Geschichte der russischen Revolution.lwp - Internationale Sozialisten
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Leo Trotzki<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong><br />
<strong>Revolution</strong><br />
Februar- und Oktoberrevolution<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 2
1. Teil: Februarrevolution - Seite 3<br />
Inhalt:<br />
Vorwort<br />
Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands<br />
Das zaristische Rußland im Kriege<br />
Proletariat und Bauernschaft<br />
Der Zar und die Zarin<br />
Die Idee <strong>der</strong> Palastrevolution<br />
Die Agonie <strong>der</strong> Monarchie<br />
Fünf Tage (23.-27. Februar 1917)<br />
Wer leitet den Februaraufstand?<br />
Das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
Die neue Macht<br />
Doppelherrschaft<br />
Das Exekutivkomitee<br />
Armee und Krieg<br />
Die Regierenden und <strong>der</strong> Krieg<br />
Die Bolschewiki und Lenin<br />
Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei<br />
"Apriltage"<br />
Erste Koalition<br />
Die Offensive<br />
Die Bauernschaft<br />
Verschiebungen in den Massen<br />
Sowjetkongreß und Junidemonstration<br />
Schlußfolgerungen<br />
2. Teil: Oktoberrevolution Seite - 297<br />
Anhang zu Teil 1<br />
Zum Kapitel "Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands"<br />
Zum Kapitel "Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei"<br />
Zum Kapitel "Sowjetkongreß und Junidemonstrarion"<br />
Anhang zu Teil 2<br />
Legenden <strong>der</strong> Bürokratie<br />
Sozialismus in einem Lande?<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 3
Vorwort<br />
In den ersten zwei Monaten des Jahres 1917 war Rußland noch Romanowsche Monarchie.<br />
Acht Monate später standen bereits die Bolschewiki am Ru<strong>der</strong>, über die zu Beginn<br />
des Jahres nur wenige etwas gewußt hatten und <strong>der</strong>en Führer im Augenblick <strong>der</strong> Machtübernahme<br />
noch unter Anklage des Landesverrats standen. In <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> ist keine<br />
zweite ähnlich schroffe Wendung zu finden, beson<strong>der</strong>s wenn man bedenkt, daß es sich<br />
um eine Nation von hun<strong>der</strong>tundfünfzig Millionen Seelen handelt. Es ist klar, daß die<br />
Ereignisse des Jahres 1917, wie man sich zu ihnen auch stellen mag, verdienen, erforscht<br />
zu werden.<br />
Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> muß, wie jede <strong>Geschichte</strong>, vor allem berichten, was<br />
geschah und wie es geschah. Das allein jedoch genügt nicht. Aus dem Bericht selbst muß<br />
klarwerden, weshalb es so und nicht an<strong>der</strong>s geschah. Die Geschehnisse können we<strong>der</strong> als<br />
Kette von Abenteuern betrachtet noch auf den Faden einer vorgefaßten Moral aufgezogen<br />
werden. Sie müssen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit gehorchen. In <strong>der</strong> Aufdeckung<br />
dieser Gesetzmäßigkeit sieht <strong>der</strong> Autor seine Aufgabe.<br />
Der unbestreitbarste Charakterzug <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist die direkte Einmischung <strong>der</strong><br />
Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich <strong>der</strong> Staat,<br />
<strong>der</strong> monarchistische wie <strong>der</strong> demokratische, über die Nation; <strong>Geschichte</strong> vollziehen die<br />
Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier,<br />
Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich<br />
wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen,<br />
überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die<br />
Ausgangsposition für ein neues Regime. Ob dies gut o<strong>der</strong> schlecht, wollen wir dem<br />
Urteil <strong>der</strong> Moralisten überlassen. Wir selbst nehmen die Tatsachen, wie sie durch den<br />
objektiven Gang <strong>der</strong> Entwicklung gegeben sind. Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist für<br />
uns vor allem die <strong>Geschichte</strong> des gewaltsamen Einbruchs <strong>der</strong> Massen in das Gebiet <strong>der</strong><br />
Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.<br />
In <strong>der</strong> von einer <strong>Revolution</strong> erfaßten Gesellschaft kämpfen Klassen gegeneinan<strong>der</strong>. Es<br />
ist indes völlig offenkundig, daß die zwischen Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Ende<br />
vor sich gehenden Verän<strong>der</strong>ungen in den ökonomischen Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
und in <strong>der</strong>en Klassensubstrat absolut nicht ausreichen zur Erklärung des Verlaufes <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> selbst, die in kurzer Zeitspanne jahrhun<strong>der</strong>tealte Einrichtungen stürzt, neue<br />
schafft und wie<strong>der</strong> stürzt. Die Dynamik <strong>der</strong> revolutionären Ereignisse wird unmittelbar<br />
von den schnellen, gespannten und stürmischen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> vor<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> herausgebildeten Klassen bestimmt.<br />
Die Gesellschaft än<strong>der</strong>t nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs,<br />
wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert. Im Gegenteil, sie nimmt die über ihr<br />
hängenden Institutionen praktisch als etwas ein für allemal Gegebenes. Jahrzehntelang<br />
bildet die oppositionelle Kritik nur das Sicherheitsventil für die Massenunzufriedenheit<br />
und eine Bedingung für die Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaftsordnung: eine solche<br />
prinzipielle Bedeutung hat zum Beispiel die Kritik <strong>der</strong> Sozialdemokratie gewonnen. Es<br />
sind ganz beson<strong>der</strong>e, vom Willen <strong>der</strong> Einzelnen und <strong>der</strong> Parteien unabhängige Bedingungen<br />
notwendig, die <strong>der</strong> Unzufriedenheit die Ketten des Konservativismus herunterreißen<br />
und die Massen zum Aufstand bringen.<br />
Schnelle Verän<strong>der</strong>ungen von Ansichten und Stimmungen <strong>der</strong> Massen in <strong>der</strong> revolutio-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 4
nären Epoche ergeben sich folglich nicht aus <strong>der</strong> Elastizität und Beweglichkeit <strong>der</strong><br />
menschlichen Psyche, son<strong>der</strong>n im Gegenteil aus <strong>der</strong>en tiefem Konservativismus. Das<br />
chronische Zurückbleiben <strong>der</strong> Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven<br />
Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die<br />
Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>speriode die sprunghafte<br />
Bewegung <strong>der</strong> Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge <strong>der</strong><br />
Tätigkeit von "Demagogen" erscheint.<br />
Die Massen gehen in die <strong>Revolution</strong> nicht mit einem fertigen Plan <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Neuordnung hinein, son<strong>der</strong>n mit dem scharfen Gefühl <strong>der</strong> Unmöglichkeit, die alte<br />
Gesellschaft länger zu dulden. Nur die führende Schicht <strong>der</strong> Klasse hat ein politisches<br />
Programm, das jedoch noch <strong>der</strong> Nachprüfung durch die Ereignisse und <strong>der</strong> Billigung<br />
durch die Massen bedarf Der grundlegende politische Prozeß <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht<br />
eben in <strong>der</strong> Erfassung <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> sozialen Krise ergebenden Aufgaben durch die<br />
Klasse und <strong>der</strong> aktiven Orientierung <strong>der</strong> Masse nach <strong>der</strong> Methode sukzessiver Annäherungen.<br />
Die einzelnen Etappen des revolutionären Prozesses, gefestigt durch die<br />
Ablösung <strong>der</strong> einen Parteien durch an<strong>der</strong>e, immer extremere, drücken das anwachsende<br />
Drängen <strong>der</strong> Massen nach links aus, bis <strong>der</strong> Schwung <strong>der</strong> Bewegung auf objektive<br />
Hin<strong>der</strong>nisse prallt. Dann beginnt die Reaktion: Enttäuschung einzelner Schichten <strong>der</strong><br />
revolutionären Klasse, Wachsen <strong>der</strong> Gleichgültigkeit und damit Festigung <strong>der</strong> Positionen<br />
<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte. Dies ist wenigstens das Schema <strong>der</strong> alten <strong>Revolution</strong>en.<br />
Nur auf Grund des Studiums <strong>der</strong> politischen Prozesse in den Massen selbst kann man<br />
die Rolle <strong>der</strong> Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten<br />
geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges<br />
Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie <strong>der</strong> Massen<br />
verfliegen wie Dampf, <strong>der</strong> nicht in einem Kolbenzylin<strong>der</strong> eingeschlossen ist. Die<br />
Bewegung erzeugt indes we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zylin<strong>der</strong> noch <strong>der</strong> Kolben, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Dampf.<br />
Die Schwierigkeiten, die sich dem Studium <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen des Massenbewußtseins<br />
in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sepoche hin<strong>der</strong>nd in den Weg stellen, sind ganz offensichtlich.<br />
Die unterdrückten Klassen machen <strong>Geschichte</strong> in Fabriken, Kasernen, in Dörfern, in den<br />
Straßen <strong>der</strong> Städte. Dabei sind sie am allerwenigsten gewohnt, sie nie<strong>der</strong>zuschreiben.<br />
Perioden höchster Spannung sozialer Leidenschaften lassen überhaupt wenig Raum für<br />
Beschaulichkeit und Schil<strong>der</strong>ung. Alle Musen - selbst die plebejische Muse des Journalismus,<br />
trotz ihrer <strong>der</strong>ben Flanken - haben es während einer <strong>Revolution</strong> schwer. Und<br />
dennoch ist die Lage des Historikers keinesfalls hoffnungslos. Die Aufzeichnungen sind<br />
unvollständig, verstreut, zufällig. Doch im Lichte <strong>der</strong> Ereignisse selbst erlauben diese<br />
Bruchstücke nicht selten, Richtung und Rhythmus <strong>der</strong> unterirdischen Prozesse zu erraten.<br />
Ob recht o<strong>der</strong> schlecht, aber auf <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen des Massenbewußtseins<br />
begründet die revolutionäre Partei ihre Taktik. Der historische Weg des Bolschewismus<br />
zeigt, daß eine solche Berechnung, wenigstens in ihren gröbsten Zügen, möglich<br />
ist. Warum soll, was einem revolutionären Politiker im Strudel des Kampfes gelingt,<br />
nicht auch dem Historiker rückblickend gelingen?<br />
Die im Bewußtsein <strong>der</strong> Massen sich vollziehenden Prozesse Sind jedoch we<strong>der</strong><br />
ursprünglich noch unabhängig. So sehr Idealisten und Eklektiker auch ungehalten sein<br />
mögen das Bewußtsein wird doch durch das Sein bestimmt. In den historischen Bedingungen<br />
<strong>der</strong> Formierung Rußlands, seiner Wirtschaft, seiner seines Staates und <strong>der</strong> Beeinflussung<br />
durch an<strong>der</strong>e Staaten mußten die Voraussetzungen für die Februarrevolution<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 5
und ihre Ablösung durch die Oktoberrevolution enthalten gewesen sein. Insofern die<br />
Tatsache, daß das Proletariat zuerst in einem rückständigen Lande an die Macht gelangte,<br />
immer wie<strong>der</strong> als beson<strong>der</strong>s rätselhaft erscheint, muß man von vornherein die Erklärung<br />
dieser Tatsache in <strong>der</strong> Eigenart dieses rückständigen Landes, das heißt in den<br />
Merkmalen, durch die es sich von an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n unterscheidet, suchen.<br />
Die historischen Eigenarten Rußlands und ihr spezifisches Gewicht sind in den ersten<br />
Kapiteln dieses Buches charakterisiert, die einen kurzen Abriß <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong> Gesellschaft und ihrer inneren Kräfte enthalten. Wir möchten hoffen, daß <strong>der</strong><br />
unvermeidliche Schematismus dieser Kapitel den Leser nicht abschrecken wird. Im<br />
weiteren Verlauf des Buches soll er den gleichen sozialen Kräften in lebendiger<br />
Handlung begegnen.<br />
Diese Arbeit stützt sich in keiner Weise auf persönliche Erinnerungen. Der Umstand,<br />
daß <strong>der</strong> Autor Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse war, enthob ihn nicht <strong>der</strong> Pflicht, seine Darstellung<br />
auf streng nachgeprüften Dokumenten aufzubauen. Der Autor dieses Buches spricht<br />
von sich, insofern er durch den Lauf <strong>der</strong> Ereignisse dazu gezwungen wird, in dritter<br />
Person. Und dies ist nicht einfach eine literarische Form: <strong>der</strong> in einer Autobiographie<br />
o<strong>der</strong> in Memoiren unvermeidliche subjektive Ton wäre bei einer historischen Arbeit<br />
unzulässig.<br />
Der Umstand jedoch, daß <strong>der</strong> Autor Teilnehmer des Kampfes war, erleichtert ihm<br />
natürlich das Verständnis nicht nur für die Psychologie <strong>der</strong> handelnden Kräfte, <strong>der</strong><br />
individuellen und kollektiven, son<strong>der</strong>n auch für den inneren Zusammenhang <strong>der</strong> Ereignisse.<br />
Dieser Vorzug kann positive Resultate nur unter Beachtung einer Bedingung<br />
ergeben: sich nicht auf die Angaben des eigenen Gedächtnisses verlassen, nicht nur im<br />
kleinen, son<strong>der</strong>n auch im großen, nicht nur in bezug aufTatsachen, son<strong>der</strong>n auch in<br />
bezug auf Motive und Stimmungen. Der Autor ist <strong>der</strong>Ansicht, daß er, insofern es von<br />
ihm abhing, diese Bedingungen beachtet hat.<br />
Bleibt die Frage <strong>der</strong> politischen Stellung des Autors, <strong>der</strong> als Historiker auf dem selben<br />
Standpunkt steht, den er als Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse inne hatte. Der Leser ist selbstverständlich<br />
nicht verpflichtet, die politischen Ansichten des Autors zu teilen, <strong>der</strong> seinerseits<br />
keine Veranlassung hat, sie zu verheimlichen. Aber <strong>der</strong> Leser hat das Recht, von einer<br />
historischen Arbeit zu for<strong>der</strong>n, daß sie nicht die Apologie einer politischen Position,<br />
son<strong>der</strong>n die innerlich. begründete Darstellung des realen Prozesses <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sei.<br />
Eine historische Arbeit entspricht nur dann vollkommen ihrer Bestimmung, wenn auf den<br />
Buchseiten die Ereignisse in ihrer ganzen natürlichen Zwangsläufigkeit abrollen.<br />
Ist hierfür eine sogenannte historische "Unvoreingenommenheit" erfor<strong>der</strong>lich?<br />
Niemand hat noch klar gesagt, worin sie zu bestehen habe. Die oft angeführten Worte<br />
Clemenceaus, daß man die <strong>Revolution</strong> en bloc, als Ganzes nehmen müsse, sind im besten<br />
Falle eine geistreiche Ausflucht: wie kann man sich als Anhänger einer Gesamtheit erklären,<br />
<strong>der</strong>en Wesen in Zwiespältigkeit besteht? Clemenceaus Aphorismus ist teils von <strong>der</strong><br />
Betretenheit über die allzu entschiedenen Vorfahren, teils von <strong>der</strong> Verlegenheit des<br />
Nachfahren vor <strong>der</strong>en Schatten diktiert.<br />
Einer <strong>der</strong> reaktionären und darum Mode-Historiker des gegen-wärtigen Frankreich, L.<br />
Madelein, <strong>der</strong> so salonfähig die Große <strong>Revolution</strong>, das heißt die Geburt <strong>der</strong> französischen<br />
Nation verleumdet hat, behauptet: »Der Historiker muß sich auf die Mauer <strong>der</strong><br />
bedrohten Stadt stellen und gleichzeitig Belagerer und Belagerte überblicken«; nur so<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 6
könne man angeblich die »ausgleichende Gerechtigkeit« erreichen. Die Arbeiten<br />
Madeleins beweisen jedoch, daß, wenn er auch auf die die zwei Lager trennende Mauer<br />
klettert, so nur in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Zaunspähers <strong>der</strong> Reaktion. Es ist gut, daß es sich<br />
in diesem Falle um Lager <strong>der</strong> Vergangenheit handelt. Währen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist <strong>der</strong><br />
Aufenthalt auf <strong>der</strong> Mauer mit großen Gefahren verbunden. Im übrigen pflegen in unruhigen<br />
Augenblicken die Priester <strong>der</strong> »ausgleichenden Gerechtigkeit« gewöhnlich in ihren<br />
vier Wänden zu hocken und abzuwarten, auf wessen Seite <strong>der</strong> Sieg sein wird.<br />
Der ernste und kritische Leser bedarf keiner verlogenen Unvforeingenommenheit, die<br />
ihm den Kelch <strong>der</strong> Versöhnung, mit gut abgestandenem Gift reaktionären Hasses auf<br />
dem Boden, darbietet, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> methodischen Gewissenhaftigkeit, die für ihre<br />
offenen, unverschleierten Sympathien und Antipathien eine Stütze in ehrlicher Erforschung<br />
<strong>der</strong> Tatsachen sucht, in <strong>der</strong> Feststellung ihres wirklichen Zusammenhanges, in<br />
<strong>der</strong> Aufdeckung <strong>der</strong> Gesetzmäßigkeit ihrer Folge. Dies ist die einzig mögliche historische<br />
Objektivität und dabei eine vollkommen ausreichende, denn sie wird überprüft und<br />
bestätigt nicht durch die guten Absichten des Historikers, für die obendrein er selbst<br />
einsteht, son<strong>der</strong>n durch die von ihm aufgedeckte Gesetzmäßigkeit des historischen<br />
Prozesses selbst.<br />
Als Quellen dieses Buches dienten zahlreiche periodische Publikationen, Zeitungen<br />
und Zeitschriften, Memoiren, Protokolle und an<strong>der</strong>es, teilweise handschriftliches Material,<br />
in <strong>der</strong> Hauptsache aber vom Institut für die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Moskau und<br />
Leningrad bereits veröffentlicht. Wir haben es für überflüssig erachtet, im Text auf die<br />
einzelnen Quellen zu verweisen, da dies den Leser nur belasten würde. Von Büchern, die<br />
den Charakter eines Sammelwerkes historischer Arbeiten darstellen, haben wir insbeson<strong>der</strong>e<br />
das zweibändige Werk "Abrisse zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Oktoberrevolution" (Moskau-<br />
Leningrad 1927) benutzt. Von verschiedenen Autoren stammend, sind die einzelnen<br />
Teile dieser "Abrisse" nicht gleichwertig, doch enthalten sie jedenfalls reichliches Tatsachenmaterial.<br />
Die chronologischen Daten unseres Buches sind durchweg nach dem alten Stil angegeben,<br />
das heißt sie bleiben hinter dem Welt- und auch dem heutigen Sowjetkalen<strong>der</strong> um<br />
dreizehn Tage zurück. Der Autor war gezwungen, jenen Kalen<strong>der</strong> anzuwenden, <strong>der</strong> zur<br />
Zeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Kraft war. Es würde allerdings keine Mühe machen, die Daten auf<br />
den neuen Stil zu bringen. Aber diese Operation müßte, während sie die einen Schwierigkeiten<br />
behebt, unvermeidlich neue, wesentlichere erzeugen. Der Sturz <strong>der</strong> Monarchie ist<br />
unter dem Namen "Februarrevolution" in die <strong>Geschichte</strong> eingegangen. Nach dem westlichen<br />
Kalen<strong>der</strong> vollzog er sich jedoch im März. Die bewaffnete Demonstration gegen die<br />
imperialistische Politik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung kam unter dem Namen "Apriltage"<br />
in die <strong>Geschichte</strong>, nach dem westlichen Kalen<strong>der</strong> fand sie jedoch im Mai statt. Ohne bei<br />
an<strong>der</strong>en Zwischenereignissen und Daten zu verweilen, wollen wir noch bemerken, daß<br />
sich die Oktoberumwälzung nach <strong>der</strong> europäischen Zeitrechnung im November<br />
abgespielt hat. Also sogar <strong>der</strong> Kalen<strong>der</strong> ist, wie wir sehen, von den Ereignissen gefärbt,<br />
und <strong>der</strong> Historiker kann die revolutionäre Zeitrechnung nicht mit Hilfe einfacher arithmetischer<br />
Regeln zurechtmachen. Der Leser möge bedenken, daß, bevor sie den byzantinischen<br />
Kalen<strong>der</strong> stürzte, die <strong>Revolution</strong> die Institutionen stürzen mußte, die sich an ihn<br />
klammerten.<br />
Prinkipo L. Trotzki<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 7
Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands<br />
Der grundlegende, beständigste Charakterzug <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> Rußlands ist dessen<br />
verspätete Entwicklung mit <strong>der</strong> sich daraus ergebenden ökonomischen Rückständigkeit,<br />
Primitivität <strong>der</strong> Gesellschaftsformen und dem tiefen Kulturniveau.<br />
Die Bevölkerung <strong>der</strong> gigantischen, rauhen, den östlichen Winden und asiatischen<br />
Eindringlingen geöffneten Ebene war von Natur aus zu weitem Zurückbleiben verurteilt.<br />
Der Kampf mit den Nomaden wähnte fast bis zum Ende des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Der Kampf mit den Winden, die im Winter Frost, im Sommer Dürre bringen, ist auch<br />
heute noch nicht beendet. Die Landwirtschaft - die Grundlage <strong>der</strong> gesamten Entwicklung<br />
- schritt auf extensiven Wegen vorwärts: im Norden wurden die Wäl<strong>der</strong> abgeholzt und<br />
nie<strong>der</strong>gebrannt, im Süden die Ursteppen aufgerissen; das Besitzergreifen von Natur ging<br />
in die Breite, nicht indieTiefe.<br />
Während die westlichen Barbaren sich auf den Ruinen <strong>der</strong> römischen Kultur ansiedelten,<br />
wo viele alte Steine ihnen als Baumaterial dienten, fanden die Slawen des Ostens in<br />
<strong>der</strong> trostlosen Ebene keinerlei Erbe vor: ihre Vorgänger hatten auf einer noch tieferen<br />
Stufe als sie selbst gestanden. Die westeuropäischen Völker, die bald an ihre natürlichen<br />
Grenzen stoßen mußten, schufen die ökonomische und kulturelle Zusammenballungen:<br />
die gewerbetreibenden Städte. Die Bevölkerung <strong>der</strong> Ostebene zog sich beim ersten<br />
Anzeichen von Enge in die Wäl<strong>der</strong> zurück o<strong>der</strong> wan<strong>der</strong>te an die Peripherie ab, in die<br />
Steppe. Die initiativ- und unternehmungslustigen Elemente <strong>der</strong> Bauernschaft wurden im<br />
Westen Städter, Handwerker, Kaufleute. Die aktiven und kühnen Elemente des Ostens<br />
wurden einesteils Händler, größtenteils jedoch Kosaken, Grenzsiedler, Kolonisatoren.<br />
Der im Westen intensive Prozeß <strong>der</strong> sozialen Differenzierung wurde im Osten aufgehalten<br />
und durch den Expansionsprozeß verwischt. »Der Zar <strong>der</strong> Moskowiter, obwohl<br />
christlich, herrscht über Menschen von faulem Geist«, schrieb Vico, <strong>der</strong> Zeitgenosse<br />
Peters 1. Der »faule Geist« <strong>der</strong> Moskowiter war ein Abbild des langsamen Tempos <strong>der</strong><br />
wirtschaftlichen Entwicklung, <strong>der</strong> Ungeformtheit <strong>der</strong> Klassenbeziehungen, <strong>der</strong> Armut <strong>der</strong><br />
inneren <strong>Geschichte</strong>.<br />
Die alten Zivilisationen Ägyptens, Indiens und Chinas besaßen einen ausreichend<br />
selbstgenügsamen Charakter und verfügten über ausreichende Zeit, um trotz tiefstehen<strong>der</strong><br />
Produktionskräfte ihre sozialen Beziehungen fast zur gleichen, bis ins einzelne<br />
gehenden Vollendung zu bringen, zu <strong>der</strong> die Handwerker dieser Län<strong>der</strong> ihre Erzeugnisse<br />
brachten. Rußland lag nicht nur geographisch zwischen Europa und Asien, son<strong>der</strong>n auch<br />
sozial und historisch. Es unterschied sich vom europäischen Westen, aber auch vom<br />
asiatischen Osten und näherte sich während verschiedener Perioden in verschiedener<br />
Hinsicht bald dem einen, bald dem an<strong>der</strong>en. Der Osten brachte das tatarische Joch das als<br />
wichtiges Element in den Aufbau des <strong>russischen</strong> Staates einging. Der Westen war ein<br />
noch gefährlicherer Feind, aber gleichzeitig Lehrer. Rußland hatte keine Möglichkeit,<br />
sich in den Formen des Ostens herauszubilden, weil es gezwungen war, sich stets dem<br />
militärischen und ökonomischen Druck des Westens anzupassen.<br />
Das Bestehen feudaler Beziehungen in Rußland, von den alten Historikern verneint,<br />
kann man auf Grund neuer Forschungen als unbedingt nachgewiesen betrachten. Mehr<br />
noch: die Grundelemente des <strong>russischen</strong> Feudalismus waren die gleichen wie im Westen.<br />
Aber schon allein die Tatsache, daß die feudale Epoche erst durch lange wissenschaftliche<br />
Streitigkeiten festgestellt werden mußte, ist ein genügendes Zeugnis für die Unreife<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 8
des <strong>russischen</strong> Feudalismus, seine Ungeformtheit und die Dürftigkeit seiner Kulturdenkmäler.<br />
Ein rückständiges Land eignet sich die materiellen und geistigen Eroberungen fortgeschrittener<br />
Län<strong>der</strong> an. Das heißt aber nicht, daß es ihnen sklavisch folgt und alle Etappen<br />
ihrer Vergangenheit reproduziert. Die Theorie von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung historischer Zyklen<br />
- Vico und dessen spätere Anhänger - stützt sich auf Beobachtungen des Kreislaufs alter,<br />
vorkapitalistischer Kulturen, zum Teil auch auf die ersten Erfahrungen <strong>der</strong> kapitalistischen<br />
Entwicklung. Eine gewisse Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> Kulturstadien an immer neuen<br />
Herden war tatsächlich mit dem provinziellen und episodischen Charakter des gesamten<br />
Prozesses verbunden. Der Kapitalismus bedeutet jedoch die Überwindung dieser Bedingungen.<br />
Er bereitete vor und verwirklichte in gewissem Sinne die Universalität und<br />
Permanenz <strong>der</strong> Mensehbeitsentwicklung. Das allein schließt die Wie<strong>der</strong>holungsmöglichkeit<br />
<strong>der</strong> Entwicklungsformen einzelner Nationen aus. Gezwungen, den fortgeschrittenen<br />
Län<strong>der</strong>n nachzueifern, hält das rückständige Land die Reihenfolge nicht ein: das Privileg<br />
<strong>der</strong> historischen Verspätung - und ein solches Privileg besteht - erlaubt, o<strong>der</strong> richtiger<br />
gesagt, zwingt, sich das Fertige vor <strong>der</strong> bestimmten Zeit anzueignen, eine Reihe<br />
Zwischenetappen zu überspringen. Die Wilden vertauschen den Bogen gleich mit dem<br />
Gewehr, ohne erst den Weg durchzumachen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Vergangenheit zwischen diesen<br />
Waffengattungen lag. Die europäischen Kolonisten in Amerika begannen die <strong>Geschichte</strong><br />
nicht von neuem. Der Umstand, daß Deutschland o<strong>der</strong> die Vereinigten Staaten England<br />
ökonomisch überholt haben, war gerade durch die Verspätung ihrer kapitalistischen<br />
Entwicklung bedingt. Umgekehrt ist die konservative Anarchie in <strong>der</strong> britischen<br />
Kohlenindustrie, wie auch in den Köpfen Macdonalds und seiner Freunde, eine Quittung<br />
für die Vergangenheit, in <strong>der</strong> England zu lange die Rolle des kapitalistischen Hegemonen<br />
