurde immer weniger anwendbar, je mehr die kapitalistische Entwicklung alle Län<strong>der</strong><br />

erfaßte, unabhängig von ihrem vorangegangenen Schicksal und ihrem ökonomischen<br />

Niveau. England zeigte seiner Zeit die Zukunft Frankreichs, beträchtlich weniger<br />

Deutschlands und schon gar nicht Rußlands o<strong>der</strong> Indiens. Indes nahmen die <strong>russischen</strong><br />

Menschewiki Marxens bedingten Grundsatz unbedingt: das rückständige Rußland habe<br />

nicht vorauszueilen, son<strong>der</strong>n gehorsam den fertigen Mustern nachzufolgen. Mit solchem<br />

"Marxismus" waren auch die Liberalen einverstanden.<br />

Eine an<strong>der</strong>e, nicht weniger populäre Marxsche Formel: »eine Gesellsehaftsformation<br />

geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist ...«<br />

geht dagegen nicht von einem einzeln genommenen Lande aus, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong><br />

Ablösung universeller Gesellschaftsformen (Sklaverei, Mittelalter, Kapitalismus). Indes<br />

kamen die Mensehewiki, diesen Grundsatz im Aspekt eines Einzelstaates betrachtend, zu<br />

<strong>der</strong> Schlußfolgerung, <strong>der</strong> russische Kapitalismus habe noch einen großen Weg zurückzulegen,<br />

bevor er das europäische o<strong>der</strong> amerikanische Niveau erreichen werde. Aber<br />

Produktivkräfte entwickeln sich nicht im luftleeren Raum! Man kann nicht von Möglichkeiten<br />

eines nationalen Kapitalismus sprechen und außer acht lassen einerseits den auf<br />

seiner Grundlage sich entwickelnden Klassenkampf; an<strong>der</strong>erseits seine Abhängigkeit von<br />

den Weltbedingungen. Der Sturz <strong>der</strong> Bourgeoisie durch das Proletariat erwuchs aus dem<br />

realen <strong>russischen</strong> Kapitalismus und verwandelte damit allein dessen abstrakte ökonomische<br />

Möglichkeiten in Nichts. Die Struktur <strong>der</strong> Wirtschaft wie <strong>der</strong> Charakter des<br />

Klassenkampfes in Rußland wurden in entscheidendem Maße von internationalen Bedingungen<br />

bestimmt. Der Kapitalismus erreichte in <strong>der</strong> Weltarena jenen Stand, wo er<br />

aufhörte, die Unkosten <strong>der</strong> Produktion zu rechtfertigen, nicht im kommerziellen, son<strong>der</strong>n<br />

im soziologischen Sinne verstanden: Zollämter, Militarismus, Krisen, Kriege, diplomatische<br />

Konferenzen und an<strong>der</strong>e Geißeln verschlingen und vergeuden so viel schöpferische<br />

Energie, daß trotz allen technischen Errungenschaften für Wachstum von Wohlstand und<br />

Kultur kein Platz übrigbleibt.<br />

Die dem Anschein nach paradoxe Tatsache, daß als erstes Opfer für die Sünden des<br />

Weltsystems die Bourgeoisie eines rückständigen Landes stürzte, ist in Wirklichkeit<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 803


vollkommen gesetzmäßig. Schon Marx hat ihre Erklärung für seine Epoche vermerkt:<br />

»In den Extremitäten des bürgerlichen Körpers muß es natürlich eher zu gewaltsamen<br />

Ausbrüchen kommen als in seinem Herzen, da hier die Möglichkeit <strong>der</strong> Ausgleichung<br />

größer ist als dort.« Unter den ungeheuerlichen Lasten des Imperialismus mußte zu allererst<br />

ein Staat fallen, <strong>der</strong> noch keine Zeit gefunden hatte, ein großes nationales Kapital<br />

anzuhäufen, dem aber die Weltrivalität keinerlei Rabatt gewährte. Der Zusammenbruch<br />

des <strong>russischen</strong> Kapitalismus war ein lokaler Einsturz <strong>der</strong> universellen Gesellschaftsformation.<br />

»Die richtige Einschätzung unserer <strong>Revolution</strong>«, sagte Lenin, »ist nur vom internationalen<br />

Standpunkte aus möglich.«<br />

Die Oktoberumwälzung fübrten wir zurück letzten Endes nicht auf die Tatsache <strong>der</strong><br />

Rückständigkeit Rußlands, son<strong>der</strong>n auf das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung. Die<br />

historische Dialektik kennt keine nackte Rückständigkeit, wie auch keine chemisch reine<br />

Fortscheittlichkeit. Alles hegt an den konkreten Wechselbeziehungen. Die gegenwärtige<br />

Menschheitsgeschichte ist voller "Paradoxe", nicht so grandioser wie die Entstehung <strong>der</strong><br />

proletarischen Diktatur in einem rückständigen Lande, aber doch vom gleichen historischen<br />

Typ. Die Tatsache, daß Studenten und Arbeiter des rückständigen Chinas sich<br />

gierig die Doktrin des Materialismus aneignen, während die Arheiterführer des zivilisierten<br />

Englands auf die magische Kraft kirchlicher Beschwörung vertrauen, beweist<br />

unzweideutig, daß China auf gewissen Gebieten England überholt hat. Doch die Verachtung<br />

<strong>der</strong> chinesischen Arbeiter für den mittelalterlichen Stumpfsinn Macdonalds bietet<br />

keine Gründe zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung, China stehe seiner Gesamtentwicklung nach höher<br />

als Großbritannien. Im Gegenteil, das ökonomische und kulturelle Übergewicht des<br />

letzteren kann in genauen Zahlen ausgedrückt werden. Deren Eindringlichkeit wird aber<br />

nicht hin<strong>der</strong>n, daß die Arbeiter Chinas eher an die Macht gelangen können als die Arbeiter<br />

Großbritanniens. Wie<strong>der</strong>um würde die Diktatur des chinesischen Proletariats noch<br />

keinesfalls den Aufbau des Sozialismus innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> großen chinesischen<br />

Mauer bedeuten. Schulmäßige, geradlinig-pedantische o<strong>der</strong> zu kurze nationale Kriterien<br />

taugen nicht für unsere Epoche. Rußland wurde aus seiner Rückständigkeit und seinem<br />

Asiatentum durch die Weltentwicklung hinausgestoßen. Außerhalb <strong>der</strong> Verflechtung<br />

ihrer Wege ist auch sein weiteres Schicksal nicht zu verstehen.<br />

Die bürgerlichen <strong>Revolution</strong>en richteten sich im gleichen Maße gegen die feudalen<br />

Eigentumsverhältnisse wie gegen den Partikularismus <strong>der</strong> Provinzen. Auf den Befreiungsbannern<br />

stand neben Liberalismus - Nationalismus. Die westliche Menschheit hat<br />

diese Kin<strong>der</strong>schuhe längst ausgetreten. Die Produktivkräfte unserer Zeit sind nicht nur<br />

den bürgerlichen Eigentumsformen entwachsen, son<strong>der</strong>n auch den Grenzen <strong>der</strong> Natiossalstaaten.<br />

Liberalismus und Nationalismus wurden in gleichem Maße Fesseln <strong>der</strong><br />

Weltwirtschaft. Die proletarische <strong>Revolution</strong> richtet sich sowohl gegen Privatbesitz an<br />

Produktionsmitteln wie auch gegen nationale Zersplitteiung <strong>der</strong> Weltwirtschaft. Der<br />

Unabhängigkeitskampf <strong>der</strong> Ostvölker ist in diesen Weltprozeß eingeschlossen, um dann<br />

mit ihm zu verschmelzen. Die Schaffung einer nationalen sozialistischen Gesellschaft,<br />

wäre ein solches Ziel überhaupt zu verwirklichen, würde die äußerste Herabmin<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> ökonomischen Macht des Menschen bedeuten; und gerade deshalb ist sie undurchführbar.<br />

Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, son<strong>der</strong>n Ausdruck einer<br />

ökonomischen Tatsache. Wie <strong>der</strong> Liberalismus national war, so ist <strong>der</strong> Sozialismus international.<br />

Ausgehend von <strong>der</strong> internationalen Arbeitsteilung, hat <strong>der</strong> Sozialismus zur<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 804


Aufgabe, den internationalen Austausch von Gütern und Leistungen zur höchsten Blüte<br />

zu bringen.<br />

Eine <strong>Revolution</strong> hat noch niemals und nirgend vollständig mit den Vorstellungen<br />

übereingestimmt und übereinstimmen können, die sich ihre Teilnehmer von ihr gemacht<br />

hatten. Nichtsdestoweniger bilden Ideen und Ziele <strong>der</strong> Kampfteilnehmer einen wichtigen<br />

Bestandteil in ihr. Das bezieht sich beson<strong>der</strong>s auf die Oktoberumwälzung, denn noch<br />

niemals in <strong>der</strong> Vergangenheit hatten sich die Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre von <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> dem wirklichen Wesen <strong>der</strong> Ereignisse so stark genähert wie im Jahre 1917.<br />

Eine Arbeit über die Oktoberrevolution würde unvollständig bleiben, wenn sie nicht<br />

mit <strong>der</strong> größtmöglichen historischen Genauigkeit die Frage beantwortetet: wie hatte sich<br />

die Partei auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Ereignisse die weitere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorgestellt<br />

und was erwartete sie von ihr?<br />

Die Frage gewinnt um so größere Bedeutung, je mehr <strong>der</strong> gestrige Tag vom Spiel<br />

neuer lnteressen verdunkelt wird. Die Politik sucht stets einen Stützpunkt in <strong>der</strong> Vergangenheit,<br />

und bekommt sie ihn nicht freiwillig, dann beginnt sie häufig, ihn sich gewaltsam<br />

zu erzwingen. Die heutige offizielle Politik <strong>der</strong> Sowjetunion geht von <strong>der</strong> Theorie<br />

des "Sozialismus in einem Lande" aus, als <strong>der</strong> angeblich traditionellen Auffassung <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei. Die jungen Generationen, nicht nur <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

<strong>Internationale</strong>, son<strong>der</strong>n vielleicht auch aller an<strong>der</strong>en Parteien, werden in <strong>der</strong> Überzeugung<br />

erzogen, die Sowjetmacht sei erobert worden ins Namen des Aufbaus einer<br />

selbständigen sozialistischen Gesellschaft in Rußland.<br />

Die historische Wirklichkeit hatte mit diesem Mythos nichts gemein. Bis zum Jahre<br />

1917 ließ die Partei den Gedanken überhaupt nicht zu, die proletarische <strong>Revolution</strong><br />

könnte sieh in Rußland früher vollziehen ah im Westen. Auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz<br />

bekannte sich die Partei unter dem Druck <strong>der</strong> restlos enthüllten Situation zum erstenmal<br />

zu dem Ziel <strong>der</strong> Machteroberung. Während es ein neues Kapitel in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> des<br />

Bolschewismus einleitete, hatte dieses Bekenntnis jedoch nichts gemein mit <strong>der</strong> Perspektive<br />

einer selbständigen sozialistischen Gesellschaft. Im Gegenteil, die Bolschewiki<br />

lehnten kategorisch die ihnen von den Menschewiki unterschobene karikierte Idee des<br />

Aufbaus eines "bäuerlichen Sozialismus" in einem rückständigen Lande ab. Die Diktatur<br />

des Proletariats war für die Bolschewiki eine Brücke zur <strong>Revolution</strong> im Westen. Die<br />

Aufgabe <strong>der</strong> sozialistischen Umgestaltung <strong>der</strong> Gesellschaft wurde als eine ihrem Wesen<br />

nach internationale Aufgabe erklärt.<br />

Erst im Jahre 1924 vollzog sich in dieser Kernfrage ein Umschwung. Zum erstenmal<br />

wurde verkündet, daß <strong>der</strong> Aufbau des Sozialismus innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

durchaus möglich sei, unabhängig von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> übrigen Menschheit,<br />

wenn nur die Imperialisten die Sowjetmacht nicht vermittels einer Militärintervention<br />

stürzen. Der neuen Theorie wurde sofort rückwirkende Kraft verliehen. Hätte die Partei<br />

im Jahre 1917 nicht an die Möglichkeit geglaubt, eine selbständige sozialistische Gesellschaft<br />

in Rußland aufzubauen - erklärten die Epigonen -, sie hätte nicht das Recht gehabt,<br />

die Macht in ihre Hände zu nehmen. Im Jahre 1926 verurteilte die Kommunistische <strong>Internationale</strong><br />

offiziell die Nichtanerkennung <strong>der</strong> Theorie des Sozialismus in einem Lande,<br />

wobei dieses Urteil auf die gesamte Vergangenheit ausgedehnt wurde, beginnend mit<br />

dem Jahre 1905.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 805


Drei Ideenreihen wurden von nun an als dem Bolschewismus feindlich deklariert: die<br />

Verneinung <strong>der</strong> Möglichkeit für die Sowjetunion, sich unbestimmt lange Zeit in kapitalistischer<br />

Umzingelung zu halten (Problem <strong>der</strong> militärischen Intervention); die Verneinung<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit, mit eigenen Mitteln und in nationalen Grenzen den Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen Stadt und Land zu überwinden (Problem <strong>der</strong> ökonomischen Rückständigkeit<br />

und Problem <strong>der</strong> Bauernschaft); die Verneinung <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaus einer<br />

isolierten sozialistischen Gesellschaft (Problem <strong>der</strong> intertiationalen Arbeitsteilung). Die<br />

Unantastbarkeit <strong>der</strong> Sowjetunion sei, nach <strong>der</strong> neuen Schule, zu schützen möglichst auch<br />

ohne <strong>Revolution</strong> in den au<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n: durch »Neutralisierung <strong>der</strong> Bourgeoisie«. Die<br />

Mitarbeit <strong>der</strong> Bauernschaft auf dem Gebiete des sozialistischen Aufbaus sei als gesichert<br />

anzuerkennen. Die Ahhängigkeit von <strong>der</strong> Weltwirtschaft sei durch die Oktoberumwälzung<br />

und die Wirtschaftserfolge <strong>der</strong> Sowjets liquidiert. Die Nichtanerkennung dieser drei<br />

Thesen sei "Trotzkismus", das heißt eine mit dem Bolschewismus unvereinbare Doktrin.<br />

Eine historische Arbeit stößt hier an die Aufgabe <strong>der</strong> ideologischen Restauration: es ist<br />

notwendig, die wahren Ansichten und Ziele <strong>der</strong> revolutionären Partei von den späteren<br />

politischen Ablagerungen zu befreien. Trotz <strong>der</strong> Kürze <strong>der</strong> einan<strong>der</strong> ablösenden Perioden<br />

erhält diese Aufgabe um so mehr Ähnlichkeit mit <strong>der</strong> Entzifferung von Palimpsesten, als<br />

die Konstruktionen <strong>der</strong> Epigonenschule sich bei weitem nicht immer über die theologischen<br />

Klügeleien erheben, um <strong>der</strong>entwillen die Mönche des VII. und VIII. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

Pergament und Papyrus <strong>der</strong> Klassiker vernichteten.<br />

Wenn wir auf den Seiten dieses Buches im allgemeinen vermieden, die Darstellung<br />

durch zahlreiche Zitate zu überhäufen, so wird das vorliegende Kapitel, dem Wesen <strong>der</strong><br />

Aufgabe entsprechend, dem Leser Originaltexte bieten müssen, und zwar in einem<br />

Umfange, <strong>der</strong> schon den Gedanken an eine künstliche Auswahl ausschließt. Es ist<br />

notwendig, den Bolschewismus in seiner eigenen Sprache sprechen zu lassen: unter dem<br />

Regime <strong>der</strong> Stalinschen Bürokratie ist er dieser Möglichkeit beraubt.<br />

Die bolschewistische Partei war seit dem Tage ihrer Entstehung eine Partei des revolutionären<br />

Sozialismus, Doch die nächste historische Aufgabe erblickte sie, notgedrungen,<br />

im Sturze des Zarismus und in <strong>der</strong> Errichtung des demokratischen Regimes. Hauptinhalt<br />

<strong>der</strong> Umwälzung sollte die demokratische Lösung <strong>der</strong> Agrarfrage sein. Die sozialistische<br />

<strong>Revolution</strong> wurde in eine recht ferne, jedenfalls unbestimmte Zukunft gerückt. Es galt als<br />

unbestreitbar, daß sie praktisch auf die Tagesordnung gestellt werden könnte erst nach<br />

dem Siege des Proletariats im Westen. Diese Grundsätze, geschmiedet vom <strong>russischen</strong><br />

Marxismus im Kampfe gegen Narodnitschestwo und Anarchismus, bildeten das eherne<br />

Inventar <strong>der</strong> Partei. Weiter folgten hypothetische Erwägungen: sollte die demokratische<br />

<strong>Revolution</strong> in Rußland machtvollen Schwung erreichen, dann könnte sie unmittelbaren<br />

Anstoß zur sozialistischen <strong>Revolution</strong> im Westen geben, und dies wie<strong>der</strong> würde dann<br />

dem <strong>russischen</strong> Proletariat erlauben; in besehleunigtem Marsch zur Macht zu kommen.<br />

Die allgemeine historische Perspektive än<strong>der</strong>te sich auch bei dieser allergünstigsten<br />

Variante nicht: nur <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Entwicklung wurde beschleunigt und die Fristen nähergerückt.<br />

Eben im Geiste dieser Anschauungen schrieb Lenin im September 1905: »Von <strong>der</strong><br />

demokratischen <strong>Revolution</strong> werden wir, und zwar im Ausmaß unserer Kräfte, <strong>der</strong> Kräfte<br />

des klassenbewußten und organisierten Proletariats, beginnen, zur sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> überzugehen. Wir sind für die ununterbrochene <strong>Revolution</strong>. Wir werden nicht<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 806


auf halbem Wege stehenbleiben.« Dieses Zitat, so seltsam das ist, diente Stalin zur Identifizierung<br />

<strong>der</strong> alten Prognose <strong>der</strong> Partei mit dem wirklichen Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse im<br />

Jahrc 1917. Es ist nur unbegreiflich, wie dann die Parteika<strong>der</strong> durch Lenins<br />

"Aprilthesen" überrascht werden konnten.<br />

In Wirklichkeit hätte sieh nach <strong>der</strong> alten Konzeption <strong>der</strong> Kampf des Proletariats um die<br />

Macht erst entwickeln können, nachdem die Agrarfrage im Rahmen <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen<br />

<strong>Revolution</strong> gelöst worden wäre. Das Unglück aber ist, daß die in ihrem<br />

Landhunger befriedigte Bauernschaft dann keine Veranlassung gehabt hätte, eine neue<br />

<strong>Revolution</strong> zu unterstützen. Da aber die russische Arbeiterklasse, als fraglose Min<strong>der</strong>heit<br />

im Lande, nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen wäre, aus eigener Kraft die Macht zu erobern, so<br />

betrachtete Lenin, durchaus folgerichtig, es als unmöglich, von <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats<br />

in Rußland zu sprechen vor dem Siege des Proletariats im Westen.<br />

»Der volle Sieg <strong>der</strong> gegenwärtigen <strong>Revolution</strong>«, schrieb Lenin im Jahre 1905, »wird<br />

das Ende <strong>der</strong> demokratischen Umwälzung und <strong>der</strong> Beginn des entscheidenden Kampfes<br />

um die sozialistische Umwälzung sein. Die Verwirklichung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> heutigen<br />

Bauernschaft, vollständige Zertrümmerung <strong>der</strong> Reaktion, Eroberung <strong>der</strong> demokratischen<br />

Republik wird das restlose Ende des <strong>Revolution</strong>arismus <strong>der</strong> Bourgeoisie und sogar<br />

<strong>der</strong> Kleinbourgeoisie bedeuten - wird <strong>der</strong> Beginn des echten Kampfes des Proletariats<br />

um den Sozialismus sein...« Mit <strong>der</strong> Bezeichnung Kleinbourgeoisie ist hier vor allem die<br />

Bauernschaft gemeint.<br />

Wie sollte unter diesen Umständen die "ununterbrochene" <strong>Revolution</strong> entstehen? Lenin<br />

antwortete darauf: die <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre, auf den Schultern einer ganzen Reihe<br />

von revolutionären Generationen Europas stehend, haben das Recht, davon zu "träumen",<br />

daß es ihnen gelingen werde, »mit noch ungeahnter Fülle alle demokratischen Umgestaltungen,<br />

unser ganzes Minimalprogramm zu verwirklichen ... Und wenn das gelingt, -<br />

dann ... dann wird ein revolutionärer Brand Europa entzünden ... Der europäische<br />

Arbeiter wird sich seinerseits erheben und uns zeigen, "wie das gemacht wird"; dann<br />

wird <strong>der</strong> revolutionäre Aufschwung Europas eine Rückwirkung auf Rußland ausüben und<br />

aus <strong>der</strong> Epoche einiger <strong>Revolution</strong>sjahre eine Epoche mehrerer <strong>Revolution</strong>sjahrzchnte<br />

machen«. Der selbständige Inhalt <strong>der</strong> russssehen <strong>Revolution</strong>, sogar in ihrer allerhöchsten<br />

Entwicklung, geht noch über die Grenzen <strong>der</strong> bürgerlich-demokrarischen Umwälzung<br />

nicht hinaus. Erst die siegreiche <strong>Revolution</strong> im Westen wird imstande sein, die Ära des<br />

Kampfes um die Macht auch für das russische Proletariat zu eröffnen. Diese Konzeption<br />

behielt in <strong>der</strong> Partei ihre volle Macht bis zum April 1917.<br />

Läßt man episodische Ablagerungen, polemische Übertreibungen und Einzelirrtümer<br />

beiseite, so drehte sich während <strong>der</strong> Jahre 1905-1917 <strong>der</strong> Kern des Streites in <strong>der</strong> Frage<br />

<strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> nicht darum, ob das russische Proletariat, nachdem es die<br />

Macht erobert hat, imstande sein würde, eine nationale sozialistische Gesellschaft aufzubauen<br />

- das hat überhaupt kein russischer Marxist bis zum Jahre 1924 jemals mit einens<br />

Wort erwähnt -, son<strong>der</strong>n darum, ob noch in Rußland eine bürgerliche <strong>Revolution</strong><br />

möglich sei, die tatsächlich fähig wäre, die Agrarfrage zu lösen; o<strong>der</strong> aber ob für die<br />

Verwirklichung dieser Arbeit die Diktatur des Proletariats notwendig ist.<br />

Welchen Teil <strong>der</strong> alten Anschauungen hat Lenin in den Aprilthesen einer Revision<br />

unterworfen? Er hat nicht für eine Minute we<strong>der</strong> die Lehre vom internationalen Charakter<br />

<strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> preisgegeben, noch den Gedanken, daß <strong>der</strong> Übergang<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 807


auf den Weg des Sozialismus für das rückständige Rußland durchführbar ist nur unter<br />

direkter Mitwirkung des Westens. Aber Lenin hatte hier zum erstenmal verkündet, daß<br />

das russische Proletariat, gerade infolge <strong>der</strong> Verspätung <strong>der</strong> nationalen Bedingungen,<br />

früher an die Macht kommen kann als das Proletariat <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>.<br />

Die Fehruarrevolution erwies sich als ohnmächtig, die Agrarfrage wie die nationale<br />

Frage zu lösen. Die Bauernschaft und die unterdrückten Völker Rußlands waren durch<br />

ihren Kampf um demokratische Aufgaben gezwungen, die Oktoberumwälzung zu unterstützen.<br />

Nur deshalb, weil die russische kleinbürgerliche Demokratie nicht vermocht<br />

hatte, jene historische Arbeit zu leisten, die ihre ältere Schwester im Westen vollzogen<br />

hat, erhielt das russische Proletariat den Zutritt zur Macht früher als das Proletariat des<br />

Westens. Im Jahre 1905 beabsichtigte <strong>der</strong> Bolschewismus erst nach Vollendung <strong>der</strong><br />

demokratischen Aufgaben an den Kampf um die Diktatur des Proletariats heranzugehen.<br />

Im Jahre 1917 erwuchs die Diktatur des Proletariats aus <strong>der</strong> Nichtvollendung <strong>der</strong><br />

demokratischen Aufgaben.<br />

Der kombinierte Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> machte hierbei nicht halt. Die<br />

Machteroberung durch die Arbeiterklasse vernichtete automatisch die Scheidelinie<br />

zwischen "Minimalprogramm" und "Maximalprogramm". Unter <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats<br />

- aber nur unter ihr! - wurde das Hineinwachsen <strong>der</strong> demokratiselsen Aufgaben in<br />

sozialistische unvermeidlich, obwohl die Arbeiter Europas noch nicht Zeit gehibt hatten,<br />

zu zeigen, »wie das gemacht wird«.<br />

Die Umstellung <strong>der</strong> revolutionären Reihenfolge zwischen Westen und Osten ist jedoch<br />

bei all ihrer Wichtigkeit für die Geschicke Rußlands wie <strong>der</strong> ganzen Welt von historisch<br />

beschränkter Bedeutung. Wie weit auch die russische <strong>Revolution</strong> vorausgeeilt sei, ihre<br />

Abhängigkeit von <strong>der</strong> Weltrevolution ist nicht geschwunden und sogar nicht kleiner<br />

geworden. Unmittelbar ergeben sich die Möglichkeiten des Hineinwachsens demokratischer<br />