gespielt hat. Die Entwicklung einer historisch verspäteten Nation führe notgedrungen zu<br />
eigenartiger Verquickung verschiedener Stadien des historischen Prozesses. In seiner<br />
Gesamtheit bekommt <strong>der</strong> Kreislauf einen nicht planmäßigen, verwickelten, kombinierten<br />
Charakter.<br />
Die Möglichkeit, Zwischenstufen zu überspringen, ist selbstverständlich keine<br />
absolute; ihr Ausmaß wird letzten Endes von <strong>der</strong> wirtschaftlichen und kulturellen<br />
Aufnahmefähigkeit des Landes bestimmt. Eine rückständige Nation drückt außerdem die<br />
Errungenschaften, die sie fertig von außen übemimmt, durch Anpassung an ihre primitivere<br />
Kultur hinab. Der Assimilationsprozeß selbst bekommt dabei einen wi<strong>der</strong>spruchsvollen<br />
Charakter. So brachte die Einführung <strong>der</strong> Elemente westlicher Technik und<br />
Ausbildung, vor allein aufdem Gebiete des Militär- und Manufakturwesens unter Peter<br />
1., die Verschärfung des Leibeigenschaftsrechtes als Grundform <strong>der</strong> Arbeitsorganisation<br />
mit sich. Europäische Rüstung und europäische Anleihen - das eine wie das an<strong>der</strong>e<br />
zweifellos Produkte einer höheren Kultur - führten zur Befestigung des Zarismus, <strong>der</strong><br />
seinerseits die Entwicklung des Landes hemmte.<br />
Die geschichtliche Gesetzmäßigkeit hat nichts gemein mit pedantischem<br />
Schematismus. Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses,<br />
enthüllt sich am krassesten und am verwickeltsten am Schicksal verspäteter Län<strong>der</strong>.<br />
Unter <strong>der</strong> Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu<br />
machen. Aus dem universellen Gesetz <strong>der</strong> Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein an<strong>der</strong>es<br />
Gesetz, das man mangels passen<strong>der</strong>er Bezeichnung das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 9
Entwicklung nennen kann im Sinne <strong>der</strong> Annäherung verschiedener Wegetappen,<br />
Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen.<br />
Ohne dieses Gesetz, selbstverständlich in seinem gesamten materiellen Inhalt genommen,<br />
vermag man die <strong>Geschichte</strong> Rußlands wie überhaupt aller Län<strong>der</strong> zweiten, dritten und<br />
zehnten Kulturaufgebots nicht zu erfassen.<br />
Unter dem Druck des reicheren Europa verschlang <strong>der</strong> Staat in Rußland einen verhältnismäßig<br />
viel größeren Teil des Volksvermögens als die Staaten im Westen und verurteilte<br />
damit nicht nur die Volksmassen zu doppelter Armut, son<strong>der</strong>n schwächte auch die<br />
Grundlagen <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Da er gleichzeitig die Hilfe <strong>der</strong> letzteren benötigte,<br />
forcierte und reglementierte <strong>der</strong> Staat <strong>der</strong>en Bildung. Infolgedessen konnten sich die<br />
bürokratisierten privilegierten Klassen niemals in ganzer Höhe aufrichten, und um so<br />
mehr näherte sich <strong>der</strong> Staat in Rußland <strong>der</strong> asiatischen Despotie.<br />
Das byzantinische Selbstherrschertum, das die Moskauer Zaren sich offiziell zu Beginn<br />
des sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts angeeignet hatten, zähmte mit Hilfe des Adels das feudale<br />
Bojarentum und unterwarf sich den Adel, ihm gleichzeitig die Bauern versklavend, um<br />
sich auf dieser Grundlage in den Petersburger Imperatorenabsolutismus zu verwandeln.<br />
Die Verspätung dieses Prozesses wird dadurch zur Genüge charakterisiert, daß das<br />
Leibeigenschaftsrecht, das im sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t entstanden war, sich im siebzehnten<br />
ausgebildet und seine Blüte im achtzehnten erreicht hatte, rechtlich erst 1861<br />
abgeschafft wurde.<br />
Die Geistlichkeit hat nach dem Adel bei <strong>der</strong> Herausbildung des zaristischen Selbstherrschertums<br />
keine geringe, aber eine völlig dienende Rolle gespielt. Die Kirche erhob sich<br />
in Rußland niemals zu jener Kommandohöhe wie im katholischen Westen: sie begnügte<br />
sich mit <strong>der</strong> SteHung eines geistlichen Knechtes beim Selbstherrschertum und rechnete<br />
sich dies als Verdienst ilrrer Demut an. Bischöfe und Metropoliten besaßen Macht nur als<br />
Bevollmächtigte <strong>der</strong> weltlichen Gewalt. Die Patriarchen wechselten zusammen mit den<br />
Zaren. In <strong>der</strong> Petersburger Periode wurde die Abhängigkeit <strong>der</strong> Kirche vom Staate noch<br />
sklavischer. Zweihun<strong>der</strong>ttausend Priester und Mönche bildeten im wesentlichen einen<br />
Teil <strong>der</strong> Bürokratie, eine Art Glaubenspolizei. Als Gegenleistung wurden das Monopol<br />
<strong>der</strong> orthodoxen Geistlichkeit in Glaubensangelegenheiten, ihre Län<strong>der</strong> und Einkünfte von<br />
<strong>der</strong> allgemeinen Ordnungspolizei beschirmt.<br />
Das Slawophilentum, dieser Messianismus <strong>der</strong> Rückständigkeit, begründete seine<br />
Philosophie damit, daß das russische Volk und dessen Kirche durch und durch demokratisch,<br />
das offizielle Russland aber eine von Peter angepflanzte deutsche Bürokratie sei.<br />
Marx sagte dazu: »Ganz wie die teutonischen Esel den Despotismus Friedrichs II. usw.<br />
auf die Franzosen wälzen, als wenn zurückgebliebene Knechte nicht immer zivilisierte<br />
Knechte brauchten, um dressiert zu werden.« Diese kurze Bemerkung erschöpft restlos<br />
nicht nur die alte Philosophie <strong>der</strong> Slawophilen, son<strong>der</strong>n auch die neuesten Offenbarungen<br />
<strong>der</strong> "Rassentümler".<br />
Die Kargheit nicht nur des <strong>russischen</strong> Feudalismus, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> ganzen alt<strong>russischen</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> fand ihren traurigsten Ausdruck im Mangel echt mittelalterlicher Städte<br />
als Handwerks- und Handelszentren. Das Handwerk hatte in Rußland keine Zeit gehabt,<br />
sich vom Ackerbau zu trennen, bewahrte vielmehr den Charakter <strong>der</strong> Heimarbeit, Die<br />
alti<strong>russischen</strong> Städte waren Handels-, Verwaltungs-, Heeres- und Adels-Zentren, folglich<br />
konsumierend, nicht produzierend. Sogar die <strong>der</strong> Mama verwandte Stadt Nowgorod, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 10
das tatarische Joch nicht gekannt hatte, war nur eine Handels-, keine Gewerbestadt.<br />
Allerdings schuf die Verstreutheit <strong>der</strong> bäuerlichen Gewerbe in verschiedenen Bezirken<br />
das Bedürfnis nach einer Handelsvermittlung breiten Maßstabes. Doch vermochten die<br />
nomadischen Händler im öffentlichen Leben in keinem Falle jenen Platz einzunehmen,<br />
<strong>der</strong> im Westen <strong>der</strong> handwerklich-zünftigen und handelsgewerblichen Klein- und Mittelbourgeoisie<br />
zukam, die mit ihrer bäuerlichen Peripherie unzertrennlich verbunden waren.<br />
Die Hauptwege des <strong>russischen</strong> Handels führten überdies ins Ausland, sicherten die<br />
leitende Stellung seit alters her dem ausländischen Handelskapital und verliehen dem<br />
ganzen Umsatz, bei dem <strong>der</strong> russische Händler Mittler zwischen <strong>der</strong> westlichen Stadt und<br />
dem <strong>russischen</strong> Dorfe war, einen halb kolonialen Charakter. Diese Art ökonomischer<br />
Beziehung erfuhr eine weitere Entwicklung in <strong>der</strong> Epoche des <strong>russischen</strong> Kapitalismus<br />
und erreichte ihren höchsten Ausdruck im imperialistischen Kriege.<br />
Die Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Städte, die zur Entstehung des asiatischen<br />
Staatstypus am meisten beigetragen hat, schloß insbeson<strong>der</strong>e die Möglichkeit <strong>der</strong> Reformation<br />
aus, das heißt <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong> feudal-bürokratischen Orthodoxie durch irgendeine<br />
mo<strong>der</strong>nisierte Abart eines den Bedürfnissen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft angepaßten<br />
Christentums. Der Kampf gegen die Staatskirche ging nicht über die bäuerlichen<br />
Sekten, einschließlich <strong>der</strong> mächtigsten von ihnen, das altgläubige Schisma, hinaus.<br />
An<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte vor <strong>der</strong> großen Französischen <strong>Revolution</strong> entbrannte in Rußland<br />
die Bewegung <strong>der</strong> Kosaken, Bauern und leibeigenen Uraler Arbeiter, die nach dem<br />
Namen ihres Führers Pugarschow benannt wurde. Was hatte diesem grimmigen Volksaufstande<br />
gefehlt, um sich in eine <strong>Revolution</strong> zu verwandeln? Der dritte Stand. Ohne die<br />
Handwerkerdemokratie <strong>der</strong> Städte vermochte sich <strong>der</strong> Bauernkrieg ebensowenig zu einer<br />
<strong>Revolution</strong> entwickeln, wie sich die Bauernsekten zu einer Reformation erheben<br />
konnten. Im Gegenteil, die Folge <strong>der</strong> Pugatschowschtschina war die Befestigung des<br />
bürokratischen Absolutismus, als des in schwierigen Stunden wie<strong>der</strong> bewährten Hüters<br />
<strong>der</strong> Adelsinteressen.<br />
Die unter Peter formell begonnene Europäisierung des Landes wurde im Verlaufe des<br />
nächsten Jahrhun<strong>der</strong>ts immer mehr zum Bedürfnis <strong>der</strong> herrschenden Klasse selbst, das<br />
heißt des Adels. Im Jahre 1825 griff die Adelsintelligenz, dieses Bedürfnis politisch<br />
verallgemeinernd, zur Militärverschwörung, mit dem Ziel <strong>der</strong> Einschränkung des Selbstherrschertums.<br />
Unter dem Druck <strong>der</strong> europäisch-bürgerlichen Entwicklung versuchte<br />
somit <strong>der</strong> fortschrittliche Adel, den fehlenden dritten Stand zu ersetzen. Doch wollte er<br />
das liberale Regime auf jeden Fall mit den Grundlagen seiner Standesherrschaft verquikken<br />
und fürchtete deshalb über alles, die Bauern aufzuwiegeln. Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich,<br />
daß die Verschwörung ein Unternehmen des glanzvollen, aber isolierten Offiziersstandes<br />
blieb, <strong>der</strong> sich dabei fast kampflos den Schädel einrannte. Dies war <strong>der</strong> Sinn des<br />
Dekabristenaufstandes.<br />
Gutsherren, die Fabriken besaßen, waren die ersten ihres Standes, die sich <strong>der</strong><br />
Ablösung <strong>der</strong> leibeigenen durch freie Arbeit geneigt zeigten. In die gleiche Richtung<br />
drückte <strong>der</strong> anwachsende Auslandsexport <strong>russischen</strong> Getreides. Im Jahre 1861 führte die<br />
adlige Bürokratie, gestützt auf die liberalen Gutsbesitzer, ihre Bauernreform durch. Der<br />
ohnmächtige bürgerliche Liberalismus bildete bei dieser Operation den gehorsamen<br />
Chor. Es ist überflüssig, zu sagen, daß <strong>der</strong> Zarismus Rußlands grundlegendes Problem,<br />
das heißt die Agrarfrage, noch engherziger und diebischer löste, als die preußische<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 11
Monarchie im Laufe des nächsten Jahrzehnts Deutschlands grundlegendes Problem, das<br />
heißt dessen nationale Einigung. Die Lösung <strong>der</strong> Aufgabe einer Klasse durch die Hände<br />
einer an<strong>der</strong>en ist eben eine <strong>der</strong> kombinierten Methoden, die den rückständigen Län<strong>der</strong>n<br />
eigentümlich sind.<br />
Am unbestrittensten jedoch enthüllt sich das Gesetz <strong>der</strong> kombi-nierten Entwicklung an<br />
<strong>Geschichte</strong> und Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Industrie. Spät entstanden, wie<strong>der</strong>holte sie die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong> nicht, son<strong>der</strong>n reihte sich in diese ein, indem<br />
sie <strong>der</strong>en neueste Errungenschaften <strong>der</strong> eigenen Rückständigkeit anpaßte. War Rußlands<br />
wirtschaftliche Evolution in ihrer Gesamtheit über die Epochen des Zunfthandwerks und<br />
<strong>der</strong> Manufaktur hinweggeschritten, so übersprangen einzelne Industriezweige eine Reihe<br />
von technisch-industriellen Etappen, die im Westen nach Jahrzehnten maßen. Infolgedessen<br />
entwickelte sich die russische Industrie zu gewissen Perioden in äußerst schnellem<br />
Tempo. Zwischen <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> und dem Kriege stieg die russische Industrieproduktion<br />
annähernd um das Doppelte. Das erschien einigen <strong>russischen</strong> Historikern ein<br />
hinlänglicher Grund zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung, daß man »von <strong>der</strong> Legende über Rückständigkeit<br />
und langsames Wachstum abkommen muße« 1 . InWirklichkeit wurde die Möglichkeit<br />
eines so schnellen Wachstums gerade durch die Rückständigkeit bestimmt, die sich -<br />
lei<strong>der</strong> - nicht nur bis zum Augenblick <strong>der</strong> Liquidierung des alten Russlands, son<strong>der</strong>n, als<br />
dessen Erbe, bis auf den heutigen Tag erhalten hat.<br />
Der grundlegende Gradmesser des ökonomischen Niveaus einer Nation ist die Produktivität<br />
<strong>der</strong> Arbeit, die ihrerseits vom spezifischen Gewicht <strong>der</strong> Industrie in <strong>der</strong> Gesamtwirtschaft<br />
des Landes abhängt. Am Vorabend des Krieges, als das zaristische Russland<br />
den Höhepunkt seines Wohlstandes erreicht hatte, war das Volkseinkommen pro Kopf<br />
acht- bis zehnmal geringer als in den Vereinigten Staaten, was nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich<br />
ist, berücksichtigt man, daß vier Fünftel <strong>der</strong> selbständig werktätigen Bevölkerung<br />
Rußlands in <strong>der</strong> Landwirtschaft beschäftigt waren, während in den Vereinigten Staaten<br />
auf einen in <strong>der</strong> Landwirtschaft Beschäftigten 2,5 in <strong>der</strong> Industrie Beschäftigte gezählt<br />
wurden. Hinzugefügt sei noch, daß am Vorabend des Krieges in Russland auf hun<strong>der</strong>t<br />
Quadratkilometer 0,4 Kilometer Eisenbahn, in Deutschland 11,7, in Österreich-Ungarn 7<br />
kamen. Die an<strong>der</strong>en vergleichenden Koeffizienten sind nämlicher Art.<br />
Aber gerade auf dem Gebiete <strong>der</strong> Wirtschaft tritt, wie bereits gesagt, das Gesetz <strong>der</strong><br />
kombinierten Entwicklung am stärksten hervor. Während die bäuerliche Landwirtschaft<br />
in ihrer Hauptmasse bis zur <strong>Revolution</strong> fast auf dem Niveau des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
verblieben war, stand Rußlands Industrie in bezug auf Technik und kapitalistische<br />
Struktur auf <strong>der</strong> Stufe <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong> und eilte diesen in mancher Beziehung<br />
sogar voraus. Kleine Betriebe mit einer Arbeiterzahl bis 100 Mann umfaßten im<br />
Jahre 1914 in den Vereinigten Staaten 35% <strong>der</strong> gesamten Industriearbeiter, in Rußland<br />
nur 17,8%. Bei einem ungefähr gleichen spezifischen Gewicht <strong>der</strong> mittleren und größeren<br />
Unternehmen mit 100 bis 1.000 Arbeitern betrugen in den Veremigten Staaten<br />
Riesenunternehmen mit über 1.000 Arbeitern 17,8% <strong>der</strong> gesamten Arbeiterzahl, in<br />
Rußland 41,4%. Für die wichtigsten Industriebezirke war dieser Prozentsatz noch höher:<br />
für den Petrogra<strong>der</strong> 44,4%, für den Moskauer sogar 57,3%. Ähnliche Resultate ergeben<br />
sich, vergleicht man die russische Industrie mit <strong>der</strong> britischen o<strong>der</strong> deutschen. Diese<br />
Tatsache, die wir zum ersten Male im Jahre 1908 festgestellt haben, verträgt sich schlecht<br />
1 Die Behauptung stammt von Prof. M. N. Pokrowski. S. Anhang Nr. 1.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 12
mit <strong>der</strong> Vorstellung von <strong>der</strong> ökonomischen Rückständigkeit Rußlands. Indes wi<strong>der</strong>legt<br />
sie die Rückständigkeit nicht, son<strong>der</strong>n ist <strong>der</strong>en dialektische Ergänzung.<br />
Die Verschmelzung des Industriekapitals mit dem Bankkapital wurde in Rußland<br />
wie<strong>der</strong>um so vollständig durchgeführt wie wohl kaum in einem an<strong>der</strong>en Lande. Doch<br />
bedeutete die Abhängigkeit <strong>der</strong> Industrie von den Banken gleichzeitig ihre Abhängigkeit<br />
vom westeuropäischen Geldmarkt. Die Schwerindustrie (Metall, Kohle, Naphtha) befand<br />
sich fast restlos unter <strong>der</strong> Kontrolle des ausländischen Finanzkapitals, das sich ein Hilfsund<br />
Vermittlungssystem von Banken in Rußland geschaffen hatte. Die Leichtindustrie<br />
ging denselben Weg. Gehörten im ganzen rund 40% des gesamten Aktienkapitals in<br />
Rußland Auslän<strong>der</strong>n, so war für die führenden Industriezweige dieser Prozentsatz noch<br />
bedeutend höher. Man kann ohne jede Übertreibung behaupten, daß sich die Kontrollpakete<br />
<strong>der</strong> Aktien <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Banken, Werke und Fabriken im Auslande befanden,<br />
wobei <strong>der</strong> Kapitalanteil Englands, Frankreichs und Belgiens fast doppelt so groß als <strong>der</strong><br />
Deutschlands war.<br />
Die Entstehungsbedingungen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Industrie und <strong>der</strong>en Struktur bestimmten<br />
den sozialen Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie und <strong>der</strong>en politisches Gesicht. Die<br />
außerordentliche Konzentration <strong>der</strong> Industrie bedeutete schon an sich, daß zwischen den<br />
kapitalistischen Spitzen und den Volksmassen keine Hierarchie von Übergangsschichten<br />
bestand. Dazu kommt, daß die Besitzer <strong>der</strong> wichtigsten Industrie-, Bank- und Transportunternehmen<br />
Auslän<strong>der</strong> waren, die nicht nur die aus Rußland herausgeholten Gewinne,<br />
son<strong>der</strong>n auch ihren politischen Einfluß in ausländischen Parlamenten realisierten und den<br />
Kampf um den <strong>russischen</strong> Parlamentarismus nicht nur nicht för<strong>der</strong>ten, son<strong>der</strong>n ihm<br />
häufig sogar entgegenwirkten: es genügt, an die schändliche Rolle des offiziellen Frankreich<br />
zu denken. Dies waren die elementaren und unabwendbaren Ursachen <strong>der</strong> politischen<br />
Isoliertheit und des volksfeindlichen Charakters <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. War<br />
sie in <strong>der</strong> Morgenröte ihrer <strong>Geschichte</strong> zu unreif, die Reformation durchzusetzen, so<br />
erwies sie sich als überreif, als die Zeit für die Führung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gekommen war.<br />
Entsprechend dem gesamten Entwicklungsgang des Landes wurde nicht das Zunfthandwerk,<br />
son<strong>der</strong>n die Landwirtschaft, nicht die Stadt, sondem das Dorf zum Reservoir,<br />
aus dem die russische Arbeiterklasse hervorging. Dabei entstand das russische Proletariat<br />
nicht allmählich, in Jahrhun<strong>der</strong>ten, beschwert mit <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Vergangenheit wie in<br />
England, son<strong>der</strong>n sprunghaft, durch schroffe Wendung <strong>der</strong> Lage, <strong>der</strong> Verbindungen, <strong>der</strong><br />
Beziehungen und durch jähen Bruch mit dem Gestern. Gerade dies in Verbindung mit<br />
dem konzentrierten Joch des Zarismus machte die <strong>russischen</strong> Arbeiter für die kühnsten<br />
Schlußfolgerungen des revolutionären Gedankens empfänglich, ähnlich wie die verspätete<br />
russische Industrie sich für das letzte Wort kapitalistischer Organisation empfänglich<br />
zeigte.<br />
Die kurze <strong>Geschichte</strong> seiner Abstammung machte das russische Proletariat jedesmal<br />
aufs neue durch. Während sich in <strong>der</strong> metallverarbeitenden Industrie, beson<strong>der</strong>s in<br />
Petersburg, eine Schicht erblicher Proletarier, die mit dem Dorfe endgültig gebrochen<br />
hatten, herauskristallisierte, überwog am Ural noch <strong>der</strong> Typus des Halbproletariers-Halbbauern.<br />
Der alijährliche Zustrom frischer Arbeitskraft aus den Dörfern in alle Industriebezirke<br />
erneuerte die Bindung des Proletariats mit seinem sozialen Reservoir.<br />
Die politische Tatunfähigkeit <strong>der</strong> Bourgeoisie war unmittelbar bestimmt durch den<br />
Charakter ihrer Beziehungen zu Proletariat und Bauernschaft. Sie vermochte nicht das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 13
Proletariat zu führen, das ihr im Alltag feindlich gegenüberstand und sehr bald seine<br />
Aufgaben zu verallgemeinern lernte. Im gleichen Maße erwies sie sich aber zur Führung<br />
<strong>der</strong> Bauernschaft unfähig, da sie durch ein Netz gemeinsamer Interessen mit den Gutsbesitzern<br />
verbunden war und die Erschütterung des Eigentums in welcher Form auch<br />
immer fürchtete. Das Verspäten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> war folglich nicht nur eine<br />
Frage <strong>der</strong> Chronologie, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> sozialen Struktur <strong>der</strong> Nation.<br />
England vollzog seine puritanische <strong>Revolution</strong>, als seine Gesamtbevölkerung 5¼<br />
Millionen nicht überstieg, wovon ½ Million auf London kam. In seiner <strong>Revolution</strong>sepoche<br />
hatte Frankreich in Paris auch bloß ½ Million Einwohner bei 25 Millionen Gesamtbevölkerung.<br />
Rußlands Bevölkerung betrug zu Beginn des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
etwa 150 Millionen, von denen mehr als 3 Millionen auf Moskau und Petrograd<br />
enifielen. Hinter diesen vergleichenden Zahlen verbergen sich große soziale Unterschiede.<br />
We<strong>der</strong> das England des siebzehnten noch das Frankreich des achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
haben das neuzeitige Proletariat gekannt. Indes zählte im Jahre 1905 die Arbeiterklasse<br />
Rußlands auf allen Arbeitsgebieten, in Stadt und Land, nicht weniger als 10<br />
Millionen Seelen, was zusammen mit den Familien über 25 Millionen ausmachte, das<br />
heißt mehr als die Gesamtbevölkerung Frankreichs in <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Großen<br />
<strong>Revolution</strong>. Von den gesicherten Handwerkern und unabhängigen Bauern <strong>der</strong> Cromwellschen<br />
Armee - über die Sansculotten von Paris - bis zu den Industrieproletariern Petersburgs<br />
hatte die <strong>Revolution</strong> ihre soziale Mechanik, ihre Methoden und damit auch ihre<br />
Ziele tiefgehend verän<strong>der</strong>t.<br />
Die Ereignisse des Jahres 1905 waren ein Prolog <strong>der</strong> beiden <strong>Revolution</strong>en von 1917:<br />
<strong>der</strong> Februar- und <strong>der</strong> Oktoberrevolution. Der Prolog enthielt alle Elemente des Dramas,<br />
nur nicht bis ans Ende geführt. Der Russisch-Japanische Krieg hatte den Zarismus gelokkert.<br />
Auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Massenbewegung jagte die liberale Bourgeoisie durch<br />
ihre Opposition <strong>der</strong> Monarchie Angst ein. Die Arbeiter organisierten sich unabhängig<br />
von <strong>der</strong> Bourgeoisie und im Gegensatz zu ihr in den Sowjets, die damals zum ersten<br />
Male ins Leben gerufen wurden. Unter <strong>der</strong> Parole: Boden! erhob sich die Bauernschaft<br />
<strong>der</strong> ganzen riesigen Fläche des Landes. Wie die Bauern, neigten auch die revolutionären<br />
Truppenteile zu den Sowjets, die im Augenblick des höchsten Aufstieges <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
<strong>der</strong> Monarchie die Macht offen streitig machten. Das war das erste Auftreten sämtlicher<br />
revolutionärer Kräfte; sie besaßen noch keine Erfahrung, und es mangelte ihnen an<br />
Zuversicht. Die Liberalen prallten demonstrativ gerade in dem Augenblick vor <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> zurück, als sich herausstellte, daß es nicht genügte, den Zarismus zu lockern,<br />
daß man ihn außerdem noch umwerfen müsse. Der jähe Bruch <strong>der</strong> Bourgeoisie mit dem<br />
Volke, wobei sie schon damals bedeutende Kreise <strong>der</strong> demokratischen Intelligenz mit<br />
sich riß, erleichterte <strong>der</strong> Monarchie, die Armee zu spalten, treue Truppenteile auszuson<strong>der</strong>n<br />
und über Arbeiter und Bauern blutiges Gericht zu halten. Wenn er auch manche<br />
Rippe einbüßte, ging <strong>der</strong> Zarismus aus <strong>der</strong> Prüfung von 1905 doch lebend und kräftig<br />
genug hervor.<br />
Welche Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kräfteverhälmisse brachte die historische Entwicklung in den<br />
elf Jahren, die den Prolog vom Drama trennen? Der Zarismus geriet während dieser<br />
Periode in einen noch größeren Gegensatz zu den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> historischen Entwicklung.<br />
Die Bourgeoisie wurde ökonomisch mächtiger, doch stützte sich diese Macht, wie<br />
wir gesehen haben, auf die höhere Konzentration <strong>der</strong> Industrie und die gesteigerte Rolle<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 14
des Auslandskapitals. Unter <strong>der</strong> Wirkung <strong>der</strong> Lehren von 1905 war die Bourgeoisie noch<br />
konservativer und mißtrauischer geworden. Das spezifische Gewicht <strong>der</strong> Klein- und<br />
Mittelbourgeoisie, schon früher unbeträchtlich, sank noch tiefer. Die demokratische<br />
Intelligenz besaß überhaupt keine irgendwie wi<strong>der</strong>standsfähige soziale Stütze. Sie konnte<br />
vorübergehend politischen Einfluß gewinnen, aber keine selbständige Rolle spielen. Ihre<br />
Abhängigkeit vom bürgerlichen Liberalismus war ungemein gewachsen. Programm,<br />
Banner und Führung konnte <strong>der</strong> Bauernschaft unter diesen Umständen nur das junge<br />
Proletariat bieten. Die vor ihr auf diese Weise erstandenen grandiosen Aufgaben erzeugten<br />
ein unaufschiebbares Bedürfnis nach einer beson<strong>der</strong>en revolutionären Organisation,<br />
die die Volksmassen auf einmal erfassen und unter Führung <strong>der</strong> Arbeiterschaft zu revolutionärer<br />
Tat zu befähigen vermochte. So erhielten die Sowjets von 1905 gigantische<br />
Entfaltung im Jahre 1917. Daß die Sowjets - wir wollen es hier gleich sagen - nicht<br />
einfach eine Ausgeburt <strong>der</strong> historischen Verspätung Rußlands, son<strong>der</strong>n vielmehr ein<br />
Produkt <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung darstellen, beweist allein schon die Tatsache, daß<br />
das Proletariat des industriellsten Landes, Deutschlands, während des revolutionären<br />
Aufstieges von 1918/19 keine an<strong>der</strong>e Organisationsform gefunden hat als die <strong>der</strong> Räte.<br />
Unmittelbare Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1917 war noch immer <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong><br />
bürokratischen Monarchie. Doch zum Unterschiede von den alten bürgerlichen <strong>Revolution</strong>en<br />
trat jetzt als entscheidende Kraft die neue Klasse hervor, entstanden auf Grundlage<br />
<strong>der</strong> konzentrierten Industrie, ausgerüstet mit einer neuen Organisation und neuen Kampfmethoden.<br />
Das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung enthüllt sich uns hier in seinem<br />
weitestgehenden Ausdruck: beginnend mit <strong>der</strong> Hinwegräumung <strong>der</strong> mittelalterlichen<br />
Fäulnis, bringt die <strong>Revolution</strong> nach einigen Monaten das Proletariat mit <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
Partei an <strong>der</strong> Spitze zur Herrschaft.<br />
Nach ihren ursprünglichen Aufgaben war die russische <strong>Revolution</strong> mithin eine<br />
demokratische <strong>Revolution</strong>. Doch stellte sie das Problem <strong>der</strong> politischen Demokratie auf<br />
neue Art. Während die Arbeiter unter Einbeziehung <strong>der</strong> Soldaten und zum Teil auch <strong>der</strong><br />
Bauern das ganze Land mit Sowjets überzogen, feilschte die Bourgeoisie noch immer um<br />
die Frage <strong>der</strong> Einberufung o<strong>der</strong> Nichteinberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung.<br />
Im Verlaufe <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Ereignisse wird diese Frage in ihrer ganzen Konkretheit<br />
vor uns erstehen. Hier wollen wir nur den Platz bezeichnen, den die Sowjets in <strong>der</strong> historischen<br />
Reihenfolge revolutionärer Ideen und Formen einnehmen.<br />
Mitte des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts entfaltete sich die bürgerliche <strong>Revolution</strong> in<br />
England im Gewande <strong>der</strong> religiösen Reformation. Der Kampf um das Recht, nach einem<br />
eigenen Gebetbuch zu beten, identifizierte sich mit dem Kampf gegen König, Aristokratie,<br />
Kirchenfürsten und Rom. Die Presbyterianer und Puritaner waren tief davon<br />
überzeugt, daß sie ihre irdischen Interessen unter den unerschütterlichen Schutz <strong>der</strong><br />
göttlichen Vorsehung gestellt hatten. Die Aufgaben, für die die neuen Klassen kämpften,<br />
verwuchsen in <strong>der</strong>en Bewußtsein mit dem Bibeltext und den Formen kirchlicher Gebräuche.<br />
Die Emigranten nahmen diese durch Blut gefestigte Tradition über den Ozean mit.<br />
Daher die seltene Zähigkeit <strong>der</strong> angelsächsischen Interpretation des Christentums Wir<br />
sehen, wie die Minister-"<strong>Sozialisten</strong>" Großbritanniens auch heute noch ihre Feigheit mit<br />
den gleichen magischen Texten begründen, aus denen die Männer des siebzehnten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts Rechtfertigung für ihren Mut gesucht hatten.<br />
In Frankreich, das die Reformation übergangen hatte, erlebte die Katholische Kirche<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 15
als Staatskirche die <strong>Revolution</strong>, die nicht tn Bibeltexten, son<strong>der</strong>n in Abstraktionen <strong>der</strong><br />
Demokratie Ausdruck und Rechtfertigung für die Aufgaben <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft<br />
fand. Wie groß <strong>der</strong> Haß <strong>der</strong> heutigen Lenker Frankreichs gegen das Jakobinertum<br />
auch sein mag, Tatsache bleibt, daß gerade dank <strong>der</strong> rauhen Arbeit Robespierres sie alle<br />
Möglichkeiten behalten haben, ihre konservative Herrschaft mit jenen Formeln zu<br />
verhüllen, durch die einst die alte Gesellschaft gesprengt wurde.<br />
Jede große <strong>Revolution</strong> hat neue Etappen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft und neue<br />
Bewußtseinsformen ihrer Klassen zu verzeichnen Wie Frankreich über die Reformation<br />
hinwegschritt, so hat Rußland die formale Demokratie übergangen. Die russische revolunonare<br />
Partei, <strong>der</strong> es bevorstand, ihren Stempel einer ganzen Epoche aufzupressen,<br />
suchte den Ausdruck für die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht in <strong>der</strong> Bibel, nicht im säkularisierten<br />
Christentum <strong>der</strong> "reinen" Demokratie, son<strong>der</strong>n in den materiellen Verhältmssen<br />
<strong>der</strong> Gesellschaftsklassen. Das Sowjetsystem gab diesen Verhältussen den einfachsten,<br />
unverhülltesten, klarsten Ausdruck. Die Herrschaft <strong>der</strong> Werktätigen fand zum ersten<br />
Male ihre Verwirklichung in diesem System, das, wie auch seine nächsten historischen<br />
Schicksalswendungen sein mögen, ebenso unaustilgbarem das Bewußtsein <strong>der</strong> Massen<br />
eingedrungen ist wie seinerzeit das System <strong>der</strong> Reformation o<strong>der</strong> <strong>der</strong> reinen Demokratie.<br />
Das zaristische Rußland im Kriege<br />
Die Beteiligung Rußlands am Kriege war den Motiven und Zielennach wi<strong>der</strong>spruchsvoll.<br />
Der blutige Kampf ging im wesentlichen um die Weltherrschaft. In diesem Sinne<br />
überstieg er Rußlands Kraft. Rußlands sogenannte Kriegsziele (die türkischen Meerengen,<br />
Galizien, Armenien) hatten provinziellen Charakter und konnten nur nebenbei<br />
gelöst werden, je nachdem sie mit den Interessen <strong>der</strong> entscheidenden Kriegsteilnehmer<br />
im Einklang standen.<br />
Gleichzeitig aber konnte Russland als Großmacht <strong>der</strong> Rauferei <strong>der</strong> fortgeschrittenen<br />
kapitalistischen Län<strong>der</strong> nicht fernbleiben, wie es sich in <strong>der</strong> vorangegangenen Epoche<br />
auch <strong>der</strong> Einführung von Fabriken, Eisenbahnen, Schnellfeuergeschützen und Flugzeugen<br />
nicht hatte verschließen können. Der unter den <strong>russischen</strong> Historikern <strong>der</strong> neuesten<br />
Schule nicht seltene Streit, in welchem Maße das zaristische Rußland für die mo<strong>der</strong>ne<br />
imperialistische Politik reif gewesen wäre, verfällt häufig in Scholastik, denn sie betrachten<br />
Rußland in <strong>der</strong> Weltarena isoliert, als selbständigen Faktor. Indes war es nur das<br />
Glied eines Systems.<br />
Indien beteiligte sich am Kriege dem Wesen und <strong>der</strong> Form nach als Kolonie Englands.<br />
Die Einmischung Chinas, formell eine "freiwillige", war tatsächlich die Einmischung<br />
eines Sklaven in die Balgerei <strong>der</strong> Herren. Die Beteiligung Rußlands lag irgendwo in <strong>der</strong><br />
Mitte zwischen <strong>der</strong> Beteiligung Frankreichs und <strong>der</strong> Chinas. Rußland bezahlte damit das<br />
Recht, mit fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n im Bunde zu sein, Kapital einzuführen und<br />
Prozente dafür zu zahlen, das heißt im wesentlichen das Recht, eine privilegierte Kolonie<br />
seiner Verbündeten zu sein; aber gleichzeitig auch das Recht, die Türkei, Persien, Galizien,<br />
überhaupt alle Län<strong>der</strong>, die schwächer und rückständiger waren als es selbst, zu<br />
knebeln und zu plün<strong>der</strong>n. Der zwiespältige Imperialismus <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie<br />
trug in seinem Kern den Charakter einer Agentur an<strong>der</strong>er, gewaltigerer Weltmächte.<br />
Das chinesische Kompradorentum ist das klassische Vorbild einer nationalen<br />
Bourgeoisie, gebildet nach dem Typus einer Vermittlungsagentur zwischen ausländi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 16
schem Finanzkapital und einheimischer Wirtschaft. In <strong>der</strong> Welthierarchie <strong>der</strong> Staaten<br />
nahm Rußland bis zum Kriege einen bedeutend höheren Platz als China ein. Welchen<br />
Platz es, ohne die <strong>Revolution</strong>, nach dem Kriege eingenommen haben würde, ist eine<br />
an<strong>der</strong>e Frage. Doch zeigten das russische Selbstherrschertum einerseits und die russische<br />
Bourgeoisie an<strong>der</strong>erseits die krassesten Züge des Kompradorentums: sie lebten und<br />
nährten sich von <strong>der</strong> Verbindung mit dem ausländischen Imperialismus, dienten ihm und<br />
konnten sich, ohne sich auf ihn zu stützen, nicht halten. Allerdings haben sie sich letzten<br />
Endes auch mit seiner Unterstützung nicht zu behaupten vermocht. Die halbkompradorenhafte<br />
russische Bourgeoisie hatte imperialistische Weltinteressen im gleichen Sinne,<br />
wie ein prozentual beteiligter Agent die Interessen seines Herrn teilt.<br />
Das Werkzeug des Krieges ist die Armee. Da jede Armee in <strong>der</strong> nationalen Mythologie<br />
für unbesiegbar gilt, sahen die herrschenden Klassen Rußlands keinen Grund, für die<br />
zaristische Armee eine Ausnahme zu machen. In Wirklichkeit stellte sie nur gegen die<br />
halbbarbarischen Völker, die kleinen Nachbarn und Staaten, die sich in Auflösung befanden,<br />
eine ernstliche Macht dar; auf <strong>der</strong> europäischen Arena war sie lediglich innerhalb<br />
von Koalitionen wirksam; in <strong>der</strong> Verteidigung erfüllte sie ihre Aufgabe nur in Verbindung<br />
mit <strong>der</strong> unermeßlichen Ausdehnung, <strong>der</strong> Bevölkerungsdünne und <strong>der</strong> Unpassierbarkeit<br />
<strong>der</strong> Wege. Ein Virtuose <strong>der</strong> Armee <strong>der</strong> leibeigenen Muschiks war Suworow. Die<br />
Französische <strong>Revolution</strong>, die einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kriegskunst die<br />
Türen öffnete, sprach gleichzeitig das Todesurteil über die Suworowsche Armee.<br />
Die halbe Abschaffüng <strong>der</strong> Leibeigenschaft und die Einführung <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Militärpflicht mo<strong>der</strong>nisierten die Armee in den gleichen Grenzen wie das Land, das heißt<br />
sie trugen in die Armee alle Gegensätze <strong>der</strong> Nation, <strong>der</strong> noch erst bevorstand, ihre<br />
bürgerliche <strong>Revolution</strong> durchzumachen. Zwar wurde die zaristische Armee nach westlichen<br />
Mustern aufgebaut und ausgerüstet, doch betraf es mehr die Form als das Wesen.<br />
Das Kulturniveau des Bauern-Soldaten stand zu dem Niveau <strong>der</strong> Kriegsteehnik in<br />
keinem Verhältnis. Im Kommandobestand fanden Kulturlosigkeit, Faulheit und Diebeswesen<br />
<strong>der</strong> herrschenden Klassen Russlands ihren Ausdruck. Industrie und Transportverhältuisse<br />
enthüllten fortgestzt ihre Unzulänglichkeit angesichts <strong>der</strong> konzentrierten<br />
Bedürfnisse <strong>der</strong> Kriegszeit. Die am ersten Kriegstage scheinbar sachgemäß ausgerüsteten<br />
Truppen erwiesen sieh alsbald nicht nur ohne Waffen, son<strong>der</strong>n auch ohne Stiefel. Im<br />
RussischJapanischen Kriege hatte die zaristische Armee gezeigt, was sie wert war. In <strong>der</strong><br />
Epoche <strong>der</strong> Konterrevolution hatte die Monarchie mit Hilfe <strong>der</strong> Duma die Militärlager<br />
aufgefüllt und die Armee an vielen Stellen ausgeflickt, darunter auch die Reputation ihrer<br />
Unbesiegbarkeit. Im Jahre 1914 kam die neue, viel schwerere Prüfung.<br />
In bezug auf Ausrüstung und Finanzen zeigt sich Rußland im Kriege sogleich in<br />
sklavischer Abhängigkeit von seinen Verbündeten. Das ist nur <strong>der</strong> militärische Ausdruck<br />
seiner allgemeinen Abhängigkeit von den fortgeschrittenen kapitalistischen Län<strong>der</strong>n.<br />
Doch die Hilfe <strong>der</strong> Verbündeten rettet die Lage nicht. Der Mangel an Kampfvorräten, das<br />
Fehlen von Fabriken für <strong>der</strong>en Herstellung, das dünne Eisenbahnnetz für <strong>der</strong>en Zufuhr,<br />
übersetzen die Rückständigkeit Rußlands in die allgemein verständliche Sprache <strong>der</strong><br />
Nie<strong>der</strong>lagen, die die <strong>russischen</strong> Nationalliberalen daran erinnern, daß ihre Ahnen die<br />
bürgerliche <strong>Revolution</strong> nicht vollendet hatten und die Nachkommen vor <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
deshalb schuldig seien.<br />
Die ersten Tage des Krieges waren auch die ersten Tage <strong>der</strong> Schmach. Nach einer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 17
Reihe von Teilkatastrophen brach im Frühling 1915 <strong>der</strong> allgemeine Rückzug herein. Ihre<br />
verbrecherische Unfähigkeit ließen die Generale an <strong>der</strong> friedlichen Bevölkerung aus.<br />
Riesenflächen wurden gewaltsam verwüstet. Die menschliche Heuschrecke mit Nagajkas<br />
ins Hinterland getrieben. Die äußere Zerstörung durch die innere vervollständigt.<br />
Auf besorgte Fragen seiner Kollegen über die Lage an <strong>der</strong> Front antwortete <strong>der</strong> Kriegsminister,<br />
General Poliwanow, wörtlich: »Ich vertraue auf die unwegsamen Flächen, auf<br />
die uferlosen Sümpfe und auf die Gnade des heiligen Nikolaus Mirlikijski, des Schutzpatrons<br />
des heiligen Russland« (Sitzung vom 4. August 1915). Eine Woche später gestand<br />
General Russki den gleichen Ministern: »Die mo<strong>der</strong>nen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Kriegstechnik<br />
gehen über unsere Kraft. Jedenfalls können wir es mit Deutschland nicht aufnehmen.«<br />
Das war keine Augenblicksstimmung. Der Offizier Stankewitsch gibt die Worte eines<br />
Korpsingenieurs so wie<strong>der</strong>: »Mit den Deutschen Krieg zu führen ist hoffnungslos, denn<br />
wir sind nicht imstande, etwas zu tun. Sogar die neuen Kampfmethoden verwandeln sich<br />
in Ursachen unserer Mißerfolge.« Solche Urteile gibt es ohne Zahl.<br />
Das einzige, was die <strong>russischen</strong> Generale mit Schwung taten, war das Herausholen von<br />
Menschenfleisch aus dem Lande. Mit Rind- und Schweinefleisch ging man unvergleichlich<br />
sparsamer um. Die grauen Generalstabsnullen, Januschkewitsch unter Nikolai<br />
Nikolajewitsch, wie Alexejew unter dem Zaren, verstopften die Löcher mit neuen Aushebungen,<br />
trösteten sich und die Alliierten mit Zahlenkolonnen, wo man Kämpferkolonnen<br />
brauchte. Annähernd 15 Millionen Menschen wurden mobilisiert, die die Depots, Kasernen,<br />
Etappen füllten, herumlungerten, herumstampften, einan<strong>der</strong> auf die Füßte traten,<br />
verbitterten, fluchten. Waren diese menschlichen Massen für die Front eine vermeintliche<br />
Größe, so waren sie ein wirklicher Faktor des Zerfalls im Hinterlande. Etwa 5½ Millionen<br />
wurden als tot, verwundet und gefangen registriert. Die Zahl <strong>der</strong> Deserteure wuchs.<br />
Schon im Juli 1915 jammerten die Minister: »Armes Rußland. Sogar seine Armee, die in<br />
vergangenen Zeiten die Welt mit Siegesdonner erfüllt hatte ... auch sie besteht nur, wie<br />
sich herausstellt, aus Feiglingen und Deserteuren.«<br />
Die gleichen Minister, die mit Galgenhumor über den "Generalsrückzugmut" witzelten,<br />
verbrachten Stunden und Stunden über dem Problem: soll man die Reliquien aus Kiew<br />
wegbringen o<strong>der</strong> nicht? Der Zar war <strong>der</strong> Meinung, man brauche es nicht, denn »die<br />
Deutschen werden nicht wagen, sie anzurühren, und wenn sie sie anrühren, desto<br />
schlimmer für die Deutschen.« Die Synode jedoch begann bereits mit <strong>der</strong> Ausfur: »Wenn<br />
wir die Stadt verlassen, nehmen wir unser Teuerstes mit.« Das geschah nicht zur Zeit <strong>der</strong><br />
Kreuzzüge, son<strong>der</strong>n im zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t, als die Berichte über die <strong>russischen</strong><br />
Nie<strong>der</strong>lagen radiotelegraphisch weitergegeben wurden.<br />
Rulflands Erfolge gegen Österreich-Ungarn wurzelten mehr in Österreich-Ungarn als<br />
in Rußland. Die auseinan<strong>der</strong>fallende habsburgische Monarchie hatte schon längst Bedarf<br />
an einem Totengräber, ohne dabei von ihm hohe Qualifikationen zu verlangen. Rußland<br />
hatte auch in <strong>der</strong> Vergangenheit Erfolg gegen innerlich in Auflösung befindliche Staaten<br />
wie die Türkei, Polen und Persien gehabt. Die Südwestfront <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee, gegen<br />
Österreich-Ungarn gewandt, kannte bedeutende Siege, was sie von den an<strong>der</strong>en Fronten<br />
unterschied. Hier taten sich einige Generale hervor, die zwar ihre militärische Begabung<br />
durch nichts bewiesen hatten, aber zumindest nicht vom Fatalismus unentwegt geschlagener<br />
Kriegsführer gezeichnet waren. Aus diesem Milieu gingen später einige weiße<br />
"Helden" des Bürgerkrieges hervor.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 18
Alle suchten, wem die Schuld aufgebürdet werden könnte. Man beschuldigte kurzweg<br />
die Juden <strong>der</strong> Spionage. Man plün<strong>der</strong>te Menschen mit deutschen Namen aus. Der<br />
Generalstab des Großfürsten Nikolai Nikolajewitseh ließ den Gendarmerieoberst Mjassojedow<br />
als deutschen Spion, <strong>der</strong> er allem Anscheine nach nicht war, erschießen. Man<br />
verhaftete den Kriegsminister Suchomlinow, einen hohlen und unsauberen Menschen,<br />
unter <strong>der</strong> vielleicht nicht unbegründeten Anschuldigung des Verrates. Der britische<br />
Außenminister Grey sagte dem Vorsitzenden <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> parlamentarischen Delegation:<br />
»Ihre Regierung ist sehr kühn, wenn sie sich entschließen kann, im Kriege den<br />
Kriegsminister des Verrates zu beschuldigen.« Die Stäbe und die Duma bezichtigten den<br />
Hof des Germanophilentums. Alle zusammen beneideten und haßten die Alliierten. Das<br />
französische Kommando schonte seine Armeen, indem es russische Soldaten vorschob.<br />
England kam nur langsam in Schwung. In Petrogra<strong>der</strong> Salons und in den Frontstäben<br />
scherzte man lieblich: »England hat geschworen, standhaft durchzuhalten bis zum letzten<br />
Blutstropfen ... des <strong>russischen</strong> Soldaten.« Diese Späßchen sickerten nach unten und bis<br />
an die Front durch. »Alles für den Krieg!« sagten Minister, Deputierte, Generale, Journalisten.<br />
»Ja«, begann <strong>der</strong> Soldat im Schützengraben zu grübeln, »alle sind bereit bis zum<br />
letzten Tropfen ... meines Blutes zu kämpfen.«<br />
Die russische Armee verlor im Kriege mehr Menschen als irgendein an<strong>der</strong>es am<br />
Völkerschlachten beteiligtes Heer, nämlich 2½ Millionen Seelen, etwa 40% <strong>der</strong> Verluste<br />
aller Ententearmeen. In den ersten Monaten starben die Soldaten unter den Geschossen<br />
ohne nachzudenken, o<strong>der</strong> ohne viel nachzudenken. Doch sammelten sie täglich mehr<br />
Erfahrung, die bittere Erfahrung <strong>der</strong> "Gemeinen", die man nicht zu führen versteht. Sie<br />
ermaßen den Wirrwarr <strong>der</strong> zwecklosen Verschiebungen seitens <strong>der</strong> Generale an den<br />
abgerissenen Sohlen und <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> versäumten Mittagessen. Vom blutigen Brei <strong>der</strong><br />
Menschen und Dinge ging das verallgemeinernde Wort aus: Wahnsinn, das in <strong>der</strong> Soldatensprache<br />
durch ein saftigeres Wort ersetzt wurde.<br />
Am schnellsten löste sich die bäuerliche Infanterie auf. Die Artillerie, mit ihrem hohen<br />
Prozentsatz Industriearbeiter, zeichnet sich im allgemeinen durch größere Aufnahmefähigkeit<br />
für revolutionäre Ideen aus: das hatte sich im Jahre 1905 kraß gezeigt. Wenn sich<br />
dagegen die Artillerie im Jahre 1917 konservativer als die Infanterie erwies, lag <strong>der</strong><br />
Grund darin, daß durch die Infanterietruppenteile, wie durch ein Sieb, immer neue und<br />
immer weniger bearbeitete Menschenmassen gingen; die Artillerie aber, die unendlich<br />
geringere Verluste zu tragen hatte, behielt ihre alten Ka<strong>der</strong>. Das gleiche konnte man bei<br />
den an<strong>der</strong>en Spezialtruppen beobachten. Aber letzten Endes hielt auch die Artillerie nicht<br />
stand.<br />
Während des Rückzuges aus Galizien wurde ein Geheimhefehl des Höchstkommandierenden<br />
erlassen: wegen Desertion und an<strong>der</strong>er Verbrechen die Soldaten mit Ruten zu<br />
peitschen. Der Soldat Pirejko erzählt: »Man begann die Soldaten wegen <strong>der</strong> nichtigsten<br />
Vergehen auszupeitschen, wie zum Beispiel wegen eigenmächtiger Entfernung von <strong>der</strong><br />
Truppe für einige Stunden; mitunter peitschte man nur zu dem Zwecke, den Kriegsgeist<br />
zu heben.« Bereits am 17. September 1915 schrieb Kuropatkin, sich auf Gutschkow<br />
berufend: »Die Soldaten gingen mit Begeisterung in den Krieg. Jetzt sind sie müde und<br />
haben durch den ständigen Rückzug den Glauben an den Sieg verloren.« Ungefähr zur<br />
gleichen Zeit charakterisierte <strong>der</strong> Innenminister die in Moskau in den Lazaretten befindlichen<br />
30.000 genesenden Soldaten: »Das ist eine gewalttätige Bande, die keine Disziplin<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 19
anerkennt, randaliert, sich mit den Schutzleuten in Schlägereien einläßt (kurz vorher war<br />
einer von Soldaten erschlagen worden), Verhaftete befreit und so weiter. Es unterliegt<br />
keinem Zweifel, daß im Falle von Unruhen diese Horde sich <strong>der</strong> Menge anschließen<br />
wird.« Der gleiche Soldat Pirejko schreibt: »Alle, ohne Ausnahme, interessierten sich nur<br />
für den Frieden ... Wer siegen wird, und wie <strong>der</strong> Sieg sein wird - das interessierte die<br />
Armee am wenigsten sie brauchte Frieden um jeden Preis, denn sie war des Krieges<br />
müde.«<br />
Eine Frau mit Beobachtungsgabe, S. Fedortschenko, hat als Krankenschwester die<br />
Gespräche, ja fast schon die Gedanken <strong>der</strong> Soldaten belauscht und kunstvoll auf losen<br />
Blättern nie<strong>der</strong>geschrieben. Das auf diese Weise entstandene Büchlein "Volk im Kriege"<br />
ermöglicht einen Blick in jenes Laboratorium zu werfen, wo Bomben, Stacheldraht,<br />
Giftgase und Nie<strong>der</strong>tracht <strong>der</strong> Behörden während vieler Monate das Bewußtsein einiger<br />
Millionen russischer Bauern bearbeiteten und wo neben menschlichen Knochen<br />
jahrhun<strong>der</strong>tealte Vorurteile auseinan<strong>der</strong>krachten. In vielen dieser urwüchsigen<br />
Soldatenaphorismen sind bereits Losungen des späteren Bürgerkrieges enthalten.<br />
General Russki klagt im Dezember 1916, Riga sei das Unglück <strong>der</strong> Nordfront. Das sei,<br />
wie Dwinsk, ein »von Propaganda durchsetztes Nest«. General Brussilow bestätigte: aus<br />
dem Rigaer Bezirk kämen die Truppenteile demoralisiert an, die Soldaten weigerten sich,<br />
zur Attacke vorzugehen, einen Kompanieführer habe man mit den Bajonetten<br />
aufgespießt, man hätte einige Mann erschießen müssen, und so weiter. »Der Boden für<br />
die endgültige Zersetzung <strong>der</strong> Armee war lange vor <strong>der</strong> Umwälzung vorhanden«, gesteht<br />
Rodsjanko, <strong>der</strong> mit Offizieren in Verbindung war und die Front wie<strong>der</strong>holt besucht hatte.<br />
Die anfänglich zersplitterten revolutionären Elemente waren in <strong>der</strong> Armee fast spurlos<br />
untergetaucht. Doch mit dem Wachstum <strong>der</strong> allgemeinen Unzufriedenheit kamen sie an<br />
die Oberfläche. Das strafweise Verschicken streiken<strong>der</strong> Arbeiter an die Front füllte die<br />
Reihen <strong>der</strong> Agitatoren auf, und die Rückzüge schufen ihnen ein geneigtes Auditorium.<br />
»Die Armee im Hinterland und ganz beson<strong>der</strong>s an <strong>der</strong> Front«, meldet die Ochrana, »ist<br />
voll von Elementen, die zum Teil fähig sind, eine aktive Kraft des Aufstandes zu werden,<br />
während die an<strong>der</strong>en nur imstande wären, die Unterdrückungsarbeit zu verweigern ...«<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Gouvernementsgendarmerieverwaltung meldet im Oktober 1916 auf<br />
Grund des Berichtes eines Bevollmächtigten des Semstwoverbandes, daß die Stimmung<br />
in <strong>der</strong> Armee besorgniserregend, das Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten<br />
äußerst gespannt sei, sogar blutige Zusammenstöße vorkämen und man überall zu<br />
Tausenden Deserteuren begegne. »Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> in die Nähe <strong>der</strong> Armee kommt, muß den<br />
vollen und überzeugenden Eindruck von <strong>der</strong> unbedingten moralischen Zersetzung <strong>der</strong><br />
Truppen gewinnen.« Ans Vorsicht fügt <strong>der</strong> Bericht hinzu, daß man, obwohl vieles in<br />
diesen Äußerungen wenig glaubhaft erscheine, doch gezwungen sei, daran zu glauben,<br />
da viele von <strong>der</strong> aktiven Armee zurückgekehrte Ärzte Meldungen in gleichem Sinne<br />
erstattet hätten.<br />
Die Stimmungen des Hinterlandes entsprachen den Stimmungen <strong>der</strong> Front. Auf einer<br />
Konferenz <strong>der</strong> Kadettenpartei im Oktober 1916 hob die Mehrzahl <strong>der</strong> Delegierten die<br />
Apathie und den Unglauben an einen siegreichen Kriegsausgang hervor - »in allen<br />
Bevölkerungsschichten, beson<strong>der</strong>s jedoch im Dorfe und unter <strong>der</strong> städtischen Armut«.<br />
Am 30. Oktober 1916 schrieb <strong>der</strong> Direktor des Polizeidepartements in seiner Berichterstattung<br />
von <strong>der</strong> »überall und in allen Bevölkerungsschichten zu beobachtenden gewis-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 20
sen Kriegsmüdigkeit und <strong>der</strong> Sehnsucht nach baldigem Frieden, unter welchen Bedingungen<br />
immer er auch geschlossen werden würde ...«<br />
Nach einigen Monaten werden alle diese Herrschaften, Deputierte und Polizisten,<br />
Generale und Semstwobevollmächtigte, Ärzte und frühere Gendarmen, einstimmig<br />
behaupten, die <strong>Revolution</strong> habe den Patriotismus in <strong>der</strong> Armee getötet, und <strong>der</strong> sichere<br />
Sieg sei ihren Händen durch die Bolschewiki entrissen worden.<br />
Als Chorführer des kriegerischen Patriotismus wirkten ohne Zweifel die konstitutionellen<br />
Demokraten (Kadetten). Nachdem er seine problematischen Bande mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
schon Ende 1905 zerrissen hatte, erhob <strong>der</strong> Liberalismus mit Einsetzen <strong>der</strong><br />
Konterrevolution das Banner des Imperialismus. Das eine ergab sich aus dem an<strong>der</strong>en.<br />
Fehlt die Möglichkeit, das Land vom feudalen Gerümpel zu säubern, um <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
den herrschenden Platz zu sichern, bleibt nur ein Bündnis mit Monarchie und Adel, um<br />
dem Kapital einen besseren Platz in <strong>der</strong> Weltarena zu sichern. Wenn es wahr ist, daß die<br />
Weltkatastrophe von verschiedenen Seiten vorbereitet worden und für ihre verantwortlichen<br />
Organisatoren bis zu einem gewissen Grade überraschend gekommen war, so ist<br />
ebenso unzweifelhaft, daß bei ihrer Vorbereitung <strong>der</strong> russische Liberalismus, als Inspirator<br />
<strong>der</strong> Außenpolitik <strong>der</strong> Monarchie, nicht die letzte Stelle eingenommen hatte. Den<br />
Krieg von 1914 begrüßten die Führer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie mit vollem Recht als<br />
ihren Krieg. In <strong>der</strong> feierlichen Sitzung <strong>der</strong> Reichsduma vom 26. Juli 1914 verkündete <strong>der</strong><br />
Vertreter <strong>der</strong> Kadettenfraktion: »Wir stellen keine Bedingungen und For<strong>der</strong>ungen, wir<br />