Reformen in sozialistische durch Verknüpfung innerer Bedingungen, vor allem des<br />

Verhältnisses zwischen Proletariat und Bauernschaft. Aber in letzter Instanz werden die<br />

Grenzen <strong>der</strong> sozialistischen Umgestaltungen vom Stande <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong> Pohtik<br />

in <strong>der</strong> Weltarena bestimmt. So groß auch <strong>der</strong> nationale Anlauf sein mag, die Möglichkeit,<br />

über den Planeten hinwegzuspringen, bietet er nicht.<br />

Bei ihrer Verurteilung des "Totzkismus" fiel die Kommunistische <strong>Internationale</strong> mit<br />

beson<strong>der</strong>er Heftigkeit über jene Ansicht her, nach <strong>der</strong> das russische Proletariat, wenn es<br />

das Steuer ergreift und keine Unterstützung vom Westen bekommt, »feindlich zusammenstoßen<br />

wird ... mit den breiten Massen <strong>der</strong> Bauernschaft, mit <strong>der</strong>en Hilfe es zur<br />

Macht gekommen ist« ... Selbst wenn man glaubt, die historische Erfahrung habe jene<br />

Prognose vollständig wi<strong>der</strong>legt, die Trotzki im Jahre 1905 formulierte, als noch kein<br />

einziger <strong>der</strong> heutigen Kritiker auch nur den Gedanken an die Diktatur des Proletariats in<br />

Rußland zuließ, so bleibt es auch in diesem Falle unumstößliehe Tatsache, daß die<br />

Meinung über die Bauernschaft, als einen unzuverlässigen und treulosen Verbündeten,<br />

Gemeingut aller <strong>russischen</strong> Marxisten, einschließlich Lenins, war. Die wirkliche Tradition<br />

des Bolschewismus hat nichts zu tun mit <strong>der</strong> Lehre von <strong>der</strong> prädestinierten lnteressenharmonie<br />

zwischen Arbeitern und Bauern. Im Gegenteil, die Kritik dieser<br />

kleinbürgerlichen Theorie bildete stets ein wichtiges Element im langjägrigen Kampfe<br />

zwischen Marxisten und Narodniki.<br />

»Ist für Rußland die Epoche <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> vorbei«, schrieb Lenin im<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 808


Jahre 1905, »dann wird es lächerlich sein, vom "Einheitswillen" des Proletariats und <strong>der</strong><br />

Bauernschaft auch nur zu sprechen« ... »Die Bauernschaft als bodenbesitzende Klasse<br />

wird in diesem Kampfe (um den Sozialismus) die gleiche verräterische, schwankende<br />

Rolle spielen wie jetzt die Bourgeoisie im Kampfe um die Demokratie. Dies vergessen,<br />

heißt den Sozialismus vergessen, sich und an<strong>der</strong>e über die wahren Interessen und Aufgaben<br />

des Proletariats täuschen.«<br />

Während er, Ende 1905, für sich an einem Schema <strong>der</strong> Klassenbeziehungen im Verlauf<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> arbeitete, charakterisierte Lenin mit folgenden Worten die Situation, die<br />

nach <strong>der</strong> Liquidierung des gutsherrlichen Bodenbesitzes entstehen würde: »Das Proletariat<br />

kämpft bereits um die Erhaltung <strong>der</strong> densokratisehen Errungenschaften namens <strong>der</strong><br />

sozialistischen Umwälzung. Dieser Kampf wäre fast hoffnungslos für das russische<br />

Proletariat allein, und seine Nie<strong>der</strong>lage wäre unvermeidlich ... wenn dem <strong>russischen</strong><br />

Proletariat nicht das europäische sozialistische Proletariat zu Hilfe kommt ... In diesem<br />

Stadium organisieren die liberale Bourgeoisie und die wohlhabende (plus teils mittlere)<br />

Bauernschaft die Konterrevolution. Das russische Proletariat plus europäisches Proletariat<br />

organisieren die <strong>Revolution</strong>. Unter diesen Bedingungen kann das russische Proletariat<br />

einen zweiten Sieg erringen. Die Sache ist nicht mehr hoffnungslos. Der zweite Sieg<br />

wird die sozialistische Umwälzung in Europa sein. Die europäischen Arbeiter werden<br />

uns zeigen, "wie das gemacht wird".«<br />

Ungefähr in den gleichen Tagen schrieb Trotzki: »Die Wi<strong>der</strong>sprüche in <strong>der</strong> Lage einer<br />

Arbeiterregierung in einem rückständigen Lande mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Bauernbevölkerung<br />

werden ihre Lösung nur im internationalen Maßstabe, in <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong><br />

proletarischen Weltrevolution finden können.« Stalin führte später gerade diese Worte<br />

an, um zu zeigen »die ganze Kluft, die die Leninsche Theorie <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats<br />

von Trotzkis Theorie trennt«. Indes beweist das Zitat, daß, unbeschadet <strong>der</strong> zweifellosen<br />

Unterschiede in den damaligen revolutionären Konzeptionen von Lenin und Trotzki,<br />

ihre Ansichten gerade in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> "schwankenden" und "verräterischen" Rolle <strong>der</strong><br />

Bauernschaft im wesentlichen bereits in jenen fernen Tagen sich deckten.<br />

Im Februar 1906 schreibt Lenin: »Wir unterstützen die Bauernbewegung restlos, aber<br />

wir müssen daran denken, daß es die Bewegung einer fremden Klasse ist, nicht jener, die<br />

die sozialistische Umwälzung vollziehen kann und vollziehen wird.« - »Die russische<br />

<strong>Revolution</strong>«, erklärt er im April 1906, »hat genügend eigene Kräfte, um zu siegen. Aher<br />

sie hat nicht genügend Kräfte, um die Früchte des Sieges festzuhalten ... denn in einem<br />

Lande mit riesiger Entwicklung <strong>der</strong> Kleinwirtschaft werden sich die kleinen Warenerzeuger,<br />

darunter auch die Bauern, unvermeidlich gegen den Proletarier wenden, wenn<br />

dieser von <strong>der</strong> Freiheit zum Sozialismus gehen wird ... Um einer Restauration vorzubeugen.<br />

braucht die russische <strong>Revolution</strong> eine nichtrussische Reserve, es ist Hilfe von außen<br />

nötig. Gibt es eine solche Reserve in <strong>der</strong> Welt? Die gibt es: das sozialistische Proletariat<br />

im Westen.«<br />

In verschiedenen Verhindungen, aber unabän<strong>der</strong>lich im Kern, gehen diese Gedanken<br />

durch die ganzen Jahre <strong>der</strong> Reaktion und des Krieges hindurch. Es ist nicht nötig, die<br />

Beispiele zu häufen. Die Vorstellungen <strong>der</strong> Partei von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> werden die höchste<br />

Geschlossenheit und Deutlichkeit im Feuer <strong>der</strong> revolutionären Ereignisse erhalten<br />

müssen. Hätten die Theoretiker des Bolschewismus bereits vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zum<br />

Sozialismus in einem Lande geneigt, diese Theorie müßte die höchste Blüte in <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 809


Periode des unmittelbaren Kampfes um die Macht erreicht haben. Wie war es in<br />

Wirklichkeit? Die Antwort darauf wird das Jahr 1917 geben.<br />

Vor seiner Abreise nach Rußland, nach <strong>der</strong> Februarrevolution, schrieb Lenin in dem<br />

Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter: »Das russische Proletariat kann mit seinen<br />

eigenen Kräften allein die sozialistische <strong>Revolution</strong> nicht siegreich beenden. Aber es<br />

kann ... seinem wichtigsten, seinem zuverlässigsten Bundesgenossen, dem europäischen<br />

und amerikanischen sozialistischen Proletariat, die Bedingungen für den Eintritt in<br />

entscheidende Kämpfe erleichtern.«<br />

Lenins von <strong>der</strong> Aprilkonferenz gutgeheißene Resolution lautet: »Das Proletariat<br />

Rußlands, das in einem <strong>der</strong> rückständigsten Län<strong>der</strong> Europas wirkt, inmitten kleinbäuerlieher<br />

Bevölkerungsmassen, kann sich nicht die sofortige Verwirklichung <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Umgestaltung zum Ziel setzen.« In diesen einleitenden Zeilen sich dicht an die<br />

theoretische Tradition <strong>der</strong> Partei anlehnend, macht die Resolution jedoch einen entscheidenden<br />

Schritt auf dem neuen Weg. Sie erklärt: Die Unmöglichkeit einer selbständigen<br />

sozialistischen Umgestaltung des bäuerlichen Rußland berechtigt keinesfalls zum<br />

Verzicht auf die Machteroberung, sowohl im Namen <strong>der</strong> demokratischen Aufgaben wie<br />

auch im Namen »einer Reihe praktisch herangereifter Schritte zum Sozialismus«, wie<br />

Nationalisierung des Bodens, Kontrolle über Banken und so weiter. Die antikapitalistischen<br />

Maßnahmen werden weitere Entfaltung erfahren können, dank dem Vorhandensein<br />

»objektiver Voraussetzungen <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> ... in den entwickeltsten<br />

fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n«. Gerade davon muß man ausgehen. »Nur von den <strong>russischen</strong><br />

Bedingungen zu sprechen«, erläutert Lenin in seiner Rede, »ist ein Fehler ... Welche<br />

Aufgaben werden dem <strong>russischen</strong> Proletariat erstehen, wenn die Weltbewegung uns vor<br />

die Tatsache <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> strellt - das ist die Hauptfrage, die in dieser Resolution<br />

behandelt wird.« Es ist klar: Die neue Ausgangsposition, die die Partei im April<br />

1917 bezog, nachdem Lenin einen Sieg über die demokratische Beschränktheit <strong>der</strong> "alten<br />

Bolschewiki" errungen hatte, ist von <strong>der</strong> Theorie des Sozialismus in einem Lande<br />

entfernt wie Himmel und Erde!<br />

In allen Parteiorganisationcn, in <strong>der</strong> Hauptstadt wie in <strong>der</strong> Provinz, finden wir von nun<br />

an die gleiche Fragestellung; Im Kampfe um die Macht darf man nicht vergessen, daß<br />

das weitere Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, als einer sozialistischen,, bestimmt werden wird<br />

vom Sieg des Proletariats <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>. Diese Formel stößt bei niemand<br />

auf Wi<strong>der</strong>spruch; im Gegenteil, sie bildet die Voraussetzung bei allen Diskussionen, als<br />

ein von allen in gleicher Weise anerkannter Grundsatz.<br />

Am 16. Juli erklärt in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Parteikonferenz Charitonow, einer <strong>der</strong> mit Lenin<br />

im "plombierten" Wagen eingetroffenen Bolschewiki: »Wir sagen es überall, wenn es im<br />

Westen keine <strong>Revolution</strong> geben wird, ist unsere Sache verloren.« Charitonow ist kein<br />

Theoretiker; er ist ein Durchsehnittsagitator <strong>der</strong> Partei. In den Protokollen <strong>der</strong> gleichen<br />

Konferenz lesen wir: »Pawlow verweist auf den von den Bolschewiki hervorgehobenen<br />

allgemeinen Grundsatz, daß die russische <strong>Revolution</strong> sich nur dann weiter entwickeln<br />

wird, wenn sie von <strong>der</strong> Weltrevolution, die nur als eine sozialistische denkbar ist, unterstützt<br />

werden wird.« ... Dutzende und Hun<strong>der</strong>te Charitonows und Pawlows entwickeln<br />

den Kerngedanken <strong>der</strong> Aprilkonferenz. Niemand kommt es in den Sinn, sie zu wi<strong>der</strong>legen<br />

o<strong>der</strong> zu korrigieren.<br />

Der VI. Parteitag, <strong>der</strong> Ende uli stattfand, definierte die Diktatur des Proletariats als<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 810


Machteroberung durch die Arbeiter und ärmsten Bauern. »Nur diese Klassen werden ...<br />

durch die Tat zum Fortschreiten <strong>der</strong> internationalen proletarischen <strong>Revolution</strong><br />

beitragen, die nicht nur den Krieg, son<strong>der</strong>n auch die kapitalistische Sklaverei liquidieren<br />

wird.« Das Referat Bucharins war aufgebaut auf dem Gedaken, daß die sozialistische<br />

Weltrevolution <strong>der</strong> einzige Ausweg aus <strong>der</strong> entstandenen Lage sei. »Siegt die <strong>Revolution</strong><br />

in Rußland, bevor die <strong>Revolution</strong> im Westen ausbricht, - dann haben wir die Aufgabe ...<br />

den Brand <strong>der</strong> sozialistischen Weltrevolution zu schüren.« Auch Stalin war in jener Zeit<br />

gezwungen, die Frage nicht viel an<strong>der</strong>s zu stellen: »Es wird <strong>der</strong> Moment kommen« sagte<br />

er, »wo die Arbeiter die armen Schichten <strong>der</strong> Bauernschaft emporheben und um sich<br />

scharen werden, das Banner <strong>der</strong> Arbeiterrevolution emporheben und die Ära <strong>der</strong> sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> im Westen einleiten werden.«<br />

Die Anfang August tagende Moskauer Distriktskonferenz gestattet uns am allerbesten,<br />

in das Laboratorium des Parteigedankens hineinzublicken. In einem einführenden<br />

Bericht, <strong>der</strong> die Beschlüsse des VI. Parteitages erläuterte, sagt Sokolnikow, Mitglied des<br />

Zentralkomitees: »Es ist begreiflich zu machen, daß die russische <strong>Revolution</strong> sich gegen<br />

den Weltimperialismus erheben o<strong>der</strong> aber umkommen wird, von dem gleichen lmperialismus<br />

erdrosselt.« Im gleichen Geiste spricht sich eine Reihe Delegierter aus. Witolin:<br />

»Wir müssen uns auf die soziale <strong>Revolution</strong> vorbereiten, die ein Anstoß sein wird zur<br />

Entfachung <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> in Westeuropa.« Der Delegierte Belenki: »Will man<br />

die Frage im nationalen Rahmen lösen, gibt es für uns keinen Ausweg. Sokolnikow hat<br />

ganz richtig gesagt, daß die russische <strong>Revolution</strong> siegen wird nur als internationale<br />

<strong>Revolution</strong> ... In Rußland sind die Bedingungen für den Sozialismus noch nicht reif;<br />

beginnt aber in Europa die <strong>Revolution</strong>, werden wir Westeuropa folgen.« Stukow »Der<br />

Grundsatz: - die russische <strong>Revolution</strong> wird nur als internationale <strong>Revolution</strong> siegen -<br />

kann keinen Zweifel erwecken ... Die sozialistische <strong>Revolution</strong> ist nur im Weltmaßstabe<br />

möglich.«<br />

Alle stimmen in den drei Hauptgrundsätzen überein: <strong>der</strong> Arbeiterstaat kann sich nicht<br />

halten, wenn <strong>der</strong> Imperialismus im Westen nicht gestürzt wird; in Rußland sind die<br />

Bedingungen für den Sozialismus noch nicht reif; die Aufgabe <strong>der</strong> sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> ist ihrem Wesen nach international. Würden neben diesen Ansichten, die<br />

nach sieben bis acht Jahren als Ketzerei verurteilt werden, in <strong>der</strong> Partei an<strong>der</strong>e, heute als<br />

reehtgläubig und traditionell bezeichneten Ansichten existiert haben, sie müßten auf <strong>der</strong><br />

Moskauer Konferenz wie auf dem ihr vorangegangenen Parteitag einen Ausdruck gefunden<br />

haben. Aber we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Referent, noch Diskussionsredner, noch Zeitungsartikel<br />

erwähnten auch nur mit einem Wort das Vorhandensein bolsehewistischer Ansichten in<br />

<strong>der</strong> Partei als Gegensatz zu den "trotzkistischen".<br />

Auf <strong>der</strong> Stadtkonferenz in Kiew, die dem Parteitag voranging, sagte <strong>der</strong> Referent<br />

Horowitz: »Der Kampf um die Rettung unserer <strong>Revolution</strong> kann nur im internationalen<br />

Maßstabe geführt werden. Vor uns sind zwei Perspektiven: siegt die <strong>Revolution</strong>, dann<br />

schaffen wir einen Übergangsstaat zum Sozialismus, wenn nicht dann geraten wir unter<br />

die Gewalt des internationalen Imperialismus.« Nach dem Parteitag, Anfang August,<br />

sagte Pjatakow auf einer neuen Kiewer Konferenz: »Wir haben seit Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

stets wie<strong>der</strong>holt, daß das Schicksal des <strong>russischen</strong> Proletariats völlig abhängig ist<br />

von dem Gang <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> im Westen ... Wir treten somit in das<br />

Stadium <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> ein.« Anläßlich Pjatakows Referat erklärt <strong>der</strong> uns<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 811


ereits bekannte Horowitz: »Ich bin mit Pjatakow durchaus einverstanden in seiner<br />

Bezeichnung unserer <strong>Revolution</strong> als einer permanenten.« ... Pjatakow; »... Die einzig<br />

mögliche Rettung für die russische <strong>Revolution</strong> liegt in <strong>der</strong> Weltrevolution, die den Beginn<br />

<strong>der</strong> sozialen Umwälzung bilden wird.« Vielleicht aber vertraten diese zwei Redner eine<br />

Min<strong>der</strong>heit? Nein, niemand hat in dieser Kernfrage Wi<strong>der</strong>spruch erhoben; bei <strong>der</strong> Wahl<br />

des Kiewer Komitees erhielten beide die größte Stimmenzahl.<br />

Man kann somit als festgestellt erachten, daß auf <strong>der</strong> Parteikonferenz vom April, auf<br />

dem Parteitag vom Juli, den Konferenzen in Petrograd, Moskau und Kiew jene Ansichten<br />

dargelegt und durch Abstimmung bestätigt wurden, die man später als mit dem<br />

Bolschewismus unvereinbar proklamierte. Mehr noch: es erhob sich nicht eine Stimme in<br />

<strong>der</strong> Partei, die man als eine Vorahnung <strong>der</strong> späteren Theorie des Sozialismus in einem<br />

Lande hätte auslegen können, auch nur in dem Maße, wie in den Psalmen des Königs<br />

David ein Vorgefühl <strong>der</strong> Predigten Christi zu finden ist.<br />

Am 13. August erläutert das Zentralorgan <strong>der</strong> Partei: »Die Allmacht <strong>der</strong> Sowjets, noch<br />

kreinesfalls "Sozialismus" bedeutend, würde jedenfalls den Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />

brechen und, dem Vorhandensein <strong>der</strong> Produktivkräfte und <strong>der</strong> Lage im Westen entsprechend,<br />

dem ökonomischen Leben im Interesse <strong>der</strong> werktätigen Massen Richtung und<br />

Gestaltung verleihen. Nachdem sie die Fesseln <strong>der</strong> kapitalistischen Macht von sich<br />

geworfen hat, würde die <strong>Revolution</strong> permanent geworden sein, das heißt, ununterbrochen;<br />

sie würde die Staatsmacht anwenden nicht, um das Regime <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Ausbeutung zu festigen, son<strong>der</strong>n, im Gegenteil, um es zu überwinden. Ihr endgültiger<br />

Sieg auf diesem Wege würde von den Erfolgen <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> in Europa<br />

abhängen ... Dies war und bleibt die einzige reale Perspektive <strong>der</strong> weiteren Entwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.« Autor des Artikels war Trotzki, <strong>der</strong> ihn aus dem "Kresty"-Gefängnis<br />

schrieb. Redakteur <strong>der</strong> Zeitung war Stalin. Die Bedeutung des Zitats wird schon allein<br />

dadurch bestimmt, daß <strong>der</strong> Terminus "permanente <strong>Revolution</strong>" bis zum Jahre 1917 in <strong>der</strong><br />

bolschewistischen Partei ausschließlich zur Kennzeichnung des Trotzkischen Standpunktes<br />

gebraucht worden war. Einige Jahre später wird Stalin erklären »Lenin kämpfte gegen<br />

die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> bis ans Ende seiner Tage.« Stalin selbst hat<br />

jedenfalls nicht dagegen gekämpft: <strong>der</strong> Artikel erschien ohne jegliche Anmerkungen<br />

seitens <strong>der</strong> Redaktion.<br />

Zehn Tage später schrieb Trotzki in <strong>der</strong> gleichen Zeitung: »Internationalismus ist für<br />

uns keine abstrakte Idee ..., son<strong>der</strong>n ein unmittelbar leitendes, tiefpraktisches Prinzip.<br />

Ein sicherer, entscheiden<strong>der</strong> Erfolg ist für uns undenkbar außerhalb <strong>der</strong> europäischen<br />

<strong>Revolution</strong>.« Stalin wi<strong>der</strong>sprach abermals nicht. Mehr noch, zwei Tage später wie<strong>der</strong>holte<br />

er selbst: »Sie (die Arbeiter und Soldaten) mögen wissen, nur im Bunde mit den<br />

Arbeitern des Westens, nur wenn die Grundlagen des Kapitalismus im Westen erschüttert<br />

sind, darf man mit einem Triumph <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Rußland rechnen!« Unter »Triumph<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>« wurde nicht <strong>der</strong> Aufbau des Sozialismus verstanden - davon war vorläufig<br />

überhaupt nicht die Rede -, son<strong>der</strong>n nur die Eroberung und Sicherung <strong>der</strong> Macht.<br />

»Die Bourgeois schreien«, schrieb Lenin im September, »von <strong>der</strong> unvermeidlichen<br />

Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Kommune in Rußland, das heißt, von <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage des Proletariats,<br />

falls es die Macht erobert.« Man brauche vor diesem Geschrei keine Furcht zu haben:<br />

»Die Macht einmal erobert, hat das Proletariat in Rußland alle Chancen, sie zu halten<br />

und Rußland bis zur siegreichen <strong>Revolution</strong> im Westen zu führen.« Die Perspektive <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 812


Umwälzung wird hier mit aller Klarheit bestimmt: die Macht festzuhalten bis zum<br />

Beginn <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> in Europa. Diese Formel ist nicht in aller Eile<br />

hingeworfen; sie wie<strong>der</strong>holt sich bei Lenin tagein, tagaus. Den Programmartikel<br />

"Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behalten" resümiert Lenin mit den Worten: »...<br />

es wird sich keine Macht auf <strong>der</strong> Erde finden, die die Bolschewiki, wenn diese sich nicht<br />

einschüchtern lassen und es verstehen, die Macht zu ergreifen, hin<strong>der</strong>n könnte, sie bis<br />

zum Siege <strong>der</strong> sozialistischen Weltrevolution zu halten.«<br />

Der rechte Flügel <strong>der</strong> Bolschewiki for<strong>der</strong>te eine Koalition mit den Versöhnlern, wobei<br />

er sich darauf berief, die Bolschewiki "allein" würden die Macht nicht halten können.<br />

Lenin antwortete ihnen am 1. November, schon nach <strong>der</strong> Umwälzung: »Man sagt, wir<br />

werden die Macht allein nicht halten können, und so weiter. Aber wir sind nicht<br />

allein.Vor uns ist das ganze Europa. Wir müssen beginnen.« Aus den Dialogen Lenins<br />

mit den Rechten tritt beson<strong>der</strong>s klar hervor, daß nicht einer <strong>der</strong> streitenden Richtungen<br />

<strong>der</strong> Gedanke vom selbständigen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Rußland in<br />

den Sinn kam.<br />

John Reed erzählt, wie auf einem Petrogra<strong>der</strong> Meeting. im Obuchow-Werk, ein Soldat<br />

von <strong>der</strong> rumänischen Front rief: »Wir werden uns mit allen Kräften halten, bis sich die<br />

Völker <strong>der</strong> ganzen Welt erheben und uns helfen.« Diese Formel war nicht vom Himmel<br />

gefallen und we<strong>der</strong> von dem namenlosen Soldaten noch von Reed ausgedacht: sie war<br />

den Massen von den bolschewistischen Agitatoren eingeimpft. Die Stimme des Soldaten<br />

von <strong>der</strong> rumänischen Front war die Stimme <strong>der</strong> Partei, die Stimme <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution.<br />

"Die Deklaration <strong>der</strong> Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" - ein<br />

programmatischer Staatsakt, im Namen <strong>der</strong> Sowjetmacht in <strong>der</strong> Konstituierenden<br />

Versammlung eingebracht - verkündete als Aufgabe des neuen Regimes »Errichtung <strong>der</strong><br />

sozialistischen Gesellschaftsorganisation und des Sieges des Sozialismus in allen<br />

Län<strong>der</strong>n ... Die Sowjetmacht wird fest diesen Weg verfolgen bis zum vollständigen Siege<br />

des internationalen Arheiteraufstandes gegen das Joch des Kapitals.« Die Leninsche<br />

"Deklaration <strong>der</strong> Rechte", formell bis auf den heutigen Tag nicht abgeschafft, verwandelte<br />

die permanente <strong>Revolution</strong> in ein Grundgesetz <strong>der</strong> Sowjetrepublik.<br />

Würde Rosa Luxemburg, die leidenschaftlich und eifrig vom Gefängnis aus Taten und<br />

Worte <strong>der</strong> Bolschewiki verfolgte, einen Schatten von nationalem Sozialismus verspürt<br />

haben, sie hätte sofort Alarm geschlagen: in jenen Tagen kritisierte sie sehr streng - im<br />

Kern fehlerhaft - die Politik <strong>der</strong> Bolschewiki. Aber nein, folgendes schrieb sie über die<br />