legen einfach auf die Waage den festen Willen, den Gegner zu überwinden.« Die nationale<br />
Einigkeit wurde auch in Rußland zur offiziellen Doktrin. Während <strong>der</strong> patriotischen<br />
Kundgebungen in Moskau erklärte <strong>der</strong> Oberzeremonienmeister, Graf Benkendorf, den<br />
Diplomaten: »Hier haben Sie die <strong>Revolution</strong>, die man uns in Berlin vorausgesagt hat!«<br />
»Dieser Gedanke«, erklärt <strong>der</strong> französische Gesandte Paléologue, »beherrscht offensichtlich<br />
alle.« Diese Menschen betrachten es als ihre Pflicht, Illusionen zu nähren und auszustreuen<br />
in einer Situation, die, wie es scheinen sollte, Illusionen absolut ausschloß.<br />
Auf ernüchternde Lehren sollte man nicht lange warten. Schon gleich nach Kriegsbeginn<br />
rief einer <strong>der</strong> expansivsten Kadetten, <strong>der</strong> Advokat und Gutsbesitzer Roditschew, in<br />
<strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees seiner Partei aus: »Ja glaubt ihr wirklich, daß man mit<br />
diesen Dummköpfen siegen kann!« Die Ereignisse zeigten, daß man mit Dummköpfen<br />
nicht siegen konnte. Nach, dem er bereits zur guten Hälfte den Glauben an den Sieg<br />
verloren hatte, versuchte <strong>der</strong> Liberalismus das Beharrungsvermögen des Krieges zu einer<br />
Säuberung <strong>der</strong> Kamarilla auszunutzen und die Monarchie zu einem Pakt zu zwingen. Als<br />
Hauptmittel zu diesem Zweck dienten die gegen die Hofpartei gerichteten Beschuldigungen<br />
des Germanophilentums und <strong>der</strong> Vorbereitung eines Separatfriedens.<br />
Im Frühling 1915, als die waffenlosen Truppen auf <strong>der</strong> ganzen Front sich im Rückzuge<br />
befanden, wurde in den Regierungssphären, nicht ohne Druck seitens <strong>der</strong> Alliierten,<br />
beschlossen, die lnitiative <strong>der</strong> Privatindustrie für die Armee nutzbar zu machen. Die zu<br />
diesem Zweck geschaffene "Beson<strong>der</strong>e Beratung" umfaßte neben den Bürokraten die<br />
einflußreichsten Industrieführer. Die bei Kriegsbeginn entstandenen Semstwo und<br />
Städteverbände und die im Frühling 1915 gegründeten Kriegsindustriekomitees wurden<br />
Stützpunkte <strong>der</strong> Bourgeoisie im Kampfe um Sieg und Macht. Die Reichsduma sollte,<br />
indem sie sich auf diese Organisationen stützte, desto sicherer als Mittlerin zwischen<br />
Bourgeoisie und Monarchie auftreten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 21
Die breiten politischen Perspektiven lenkten jedoch die Blicke nicht ab von den folgenschweren<br />
Tagesaufgaben. Wie aus einem Hauptreservoir wurden aus <strong>der</strong> "Beson<strong>der</strong>en<br />
Beratung" Dutzende und Hun<strong>der</strong>te von Millionen, die zu Milliarden anwuchsen, durch<br />
weitverzweigte Kanäle geleitet, berieselten reichlich die Industrie und stillten unterwegs<br />
noch eine Menge Appetit. In <strong>der</strong> Reichsduma und in <strong>der</strong> Presse wurden einige Kriegsgewinne<br />
für das Jahr 1915-1916 bekanntgegeben: Die Gesellschaft des Moskauer liberalen<br />
Textilfabrikanten Rjabuschinski wies 75% Reingewinn aus; die Twerer Manufaktur<br />
sogar 111%; das Kupferwalrwerk Koljtschugin warf bei einem Grundkapital von 10<br />
Millionen 12 Millionen Gewinn ab. Die Tugend des Patriotismus wurde in diesem Sektor<br />
im Überfluß und dabei unverzüglich belohnt.<br />
Spekulationen aller Art und Börsenspiel erreichten den Paroxysmus. Riesenvermögen<br />
entstanden aus dem Blutschaum. Der Mangel an Brot und Heizstoff in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
hin<strong>der</strong>te den Hofjuwelier Faberget nicht, zu prahlen, er habe noch niemals so vorzügliche<br />
Geschäfte gemacht. Das Hoffräulein Wyrubowa erzählt, daß in keiner Saison so teure<br />
Klei<strong>der</strong> bestellt und so viele Brillanten gekauft wurden wie im Winter 1915/16. Die<br />
Nachtlokale waren überfüllt von Hinterlandshelden, legalen Deserteuren und sonstigen<br />
ehrenwerten Herrschaften, für die Front zu alt, aber noch jung genug für die Freuden des<br />
Lebens. Die Großfürsten waren nicht die Letzten unter den Teilnehmern am Pestgelage<br />
während <strong>der</strong> Pest. Keiner hatte Angst, zuviel auszugeben. Von oben strömte ein ununterbrochener<br />
goldener Regen. Die "Gesellschaft" hielt Hände und Taschen hin, die aristokratischen<br />
Damen schürzten die Röcke, alle patschten durch den Blutschlamm -<br />
Bankiers, Intendanten, Industrielle, Zaren- und Großfürstenballerinen, orthodoxe Hierarchen,<br />
Hoffräuleins, liberale Deputierte, Front- und Etappengenerale, radikale Advokaten,<br />
erlauchte Mucker bei<strong>der</strong>lei Geschlechts, zahlreiche Neffen und beson<strong>der</strong>s Nichten. Alle<br />
beeilten sich mit dem Raffen und Prassen, vor Angst, <strong>der</strong> segensreiche Regen könnte<br />
aufhören, und alle wiesen den schmachvollen Gedanken an vorzeitigen Frieden mit<br />
Etrüstung zurück.<br />
Gemeinsame Gewinne, äußere Nie<strong>der</strong>lagen und innere Gefahren brachten die besitzenden<br />
Klassen einan<strong>der</strong> näher. Die noch am Vorabend des Krieges uneinige Duma erhielt<br />
im Jahre 1915 ihre patriotisch-oppositionelle Mehrheit, die den Namen "progressiver<br />
Block" annahm. Als sein offizielles Ziel wurde selbstverständlich »die Befriedigung <strong>der</strong><br />
durch den Krieg hervorgerufenen Bedürfnisse« proklamiert. Von linker Seite hielten sich<br />
dem Block fern die Sozialdemokraten und die Trudowiki (Bauernvertreter), von rechter<br />
die offenen Schwarzhun<strong>der</strong>tgruppierungen. Alle übrigen Fraktionen <strong>der</strong> Duma: Kadetten,<br />
Progressisten, drei Gruppen Oktobristen, Zentrum und ein Teil <strong>der</strong> Nationalisten gehörten<br />
zum Block o<strong>der</strong> lehnten sich an ihn an, auch die nationalen Gruppen, wie Polen,<br />
Litauer, Muselmanen, Juden und so weiter. Um den Zaren nicht durch die Formel des<br />
verantwortlichen Ministeriums abzuschrecken, for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Block »eine vereinigte Regierung<br />
aus Personen, die das Vertrauen des Landes genießen«. Der Innenminister, Fürst<br />
Schtscherbatow, bezeichnete den progressiven Block schon damals als eine zeitweilige<br />
»Vereinigung, hervorgerufen durch die Gefahren <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong>«. Um dies zu<br />
begreifen, war übrigens nicht viel Scharfsinn notwendig. Miljukow, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />
Kadetten und damit auch des oppositionellen Blocks stand, sagte auf <strong>der</strong> Konferenz<br />
seiner Partei: »Wir schreiten über einen Vulkan ... Die Spannung hat die letzte Grenze<br />
erreicht ... es genügt ein unvorsichtig hingeworfenes Zündholz, um einen schrecklichen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 22
Brand zu entfachen ... Wie die Macht auch sein mag - gut o<strong>der</strong> schlecht -, aber mehr<br />
denn je ist jetzt eine feste Macht nötig.«<br />
Die Hoffnung, <strong>der</strong> Zar werde unter <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen zu Konzessionen bereit<br />
sein, war so groß, daß die liberale Presse im August eine fertige Liste des geplanten<br />
"Kabinetts des Vertrauens" veröffentlichte, mit dem Dumavorsitzenden Rodsjanko als<br />
Premierminister (nach einer an<strong>der</strong>en Version war für diese Rolle <strong>der</strong> Vorsitzende des<br />
Semstwoverbandes, Fürst Lwow, auserkoren), Gutschkow als Innenminister, Miljukow<br />
als Außenminister, und so weiter. Die Mehrzahl dieser Personen, die für ein Bündnis mit<br />
dem Zaren gegen die <strong>Revolution</strong> vorgesehen waren, wurden an<strong>der</strong>thalb Jahre später<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> "revolutionären" Regierung. Solche Späße erlaubte sich die <strong>Geschichte</strong><br />
mehr als einmal. Diesmal war <strong>der</strong> Scherz zumindest kurz.<br />
Durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse nicht weniger erschrocken als die Kadetten, neigte die<br />
Mehrzahl <strong>der</strong> Minister des Kabinetts Goremykin zu einer Verständigung mit dem<br />
progressiven Block. »Eine Regierung, hinter <strong>der</strong> we<strong>der</strong> das Vertrauen des Trägers <strong>der</strong><br />
obersten Macht steht, noch <strong>der</strong> Armee, <strong>der</strong> Städte, <strong>der</strong> Semstwos, des Adels, <strong>der</strong><br />
Kaufleute o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter, kann nicht nur nicht arbeiten, son<strong>der</strong>n auch nicht existieren.<br />
Das ist eine offensichtliche Absurdität.« Mit solchen Worten schätzte Färst Schtscherbatow<br />
im August 1915 jene Regierung ein, <strong>der</strong>en Innenminister er selbst war. »Man muß<br />
nur alles anständig einrichten und ein Schlupfloch offenlassen«, sagte <strong>der</strong> Außenminister<br />
Sasonow, »und die Kadetten werden als erste auf eine Verständigung eingehen: Miljukow<br />
ist <strong>der</strong> größte Bourgeois und fürchtet nichts mehr als die soziale <strong>Revolution</strong>. Wie<br />
überhaupt die Mehrzahl <strong>der</strong> Kadetten um ihr Kapital zittert.« Auch Miljukow seinerseits<br />
war <strong>der</strong> Meinung, <strong>der</strong> progressive Block werde in »manchem nachgeben« müssen. Beide<br />
Parteien waren somit bereit, mit sich handeln zu lassen, und alles schien wie geölt. Aber<br />
am 29. August reiste <strong>der</strong> Premier Goremykin - ein von Jahren und Würden beschwerter<br />
Bürokrat, ein alter Zyniker, <strong>der</strong> Politik zwischen zwei Grandes Patiencen machte und für<br />
alle Klagen die Ausrede hatte, daß <strong>der</strong> Krieg ihn »nichts angeht« - mit einem Bericht für<br />
den Zaren ins Hauptquartier und kehrte mit <strong>der</strong> Nachricht zurück, alles und alle müßten<br />
auf den Plätzen verbleiben, außer <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>spenstigen Duma, die am 3. September aufzulösen<br />
sei. Das Verlesen des Zarenukases über die Dumaauflösung wurde ohne ein Wort<br />
des Protestes angehört: die Deputierten brachten ein "Hurra" auf den Zaren aus und<br />
gingen auseinan<strong>der</strong>.<br />
Wie aber konnte die Zarenregierung, die nach ihrem eigenen Geständnis nirgends eine<br />
Stütze hatte, sich danach noch über an<strong>der</strong>thalb Jahre halten? Vorübergehende Erfolge <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong> Truppen übten zweifellos ihre Wirkung, verstärkt durch die des segenspendenden<br />
goldenen Regens. Die Erfolge an <strong>der</strong> Front hörten zwar bald auf, aber die<br />
Gewinne im Hinterlande hielten an. Jedoch die Hauptursache für die Festigung <strong>der</strong><br />
Monarchie zwölf Monate vor ihrem Sturze wurzelte in <strong>der</strong> scharfen Differenzierung <strong>der</strong><br />
Volksunzufriedenheit. Der Chef <strong>der</strong> Moskauer Ochrana berichtete im Juli über die<br />
Zunahme rechter Stimmungen bei <strong>der</strong> Bourgeoisie unter dem Einfluß »<strong>der</strong> Angst vor <strong>der</strong><br />
Möglichkeit revolutionärer Exzesse nach dem Kriege«. Eine <strong>Revolution</strong> während des<br />
Krieges hielt man, wie wir sehen, noch immer für ausgeschlossen. Obendrein waren die<br />
Industriellen »über das Anbändeln einiger Führer <strong>der</strong> Kriegsindustriekomitees mit dem<br />
Proletariat« besorgt. Die allgemeine Schlußfolgerung des Gendarmerieobersten<br />
Martynow, an dem die berufliche Lektüre <strong>der</strong> marxistischen Literatur nicht spurlos<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 23
vorbeigegangen war, lautete, daß die Ursache einer gewissen Besserung <strong>der</strong> politischen<br />
Lage zu suchen sei »in <strong>der</strong> mehr und mehr fortschreitenden Differenzierung <strong>der</strong> Gesellschaftsklassen,<br />
welche die in <strong>der</strong> gegenwärtigen Zeit beson<strong>der</strong>s fühlbaren scharfen Interessengegensätze<br />
aufdeckt«.<br />
Die Dumaauflösung im September 1915 war eine direkte Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie und nicht <strong>der</strong> Arbeiter. Aber während die Liberalen unter allerdings nicht<br />
sehr begeisterten Hurrarufen auseinan<strong>der</strong>gingen, antworteten die Arbeiter Petrograds und<br />
Moskaus mit Proteststreiks. Das kühlte die Liberalen noch mehr ab: sie hatten am<br />
meisten Furcht vor <strong>der</strong> Einmischung des unerbetenen Dritten in ihren Familiendialog mit<br />
<strong>der</strong> Monarchie. Aber was blieb zu tun? Unter leisem Murren seines linken Flügeis traf<br />
<strong>der</strong> Liberalismus die Wahl nach erprobtem Rezept: ausschließlich auf legalem Boden<br />
stehen und durch Erfüllung <strong>der</strong> patriotischen Funktionen die Bürokratie »gleichsam<br />
überflüssig« machen. Die Liste eines liberalen Ministeriums mußte man jedenfalls<br />
zurücklegen.<br />
Die Lage verschlechterte sich inzwischen automatisch. Im Mai 1916 trat die Duma<br />
wie<strong>der</strong> zusammen, aber niemand wußte eigentlich wozu. Zur <strong>Revolution</strong> aufzurufen, das<br />
lag am allerwenigsten in ihrer Absicht. Sonst aber hatte sie nichts zu sagen. »In dieser<br />
Session«, erinnerte sich später Rodsjanko, »ging die Arbeit lau vonstatten, die Deputierten<br />
besuchten die Sitzungen unpünktlich ... Der ewige Kampf schien fruchtlos, die Regierung<br />
wollte von nichts hören, die Mißwirtschaft nahm zu, und das Land ging dem Untergange<br />
entgegen.« Aus <strong>der</strong> Angst <strong>der</strong> Bourgeoisie vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und aus <strong>der</strong><br />
Ohnmacht <strong>der</strong> Bourgeoisie ohne <strong>Revolution</strong> schöpfte die Monarchie während des Jahres<br />
1916 eine Art gesellschaftlicher Unterstützung.<br />
Zum Herbst verschärfte sich die Lage noch mehr. Die Hoffnungslosigkeit des Krieges<br />
wurde für alle offenbar, die Entrüstung <strong>der</strong> Volksmassen drohte jeden Augenblick<br />
überzulaufen. Die Hofpartei weiter wegen "Germanophilentums" attackierend, erachteten<br />
es die Liberalen gleichzeitig als notwendig, die Friedenschancen abzutasten, ihren morgigen<br />
Tag vorzubereiten. Nur so lassen sich auch die Verhandlungen eines Führers des<br />
progressiven Blocks, des Deputierten Protopopow, mit dem deutschen Diplomaten<br />
Warburg im Herbst 1916 in Stockholm erklären. Eine Dumadelegation, die den Franzosen<br />
und Englän<strong>der</strong>n Freundschaftsbesuche abstattete, hatte sich in Paris und London<br />
mühelos davon überzeugen können, daß die teuren Verbündeten die Absicht hegten,<br />
während des Krieges alle Lebenssäfte aus Rußland auszupressen, um nach dem Siege das<br />
rückständige Land zum wichtigsten Feld ökonomischer Ausbeutung zu machen. Das<br />
geschlagene Rußland im Schlepptau <strong>der</strong> siegreichen Entente hätte ein Kolonialrußland<br />
bedeutet. Es blieb den <strong>russischen</strong> besitzenden Klassen kein an<strong>der</strong>er Ausweg, als zu<br />
versuchen, sich aus den zu engen Umarmungen <strong>der</strong> Entente zu befreien und, den Antagonismus<br />
<strong>der</strong> zwei mächtigen Lager ausnutzend, einen eigenen Weg zum Frieden zu<br />
finden. Die Zusammenkunft des Vorsitzenden <strong>der</strong> Dumadelegation mit dem deutschen<br />
Diplomaten, als erster Schritt auf diesem Wege, bedeutete sowohl eine Drohung an die<br />
Adresse <strong>der</strong> Alliierten zu dem Zwecke, Konzessionen zu erlangen, als auch eine<br />
Abtastung <strong>der</strong> realen Möglichkeiten einer Annäherung an Deutschland. Protopopow<br />
handelte mit Zustiminung nicht nur <strong>der</strong> zaristischen Diplomatie - die Zusammenkunft<br />
selbst fand in Gegenwart des <strong>russischen</strong> Gesandten in Schweden statt -, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong><br />
gesamten Delegation <strong>der</strong> Reichsduma. Nebenbei verfolgten die Liberalen mit dieser<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 24
Sondierung kein min<strong>der</strong> wichtiges inneres Ziel: Verlasse dich auf uns - deuteten sie dem<br />
Zaren an und wir werden dir einen Separatfrieden besorgen, besser und sicherer als<br />
Stürmer. Nach dem Plan Protopopows, das heißt seiner Inspiratoren, sollte die russische<br />
Regierung die Alliierten »einige Monate zuvor« verständigen, daß sie gezwungen sei,<br />
den Krieg zu beenden, und daß Rußland, falls die Alliierten sich weigern sollten<br />
Friedensverhandlungen aufzunehmen, einen Separatfrieden mit Deutschland schließen<br />
müsse. In seiner schon nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verfaßten Beichte spricht Protopopow wie<br />
von etwas Selbstverständlichem: »Alle vernünftigen Menschen in Rußland, darunter<br />
wohl sämtliche Führer <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong> "Volksfreiheit" (Kadetten), waren über-zeugt, daß<br />
Rußland nicht imstande sei, den Krieg fortzusetzen.«<br />
Der Zar, dem Protopopow nach <strong>der</strong> Rückkehr über Reise und Verhandlungen Bericht<br />
erstattete, verhielt sich durchaus zustimmend zur Idee eines Separatfriedens. Nur sah er<br />
keinen Grund, die Liberalen zu dieser Sache hinzuzuziehen. Daß Protopopow sich<br />
beiläufig selbst <strong>der</strong> Hofkamarilla anschloß und mit dem progressiven Block brach, ist aus<br />
dem persönlichen Charakter dieses Gecken zu erklären, <strong>der</strong> sich, nach seinen eigenen<br />
Worten, in Zar und Zarin und gleichzeitig - in das unerwartet gekommene Ministerportefeuille<br />
des Inneren verliebt hatte. Doch die Episode des Protopopowschen Verrats am<br />
Liberalismus än<strong>der</strong>t nicht im geringsten den Sinn <strong>der</strong> liberalen Außenpolitik, als einer<br />
Vereinigung aus Habgier, Feigheit und Treuebruch.<br />
Am 1. November versammelte sich wie<strong>der</strong> die Duma. Die Spannung im Lande war<br />
unerträglich geworden. Man erwartete von <strong>der</strong> Duma entschlossene Schritte. Man mußte<br />
etwas tun o<strong>der</strong> wenigstens sagen. Der progressive Block war wie<strong>der</strong> einmal gezwungen,<br />
zu parlamentarischen Enthüllungen zu greifen. Die wichtigsten Schritte <strong>der</strong> Regierung<br />
von <strong>der</strong> Tribüne herab aufzählend, fragte Miljukow jedesmal: »Ist es Dummheit o<strong>der</strong><br />
Verrat?« Hohe Töne verwandten auch die übrigen Deputierten. Die Regierung fand fast<br />
keine Verteidiger. Sie antwortete auf ihre Art: Die Dumareden zu drucken wurde untersagt.<br />
Darum fanden sie Absatz in Millionen von Exemplaren. Es gab keine Regierungskanzlei,<br />
we<strong>der</strong> im Hinterlande noch an <strong>der</strong> Front, in <strong>der</strong> man die verbotenen Reden nicht<br />
abschrieb, häufig mit Anmerkungen, die dem Temperament des Abschreibers entsprachen.<br />
Das Echo <strong>der</strong> Debatten vom 7. November war <strong>der</strong>art, daß die Enthüller selbst das<br />
Gruseln überkam.<br />
Eine Gruppe äußerster Rechter, eingefleischter Bürokraten, inspiriert von Durnowo,<br />
dem Bezwinger <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905, überreichte in diesem Moment dem Zaren eine<br />
programmatische Denkschrift. Das Auge <strong>der</strong> reicherfahrenen Würdenträger, die eine<br />
ernste Polizeischule durchgemacht hatten, sah weit genug und manches nicht schlecht,<br />
und wenn ihre Heilrezepte untauglich waren, so nur, weil es gegen die Krankheiten des<br />
alten Regimes überhaupt kein Heilmittel gab. Die Autoren <strong>der</strong> Denkschrift traten gegen<br />
jegliche Konzessionen an die bürgerliche Opposition auf, nicht weil die Liberalen etwa<br />
zu weit gehen könnten, wie die vulgären Schwarzhun<strong>der</strong>t wähnten, auf die die hohen<br />
Reaktionäre von oben herabblickten, nein, das Unglück sei, daß die Liberalen »so<br />
schwach, so uneinig und, man muß offen sagen, so unfähig sind, daß ihr Sieg ebenso<br />
kurz wie unsicher wäre«. Die Schwäche <strong>der</strong> wichtigsten oppositionellen Partei, <strong>der</strong><br />
"konstitutionell-demokratischen" (kadettischen), sei schon durch ihren Namen gekennzeichnet:<br />
sie nenne sich demokratisch, obwohl sie ihrem Wesen nach bürgerlich sei,<br />
während sie in hohem Maße die Partei <strong>der</strong> liberalen Gutsbesitzer darstelle, habe sie in ihr<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 25
Programm die zwangsweise Bodenablösung aufgenommen. »Ohne diese Trümpfe aus<br />
fremdem Kartenspiel«, schrieben die Geheimräte, die ihnen gewohnte Bil<strong>der</strong>sprache<br />
gebrauchend, »sind die Kadetten nichts an<strong>der</strong>es als eine zahlreiche Gesellschaft liberaler<br />
Advokaten, Professoren und Beamten verschiedener Ressorts - nichts mehr.« An<strong>der</strong>s die<br />
<strong>Revolution</strong>äre. Die Anerkennung <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> revolutionären Parteien begleitet die<br />
Denkschrift mit Zähneknirschen: »Die Gefahr und die Macht dieser Parteien besteht<br />
darin, daß sie eine Idee, Geld [!], eine bereite und gutorganisierte Masse besitzen.« Die<br />
revolutionären Parteien »dürfen auf die Sympathie <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Bauernschaft<br />
rechnen, die sogleich mit dem Proletariat gehen wird, wenn die revolutionären Führer<br />
ihr fremden Grund und Boden zeigen werden«. Was würde unter diesen Bedingungen die<br />
Errichtung eines verantwortlichen Ministeriums ergeben? »Die volle und endgültige<br />
Zerschlagung <strong>der</strong> Parteien <strong>der</strong> Rechten, das allmähliche Verschlingen <strong>der</strong> Mittelparteien<br />
des Zentrums, <strong>der</strong> liberalen Konservativen, Oktobristen und Progressisten - durch die<br />
Kadettenpartei, die anfangs entscheidende Bedeutung bekäme. Doch den Kadetten würde<br />
das gleiche Schicksal drohen... Und danach? Danach würde die revolutionäre Masse auf<br />
den Plan treten, die Kommune folgen, <strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> Dynastie, Pogrome auf die<br />
besitzenden Klassen und schließlich <strong>der</strong> Räuber-Muschik.« Man kann nicht leugnen, daß<br />
die reaktionär-polizeiliche Wut sich hier zu eigenartigem historischen Weitblick erhebt.<br />
Das positive Programm <strong>der</strong> Denkschrift ist nicht neu, aber konsequent: eine Regierung<br />
aus unnachgiebigen Anhängern des Selbstherrschertums; Abschaffung <strong>der</strong> Duma;<br />
Belagerungszustand in beiden Hauptstädten; Vorbereitung <strong>der</strong> Kräfte zur Unterdrückung<br />
<strong>der</strong> Rebellion. Im wesentlichen bildete denn auch dieses Programm die Grundlage <strong>der</strong><br />
Regierungspolitik <strong>der</strong> letzten vorrevolutionären Monate. Doch setzte ihr Erfolg eine<br />
Macht voraus die Durnowo im Winter 1905 in Händen hatte, die aber im Herbst 1917<br />
bereits nicht mehr existierte. Die Monarchie versuchte deshalb, das Land verstohlen und<br />
stückweise zu ersticken. Das Ministerium wurde erneuert nach dem Prinzip <strong>der</strong><br />
"eigenen" Leute, die dem Zaren und <strong>der</strong> Zarin bedingungslos ergeben waren. Doch diese<br />
"Eigenen", vor allem <strong>der</strong> Überläufer Protopopow, waren nichtig und kläglich. Die Duma<br />
wurde nicht abgeschafft, aber wie<strong>der</strong> aufgelöst, die Verkündung des Belagerungszustandes<br />
in Petrograd bis zu dem Moment aufgespart, wo die <strong>Revolution</strong> bereits gesiegt hatte.<br />
Und die für die Unterdrückung <strong>der</strong> Meuterei bereitgehakenen Militärkräfte wurden selbst<br />
von <strong>der</strong> Meuterei erfaßt. Das alles zeigte sich bereits nach zwei bis drei Monaten.<br />
Der Liberalismus machte inzwischen letzte Anstrengungen, die Lage zu retten. Alle<br />
Organisationen <strong>der</strong> Großbourgeoisie unterstützten die Novemberreden <strong>der</strong> Dumaopposition<br />
durch eine Reihe weiterer Erklärungen. Die herausfor<strong>der</strong>ndste war die Resolution<br />
des Städtebundes vom 9. Dezember: »Unverantwortliche Verbrecher, wahnsinnige<br />
Fanatiker bereiten Rußlands Nie<strong>der</strong>lage, Schande und Knechtschaft vor.« Die Reichsduma<br />
wird aufgefor<strong>der</strong>t, »solange nicht auseinan<strong>der</strong>zugehen, bis eine verantwortliche<br />
Regierung erreicht ist«. Sogar <strong>der</strong> Staatsrat, das Organ <strong>der</strong> Bürokratie und des Großbesitzes,<br />
sprach sich dafür aus, Menschen in die Regierung zu berufen, die das Vertrauen des<br />
Landes besitzen. Ein ähnliches Gesuch stellte <strong>der</strong> Kongreß des Vereinigten Adels: die<br />
moosbedeckten Steine begannen zu reden. Doch nichts än<strong>der</strong>te sich. Die Monarchie ließ<br />
den Rest <strong>der</strong> Macht nicht aus den Händen.<br />
Die letzte Session <strong>der</strong> letzten Duma wurde, nach Schwankungen und Verzögerungen,<br />
auf den 14. Februar 1917 angesetzt. Bis zum Ausbruch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verblieben<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 26
weniger als zwei Wochen. Man erwartete Demonstrationen. In <strong>der</strong> 'Rjetsch', dem Organ<br />
<strong>der</strong> Kadetten, wurde, neben <strong>der</strong> Anzeige des Chefs des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks, des<br />
Generals Chabalow, über das Demonstrationsverbot, ein Brief Miljukows abgedruckt,<br />
<strong>der</strong> die Arbeiter vor »schlechten und gefährlichen Ratschlägen«, die »dunklen Quellen«<br />
entstammten, warnte. Trotz <strong>der</strong> Streiks verlief die Dumaeröffnung verhältnismäßig ruhig.<br />
Indem sie sich den Anschein gab, als interessiere sie die Regierungsfrage nicht mehr,<br />
beschäftigte sich die Duma mit einer akuten, aber rein praktischen Frage: <strong>der</strong> Ernährung.<br />
Die Stimmung sei flau gewesen, erinnerte sich später Rodsjanko, »man empfand die<br />
Ohnmacht <strong>der</strong> Duma und Müdigkeit vom vergeblichen Kampfe«. Miljukow wie<strong>der</strong>holte<br />
mehrmals, daß <strong>der</strong> progressive Block »mit dem Wort und nur mit dem Wort wirken<br />
wird«. In solcher Gestalt trat die Duma in den Strudel <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />
Proletariat und Bauernschaft<br />
Das russische Proletariat machte seine ersten Schritte unter den politischen Bedingungen<br />
eines despotischen Staates. Gesetzlich verbotene Streiks, unterirdische Zirkel,<br />
illegale Proklamationen, Straßendemonstrationen, Zusammenstöße mit Polizei und<br />
Truppen - das war eine Schule, geschaffen aus <strong>der</strong> Verquickung <strong>der</strong> Bedingungen des<br />
sich schnell entwickelnden Kapitalismus und des seine Positionen langsam räumenden<br />
Absolutismus. Die Zusammenballung <strong>der</strong> Arbeiter in Riesenbetrieben, <strong>der</strong> konzentrierte<br />
Charakter des staatlichen Druckes, schließlich die Impulsivität des jungen und frischen<br />
Proletariats führten dazu, daß <strong>der</strong> politische Streik, im Westen so selten, in Rußland die<br />
Hauptmethode des Kampfes wurde. Die Zahlen <strong>der</strong> Arbeiterstreiks seit Beginn dieses<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts bilden den lehrreichsten Index <strong>der</strong> politischen <strong>Geschichte</strong> Rußlands. Bei<br />
allem Bestreben, den Text nicht durch Zahlen zu belasten, ist es unmöglich, auf die<br />
Einfügung einer Tabelle <strong>der</strong> politischen Streiks in Rußland für die Zeit vom Jahre 1903-<br />
1917 zu verzichten. Auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, beziehen sich die<br />
Angaben nur auf Betriebe, die <strong>der</strong> Fabrikinspektion unterstellt waren; Eisenbahnen,<br />
Bergwerksindutrie, Handwerks- und überhaupt Kleinbetriebe, ganz abgesehen von <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft, blieben dabei aus verschiedenen Gründen unberücksichtigt. Aber die<br />
periodischen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Streikkurve treten dadurch nicht min<strong>der</strong> deutlich<br />
hervor.<br />
Zahl <strong>der</strong> Teilnehmer an politischen Streiks<br />
Jahr (in Tausenden)<br />
1903 87*<br />
1904 25*<br />
1905 1843<br />
1906 651<br />
1907 540<br />
1908 93<br />
1909 8<br />
1910 4<br />
1911 8<br />
* Die Angaben für die Jahre 1903 und 1904 beziehcn sich auf Streiks im allgemeinen,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 27
wobei die ökonomischen zweifellos überwogen.<br />
Zahl <strong>der</strong> Teilnehmer an politischen Streiks<br />
Jahr (in Tausenden)<br />
1912 550<br />
1913 502<br />
1914 (erste Hälfte) 1059<br />
1915 156<br />
1916 310<br />
1917 (Januar-Februar) 575<br />
Wir haben vor uns eine in ihrer Art einzig dastehende Kurve <strong>der</strong> politischen Temperatur<br />
einer Nation, die eine große <strong>Revolution</strong> in ihrem Schoße trägt. In einem rückständigen<br />
Lande mit einem an Zahl geringen Proletariat - in den <strong>der</strong> Fabrikinspektion unterstellten<br />
Betrieben sind etwa 1½ Millionen Arbeiter im Jahre 1905, etwa 2 Millionen im<br />
Jahre 1917! - nimmt die Streikbewegung ein solches Ausmaß an, wie es vorher die Welt<br />
nirgendwo gekannt hatte. Bei <strong>der</strong> Schwäche <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie, <strong>der</strong><br />
Zersplitterung und politischen Blindheit <strong>der</strong> Bauernbewegung wird <strong>der</strong> revolutionäre<br />
Arbeiterstreik zu einem Mauerbrecher, den die erwachende Nation gegen das Bollwerk<br />
des Absolutismus richtet. 1.843.000 Teilnehmer an politischen Streiks während des einen<br />
Jahres 1905 - Arbeiter, die an mehreren Streiks teilgenommen haben, werden hier selbstverständlich<br />
wie<strong>der</strong>holt gezählt -, allein diese Zahl würde gestatten, auf <strong>der</strong> Tabelle mit<br />
dem Finger das <strong>Revolution</strong>sjahr zu bezeichnen, selbst wenn wir nichts an<strong>der</strong>es über<br />
Rußlands politischen Kalen<strong>der</strong> wüßten.<br />
Für das Jahr 1904, das erste Jahr des Russisch-Japanischen Krieges, zeigt die Fabrikinspektion<br />
im ganzen nur 25.000 Streikende an. Im Jahre 1905 gaben politische und<br />
ökonomische Streikende zusammen 2.863.000, also 115mal soviel als im vorangegangenen<br />
Jahr. Dieser verblüffende Sprung bringt an sich auf den Gedanken, daß das Proletariat,<br />
durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse zur Improvisation einer solch unerhörten revolutionären<br />
Aktivität gezwungen, um jeden Preis aus seiner Tiefe eine Organisation hervorbringen<br />
mußte, die dem Ausmaß des Kampfes und <strong>der</strong> Grandiosität <strong>der</strong> Aufgaben entsprach:<br />
das waren eben die Sowjets, die, aus <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> geboren, zu Organen des<br />
allgemeinen Streiks und des Kamptes um die Macht wurden.<br />
Das im Dezemberaufstand 1905 nie<strong>der</strong>gerungene Proletariat macht heroische Anstrengungen,<br />
einen Teil <strong>der</strong> eroberten Positionen im Laufe <strong>der</strong> nächsten zwei Jahre zu behaupten,<br />
die, wie die Streikziffern zeigen, sich noch unmittelbar an die <strong>Revolution</strong> anlehnen,<br />
aber doch schon Jahre <strong>der</strong> Ebbe sind. Die vier weiteren Jahre (1908-1911) treten im<br />
Spiegel <strong>der</strong> Streikstatistik als Jahre <strong>der</strong> siegreichen Konterrevolution auf. Die damit<br />
zusammenfallende industrielle Krise erschöpft das ohnehin leergeblutete Proletariat noch<br />
mehr. Die Tiefe des Nie<strong>der</strong>ganges ist proportional <strong>der</strong> Höhe des Aufstieges. Die Konvulsionen<br />
<strong>der</strong> Nation ftnden ihren Ausdruck in diesen einfachen Zahlen.<br />
Die Belebung <strong>der</strong> Industrie, die im Jahre 1910 einsetzt, bringt die Arbeiter auf die<br />
Beine und gibt ihrer Energie einen neuen Anstoß. Die Zahlen <strong>der</strong> Jahre 1912-1914<br />
wie<strong>der</strong>holen fast die Angaben über die Jahre 1905-1907, nur in umgekehrter Ordnung:<br />
nicht vom Aufstieg zum Nie<strong>der</strong>gang, son<strong>der</strong>n vorn Nie<strong>der</strong>gang zum Aufstieg. Auf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 28
neuen, höheren historischen Grundlagen - es gibt jetzt mehr Arbeiter, und sie haben mehr<br />
Erfahrung - beginnt die neue revolutionäre Offensive. Das erste Halbjahr 1914 nähert<br />
sich nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> politischen Streikenden merklich dem Kulminationsjahr <strong>der</strong> ersten<br />
<strong>Revolution</strong>. Doch <strong>der</strong> Krieg bricht aus und unterbindet jäh diesen Prozeß. Die ersten<br />
Monate des Krieges sind durch politische Reglosigkeit <strong>der</strong> Arbeiterklasse gezeichnet.<br />
Doch schon im Frühling 1915 beginnt die Starre zu weichen. Es setzt ein neuer Zyklus<br />
politischer Streiks ein, <strong>der</strong> sich im Februar 1917 in dem Aufstand <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Soldaten entlädt.<br />
Die heftigen Fluten und Ebben des Massenkampfes verwandelten das russische Proletariat<br />
im Laufe einiger Jahre bis zur Unkenntlichkeit. Fabriken, die noch zwei, drei Jahre<br />
vorher wegen irgendeines vereinzelten Aktes polizeilicher Willkür einmütig in den Streik<br />
getreten waren, verloren jetzt das revolutionäre Gesicht und nahmen die ungeheuerlichsten<br />
Verbrechen <strong>der</strong> Behörden wi<strong>der</strong>standslos hin. Große Nie<strong>der</strong>lagen entmutigten für<br />
lange. Die revolutionären Elemente verlieren die Macht über die Massen. Noch nicht<br />
erloschene Vorurteile und Aberglaube gewinnen in ihrem Bewußtsein die Oberhand. Die<br />
grauen Abkömmlinge des Dorfes verwässern inzwischen die Arbeiterreihen. Die Skeptiker<br />
schütteln ironisch die Köpfe. So geschah es in den Jahren 1907 bis 1911. Doch die<br />
molekularen Prozesse in den Massen heilen die psychischen Wunden <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen.<br />
Eine neue Wendung <strong>der</strong> Ereignisse o<strong>der</strong> ein unterirdischer ökonomischer Anstoß eröffnet<br />
einen neuen politischen Zyklus. <strong>Revolution</strong>äre Elemente finden wie<strong>der</strong> ihr Auditorium.<br />
Der Kampf lebt auf höherer Stufe auf.<br />
Zum Verständnis <strong>der</strong> beiden Hauptströmungen in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiterklasse ist es<br />
wichtig, zu berücksichtigen, daß <strong>der</strong> Menschewismus sich endgültig in den Jahren <strong>der</strong><br />
Reaktion und <strong>der</strong> Ebbe formte, hauptsächlich gestützt auf die dünne Arbeiterschicht, die<br />
mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gebrochen hatte, während <strong>der</strong> Bolschewismus, in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong><br />
Reaktion grausam nie<strong>der</strong>geschlagen, sich in den Jahren vor dem Kriege auf dem Rücken<br />
<strong>der</strong> neuen revolutionären Flut schnell aufzurichten begann. »Am energischsten, verwegensten,<br />
zum unermüdlichen Kampf, Wi<strong>der</strong>stand und zur dauernden Organisierung am<br />
befähigsten sind jene Elemente, Organisationen und Personen, die sich um Lenin<br />
konzentrieren«, mit diesen Worten beurteilte das Polizeidepartement die Arbeit <strong>der</strong><br />
Bolschewiki in den dem Kriege vorangegangenen Jahren.<br />
Im Juli 1914, als die Diplomaten den letzten Nagel in das Kreuz eintrieben, an das<br />
Europa geschlagen werden sollte, brodelte es in Petrograd wie in einem revolutionären<br />
Kessel. Der Präsident <strong>der</strong> Französischen Republik, Poincaré, mußte unter dem letzten<br />
Wi<strong>der</strong>hall des Straßenkampfes und den ersten Lauten patriotischer Kundgebungen den<br />
Kranz am Denkmal Alexan<strong>der</strong>s III. nie<strong>der</strong>legen.<br />
Würde die Offensivbewegung <strong>der</strong> Massen in den Jahren 1912 bis 1914 ohne den Krieg<br />
zum Sturze des Zarismus geführt haben? Man kann diese Frage wohl kaum mit<br />
Bestimmtheit beantworten. Der Prozeß führte unabwendbar zur <strong>Revolution</strong>. Aber welche<br />
Etappen hätte er dabei durchschreiten müssen? Lauerte ihm nicht noch eine Nie<strong>der</strong>lage<br />
auf? Welche Frist hätten die Arbeiter nötig gehabt, um die Bauern auf die Beine zu<br />
bringen und die Armee zu gewinnen? Nach all diesen Richtungen hin sind nur Vermutungen<br />
möglich. Der Krieg hatte jedenfalls anfänglich dem Prozeß einen rückläufigen<br />
Gang verliehen, um ihn dann um so mächtiger zu beschleunigen und ihm einen überwältigenden<br />
Sieg zu sichern.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 29
Beim ersten Trommelschlag erstarb die revolutionäre Bewegung. Die aktivsten Arbeiterschichten<br />
wurden mobilisiert. Die irevolutionären Elemente aus den Betrieben an die<br />
Front geworfen. Auf Streiks standen strenge Strafen. Die Arbeiterpresse war weggefegt.<br />
Die Gewerkschaften erdrosselt. In die Werkstätten ergossen sich zu Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />
Frauen, Jugendliche, Bauern. Politisch desorientierte <strong>der</strong> Krieg in Verbindung mit dem<br />
Zusammenbruch <strong>der</strong> <strong>Internationale</strong> die Massen außerordentlich und gestattete <strong>der</strong> Fabrikadministration,<br />
die den Kopf erhoben hatte, im Namen <strong>der</strong> Betriebe patriotisch aufzutreten,<br />
einen bedeutenden Teil <strong>der</strong> Arbeiter mitzureißen und die Kühneren und Entschlosseneren<br />
zu zwingen, sich abwartend zurückzuziehen. Der revolutionäre Gedanke glimmte<br />
nur noch in kleinen, stillgewordenen Kreisen. Sich "Bolschewik" zu nennen wagte zu<br />
jener Zeit in den Betrieben niemand, hieß das doch, sich <strong>der</strong> Verhaftung o<strong>der</strong> Verprügelung<br />
durch rückständige Arbeiter aussetzen.<br />
Die bolschewistische Dumaftaktion, schwach in <strong>der</strong> personellen Zusammensetzung,<br />
zeigte sich im Augenblick des Kriegsbeginns nicht auf <strong>der</strong> Höhe. Gemeinsam mit den<br />
menschewistischen Deputierten brachte sie eine Deklaration ein, in <strong>der</strong> sie sich verpflichtete,<br />
»das kulturelle Wohl des Volkes gegen jeden Anschlag, woher er auch kommen<br />
möge, zu verteidigen«. Mit Beifall unterstrich die Duma diese Preisgabe <strong>der</strong> Position.<br />
Von den <strong>russischen</strong> Organisationen und Gruppen <strong>der</strong> Partei bezog keine einzige eine<br />
offen defätistische Stellung, wie sie Lenin im Auslande proklamierte. Indes erwies sich<br />
<strong>der</strong> Prozentsatz an Patrioten unter den Bolschewiki als geringfügig. Im Gegensatz zu den<br />
Narodniki und Menschewiki begannen die Bolschewiki bereits seit dem Jahre 1914 in<br />
den Massen schriftliche und mündliche Agitation gegen den Krieg zu entfalten. Die<br />
Dumadeputierten erholten sich bald von <strong>der</strong> Verwirrung und nahmen die revolutionäre<br />
Arbeit wie<strong>der</strong> auf, über die die Behörden dank einem weitverzweigten Provokationssystem<br />
sehr genau informiert waren. Es genügt zu sagen, daß von den sieben Mitglie<strong>der</strong>n<br />
des Petersburger Parteikomitees am Vorabend des Krieges drei im Dienste <strong>der</strong> Ochrana<br />
standen. So spielte <strong>der</strong> Zarismus mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Katze und Maus. Im November<br />
wurden die bolschewistischen Deputierten verhaftet. Im ganzen Lande setzte ein<br />
Vemichtungsfeldzug gegen die Partei ein. Im Februar 1915 fand vor dem Obergerichtshof<br />
die Verhandlung gegen die Fraktion statt. Die Deputierten ließen in ihrem Benehmen<br />
Vorsicht walten. Kamenew, <strong>der</strong> theoretische Inspirator <strong>der</strong> Fraktion, grenzte sich von <strong>der</strong><br />
defätistischen Position Lenins ab, ebenso Petrowski, <strong>der</strong> heutige Vorsitzende des Zentralkomitees<br />
in <strong>der</strong> Ukraine. Das Polizeidepartement stellte mit Befriedigung fest, daß das<br />
strenge Urteil über die Deputierten keinerlei Protestbewegung seitens <strong>der</strong> Arbeiter<br />
hervorgerufen habe.<br />
Es schien, als hätte <strong>der</strong> Krieg die Arbeiterklasse ausgetauscht. In bedeutendem Maße<br />
war es auch so: in Petrograd war <strong>der</strong> Arbeiterbestand fast vierzigprozentig erneuert. Die<br />
revolutionäre Nachfolge wurde schroff unterbrochen. Was vor dem Kriege gewesen war,<br />
darunter auch die Dumafraktion <strong>der</strong> Bolschewiki, trat mit einem Male in den Hintergrund<br />
und versank fast in Vergessenheit. Aber unter <strong>der</strong> unsicheren Hülle von Ruhe, Patriotismus,<br />
teils sogar Monarchismus häuften sich in den Massen Stimmungen für eine neue<br />
Explosion an.<br />
Im August 1915 berichteten die zaristischen Minister einan<strong>der</strong>, daß die Arbeiter<br />
ȟberall Betrug, Verrat und Sabotage zugunsten <strong>der</strong> Deutschen wittern und eifrig nach<br />
Schuldigen unserer Mißerfolge an <strong>der</strong> Front suchen«. Tatsächlich geht in dieser Periode<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 30
die erwachende Massenkritik, teils aufrichtig, teils <strong>der</strong> Schutzfärbung wegen, nicht selten<br />
von <strong>der</strong> "Vaterlandsverteidigung" aus. Doch ist diese Idee nur Ausgangspunkt. Immer<br />
tiefere Gänge bahnt sich die Unzufriedenheit <strong>der</strong> Arbeiter, die die Werkführer, Schwarzhun<strong>der</strong>tarbeiter,<br />
Kriecher vor <strong>der</strong> Administration zum Schweigen bringt und dem Arbeiterbolschewistenheer<br />
das Haupt zu erheben gestattet.<br />
Von <strong>der</strong> Kritik gehen die Massen zu Taten über. Die Empörung findet einen Ausweg<br />
zu allererst in Lebensmittelunruhen, die mancherorts die Form lokaler Meutereien annehmen.<br />
Frauen, Greise, Jugendliche fühlen sich auf dem Markte o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße sicherer<br />
und unabhängiger als die dienstpflichtigen Arbeiter in den Betrieben. In Moskau artet<br />
die Bewegung im Mai in einen Deutschenpogrom aus. Obwohl seine Teilnehmer hauptsächlich<br />
dem städtischen Mob angehören, <strong>der</strong> unter dem Protektorat <strong>der</strong> Polizei sein<br />
Unwesen treibt, so beweist doch schon die Möglichkeit eines Pogroms im industriellen<br />
Moskau, daß die Arbeiter noch nicht so weit erwacht sind, um ihre Parolen und ihre<br />
Disziplin dem aus seinem Gleichgewicht herausgeschleu<strong>der</strong>ten kleinen Stadtvolk aufzuzwingen.<br />
Sich über das ganze Land ausbreitend, beseitigen die Lebensmittelunruhen die<br />
Kriegshypnose und bahnen den Weg für Streiks.<br />
Der Zustrom roher Arbeitskraft in die Betriebe und die gierige Jagd nach Kriegsgewinnen<br />
führten überall zur Verschlechterung <strong>der</strong> Arbeitsbedingungen und zum Wie<strong>der</strong>aufleben<br />
brutalster Ausbeutungsmethoden. Zunehmende Teuerung drückt automatisch den<br />
Arbeitslohn herab. Ökonomische Streiks werden <strong>der</strong> unvermeidliche Reflex <strong>der</strong> Massen,<br />
und zwar ein um so heftigerer, je mehr er zurückgedrängt war. Die Streiks werden von<br />
Meetings, Verkündung politischer Resolutionen, Zusammenstößen mit <strong>der</strong> Polizei und<br />
nicht selten auch von Schießereien und Opfern begleitet.<br />
Der Kampf erfaßt zuallererst das zentrale Textilgebiet. Am 5. Juni gibt die Polizei eine<br />
Salve auf die Weber in Kostroma ab: 4 Tote, 9 Verwundete. Am 10. August schießen<br />
Truppen in Iwanowo-Wosnessensk auf Arbeiter: 16 Tote und 30 Verwundete. In die<br />
Bewegung <strong>der</strong> Textilarbeiter sind Soldaten des Platzbataillons verwickelt. Proteststreiks<br />
in verschiedenen Teilen des Landes sind Antwort auf die Arbeitererschießungen von<br />
Iwanowo-Wosnessensk. Parallel entwickelt sich <strong>der</strong> ökonomische Kampf. Die Textilarbeiter<br />
marschieren nicht selten in den vor<strong>der</strong>sten Reihen.<br />
Im Vergleich zum ersten Halbjahr 1914 bedeutet die Bewegung, was Kraft des<br />
Ansturms und Klarheit <strong>der</strong> Parolen betrifft, einen großen Schritt rückwärts. Nicht<br />
verwun<strong>der</strong>lich: in den Kampf werden zu bedeutendem Teil Rohmassen hineingezogen<br />
bei völliger Zersplitterung <strong>der</strong> führenden Arbeiterschicht. Nichtsdestoweniger kündet<br />
sich schon in den ersten Streiks während des Krieges das Herannahen großer Kämpfe an.<br />
Justizminister Chwostow erkläne am 16. August: »Wenn jetzt keine bewaffneten Aktionen<br />
<strong>der</strong> Arbeiter stattfinden, so ausschließlich deshalb, weil sie keine Organisationen besitzen.«<br />
Noch deutlicher drückte sich Goremykin aus: »Die Frage liegt bei den Arbeiterführern<br />
nur am Fehlen <strong>der</strong> Organisation, die durch die Verhaftung <strong>der</strong> fünf Dumamitglie<strong>der</strong><br />
zerschlagen wurde.« Der Innenminister fügte hinzu: »Die Dumamitglie<strong>der</strong> (Bolschewiki)<br />
darf man nicht amnestieren, sie sind das organisierende Zentrum <strong>der</strong> Arbeiterbewegung<br />
in ihren gefährlichsten Äußerungen.« Diese Menschen täuschten sich jedenfalls nicht<br />
darin, wo <strong>der</strong> wahre Feind war.<br />
Während das Ministerium sogar im Augenblick höchster Verwirrung und Geneigtheit<br />
zu liberalem Entgegenkommen es als notwendig erachtete, <strong>der</strong> Arbeiterrevolution<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 31
Schläge aufs Haupt, das heißt auf die Bolschewiki zu versetzen, bemühte sich die<br />
Großbourgeoisie, eine Arbeitsgemeinschaft mit den Menschewiki anzubahnen. Erschrokken<br />
über das Ausmaß <strong>der</strong> Streiks, machten die liberalen Industriellen den Versuch, den<br />
Arbeitern patriotische Disziplin aufzuerlegen, indem sie <strong>der</strong>en Wahlmänner in die<br />
Kriegsindustriekomitees einbezogen. Der Innenminister beklagte sich darüber, daß es<br />
sehr schwer sei, gegen Gutschkows Einfälle zu kämpfen: »Die ganze Sache segle unter<br />
patriotischer Flagge und im Interesse <strong>der</strong> Landesverteidigung.« Man muß jedoch<br />
feststellen, daß die Polizei selbst es vermied, die Sozialpatrioten zu verhaften, da sie in<br />
ihnen indirekte Kampfverbündete gegen Streiks und revolutionäre "Exzesse" erblickte.<br />
Auf dem übergroßen Vertrauen zur Macht des patriotischen Sozialismus gründete sich<br />
die Überzeugung <strong>der</strong> Ochrana, daß, solange <strong>der</strong> Krieg dauert, es keinen Aufstand geben<br />
werde.<br />
Bei den Wahlen zu den Kriegsindustriekomitees erwiesen sich die Vaterlandsverteidiger,<br />
mit dem energischen Metallarbeiter Gwosdjew an <strong>der</strong> Spitze - wir werden ihm später<br />
als Arbeitsminister in <strong>der</strong> Koalitionsregierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> begegnen - in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit.<br />
Sie benutzten jedoch die Unterstützung nicht nur <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie, son<strong>der</strong>n<br />
auch <strong>der</strong> Bürokratie, um die Boykottanhänger, geführt von den Bolschewiki, nie<strong>der</strong>zuhalten<br />
und dem Petersburger Proletariat eine Vertretung in den Organen des Industriepatriotismus<br />
auftuzwingen. Die Stellung <strong>der</strong> Menschewiki kam klar zum Ausdruck in einer<br />
Rede, mit <strong>der</strong> sich später einer ihrer Vertreter an die Industriellen im Kornitee wandte:<br />
»Ihr müßt for<strong>der</strong>n, daß die heute bestehende bürokratische Regierung von <strong>der</strong> Bildfläche<br />
verschwindet und ihren Platz euch als den Erben des bestehenden Regimes überläßt.«<br />
Die junge politische Freundschaft wuchs nicht nur täglich, son<strong>der</strong>n stündlich. Nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung wird sie ihre reifen Früchte bringen.<br />
Der Krieg richtete im unterirdischen Lager schreckliche Verwüstungen an. Eine zentralisierte<br />
Parteiorganisation besaßen die Bolschewiki nach <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Dumafraktion<br />
nicht. Die Lokalkomitees führten ein episodisches Dasein und waren häufig ohne<br />
Verbindung mit den Bezirken. Es arbeiteten nur vereinzelte Gruppen, Zirkel und Personen.<br />
Aber die einsetzende Belebung des Streikkampfes verlieh ihnen in den Betrieben<br />
Mut und Kraft. Allmählich fanden sie einan<strong>der</strong> und stellten Bezirksverbindungen her.<br />
Die unterirdische Arbeit erstand wie<strong>der</strong>. Im Polizeidepartement schrieb man später: »Die<br />
Leninisten, hinter denen in Rußland die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> illegalen sozialdemokratischen<br />
Organisationen steht, haben seit Kriegs-beginn in ihren größeren Zentren<br />
(wie Petrograd, Moskau, Charkow, Kiew, Tula, Kostroma, Gouvernement Wladimir,<br />
Samara) eine bedeutende Anzahl revolutiönärer Aufrufe herausgegeben mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />
nach Kriegseinstellung, Sturz <strong>der</strong> bestehenden Regierung und Errichtung <strong>der</strong><br />
Republik, wobei diese Arbeit als greifbare Resultate Arbeiterstreiks und Unruhen zur<br />
Folge hatte.«<br />
Der traditionelle Gedenktag <strong>der</strong> Arbeiterprozession zum Winterpalais, <strong>der</strong> im Jahre<br />
vorher fast unbeachtet verlaufen war, ruft am 9. Januar 1916 einen umfangreichen Streik<br />
hervor. Die Streikbewegung wächst in diesen Jahren um das doppelte an. Zusammenstöße<br />
mit <strong>der</strong> Polizei begleiten jeden größeren und hartnäckigeren Streik. Zu den<br />
Truppen verhalten sich die Arbeiter mit demonstrativem Wohlwollen, und die Ochrana<br />
registriert mehr als einmal diese besorgniserregende Tatsache.<br />
Die Kriegsindustrie quoll auf, indem sie ringsum alle Hilfsmittel verschlang und ihre<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 32
eigenen Grundlagen zu untergraben begann. Die Friedcnszweige <strong>der</strong> Industrie waren im<br />
Absterben. Aus <strong>der</strong> Wirtschaftsregulierung wurde trotz allen Plänen nichts. Die Bürokratie,<br />
bei dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> mächtigen Kriegsindustriekomitees bereits außerstande, die<br />
Sache in ihre Hände zu nehmen, war indes gleichzeitig nicht gewillt, <strong>der</strong> Bourgeoisie die<br />
regulierende Rolle zu überlassen. Das Chaos wuchs. Fähige Arbeiter wurden durch<br />
unfähige ersetzt. Die Kohlengruben, Fabriken und Werkstätten in Polen waren bald<br />
verloren. Während des ersten Kriegsjahres kam etwa ein Fünftel <strong>der</strong> gesamten Industriekräfte<br />
des Landes in Wegfall. Bis zu 50% <strong>der</strong> Gesamtproduktion gingen für die Bedürfnisse<br />
des Krieges und <strong>der</strong> Armee auf, darunter bis zu 75% <strong>der</strong> im Lande erzeugten<br />
Textilwaren. Der überlastete Transport war außerstande, den Fabriken das notwendige<br />
Heiz- und Rohmaterial zuzustellen. Der Krieg verschlang nicht nur das gesamte flüssige<br />
Nationaleinkommen, son<strong>der</strong>n ging auch ernstlich daran, das Grundkapital des Landes zu<br />
vergeuden.<br />
Die Industriellen waren immer weniger zu Konzessionen an die Arbeiter bereit,<br />
während die Regierung jeden Streik in alter Weise mit strengen Repressalien beantwortete.<br />
All das stieß den Gedanken des Arbeiters vom Einzelnen zum Allgemeinen, von <strong>der</strong><br />
Ökonomik zur Politik. »Es müssen alle auf einmal streiken.« So entsteht die Idee des<br />
Generalstreiks. Der Prozeß <strong>der</strong> Radikalisierung <strong>der</strong> Massen spiegelt sich am überzeugendsten<br />
in <strong>der</strong> Streikstatistik wi<strong>der</strong>. Im Jahre 1915 beteiligen sich an politischen Streiks<br />
zweieinhalbmal weniger Arbeiter - als an ökonomischen Konflikten, im Jahre 1916<br />
zweimal weniger; in den ersten zwei Monaten des Jahres 1917 erfassen politische Streiks<br />
bereits sechsmal soviel Arbeiter als ökonomische Streiks. Die Rolle Petrograds wird<br />
durch eine Ziffer gezeigt: Während <strong>der</strong> Kriegsjahre entfallen auf seinen Teil 72% <strong>der</strong><br />
politisch Streikenden!<br />
Im Feuer des Kampfes verbrennt nicht wenig alter Aberglaube. »Mit Schmerz« meldet<br />
die Ochrana: Wollte man den For<strong>der</strong>ungen des Gesetzes entsprechend reagieren, auf<br />
»alle Fälle frecher und offener Majestätsbeleidigung, die Zahl <strong>der</strong> Prozesse nach<br />
Paragraph 103 würde eine nie dagewesene Ziffer erreichen«. Allein das Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Massen bleibt dennoch hinter ihrer eigenen Bewegung zurück. Der schreckliche Druck<br />
des Krieges und des Zerfalls beschleunigt den Kampfprozeß <strong>der</strong>art, daß breite Arbeitermassen<br />
bis zum Moment <strong>der</strong> Umwälzung keine Zeit finden, sich von vielen Ansichten<br />
und Vorurteilen, die sie aus dem Dorfe o<strong>der</strong> dem kleinbürgerlichen Hause <strong>der</strong> Stadt<br />
mitbrachten, zu befreien. Diese Tatsache wird den ersten Monaten <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
ihren Stempel aufdrücken.<br />
Gegen Ende 1916 steigen die Preise sprunghaft. Zu Inflation und Transportzerrüttung<br />
gesellt sich direkter Warenmangel. Der Verbrauch <strong>der</strong> Bevölkerung vermin<strong>der</strong>t sich zu<br />
dieser Zeit um mehr als die Hälfte. Die Kurve <strong>der</strong> Arbeiterbewegung steigt schroff nach<br />
oben. Mit dem Oktober tritt die Bewegung in Petrograd in das entscheidende Stadium ein<br />
und vereinigt alle Arten <strong>der</strong> Unzufriedenheit: Petrograd nimmt den Anlauf zur Februarrevolution.<br />
Eine Versammlungswelle rollt durch die Betriebe. Die Themen sind:<br />
Ernährung, Teuerung, Krieg, Regierung. Es werden bolschewistische Flugblätter verteilt.<br />