Generallinie <strong>der</strong> Partei: »Daß die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution<br />

des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen<br />

Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.«<br />

Gerade jene Ansichten, die Lenin tagaus, tagein entwickelte; die im Zentralorgan <strong>der</strong><br />

Partei, unter Stalin als Redakteur, gepredigt wurden; die die Reden <strong>der</strong> großen und<br />

kleinen Agitatoren inspirierten; die die Soldaten <strong>der</strong> entferntesten Frontabschnitte<br />

wie<strong>der</strong>holten; die Rosa Luxemburg als höchstes Zeugnis des politischen Weitblicks <strong>der</strong><br />

Bolschewiki betrachtete, gerade diese Ansichten verurteilte die Bürokratie <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

lnternationale im Jahre 1926. »Die Ansichten Trotzkis und seiner Gesinnungsgenossen<br />

in <strong>der</strong> Kernfrage über Charakter und Perspektiven unserer <strong>Revolution</strong>« - lautet<br />

<strong>der</strong> Beschluß des VII. Plenums <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> -, »haben nichts<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 813


gemein mit den Ansichten unserer Partei, mit Leninismus.« So reehneten die Epigonen<br />

des Bolschewismus mit ihrer eigenen Vergangenheit ab.<br />

Wenn jemand im Jahre 1917 tatsächlich gegen die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong><br />

kämpfte, so waren es die Kadetten und die Versöhnler. Miljukow und Dan enthüllten<br />

»die revolutionären Illusionen des Trotzkismus« als die Hauptursache des<br />

Zusammenbruchs <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905. In <strong>der</strong> Eröffnusrgsrede auf <strong>der</strong> Demokratischen<br />

Beratung geißelte Tschcheidse das Bestreben, »den Brand des kapitalistischen<br />

Krieges zu löschen durch Umwandlung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in eine sozialistische und internationale«.<br />

Am 13. Oktober sagte Ketenski im Vorparlament: »Es gibt jetzt keinen gefährlicheren<br />

Feind <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> Demokratie und aller Errungenschaften <strong>der</strong> Freiheit<br />

als jene, die ... unter dem Vorgehen <strong>der</strong> Vertiefung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Umwandlung<br />

in eine permanente soziale <strong>Revolution</strong>, die Massen demoralisieren und sie anscheinend<br />

schon densoralisiert haben...« Tschcheidse und Kerenski waren Gegner <strong>der</strong><br />

permanenten <strong>Revolution</strong> aus dem gleichen Grunde, aus dem sie Feinde <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

waren.<br />

Auf dem zweiten Sowjetkongreß, im Augenblick <strong>der</strong> Machtergreifung, sagte Trotzki:<br />

»Wenn die aufständischen Völker Europas den Imperialismus nicht zermalmen, dann<br />

werden wir zermalmt werden - das ist sicher. Entwe<strong>der</strong> wird die russische <strong>Revolution</strong><br />

einen Kampfwirbel im Westen entfesseln, o<strong>der</strong> die Kapitalisten aller Län<strong>der</strong> werden<br />

unsere <strong>Revolution</strong> erdrosseln...« - »Es gibt einen dritten Weg«, ertönt es von einem<br />

Platze. Vielleicht war es Stalins Stimme? Nein, es war die Stimme eines Menschewiken.<br />

Die Bolschewiki entdeckten den »dritten Weg« erst einige Jahre später.<br />

Unter dem Einfluß unzähliger Wie<strong>der</strong>holungen <strong>der</strong> Stalinschen Presse in aller Welt gilt<br />

für die verschiedensten politischen Kreise fast als feststehend, daß den Brest-Litowsker<br />

Meinungsverschiedenheiten angeblich zwei Konzeptionen zugrunde lagen: die eine ging<br />

von <strong>der</strong> Möglichkeit aus, sich nicht nur zu halten, son<strong>der</strong>n auch den Sozialismus mit den<br />

eigenen Kräften Russlands aufzubauen; die an<strong>der</strong>e hoffte ausschließlich auf den<br />

Aufstand in Europa. In Wirklichkeit wurde diese Gegenüberstellung erst einige Jahre<br />

später geschaffen, wobei sich ihre Autoren nicht die Mühe nahmen, ihre Erfindung auch<br />

nur äußerlich mit den historischen Dokumenten in Einklang zu bringen. Allerdings, dies<br />

wäre auch nicht leicht gewesen: alle Bolschewiki, ohne eine Ausnahme, vertraten in <strong>der</strong><br />

Brester Zeit in gleicher Weise die Ansicht, daß, wenn die <strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> allernächsten<br />

Zeit in Europa nicht ausbricht, die Sowjetrepublik dem Untergang geweiht ist. Die einen<br />

rechneten mit Wochen, die an<strong>der</strong>en mit Monaten, niemand mit Jahren.<br />

»Seit Anbeginn <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>...«, schrieb Bucharin am 28. Januar 1918,<br />

»erklärte die Partei des revolutionären Proletariats: entwe<strong>der</strong> wird die durch die<br />

<strong>Revolution</strong> in Rußland entfesselte internationale <strong>Revolution</strong> den Krieg und das Kapital<br />

erdrosseln, o<strong>der</strong> das internationale Kapital wird die russische <strong>Revolution</strong> erdrosseln.«<br />

Vielleicht aber hat Bucharin, <strong>der</strong> in jenen Tagen die Anhänger eines revolutionären<br />

Krieges gegen Deutschland vertrat, die Ansichten seiner Fraktion auf die gesamte Partei<br />

übertragen? So natürlich eine solche Vermutung auch sein mag, sie wird durch die<br />

Dokumente radikal wi<strong>der</strong>legt.<br />

Die im Jahre 1929 vom Zentralkomitee herausgegebenen Protokolle für das Jahr 1917<br />

und Anfang 1918 bieten, trotz ihrer Unvollständigkeit und tendenziösen Bearbeitung<br />

auch in dieser Frage unschätzbare Angaben. »Sitzung vom 11. Januar 1918. Gen. Serge-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 814


jew (Artem) verweist darauf, daß alle Redner darin übereinstimmen, daß unserer sozialistischen<br />

Republik Untergang droht beim Ausbleiben <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> im<br />

Westen.« Sergejew vertrat Lenins Position, das heißt, er war für die Unterzeichnung des<br />

Friedens. Niemand wi<strong>der</strong>sprach Sergejew. Alle drei kämpfenden Gruppen appellierten<br />

wetteifernd an die gleiche Voraussetzung: ohne Weltrevolution kann das Ende nicht gut<br />

sein.<br />

Stalin trägt allerdings eine neue Nuance in die Debatten hinein: die Notwendigkeit, den<br />

Separatfrieden zu unterzeichnen, motiviert er damit, daß es »eine revolutionäre<br />

Bewegung im Westen nicht gibt, es bestehen keine Tatsachen, es gibt nur eine Potenz, mit<br />

<strong>der</strong> Potenz aber können wir nicht rechnen«. Noch recht weit von <strong>der</strong> Theorie des Sozialisusus<br />

in einem Lande entfernt, enthüllt er jedoch in diesen Worten deutlich seinen<br />

organischen Unglauben an die internationale Bewegung. »Mit <strong>der</strong> Potenz können wir<br />

nicht rechnen!« Lenin grenzt sieh sofort »in gewissen Teilen« gegen die Stalinsche<br />

Unterstützung ab: daß die <strong>Revolution</strong> im Westen noch nicht begonnen hat, ist richtig,<br />

»wollten wir jedoch deshalb unsere Taktik än<strong>der</strong>n, wir wären Verräter am internationalen<br />

Sozialismus«. Wenn er, Lenin, für einen sofortigen Separatfrieden sei, so nicht<br />

deshalb, weil er an die revolutionäre Bewegung im Westen nicht glaube, und noch<br />

weniger, weil er an die Lebensfähigkeit einer isolierten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> glaube:<br />

»Es ist für uns wichtig, uns bis zum Eintritt <strong>der</strong> allgemeinen sozialistischen <strong>Revolution</strong> zu<br />

halten, und dies können wir erreichen nur durch den Friedensabschluß.« Der Sinn <strong>der</strong><br />

Brester Kapitulation erschöpft sich für Lenin in dem Wort "Atempause".<br />

Die Protokolle beweisen, daß Stalin nach <strong>der</strong> Leninschen Warnung Gelegenheit suchte,<br />

sich zu korrigieren. »Sitzung vom 23. Februar 1918. Gen. Stalin ... Auch wir setzen auf<br />

die <strong>Revolution</strong>, aber ihr rechnet mit Wochen, und (wir) - mit Monaten.« Stalin wie<strong>der</strong>holt<br />

hier wörtlich Lenins Formel. Die Entfernung zwischen den äußersten Flügeln des<br />

Zentralkomitees in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Weltrevolution ist die Entfernung zwischen Wochen<br />

und Monaten.<br />

Während er auf dem VII. Parteitag, im März 1918, die Unterzeichnung des Brester<br />

Friedens verteidigte, sagte Lenin: »Es ist eine absolute Wahrheit, daß wir ohne die<br />

deutsche <strong>Revolution</strong> verloren sind. Verloren vielleicht nicht in Petrograd o<strong>der</strong> Moskau,<br />

aber in Wladiwostok o<strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>en fernen Platz, wohin wir gezwungen sein<br />

werden uns zurückzuziehen..., auf jeden Fall sind wir unter allen denkbaren Varianten,<br />

kommt die deutsche <strong>Revolution</strong> nicht, verloren.« Doch es handelt sich nicht nur um<br />

Deutschland. »Der internationale Imperialismus, <strong>der</strong> ... eine gigantische reale Macht<br />

darstellt kann in keinem Fall und unter keinen Bedingungen die Nachbarschaft einer<br />

Sowjetrepublik dulden ... Der Konflikt erscheint hier unvermeidlich. Hier liegt... das<br />

größte historische Problem. .. die Notwendigkeit, die internationale <strong>Revolution</strong> hervorzurufen.«<br />

In einem angenommenen Geheimbeschluß heißt es: »Der Parteitag sieht die<br />

zuverlässigste Garantie für die Festigung <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong>, die in Rußland<br />

gesiegt hat, nur in <strong>der</strong> Umwandlung dieser <strong>Revolution</strong> in eine internationale Arbeiterrevolution.«<br />

Einige Tage später sagte Lenin auf dem Sowjetkongreß: »Der Weltimperialismus kann<br />

neben sich einen siegreichen Vormarsch <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> nicht dulden.« Am 23.<br />

April sprach er in <strong>der</strong> Sitzung des Moskauer Sowjets: »Unsere Rückständigkeit hat uns<br />

vorwärtsgestoßen, doch wir sind verloren, wenn wir nicht imstande sein werden, uns so<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 815


lange zu halten, bis wir kraftvolle Hilfe seitens <strong>der</strong> aufständischen Arbeiter <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Län<strong>der</strong> bekommen.« ».... Man muß sich (vor dem Imperialismus) zurückziehen, sei es<br />

auch bis zum Ural«, schreibt er im Mai 1918, »denn dies ist die einzige Gewinnehance<br />

für die Periode des Heranreifens <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Westen ...«<br />

Lenin legte sich klar Rechenschaft darüber ab, daß das Hinausziehen <strong>der</strong> Verhandlungen<br />

in Brest die Friedeushedingungen verschlechtere. Aber er stellte die internationalen<br />

revolutionären Aufgaben über die "nationalen". Am 28. Juni 1918, auf <strong>der</strong> Moskauer<br />

Gewerkschaftskonferenz, sagte Lenin trotz den episodischen Meinungsverschiedenheiten<br />

mit Trotzki in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Unterzeichnung des Friedens: »Als es zu den Brester<br />

Verhandlungen kam, wurden da nicht die Enthüllungen des Gen. Trotzki <strong>der</strong> ganzen Welt<br />

sichtbar, und hat nicht diese Politik dazu geführt, daß in einem feindlichen Lande ...<br />

während des Krieges eine gewaltige revolutionäre Bewegung entstand?« ... Eine Woche<br />

später kehrt er in dem Bericht des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vor dem fünften Sowjetkongreß<br />

zu dieser Frage zurück: »Wir haben unsere Pflicht vor allen Völkern erfüllt ...<br />

durch unsere Brester Delegation mit dem Gen. Trotzki an <strong>der</strong> Spüze...« Ein Jahr später<br />

erinnerte Lenin: »In <strong>der</strong> Epoche des Brester Friedens ... hat die Sowjetmaeht die Weltdiktatur<br />

des Proletariats und die Weltrevolution über alle nationalen Opfer gestellt, so<br />

schwer sie auch waren.«<br />

»Welchen Sinn«, fragte Stalin, als die Zeit die ohnehin nicht übermäßig deutlichen<br />

ldeenabgrenzungen in seinem Gedächmis verwischt hatte, »kann Trotzkis Erklärung<br />

haben, das revolutionäre Rußland werde sich angesichts eines konservativen Europa<br />

nicht halten können? Doch nur den einen Sinn: Trotzki fühlt die innere Macht unserer<br />

<strong>Revolution</strong> nicht.«<br />

In Wirklichkeit war die gesamte Partei einmütig <strong>der</strong> Überzeugung, »angesichts eines<br />

konservativen Europa« würde sich die Sowjetrepublik nicht halten können. Doch war<br />

das nur die Kehrseite <strong>der</strong> Überzeugung, daß ein konservatives Europa sich nicht würde<br />

halten können angesichts eines revolutionären Rußland. In <strong>der</strong> negativen Form kam <strong>der</strong><br />

unerschütterliche Glaube an die internationale Kraft <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> zum<br />

Ausdruck. Und im Kern hatte die Partei sich nicht geirrt. Vollständig hat das konservative<br />

Europa sich jedenfalls nicht halten können. Sogar die von <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

verratene deutsche <strong>Revolution</strong> erwies sieh als stark genug, um Ludendorff und Hoffmann<br />

die Krallen zu beschneiden: ohne diese Operation aber wäre <strong>der</strong> Sowjetrepublik kaum<br />

<strong>der</strong> Untergang erspart geblieben.<br />

Doch auch nach dem Zusammenbruch des deutschen Militarismus hatte sich die allgemeine<br />

Einschätzung <strong>der</strong> internationalen Lage nicht verän<strong>der</strong>t. »Unsere Bemühungen<br />

führen unvermeidlich zur Weltrevolution...«, sagte Lenin in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees<br />

Ende Juli 1918. »Die Sache verhält sieh so, daß ... während wir ... aus<br />

dem Krieg mit <strong>der</strong> einen Koalition hinaustraten, (wir) sogleich einen Druck des Imperialismus<br />

von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite verspürten.« Im August, als an <strong>der</strong> Wolga <strong>der</strong> Bürgerkrieg<br />

unter Teilnahme <strong>der</strong> Tschechoslowaken entbrannte, sprach Lenin auf einem Meeting in<br />

Moskau: »Unsere <strong>Revolution</strong> trat auf als eine internationale <strong>Revolution</strong> ... Die proletarischen<br />

Massen werden <strong>der</strong> Sowjetrepublik den Sieg über die Tschechoslowaken sichern<br />

und die Möglichkeit schaffen, sich so lange zu halten; bis die sozialistische Weltrevolution<br />

ausbrechen wird.« Sich halten, bis die <strong>Revolution</strong> im Westen ausbrechen wird - das<br />

ist in alter Weise die Formel <strong>der</strong> Partei.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 816


In den gleichen Tagen schrieb Lenin an die amerikanischen Arbeiter: »Wir befinden<br />

uns in einer belagerten Festung, solange uns das Heer <strong>der</strong> sozialistisehen Weltrevolution<br />

nicht zu Hilfe kommt.« Noch kategorischer drückt er sich im November aus: »...Tatsachen<br />

<strong>der</strong> Weltgeschichte beweisen, daß die Umwandlung unserer, <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />

in eine sozialistische nicht ein Abenteuer, son<strong>der</strong>n eine Notwendigkeit war, denn<br />

eine an<strong>der</strong>e Wahl hat es nicht gegeben: <strong>der</strong> anglo-französische und <strong>der</strong> amerikanische<br />

Imperialismus werden unvermeidlich Rußlands Unabhängigkeit und Freiheit ersticken,<br />

wenn die sozialistische Weltrevolution, <strong>der</strong> Weltbolschewismus, nicht siegt.« In Stalins<br />

Sprache: Lenin fühlt offenbar die »innere Kraft unserer <strong>Revolution</strong>« nicht.<br />

Der erste Jahrestag <strong>der</strong> Umwälzung ist vorbei. Die Partei hat Zeit genug gehabt, sich<br />

umzusehen. Nichtsdestoweniger erklärt Lenin in seiner Rede auf dem VIII. Parteitag, im<br />

März 1919, wie<strong>der</strong>um: »Wir leben nicht nur in einem Staat, son<strong>der</strong>n in einem Staatensystem,<br />

und das Bestehen einer Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten für<br />

längere Zeit ist undenkbar. Letzten Endes wird entwe<strong>der</strong> das eine o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e<br />

siegen.«<br />

Am dritten Jahrestag, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Weißen zusammenfiel, hielt Lenin<br />

Rückschau und zog die Verallgemeinerung: »Wenn man uns in jener Nacht (<strong>der</strong> Nacht<br />

<strong>der</strong> Oktoberumwälzung) gesagt hätte, daß wir nach drei Jahren ... im Besitze dieses<br />

unseres Sieges sein werden, - niemand, sogar <strong>der</strong> eingefleischteste Optimist nicht, hätte<br />

das geglaubt. Wir wußten damals, daß unser Sieg nur dann ein Sieg sein wird, wenn<br />

unsere Sache die ganze Welt erobert, weil wir ja unsere Sache auch begonnen haben<br />

ausschließlich mit Berechnung auf die Weltrevolution.« Einen unwi<strong>der</strong>legbareren Beweis<br />

kann man nicht verlangen: Ins Augenblick <strong>der</strong> Oktoberumwälzung hatte <strong>der</strong> "eingefleischteste<br />

Optimist" nicht nur von einem Aufbau des nationalen Sozialismus nicht<br />

geträumt, son<strong>der</strong>n auch nicht an die Möglichkeit <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ohne<br />

direkte Hilfe von außen geglaubt. »Wir haben unsere Sache ausschließlich mit Berechnung<br />

auf die Weltrevolution begonnen.« Um in dreijährigen Kämpfen den Sieg über die<br />

Unzahl <strong>der</strong> Feinde zu sichern, hatte we<strong>der</strong> die Partei noch die Rote Armee die Mythe<br />

vom Sozialismus in einem Lande nötig gehabt.<br />

Die internationale Lage gestaltete sieh günstiger, als man es hatte erwarten können. Die<br />

Massen bewiesen eine außerordentliche Aufopferungsfähigkeit im Namen <strong>der</strong> neuen<br />

Ziele. Die Führung hatte die Wi<strong>der</strong>sprüche des Imperialismus in <strong>der</strong> ersten, schwierigsten<br />

Periode geschickt ausgenützt. Im Ergebnis hatte die <strong>Revolution</strong> größere Wi<strong>der</strong>standskraft<br />

gezeigt, als die "eingefleischtesten Optimisten" es geglaubt hatten. Dabei aber<br />

bewahrte die Partei in ihrer Gesamtheit die frühere internationale Einstellung.<br />

»Gäbe es keinen Krieg«, erklärte Lenin im Januar 1918, »wir würden die Vereinigung<br />

<strong>der</strong> Kapitalisten <strong>der</strong> ganzen Welt sehen: einen Zusammenschluß auf dem Boden des<br />

Kampfes gegen uns.« - »Warum bekamen wir in den Wochen und Monaten ... nach dem<br />

Oktober die Möglichkeit, so leicht von Triumph zu Triumph zu schreiten?« fragte er auf<br />

dem VII. Parteitag: »Nur deshalb, weil die beson<strong>der</strong>e internationale Konjunktur uns<br />

vorübergehend vor dem Imperialismus deckte.« Im April sagte Lenin in einer Sitzung des<br />

Zentral-Exekutivkomitees: »Wir haben eine Atempause nur deshalb bekommen, weil im<br />

Westen die imperialistische Schlächterei noch weiter andauert und im Fernen Osten das<br />

imperialistische Wetteifern immer breiter entbrennt; nur das erklärt das Bestehen <strong>der</strong><br />

Sowjetrepublik.«<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 817


Die beson<strong>der</strong>e Fügung <strong>der</strong> Umstände konnte nicht ewig dauern. »Wir sind jetzt vom<br />

Krieg zum Frieden übergegangen«, sagte Lenin im November 1920, »aber wir haben<br />

nicht vergessen, daß <strong>der</strong> Krieg wie<strong>der</strong>kehren wird. Solange Kapitalismus und Sozialismus<br />

geblieben sind, können wir nicht im Frieden leben: <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wird letzten<br />

Endes siegen; entwe<strong>der</strong> wird man <strong>der</strong> Sowjetrepublik Totenmessen singen o<strong>der</strong> aber dem<br />

Weltkapitalismus. Das ist <strong>der</strong> Aufschub im Kriege.«<br />

Die Umwandlung <strong>der</strong> ursprünglichen "Atempause" in eine längere Periode schwankenden<br />

Gleichgewichts wurde nicht nur durch den Kampf <strong>der</strong> kapitalistischen Gruppierungen<br />

gesichert, son<strong>der</strong>n auch durch die internationale revolutionäre Bewegung. Unter dem<br />

Einfluß <strong>der</strong> Novemberumwälzung in Deutschland mußten die deutschen Truppen die<br />

Ukraine, die Baltischen Provinzen und Finnland räumen. Das Eindringen des rebellischen<br />

Geistes in die Heere <strong>der</strong> Entente zwang die französische, englische und amerikanische<br />

Regierung. ihre Truppen von den Süd- und Nordküsten Rußlands zu entfernen. Die<br />

proletarische <strong>Revolution</strong> im Westen siegte nicht, deckte aber auf dem Wege zum Siege<br />

für eine Reihe von Jahren den Sowjetstaat.<br />

Ins Juli 1921 zog Lenin das Fazit; »Es entstand, wenn auch ein äußerst unsicheres und<br />

äußerst unstabiles, aber doch ein <strong>der</strong>artiges Gleichgewicht, daß die sozialistische<br />

Republik - natürlich nicht lange Zeit - in kapitalistischer Umkreisung existieren kann.«<br />

So gewöhnte sich die Partei, von Wochen zu Monaten und von Monaten zu Jahren<br />

schreitend, allmählich an den Gedanken, daß <strong>der</strong> Arbeiterstaat eine gewisse - »natürlich<br />

nicht lange Zeit« friedlich in kapitalistischer Umkreisung existieren kann.<br />

Eine nicht unwichtige Schlußfolgerung ergibt sich aus den erwähnten Angaben ganz<br />

unbestreitbar: Wenn nach <strong>der</strong> allgemeinen Überzeugung det Bolschewiki <strong>der</strong> Sowjetstaat<br />

sich nicht lange ohne einen Sieg des Proletariats im Westen halten konnte, so schloß dies<br />

allein schon praktisch das Programm des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande aus;<br />

die Frage selbst wurde gewissermaßen im voraus von <strong>der</strong> Tagesordnung abgesetzt.<br />

Es wäre jedoch ganz irrig, zu glauben, wie das in den letzten Jahren die Epigonenschule<br />

zu suggeeieren versuchte, die Partei habe als einziges Hin<strong>der</strong>nis auf dem Wege<br />

zur nationalen sozialistischen Gesellschaft die kapitalistischen Heere betrachtet. Die<br />

Bedrohung durch eine bewaffnete Intervention stand praktisch tatsächlich im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Doch bildete die Kriegsgefahr nur den schärfsten Ausdruck des technisch-industriellen<br />

Übergewichts <strong>der</strong> kapitalistischen Län<strong>der</strong>. Letzten Endes lief das Problem auf<br />

die Isoliertheit <strong>der</strong> Sowjetrepublik und auf <strong>der</strong>en Rückständigkeit hinaus.<br />

Sozialismus ist Organisierung einer planmäßigen und harmonischen gesellschaftlichen<br />

Produktion für die Befriedigung <strong>der</strong> menschlichen Bedürfnisse. Kollekriveigentum an<br />

Produktionsmitteln ist noch nicht Sozialismus, son<strong>der</strong>n lediglich seine rechtliche Voraussetzung.<br />

Das Problem <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft läßt sich vom Problem <strong>der</strong> Produktivkräfte<br />

nicht trennen, das im heutigen Stadium <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung seinem<br />

Wesen nach ein Weltproblem ist. Der Einzelstaat, zu eng geworden für den<br />

Kapitalismus, ist um so weniger fähig, die Arena einer vollendeten sozialistischen<br />

Gesellschaft zu sein. Die Rückständigkeit eines revolutionären Landes steigert darüber<br />

hinaus für dieses die Gefahr, zum Kapitalismus zurückgeworfen zu werden. Indem sie<br />

die Perspektive einer isolierten sozialistischen Entwicklung verwarfen, hatten die<br />