Politische Streiks beginnen. Nach dem Verlassen <strong>der</strong> Betriebe finden improvisierte<br />
Demonstrationen statt. Es werden Fälle von Verbrü<strong>der</strong>ung einzelner Betriebe mit Soldaten<br />
beobachtet. Ein stürmischer Proteststreik entbrennt gegen das Gericht über die<br />
revolutionären Matrosen <strong>der</strong> baltischen Flotte. Der französische Gesandte macht den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 33
Premier Stürmer auf die ihm bekanntgewordenen Tatsachen aufmerksam, daß Soldaten<br />
auf die Polizei geschossen hätten. Stürmer beruhigt den Gesandten: »Die Repression<br />
wird erbarmungslos sein.« Im November wird eine große Gruppe dienstpflichtiger<br />
Arbeiter aus den Petrogra<strong>der</strong> Betrieben herausgezogen, uni an die Front geschickt zu<br />
werden. Das Jahr endet in Sturm und Gewitter.<br />
Die Lage mit dem Jahre 1905 vergleichend, kommt <strong>der</strong> Direktor des Polizeidepartements,<br />
Wassiljew, zu einem äußerst trostlosen Schluß: »Die oppositionellen Stimmungen<br />
haben einen enormen Umfang angenommen, wie sie ihn in <strong>der</strong> erwähnten Wirrnisperiode<br />
in den breiten Massen bei weitem nicht erreicht hatten.« Wassiljew baut nicht auf<br />
die Garnisonen. Sogar die Dorfpolizei scheint ihm nicht ganz verläßlich. Die Ochrana<br />
meldet die Belebung <strong>der</strong> Parole des Generalstreiks und die Gefahr <strong>der</strong> Auferstehung des<br />
Terrors. Die aus den Schützengräben ankommenden Soldaten und Offiziere sagen über<br />
die herrschende Lage: »Was ist da zu überlegen, abstechen muß man so einen Schuft,<br />
Wären wir da, wir würden nicht lange nachdenken«, und so weiter.<br />
Schljapnikow, Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki selbst ehemals Metallarbeiter,<br />
erzählt über die nervöse Stimmung <strong>der</strong> Arbeiter in jenen Tagen: »irgendein Pfiff<br />
o<strong>der</strong> ein Lärm genügte, die Arbeiter glauben zumachen, es sei das Signal zur Arbeitseinstellung.«<br />
Dieses Detail ist gleichermaßen bemerkenswert als politisches Symptom wie<br />
als psychologischer Zug: die <strong>Revolution</strong> sitzt bereits in den Nerven, bevor sie noch auf<br />
die Straße geht.<br />
Die Provinz macht die gleichen Etappen durch, nur langsamer. Das Wachstum des<br />
Massencharakters <strong>der</strong> Bewegung nnd ihres Kampfgeistes verschiebt das Schwergewicht<br />
von den Textilarbeitern zu den Metallarbeitern, von den ökonomischen zu den politischen<br />
Streiks, aus <strong>der</strong> Provinz nach Petrograd. Die ersten zwei Monate des Jahres 1917<br />
ergeben 575.000 politische Streikende, davon entfällt <strong>der</strong> Löwenanteil auf die<br />
Hauptstadt. Obwohl die Polizei am Vorabend des 9. Januar einen neuen Streich gegen<br />
die Partei führte, streiken am Tage des blutigen Jubiläums in <strong>der</strong> Hauptstadt 150.000<br />
Arbeiter. Die Stimmung ist gespannt; die Metallarbeiter gehen voran, die Proletarier<br />
fühlen, daß es keinen Rückzug mehr gibt. In jedem Betrieb entsteht ein aktiver Kern, am<br />
häufigsten um die Bolschewiki. Streiks und Meetings finden während <strong>der</strong> zwei Februarwochen<br />
ununterbrochen statt. Am 8. Februar wurden Polizisten auf dem Putilowwerk<br />
»mit einem Hagel von Eisenstücken und Schlacken« empfangen. Am 14., dem Tage <strong>der</strong><br />
Dumaeröffnung, streikten in Petrograd etwa 90.000 Arbeiter. Einige Betriebe wurden<br />
auch in Moskau stillgelegt. Am 16. beschlossen die Behörden in Petrograd, Brotkarten<br />
einzuführen. Diese Neuerung ging auf die Nerven. Am 19. sammelte sich vor den<br />
Lebensmittelgeschäften viel Volk, beson<strong>der</strong>s Frauen, an, alle for<strong>der</strong>ten Brot. Tags darauf<br />
wurden in einigen Stadtteilen die Bäckerläden geplün<strong>der</strong>t. Das war bereits das Wetterleuchten<br />
des Aufstandes, <strong>der</strong> wenige Tage später ausbrach.<br />
Die revolutionäre Kühnheit schöpfte das russische Proletariat nicht nur aus sich selbst.<br />
Schon seine Lage, die einer Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Nation, spricht dafür, daß es nicht imstande<br />
gewesen wäre, seinem Kampfe ein solches Ausmaß zu geben, und noch weniger, sich an<br />
die Spitze des Staates zu stellen, wenn es nicht eine mächtige Stütze in den Tiefen des<br />
Volkes gehabt hätte. Diese Stütze sicherte ihm die Agrarfrage.<br />
Die verspätete Halbbefreiung <strong>der</strong> Bauern im Jahre 1861 traf die Landwirtschaft fast auf<br />
<strong>der</strong> Stufe an, auf <strong>der</strong> sie zwei Jahrhun<strong>der</strong>te zuvor gestanden hatte. Die Beibehaltung des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 34
alten, bei <strong>der</strong> Reform zugunsten des Adels bestohlenen Fonds an Gemeindeland<br />
verschärfte unter den archaischen Bodenbearbeitungsmethoden automatisch die Übervölkerungskrise<br />
des Dorfes, die gleichzeitig die Krise <strong>der</strong> Dreifel<strong>der</strong>wirtschaft war. Die<br />
Bauernschaft fühlte sich um so Mehr in einer Falle, als <strong>der</strong> Prozeß sich nicht im<br />
siebzehnten son<strong>der</strong>n im neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte, das heißt unter Bedingungen<br />
<strong>der</strong> weit vorgeschrittenen Geldwirtschaft, die an den Holzpflug Ansprüche stellte,<br />
die höchstens <strong>der</strong> Traktor befriedigen konnte. Auch hier sehen wir das Zusammentreffen<br />
verschiedener Stufen des historischen Prozesses und als Ergebnis eine außerordentliche<br />
Schärfe <strong>der</strong> Gegensätze.<br />
Gelehrte, Agronomen und Nationalökonomen predigten, daß unter Bedingungen rationeller<br />
Bearbeitung das Land vollständig ausreichen würde, d.h. sie schlugen dem Bauer<br />
vor, den Sprung zur höheren technischen und kulturellen Stufe zu machen, ohne Gutsbesitzer,<br />
Urjadnik und Zaren zu nahe zu treten. Doch nie pflegte ein Wirtschaftsregime,<br />
und um so weniger das landwirtschaftliche, eines <strong>der</strong> starrsten, von <strong>der</strong> Bildfläche zu<br />
verschwinden, bevor es nicht alle seine Möglichkeiten erschöpft hatte. Ehe sich <strong>der</strong><br />
Bauer gezwungen sah, zu intensiverer Wirtschaftskultur überzugehen, mußte er den<br />
letzten Versuch einer Verbreiterung seiner Dreifel<strong>der</strong>wirtschaft machen. Doch war dies<br />
offensichtlich nur auf Kosten <strong>der</strong> nichtbäuerlichen Län<strong>der</strong>eien erreichbar. Erstickend in<br />
<strong>der</strong> Enge inmitten <strong>der</strong> Weiten des Landes, mußte <strong>der</strong> Muschik unter <strong>der</strong> brennenden<br />
Knute des Fiskus und des Marktes unvermeidlich den Versuch machen, den Gutsbesitzer<br />
ein für allemal loszuwerden.<br />
Die Gesamtzahl des nutzbaren Bodens in den Grenzen des europäischen Rußland<br />
wurde am Vorabend <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> auf 280 Millionen Deßjatinen geschätzt. Der<br />
Boden <strong>der</strong> Dorfgemeinden umfaßte etwa 140 Millionen, die Kronlän<strong>der</strong>eien etwa 5<br />
Millionen, Kirchen- und Klosterbesitz etwa 2½ Millionen Deßjatinen. Von dem Privatbesitz<br />
an Boden entfielen auf 30.000 Großgrundbesitzer, von denen jedem über 500 Deßjatinen<br />
gehörten, 70 Millionen Deßjatinen, das heißt die gleiche Zahl, über die annähernd<br />
10 Millionen Bauernfamilien verfügten. Diese Bodenstatistik bildete das fertige<br />
Programm des Bauemkrieges.<br />
Den Gutsbesitzer zu liquidieren, war <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> nicht gelungen. Es hatte<br />
sich nicht die gesamte Bauernmasse erhoben, die Bewegung im Dorfe fiel nicht mit <strong>der</strong><br />
Bewegung in <strong>der</strong> Stadt zusammen, die Bauernarmee schwankte, stellte jedoch schließlich<br />
genügend Kräfte zur Verfügung, um die Arbeiter nie<strong>der</strong>zuschlagen. Nachdem das<br />
Semjonowski-Gar<strong>der</strong>egiment mit dem Moskauer Aufstand fertig geworden war, verwarf<br />
die Monarchie jeden Gedanken an eine Beschneidung des gutsherrlichen Bodens und<br />
ihrer eigenen selbstherrlichen Rechte.<br />
Jedoch war die nie<strong>der</strong>geschlagene <strong>Revolution</strong> keinesfalls am Dorfe spurlos vorbeigegangen.<br />
Die Regierung hob die alten Ablösungen auf und eröffnete die Möglichkeit einer<br />
breiteren Übersiedlung nach Sibirien. Die erschrockenen Gutsbesitzer machten nicht nur<br />
beträchtliche Konzessionen bezüglich des Pachtzinses, son<strong>der</strong>n gingen auch zum<br />
verstärkten Ausverkauf ihrer Latifundien über. Diese Früchte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nutzten die<br />
wohlhaben<strong>der</strong>en Bauern, die in <strong>der</strong> Lage waren, gutsherrlichen Boden zu pachten und zu<br />
kaufen, erfolgreich aus.<br />
Die breiteste Pforte, um aus <strong>der</strong> Bauernschaft kapitalistische Farmer auszuson<strong>der</strong>n,<br />
öffnete jedoch das Gesetz vom 9. November 1906, die wichtigste Reform <strong>der</strong> siegreichen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 35
Konterrevoludon. Indem es sogar <strong>der</strong> kleinen Bauernmin<strong>der</strong>heit einer Gemeinde das<br />
Recht zuerkannte, gegen den Willen <strong>der</strong> Mehrheit aus dem Gemeindeland einzelne<br />
Stücke herauszuschneiden, wurde das Gesetz vom 9. November zu einem kapitalistischen<br />
Geschoß, das sich gegen die Dorfgemeinde richtete. Der Vorsitzende des Ministerrats,<br />
Stolypin, bezeichnete das Wesen <strong>der</strong> neuen Regierungspolitik in <strong>der</strong> Bauernfrage als<br />
»Einsatz auf die Starken«. Das bedeutete: die Oberschicht <strong>der</strong> Bauern auf die Aneignung<br />
von Gemeindeland durch Ankauf <strong>der</strong> "befreiten" Abschnitte zu stoßen und damit die<br />
neuen kapitalistischen Farmer in Ordnungsstützen zu verwandeln. Eine solche Aufgabe<br />
zu stellen war leichter, als sie zu lösen. Bei dem Versuch, die Bauern durch die Kulakenfrage<br />
zu ersetzen, mußte sich die Konterrevolution das Genick brechen.<br />
Gegen den 1. Januar 1916 sicherten sich zweieinhalb Millionen Hofbesitzer als ihren<br />
Privatbesitz 17 Millionen Deßjatinen. Zwei weitere Millionen Hofbesitzer for<strong>der</strong>ten die<br />
Ausson<strong>der</strong>ung von 14 Millionen Deßjatinen. Das sah nach einem kolossalen Erfolg <strong>der</strong><br />
Reform aus. Doch die ausgeson<strong>der</strong>ten Bauernwirtschaften waren in ihrer Mehrzahl<br />
durchaus lebensunfähig und stellten nur das Material für eine natürliche Auslese dar.<br />
Während die wirtschaftlich rückständigsten Gutsbesitzer und kleinen Bauern intensiv<br />
verkauften, die einen ihre Latifundien, die an<strong>der</strong>en ihre Landfetzen, trat vorwiegend die<br />
neue Bauernbourgeoisie als Käufer auf. Die Landwirtschaft ging zweifellos in das<br />
Stadium des kapitalistischen Aufstiegs. Die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus<br />
Rußland wuchs in fünf Jahren (1908-1912) von 1 Milliarde Rubel auf 1½ Milliarden.<br />
Das bedeutete: breite Bauernmassen wurden proletarisiert, und die Oberschicht des<br />
Dorfes warf immer mehr Brot auf den Markt.<br />
Als Ersatz für die zwangsweise Gemeindebindung <strong>der</strong> Bauernschaft entwickelte sich<br />
die freiwillige Kooperative, <strong>der</strong> es im Laufe weniger Jahre gelang, verhältnismäßig tief in<br />
die Bauernmassen einzudringen, und die sofort Gegenstand liberaler und demokratischer<br />
Idealisierung wurde. Die reale Macht in <strong>der</strong> Kooperative besaßen jedoch nur die wohlhabenden<br />
Bauern, denen sie letzten Endes auch zum Vorteil gereichte. Die Volkstümlerintelligenz,<br />
die in <strong>der</strong> Bauernkooperative ihre Hauptkräfte konzentrierte, hatte schließlich<br />
ihre Liebe zum Volke auf ein solides bürgerliches Geleise geschoben. Damit wurde im<br />
beson<strong>der</strong>en <strong>der</strong> Block <strong>der</strong> "antikapitalistischen" Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre mit <strong>der</strong> par<br />
excellence kapitalistischen Partei <strong>der</strong> Kadetten vorbereitet.<br />
Während <strong>der</strong> Liberalismus den Schein einer Opposition in bezug auf die Agrarpolitik<br />
<strong>der</strong> Reaktion wahrte, blickte er jedoch mit größter Hoffnung auf die kapitalistische<br />
Vernichtung <strong>der</strong> Dorfgemeinde. »Im Dorfe wächst eine mächtige Kleinbourgeoisie<br />
heran«, schrieb <strong>der</strong> liberale Fürst Trubetzkoi, »die ihrem gesamten Wesen und ihrer<br />
Zusammensetzung nach in gleicher Weise den Idealen des vereinigten Adels wie den<br />
sozialistischen Schwärmereien fremd gegenüber steht.«<br />
Aber diese großartige Medaille hatte eine Kehrseite. Aus <strong>der</strong> Dorfgemeinde son<strong>der</strong>te<br />
sich nicht nur eine »mächtige Kleinbourgeoisie«, son<strong>der</strong>n auch ihr Antipode aus. Die<br />
Zahl <strong>der</strong> Bauern, die ihre lebensunfähigen Anteile verkauft hatten, erreichte zu Kriegsbeginn<br />
eine Million, was nicht weniger als fünf Millionen Seelen proletarisierter Bevölkerung<br />
bedeutete. Einen reichlichen Explosivstoff bildeten auch die Millionen verarmter<br />
Bauern, denen nichts weiter übrigblieb, als sich an ihre Hungeranteile zu klammem. In<br />
<strong>der</strong> Bauernschaft wie<strong>der</strong>holten sich folglich jene Gegensätze, die in Rußland die<br />
Entwicklung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes so früh untergraben hatten. Die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 36
neue Dorfbourgeoisie, die den alten und mächtigeren Besitzern eine Stütze hätte werden<br />
sollen, erwies sich den Kernmassen <strong>der</strong> Bauernschaft gegenüber ebenso feindlich wie die<br />
alten Besitzer dem Volke überhaupt. Ehe sie eine feste Ordnungsstütze wurde, benötigte<br />
die Bauernbourgeoisie selbst einer festen Stütze, um sich auf den eroberten Positionen<br />
halten zu können. Unter diesen Umständen ist es nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß die Agrarfrage<br />
in sämtlichen Reichsdumas ihre Schärfe behielt. Alle fühlten, daß das letzte Wort noch<br />
nicht gesprochen war. Der Bauerndeputierte Petritschenko erklärte einmal von <strong>der</strong><br />
Dumatribüne aus: »Soviel ihr auch diskutieren mögt, einen an<strong>der</strong>en Erdball werdet ihr<br />
nicht schaffen. Folglich wird man uns diese Erde geben müssen.« Dieser Bauer war<br />
we<strong>der</strong> Bolschewik noch Sozialrevolutionär; im Gegenteil, das war ein Deputierter <strong>der</strong><br />
Rechten, ein Monarchist.<br />
Die Agrarbewegung, die wie <strong>der</strong> Streikkampf <strong>der</strong> Arbeiter am Ende des Jahres 1907<br />
verstummte, lebt 1908 zum Teil wie<strong>der</strong> auf und steigert sich in den folgenden Jahren.<br />
Allerdings wird <strong>der</strong> Kampf hauptsächlich in das Innere <strong>der</strong> Gemeinde verlegt; darin<br />
bestand ja die politische Berechnung <strong>der</strong> Reaktion. Bewaffnete Zusammenstöße <strong>der</strong><br />
Bauern bei <strong>der</strong> Aufteilung des Gemeindelandes sind nicht selten. Aber auch <strong>der</strong> Kampf<br />
gegen den Gutsbesitzer erstirbt nicht. Die Bauern stecken häufig Gehöfte, Ernte, Heu <strong>der</strong><br />
Adligen in Brand und verschonen dabei auch die Siedler nicht, die sich gegen den Willen<br />
<strong>der</strong> Gemeindebauern ausgeson<strong>der</strong>t hatten.<br />
In diesem Zustande wurde die Bauernschaft vom Kriege überrascht. Die Regierung<br />
führte etwa zehn Millionen Arbeitskräfte und annähernd zwei Millionen Pferde aus dem<br />
Dorfe weg. Die schwachen Wirtschaften wurden noch schwächer. Die Zahl <strong>der</strong> nichtbestellenden<br />
Bauern nahm zu. Aber auch mit den Mittelbauern ging es in dem zweiten<br />
Kriegsjahre bergab. Die feindselige Haltung <strong>der</strong> Bauernschaft zum Kriege nahm von<br />
Monat zu Monat zu. Im Oktober 1916 berichtet die Petrogra<strong>der</strong> Gendarmerieverwaltung,<br />
daß man im Dorfe an den Sieg im Krieg schon nicht mehr glaube: nach den Worten <strong>der</strong><br />
Versicherurgsagenten, <strong>der</strong> Lehrer, Händler und so weiter »warten alle nur darauf, wann<br />
dieser verfluchte Krieg schließlich enden wird« ... Und mehr noch: »Überall werden<br />
politische Fragen diskutiert, werden gegen Gutsbesitzer und Kaufleute gerichtete Bestimmungen<br />
getroffen, Zellen verschiedenster Organisationen gebildet ... Ein vereinigendes<br />
Zentrum gibt es vorläufig nicht, es ist jedoch anzunehmen, daß die Bauern sich vermittels<br />
<strong>der</strong> Kooperativen, die stündlich in ganz Rußland wachsen, vereinigen werden.« Manches<br />
darin ist übertrieben, manches haben die Gendarme vorweggenommen, aber das Wesentliche<br />
ist zweifellos richtig angegeben.<br />
Die besitzenden Klassen konnten nicht übersehen, daß das Dorf seine Rechnung<br />
präsentieren werde, aber sie verscheuchten die düsteren Gedanken in <strong>der</strong> Hoffnung,<br />
irgendwie doch herauszukommen. Der wißbegierige französische Gesandte Paléologue<br />
unterhielt sich darüber in den Kriegstagen mit dem ehemaligen Landwirtschaftsminister<br />
Kriwoschein, dem ehemaligen Premier Kokowzew, dem Großgrundbesitzer Graf Bobrinski,<br />
dem Vorsitzenden <strong>der</strong> Reichsduma, Rodsjanko, dem Großindustriellen Putilow und<br />
mit an<strong>der</strong>en angesehenen Männern. Dabei wurde ihm folgendes eröffnet: Für die Durchführung<br />
einer radikalen Bodenreform wäre die Arbeit eines ständigen Heeres von<br />
300.000 Landvermessern für die Dauer von mindestens 15 Jahren nötig; aber in dieser<br />
Zeit würden die Bauernwirtschaften auf 30 Millionen angewachsen sein und folglich alle<br />
geleisteten Berechnungen sich als überholt erweisen. Die Bodenreform war mithin in den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 37
Augen <strong>der</strong> Gutsbesitzer, Würdenträger und Bankiers eine Quadratur des Kreises.<br />
Überflüssig zu sagen, daß solche mathematischen Skrupel dem Muschik völlig fremd<br />
waren. Er meinte, daß man zuallererst den Gutsherrn ausräuchern müsse, dann werde<br />
man schon sehen.<br />
Wenn das Dorf in den Kriegsjahren verhältnismäßig ruhig blieb, so darum, weil seine<br />
aktiven Kräfte an <strong>der</strong> Front waren. Die Soldaten vergaßen den Acker nicht, wenigstens<br />
solange sie nicht an den Tod dachten, und die Gedanken des Muschiks an die Zukunft<br />
wurden in den Schützengräben vom Pulvergeruch durchtränkt. Aber dennoch würde die<br />
Bauernschaft, auch nachdem sie den Gebrauch <strong>der</strong> Waffen gelernt hatte, mit ihren<br />
Kräften - allein niemals die agrar-demokratische, das heißt ihre eigene <strong>Revolution</strong><br />
vollbracht haben. Sie brauchte eine Führung. Zum erstenmal in <strong>der</strong> Weltgeschichte sollte<br />
<strong>der</strong> Bauer seinen Führer in <strong>der</strong> Person des Arbeiters finden. Darin besteht <strong>der</strong> grundlegende<br />
und man könnte sagen erschöpfende Unterschied zwischen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> und<br />
allen vorangegangenen <strong>Revolution</strong>en.<br />
In England verschwand die Leibeigenschaft faktisch am Ende des vierzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
das heißt zwei Jahrhun<strong>der</strong>te bevor sie in Rußland entstand und viereinhalb<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te, ehe sie dort abgeschafft wurde. Die Enteignung des Bodenbesitzes <strong>der</strong><br />
Bauern erstreckt sich in England über die Reformation und zwei <strong>Revolution</strong>en bis zum<br />
neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t. Die kapitalistische Entwicklung, von außen nicht forciert,<br />
besaß somit Zeit genug, die selbständige Bauernschaft zu liquidieren, lange bevor noch<br />
das Proletariat zum politischen Leben erwacht war.<br />
In Frankreich zwang ihr Kamp mit dem königlichen Absolutismus, <strong>der</strong> Aristokratie<br />
und den Kirchenfürsten die Bourgeoisie in Gestalt ihrer verschiedenen Schichten, die<br />
radikale Agrarrevolution am Ende des achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts etappenweise zu vollziehen.<br />
Die selbständige Bauernschaft wurde danach für lange Zeit die Stütze <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Ordnung und half im Jahre 1871 <strong>der</strong> Bourgeoisie, mit <strong>der</strong> Pariser Kommune fertigzuwerden.<br />
In Deutschland erwies sich die Bourgeoisie zur revolutionären Lösung <strong>der</strong> Agrarfrage<br />
unfähig und lieferte im Jahre 1848 die Bauern ebenso an die Gutsbesitzer aus, wie Luther<br />
etwa drei Jahrhun<strong>der</strong>te zuvor sie während des Bauernkrieges an die Fürsten ausgeliefert<br />
hatte. Das deutsche Proletariat seinerseits war Mitte des neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts noch<br />
zu schwach, die Führung <strong>der</strong> Bauernschaft zu übernehmen. Die kapitalistische Entwicklung<br />
Deutschlands bekam infolgedessen eine genügende Frist, wenn auch keine so lange<br />
wie die Englands, um sich die Landwirtschaft, wie sie aus <strong>der</strong> unvollendeten bürgerlichen<br />
<strong>Revolution</strong> hervorgegangen war, zu unterwerfen.<br />
Die Bauernreform von 1861 wurde in Rußland von <strong>der</strong> Adels- und Beamtenmonarchle<br />
unter dem Druck <strong>der</strong> Bedürfüisse <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft durchgeführt, jedoch bei<br />
völliger politischer Ohnmacht <strong>der</strong> Bourgeoisie. Der Charakter <strong>der</strong> Bauernbefreiung war<br />
<strong>der</strong>art, daß die forcierte kapitalistische Umgestaltung des Landes das Agrarproblem<br />
unvermeidlich in ein Problem <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verwandeln mußte. Die <strong>russischen</strong><br />
Bourgeois erträumten eine Agrarentwicklung bald von französischem, bald dänischem,<br />
bald amerikanischem, von jedem beliebigen, nur nicht russischem Typ. Jedoch kamen sie<br />
nicht auf den Gedanken, sich französische <strong>Geschichte</strong> o<strong>der</strong> die amerikanische soziale<br />
Struktur anzueignen. Die demokratische Intelligenz stand trotz ihrer revolutionären<br />
Vergangenheit in <strong>der</strong> Entscheidungsstunde auf seiten <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie und <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 38
Gutsbesitzer, nicht aber auf <strong>der</strong> des revolutionären Dorfes. Nur die Arbeiterklasse<br />
vermochte sich unter diesen Umständen an die Spitze <strong>der</strong> Bauemrevolution zu stellen.<br />
Das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung verspäteter Län<strong>der</strong> - im Sinne <strong>der</strong> eigenartigen<br />
Verquickung von Elementen <strong>der</strong> Rückständigkeit mit jüngsten Faktoren - ersteht hier<br />
vor uns in seiner vollendeten Form und gibt gleichzeitig den Schlüssel zu dem wesentlichsten<br />
Rätsel <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>. Wäre das Agrarproblem, als Erbe <strong>der</strong> Barbarei<br />
<strong>der</strong> alten <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>, von <strong>der</strong> Bourgeoisie gelöst worden, hätte sie es zu lösen<br />
vermocht, das russische Proletariat hätte im Jahre 1917 keinesfalls an die Macht gelangen<br />
können. Um den Sowjetstaat zu verwirklichen, war die Annäherung und gegenseitige<br />
Durchdringung zweier Faktoren von ganz verschiedener historischer Natur notwendig:<br />
des Bauernkrieges, das heißt einer Bewegung, die für die Morgenröte <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, das heißt einer<br />
Bewegung, die den Untergang <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Darin eben besteht<br />
das Jahr 1917.<br />
Der Zar und die Zarin<br />
Dieses Buch hat am allerwenigsten die Aufgabe, psychologische Untersuchungen als<br />
Selbstzweck anzustellen, durch die man jetzt nicht selten die soziale und historische<br />
Analyse zu ersetzen versucht. In unserem Gesichtsfelde stehen vor allem die großen<br />
bewegenden Kräfte <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, die einen überpersönlichen Charakter tragen. Eine<br />
von ihnen ist die Monarchie. Jedoch wirken alle diese Kräfte sich durch Menschen aus.<br />
Die Monarchie aber ist ihrem Wesen nach mit dem persönlichen Prinzip verbunden. Das<br />
rechtfertigt an sich das Interesse für die Person eines Monarchen, den <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong><br />
Entwicklung mit einer <strong>Revolution</strong> zusammenstoßen ließ. Wir hoffen - außerdem - in <strong>der</strong><br />
weiteren Darstellung wenigstens teilweise zeigen zu können, wo in <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />
das Persönliche aufhört - nicht selten viel früher, als es scheint - und wie oft das "beson<strong>der</strong>e<br />
Merkmal" einer Person nichts weiter darstellt als den individuellen Kratzer einer<br />
höheren Gesetzmäßigkeit.<br />
Seine Ahnen hinterließen Nikolaus II. als Erbschaft nicht nur das gewaltige Reich,<br />
son<strong>der</strong>n auch die <strong>Revolution</strong>. Sie bedachten ihn mit keiner einzigen Eigenschaft, die ihn<br />
befähigt hätte, ein Reich zu verwalten o<strong>der</strong> auch nur ein Gouvernement o<strong>der</strong> einen Kreis.<br />
Der historischen Brandung, die ihre Wogen immer näher an die Tore des Palastes heranwälzte,<br />
brachte <strong>der</strong> letzte Romanow eine dumpfe Teilnahmslosigkeit entgegen. Es war,<br />
als trenne sein Bewußtsein und seine Epoche eine durchsichtige, aber völlig undurchdringliche<br />
Sphäre.<br />
Die Personen, die mit dem Zaren in Berührung gekommen waren, vermerkten nach<br />
dem Umsturz wie<strong>der</strong>holt, daß in den tragischsten Augenblicken seiner Regierung<br />
während <strong>der</strong> Übergabe Port Arthurs und des Unterganges <strong>der</strong> Flotte bei Zussima, zehn<br />
Jahre später, während des Rückzuges <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen aus Galizien, und, nach<br />
weiteren zwei Jahren, in jenen Tagen, die dem Thronverzicht vorangingen, als rings um<br />
ihn alles bedrückt, erschrocken, erschüttert war, Nikolaus II. allein die Ruhe bewahrte.<br />
Wie bisher, erkundigte <strong>der</strong> Zar sich nach <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Werst, die er während seiner<br />
Reisen durch Rußland zurückgelegt hatte, erinnerte sich an Episoden aus einstigen<br />
Jagden, an Anekdoten bei offiziellen Begegnungen; er zeigte überhaupt Interesse für den<br />
Kehricht seines Alltagslebens, während über ihm Donner rollten und Blitze zuckten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 39
»Was ist das?« fragte sich einer seiner vertrauten Generale, »eine ungeheure, fast<br />
unwahrscheinliche Haltung, erreicht durch Erziehung? Glaube an eine göttliche Vorbestimmung<br />
<strong>der</strong> Ereignisse? O<strong>der</strong> mangelnde Denkfähigkeit?« Die Antwort ist zur Hälfte<br />
schon in <strong>der</strong> Frage enthalten. Die sogenannte "gute Erziehung" des Zaren, seine Selbstbeherrschung<br />
auch unter den außerordentlichsten Umständen, lassen sich keinesfalls durch<br />
äußere Dressur allein erklären: <strong>der</strong> Kern lag in <strong>der</strong> inneren Gleichgültigkeit, in <strong>der</strong><br />
Dürftigkeit <strong>der</strong> seelischen Kräfte, in <strong>der</strong> Schwäche <strong>der</strong> Willensimpulse. Die Maske <strong>der</strong><br />
Gleichgültigkeit, die man in gewissen Kreisen als "gute Erziehung" bezeichnet,<br />
verschmolz bei Nikolaus auf natürliche Weise mit dem ihm angeborenen Gesicht.<br />
Das Tagebuch des Zaren ist wertvoller als alle Zeugenaussagen: tagein, tagaus, jahrein,<br />
jahraus folgen auf diesen Blättern trostlose Eintragungen seelischer Leere. »Ging lange<br />
spazieren und tötete zwei Krähen. Trank Tee bei Tageslicht.« Ein Spaziergang zu Fuß,<br />
eine Kahnfahrt. Und wie<strong>der</strong> Krähen und wie<strong>der</strong> Tee. Alles an <strong>der</strong> Grenze <strong>der</strong><br />
Physiologie. Die Erwähnung kirchlicher Feierlichkeiten geschieht. im gleichen Tone wie<br />
die einer Zecherei.<br />
In den Tagen vor <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Reichsduma, als das ganze Land in Konvulsionen<br />
erschauerte, schrieb Nikolaus: »14. April. Ging spazieren in einer leichten Hemdbluse<br />
und nahm die Spazierfahrten mit dem Paddelboot wie<strong>der</strong> auf. Trank Tee auf dem Balkon.<br />
Stana aß mit uns zu Mittag und fuhr mit uns spazieren. Habe gelesen.« Nicht ein Wort<br />
über den Gegenstand <strong>der</strong> Lektüre: ein sentimentaler englischer Roman o<strong>der</strong> ein Bericht<br />
des Polizeidepartements? »15. April. Nahm die Entlassung Wittes an. Marie und Dmitrij<br />
aßen mit uns. Haben 2 sie ins Schloß begleitet.«<br />
An dem Tage, an dem die Auflösung <strong>der</strong> Duma beschlossen wurde und die hohen<br />
Würdenträger wie die Liberalen einen Angstparoxismus durchmachten, schrieb <strong>der</strong> Zar<br />
in sein Tagebuch: »7. Juli. Freitag. Ein sehr beschäftigter Morgen. Haben uns zum<br />
Frühstück mit den Offizieren um eine halbe Stunde verspätet ... Es war Gewitter und sehr<br />
sehwül. Gingen zusammen spazieren. Empfing Goremykin; unterschrieb den Befehl zur<br />
Auflösung <strong>der</strong> Duma! Haben Mittag gegessen bei Olga und Petja. Den ganzen Abend<br />
gelesen.« Ein Ausrufungszeichen anläßlich <strong>der</strong> bevorstehenden Dumaauflösung ist <strong>der</strong><br />
höchste Ausdruck seiner Gefühlsregungen.<br />
Die Deputierten <strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gejagten Duma riefen das Volk auf, Steuerzahlungen<br />
und Militärpflieht zu verweigern. Eine Reihe militärischer Aufstände brach aus: in<br />
Sweaborg, in Kronstadt, auf den Schiffen, bei Armeeteilen; <strong>der</strong> revolutionäre Terror<br />
gegen hohe Beamte lebte in nie dagewesenem Maße auf Der Zar schreibt: »9. Juli.<br />
Sonntag. Es ist geschehen! Die Duma ist heute aufgelöst worden. Beim Frühstück nach<br />
<strong>der</strong> Messe sah man viele lange Gesichter ... Das Wetter war herrlich. Trafen beim<br />
Spaziergange Onkel Mischa, <strong>der</strong> gestern aus Gatschina hierher übergesiedelt ist. Bis<br />
zum Mittagessen und den ganzen Abend ruhig gearbeitet. Fuhr Paddelboot.« Daß er<br />
ausgerechnet Paddelboot fuhr, ist vermerkt, womit er sich aber beschäftigte, ist nicht<br />
gesagt. Und so immer wie<strong>der</strong>.<br />
Weiter, aus den gleichen schicksalsvollen Tagen: »14. Juli. Nachdem ich mich angezogen<br />
hatte, fuhr ich per Rad zur Badeanstalt und badete mit Genuß im Meere.« - »15. Juli.<br />
Zweimal gebadet. Es war sehr heiß. Aßen zu Mittag zu zweien. Das Gewitter ist<br />
vorüber.« - »19. Juli. Morgens gebadet. Empfang auf <strong>der</strong> Farm: Onkel Wladimir und<br />
2 Es sind immer Zar und Zarin gemeint.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 40
Tschagin waren zum Frühstück da.« Aufstände und Dynamitexplosionen werden in einer<br />
einzigen Wertung gestreift - »Nette Ereignisse!« -, verblüffend durch eine niedrige<br />
Teilnahmslosigkeit, die sich nicht mal bis zum bewußten Zynismus entwickelt.<br />
»Um 9.30 Uhr morgens fuhren wir zum Kaspischen Regiment ... Ging lange spazieren.<br />
Das Wetter war herrlich. Badete im Meere. Empfing nach dem Tee Lwow und<br />
Gutschkow.« Kein Wort darüber, daß dieser so gewöhnliche Empfang zweier Liberaler<br />
mit dem Versuch Stolypins zusammenhing, in sein Ministerium oppositionelle Politiker<br />
einzubeziehen. Fürst Lwow, das spätere Haupt <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, berichtete<br />
damals über den Empfang beim Zaren: »Ich hatte erwartet, den Kaiser vom Unglück<br />
nie<strong>der</strong>geschlagen vorzufinden, statt dessen kam ein lustiges, munteres Kerlchen in einem<br />
himbeerroten Blusenhemd zu mir heraus.«<br />
Der geistige Horizont des Zaren reichte nicht weiter als <strong>der</strong> eines kleineren Polizeibeamten,<br />
mit dem Unterschiede, daß dieser immerhin die Wirklichkeit besser kannte und<br />
von Aberglauben weniger belastet war. Die einzige Zeitung, die Nikolaus während einer<br />
Reihe von Jahren las und aus <strong>der</strong> er seine Ideen schöpfte, war eine Wochenschrift, die<br />
Fürst Meschtscherski auf Staatskosten herausgab, ein niedriger, käuflicher, selbst im<br />
eigenen Kreise <strong>der</strong> reaktionären Bürokratencliquen verachteter Journalist. Seinen<br />
Horizont hat <strong>der</strong> Zar über zwei Kriege und zwei <strong>Revolution</strong>en hinweg sich unverän<strong>der</strong>t<br />
bewahrt: zwischen seinem Bewußtsein und den Ereignissen stand stets trennend die<br />
undurchdringliche Sphäre <strong>der</strong> Gleichgültigkeit.<br />
Nicht ohne Grund nannte man Nikolaus einen Fatalisten. Man muß nur hinzufügen,<br />
daß dieser Fatalismus das gerade Gegenteil eines aktiven Glaubens an seinen "Stern"<br />
war. Nikolaus selbst hielt sich vielmehr für einen Pechvogel. Sein Fatalismus war lediglich<br />
die Form eines passiven Selbstschutzes gegen die geschichtliche Entwicklung und<br />
ging Hand in Hand mit einer Willkür, die ihren psychologischen Motiven nach kleinlich,<br />
ihren Folgen nach ungeheuerlich war.<br />
»Ich will, und darum muß es so sein«, schreibt Graf Witte, »diese Parole äußerte sich<br />
in allen Handlungen dieses willensschwachen Herrschers, <strong>der</strong> nur infolge seiner<br />
Schwäche all das getan hat, was seine Regierung charakterisierte - ein fortwährendes<br />
und in den meisten Fällen völlig zweckloses Vergießen mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> unschuldigen<br />
Blutes...«<br />
Man verglich Nikolaus manchmal mit seinem halbirrsinnigen Ururgroßvater Paul, <strong>der</strong>,<br />
mit Zustimmung des eigenen Sohnes, Alexan<strong>der</strong> des "Gesegneten", von einer Kamarilla<br />
erdrosselt wurde. Diese zwei Romanows gleichen sich tatsächlich in dem Mißtrauen<br />
gegen alle, das aus ihrem Mißtrauen gegen sich selbst erwuchs; in dem Argwohn einer<br />
allmächtigen Null; in dem Gefühl des Ausgestoßenseins, man könnte sagen, in dem<br />
Bewußtsein gekrönter Parias. Jedoch war Paul unvergleichlich farbiger. In seinem<br />
Wahnsinn war ein Element von Phantasie, wenn auch von unzurechnungsfähiger. An<br />
seinem Nachfahren ist alles farblos, ist kein greller Zug.<br />
Nikolaus war nicht nur unbeständig, son<strong>der</strong>n auch treubrüchig. Die Schmeichler<br />
nannten ihn für seine Sanftmut gegen Hofleute: »Charmeur.« Beson<strong>der</strong>e Freundlichkeit<br />
jedoch erwies <strong>der</strong> Zar jenen Würdenträgern, die er davonzujagen beschlossen hatte: ein<br />
von ihm beim Empfang über alle Maßen bezauberter Minister konnte zu Hause den<br />
Entlassungsbrief vorfinden. Das war eine Art Rache für die eigene Min<strong>der</strong>wertigkeit.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 41
Nikolaus wandte sich feindselig von allen Begabten und Bedeutenden ab. Es behagte<br />
ihm nur unter unfähigen, geistig min<strong>der</strong>wertigen Menschen, Scheinheiligen, Schwächlingen,<br />
zu denen er nicht emporzublicken brauchte. Er besaß Ehrgeiz, einen sogar raffinierten,<br />
aber nicht aktiven Ehrgeiz, <strong>der</strong>, ohne ein Körnchen Initiative nur <strong>der</strong> neidischen<br />
Selbstverteidigung diente. Seine Minister wählte er nach dem Prinzip des ständigen<br />
Abwärtsgleitens aus. Menschen von Geist und Charakter holte er nur in äußerstem Falle,<br />
wenn es keinen an<strong>der</strong>en Ausweg gab, etwa wie man einen Chirurgen zur Rettung des<br />
Lebens holt. So war es mit Witte und später mit Stolypin. Der Zar verhielt sich zu beiden<br />
mit schlecht verborgener Feindseligkeit. Sobald die zugespitzte Situation vorüber war,<br />
beeilte er sich, die Ratgeber loszuwerden, die ihm zu offensichtlich überlegen waren. Die<br />
Auswahl wirkte sich so systematisch aus, daß <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> letzten Duma,<br />
Rodsjanko, am 7. Januar 1917, als die <strong>Revolution</strong> an die Türen pochte, es wagen durfte,<br />
dem Zaren zu sagen: »Majestät, es ist kein einziger zuverlässiger und ehrlicher Mensch<br />
in Ihrer Umgebung geblieben, die Besten sind entfernt worden o<strong>der</strong> gegangen, es sind<br />
nur solche geblieben, die in schlechtem Rufe stehen.«<br />
Alle Bemühungen <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie, mit dem Hof eine gemeinsame Sprache<br />
zu finden, scheiterten. Der unermüdliche, polternde Rodsjanko versuchte durch seine<br />
Vorträge den Zaren aufzurütteln. Vergeblich! Dieser überging schweigend nicht nur alle<br />
Argumente son<strong>der</strong>n auch Anmaßungen und bereitete im stillen die Auflösung <strong>der</strong> Duma<br />
vor. Der Großfürst Dmitrij, <strong>der</strong> damalige Liebling des Zaren und spätere Teilnehmer an<br />
<strong>der</strong> Ermordung Rasputins, klagte seinem Mitverschworenen, dem Fürsten Jussupow, daß<br />
<strong>der</strong> Zar im Hauptquartier mit jedem Tage gleichgültiger gegen seine ganze Umgebung<br />
werde. Nach Dmitrijs Meinung gäbe man dem Zaren irgendein Getränk ein, das dessen<br />
geistige Fähigkeiten abstumpfe. »Es gingen Gerüchte«, schreibt <strong>der</strong> liberale Historiker<br />
Miljukow seinerseits, »daß <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> geistigen und moralischen Apathie beim<br />
Zaren durch starken Genuß von Alkohol aufrechterhalten würde.« Das aber waren alles<br />
Erfindungen o<strong>der</strong> Übertreibungen. Der Zar brauchte nicht zu Narkotika zu greifen: er<br />
hatte das tödliche »Getränk« schon im Blute. Nur waren dessen Wirkungen beson<strong>der</strong>s<br />
verblüffend auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> großen Ereignisse des Krieges und <strong>der</strong> inneren<br />
Krise, die zur <strong>Revolution</strong> geführt hat. Rasputin, <strong>der</strong> ein guter Psychologe war, pflegte<br />
vom Zaren kurz zu sagen, daß ihm »im Innern etwas fehlt«.<br />
Dieser farblose, gleichmäßige, "guterzogene" Mann war grausam. Es war aber nicht<br />
die aktive, historische Ziele verfolgende Grausamkeit eines Iwan des Schrecklichen o<strong>der</strong><br />
Peter - was hatte Nikolaus II. mit diesen gemein! -, son<strong>der</strong>n die feige Grausamkeit eines<br />
Letztgeborenen, dem vor seinem Geschick bange war. Schon in <strong>der</strong> Morgenröte seiner<br />
Regierung lobte Nikolaus die »braven Fanagorier« für die Nie<strong>der</strong>schießung von Arbeitern.<br />
Er »las mit Vergnügen«, wie man mit Nagajkas die »kurzgeschorenen« Studentinnen<br />
peitschte o<strong>der</strong> während <strong>der</strong> jüdischen Pogrome hilflosen Menschen die Schädel<br />
einschlug. Der Ausgestoßene auf dem Throne hatte stets eine Neigung für den Auswurf<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft, für die Plün<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Schwarzen Hun<strong>der</strong>t; er zahlte ihnen nicht nur<br />
freigebig einen Sold aus <strong>der</strong> Staatskasse, son<strong>der</strong>n liebte es auch, sich mit ihnen über ihre<br />
Heldentaten zu unterhalten, ihnen Gnaden zu erweisen, beson<strong>der</strong>s wenn sie zufällig bei<br />
einem Mord an dem einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en oppositionellen Deputierten erwischt worden<br />
waren. Witte, <strong>der</strong> während <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />
Regierung stand, schreibt in seinen Memoiren: »Wenn nutzlose, grausame Ausschreitun-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 42
gen <strong>der</strong> Anführer von Strafexpeditionen dem Kaiser bekannt wurden, fanden sie seine<br />
Billigung, jedenfalls seinen Schutz.« In Beantwortung einer For<strong>der</strong>ung des baltischen<br />
Generalgouverneurs, einen gewissen Kapitänleutnant Richter zur Räson zu bringen, <strong>der</strong><br />
»aus eigener Ermächtigung ohne jegliches Gerichtsverfahren auch Personen hinrichtete,<br />
die keinen Wi<strong>der</strong>stand geleistet hatten«, schrieb <strong>der</strong> Zar auf den Bericht: »Braver Kerl!«<br />
Solche Aufmunterungen gibt es ohne Zahl. Dieser »Charmeur« ohne Willen, ohne Ziel,<br />
ohne Phantasie war schrecklicher als alle Tyrannen <strong>der</strong> alten und <strong>der</strong> neuen <strong>Geschichte</strong>.<br />
Der Zar stand unter dem ungeheuren Einfluß <strong>der</strong> Zarin, <strong>der</strong> mit den Jahren und mit den<br />
Schwierigkeiten stetig zunahm. Zusammen bildeten sie irgendwie ein Ganzes. Schon<br />
diese Veibindung zeigt, in welch hohem Maße unter dem Druck <strong>der</strong> Verhältnisse das<br />
Persönliche durch das Gruppenmäßige ergänzt wird. Vorerst aber muß man einiges über<br />
die Zarin sagen.<br />
Maurice Paléologue, während des Krieges französischer Gesandter in Petrograd, ein<br />
feiner Psychologe für französische Akademiker und Portierfrauen, gibt ein sorgsam<br />
gelecktes Porträt <strong>der</strong> letzten Zarin: »Moralische Ruhelosigkeit, chronische Traurigkeit,<br />
grenzenlose Wehmut, wechselnde Ab- und Zunahme <strong>der</strong> Kräfte, quälende Gedanken über<br />
die jenseitige, unsichtbare Welt, Aberglaube - bilden denn nicht alle diese Züge, die an<br />
<strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>der</strong> Zarin so scharf hervortreten, die charakteristischen Eigenschaften<br />
des <strong>russischen</strong> Volkes?« So seltsam das ist, in dieser süßlichen Lüge ist ein Körnchen<br />
Wahrheit. Nicht umsonst hat <strong>der</strong> russische Satiriker Saltykow die Minister und Gouverneure<br />
aus den Reihen <strong>der</strong> baltischen Barone »Deutsche mit russischer Seele« genannt:<br />
zweifellos haben gerade die Fremden, die nichts mit dem Volke verband, den »echt<strong>russischen</strong>«<br />
Administrator in Reinkultur hochgezüchtet.<br />
Weshalb aber zollte das Volk, dessen Seele die Zarin, nach den Worten Paléologues,<br />
so vollkommen in sich aufgenommen hatte, ihr so unverhüllten Haß? Die Antwort ist<br />
einfach: zur Rechtfertigung ihrer neuen Lage hatte sich diese Deutsche mit kühler Besessenheit<br />
alle Traditionen und Eingebungen des <strong>russischen</strong> Mittelalters, des dürftigsten und<br />
rauhesten von allen, angeeignet, in einer Periode, in <strong>der</strong> das Volk gewaltige Anstrengungen<br />
machte, um sich von <strong>der</strong> eigenen mittelalterlichen Barbarei zu befreien. Diese hessische<br />
Prinzessin war buchstäblich vom Dämon des Selbstherrschertums erfüllt. Aus ihrem<br />
Krähwinkel zu den Höhen eines byzantinischen Despotismus emporgekommen, wollte<br />
sie von diesen um keinen Preis hinabsteigen. In dem orthodoxen Glauben fand sie die<br />
Mystik und die Magie, die ihrem neuen Schicksal angepaßt waren. Sie glaubte um so<br />
fester an ihre Berufung, je unverhüllter die Abscheulichkeit des alten Regimes zutage<br />
trat. Von starkem Charakter und mit <strong>der</strong> Fähigkeit zu trockener, gefühlloser Exaltation,<br />
ergänzte die Zarin den willenlosen Zaren, indem sie ihn beherrschte.<br />
Am 17. März 1916, ein Jahr vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, als das zerrüttete Land sich bereits in<br />
<strong>der</strong> Zange <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen und Zerstörung wand, schrieb die Zarin ihrem Manne ins<br />
Hauptquartier: »... Du darfst keine Nachgiebigkeit zeigen, verantwortliches Ministerium<br />
und so weiter - alles was sie wollen. Das muß Dein Krieg und Dein Friede sein, Deine<br />
Ehre und die unserer Heimat, keinesfalls die <strong>der</strong> Duma. Sie haben kein Recht, auch nur<br />
ein einziges Wort in diese Frage hineinzureden.« Das war jedenfalls ein geschlossenes<br />
Programm, und gerade dieses Programm obsiegte über alle Schwankungen des Zaren.<br />
Nach <strong>der</strong> Abreise Nikolaus zur Armee in seiner Eigenschaft des fiktiven Oberkommandierenden<br />
begann die Zarin offen über die inneren Angelegenheiten zu verfügen. Die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 43
Minister erstatteten ihr Bericht wie einer Regentin. Mit einer engen Kamarilla bildete sie<br />
eine Verschwörung gegen die Duma, gegen die Minister, gegen die Generale des Hauptquartiers,<br />
gegen die ganze Welt, teilweise auch gegen den Zaren. Am 6. Dezember 1916<br />
schrieb die Zarin an den Zaren: »... da Du einmal gesagt hast, Du willst Protopopow<br />
behalten, wie wagt er (<strong>der</strong> Premier Trepow) gegen Dich zu sein, - schlag mal mit <strong>der</strong><br />
Faust auf den Tisch, bleibe fest, sei <strong>der</strong> Herr, höre auf Dein hartes Weibchen und auf<br />
unseren Freund, vertraue uns.« Nach drei Tagen abermals: »Du weißt, daß Du im Recht<br />
bist, trage den Kopf hoch, befiehl Trepow, mit ihm zu arbeiten ... schlag mit <strong>der</strong> Faust<br />
auf den Tisch.« Diese Sätze scheinen wie erfunden. Sie sind jedoch den echten Briefen<br />
entnommen. Man könnte sie auch nicht erfinden.<br />
Am 13. Dezember suggeriert die Zarin dem Zaren wie<strong>der</strong>: »Nur kein verantwortliches<br />
Ministerium, auf das jetzt alle versessen sind. Alles wird ruhiger und besser, man will<br />
aber Deinen Arm fühlen. Wie lange Jahre schon sagt man mir immer dasselbe: "Rußland<br />
liebt es, die Peitsche zu fühlen", das ist seine Natur!« Die rechtgläubige Hessin mit <strong>der</strong><br />
Erziehung von Windsor und <strong>der</strong> Krone von Byzanz auf dem Haupte »verkörpert« nicht<br />
nur die russische Seele, son<strong>der</strong>n verachtet sie auch organisch: seine Natur verlange die<br />
Peitsche, schreibt die russische Zarin dem <strong>russischen</strong> Zaren über das russische Volk,<br />
zweieinhalb Monate bevor die Monarchie in den Abgrund stürzt.<br />
Ihm an Chatakterstärke überlegen, steht die Zarin geistig nicht über ihrem Mann, eher<br />
sogar unter ihm; mehr noch als er sucht sie die Gesellschaft von Einfältigen. Die enge<br />
langjährige Freundschaft, die den Zaren und die Zarin mit dem Hoffräulein Wyrubowa<br />
verbindet, zeigt das Maß <strong>der</strong> geistigen Größe des Selbstherrscherpaares. Wyrubowa<br />
nannte sich selber einen Dummkopt, und das war nicht Bescheidenheit. Witte, dem man<br />
ein scharfes Auge nicht absprechen kann, charakterisierte sie als »ein ganz gewöhnliches,<br />
dummes Petersburger Fräulein, nicht schön, einer Blase aus Butterteig ähnlich«. In<br />
Gesellschaft dieser Person, <strong>der</strong> betagte Würdenträger, Gesandte und Finanzleute vor<br />
Ehrfurcht vergehend, den Hof machten und die immerhin gescheit genug war, die<br />
eigenen Taschen nicht zu vergessen, verbrachten Zar und Zarin ungezählte Stunden,<br />
berieten mit ihr Geschäfte, korrespondierten mit ihr und über sie. Sie war einflußreicher<br />
als die Reichsduma und selbst die Ministerien.<br />
Aber die Wyrubowa war nur das Medium des "Freundes", dessen Autorität über den<br />
dreien stand. »...das ist meine private Meinung«, schreibt die Zarin an den Zaren, »ich<br />
werde erfahren, was unser Freund denkt.« Die Meinung des Freundes ist nicht privat, sie<br />
entscheidet. »...Ich bleibe fest«, wie<strong>der</strong>holt die Zarin nach einigen Wochen, »aber höre<br />
auf mich, das heißt auf unseren Freund, und vertraue Dich uns in allem an ... Ich leide<br />
für Dich, wie für ein zartes, weichherziges Kind, das <strong>der</strong> Leitung bedarf, aber auf<br />
schlechte Ratgeber hört, während <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> von Gott gesandt, ihm sagt, was zu tun<br />
ist.«<br />
»... Gebete und Hilfe unseres Freundes - darm wird alles gut gehen.«<br />
»Wenn wir ihn nicht hätten, alles wäre längst zu Ende, davon bin ich fest überzeugt.«<br />
Der Freund, <strong>der</strong> von Gott Gesandte, ist Grigorij Rasputin.<br />
Während <strong>der</strong> ganzen Regierung Nikolaus' und Alexandras brachte man Wahrsager und<br />
Fallsüchtige an den Hof, nicht nur aus ganz Rußland, son<strong>der</strong>n auch aus an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n.<br />
Es gab beson<strong>der</strong>e hochgestellte Lieferanten, die sich um das jeweilige Orakel gruppierten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 44
und neben dem Monarchen ein allmächtiges Oberhaus bildeten. Es mangelte hier nicht an<br />
alten Frömmlerinnen gräflichen Namens, an Würdenträgern, die sich nach Ämtern<br />
sehnten, an Finanzleuten, die ganze Ministerien pachteten. Die unpatentierte Konkurrenz<br />
von seiten <strong>der</strong> Hypnotiseure und Zauberer eifersüchtig verfolgend, beeilten sich die<br />
Hierarchen <strong>der</strong> orthodoxen Kirche, eigene Wege in das zentrale Heiligtum <strong>der</strong> Intrige<br />
anzulegen. Witte nannte diese regierende Clique, an <strong>der</strong> er zweimal zerschellte, »die<br />
aussätzige Palastkamarilla«.<br />
Je mehr sich die Dynastie isolierte und je verwahrloster <strong>der</strong> Monarch sich fühlte, um so<br />
größer wurde sein Bedürfnis nach jenseitiger Hilfe. Es gibt Wilde, die, um gutes Wetter<br />
hervorzurufen, ein an einem Strick befestigtes Brettchen in <strong>der</strong> Luft herumschwingen.<br />
Zar und Zarin nahmen Brettchen zu Hilfe für die mannigfaltigsten Zwecke. Im Zarenwaggon<br />
befand sich ein Betraum, ausstaffiert mit Heiligenbil<strong>der</strong>n und -bildchen so wie<br />
an<strong>der</strong>en Kultgegenständen, die zuerst <strong>der</strong> japanischen Artillerie entgegengestellt worden<br />
waren und später <strong>der</strong> deutschen.<br />
Das Niveau des Hofkreises hatte sich eigentlich von Generation zu Generation nicht<br />
son<strong>der</strong>lich verän<strong>der</strong>t. Unter Alexan<strong>der</strong> II., dem "Befreier", glaubten die Großfürsten<br />
aufrichtig an Hausgeister und Hexen. Unter Alexan<strong>der</strong> III. war es nicht besser, nur<br />
ruhiger. »Die aussätzige Kamarilla« existierte stets, sie wechselte bloß die Zusammensetzung<br />
und erneuerte ihre Methoden. Nikolaus II. hatte die höfische Atmosphäre des<br />
wilden Mittelalters nicht geschaffen, son<strong>der</strong>n von seinen Ahnen übernommen. Das Land<br />
verän<strong>der</strong>te sich in diesen Jahrzehnten, die Aufgaben wurden komplizierter, die Kultur<br />
stieg, doch <strong>der</strong> Hof blieb weit zurück. Wenn auch die Monarchie unter den Schlägen <strong>der</strong><br />
neuen Mächte Zugeständnisse machte, so hatte sie doch keine Zeit, sich innerlich zu<br />
mo<strong>der</strong>nisieren; im Gegenteil, sie schloß sich immer mehr ab, <strong>der</strong> Geist des Mittelalters<br />
verdichtete sich unter dem Druck <strong>der</strong> Feindschaft und Furcht, bis er den Charakter eines<br />
wi<strong>der</strong>lichen Alpdruckes bekam, <strong>der</strong> sieh auf das Land legte.<br />
Am 1. November 1905, das heißt im kritischsten Augenblick <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>,<br />
schreibt <strong>der</strong> Zar in sein Tagebuch: »Lernte einen Mann Gottes, Grigorij, aus dem<br />
Gouvernement Tobolsk kennen.« Das war Rasputin, ein sibirischer Bauer mit nicht<br />
verheilenden Schrammen am Kopfe, herrührend von Schlägen wegen Pierdediebstahls.<br />
Im rechten Augenblick aufgetaucht, fand <strong>der</strong> »Mann Gottes« bald hochgestellte Helfer,<br />
richtiger, sie fanden ihn, und so entstand eine neue regierende Clique, die die Zarin und<br />
durch sie den Zaren fest in ihre Hände bekam.<br />
Seit dem Winter <strong>der</strong> Jahre 1913/14 sprach man in <strong>der</strong> Petersburger Gesellschaft bereits<br />
offen davon, daß alle höheren Ernennungen, Lieferungen und Aufträge von <strong>der</strong> Rasputinclique<br />
abhängig seien. Der "Starez" selbst verwandelte sich allmählich in eine<br />
Staatsinstitution. Er wurde sorgsam bewacht und von den rivalisierenden Ministerien<br />
nicht weniger sorgsam beobachtet. Die Spitzel des Polizeidepartements führten nach<br />
Stunden Tagebuch über sein Leben und versäumten nicht zu berichten, daß sich Rasputin<br />
beim Besuch seines Heimatdorfes Pokrowskoje betrunken auf <strong>der</strong> Straße mit seinem<br />
Vater blutig prügelte. Am gleichen Tage, dem 9. September 1915, schickte Rasputin<br />
zwei freundschaftliche Telegramme ab, eines nach Zarskoje Selo, <strong>der</strong> Zarin, das an<strong>der</strong>e<br />
in das Hauptquartier, dem Zaren.<br />
In epischer Sprache registrierten die Spitzel tagein tagaus die Völlereien des<br />
"Freundes". »Kehrte heute um 5 Uhr morgens heim, stockbetrunken.« »In <strong>der</strong> Nacht vom<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 45
25. zum 26. übernachtete bei Rasputin die Schauspielerin W.« »Ist mit <strong>der</strong> Fürstin D.<br />
(<strong>der</strong> Frau des Kammerjunkers beim Zarenhof) im Hotel Astoria angekommen ...« Gleich<br />
hierauf: »Kehrte aus Zarskoje Selo um 11 Uhr abends heim.« »Rasputin kam mit <strong>der</strong><br />
Fürstin Sch. sehr betrunken nach Hause. Sie gingen bald zusammen weg.« Am Morgen<br />
o<strong>der</strong> am Abend des nächsten Tages eine Reise nach Zarskoje Selo. Auf die teilnehmende<br />
Frage des Spitzels, weshalb er heute so nachdenklich sei, antwortet <strong>der</strong> "Starez": »Kann<br />
mich nicht entschließen, soll die Duma einberufen werden o<strong>der</strong> nicht.« Dann wie<strong>der</strong>:<br />
»Kehrte um 5 Uhr morgens heim, ziemlich betrunken.« So wurde monate und jahrelang<br />
auf drei Tasten immer die gleiche Melodie gespielt: »Ziemlich betrunken«, »sehr betrunken«,<br />
»stockbetrunken«. Diese staatswichtigen Nachrichten verband zu einer Einheit und<br />
bekräftigte mit seiner Unterschrift <strong>der</strong> Gendarmeriegeneral Globatschew.<br />
Die Blüte des Rasputinschen Einflusses währte sechs Jahre, die letzten Jahre <strong>der</strong><br />
Monarchie. »Sein Leben in Petersburg«, erzählt Fürst Jussupow, bis zu einem gewissen<br />