Bolschewiki kein mechanisch abgeson<strong>der</strong>tes Interventionsproblem vor Augen, son<strong>der</strong>n<br />

die Gesamtheit <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> internationalen wirtschaftlichen Grundiage des Sozialismus<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 818


verbundenen Fragen.<br />

Auf dem VII. Parteitag sagte Lenin: »Geht jetzt Rußland - und es geht zweifellose -<br />

vom "Tilsiter" Frieden zum nationalen Aufstieg..., so ist <strong>der</strong> Ausgang zu diesem Aufstieg<br />

nicht <strong>der</strong> Ausgang zum bürgerlichen Staat, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Ausgang zur internationalen<br />

sozialistischen <strong>Revolution</strong>.« Das ist die Alternative: entwe<strong>der</strong> internationale <strong>Revolution</strong><br />

o<strong>der</strong> Rückstoß - zum Kapitalismus. Für einen nationalen Sozialismus gibt es keinen<br />

Platz. »Wie viele Übergangsetappen zum Sozialismus es noch geben wird, wissen wir<br />

nicht, und können wir nicht wissen. Das hängt davon ab, wann die europäische sozialistische<br />

<strong>Revolution</strong> im richtigen Maßstabe beginnen wird.«<br />

Während er im April des gleichen Jahres aufruft, die Reihen auf praktische Arbeit<br />

umzustellen, schreibt Lenin: »Der wegen einer Anzahl von Umständen verspäteten sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> im Westen werden wir nur in dem Maße ernste Hilfe leisten können,<br />

in dem wir fähig sein werden, die vor uns stehende organisatorische Aufgabe zu lösen.«<br />

Der Beginn des wirtschaftlichen Aufbaues wird sogleich dem internationalen Schema<br />

angeglie<strong>der</strong>t: es handelt sich um die »Hilfe <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> ins Westen«<br />

und nicht um Schaffung einer selbstgenügsamen sozialistischen Herrschaft im Osten.<br />

Anläßlich des drohenden Hungers sagt Lenin den Moskauer Arbeitern: »Wir müssen in<br />

unserer gesamten Agitation ... erklären, daß das Unheil, das über uns hereinbrach, ein<br />

internationales Unheil ist und daß es aus ihm einen Ausweg außer <strong>der</strong> internationalen<br />

<strong>Revolution</strong> nicht gibt.« Um den Hunger zu besiegen, ist die Weltrevolution des Proletariats<br />

notwendig, sagt Lenin. Um die sozialistische Gesellschaft aufzubauen, genügt die<br />

<strong>Revolution</strong> in einem Lande, antworteten die Epigonen. Dies ist die Schwingungsweite<br />

<strong>der</strong> Meinunsgsverschiedenheiten! Wer hat recht? Vergessen wir auf keinen Fall, daß<br />

trotz den Erfolgen <strong>der</strong> Industrialisierung <strong>der</strong> Hunger bis auf den heutigen Tag nicht<br />

besiegt ist.<br />

Der Sowjetkongreß <strong>der</strong> Volkswirtschaft formulierte im Dezember 1918 das Schema<br />

des sozialistischen Aufbaues in folgenden Worten: »Die Diktatur des Weltproletariats<br />

wird eine historische Unentrinnbarkeit ... Das bestimmt die Entwicklung sowohl <strong>der</strong><br />

Gesellschaft im Weltmaßstabe wie jedes Landes im einzelnen. Die Errichtung <strong>der</strong> Diktatur<br />

des Proletariats und <strong>der</strong> Sowjetform <strong>der</strong> Regierung in den an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n wird die<br />

Herstellung engster ökonomischer Beziehungen zwischen den Län<strong>der</strong>n ermöglichen,<br />

internationale Arbeitsteilung <strong>der</strong> Produktion und schließlich Organisierung internationaler<br />

wirtschaftlicher Verwaltungsorgane.« Die Tatsache, daß eine solche Resolution auf<br />

einem Kongreß staatlicher Organe angenommen werden konnte, vor dem rein praktische<br />

Aufgaben standen - Kohle, Holz, Rüben -, beweist am besten, wie uneingeschränkt in<br />

jener Periode die Perspektive <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> das Bewußtsein <strong>der</strong> Partei<br />

beherrschte.<br />

Im "ABC des Kommunismus", einem von Bucharin und Preobraschenski zusammengestellten<br />

Parteilehrbuch, das eine große Auflagenzahl erlebt hat, lesen wir: »Die<br />

kommunistische <strong>Revolution</strong> kann nur siegen als Weltrevolution ... In einer Situation, wo<br />

die Arbeiter nur in einem Lande gesiegt haben, ist <strong>der</strong> ökonomische Aufbau sehr schwierig<br />

... Für den Sieg des Kommunismus ist <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Weltrevolution notwendig.«<br />

Im Geiste <strong>der</strong> gleichen Ideen schrieb Bucharin in einer populären Broschüre, die<br />

mehrfach von <strong>der</strong> Partei neu aufgelegt und in fremde Sprachen übersetzt wurde: »...Vor<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 819


dem <strong>russischen</strong> Proletariat ersteht so scharf wie nie das Problem <strong>der</strong> internationalen<br />

<strong>Revolution</strong> ... Die permanente <strong>Revolution</strong> in Rußland geht über in die europäische<br />

<strong>Revolution</strong> des Proletariats.«<br />

In dem bekannten Buche von Stepanow Skworzow, "Elektrifizierung", erschienen<br />

unter <strong>der</strong> Redaktion und mit einem Vorwort von Lenin, wird in einem vom Redakteur<br />

dem Leser beson<strong>der</strong>s heiß empfohlenen Kapitel gesagt: »Rußlands Proletariat hat<br />

niemals daran gedacht, einen isolierten sozialistischen Staat zu schaffen. Ein selbstgenügsamer<br />

"sozialistischer" Staat ist ein kleinbürgerliches Ideal! Eine gewisse Annäherung<br />

an ihn ist denkbar unter <strong>der</strong> ökonomischen und politischen Vorherrschaft <strong>der</strong><br />

Kleinbourgeoisie; in <strong>der</strong> Abson<strong>der</strong>ung von <strong>der</strong> Außenwelt sucht sie das Mittel zur Festigung<br />

ihrer ökonomischen Formen, die durch die neue Technik und die neue Ökonomik in<br />

die allerschwankendsten Formen verwandelt sind.« Diese hervorragenden Zeilen, die<br />

zweifellos Spuren von Lenins Hand tragen, werfen ein grelles Licht auf die spätere<br />

Evolution <strong>der</strong> Epigonen!<br />

In den Thesen über die nationale und koloniale Frage zum II. Kongreß <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

<strong>Internationale</strong> bezeichnet Lenin als Gesamtaufgabe des Sozialismus, die sich<br />

über die nationalen Etappen des Kampfes erhebt, die »Schaffung einer einheitlichen,<br />

nach einem Gesamtplan des Proletariats aller Nationen regulierten Weltwirtschaft als<br />

Ganzes, welche Tendenz sich bereits unter dem Kapitalismus sehr deutlich gezeigt hat<br />

und unbedingt eine weitere Entwicklung und völlige Vollendung unter dem Sozialismus<br />

finden wird«. Angesichts dieser kontinuierlichen und fortschrittlichen Tendenz ist die<br />

Idee einer sozialistischen Gesellschaft in einem Lande reaktionär.<br />

Die Bedingungen <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats und die Bedingungen<br />

des Aufbaues <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft sind nicht identisch, nicht gleichartig, in<br />

gewissem Sinne sogar antagonistisch. Die Tatsache, daß das russische Proletariat als<br />

erstes zur Macht gelangt ist, bedeutet noch keinesfalls, daß es als erstes zum Sozialismus<br />

kommen wird. Die wi<strong>der</strong>spruchsvolle Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> Entwicklung, die zur<br />

Oktoberumwälzung führte, ist mit <strong>der</strong>en Abschluß nicht verschwunden: es erwies sich,<br />

daß sie im Fundament des ersten Arbeiterstaates enthalten ist.<br />

»Je rückständiger ein Land ist, das kraft des Zickzacks <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> gezwungen war,<br />

seine sozialistische <strong>Revolution</strong> zu beginnen«. sagte Lenin im März 1918, »um so schwieriger<br />

wird ihm <strong>der</strong> Übergang von den alten kapitalistischen Beziehungen zu sozialistischen.«<br />

Dieser Gedanke geht durch Lenins Reden und Artikel jahraus, jahrein. »Für uns<br />

ist es leicht, die <strong>Revolution</strong> zu beginnen, und schwieriger, sie fortzusetzen«, sagt er im<br />

Mai des gleichen Jahres, »im Westen ist es schwieriger, die <strong>Revolution</strong> zu beginnen, aber<br />

dort wird es leichter sein, sie fortzusetzen.« Im Dezember entwickelt Lenin den gleichen<br />

Gedanken vor einem Bauernauditorium, dem es am allerschwierigsten fällt, sich über<br />

nationale Grenzen hinwegzuversetzen: »Dort (im Westen) wird <strong>der</strong> Übergang zur sozialistischen<br />

Wirtschaft sich schneller und leichter vollziehen als bei uns ... Im Bunde mit dem<br />

sozialistischen Proletariat <strong>der</strong> ganzen Welt wird die russische werktätige Bauernschaft<br />

alle Unbilden überwinden...« - »Im Vergleich mit den fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n«,<br />

wie<strong>der</strong>holt er 1919, »war es den Russen leichter, die große proletarische <strong>Revolution</strong> zu<br />

beginnen, aber es wird ihnen schwieriger sein, sie fortzusetzen und zum endgültigen<br />

Siege zu führen, im Sinne <strong>der</strong> völligen Organisierung <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft.«<br />

»Rußland«, beharrt Lenin am 27. April 1920, »war es leicht, die sozialistische Revolu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 820


tion zu beginnen. aber sie fortzusetzen und zu Ende zu führen, wird Rußland schwerer<br />

fallen als den europäischen Län<strong>der</strong>n. Ich hatte bereits Anfang 1918 Gelegenheit, auf<br />

diese Tatsache hinzuweisen, und die zweijährige Erfahrung hat danach die Richtigkeit<br />

dieser Erwägung vollauf bestätigt...«<br />

Die Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> leben in Form von verschiedenen Kulturniveaus. Zur<br />

Überwindung <strong>der</strong> Vergangenheit ist Zeit nötig, nicht neue Jahrhun<strong>der</strong>te, aber Jahrzehnte.<br />

»Es ist fraglich, ob die nächste Generation, eine entwickeltere, den völligen Übergang<br />

zum Sozialismus vollziehen wird«, sagte Lenin in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees<br />

am 29. April 1918. Fast zwei Jahre später, auf dem Kongreß <strong>der</strong> landwirtschaftlichen<br />

Kommunen, nennt er noch fernerliegende Fristen: »Sofort die sozialistische Ordnung<br />

einführen - können wir nicht, gebe Gott, daß sie unter unseren Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> vielleicht<br />

Enkelkin<strong>der</strong>n bei uns errichtet wird.« Die russischeis Arbeiter hätten früher als die<br />

an<strong>der</strong>en den Weg betreten, würden aber später als die an<strong>der</strong>en ans Ziel kommen. Das ist<br />

nicht Pessimismus, son<strong>der</strong>n historischer Realismus.<br />

»...Wir, das Proletariat Rußlands, sind fortgeschrittener als ein England o<strong>der</strong> ein<br />

Deutschland unserem politischen Regime nach...«, schrieb Lenin im Mai 1918, »und<br />

gleichzeitig hinter dem rückständigstcn <strong>der</strong> westeuropäischen Staaten ... nach dem<br />

Grade <strong>der</strong> Vorbereitung für die materiell-industrielle Einführung des Sozialismus...«<br />

Dem gleichen Gedanken verleiht er bei einer Gegenüberstellung zweier Staaten<br />

Ausdruck: »Deutschland und Rußland verkörperten im Jahre 1918 am anschaulichsten<br />

die materielle Verwirklichung einerseits <strong>der</strong> ökonomischen, industriellen, gesellschaftswirtschaftlichen,<br />

an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> politischen Bedingungen des Sozialismus.« Die<br />

Elemente <strong>der</strong> zukünftigen Gesellschaft seien gleichsam zersplittert zwischen verschiedenen<br />

Län<strong>der</strong>n. »Sie zu sammeln und zueinan<strong>der</strong> in ein richtiges Verhältnis zu bringen, ist<br />

Aufgabe einer Reihe von nationalen Umwälzungen, die sich summieren zur Weltrevolution.«<br />

Den Gedanken an einen selbstgenügsamen Charakter <strong>der</strong> Sowjetwirtschaft hat Lenin<br />

im voraus verspottet! »Solange unser Sowjetrußland eine vereinzelte Grenzmark <strong>der</strong><br />

gesannen kapitalistischen Welt bleibt«, sagte er im Dezember 1920 auf dem VIII.<br />

Sowjetkongreß, »wäre <strong>der</strong> Gedanke an unsere völlige ökonomische Unabhängigkeit ...<br />

eine ganz lächerliche Phantasterei und Utopie.« Am 27. März 1922 warnte Lenin auf<br />

dem XI. Parteitag: uns steht bevor »ein Examen, das uns durch den <strong>russischen</strong> und den<br />

internationalen Markt auferlegt wird, von dem wir abhängen, mit dem wir verbunden<br />

sind, von dem wir uni nicht losreißen können; dieses Examen ist ernst, denn hier kann<br />

man uns sowohl ökonomisch wie politisch schlagen«.<br />

Den Gedanken an die Abhängigkeit <strong>der</strong> Sowjetwirtschaft von <strong>der</strong> Weltwirtschaft hält<br />

die Kommunistische <strong>Internationale</strong> heute für "konterrevolutionär": <strong>der</strong> Sozialismus<br />

könne nicht vom Kapitalismus abhängen! Die Epigonen waren so weise, zu vergessen,<br />

daß Kapitalismus wie Sozialismus sich auf internationale Arbeitsteilung stützen, die<br />

gerade im Sozialismus die höchste Blüte erreichen muß. Der wirtschaftliche Aufbau in<br />

einem isolierten Arbeiterstaate, so wichtig er an und für sich ist, wird beschnitten, beengt<br />

und wi<strong>der</strong>spruchsvoll bleiben: die Höhen einer neuen harmonischen Gesellschaft kann er<br />

nicht erreichen.<br />

»Der wahre Aufstieg <strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaft in Rußland«, schrieb Trotzki im<br />

Jahre 1922, »wird erst möglich werden nach dem Siege des Proletariats in den wichtig-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 821


sten Län<strong>der</strong>n Europas.« Diese Worte sind in den Anklageakt eingegangen; indessen<br />

hatten sie ihrerzeit einen allgemeinen Gedanken <strong>der</strong> Partei ausgedrückt. »Die Sache des<br />

Aufbaus«, sagt Lenin im Jahre 1919; »hängt völlig davon ab, wie schnell die <strong>Revolution</strong><br />

in den wichtigsten Län<strong>der</strong>n Europas siegen wird. Erst nach diesem Siege können wir<br />

ernstlich an die Sache des Aufbaus herangehen.« Diese Worte drückten nicht Unglauben<br />

an die russische <strong>Revolution</strong> aus, son<strong>der</strong>n Glauben an die Nähe <strong>der</strong> Weltrevolution. Aber<br />

auch jetzt, nach den größten wirtschaftlichen Erfolgen <strong>der</strong> Union, bleibt es richtig, daß<br />

<strong>der</strong> »wahre Aufstieg <strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaft« nur auf internationaler Basis möglich<br />

ist.<br />

Unter dem gleichen Gesichtswinkel betrachtete die Partei auch das Problem <strong>der</strong><br />

Kollektivisierung <strong>der</strong> Landwirtschaft. Das Proletariat kann die neue Gesellschaft nicht<br />

aufbauen, ohne durch eine Reihe von Übergangsstufen die Bauernschaft zum Sozialismus<br />

zu bringen, die einen bedeutenden, in einer Reihe von Län<strong>der</strong>n den überwiegenden<br />

Bevölkerungsteil und eine offenkundige Mehrheit auf dem ganzen Erdball darstellt. Die<br />

Lösung dieses schwierigsten aller Probleme hängt letzten Endes von den quantitativen<br />

und qualitativen Wechselbeziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft ab: die<br />

Bauernschaft wird um so williger und erfolgreicher den Weg <strong>der</strong> Kollektivisierung<br />

beschreiten, je freigebiger die Stadt imstande sein wird, die Ökonomik und Kultur <strong>der</strong><br />

Bauern zu befruchten.<br />

Gibt es aber eine für die Umgestaltung des Dorfes hinreichende Industrie? Lenin hat<br />

auch diese Aufgabe über die nationalen Grenzen hinausgeführt. »Betrachtet man die<br />

Frage im Weltmaßstabe«, sagte er auf dem IX. Sowjetkongreß, » - eine solche blühende<br />

Großindustrie, die die Welt mit allen Produkten versorgen kann, gibt es auf <strong>der</strong> Erde ...<br />

Wir legen das unseren Berechnungen zugrunde.« Das Verhältnis zwischen Industrie und<br />

Landwirtschaft, in Rußland unvergleichlich ungünstiger als in den Westlän<strong>der</strong>n, bleibt<br />

bis auf den heutigen Tag die Grundlage <strong>der</strong> ökononsischen und politischen Krisen, die in<br />

gewissen Momenten die Stabilität des Sowjetsystems bedrohen.<br />

Die Politik des sogenannten "Kriegskommunismus" beabsichtigte, wie aus dem Gesagten<br />

klar hervorgeht, keinesfalls den Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft in nationalen<br />

Grenzen: nur die Menschewiki, höhnend über die Sowjetmacht, schrieben ihr solche<br />

Absichten zu. Für die Bolschewiki stand das weitere Schicksal des spartanischen<br />

Regimes, aufgezwungen durch Wirtschaftszerfall und Bürgerkrieg, in direkter Abhängigkeit<br />

von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Westen. Im Januar 1919, auf <strong>der</strong> Höhe des<br />

Kriegskommunismus, sagte Lenin: »Wir werden die Grundlagen unserer kommunistischen<br />

Ernährungspolitik schützen und sie bis zu <strong>der</strong> Zeit unerschüttert erhalten, wo die<br />

Ära des vollen und internationalen Sieges des Kommunismus kommen wird.« Zusammen<br />

mit <strong>der</strong> ganzen Partei irrte Lenin. Man war gezwungen, die Ernährnngspobtik zu än<strong>der</strong>n.<br />

Es darf jetzt als feststehend gelten, daß, sogar wenn die sozialistische Umwälzung in<br />

Europa in den ersten zwei, drei Jahren nach dem Oktober gekommen wäre, <strong>der</strong> Rückzug<br />

auf den Weg <strong>der</strong> Nep ("Neuen ökonomischen Politik") dennoch unvermeidlich gewesen<br />

sein würde. Doch bei <strong>der</strong> rückblickenden Einschätzung <strong>der</strong> ersten Etappe <strong>der</strong> Diktatur<br />

wird es beson<strong>der</strong>s klar, bis zu welchem Grade sich die Methoden des Kriegskommunismus<br />

und seine Illusionen mit <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> eng verflochten.<br />

Die tiefe innere Krise am Ausgang <strong>der</strong> drei Bürgerkriegsjahre bedeutete die Bedrohung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 822


mit einem direkten Bruch zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen Partei und<br />

Proletariat. Es wurde eine radikale Revision <strong>der</strong> Methoden <strong>der</strong> Sowjetmacht notwendig.<br />

»...Wir müssen ökonomisch die mittlere Bauernschaft befriedigen und zur Freiheit des<br />

Warenverkehrs greifen«, setzte Lenin auseinan<strong>der</strong>, »an<strong>der</strong>nfalls ist die Erhaltung <strong>der</strong><br />

Macht des Proletariats in Rußland bei Verzögerung <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong><br />

unmöglich...« War aber vielleicht <strong>der</strong> Übergang zur Nep von dem prinzipiellen Bruch mit<br />

<strong>der</strong> Verknüpfung zwischen inneren und internationalen Problemen begleitet?<br />

Eine Gesamteinschätzung <strong>der</strong> beginnenden Etappe gab Lenin in seinen Thesen zum III.<br />

Kongreß <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>: »...Vom Standpunkte <strong>der</strong> proletarischen<br />

Weltrevolution als eines Gesamtprozesses besteht die Bedeutung <strong>der</strong> Epoche, die<br />

Rußland jetzt durchmacht, darin, daß das Proletariat, das die Staatsmacht in seinen<br />

Händen hält, seine Politik in bezug auf die kleinbürgerliche Masse praktisch anwendet<br />

und überprüft.« Schon die Kennzeichnung des Rahmens <strong>der</strong> Nep verwirft radikal das<br />

Problem des Sozialismus in einem Lande.<br />

Nicht weniger lehrreich sind jene Zeilen, die Lenin in den Tagen <strong>der</strong> Beratung und<br />

Ausarbeitung <strong>der</strong> neuen Wirtschafismethoden für sich aufnorierte: »Zehn - zwanzig<br />

Jahre richtiger Beziehungen zur Bauernschaft, und <strong>der</strong> Sieg im Weltmaßstabc ist<br />

gesichert (sogar bei Verzögerung <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>en, die heranwachsen).«<br />

Das Ziel ist gestellt: sich den neuen längeren Fristen anpassen, die nötig werden können<br />

für das Heranreifen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Westen. In diesem und nur in diesem Sinne sprach<br />

Lenin die Überzeugung aus, daß »aus dem Rußland <strong>der</strong> Ncp ein sozialistisches Rußland<br />

werden wird«.<br />

Es ist noch zuwenig, wenn man sagt, die Idee <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> wurde<br />

nicht revidiert; in gewissem Sinne erhält sie jetzt tieferen und klareren Ausdruck. »In<br />

Län<strong>der</strong>n des entwickelten Kapitalismus«, sagt Lenin auf dem X. Parteitag, den historischen<br />

Platz <strong>der</strong> Nep erläuternd, »gibt es eine im Laufe von Jahrzehnten herausgebildete<br />

Klasse <strong>der</strong> lapdwirtsehaftlichen Lohnarbeiter ... Wo diese Klasse genügend entwickelt<br />

ist, ist <strong>der</strong> Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus möglich. Wir unterstrichen in<br />

einer Reihe von Werken, in allen unseren Reden, in <strong>der</strong> gesamten Presse, daß es sich in<br />

Rußland nicht so verhält, daß wir in Rußland vielmehr eine Min<strong>der</strong>heit von Arbeitern in<br />

<strong>der</strong> Industrie und eine gewaltige Mehrheit kleiner Bodenbesitzer haben. Die soziale<br />

<strong>Revolution</strong> kann in einem solchen Lande nur unter zwei Bedingungen von endgültigem<br />

Erfolg sein: Erstens, daß sie rechtzeitig durch die soziale <strong>Revolution</strong> in einem o<strong>der</strong><br />

mehreren fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n unterstützt wird... Die zweite Bedingung - ist das<br />

Einvernehmen zwischen dem Proletariat, das die Staatsmacht in seiner Hand hält, und<br />

<strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Bauernbevölkerung ... Nur die Einigkeit mit <strong>der</strong> Bauernschaft kann die<br />

sozialistische <strong>Revolution</strong> in Rußland retten, solange die <strong>Revolution</strong> in den an<strong>der</strong>en<br />

Län<strong>der</strong>n nicht gekommen ist.« Alle Elemente des Problems sind in eins verknüpft. Das<br />

Bündnis mit <strong>der</strong> Bauernschaft kt notwendig für das Bestehen <strong>der</strong> Sowjetmacht, aber es<br />

ersetzt die internationale <strong>Revolution</strong> nicht, die allein die ökonomische Basis <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Geseflschaft schaffen kann.<br />

Auf dem gleichen X. Kongreß gibt es, diktiert durch die Verzögerung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

im Westen, noch ein beson<strong>der</strong>es Referat: »Die Sowjetrepublik in kapitalistischer Umzingelung.«<br />

Als Referent des Zentralkomitees spricht Kamenjew. »Niemals haben wir uns<br />

zur Aufgabe gestellt«, sagt er wie etwas für alle Unbestreitbares, »die kommunistische<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 823


Gesellschaftsordnung in einem isolierten Lande aufzubauen. Doch wurden wir in die<br />

Lage versetzt, daß wir das Fundament <strong>der</strong> kommunistischen Gesellschaftsordnung, das<br />

Fundament des sozialistischen Staates, die proletarische Sowjetrepublik, von allen Seiten<br />

umgeben von kapitalistischen Beziehungen, unbedingt halten müssen. Werden wir diese<br />

Aufgabe lösen? Ich glaube, das ist eine scholastische Frage. Auf eine solche Fragestellung<br />

kann man keise Antwort geben. Die Frage steht so: Wie ist die Sowjetmacht unter<br />

den gegebenen Verhältnissen zu halten, und zwar zu halten bis zu dem Moment, wo das<br />

Proletariat des einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Landes uns zu Hilfe kommt?« Wenn die Ideen des<br />

Referenten, <strong>der</strong> seinen Konspekt zweifellos mehr als einmal mit Lenin in Übereinstimmung<br />

gebracht hat, im Wi<strong>der</strong>spruch zur Tradition des Bolschewismus standen, wie<br />

konnte dann <strong>der</strong> Parteitag nicht protestieren? Wieso fand sich kein einziger Delegierter,<br />

<strong>der</strong> darauf hinwies, daß Kamenjew in <strong>der</strong> Kernfrage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Ansichten<br />

entwickelt, die mit den Ansichten des Bolschewismus »nichts gemein« haben? Wie<br />

konnte in <strong>der</strong> ganzen Partei niemand diese Ketzerei entdecken?<br />

»Nach Lenin«, behauptet Stalin, »schöpft die <strong>Revolution</strong> ihre Kräfte vor allem bei den<br />

Arbeitern und Bauern Rußlands. Bei Trotzki aber ergibt sich, daß man die notwendigen<br />

Kräfte nur in <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution schöpfen kann.« Auf diese<br />

Gegenüberstellung, wie auf vieles an<strong>der</strong>e, hatte Lenin im voraus geantwortet: »Wir<br />

haben für keine Minute vergessen und vergessen auch jetzt nicht«, sagte er am 14. Mai<br />

1918 in einer Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees, »die Schwäche <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

Arbeiterklasse im Vergleich zu den an<strong>der</strong>en Abteilungen des internationalen Proletariats<br />

... Aber wir müssen auf diesem Posten ausharren, bis unser Verbündeter, das internationale<br />

Proletariat, erscheint.« Am dritten Jahrestag <strong>der</strong> Oktoberumwälzung bekräftigte<br />

Lenin: »Unser Einsatz war ein Einsatz auf die internationale <strong>Revolution</strong>, und dieser<br />

Einsatz war unbedingt richtig ... Wir haben stets betont, daß man in einem Lande eine<br />

solche Sache wie die sozialistische <strong>Revolution</strong> nicht vollbringen kann...« Im Februar<br />

1921 erklärte Lenin auf einem Arbeiterkongreß <strong>der</strong> Bekleidungsindustrie: »Wir haben<br />

immer und immer wie<strong>der</strong> die Arbeiter darauf hingewiesen, daß die grundlegendste,<br />

wichtigste Aufgabe und die Kernbedingung unseres Sieges die Ausdehnung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

auf mindestens einige fortgeschrittenere Län<strong>der</strong> ist.« Nein, Lenin ist durch sein<br />

beharrliches Bestreben, Kräfte in <strong>der</strong> Weltrevolution zu »schöpfen«, zu stark kompromittiert:<br />

man kann ihn nicht reinwaschen!<br />

In ähnlicher Weise, wie man Trotzki Lenin gegenüberstellt, wird Lenin Marx gegenübergestellt<br />

und mit gleichem Recht. Daß Marx vermutet hat, die proletarische <strong>Revolution</strong><br />

werde in Frankreich beginnen, aber nur und unbedingt in England abschließen, läßt<br />

sich nach Stalin damit erklären, daß Marx das Gesetz <strong>der</strong> ungleichmäßigen Entwicklung<br />

noch nicht kannte. In Wirklichkeit ist Marxens Prognose, die ein Land <strong>der</strong> revolutionären<br />

Initiative einem Lande <strong>der</strong> sozialistischen Vollendung gegenüberstellt, völlig auf dem<br />

Gesetz <strong>der</strong> ungleichmäßigen Entwicklung aufgebaut. Jedenfalls hat Lenin, dem die Art,<br />

in großen Fragen etwas zu verschweigen, ganz fremd war, nie und nirgends eine von<br />

Marx und Engels abweichende Meinung bezüglich des internationalen Charakters <strong>der</strong><br />

<strong>Revolution</strong> geäußert. Ganz im Gegenteil! Wenn »die Sache an<strong>der</strong>s gekommen ist, als es<br />

Marx und Engels erwartet haben«, sagte Lenin auf dem III. Sowjetkongreß, »so nur in<br />

Hinsicht <strong>der</strong> historischen Aufeinan<strong>der</strong>folge« <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>: das russische Proletariat erhielt<br />

durch den Gang <strong>der</strong> Dinge »die ehrenvolle Rolle <strong>der</strong> Avantgarde <strong>der</strong> internationalen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 824


sozialistischen <strong>Revolution</strong>, und wir sehen jetzt klar, wie die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

weitergehen wird: <strong>der</strong> Russe hat begonnen - <strong>der</strong> Deutsche, <strong>der</strong> Franzose, <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong><br />

werden die Sache zu Ende führen, und <strong>der</strong> Sozialismus wird siegen...«<br />

Ferner lauert auf uns ein Argument des Staatsprestiges: die Verneinung <strong>der</strong> Theorie<br />

vom nationalen Sozialismus "führt", nach Stalins Worten, »zur Entthronung unseres<br />

Landes«. Allein schon diese für ein marxistisches Ohr unerträgliche Phraseologie verrät<br />

die ganze Tiefe des Bruches mit <strong>der</strong> bolschewistischen Tradition. Nicht »Entthronung«<br />

fürchtete Lenin, son<strong>der</strong>n nationale Prahlerei. »Wir sind«, lehrte er im April 1918 in einer<br />

Sitzung des Moskauer Sowjets, »eine <strong>der</strong> revolutionären Abteilungen <strong>der</strong> Arbeiterklasse,<br />

die vorgerückt ist, nicht weil wir besser sind als die an<strong>der</strong>en ..., son<strong>der</strong>n nur und<br />

ausschließlich darum, weil wir eins <strong>der</strong> rückständigsten Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt waren ... Wir<br />

werden zum vollen Siege nur gemeinsam mit den Arbeitern <strong>der</strong> übrigen Län<strong>der</strong>, mit den<br />

Arbeitern <strong>der</strong> ganzen Welt kommen.«<br />

Der Appell an die nüchterne Selbsteinschätzung wird zum Leitmotiv <strong>der</strong> Leninscheis<br />

Reden. »Die russische <strong>Revolution</strong>«, sagt er am 4. Juni 1918, »...ist keinesfalls durch ein<br />

beson<strong>der</strong>es Verdienst des <strong>russischen</strong> Proletariats, son<strong>der</strong>n ... durch den Gang ... <strong>der</strong><br />

historischen Ereignisse hervorgerufen, und dieses Proletariat ist durch den Willen <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> vorübergehend an den ersten Platz gestellt und für eine gewisse Zeit zur<br />

Avantgarde <strong>der</strong> Weltrevolution gemacht.« - »Die erste Rolle des <strong>russischen</strong> Proletariats<br />

in <strong>der</strong> internationalen Arbeiterbewegung«, sagt Lenin auf einer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees<br />

am 23. Juli 1918, »wird nicht durch die wirtschaftliche Fortgeschrittenheit des<br />

Landes erklärt; ganz im Gegenteil: durch die Rückständigkeit Rußlands ... Das russische<br />

Proletariat ist sich dessen klar bewußt, daß die notwendige Bedingung sind die Grundvoraussetzung<br />

seines Sieges das vereinte Auftreten <strong>der</strong> Arbeiter <strong>der</strong> ganzen Welt o<strong>der</strong><br />

einiger in kapitalistischer Hinsicht fortgeschrittener Län<strong>der</strong> ist.« Die Oktoberumwälzung<br />

ist natürlich nicht nur allein durch die Rückständigkeit Rußlands hervorgerufen worden,<br />

und Lenin wußte das sehr wohl. Aber er überbiegt den Stock absichtlich, um ihn geradezurichten.<br />

Auf <strong>der</strong> Tagung <strong>der</strong> Volkswirtschaftsräte, das heißt jener speziell für den Aufbau des<br />

Sozialismus berufenen Organe, sagt Lenin am 26. Mai 1918: »Wir schließen die Augen<br />

nicht davor, daß wir die sozialistische <strong>Revolution</strong> in einem Lande, auch wenn es viel<br />

weniger rückständig wäre als Rußland mit den eigenen Kräften nicht vollständig durchführen<br />

können.« Auch hier den späteren Stimmen <strong>der</strong> bürokratischen Heuchelei zuvorkommend,<br />

setzt <strong>der</strong> Redner auseinan<strong>der</strong>: »Das kann nicht einen Tropfen Pessimismus<br />

erzeugen, denn die Aufgabe, die wir uns stellen, ist eine Aufgabe von welthistorischer<br />

Schwierigkeit.«<br />

Auf dem VI. Sowjetkongreß, am 8. November, sagt er: »Ein voller Sieg <strong>der</strong> sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> ist undenkbar in einem Lande, son<strong>der</strong>n erfor<strong>der</strong>t aktivsie Kampfgcnossenschaft<br />

mindestens einiger fortgeschrittener Län<strong>der</strong>, zu denen wir Rußland nicht<br />

zählen können...« Lenin verweigett Russland nicht nur das Recht auf seinen eigenen<br />

Sozialismus, son<strong>der</strong>n weist ihm demonstrativ einen zweitrangigen Platz an beim Aufbau<br />

des Sozialismus durch an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>. Welch verbrecherische »Entthronung unseres<br />

Landes«!<br />

Im März 1919, auf dem Parteitag, weist Lenin die Übermütigen zurecht: »Wir besitzen<br />

eine praktische Erfahrung über die Verwirklichung <strong>der</strong> ersten Schritte zur Vernichtung<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 825


des Kapitalismus in einem Lande mit einem beson<strong>der</strong>en Verhältisis zwischen Proletariat<br />

und Bauernschaft. Mehr nicht. Wenn wir aus uns einen Frosch machen wollten, keuchen<br />

und uns aufblähen, wir würden das Gespött <strong>der</strong> ganzen Welt sein, wir würden einfach<br />

Prahler sein.« Kann das jemand kränken? »Hat denn«, ruft Lenin am 19. Mai 1921 aus,<br />

»jemals ein Bolschewik bestritten, daß die <strong>Revolution</strong> in endgültiger Form nur dann<br />

siegen kann, wenn sie alle o<strong>der</strong> wenigstens einige <strong>der</strong> fortgeschrittensten Län<strong>der</strong> erfaßt!«<br />

Im November 1920, auf <strong>der</strong> Moskauer Gouvernements-Konferenz <strong>der</strong> Partei, erinnert er<br />

wie<strong>der</strong> daran, daß die Bolschewiki we<strong>der</strong> versprochen noch davon geträumt haben, »mit<br />

Rußlands Kräften allein die ganze Welt zu verän<strong>der</strong>n ... Zu einem solchen Wahnsinn<br />

haben wir uns niemals verstiegen, son<strong>der</strong>n immer gesagt, daß unsere <strong>Revolution</strong> Siegen<br />

wird, wenn die Arbeiter aller Län<strong>der</strong> sie unterstützen werden.«<br />

»Wir haben«, schreibt er Anfang 1922, »nicht einmal das Fundament <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Ökonomik zu Ende geführt. Das können die uns feindlichen Kräfte des sterbenden<br />

Kapitalismus noch zurückholen. Man muß sich dessen klar bewußt werden und es<br />

offen gestehen, denn nichts ist gefährlicher als Illusionen und Kopfschwindel, beson<strong>der</strong>s<br />

in großer Höhe. Und es ist nichts "Schreckliches", nichts, was berechtigten Anlaß<br />

zum geringsten Kleinmut gibt, im Geständnis dieser bitteren Wahrheit; denn wir haben<br />

stets anerkannt und jene ABC-Wahrheit des Marxismus wie<strong>der</strong>holt, daß für den Sieg<br />

des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen <strong>der</strong> Arbeiter einiger fortgeschrittener<br />

Län<strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lich sind.«<br />

Nach etwas über zwei Jahren wird Stalin vom Marxismus die Preisgabe dieser<br />

Kernfrage verlangen. Der Grund? Marx sei in Unkenntnis gewesen hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> Entwicklung, das heißt, des elementarsten Gesetzes <strong>der</strong> Dialektik<br />

<strong>der</strong> Natur wie <strong>der</strong> Gesellschaft. Aber was soll man mit Lenin anfangen, <strong>der</strong> nach Stalin<br />

angeblich als erster an <strong>der</strong> Erfahrung des Imperialismus das Gesetz <strong>der</strong> Ungleichmäßigkeit<br />

»entdeckte« und trotzdem an <strong>der</strong> "ABC-Wahrheit des Marxismus" festhielt! Vergeblich<br />

würden wir eine Erklärung suchen.<br />

»Der Trotzkismus ging und geht«, nach dem Schuldsprueh <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>,<br />

»davon aus, daß unsere <strong>Revolution</strong> an sich [!] im Kern <strong>der</strong> Sache keine sozialistische<br />

bedeutet, daß die Oktoberrevolution nur Signal, Vorstoß und Ausgangspunkt <strong>der</strong><br />

sozialistischen <strong>Revolution</strong> im Westen ist« Die nationale Entartung wird hier in reinste<br />

Scholastik gehüllt. Die Oktoberrevolution »an sich« existiert überhaupt nicht. Sie wäre<br />

unmöglich gewesen ohne die ganze vorangegangene <strong>Geschichte</strong> Europas, und sie wäre<br />

hoffnungslos ohne Fortsetzung in Europa und in <strong>der</strong> ganzen Welt ... »Die russische<br />

<strong>Revolution</strong> ist nur ein Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong>« (Lenin). Ihre<br />

Stärke liegt gerade darin, worin die Epigonen ihre »Entthronung« erblicken. Eben darum<br />

und nur darum, weil sie kein selbstgenügsames Ganzes, son<strong>der</strong>n »Signal«, »Vorstoß«,<br />

»Ausgangspunkt«, »Glied« ist, gewinnt sie sozialistischen Charakter.<br />

»Gewiß ist <strong>der</strong> endgültige Sieg des Sozialismus in einem Lande nicht möglich«, sagte<br />

Lenin auf dem III. Sowjetkongreß im Januar 1918, dafür aber ist ein an<strong>der</strong>es möglich:<br />

»das lebendige Beispiel, das Schreiten zur Tat in einem Lande - das ist es, was die<br />

werktätigen Massen in allen Län<strong>der</strong>is entflammt.« Im Juli in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees:<br />

»Unsere Aufgabe ist jetzt ... diese Fackel des Sozialismus ... nicht aus<br />

den Händen zu lassen, damit sie möglichst viel Funken ausstreut für den um sich greifenden<br />

Brand <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong>.« Einen Monat später, auf einem Arbeitermeeting<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 826


»Die <strong>Revolution</strong> (die europäische) wächst heran ... Und wir müssen die Sowjetmacht<br />

halten bis zu ihrem Beginn, unsere Fehler müssen dem Westproletariat als Lehre<br />

dienen.« Noch einige Tage später, auf dem Kongreß <strong>der</strong> Volksbildungsarbeiter: »Die<br />

russische <strong>Revolution</strong> ist nur ein Beispiel, nur <strong>der</strong> erste Schritt in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>en.«<br />

Im März 1919, auf dem Parteitag: »Die russische <strong>Revolution</strong> war im wesentlichen<br />

eine Generalprobe ... <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution.« Nicht <strong>Revolution</strong> »an sich«,<br />

son<strong>der</strong>n Fackel, Lehre, nur Beispiel, nur erster Schritt, nur Glied! Kein fertiges Schauspiel,<br />

son<strong>der</strong>n nur Generalprobe! Welch beharrliche und grausame »Entthronung«!<br />

Aber Lenin bleibt auch dabei nicht stehen. »Träte <strong>der</strong> Fall ein«, sagte er am 8. November<br />

1918, »daß wir plötzlich hinweggefegt würden ... wir hätten das Recht zu sagen, ohne<br />

die Fehler zu verheimlichen, daß wir jenen Zeitabschnitt, den uns das Schicksal gewährte,<br />

im vollen Maße für die sozialistische Weltrevolution ausgenutzt haben.« Wie fern ist<br />

das nach Denkmethode und politischer Psychologie von <strong>der</strong> prahlerischen Selbstzufriedenheit<br />

<strong>der</strong> Epigonen, die sich ewiger Nabel <strong>der</strong> Erde dünken.<br />

Das Trügerische in <strong>der</strong> Kernfrage führt, ist das politische Interesse gezwungen, sich<br />

daran zu klammern, zu unzähligen sich daraus ergebenden Fehlern und gestaltet allmählich<br />

das ganze Denken um. »...Unsere Partei hat nicht das Recht, die Arbeiterklasse zu<br />

betrügen«, sagte Stalin im Plenum des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />

im Jahre 1926, »sie hätte die Pflicht, offen zu sagen, daß die fehlende Überzeugung<br />

von <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaues des Sozialismus in unserem Lande zum Rücktritt<br />

von <strong>der</strong> Macht und zum Übergang unserer Partei aus <strong>der</strong> Lage einer Regierungs- in die<br />

Lage einer Oppositionspartei führen muß...« Die Kommunistische <strong>Internationale</strong> kanonisierte<br />

diese Ansicht in ihrer Resolution: »Die Verneinung dieser Möglichkeit (<strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaft in einem Lande) seitens <strong>der</strong> Opposition ist nichts an<strong>der</strong>es als die<br />

Verneinung <strong>der</strong> Voraussetzungen für die sozialistische <strong>Revolution</strong> in Rußland.« »Voraussetzungen«<br />

bedeutet hier nicht Gesamtzustand <strong>der</strong> Weltwirtschaft, nicht innere Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

des Imperialismus, nicht das Klassenverhältnis in Rußland, son<strong>der</strong>n eine im<br />

voraus geleistete Garantie für die Durelsführbarkeit des Sozialismus in einem Lande!<br />

Auf den von den Epigonen 1926 aufgestellten teleologischen Einwand kann man mit<br />

den gleichen Erwägungen antworten, wie wir im Frühling 1905 den Menschewiki<br />

antworteten. »Stellt die objektive Entwicklung des KIassenkassspfes in einem gewissen<br />

Moment <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vor das Proletariat die Alternative: Rechte und Pflichten <strong>der</strong><br />

Staatsmsacht auf sich zu nehmen o<strong>der</strong> seine Klassenposition aufzugeben, dann betrachtet<br />

die Sozialdemokratie die Eroberung <strong>der</strong> Staatsmacht als ihre nächste Aufgabe. Sie<br />

ignoriert dabei nicht im geringsten die objektiven Entwicklungsprozesse tieferer Art, die<br />

Wachstums- und Konzentrationsprozesse <strong>der</strong> Produktion, aber sie sagt: Wenn die Logik<br />

des Klassenkampfes, <strong>der</strong> sich letzten Endes auf den Gang <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung<br />

stützt, das Proletariat zur Diktatur stößt, bevor die Bourgeoisie ihre ökonomische<br />

Mission erschöpft hat ..., dann bedeutet das nur, daß die <strong>Geschichte</strong> dem Proletariat<br />

gewaltig schwere Aufgaben aufbürdet. Vielleicht wird das Proletariat im Kampfe sogar<br />

zusammenbrechen, unter ihrer Last hinsinken - vielleicht. Aber es kann auf diese Aufgaben<br />

nicht verzichten bei Strafe <strong>der</strong> Klassenzersetzung und des Versinkens des ganzen<br />

Landes in Barbarei.« Dem könnten wir auch jetzt nichts hinzufügen.<br />

»...Ein nicht gutzumachen<strong>der</strong> Fehler«, schrieb Lenin im Mai 1918, »wäre es, zu erklären,<br />

daß, wenn man das Mißverhältnis zwischen unseren ökonomischen und unseren<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 827


politischen Kräften eingestehe, man dann "folglich" die Macht nicht annehmen dürfe ...<br />

So urteilen "Menschen im Futteral", die nicht daran denken, daß ein "richtiges Verhältnis"<br />

niemals bestehen wird, daß es ein solches we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Naturentwicklung noch in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaftsentwicklung geben kann, daß nur durch eine Reihe von Versuchen - von<br />

denen je<strong>der</strong>, einzeln genommen, einseitig sein, unter einem gewissen Mißverhältnis<br />

leiden wird - in revolutionärer Bundesgenossensehaft <strong>der</strong> Proletarier aller Län<strong>der</strong> ein<br />

unversehrter Sozialismus entstehen kann.« Die Schwierigkeiten <strong>der</strong> internationalen<br />

<strong>Revolution</strong> werden überwunden nicht durch passive Anpassung, nicht durch Verzicht auf<br />

die Macht, nicht durch nationales Warten auf den allgemeinen Aufstand, son<strong>der</strong>n durch<br />

die lebendige Tat, die Überwindung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche, durch den dynamischen Kampf<br />

und die Verbreitung seines Radius'.<br />

Nimmt man die historische Philosophie <strong>der</strong> Epigonen ernst, dann hätten die Bolschewiki<br />

am Vorabend des Oktobers im voraus wissen müssen: sowohl daß man sich gegen<br />

eine Unzahl von Feindcn werde halten können, wie daß man vom Kriegskommunismus<br />

zur Nep übergehen und im Notfalle seirsen eigenen nationalen Sozialismus aufbauen<br />

werde; kurz, ehe sie daran gingen, die Macht zu übernehmen, hätten sie eine genaue<br />

Bilanz ziehen und das Aktiv-Saldo berechnen müssen. Was indes in Wirklichkeit<br />

geschah, ähnelte sehr wenig dieser frommen Karikatur.<br />

Im Bericht auf dem Parteitag im März 1919 sagte Lenin: »Wir mußten uns stets tastend<br />

vorwärtsbewegen. Diese Tatsache ist am augenfälligsten, wenn wir versuchen, das<br />

Durchlebte mit einem Blick zu erfassen. Doch hat uns das sogar am 10. Oktober 1917<br />

nicht im geringsten schwankend gemacht, als die Frage <strong>der</strong> Machtergreifung zur<br />

Entscheidung stand. Wir zweifelten nicht, daß wir gezwungen sein würden, nach dem<br />

Ausdruck des Genossen Trotzki, zu experimentieren - eineis Versuch zu machen. Wir<br />

unternahmen eine Sache, wie sie in solchem Maßstabe noch keiner unternonsosen<br />

hat.« Und weiter: »Wer hätte jemals eine <strong>der</strong> größten <strong>Revolution</strong>en machen und im<br />

voraus wissen können, wie sie zu Ende führen? Woher ist ein solches Wissen zu holen?<br />

Man kann es aus Büchern nielst schöpfen. Solche Bücher gibt es nicht. Nur aus <strong>der</strong><br />

Erfahrung <strong>der</strong> Massen konnte unser Entschluß geboren werden.«<br />

Eine Garantie, daß man in Rußland eine sozialistische Gesellschaft aufbauen kann,<br />

haben die Bolschewiki nicht gesucht, sie hatten sie nicht nötig, mit ihr war nichts<br />

anzufangen, sie wi<strong>der</strong>sprach allem, was sie in <strong>der</strong> Schule des Marxismus gelernt hatten.<br />

»Die Taktik <strong>der</strong> Bolschewiki«, schrieb Lenin gegen Kautsky, »war die einzig internationalistische<br />

Taktik, denn sie beruhte nicht auf ängstlicher Furcht vor <strong>der</strong> Weltrevolution,<br />

nicht auf spießbürgerlichem Unglauben an sie...« Die Bolschewiki »setzten das<br />

Maximum des in einem Lande zu Verwirklichenden durch zwecks Entwicklung, Unterstützuisg<br />

und Erweckung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in allen Län<strong>der</strong>n«. Bei dieser Taktik war es<br />

unmöglich, im voraus eine unfehlbare Marschronte zu entwerfen, und noch weniger<br />

konnte man sieh seines nationalen Sieges versichern. Aber die Bolschewiki wußten:<br />

Gefahr ist ein Element <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wie des Krieges. Mit offenen Augen gingen sie<br />

den Gefahren entgegen.<br />

Während er dem Weltproletariat vorwurfsvoll als Beispiel anführte, wie kühn die<br />

Bourgeoisie im Namen eigener Interessen Kriege riskiert, brandmarkte Lenin voller Haß<br />

jene <strong>Sozialisten</strong>, die »Angst haben, den Kampf zu beginnen, bevor nicht <strong>der</strong> leichte Sieg<br />

"garantiert" ist ... Eine dreifache Verachtung verdienen jene Knoten des internationalen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 828


Sozialismus, jene Lakaien <strong>der</strong> bürgerlichen Moral, die so denken«. Bekanntlich machte<br />

sich Lenin nicht viel Mühe bei <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Ausdrücke, wenn Empörung ihm die Kehle<br />

würgte.<br />

»Und was tun«, forscht Stalin, »wenn es <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> beschieden ist,<br />

mit Verspätung einzutreffen? Gibt es irgendeinen Ausblick für unsere <strong>Revolution</strong>?<br />

Trotzki läßt keinen Ausblick.« Die Epigonen for<strong>der</strong>n für das russische Proletariat historische<br />

Privilegien: es muß fertige Geleise haben, um sich ununterbrochen zum Sozialismus<br />

zu bewegen, unabhängig davon, was mit <strong>der</strong> übrigen Menschheit geschieht. Lei<strong>der</strong> hat<br />

die <strong>Geschichte</strong> solche Geleise nicht vorbereitet. »Im welthistorischen Maßstabe<br />

gesehen«, sagte Lenin auf dem VII. Parteitag, »unterliegt es keinem Zweifel, daß <strong>der</strong><br />

Ensdsieg unserer <strong>Revolution</strong>, bliebe sie vereinsamt ... hoffnungslos wäre.«<br />

Aber auch in diesem Fall wäre sie nicht unfruchtbar gewesen. »Sogar wenn die<br />

bolschewistische Macht morgen von den Imperialisten gestürzt werden sollte«, sagte<br />

Lenin im Mai 1919 auf dem Pädagogenkongreß, »wir würden nicht eine Sekunde bereuen,<br />

sie ergriffen zu haben. Und nicht ein einziger fortgeschrittener Arbeiter ... wird es<br />

bereuen, wird daran zweifeln, daß unsere <strong>Revolution</strong> nichtsdestoweniger gesiegt hat.«<br />

Denn Lenin sieht den Sieg nur in <strong>der</strong> internationalen Kontinuität <strong>der</strong> Entwicklung und<br />

des Kampfes. »Die neue Gesellschaft ... ist eine Abstraktion, die nicht an<strong>der</strong>s Leben<br />

erhalten kann als durch eine Reihe mannigfaltiger, unvollkommener, konkreter<br />

Versuche, den einen o<strong>der</strong> den an<strong>der</strong>en sozialistischen Staat zu schaffen.« Die deutliche<br />

Scheidung und im gewissen Sinne Gegenüberstellung von »sozialistischem Staat« und<br />

»neuer Gesellschaft« gibt den Schlüssel zu zahlreichen Mißbräuchen, die die Epigonenliteratur<br />

mit den Leninsehen Texten treibt.<br />

Mit äußerster Einfachheit setzte Lenin am Schluß des fünften Jahres <strong>der</strong> Machteroberong<br />

den Sinn <strong>der</strong> bolschewistischen Strategie auseinan<strong>der</strong>. »Als wir seinerzeit die internationale<br />

<strong>Revolution</strong> begannen, taten wir das nicht aus <strong>der</strong> Überzeugung heraus, daß<br />

wir ihrer Entwicklung zuvorkommen könnten, sori<strong>der</strong>n weil eine ganze Reihe von<br />

Umständen uns bewog, diese <strong>Revolution</strong> zu beginnen. Wir dachten: entwe<strong>der</strong> wird uns<br />

die internationale <strong>Revolution</strong> zu Hilfe kommen, dann sind unsere Siege vollauf gesichert,<br />

o<strong>der</strong> aber wir werden unsere bescheidene revolutionäre Arbeit weiter tun im Bewußtsein,<br />

daß wir, im Falle einer Nie<strong>der</strong>lage, trotzdem <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> dienen und daß<br />

unsere Erfahrung den an<strong>der</strong>en <strong>Revolution</strong>en nützlich sein wird. Es war uns klar, ohne<br />

Unterstützung seitens <strong>der</strong> internationalen, <strong>der</strong> Weltrevolution, ist ein Sieg <strong>der</strong> proletarischen<br />

<strong>Revolution</strong> unmöglich. Schon vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und auch später haben wir<br />

gedacht: gleich o<strong>der</strong> doch wenigstens sehr bald wird die <strong>Revolution</strong> in den übrigen<br />

kapitalistisch entwickelteren Län<strong>der</strong>n beginnen, an<strong>der</strong>nfalls sind wir verloren. Trotz<br />

dieser Einsicht taten wir alles, um unter allen Umständen und um jeden Preis das<br />

Sowjetsystem zu halten, da wir wußten, daß wir nicht nur für uns allein arbeiten, son<strong>der</strong>n<br />

auch für die internationale <strong>Revolution</strong>. Wir wußten das, wir haben diese Überzeugung<br />

wie<strong>der</strong>holt ausgesprochen, vor <strong>der</strong> Oktoberrevolution wie auch unmittelbar nach ihr, wie<br />

auch in <strong>der</strong> Zeit des Brest-Litowsket Friedensabschlusses, Und das war, allgemein<br />

gesprochen, richtig.« Die Fristen hatten sieh verschoben, die Konturen <strong>der</strong> Ereignisse<br />

sich in vielem ungeahnt gestaltet, doch die Grundorientierung war unverän<strong>der</strong>t<br />

geblieben.<br />

Was läßt sich diesen Worten hinzufügen? »Wir begannen ... die internationale Revolu-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 829


tion.« Tritt die Umwälzung im Westen nicht »gleich o<strong>der</strong> wenigstens sehr bald ein«,<br />

dachten die Bolschewiki, »sind wir verloren«. Aber auch in diesem Falle wird die<br />

Machteroberung gerechtfertigt sein: aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Zugrundegegangenen werden<br />

an<strong>der</strong>e lernen. »Wir arbeiten nicht nur für uns, son<strong>der</strong>n auch für die internationale<br />

<strong>Revolution</strong>.« Diese vom Internationalismus völlig durchdrungenen Ideen setzte Lenin auf<br />

einem Kongreß <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> auseinan<strong>der</strong>. Wi<strong>der</strong>sprach ihm<br />

jemand? Erwähnte jemand die Möglichkeit einer nationalen sozialistischen Gesellschaft?<br />

Keiner und nicht mit einem Wort!<br />

Fünf Jahre später, im VII. Plenum des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>,<br />

entwickelte Stalin Betrachtungen gerade entgegengesetzten Charakters. Sie<br />

sind uns bereits bekannt: bestehe keine »Überzeugung von <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaus<br />

des Sozialismus in einem Lande«, dann müsse die Partei übergehen »von <strong>der</strong> Lage einer<br />

Regierungs- in die Lage einer Oppositionspartei...« Man müsse sich vorerst des Erfolges<br />

versichern, bevor man die Macht nimmt; diese Versicherung sei nur in den nationalen<br />

Bedingungen zu suchen erlaubt; man müsse von <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus<br />

im bäuerlichcn Rußland überzeugt sein; dafür aber könne man ohne die Überzeugung<br />

von dem Sieg des Weltproletariats auskommen. Jedes dieser logischen Glie<strong>der</strong><br />

schlägt <strong>der</strong> Tradition des Bolschewismus ins Gesicht!<br />

Zur Verschleierung des Bruches mit <strong>der</strong> Vergangenheit versuchte die Stalinsche<br />

Schule einige Leninsche Zeilen auszunutzen, die ihr am wenigsten unpassend schienen.<br />

Ein Artikel von 1915 über die Vereinigten Staaten von Europa enthält nebenbei die<br />

Bemerkung, die Arbeiterklasse müsse in jedem Lande die Macht erobern und zum sozialistischen<br />

Aufbau schreiten, ohne auf die an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong> zu warten. Verbirgt sich hinter<br />

diesen unbestreitbaren Zeilen <strong>der</strong> Gedanke an eine nationale sozialistische Gesellschaft,<br />

wie konnte ihn Lenin im Laufe <strong>der</strong> folgenden Jahre so gründlich vergessen und ihm auf<br />

Schritt und Tritt so beharrlich wi<strong>der</strong>sprechen? Doch man braucht nicht zu indirekten<br />

Argumenten zu greifen, wenn es direkte gibt. Die von Lenin im gleichen Jahre, 1915,<br />

ausgearbeiteten Programmthesen beantworten die Frage präzis und unmittelbar:<br />

»Aufgabe des <strong>russischen</strong> Proletariats ist - die bürgerlich-demokratische <strong>Revolution</strong> in<br />

Rußland zu Ende zu führen, um die sozialistische <strong>Revolution</strong> in Europa zu entfachen.<br />

Diese zweite Aufgabe hat sich jetzt <strong>der</strong> ersten außerordentlich genähert, aber sie bleibt<br />

doch eine beson<strong>der</strong>e zweite Aufgabe, denn es handelt sich um verschiedene Klassen, die<br />

mit dem <strong>russischen</strong> Proletariat gemeinsam kämpfen: für die erste Aufgabe ist sein<br />

Kampfgenosse - die kleinbürgerliche Bauernschaft Rußlands, für die zweite - das Proletariat<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>.« Größere Klarheit kann man nicht veriangen.<br />

Die zweite Berufung auf Lenin ist nicht begründeter. Ein unvollendeter Artikel von<br />

ihm über die Genossenschaften sagt, in <strong>der</strong> Sowjetrepublik sei »alles Notwendige und<br />

Ausreichende« vorhanden, um ohne neue <strong>Revolution</strong>en den Übergang zum Sozialismus<br />

zu vollziehen: die Rede ist, wie aus dem Text ganz klar hervorgeht, von politischen und<br />

rechtlichen Voraussetzungen. Der Autor unterläßt es nicht, an die mangelnden industriellen<br />

und kulturellen Voraussetzungen zu erinnern. Diesen Gedanken hatte Lenin<br />

überhaupt mehr als einmal wie<strong>der</strong>holt. »Uns ... fehlt es«, schrieb er in einem an<strong>der</strong>en<br />

Artikel <strong>der</strong> gleichen Zeit, Anfang 1923, »an Zivilisation, um unmittelbar zum Sozialismus<br />

überzugehen, obwohl wir die pohtischen Voraussetzungen dafür besitzen.« In<br />

diesem wie in allen an<strong>der</strong>en Fällen ging Lenin davon aus, daß neben dem <strong>russischen</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 830


Proletariat und als dessen Avantgarde das Proletariat des Westens zum Sozialismus<br />

marschieren wird. Der Artikel über die Genossenschaften enthält auch nicht die geringste<br />

Anspielung darauf, daß die Sowjetrepublik auf reformistische und harmonische Weise<br />

ihren eigenen nationalen Sozialismus schaffen kann, anstatt im Prozeß <strong>der</strong> anragonistisehen<br />

und revolutionären Entwicklung sich in die sozialistische Weltgesellschaft einzuglie<strong>der</strong>n.<br />

Beide Zitate, sogar in den Programmtext <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />

eingegangen, sind längst in unserer "Kritik des Programms" erläutert worden, wobei die<br />

Gegner es kein einziges Mal versuchten, ihre Sinnentstellungen und Irrtümer zu verteidigen.<br />

Allerdings wäre ein solcher Versuch auch hoffnungslos gewesen.<br />

Im März 1923, das heißt gerade in <strong>der</strong> letzten Periode seiner schöpferischen Arbeit,<br />

schrieb Lenin: »Wir stehen ... im gegenwärtigen Augenblick vor <strong>der</strong> Frage: Wird es uns<br />

bei unserer bäuerlichen Klein- und Kleinstproduktion, bei unserem Wirtschaftsruin<br />

gelingen, uns so lange zu halten, bis die westeuropäischen kapitalistischen Län<strong>der</strong> ihre<br />

Entwicklung zum Sozialismus vollbracht haben werden?« Wir sehen wie<strong>der</strong>um: verschoben<br />

sind die Fristen, verän<strong>der</strong>t ist das Gewebe <strong>der</strong> Ereignisse, aber unerschütterlich bleibt<br />

die internationale Grundlage <strong>der</strong> Politik. Der Glaube an die internationale <strong>Revolution</strong> -<br />

nach Stalin: <strong>der</strong> »Unglaube« an die inneren Kräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - hat den<br />

großen Internationalisten bis zum Grabe begleitet. Erst nachdem sie Lenin durch ein<br />

Mausoleum erdrückt hatten, erhielten die Epigonen die Möglichkeit, seine Ansichten zu<br />

nationalisieren.<br />

Aus <strong>der</strong> internationalen Arbeitsteilung, aus <strong>der</strong> Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Län<strong>der</strong>, aus <strong>der</strong>en ökonomischen Wechselbeziehungen, aus <strong>der</strong><br />

Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> verschiedenen Teile <strong>der</strong> Kultur in den einzelnen Län<strong>der</strong>n, aus <strong>der</strong><br />

Dynamik <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Produktivkräfte ergibt sich, daß die Errichtung <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaftsordnung nur möglich ist nach einem System <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Spirale durch Verteilung innerer Mißverhältnisse eines einzelnen Landes auf eine ganze<br />

Län<strong>der</strong>gruppe, durch gegenseitige Hilfeleistung verschiedener Län<strong>der</strong> und gegenseitige<br />

Ergänzung <strong>der</strong> verschiedenen Zweige ihrer Wirtschaft und Kultur, das heißt letzten<br />

Endes nur möglich ist in <strong>der</strong> Weltarena.<br />

Das alte, im Jahre 1903 angenommene Parteiprogramm beginnt mit den Worten: »Die<br />

Entwicklung des Warenaustausches hat eine so enge Verbindung zwischen den Völkern<br />

<strong>der</strong> zivilisierten Welt hergestellt, daß die große Befreiungsbewegung des Proletariats<br />

international werden mußte und längst geworden ist...« Die Vorbereitung des Proletariats<br />

für die bevorstehende soziale <strong>Revolution</strong> wird als Aufgabe <strong>der</strong> "internationalen Sozialdemokratie"<br />

bezeichnet. Jedoch, »auf dem Wege zum gemeinsamen Endziel ... sind die<br />

Sozialdemokraten <strong>der</strong> verschiedenen Län<strong>der</strong> gezwungen, sich ungleichartige nächste<br />

Aufgaben zu stellen«. In Rußland ist eine solche Aufgabe <strong>der</strong> Sturz des Zarismus. Die<br />

demokratische <strong>Revolution</strong> wird im voraus als nationale Stufe zur internationalen sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> betrachtet.<br />

Die gleiche Konzeption bildet die Grundlage des neuen, schon nach <strong>der</strong> Machtergreifung<br />

durch die Partei angenommenen Programms. Bei <strong>der</strong> vorangegangenen Beratung<br />

des Programmentwurfs auf dem VII. Parteitag brachte Miljutin eine redaktionelle<br />

Verbessernng zu Lenins Resolution ein: »Ich schlage vor«, sagte er, »die Worte "internationale<br />

sozialistische <strong>Revolution</strong>" dort einzufügen, wo "von <strong>der</strong> begonnenen Ära <strong>der</strong><br />

sozialen <strong>Revolution</strong>" gesprochen wird ... Ich glaube, die Begründung dafür erübrigt sich<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 831


... Unsere soziale <strong>Revolution</strong> kann nur siegen als internationale <strong>Revolution</strong>. Sie kann<br />

nicht in Rußland siegen, während in den es einkreisenden Län<strong>der</strong>n das bürgerliche<br />

Regime bestehen bleibt ... Ich schlage vor, zur Vermeidung von Mißverständnissen dieses<br />

einzufügen.« Der Vorsitzende Swerdlow: »Genosse Lenin akzeptiert diese Verbesserung,<br />

so daß sich eine Abstimmung erübrigt.« Die kleine Episode <strong>der</strong> parlamentarischen<br />

Technik (»Die Begründung erübrigt sich«, und »eine Abstimmung erübrigt sich«!) stößt<br />

die falsche Historiographie <strong>der</strong> Epigonen vielleicht überzeugen<strong>der</strong> um als die sorgfältigste<br />

Forschung Die Tatsache, daß Miljutin, wie auch <strong>der</strong> oben zitierte Skworzow-Stepanow,<br />

wie Hun<strong>der</strong>te und Tausende an<strong>der</strong>er ihre eigenen Ansichten bald als "Trotzkismus"<br />

verurteilen werden, än<strong>der</strong>t nichts an <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Dinge. Große historische Ströme sind<br />

stärker ab die menschlichen Rückgrate. Die Flut erhebt, und die Ebbe spült ganze politische<br />

Generationen hinweg. An<strong>der</strong>erseits besitzen Ideen die Fähigkeit, weiterzuleben<br />

auch nach dem physischen o<strong>der</strong> geistigen Tode ihrer Träger.<br />

Ein Jahr später, auf dem VIII. Parteitag, <strong>der</strong> das neue Programm bestätigte, wurde die<br />

gleiche Frage im Austausch scharfer Repliken zwischen Lenin und Podbelski erneut<br />

beleuchtet. Der Moskauer Delegierte hatte dagegen protestiert, daß trotz <strong>der</strong> Oktoherumwälzung<br />

von <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> noch immer in Zukunftsform gesprochen wird.<br />

»Podbelski beanstandete«, sagt Lenin, »daß in einem <strong>der</strong> Paragraphen von <strong>der</strong> bevorstehenden<br />

sozialen <strong>Revolution</strong> gesprochen wird ... Dieses Argument ist offensichtlich<br />

unstichhaltig, denn in unserem Programm ist die Rede von <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> im<br />

Weltmaßstabe.« Wahrhaftig, die Parteigeschichte ließ den Epigonen nicht eine einzige<br />

unbeleuchtete Deckung!<br />

In dem 1921 angenommenen Programm des Komsomol (Jugendverband) ist die<br />

gleiche Frage in beson<strong>der</strong>s populärer und einfacher Form dargelegt. »Rußland besitzt<br />

zwar ungeheure Naturreichtümer«, lautet einer <strong>der</strong> Paragraphen, »ist aber in industrieller<br />

Hinsicht ein rückständiges Land, in dem die kleinbürgerliche Bevölkerung überwiegt.<br />

Es kann zum Sozialismus kommen nur durch die proletarische Weltrevolution, <strong>der</strong>en<br />

Entwicklungsepoche wir beschritten haben.« Dieses seinerzeit vom Politischen Büro<br />

(Politbüro) unter Beteiligung nicht nur von Lenin und Trotzki, son<strong>der</strong>n auch von Stalin<br />

angenommene Programm behielt seine volle Kraft noch bis zum Herbst 1926, wo das<br />

Exekutivkomitee <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> die Nichtanerkennung des Sozialismus<br />

in einem Lande einer Todsünde gleichstellte.<br />

In den folgenden zwei Jahren sehen sich jedoch die Epigonen gezwungen, die<br />

Programmdokumente <strong>der</strong> Leninschen Epoche ins Archiv zu tun. Dem aus Stückchen<br />

zusammengekleisterten neuen Dokument gaben sie den Namen Programm <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

<strong>Internationale</strong>, War bei Lenin im "<strong>russischen</strong>" Programm die Rede von <strong>der</strong><br />

internationalen <strong>Revolution</strong>, ist bei den Epigonen im internationalen Programm die Rede<br />

vom »<strong>russischen</strong>« Sozialismus.<br />

Wann und wie offenbarte sich zum erstenmal <strong>der</strong> Bruch mit <strong>der</strong> Vergangenheit? Das<br />

historische Datum ist um so leichter zu bezeichnen, als es mit dem Markstein in Stalins<br />

Biographie zusammenfällt. Noch im April 1924, drei Monate nach Lenins Tod, legte<br />

Stalin bescheiden die traditionellen Ansichten <strong>der</strong> Partei dar. »...Die Macht <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einens Lande errichten«, schrieb<br />

er in seinen "Problemen des Leninisissus", »heißt noch nicht den vollen Sieg des Sozialismus<br />

sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus - Organisierung <strong>der</strong> sozialistischen<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 832


Produktion - steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen<br />

Sieg des Sozialismus in einens Lande erreichen ohne gemeinsame Anstrengungen<br />

<strong>der</strong> Proletarier einiger fortgeschrittener Län<strong>der</strong>? Nein, das ist nicht möglich. Zum Sturze<br />

<strong>der</strong> Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes - das sagt uns die <strong>Geschichte</strong><br />

unserer <strong>Revolution</strong>. Für den endgültigen Sieg des Sozialismus, für die Organisierung <strong>der</strong><br />

sozialistischen Produktion sind die Anstrengungen eines Landes, beson<strong>der</strong>s eines so<br />

bäuerlichen Landes wie Rußland, schon ungenügend - dazu sind die Anstrengungen <strong>der</strong><br />

Proletarier einiger fortgeschrittener Län<strong>der</strong> nötig...« Die Darlegung dieser Gedanken<br />

schließt Stalin mit den Worten: »Das sind im allgemeinen die charakteristischen Züge<br />

<strong>der</strong> Leninsehen Theorie <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>.«<br />

Gegen Herbst desselben Jahres ergab sich plötzlich, unter dem Einfluß des Kampfes<br />

gegen den Trotzkismus, daß gerade Rußland, zum Unterschiede von den an<strong>der</strong>en<br />

Län<strong>der</strong>n, mit eigenen Kräften die sozialistische Gesellschaft aufbauen kann, wenn es<br />

durch eine Intervention von außen nicht gestört wird ... »Nachdem es seine Macht<br />

gesichert hat und die Bauernschaft hinter sieh führt«, schrieb Stalin in <strong>der</strong> neuen Auflage<br />

<strong>der</strong> gleichen Arbeit, »kann und muß das Proletariat des siegreichen Landes die sozialistische<br />

Gesellschaft aufbauen.« Kann und muß! Nur zu dem Zwecke, um »das Land<br />

gegen eine Intervention zu sichern ... ist <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> notwendig wenigstens in<br />

einigen Län<strong>der</strong>n«. Die Proklamierung dieser neuen Konzeption, die dem Weltproletariat<br />

die Rolle einer Grenzwache zuweist, schließt mit den gleichen Worten: »...Das sind im<br />

allgemeinen die charakteristischen Züge <strong>der</strong> Leninschen Theorie <strong>der</strong> proletarischen<br />

<strong>Revolution</strong>.« Im Verlaufe eines Jahres unterschiebt Stalin Lenin zwei direkt entgegengesetzte<br />

Ansichten über die Kernfrage des Sozialismus.<br />

Im Plenum des Zentralkomitees 1927 sagte Trotzki bezüglich <strong>der</strong> zwei entgegengesetzten<br />

Ansichten von Stalin: »Man kann sagen Stalin hat geirrt und sich dann korrigiert.<br />

Aber wie konnte er <strong>der</strong>art irren und in einer solchen Frage? Wenn es richtig ist, daß<br />

Lenin schon im Jahre 1915 die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande<br />

aufgestellt hat (was in <strong>der</strong> Wurzel falsch ist); wenn es richtig ist, daß Lenin später diesen<br />

Standpunkt nur bekräftigt und entwickelt hat (was in <strong>der</strong> Wurzel falsch ist), wie konnte<br />

dann, fragt es sich, Stalin in einer so wichtigen Frage bei Lenins Lebzeiten und in Lenins<br />

letzter Lebensperiode sich jene Ansicht aneignen, die mi Stalinschen Zitat vom Jahre<br />

1924 ihren Ausdruck fand? Es ergibt sich, daß Stalin in dieser Kernfrage einfach stets<br />

Trotzkist war und erst nach dem Jahre 1924 aufhörte, es zu sein ... Es wäre nicht übel,<br />

wenn Stalin bei sich auch nur ein Zitat finden würde, welches beweist, daß er auch vor<br />

1924 vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande gesprochen hat. Er wird es nicht<br />

finden!« Auf diese Herausfor<strong>der</strong>ung erfolgte keine Antwort.<br />

Man darf jedoch die tatsächliche Tiefe <strong>der</strong> Wendung, die Stalin vollzog, nicht übertreiben.<br />

Wie in den Fragen des Krieges und <strong>der</strong> Stellung zur Provisorisehen Regierung o<strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> nationalen Frage, so hatte Stalin auch in <strong>der</strong> Frage über die allgemeinen Perspektiven<br />

<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zwei Positionen: eine selbständige, organische, nicht immer ausgesprochene<br />

o<strong>der</strong> jedenfalls nicht eindeutig ausgesprochene, und eine an<strong>der</strong>e -<br />

konventionelle, phraseologische, bei Lenin entlehnte. Insofern es sich um Menschen<br />

einer gleichen Partei handelt, kann man sich keine tiefere Kluft vorstellen als die, die<br />

Stalin von Lenin trennt, sowohl in Kernfragen <strong>der</strong> revolutionären Konzeption wie auch<br />

in <strong>der</strong> politischen Psychologie. Stalins opportunistische Natur wird dadurch maskiert,<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 833


daß er sich auf eine siegreiche proletarische <strong>Revolution</strong> stützt. Doch sahen wir Stalins<br />

selbständige Position im März 1917: im Rücken die schon vollzogene bürgerliche<br />

<strong>Revolution</strong>, stellte er als Aufgabe <strong>der</strong> Partei hin »Bremsung <strong>der</strong> Absplitterung« <strong>der</strong><br />

Bourgeoisie, das heißt, er wi<strong>der</strong>setzte sich faktisch <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>. Daß<br />

sie geschah, ist nicht seine Schuld. Zusammen mit <strong>der</strong> gesamten Bürokratie stellte sich<br />

Stalin auf den Boden <strong>der</strong> Tatsache. Gibt es die Diktatur des Proletariats, dann muß es<br />

auch Sozialismus geben. Indem er die Argumente <strong>der</strong> Mensehewiki gegen die proletarische<br />

<strong>Revolution</strong> in Rußland nach <strong>der</strong> Kehrseite wendete, begann Stalin, sich durch die<br />

Theorie des Sozialismus in einem Lande gegen die internationale <strong>Revolution</strong> abzugrenzen.<br />

Und da er prinzipielle Fragen niemals bis zu Ende durchdachte, so mußte es ihm<br />

scheinen, er habe "eigentlich" stets so gedacht wie im Herbst 1924. Und da er darüber<br />

hinaus sich niemals in Gegensatz zu <strong>der</strong> herrschenden Parteinstimmung gestellt hatte, so<br />

mußte es ihm scheinen, die Partei habe "eigentlich" ebenso gedacht wie er.<br />

Ursprünglich hatte die Unterstellung unbewußten Charaktcr. Es ging nicht um<br />

Fälschung, son<strong>der</strong>n um ideologische Mauserung. Aber in dem Maße, wie die Doktrin des<br />

nationalen Sozialismus auf eine gut ausgerüstete Kritik stieß, wurde eine organisierte,<br />

hauptsächlich chirurgische Eimischung des Apparates notwendig. Die Theorie des nationalen<br />

Sozialismus wurdc dekretiert. Man begann, sie mit <strong>der</strong> Methode vom Entgegengesetzten<br />

zu beweisen: durch Verhaftungen jener, die sie nicht teilten. Gleichzeitig begann<br />

eine Ära <strong>der</strong> systematischen Umarbeitung <strong>der</strong> Parteivergangenheit. Die Parteigeschichte<br />

verwandelte sich in ein Palimpsest. Die Zerstörung <strong>der</strong> Pergamente geht bis auf den<br />

heutigen Tag, und zwar mit immer wachsen<strong>der</strong> Raserei.<br />

Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung waren immerhin nicht die Repressalien und Fälschungen.<br />

Der Triumph <strong>der</strong> neuen Ansichten, die <strong>der</strong> Lage und den Interessen <strong>der</strong> Bürokratie<br />

entsprechen, stützte sich auf objektive - vorübergehende, aber sehr mächtige - Umstände.<br />

Die Möglichkeiten, die sich vor <strong>der</strong> Sowjetrepublik innen- wie außenpolitisch eröffneten,<br />

erwiesen sich viel größer, als es jemand vor <strong>der</strong> Umwälzung hätte glauben können. Der<br />

isolierte Arbeiterstaat blieb nicht nur inmitten einer Unzahl von Feinden bestehen,<br />

son<strong>der</strong>n stieg auch ökonomisch. Diese schwerwiegenden Tatsachen formten die gesellschaftliche<br />

Meinung <strong>der</strong> jungen Generation, die noch nicht gelernt hat, historisch zu<br />

denken, das heißt, Vergleiche zu ziehen und vorauszusehen.<br />

Die europäische Bourgeoisie hatte sich am letzten Krieg zu stark verbrannt, um sich<br />

leicht zu einem neuen zu entschließen. Die Angst vor revolutionären Folgen paralysierte<br />

bis jetzt die Pläne einer kriegerischen Einmischung. Doch ist <strong>der</strong> Angstfaktor kein dauerhafter<br />

Faktor. Eine drohende <strong>Revolution</strong> hat noch niemals die <strong>Revolution</strong> selbst ersetzt.<br />

Eine Gefahr, die sich lange nicht realisiert, verliert ihre Wirkung. Gleichzeitig strebt <strong>der</strong><br />

unversöhnliche Gegensatz zwischen dem Arbeiterstaat und <strong>der</strong> Welt des Imperialismus<br />

nach außen durchzubrechen. Die Ereignisse <strong>der</strong> jüngsten Zeit sind <strong>der</strong>art beredt, daß die<br />

Hoffnungen auf eine "Neutralisierung" <strong>der</strong> Weltbourgeoisie bis zur Vollendung des<br />

sozialistischen Aufbaus heute von <strong>der</strong> regierenden Fraktion aufgegeben sind; im gewissen<br />

Sinne haben sie sich sogar in ihren Gegensatz verwandelt.<br />

Die während <strong>der</strong> Friedensjahre erreichten industriellen Erfolge bilden für alle Zeiten<br />

einen erkämpften Beweis für die unvergleichlichen Vorteile <strong>der</strong> Planwirtschaft. Diese<br />

Tatsache steht in keinem Wi<strong>der</strong>spruch zum internationalen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: <strong>der</strong><br />

Sozialismus könnte sich auch in <strong>der</strong> Weltarena nicht verwirklichen, wenn seine Elemente<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 834


und Stützpunkte in den einzelnen Län<strong>der</strong>n nicht vorbereitet sind. Es ist kein Zufall, daß<br />

gerade die Gegner <strong>der</strong> Theorie des nationalen Sozialismus die Verfechter <strong>der</strong> Industrialisierung,<br />

des Planprinzips, des Fünfjahrplanes und <strong>der</strong> Kollektivisierung waren. Den<br />

Kampf um eine kühne Wirtschaftsinitiative bezahlt Rakowski und mit ihm Tausende<br />

an<strong>der</strong>er Bolschewiki mit Jahren Verbannung und Gefängnis. Aber an<strong>der</strong>erseits waren sie<br />

es auch, die sich als erste wi<strong>der</strong> die Überschätzung <strong>der</strong> erreichten Resultate und wi<strong>der</strong> die<br />

nationale Selbstzufriedenheit wandten. Dagegen haben sich die mißtrauischen und<br />

kurzsichtigen "Praktiker", die anfangs geglaubt hatten, das Proletariat des rückständigen<br />

Rußland werde außerstande sein, die Macht zu erobern, und die nach <strong>der</strong> Machteroberung<br />

die Möglichkeit einer weitgehenden Industrialisierung und Kollektivisierung<br />

bestritten, sich dann auf den entgegengesetzten Standpunkt gestellt die ihren eigenen<br />

Erwartungen zuwi<strong>der</strong> errungenen Erfolge multiplizierten sie einfach mit einer Reihe von<br />

Fünijahrplänen und ersetzten die historische Perspektive durch das Einmaleins - das eben<br />

ist die Theorie des Sozialismus in einem Lande.<br />

In Wirklichkeit bleibt das Wachsen <strong>der</strong> heutigen Sowjetwirtschaft ein antagonistischer<br />

Prozeß. Indem sie den Arbeiterstaat festigen, führen die ökonomischen Erfolge keinesfalls<br />

automatisch zur Schaffung einer harmonischen Gesellschaft. Im Gegenteil, sie<br />

bereiten auf einer höheren Grundlage die Zuspitzung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche des isolierten<br />

sozialistischen Aufbaus vor. Das russische Dorf bedarf nach wie vor eines wirtschaftlichen<br />

Gesamtplanes mit <strong>der</strong> europäischen Stadt. Die internationale Arbeitsteilung steht<br />

über <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats in einem Lande und schreibt ihr gebieterisch die weiteren<br />

Wege vor. Die Oktoberussiwälzung hat Rußland von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> übrigen<br />

Menschheit nicht ausgeschlossen, im Gegenteil, sie hat es mit ihr noch enger verbunden<br />

Rußland ist nicht mehr das Getto <strong>der</strong> Barbarei, aber auch noch hicht das Arkadien des<br />

Sozialismus. Es ist das hervorragendste Übergangsland in unserer Übergangsepoche.<br />

»Die russische <strong>Revolution</strong> ist nur ein Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong>.«<br />

Der heutige Stand <strong>der</strong> Weltwirtschaft erlaubt es, ohne Bedenken zu sagen: <strong>der</strong> Kapitalismus<br />

ist viel näher an die proletarische <strong>Revolution</strong> herangegangen als die Sowjetunion an<br />

den Sozialismus. Das Schicksal des ersten Arbeiterstaates ist untrennbar verbunden mit<br />

dens Schicksal <strong>der</strong> Befreiungsbewegung im Westen und im Osten. Doch dieses große<br />

Thema erfor<strong>der</strong>t eine selbständige Untersuchung. Wir hoffen, zu ihm zurückzukehren.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 835


Eine geschichtliche Information zur Frage über die Theorie<br />

<strong>der</strong> "permanenten <strong>Revolution</strong>"<br />

Im Anhang zum ersten Band <strong>der</strong> "<strong>Geschichte</strong>" brachten wir längere Auszüge aus einer<br />

Artikelserie, geschrieben vom Autor dieser Arbeit im März 1917 in New York, und aus<br />

seinen späteren polemischen Aufsätzen gegen Professor Pokrowski. In beiden Fällen<br />

handelt es sich um die Analyse <strong>der</strong> Triebkräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong>, zum Teil auch <strong>der</strong> internationalen<br />

<strong>Revolution</strong>. Am Wetzstein dieser Frage wurden im <strong>russischen</strong> revolutionären<br />

Lager seit Beginn des Jahrhun<strong>der</strong>ts grundlegende prinzipielle Gruppierungen festgelegt.<br />

Mit dens Anwachsen <strong>der</strong> revolutionären Flut gewannen sie immer mehr programmatischstrategischen<br />

und schließlich auch unmittelbar taktischen Charakter. Die Jahre 1903-<br />

1906 bilden eine Periode intensiver Formierung <strong>der</strong> politischen Richtungen in <strong>der</strong><br />

damaligen <strong>russischen</strong> Sozialdemokratie. Auf jene Zeit bezieht sieh unsere Arbeit "Ergebnisse<br />

und Perspektiven". Sie wurde bruchstückweise und aus verschiedenartigen Anlässen<br />

geschrieben. Die Gefängnishaft von Dezember 1905 erlaubte dem Autor, seine<br />

Ansichten über den Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Perspektiven systematischer<br />

darzustellen. Als Buch erschien diese Gesamtarbeit russisch im Jahre 1906.<br />

Damit die aus ihm unten abgedruckten Auszüge im Bewußtsein des Lesers den richtigen<br />

Platz finden, möchten wir noch einmal daran erinnern, daß in denJahren 1904/05 keiner<br />

von den <strong>russischen</strong> Marxisten den Gedanken an die Möglichkeit des Aufbaus <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaft in einem Lande überhaupt, und in Rußland im beson<strong>der</strong>en, verteidigte<br />

o<strong>der</strong> aufstellte. Diese Konzeption wurde zum erstenmal in <strong>der</strong> Presse vettreten,<br />

etwa zwanzig Jahre später, im Herbst 1924. In <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> wie in<br />

den Jahren zwischen den zwei <strong>Revolution</strong>en wurde <strong>der</strong> Streit um die Dynamik <strong>der</strong><br />

bürgerlichen <strong>Revolution</strong>, nicht aber um die Chancen und Möglichkeiten einer sozialistischen<br />

<strong>Revolution</strong> geführt. Alle heutigen Anhänger <strong>der</strong> Theorie des Sozialismus in einem<br />

Lande, ohne Ausnahme, beschränkten in jener Periode die Perspektive <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />

<strong>Revolution</strong> auf die bürgerlich-demokratische Republik und hielten bis April 1917 nicht<br />

nur den Aufbau des nationalen Sozialismus für unmöglich, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Machteroberung durch das russische Proletariat, solange nicht die Diktatur des Proletariats<br />

in den fortgeschritteneren Län<strong>der</strong>n errichtet wäre.<br />

Unter "Trotzkismus" verstand man in <strong>der</strong> Periode 1905-1917 jene revolutionäre<br />

Konzeption, nach <strong>der</strong> die bürgerliche <strong>Revolution</strong> in Rußland ihre Aufgaben zu lösen<br />

nicht an<strong>der</strong>s imstande sein würde, als indem sie das Proletariat an die Macht stellt. Erst<br />

im Herbst 1924 begann man unter "Trotzkismus" eine Konzeption zu verstehen, nach <strong>der</strong><br />

das russische Proletariat, an die Macht gekommen, nicht imstande sein würde, mit<br />

eigenen Kräften die nationale sozialistische Gesellschaft aufzubauen.<br />

Zur Bequemlichkeit des Lesers wollen wir den Streit schematisch darstellen, in Form<br />

eines Dialogs, wobei unter T. <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> "trotzkistischen" Konzeption figuriert und<br />

unter S. einer jener <strong>russischen</strong> "Praktiker", die heute die Sowjetbürokratie verkörpern.<br />

1905-1917<br />

T. Die russische <strong>Revolution</strong> wird ihre demokratischen Aufgaben, vor allem die Agrarfrage,<br />

nicht lösen können, ohne die Arbeiterklasse an die Macht zu stellen.<br />

S. Aber das bedeutet ja Diktatur des Proletariats!<br />

T. Zweifelsohne.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 836


S. Im rückständigen Rußland? Früher als in den fortgeschrittenen kapitalistischen<br />

Län<strong>der</strong>n?<br />

T. Allerdings.<br />

S. Aber Sie ignorieren das russische Dorf, das heißt die rückständige Bauernschaft, die<br />

noch in Halbleibeigenschaft steckt.<br />

T. Im Gegenteil: eben die Tiefe <strong>der</strong> Agrarfrage ergibt die unmittelbare Perspektive <strong>der</strong><br />

Diktatur des Proletariats inb Rußland.<br />

S. Sie verneinen mithin die bürgerliche <strong>Revolution</strong>?<br />

T. Nein, ich versuche nur zu beweisen, daß ihre Dynamik zur Diktatur des Proletariats<br />

führt.<br />

S. Aber das heißt ja, daß Rußland für den Aufbau des Sozialismus reif sei?<br />

T. Nein, das heißt es nicht. Die historische Entwicklung hat keinen so planmäßigen<br />

und harmonischen Charakter. Die Machteroberung durch das Proletariat im rückständigen<br />

Rußland ergibt sich unvermeidlich aus dem Kräfteverhälmis in <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

<strong>Revolution</strong>. Welche weiteren ökonomischen Perspektiven die Diktatur des Proletariats<br />

dann eröffnet, hängt von den <strong>russischen</strong> und internationalen Bedingungen ab, unter<br />

denen sie errichtet wird. Selbständig kann Rußland freilich nicht zum Sozialismus<br />

kommen. Aber indem es die Ära sozialistischcr Umwandlungen eröffnet, kann es den<br />

Anstoß geben zur sozialistischen Entwicklung in Europa und damit zum Sozialismus<br />

kommen im Schlepptau <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>.<br />

1917-1923<br />

S. Trotzki »hat noch vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905 die eigenartige und beson<strong>der</strong>s jetzt<br />

bemerkenswerte Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> aufgestellt, indem er behauptete,<br />

daß die bürgerliche <strong>Revolution</strong> in Rußland unmittelbar in die sozialistische übergehen<br />

und die erste in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong>en sein werde«. (Aus einer Anmerkung<br />

zu Lenins "Werken", erschienen zu dessen Lebzeiten.)<br />

1924-1932<br />

S. Also Sie bestreiten, daß unsere <strong>Revolution</strong> zum Sozialismus führen kann?<br />

T. Ich hin in alter Weise <strong>der</strong> Ansieht, daß unsere <strong>Revolution</strong> zum Sozialismus führen<br />

kann und führen muß, indem sie einen internationalen Charakter annimmt.<br />

S. Sie glauben also nicht an die inneren Kräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>?<br />

T. Seltsam, daß mich das nicht gehin<strong>der</strong>t hat, die Diktatur des Proletariats vorauszusehen<br />

und zu propagieren zu einer Zeit, wo ihr sie als Utopie ablehntet.<br />

S. Aber Sie verneinen immerhin die sozialistische <strong>Revolution</strong> in Rußland?<br />

T. Bis April 1917 habt ihr mich beschuldigt, ich verneinte die bürgerliche <strong>Revolution</strong>.<br />

Das Geheimnis eurer theoretischen Wi<strong>der</strong>sprüche liegt darin, daß ihr sehr lange hinter<br />

dem historischen Prozeß zurückgeblieben watet und ihn jetzt überholen möchtet. Darin<br />

liegt, nebenbei gesagt, auch das Geheimnis eurer wirtschaftlichen Irrtümer.<br />

Der Leser muß sich stets diese drei historischen Etappen in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

revolutionären Konzeptionen in Rußland vor Augen halten, um den wirklichen Inhalt des<br />

heutigen Kampfes <strong>der</strong> Fraktionen und Gruppierungen innerhalb des <strong>russischen</strong> Kommunismus<br />

richtig einschätzen zu können.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 837


Auszüge aus <strong>der</strong> Arbeit Von 1905<br />

"Ergebnisse und Perspektiven"<br />

4. <strong>Revolution</strong> und Proletariat<br />

Das Proletariat wächst und erstarkt zusammen mit dem Wachsen des Kapitalismus. In<br />

diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung des Proletariats zur<br />

Diktatur, Doch Tag und Stunde, wo die Macht in die Hände <strong>der</strong> Arbeiterklasse übergehen<br />

wird, hängen unmittelbar ab nicht vom Niveau <strong>der</strong> Produktivkräfte, son<strong>der</strong>n von den<br />

Bedingungen des Klassenkampfes, von <strong>der</strong> internationalen Situation und schließlich von<br />

einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft...<br />

In einem ökonomisch rückständigeren Lande kann dem Proletariat die Macht früher<br />

zufallen als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Lande ...<br />

Die Vorstellung von irgendeiner automatischen Abhängigkeit <strong>der</strong> proletarischen Diktatur<br />

von den technischen Kräften und Mitteln des Landes bildet ein Vorurteil des aufs<br />

äußerste versimpelten "ökonomischen" Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche<br />

Ansicht nichts gemein.<br />

Die russische <strong>Revolution</strong> schafft unserer Ansicht nach Bedingungen, unter denen die<br />

Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (beim Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> übergehen<br />

muß), noch bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus die Möglichkeit erhalten,<br />

ihr Staatsgenie in vollem Umfange zu entfalten.<br />

Der Marxismus ist vor allem eine Methode <strong>der</strong> Analyse - nicht <strong>der</strong> Analyse von<br />

Texten, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Analyse sozialer Beziehungen. Ist es, auf Rußland angewandt,<br />

richtig, daß die Schwäche des kapitalistischen Liberalismus unbedingt Schwäche <strong>der</strong><br />

Arbeiterbewegung bedeutet?<br />

Die zahlenmäßige Stärke des Industrieproletariats, seine Konzentriertheit, sein Kulturniveau,<br />

seine politische Bedeutung hängen zwrifellos vom Entwicklungsgrad <strong>der</strong> kapitalistischen<br />

Industrie ab. Doch ist diese Abhängigkeit keine unmittelbare. Zwischen den<br />

Prodnktivkräften des Landes und den politischen Kräften seiner Klassen in jedem<br />

gegebenen Moment schneiden sich verschiedene sozialpolitische Faktoren nationalen<br />

und internationalen Charakters, und diese verbiegen o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>n sogar völlig den<br />

politischen Ausdruck <strong>der</strong> ökonomischen Beziehungen. Obwohl die Produktivkräfte <strong>der</strong><br />

Industrie in den Vereinigten Staaten zehufach höher sind als bei uns, ist die politische<br />

Rolle des <strong>russischen</strong> Proletariats, sein Einfluß auf die Politik seines Landes, die Möglichkeit<br />

seines nahen Einflusses auf die Weltpolitik unvergleichlich größer als die Rolle und<br />

Bedeutung des amerikanischen Proletariats.<br />

5. Das Proletariat an <strong>der</strong> Macht und die Bauernschaft<br />

Im Falle eines entscheidenden Sieges <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geht die Macht in die Hände <strong>der</strong><br />

Klasse über, die im Kampfe die führende Rolle gespielt hat - mit an<strong>der</strong>en Worten, in die<br />

Hände des Proletariats. Selbstverständlich, wir wollen das gleich sagen, schließt das<br />

keinesfalls aus die Beteiligung revolutionärer Vertreter nichtproletarischer Gesellschafts-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 838


gruppen an <strong>der</strong> Regierung ... Die Frage ist nur, wer <strong>der</strong> Regietungspolitik Inhalt verleiht,<br />

wer in ihr die geschlossene Mehrheit darstellt. Es ist eines, ob an einer Regierung, die <strong>der</strong><br />

Mehrheit ihrer Zusammensetzung nach eine Arbeiterregierung ist, Vertreter demokratischer<br />

Volksschichten teilnehmen - ein an<strong>der</strong>es, ob an einer ausgesprochen bürgerlich-demokratischen<br />

Regierung in <strong>der</strong> Rolle mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> ehrenwerter Geiseln Vertreter<br />

des Proletariats teilnehmen.<br />

Das Proletariat wird seine Macht nicht festigen können, ohne die Basis <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />

zu verbreitern. Viele Schichten <strong>der</strong> werktätigen Massen, hauptsächlich auf dem Lande,<br />

werden zum erstenmal in die <strong>Revolution</strong> einbezogen werden und eine politische Organisation<br />

erhalten erst nachdem die Avantgarde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, das Stadtproletariat, am<br />

Staatssteuer stehen wird.<br />

... Der Charakter unserer sozial-historischen Beziehungen, <strong>der</strong> die ganze Schwere <strong>der</strong><br />

bürgerlichen <strong>Revolution</strong> auf die Schultern des Proletariats wälzt, wird für die Arbeiterregierung<br />

nicht nur ungeheure Schwierigkeiten schaffen, son<strong>der</strong>n ihr auch, wenigstens in<br />

<strong>der</strong> ersten Periode ihres Bestehens, unschätzbare Vorteile bringen. Das wird sich in den<br />

Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft äußern.<br />

Die russische <strong>Revolution</strong> verhin<strong>der</strong>t und wird noch lange verhin<strong>der</strong>n die Errichtung<br />

irgendeines bürgerlich-konstitutionellen Regimes, das die primitivsten Aufgaben <strong>der</strong><br />

Demokratie lösen könnte ... Infolgedessen ist das Schicksal <strong>der</strong> elementarsten revolutionären<br />

Interessen <strong>der</strong> Bauernschaft - sogar <strong>der</strong> Gesamtbauernschaft als Stand - mit dem<br />

Schicksal <strong>der</strong> gesamten <strong>Revolution</strong>, das heißt mit dem Schicksal des Proletariats verbunden.<br />

Das Proletariat an <strong>der</strong> Macht wird <strong>der</strong> Bauernschaft als die Befreierklasse erscheinen.<br />

Aber vielleicht wird die Bauernschaft das Proletariat verdrängen und dessen Platz<br />

einnehmen? Das ist unmöglich. Die gesamte historische Erfahrung lehnt sich gegen eine<br />

solche Annahme auf Sie zeigt, daß die Bauernschaft absolut unfähig ist zu einer selbständigen<br />

politischen Rolle.<br />

Die russische Bourgeoisie tritt dem Proletariat alle revolutionären Positionen ab. Sie<br />

wird auch die revolutionäre Hegemonie über die Bauernschaft abtreten müssen. In <strong>der</strong><br />

Situation, die durch den Übergang <strong>der</strong> Macht an das Proletariat entstehen wird, wird <strong>der</strong><br />

Bauernschaft nur übrigbleiben, sieh dem Regime <strong>der</strong> Arbeiterdemokratie anzuschließen.<br />

Auch wenn sie es nicht mit größerer Einsicht tun sollte als <strong>der</strong>, mit <strong>der</strong> sie sich gewöhnlich<br />

dem bürgerlichen Regime anschließt! Doch während jede bürgerliche Partei im<br />

Besitz <strong>der</strong> Baucrnstimmen sich beeilt, die Macht auszunutzen, um die Bauernschaft zu<br />

berauben und in all ihren Hoffnungen und Erwartungen zu betrügen, und danach, im<br />

schlimmsten Falle, den Platz einer an<strong>der</strong>en kapitalistischen Partei abzutreten, wird das<br />

Proletariat, gestützt auf die Bauernschaft, alle Kräfte in Bewegung setzen, um das<br />

Kulturniveau des Dorfes und die Entwicklung <strong>der</strong> politischen Erkenntnis <strong>der</strong> Bauernschaft<br />

zu heben.<br />

6. Das proletarische Regime<br />

Zur Macht gelangen kann das Proletariat nur gestützt auf einen nationalen<br />

Aufschwung, auf die Begeisterung des ganzen Volkes. Das Proletariat wird die Regie-<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 839


ung übernehmen als revolutionärer Vertreter <strong>der</strong> Nation, als anerkannter Volksführer ins<br />

Kampfe gegen Absolutismus und Leibeigenschafisbarharei. Aber an die Macht gekommen,<br />

wird das Proletariat eine neue Epoche eröffnen eine Epoche revolutionärer Gesetzgebung,<br />

positiver Politik -, und hier ist ihm die Beibehaltung <strong>der</strong> Rolle des anerkannten<br />

Repräsentanten <strong>der</strong> Nation keinesfalls gesichert.<br />

Je<strong>der</strong> neue Tag wird die Politik des an <strong>der</strong> Macht stehenden Proletariats vertiefen und<br />

ihren Klassencharakter immer stärker bestimmen. Gleichzeitig damit wird die revolutionäre<br />

Verbindung zwischen Proletariat und Nation Störung erleiden, die klassenmäßige<br />

Zerglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bauernschaft wird in politischen Formen hervortreten, <strong>der</strong> Antagonismus<br />

zwischen den Bestandteilen. wird wachsen in gleichem Maße, wie die Politik <strong>der</strong><br />

Arbeiterregierung aus einer allgemein demokratischen zu einer klassenmäßig bedingten<br />

sich entwickeln wird.<br />

Die Abschaffung <strong>der</strong> ständischen Leibeigenschaft wird die Unterstützung <strong>der</strong> gesamten<br />

Bauernschaft als des Fronstandes finden ... Aber die gesetzgebenden Maßnahmen zum<br />

Schutze des landwirtschaftlichen Proletariats werden nicht nur diese aktive Sympathie<br />

bei <strong>der</strong> Mehrheit nicht finden, son<strong>der</strong>n sogar auf aktiven Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit<br />

stoßen. Das Proletariat wird sich gezwungen sehen, den Klassenkampf ins Dorf hineinzutragen<br />

und somit jene Interessengemeinschaft zu zerstören, die zweifellos bei <strong>der</strong><br />

Gesamtbauernschaft besteht, wenn auch in verhältnismäßig engem Rahmen. Das Proletariat<br />

wird schon in den nächsten Monaten nach Antritt <strong>der</strong> Herrschaft eine Stütze suchen<br />

müssen in <strong>der</strong> Gegenüberstellung von Dorfarmut und Dorfreichen, landwirtschaftlichem<br />

Proletariat und ackerbauen<strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />

Befindet sich die Macht in den Händen einer revolutionären Regierung mit sozialistischer<br />

Mehrheit, dann verliert <strong>der</strong> Unterschied zwischen Minimal- und Maximalprogramm<br />

sofort sowohl die prinzipielle wie die unmittelbar praktische Bedeutung. Im<br />

Rahmen dieser Abgrenzung sich zu halten, wird für eine proletarische Regierung völlig<br />

unmöglich sein.<br />

Indem sie in die Regierung eintreten nicht als ohnmächtige Geiseln, son<strong>der</strong>n als<br />

führende Kraft, vernichten die Vertreter des Proletariats damit allein schon die Grenze<br />

zwischen Minimal- und Maximalprogramm, das heißt, sie stellen den Kollektivismus auf<br />

die Tagesordnung. An welchem Punkte das Proletariat auf diesem Wege aufgehalten<br />

werden wird, hängt von dem Kräfteverhältnis ab, keinesfalls aber von den ursprünglichen<br />

Absichten <strong>der</strong> proletarischen Partei.<br />

Aus diesens Grunde kann nicht die Rede sein von irgendeiner beson<strong>der</strong>en Form <strong>der</strong><br />

proletarischen Diktatur in <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong>, wie etwa von <strong>der</strong> demokratischen<br />

Diktatur des Proletariats (o<strong>der</strong> des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft). Die Arbeiterklasse<br />

wird nicht imstande sein, den demokratischen Charakter ihrer Diktatur zu sichern, ohne<br />

die Grenzen ihres demokratischen Programms zu überschreiten. Alle diesbezüglichen<br />

Illusionen wären nur unheilvoll.<br />

Einmal im Besitze <strong>der</strong> Macht, wird die Partei des Proletariats um sie bis zum Ende<br />

kämpfen. Wird eines <strong>der</strong> Mittel dieses Kampfes um die Erhaltung und Sicherung <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 840


Macht Agitation und Organisation sein, beson<strong>der</strong>s auf dem Lande, so wird das an<strong>der</strong>e<br />

Mittel die kollekrivistische Politik darstellen. Der Kollektivismus wird nicht nur unvermeidliche<br />

Schlußfolgerung aus <strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong> Partei an <strong>der</strong> Macht werden, sohn<strong>der</strong>n<br />

auch Mittel, diese Stellung, gestützt auf das Proletariat, zu sichern.<br />

Als in <strong>der</strong> sozialistischen Presse die Idee <strong>der</strong> ununterbrochenen <strong>Revolution</strong> formuliert<br />

wurde, die die Liquidierung des Absolutismus und <strong>der</strong> bürgerlichen Leibeigenschaft<br />

verband mit <strong>der</strong> sozialistischen Umwälzung durch eine Reihe anwachsen<strong>der</strong> sozialer<br />

Zusammenstöße, Aufstände neuer Schichten <strong>der</strong> Massen, fortwähren<strong>der</strong> Attacken des<br />

Proletariats gegen die politischen und ökonomischen Privilegien <strong>der</strong> herrschenden<br />

Klassen, erhob unsere "fortschrittliche" Presse ein einmütiges Entrüstungsgeheul.<br />

Die radikaleren Vertreter <strong>der</strong> gleichen Demokratie ... halten nicht nur schon die Idee<br />

einer Arbeiterregierung in Rußland für phantastisch, son<strong>der</strong>n lehnen auch die Möglichkeit<br />

einer sozialistischen <strong>Revolution</strong> in Europa für die nächste historische Epoche ab.<br />

Noch seien die notwendigen "Voraussetzungen" nicht gegeben. Stimmt das? Es handelt<br />

sich selbstverständlich nicht darum, Fristen für die sozialistische <strong>Revolution</strong> festzulegen,<br />

son<strong>der</strong>n darum, sie in ihre realen historischen Perspektiven hineinzustellen...<br />

(Weiter folgen eine Analyse <strong>der</strong> allgemeinen Voraussetzungen <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Wirtschaft und Beweisc dafür, daß gegenwärtig - zu Beginn des XX. Jahrhun<strong>der</strong>ts - diese<br />

Voraussetzungen, wenn man sie im europäischen und im Weltmaßstabe betrachtet,<br />

bereits gegeben sind.)<br />

...Innerhalb <strong>der</strong> abgeschlossenen Grenzen einzelner Staaten könnte die sozialistische<br />

Produktion bereits nicht mehr Platz finden - sowohl aus ökonomischen wie aus politischen<br />

Gründen.<br />

8. Arbeiterregierung in Rußland und Sozialismus<br />

Wir haben oben gezeigt, daß objektive Voraussetzungen für die sozialistische <strong>Revolution</strong><br />

bereits geschaffen sind durch die ökonomische Entwicklung <strong>der</strong> fortgeschrittenen<br />

kapitalistischen Län<strong>der</strong>. Was aber kann man in dieser Hinsieht von Rußlaitd sagen? Darf<br />

man erwarten, daß <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände des <strong>russischen</strong> Proletariats <strong>der</strong><br />

Beginn einer Umwandlung unserer Nationalwirtsehaft auf sozialistischen Grundlagen<br />

sein wird?<br />

Die Pariser Arbeiter haben, wie Marx sagte, von <strong>der</strong> Kommune keine Wun<strong>der</strong> verlangt.<br />

Man darf plötzliche Wun<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats auch jetzt nicht erwarten.<br />

Die Staatsgewalt ist nicht allmächtig. Es wäre unsinnig, zu glauben, es genüge, daß das<br />

Proletariat die Macht bekommt - und es würde mittels einiger Dekrete Kapitalismus<br />

durch Sozialismus ersetzen. Ein ökonomisches Regime ist nicht Produkt einer Staatstätigkeit.<br />

Das Proletariat wird nichts weiter tun können, als mit aller Energie die Staatsmacht<br />

einzusetzen, um den Weg <strong>der</strong> wirtschaftlichen Evolution in Richtung zum<br />

Kollektivismus zu erleichtern und abzukürzen.<br />

Die Vergesellschaftung <strong>der</strong> Produktion wird nur Zweigen beginnen, die dafür die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 841


geringsten Schwierigkeiten bieten. In <strong>der</strong> ersten Periode wird vergesellsehaftete Produktion<br />

Oascn darstellen, die mit privatwirtschaftlichen Unternehmungen durch Gesetze des<br />

Warenverkehrs verbunden sind. Je breiter das Feld sein wird, das bereits von vergesellschafteter<br />

Wirtschaft erfaßt ist, um so offenbarer werden dessen Vorteile, um so sicherer<br />

wird sich das neue politische Regime fühlen, um so kühner werden die weiteren<br />

Wirtschaftsmaßnahmen des Proletariats sein. Bei diesen Maßnahmen wird es sich nicht<br />

nur auf die nationalen Produktivkräfte stützen können und stützen, son<strong>der</strong>n auch auf die<br />

internationale Technik, ähnlich, wie es sich in seiner revolutionären Politik nicht nur auf<br />

die Erfahrung <strong>der</strong> nationalen Klassen-beziehungen, son<strong>der</strong>n auch auf die gesamte historische<br />

Erfahrung des internationalen Proletariats stützt.<br />

Das proletarische Regime wird gleich zu Beginn an die Lösung <strong>der</strong> Agrarfrage gehen<br />

müssen, mit <strong>der</strong> das Schicksal riesiger Bevölkernngsmassen Rußlands verknüpft ist. Bei<br />

Lösung dieser Frage, wie auch aller übrigen, wird das Proletariat ausgehen von <strong>der</strong><br />

Grundbestrebung seiner ökonomischen Politik: ein möglichst breites Feld für die Organisierung<br />

<strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaft zu gewinnen, - wobei Formen und Tempo dieser<br />

Politik in <strong>der</strong> Agrarfrage bestimmt werden müssen sowohl von jenen materiellen Hilfsquellen,<br />

die zu erobern dem Proletariat gelingt, wie auch von <strong>der</strong> Notwendigkeit, sein<br />

Handeln so zu gestalten, daß nicht eventuelle Verbündete in die Reihen <strong>der</strong> Konterrevolution<br />

zurückgestoßen werden.<br />

Wie weit aber kann die sozialistische Politik <strong>der</strong> Arbeiterklasse unter Russlands<br />

Wirtschaftsbedingungen gehen? Man darf mit Bestimmtheit sagen: Sie wird viel früher<br />

auf politische Hin<strong>der</strong>nisse stoßen als auf die technische Rückständigkeit des Landes.<br />

Ohne direkte Staatshilfe seitens des europäischen Proletariats wird sich die Arbeiterklasse<br />

Russlands nicht an <strong>der</strong> Macht halten und ihre vorübergehende Herrschaft nicht in<br />

eine langwährende sozialistische Diktatur verwandeln können ...<br />

Politischer "Optimismus" kann von zweierlei Art sein. Man kann übertrieben seine<br />

Kräfte und die Vorteile <strong>der</strong> revolutionären Situation einschätzen und sich Aufgaben<br />

stellen, <strong>der</strong>en Lösung das gegebene Kräfteverhältnis nicht zuläßt. Man kann aber auch<br />

umgekehrt optimistisch seinen revolutionären Aufgaben eine Schranke setzen, über die<br />

uns die Logik <strong>der</strong> Situation unvermeidlich hinwegsehleu<strong>der</strong>t.<br />

Man kann die Rahmen sänitlicher Fragen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch die Behauptung<br />

einschränken, unsere <strong>Revolution</strong> sei ihren objektiven Zielen, folglich auch den unvermeidlichen<br />

Resultaten nach bürgerlich, und man kann dabei die Augen vor <strong>der</strong> Tatsache<br />

verschließen, daß die wesentlichste wirkende Kraft dieser bürgerlichen <strong>Revolution</strong> das<br />

Proletariat ist, das durch den ganzen Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zur Macht gestoßen wird...<br />

Man kann sich damit trösten, daß die sozialen Bedingungen Russlands für die sozialistische<br />

Wirtschaft noch nicht reif seien - und man kann sich dabei Gedanken darüber<br />

ersparen, daß das Proletariat, an die Macht gelangt, unweigerlich durch die gesamte<br />

Logik seiner Lage dazu gestoßen werden wird, die Wirtschaft auf Kosten dcs Staates zu<br />

führen.<br />

Die allgemeine soziologische Bezeichnung - bürgerliche <strong>Revolution</strong> - löst keinesfalls<br />

jene politisch-taktischen Aufgaben, Wi<strong>der</strong>sprüche und Schwierigkeiten, die von <strong>der</strong><br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 842


Mechanik <strong>der</strong> gegebenen bürgerlichen <strong>Revolution</strong> gestellt werden.<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> Ende des XVIII. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die zur objektiven<br />

Aufgabe die Herrschaft des Kapitals hatte, erwies sich die Diktatur <strong>der</strong> Sansculotten<br />

als möglich. In <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu Beginn des XX. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die nach ihren<br />

unmittelbaren objektiven Aufgaben ebenfalls bürgerlich ist, zeichnet sieh als nächste<br />

Perspektive die Unvermeidlichkeit o<strong>der</strong> wenigstens doch die Wahrscheinlichkeit <strong>der</strong><br />

politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht eine flüchtige<br />

"Episode" bleibe, wie einige reale Philister hoffen, dafür wird das Proletariat selbst<br />

sorgen. Aber schon jetzt darf man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats<br />

unvermeidlich an dem Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> zerschellen, o<strong>der</strong> kann<br />

sie sich auf den gegebenen weltgeschiehtlichen Grundlagen die Perspektive des Sieges<br />

eröffnen, indem sie diesen einschränkenden Rahmen sprengt?<br />

(Weiter folgt die Entwicklung des Gedankens, daß die russische <strong>Revolution</strong> die proletarische<br />

<strong>Revolution</strong> im Westen entfesseln könne und aller Wahrscheinlichkeit nach<br />

entfesseln werde, was seinerseits wie<strong>der</strong> die sozialistische Entwicklung Rußlands sichern<br />

würde.<br />

Es bleibt noch hinzuzufügen, daß in den ersten Jahren des Bestehens <strong>der</strong> Kommunistischen<br />

<strong>Internationale</strong> die hier zitierte Arbeit offiziell in fremden Sprachen herausgegeben<br />

wurde als theoretische Deutung <strong>der</strong> Oktoberrevolution.)<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 843


Parteien und politische Gruppen<br />

Dekabristen - Teilnehmer an einem mißlungenen Aufstand gegen Nikolaus 1. im Dezember<br />

(russisch: Dekabr) 1825. Dieser Aufstand war <strong>der</strong> erste Versuch einer bürgerlichen<br />

<strong>Revolution</strong> in Rußland.<br />

Kadetten - volkstümlicher Name für die Konstitutionelle Demokratische Partei (K. D.),<br />

auch "Partei <strong>der</strong> Volksfreiheit" genannt; große liberale Partei für konstitutionelle<br />

Monarchie o<strong>der</strong> später Republik, die Partei <strong>der</strong> fortgeschrittenen Gutsbesitzer, des<br />

Mittelbürgertums und <strong>der</strong> bürgerlichen Intelligenz, geführt von Miljukow, Professor<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>.<br />

Maximalisten - eine extreme Richtung, die sich während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> 1905 von den<br />

Sozialrevolutionären absplitterte.<br />

Menschewiki - gemäßigte sozialistische Partei, auf Marx sich berufend, aber die Verbindung<br />

<strong>der</strong> Arbeiterklasse mit dem liberalen Bürgertum zur Nie<strong>der</strong>werfung des Zarisnsus<br />

und zur Errichtung einer demokratischen Republik for<strong>der</strong>nd.<br />

Menschewiki-Internationalisten - linke Menschewiki, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in manchen<br />

Fällen mit den Bolschewiki zusammengingen, <strong>der</strong> Gorkischen Zeitung 'Novaja Schisn'<br />

nahestanden.<br />

Narodniki - die <strong>russischen</strong> revolutionären Intellektuellen, die Anfang <strong>der</strong> siebziger Jahre<br />

ihre Umgebung verließen und als Handwerker, Taglöhner unter dein Volke lebten.<br />

Später Anhänger einer antimarxistischen, kleinbürgerlichen, revolutionären Lehre, die<br />

"Sozialrevolutionäre", Volkssozialisten gehören dieser Richtung an.<br />

Oktobristen - Anhänger <strong>der</strong> im Anschluß an das Zarenmanifest vom 17. (30.) Oktober<br />

1905 gegründeten Partei unter dem Namen "Verein des 17. Oktober". Diese Partei<br />

vertrat die Interessen <strong>der</strong> Großgrundbesitzer und <strong>der</strong> Großbourgeoisie. Der Führer war<br />

Gutschkow.<br />

Progressiver Block - Bündnis <strong>der</strong> meisten Dumadeputierten, während des Krieges eine<br />

starke Regierung for<strong>der</strong>nd.<br />

Schwarze Hun<strong>der</strong>t - volkstümlicher Name für den "Verband des echt <strong>russischen</strong> Volkes",<br />

eine Liga <strong>der</strong> reaktionärsten Monarchisten, die verbrecherischen Terror gegen <strong>Revolution</strong>äre<br />

anwendeten und Hauptanstifter <strong>der</strong> Pogrome waren.<br />

Sozialdemokratie (russische) - Partei, auf den Theorien Karl Marx' begründet, die in den<br />

letzten zwei Jahrzehnten des XIX. Jahrhun<strong>der</strong>ts durch Plechanow in Rußland popularisiert<br />

worden sind. Die Partei spaltete sich 1903 in Menschewiki (Min<strong>der</strong>heitler) und<br />

Bolschewiki (Mehrheitler).<br />

Sozialrevolutionäre - bäuerliche, sozialistische Partei, gegründet zu Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts;<br />

eine Fusion verschiedener Richtungen <strong>der</strong> Narodniki. Sie vertraten die Interessen<br />

des kleinbäuerlichen Landbesitzes während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Diese Partei spaltete sich<br />

in eine Gruppe <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre, die nach dem Oktober eine Zeitlang mit<br />

den Bolschewiki in <strong>der</strong> Regierung waren, und in rechte Sozialrevolutionäre, die<br />

Kerenski unterstützten.<br />

Trudowiki - Partei vorsichtiger Intellektueller, die die Bauern gegen Gutsbesitzer verteidigten,<br />

aber nicht weit von den linken Kadetten standen; dieser Partei gehörte Kerenski<br />

in <strong>der</strong> Duma an.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 844


Versöhnler - allgemeine Bezeichnung für die Führer <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />

- jene Parteien in den Sowjets, die, obgleich sich auf sozialistische Grundsätze<br />

stützend, mit den Kadetten Kompromisse schlossen und ihnen bewußt die Macht<br />

aushändigten.<br />

Zimmerwal<strong>der</strong> - den internationalen Prinzipien während des Krieges treugeblienene<br />

<strong>Sozialisten</strong>, genannt nach ihrer Zugehörigkeit zum Programm des <strong>Internationale</strong>n<br />

<strong>Sozialisten</strong>kongreß in Zimmerwald (Schweiz) 1915.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 845


Biographische Anmerkungen<br />

Alexan<strong>der</strong> I. (1777-1825) - russischer Zar, Nachfolger Pauls I., <strong>der</strong> durch eine Palastversehwörung<br />

ermordet wurde. Alexan<strong>der</strong> I. hatte von dieser Verschwörung gegen den<br />

Vater gewußt. In den ersten Regierungsjahren zeigte er eine gewisse Reformfreundlichkeit,<br />

die bald verschwand. Nach Napoleons Sturz gründete er mit dem Kaiser von<br />

Österreich und dem König von Preußen die "Heilige Allianz", <strong>der</strong>en Ziel war, jede<br />

freiheitliche Bewegung <strong>der</strong> Völker auszurotten.<br />

Alexan<strong>der</strong> II. (1818-1881) - regierte 1855-1881. Unter ihm wurde die Leibeigenschaft<br />

aufgehoben, die Abhängigkeit <strong>der</strong> Bauern von den Gutsherren blieb aber bestehen. Die<br />

revolutionäre Bewegung erstarkte unter Führung <strong>der</strong> Narodniki immer mehr, je<br />

reaktionärer seine Regierung wurde. 1881 wurde <strong>der</strong> Zar auf Beschluß <strong>der</strong> "Narodnaja<br />

Wolja" durch eine Bombe getötet.<br />

Awksentjew - rechter Sozialrevolutionär. Unter Kerenski Minister in einer <strong>der</strong> Koalitionsregierungen.<br />

Nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution einer <strong>der</strong> Organisatoren <strong>der</strong><br />

Konterrevolution.<br />

Benkendorf, Graf - russischer Botschafter in London 1903-1917, starb 1917 in London.<br />

Blanqui, Louis Auguste (1801-1881) - berühmter französischer <strong>Revolution</strong>är. Blanquisten<br />

- Anhänger jener Theorie, die für die politische Machtergreifung und die Errichtung<br />

einer revolutionären Diktatur durch eine revolutionäre Min<strong>der</strong>heit zur<br />

Durchführung <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> eintraten.<br />

Cavaignac (1802-1857) - Führer <strong>der</strong> Regierungstruppen gegen die Arbeiter 1848.<br />

Churchill - konservativer Minister im Kriege, befürwortete die Intervention gegen<br />

Sowjetrußland.<br />

Dan - Führer <strong>der</strong> Mensehewiki, seit Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Sozialdemokratie<br />

tätig. Während des Krieges gemäßigter Internationalist, nach <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

Mitglied des Exekutivkomitees des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets und des All<strong>russischen</strong><br />

Zentral-Exckutivkomitees, trat eifrig für Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie ein. Nach <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution bekämpfte er aktiv die Sowjetmacht.<br />

Dubassow - Admiral, Moskauer Generalgouverneur, Unterdrücker des Moskauer<br />

Aufstandes 1905.<br />

Durnowo - einer <strong>der</strong> reaktionärsten Vertreter des Zarismus. Direktor des Polizeidepartements,<br />

Innenminister.<br />

Gapon - Priester, Organisator und Führer des 9. (22.) Januar 1905. Nach dem 9. Januar<br />

legte er das geistliche Gewand ab und floh ins Ausland. Es wurde nachgewiesen, daß<br />

er mit <strong>der</strong> Polizei in Verbindung stand. 1906 wurde er von seinen ehemaligen Anhängern<br />

getötet.<br />

Guesde, Jules - angesehener Führer <strong>der</strong> II. <strong>Internationale</strong>, kämpfte gegen die Reformisten<br />

vor dem Kriege. Nach Ausbruch des Krieges befürwortete er Einigkeit (Union sacrée)<br />

mit <strong>der</strong> Bourgeoisie. Minister ohne Portefeuille in den bürgerlichen Regierungen <strong>der</strong><br />

"Vaterlandsverteidigung".<br />

Gutschkow - gründete 1905 die "Partei des 17. Oktober" (Oktobristen), die die Interessen<br />

<strong>der</strong> reaktionären Großbourgeoisie vertrat. Präsident <strong>der</strong> III. Reichsduma. Kriegs- und<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 846


Marineminister <strong>der</strong> Provisorischen Regierung.<br />

Isgojew - Mitte neunziger Jahre Mitarbeiter marxistischer Zeitschriften, später einer <strong>der</strong><br />

konservativsten Publizisten <strong>der</strong> Kadettenpartei.<br />

Judenitsch - General, Führer <strong>der</strong> weißen Nordwestarmee, leitete den Vormarsch auf<br />

Leningrad.<br />

Kerenski - geb. 1881, Advokat, Sozialrevolutionär, schloß sich den Trudowiki an und<br />

wurde Führer <strong>der</strong> Fraktion. Während des Krieges Sozial-Patriot. Nach <strong>der</strong> Februarrevolution<br />

stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter und<br />

Soldaten, trat er als Justizminister in die bürgerliche provisorische Regierung ein. Im<br />

Mai 1917 übernahm er das Kriegsministerium, nach den Julitagen war er Ministerpräsident<br />

einer Reihe von Koalitionsregierungen, nach dem Oktoberumsturz flüchtete er<br />

ins Ausland.<br />

Kokowzew - russischer Finanzminister, 1911 Ministerpräsident, extrem reaktionär.<br />

Koltschak (1870-1920) - Admiral, Führer <strong>der</strong> weißen Truppen im Kampf gegen die<br />

Sowjets. Chef <strong>der</strong> sibirischen Regierung, von <strong>der</strong> Entente anerkannt, 1919 von <strong>der</strong><br />

Roten Armee vernichtend geschlagen, ergriffen und 1920 erschossen.<br />

Kornilow - General, stellte sich im Dongebiet an die Spitze <strong>der</strong> weißen Truppen, wurde<br />

von den roten Garden geschiagen. 1918 fiel er im Kampf.<br />

Kuropatkin - russischer Kriegsminister und Oberbefehlshaber, wurde im Russisch-Japanischen<br />

Krieg vernichtend geschlagen.<br />

Meschtscherski, Fürst - Verleger und Redakteur des reaktionären Organs "Graschdanin",<br />

Inspirator <strong>der</strong> reaktionären Politik Alexan<strong>der</strong>s III. und Nikolaus II.<br />

Miljukow - Geschichtsprofessor, Führer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> liberalen Bourgeoisie, Organisator<br />

und Haupt <strong>der</strong> Kadettenpartei. Während des Krieges Verfechter »des Krieges bis<br />

zum siegreichen Ende«. Nach dem Sturz des Zarismus Minister des Äußeren in <strong>der</strong><br />

Provisorischen Regierung. Lebt als Emigrant in Paris, wo er die Zeitung 'Poslednie<br />

Nowosti' ('Letzte Nachrichten') herausgibt.<br />

Parvus (Helphand) - russischer Sozialdemokrat, seit Anfang <strong>der</strong> neunziger Jahre in <strong>der</strong><br />

deutschen Sozialdemokratie tätig, tat sich bei <strong>der</strong> Bekämpfung des Reformismus<br />

hervor. Während des Weltkrieges Haupttheoretiker des deutschen Sozialchauvinismus<br />

und Kriegslieferant.<br />

Plechanow - Begrün<strong>der</strong> des <strong>russischen</strong> Marxisnsus, nach <strong>der</strong> Spaltung 1903 schloß er<br />

sich den Menschewiki an. Während des Krieges nahm Plechanow eine extrem sozialpatriotische<br />

Stellung ein und bekämpfte heftig die Bolschewiki.<br />

Stolypin - zaristischer Premierminister und Minister des Innern seit 1906. Er jagte die II.<br />

Reichsduma auseinan<strong>der</strong> und oktroyierte ein neues Wahlrecht (Staatsstreich vom 3.<br />

Juni 1907). Seine Agrargesetzgebung (Gesetz vom 9. November 1906) erstrebte die<br />

Zerstörung <strong>der</strong> Dorfgemeinde ("Mir") und Schaffung einer wirtschaftlich starken<br />

Bauernschicht als Stützpunkt <strong>der</strong> Regierung. 1911 durch ein Attentat getötet.<br />

Struve - russischer Publizist, ursprünglich Sozialdemokrat, später Mitglied des Zentralkomitees<br />

<strong>der</strong> Kadettenpartei, nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> 1905 Führer des äußersten rechten<br />

Flügels <strong>der</strong> Liberalen. lm Bürgerkrieg Minister bei Denikin und später bei Wrangel,<br />

heute Führer einer Grnppe monarchistischer Emigranten.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 847


Tschernow - Führer und Theoretiker <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei. Während des<br />

Krieges rechter Zimmerwal<strong>der</strong>, nach <strong>der</strong> Februarrevolution entschiedener Vaterlandsverteidiger.<br />

Landwirtschaftsminister in <strong>der</strong> ersten Koalitionsregierung.<br />

Zeretelli - georgischer Sozialdemokrat, Menschewik. Nach <strong>der</strong> Februarrevolution trat<br />

Zeretelli für Fortsetzung des Krieges und für die Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie ein. In<br />

<strong>der</strong> ersten Koalitionsregierung war er Minister für Post- und Telegraphenwesen.<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 848

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