Grade Teilnehmer dieses Lebens und später Rasputins Mör<strong>der</strong>, »verwandelte sich in ein<br />
ununterbrochenes Fest, in die wüste Orgie eines Zuchthäuslers, dem unverhofft das<br />
Glück in den Schoß gefallen war.« »In meinem Besitze befand sich«, schreibt <strong>der</strong><br />
Dumavorsitzende Rodsjanko, »eine Unmenge Briefe von Müttern, <strong>der</strong>en Töchter dieser<br />
schamlose Wüstling mißbraucht hatte.« Gleichzeitig verdankten <strong>der</strong> Petersburger Metropolit<br />
Pitirin und <strong>der</strong> kaum des Lesens und Schreibens kundige Erzbischof Warnawa ihre<br />
Ämter Rasputin. Durch ihn hielt sich auch lange Zeit <strong>der</strong> Oberprokureur des Heiligen<br />
Synods, Sabler, im Amte, auf Rasputins Wunsch und Willen wurde <strong>der</strong> Premier<br />
Kokowzew entlassen, <strong>der</strong> sich geweigert hatte, den "Starez" zu empfangen. Rasputin<br />
ernannte Stürmer zum Vorsitzenden des Ministerrats, Protopopow zum Minister des<br />
Innern, den neuen Oberprokureur des Synods, Rajew, und viele an<strong>der</strong>e. Der Gesandte<br />
<strong>der</strong> Französischen Republik, Paléologue, bemühte sich um eine Zusammenkunft mit<br />
Rasputin, er küßte sich mit ihm und rief aus: »Voilà un véritable illuminé!«, um so <strong>der</strong><br />
Zarin Herz für die Sache Frankreichs zu erobern. Der Jude Simanowitsch, des "Starez"<br />
Finanzagent, den die Kriminalpolizei als einen Spieler und Wucherer in ihren Listen<br />
führte, setzte mit Rasputins Hilfe durch, daß ein völlig ehrloses Subjekt, Dobrowolski,<br />
zum Justizminister ernannt wurde. »Sieh Dir die kleine Liste an«, schreibt die Zarin an<br />
den Zaren über die neuen Ernennungen, »unser Freund bittet, daß Du Dich über all dies<br />
mit Protopopow besprichst.« Nach zwei. Tagen: »Unser Freund sagt, Stürmer könne<br />
noch einige Zeit Vorsitzen<strong>der</strong> des Ministerrats bleiben.« Und wie<strong>der</strong>: »Protopopow<br />
verehrt ehrfurchtsvoll unsern Freund und wird gesegnet werden.«<br />
An einem jener Tage, als die Spitzel die Zahl <strong>der</strong> Flaschen und Frauen registrierten,<br />
schrieb die Zarin wehmütig an den Zaren: »Rasputin wird beschuldigt, daß er Frauen<br />
geküßt habe, und so weiter. Lies die Apostel - sie haben alle zum Gruße geküßt.« Der<br />
Hinweis auf die Apostel hätte die Spitzel kaum zu überzeugen vermocht. In einem<br />
an<strong>der</strong>en Briefe geht die Zarin noch weiter: »Während des abendlichen Evangeliums habe<br />
ich soviel über unseren Freund nachdenken müssen: wie doch die Buchgelehrten und<br />
Pharisäer Christus verfolgen und sich verstellen, als wären sie Vollkommenheiten ... Ja,<br />
wahrhaftig, es gilt kein Prophet in seinem Vaterlande.«<br />
Der Vergleich Rasputins mit Christus war in diesem Kreise üblich und nicht zufällig.<br />
Die Angst vor den mächtigen Kräften <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> war zu stark, als daß sich das<br />
Zarenpaar mit dem unpersönlichen Gott und dem körperlosen Schatten des Christus aus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 46
dem Evangelium begnügen konnte. Es bedurfte einer Wie<strong>der</strong>kunft des<br />
"Menschensohnes". Die ausgestoßene, in Agonie liegende Monarchie fand in Rasputin<br />
einen Christus nach ihrem Ebenbilde.<br />
»Hätte es Rasputin nicht gegeben«, sagte ein Mann des alten Regimes, <strong>der</strong> Senator<br />
Taganzew. »dann hätte man ihn erfmden müssen.« Diese Worte enthalten viel mehr, als<br />
ihr Autor geglaubt haben mag. Versteht man unter Hooliganentum den krassesten<br />
Ausdruck antisozialer, parasitärer Züge in den Tiefen <strong>der</strong> Gesellschaft, kann man die<br />
Rasputiniade mit vollem Recht als das gekrönte Hooliganentum auf seinem höchsten<br />
Gipfel bezeichnen.<br />
Die Idee <strong>der</strong> Palastrevolution<br />
Weshalb denn haben die herrschenden Klassen, als sie Rettung vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
suchten, nichts unternommen, um sich vom Zaren und dessen Umgebung zu befreien?<br />
Sie haben wohl daran gedacht, doch sie wagten es nicht. Es fehlte ihnen <strong>der</strong> Glaube an<br />
ihre Sache und die Entschlossenheit. Die Idee einer Palastrevolution lag in <strong>der</strong> Luft, bis<br />
sie in <strong>der</strong> Staatsumwälzung unterging. Man muß bei diesem Punkte verweilen, um sich<br />
ein klares Bild von den gegenseitigen Beziehungen zwischen <strong>der</strong> Monarchie und den<br />
Spitzen des Adels, <strong>der</strong> Bürokratie und <strong>der</strong> Bourgeoisie am Vorabend <strong>der</strong> Explosion<br />
machen zu können.<br />
Die besitzenden Klassen waren durch und durch monarchistisch: kraft ihrer Interessen,<br />
ihrer Traditionen und ihrer Feigheit. Aber sie wollten eine Monarchie ohne Rasputin. Die<br />
Monarchie gab ihnen zur Antwort: Nehmt mich, wie ich bin. Der For<strong>der</strong>ung nach einem<br />
anständigen Ministerium begegnete die Zarin damit, daß sie dem Zaren einen Apfel aus<br />
Rasputins Hand ins Hauptquartier sandte und verlangte, <strong>der</strong> Zar möge ihn zur Festigung<br />
seines Willens verzehren. »Erinnere Dich«, beschwor sie ihn, »daß sogar Monsieur<br />
Philippe (ein französischer Scharlatan und Hypnotiseur) gesagt hat, man dürfe keine<br />
Konstitution geben, denn das wäre Dein und Rußlands Untergang ... « »Sei Peter <strong>der</strong><br />
Große, Iwan <strong>der</strong> Schreckliche, Kaiser Paul - zerdrücke alles unter Dir!«<br />
Welch ekliges Gemisch aus Angst, Aberglauben und feindseliger Fremdheit gegen das<br />
Land! Es könnte allerdings scheinen, daß mindestens in den oberen Schichten die<br />
Zarenfamihe nicht gar so einsam war: Ist doch Rasputin stets von emem Gestirn<br />
vornehmer Damen umringt, und beherrscht doch das Schamanentum überhaupt die<br />
Aristokratie. Aber diese Mystik <strong>der</strong> Angst verbindet nicht, im Gegenteil, sie trennt. Je<strong>der</strong><br />
versucht, sich auf seine Art zu retten. Viele aristokratische Häuser haben ihre<br />
rivalisierenden Heiligen. Sogar auf den Petrogra<strong>der</strong> Gipfeln ist die Zarenfamihe, wie<br />
verpestet, von einer Quarantäne des Mißtrauens und <strong>der</strong> Feindschaft umgeben. Das<br />
Hoffräulein Wyrubowa schreibt in ihren Erinnerungen: »Ich ahnte tief und fühlte eine<br />
Feindseligkeit <strong>der</strong> ganzen Umgebung gegen die, die ich vergötterte, und ich fühlte, daß<br />
diese Feindseligkeit erschreckende Dimensionen annahm...«<br />
Auf purpurrotem Hintergrund des Krieges, unter vernehmbarem Getöse unterirdischer<br />
Stöße verzichteten die Privilegierten nicht eine Stunde auf die Freuden des Lebens, im<br />
Gegenteil, sie genossen sie wie im Rausch. Aber auf ihren Festgelagen erschien immer<br />
häufiger ein Skelett und drohte ihnen mit den Knöcheln seiner Finger. Dann wähnten sie,<br />
das ganze Unglück käme von dem abscheulichen Charakter <strong>der</strong> Alice, von <strong>der</strong> treubrüchigen<br />
Willenlosigkeit des Zaren, von <strong>der</strong> habgierigen Närrin Wyrubowa, vom sibiri-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 47
schen Christus mit den Schrammen auf dem Schädel. Wellen unerträglicher Ahnungen<br />
überliefen die herrschenden Klassen, krampfartige Zuckungen gingen von <strong>der</strong> Peripherie<br />
zum Zentrum, die verhaßte Spitze in Zarskoje Selo immer stärker isolierend. In ihren im<br />
allgemeinen äußerst verlogenen Erinnerungen hat die Wyrubowa recht kraß den<br />
Ausdruck für den Zustand dieser Spitze gefunden: »... zum hun<strong>der</strong>tsten Male fragte ich<br />
mich: was ist mit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Gesellschaft geschehen? Sind sie alle seelisch erkrankt<br />
o<strong>der</strong> von einer in Kriegszeiten wütenden Epidemie befallen? Es ist schwer, sich auszukennen,<br />
die Tatsache aber bleibt bestehen: alle waren in einem anormal erregten Zustande.«<br />
Zu denen, die die Besinnung verloren hatten, gehörte auch die umfangreiche Familie<br />
<strong>der</strong> Romanows, die ganze habgierige, schamlose, von allen gehaßte Meute <strong>der</strong> Großfürsten<br />
und Großfürstinnen. Auf den Tod erschrocken, trachteten sie, sich aus dem sie<br />
umkammernden Ring zu befreien, versuchten, sich bei <strong>der</strong> frondierenden Aristokratie<br />
einzuschmeicheln, klatschten über das Zarenpaar, hetzten einan<strong>der</strong> und ihre Umgebung<br />
auf Die allerdurchlauchtigsten Onkel wandten sich an den Zaren mit ermahnenden<br />
Briefen, in denen hinter Ehrfurcht das Zähneknirschen zu spüren war.<br />
Nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution charakterisierte Protopopow zwar ziemlich plump aber<br />
malerisch die Stimmung <strong>der</strong> obersten Schichten: »Selbst die höchsten Klassen frondierten<br />
vor <strong>der</strong> Revclution. In den Klubs und Salons <strong>der</strong> großen Welt übte man scharfe und<br />
mißgünstige Kritik an <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Regierung; man analysierte und begutachtete die<br />
Beziehungen, die sich in <strong>der</strong> Zarenfamilie herausgebildet hatten; verbreitete anekdotische<br />
Erzählungen über das Oberhaupt des Staates; schrieb Verse; viele Großfürsten<br />
besuchten offen solche Zusammenkünfte, und ihre Anwesenheit verlieh den karikaturenhaften<br />
Erfindungen und bösartigen Übertreibungen in den Augen des Publikums beson<strong>der</strong>e<br />
Zuverlässigkeit. Das Bewußtsein <strong>der</strong> Gefährlichkeit dieses Spieles erwachte bis zum<br />
letzten Augenblick nicht.«<br />
Beson<strong>der</strong>e Schärfe verlieh den Gerüchten über eine Palastkamarilla die Beschuldigung<br />
<strong>der</strong> Deutschfreundlichkeit und sogar <strong>der</strong> direkten Verbindung mit dem Feinde. Der<br />
vorlaute und nicht sehr gründliche Rodsjanko erklärt direkt: »Die Verbindung und die<br />
Analogie <strong>der</strong> Bestrebungen sind <strong>der</strong>art logisch klar, daß es mindestens für mich keine<br />
Zweifel geben kann an dem Zusammenwirken des deutschen Stabes und des Rasputinschen<br />
Kreises. Das unterliegt keinem Zweifel.« Der bloße Hinweis auf die »logische«<br />
Klarheit schwächt den kategorischen Ton dieses Zeugnisses sehr ab. Für die Verbindung<br />
<strong>der</strong> Rasputinleute mit dem deutschen Stab waren auch nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> keinerlei<br />
Beweise zu entdecken. An<strong>der</strong>s verhält es sich mit dem sogenannten<br />
"Germanophilentum". Es handelte sich natürlich nicht um nationale Sympathien o<strong>der</strong><br />
Antipathien <strong>der</strong> deutschstämmigen Zarin, des Premiers Stürmer, <strong>der</strong> Gräfin Kleinmichel,<br />
des Hofministers, Graf Fre<strong>der</strong>iks, und an<strong>der</strong>er Herren mit deutschen Namen. Die<br />
zynischen Memoiren <strong>der</strong> alten Intrigantin Kleinmichel zeigen mit bemerkenswerter<br />
Kraßheit, welch übernationaler Charakter die Spitzen <strong>der</strong> Aristokratie aller Län<strong>der</strong><br />
Europas auszeichnete, die miteinan<strong>der</strong> durch Bande <strong>der</strong> Verwandtschaft, Erbschaften,<br />
Verachtung gegen alles unter ihnen Stehende und, last but not least, durch kosmopolitische<br />
Libertinagen in alten Schlössern, fashionablen Bä<strong>der</strong>n und an europäischen Höfen<br />
verknüpft waren. Bedeutend realer waren die organischen Antipathien des Hofgesindels<br />
gegen die katzbuckelnden Advokaten <strong>der</strong> Französischen Republik und die Sympathien<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 48
<strong>der</strong> Reaktionäre teutonischen wie slawischen Namens für den echt preußischen Geist des<br />
Berliner Regimes, <strong>der</strong> ihnen so lange Zeit mit seinem gewichsten Schnurrbart, seinen<br />
Feldwebelmanieren und seiner selbstbewußten Dummheit imponiert hatte.<br />
Aber auch das war nicht für die Frage entscheidend. Die Gefahr ergab sich aus <strong>der</strong><br />
Logik <strong>der</strong> Situation selbst, denn <strong>der</strong> Hof konnte nichts an<strong>der</strong>es tun, als in einem Separatfrieden<br />
Rettung suchen, und zwar um so dringlicher, je bedrohlicher die Lage wurde. Der<br />
Liberalismus war, wie wir später noch sehen werden, in <strong>der</strong> Person seiner Führer<br />
bestrebt, die Chance des Separatfriedens für sich zu reservieren, in Verbindung mit <strong>der</strong><br />
Perspektive, an die Macht zu gelangen. Und gerade deshalb führte er eine wilde chauvinistische<br />
Agitation, das Volk betrügend und den Hof terrorisierend. Die Kamarilla wagte<br />
nicht, in einer so heiklen Frage vorzeitig ihr wahres Antlitz zu zeigen, und war sogar<br />
gezwungen, den allgemeinen patriotischen Ton nachzuahmen, während sie gleichzeitig<br />
den Boden für einen Separatfrieden abtastete.<br />
Das Oberhaupt <strong>der</strong> Polizei, General Kurlow, <strong>der</strong> zur Rasputinschen Kamarilla gehörte,<br />
bestreitet natürlich in seinen Erinnerungen die deutschen Verbindungen und Sympathien<br />
seiner Gönner, aber er fügt gleich hinzu: »Man kann Stürmer keinen Vorwurf daraus<br />
machen, daß er <strong>der</strong> Meinung war, <strong>der</strong> Krieg mit Deutschland sei das größte Unglück für<br />
Rußland gewesen und habe keine ernsten politischen Grundlagen für sich gehabt.« Man<br />
darf nur nicht vergessen, daß <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> diese interessante "Meinung" gehabt hat, das<br />
Oberhaupt einer Regierung war, die gegen Deutschland Krieg führte. Der letzte zaristische<br />
Innenminister, Protopopow, hatte am Vorabend seines Eintritts in die Regierung in<br />
Stockholm Verhandlungen mit einem deutschen Diplomaten geführt und darüber dem<br />
Zaren Bericht erstattet. Rasputin selbst hat nach den Worten desselben Kurlow »den<br />
Krieg mit Deutschland als ein großes Unglück für Rußland betrachtet«. Schließlich<br />
schrieb die Kaiserin am 5. April 1916 an den Zaren: »... sie dürfen es nicht wagen zu<br />
behaupten, daß Er irgend etwas Gemeinsames mit den Deutschen hat, Er ist gut und<br />
großherzig gegen alle, wie Christus, gleichviel zu welcher Religion ein Mensch gehört;<br />
so muß ein wahrer Christ sein.«<br />
Gewiß konnten sich an diesen wahren Christen, <strong>der</strong> aus dem Zustand <strong>der</strong> Betrunkenheit<br />
nie herauskam, neben Falschspielern, Wucherern und aristokratischen Kupplern<br />
auch ausgesprochene Spione herangemacht haben. "Verbindungen" solcher Art sind<br />
nicht ausgeschlossen. Die oppositionellen Patrioten aber stellten die Frage breiter und<br />
präziser: sie beschuldigten die Zarin direkt des Verrates. In seinen viel später geschriebenen<br />
Erinnerungen bekundet <strong>der</strong> General Denikin: »In <strong>der</strong> Armee sprach man laut, ohne<br />
Rücksicht auf Ort und Zeit, von <strong>der</strong> beharrlichen For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Zarin nach einem<br />
Separatfrieden, von ihrem Verrat an dem Feldmarschall Kitchener, über dessen Reise sie<br />
angeblich den Deutschen Mitteilung gemacht hätte, und so weiter. Dieser Umstand war<br />
von größter Bedeutung für die Stimmung in <strong>der</strong> Armee, in bezug auf <strong>der</strong>en Haltung<br />
gegenüber Dynastie und <strong>Revolution</strong>.« Der gleiche Denikin erzählt, daß General Alexejew<br />
nach <strong>der</strong> Umwälzung auf die direkte Frage betreffs des Verrates <strong>der</strong> Kaiserin<br />
»unbestimmt und unwillig« geantwortet habe, man hätte bei <strong>der</strong> Sichtung <strong>der</strong> Papiere <strong>der</strong><br />
Zarin eine Karte mit genauer Aufreichnung <strong>der</strong> Truppen <strong>der</strong> gesamten Front<br />
vorgefunden, und dies hätte auf ihn, Alexejew, einen sehr deprimierenden Eindruck<br />
gemacht ... »Nicht ein Wort mehr«, fügt Denikin vielsagend hinzu, »er wechselte das<br />
Gesprächsthema.« Ob die Zarin die geheimnisvolle Karte wirklich besessen hat, läßt sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 49
nicht feststellen, jedenfalls waren die unbeholfenen Generale offensichtlich nicht<br />
abgeneigt, einen Teil <strong>der</strong> Verantwortung für ihre Nie<strong>der</strong>lagen auf die Zarin abzuwälzen.<br />
Die Gerüchte über Verrat des Hofes schlichen durch die Armee zweifellos hauptsächlich<br />
von oben nach unten, von den schwachköpfigen Stäben aus.<br />
Wenn aber die Zarin, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Zar in allem unterwirft, an Wilhelm Kriegsgeheimnisse<br />
und sogar die Häupter <strong>der</strong> verbündeten Heeresführer verrät, was bleibt dann<br />
an<strong>der</strong>es als ein Strafgericht über das Zarenpaar? Und da an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> Großfürst<br />
Nikolai Nikolajewitsch als das Haupt <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> antideutschen Partei galt, war er<br />
gleichsam von Amts wegen für die Rolle des obersten Gönners <strong>der</strong> Palastrevolution<br />
vorbestimmt. Das war auch <strong>der</strong> Grund, weshalb <strong>der</strong> Zar auf Drängen Rasputins und <strong>der</strong><br />
Zarin den Großfürsten absetzte und das Oberkommando selbst in die Hand nahm. Aber<br />
die Zarin hatte sogar vor einer Zusammenkunft des Neffen mit dem Onkel bei Übergabe<br />
<strong>der</strong> Geschäfte Angst: »Seelchen, sei vorsichtig«, schreibt sie dem Zaren ins Hauptquartier,<br />
»laß Dich nicht von Nikolascha durch irgendwelche Versprechungen o<strong>der</strong> sonst was<br />
fangen, denk daran, daß Grigorij Dich vor ihm und seinen bösen Leuten gerettet hat ...<br />
erinnere Dich im Namen Rußlands, was sie vorhatten: Dich zu verjagen (das ist kein<br />
Klatsch, Orlow hatte schon alle Papiere fertig) und mich ins Kloster...«<br />
Der Bru<strong>der</strong> des Zaren, Michail, sagte zu Rodsjanko: »Die ganze Familie ist sich dessen<br />
bewußt, wie schädlich Alexandra Feodorowna ist. Den Bru<strong>der</strong> und sie umgeben<br />
ausschließlich Verräter. Alle anständigen Menschen haben sich entfernt. Aber was ist in<br />
diesem Falle zu tun?« Freilich, was war in diesem Falle zu tun?<br />
Die Großfürstin Maria Pawlowna bestand in Gegenwart ihrer Söhne darauf, daß<br />
Rodsjanko die Initiative <strong>der</strong> "Beseitigung" <strong>der</strong> Zarin auf sich nähme. Rodsjanko schlug<br />
vor, dies Gespräch als nicht stattgefunden zu betrachten, sonst müßte er aus Eidespflicht<br />
dem Zaren melden, daß die Großfürstin dem Dumavorsitzenden den Vorschlag gemacht<br />
habe, die Kaiserin zu beseitigen. So verwandelte <strong>der</strong> schlagfertige Kammerherr die ganze<br />
Frage nach <strong>der</strong> Ermordung <strong>der</strong> Zarin in einen netten Salonscherz.<br />
Das Ministerium selbst stand zeitweise in scharfer Opposition zum Zaren. Schon im<br />
Jahre 1915, an<strong>der</strong>thalb Jahre vor <strong>der</strong> Umwälzung, wurden bei den Regierungssitzungen<br />
Reden geführt, die noch heute unglaublich erscheinen. Der Kriegsminister Poliwanow<br />
sagt: »Die Situation retten kann nur eine <strong>der</strong> Gesellschaft gegenüber versöhnliche<br />
Politik. Die gegenwärtigen schwachen Dämme können die Katastrophe nicht<br />
abwenden.« Der Marineminister Grigorowitsch: »Es ist kein Geheimnis, daß die Armee<br />
uns mißtraut und auf eine Än<strong>der</strong>ung wartet.« Der Minister des Auswärtigen, Sasonow:<br />
»Die Popularität des Zaren und seine Autorität in den Augen <strong>der</strong> Volksmassen ist stark<br />
erschüttert.« Der Minister des Inneren, Fürst Schtscherbatow: »Wir sind alle zusammen<br />
ungeeignet, Rußland in dieser sich herausbildenden Situation zu verwalten ... Es ist<br />
entwe<strong>der</strong> eine Diktatur o<strong>der</strong> eine versöhnliche Politik notwendig« (Sitzung vom 21.<br />
August 1915). Schon konnte we<strong>der</strong> das eine noch das an<strong>der</strong>e helfen, we<strong>der</strong> das eine noch<br />
das an<strong>der</strong>e war durchführbar. Der Zar entschloß sich nicht zu einer Diktatur, lehnte eine<br />
versöhnliche Politik ab und nahm die Demission <strong>der</strong> Minister, die sich als ungeeignet<br />
bezeichneten, nicht an. Ein höherer Beamter gibt in seinen Aufzeichnungen zu den<br />
Reden <strong>der</strong> Minister folgenden kurzen Kommentar: Man wird wohl an <strong>der</strong> Laterne hängen<br />
müssen.<br />
Bei einer solchen Stimmung ist es nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß man sogar in den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 50
ürokratischen Kreisen von <strong>der</strong> Notwendigkeit einer Palastrevolution sprach, als dem<br />
einzigen Mittel, <strong>der</strong> heraufziehenden <strong>Revolution</strong> vorzubeugen. »Hätte ich die Augen<br />
verbunden gehabt«, erinnert sich ein Teilnehmer dieser Debatten, »ich hätte glauben<br />
können, mich in Gesellschaft eingefleischter <strong>Revolution</strong>äre zu befinden.«<br />
Ein Gendarmerieoberst, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Aufgabe betraut war, im Süden<br />
Rußlands die Armee zu inspizieren, entwarf in seinem Bericht ein düsteres Bild: Durch<br />
Propaganda, insbeson<strong>der</strong>e mit dem Argument <strong>der</strong> Deutschfreundlichkeit <strong>der</strong> Kaiserin und<br />
des Zaren, sei die Armee für eine Palastrevolution vorbereitet. »Derartige Gespräche<br />
wurden in Offizierskasinos offen geführt und fanden seitens des höheren Kommandos<br />
keine Zurückweisung.« Protopopow gibt seinerseits folgendes Zeugnis ab: »Eine<br />
beträchtliche Anzahl von Personen aus dem höheren Kommandobestand sympathisierte<br />
mit <strong>der</strong> Umwälzung; einzelne Personen standen in Verbindung und unter Einfluß des<br />
sogenannten progressiven Blocks.«<br />
Der später zur Berühmtheit gelangte Admiral Koltschak sagte nach Zertrümmerung<br />
seiner Truppen durch die Rote Armee vor <strong>der</strong> Untersuchungskommision <strong>der</strong> Sowjets aus,<br />
daß er mit zahlreichen oppositionellen Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Duma in Verbindung gestanden<br />
und <strong>der</strong>en Hervortreten begrüßt habe, da er sich »gegen die Macht, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
existierte, ablehnend verhielt«. In die Pläne <strong>der</strong> Palastrevolution war Koltschak<br />
jedoch nicht eingeweiht.<br />
Nach <strong>der</strong> Ermordung Rasputins und den in Verbindung damit erfolgten Ausweisungen<br />
von Großfürsten begann die vornehme Gesellschaft beson<strong>der</strong>s laut von <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />
<strong>der</strong> Palastrevolution zu sprechen. Fürst Jussupow erzählt, zu dem im Palaste inhaftierten<br />
Großfürsten Dmitrij seien Offiziere einiger Regimenter gekommen und hätten ihm<br />
verschiedene Pläne für eine entscheidende Aktion unterbreitet, »auf die er natürlich nicht<br />
eingehen konnte«.<br />
Auch die verbündete Diplomatie galt als an <strong>der</strong> Verschwörung beteiligt, zumindest in<br />
<strong>der</strong> Person des britischen Botschafters. Dieser unternahm, zweifellos auf Initiative <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong> Liberalen, im Januar 1917, nachdem er sich <strong>der</strong> Sanktion seiner Regierung<br />
versichert hatte, den Versuch, Nikolaus zu beeinflussen. Der Zar hörte ihn aufmerksam<br />
und höflich an, dankte ihm und - begann von an<strong>der</strong>en Dingen zu sprechen. Protopopow<br />
unterrichtete Nikolaus über die Beziehungen Buchanans zu den Hauptführern des<br />
progressiven Blocks und schlug vor, die Uberwachung <strong>der</strong> englischen Botschaft einzurichten.<br />
Nikolaus soll diesen Vorschlag nicht gebilligt haben mit <strong>der</strong> Begründung, die<br />
Überwachung eines Botschafters sei »den internationalen Traditionen wi<strong>der</strong>sprechend«.<br />
Indessen berichtet Kurlow ohne Umschweife, daß »die polizeilichen Überwachungsorgane<br />
täglich Verbindungen zwischen <strong>der</strong> Kadettenpartei Miljukows und <strong>der</strong> englischen<br />
Botschaft registrierten«. Die internationalen Traditionen haben also nichts verhin<strong>der</strong>t.<br />
Aber auch <strong>der</strong>en Verletzung hat nicht viel geholfen: die Palastverschwörung wurde<br />
dennoch nicht aufgedeckt.<br />
Hat sie in <strong>der</strong> Tat existiert? Das ist durch nichts bewiesen. Sie war zu ausgedehnt, diese<br />
"Verschwörung", erfaßte zu zahlreiche und allzu verschiedenartige Kreise, um eine<br />
Verschwörung zu sein. Sie hing in <strong>der</strong> Luft als Stimmung <strong>der</strong> Spitzen <strong>der</strong> Petersburger<br />
Gesellschaft, als wirre Vorstellung einer Rettung, als Losung <strong>der</strong> Verzweiflung. Aber sie<br />
verdichtete sich nicht bis zu einem praktischen Plan.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 51
Der höhere Adel hatte im achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t nicht nur einmal praktische Korrekturen<br />
an <strong>der</strong> Thronfolge vorgenommen, indem er unbequeme Kaiser hinter Schloß und<br />
Riegel setzte o<strong>der</strong> erdrosselte: zuletzt wurde eine solche Operation im Jahre 1801 an Paul<br />
vorgenommen. Man kann folglich nicht sagen, daß eine Palastrevolution <strong>der</strong> Tradition<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Monarchie wi<strong>der</strong>sprochen hätte: Im Gegenteil, sie bildete ein unentbehrliches<br />
Element dieser Tradition. Doch die Aristokratie fühlte sich schon längst nicht mehr<br />
sicher im Sattel. Die Ehre, den Zaren und die Zarin zu erdrosseln, trat sie an die liberale<br />
Bourgeoisie ab. Deren Führer aber bewiesen nicht viel größere Entschlossenheit.<br />
Nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hat man wie<strong>der</strong>holt auf die liberalen Kapitalisten Gutschkow und<br />
Tereschtschenko und auf den ihnen nahestehenden General Krymow verwiesen, als auf<br />
den Herd <strong>der</strong> Verschwörung. Gutschkow und Tereschtschenko haben das selbst bestätigt,<br />
wenn auch unbestimmt. Der ehemalige Freiwillige <strong>der</strong> Burenarmee gegen England,<br />
Duellant Gutschkow, <strong>der</strong> Liberale mit den Sporen, mußte <strong>der</strong> "öffentlichen Meinung" als<br />
die für eine Verschwörung geeignetste Person erscheinen. Beileibe doch nicht <strong>der</strong><br />
wortreiche Professor Miljukow! Gutschkow kehrte zweifellos in Gedanken wie<strong>der</strong>holt zu<br />
einem guten und kurzen Schlag zurück, bei dem ein Gar<strong>der</strong>egiment die <strong>Revolution</strong><br />
ersetzt und ihr vorbeugt. Schon Witte hatte in seinen "Erinnerungen" Gutschkow, den er<br />
haßte, als einen Anhänger <strong>der</strong> jungtürkischen Methoden zur Erledigung eines unbequemen<br />
Sultans denunziert. Aber Gutschkow, <strong>der</strong> auch in seinen jungen Jahren jungtürkischen<br />
Mut zu beweisen versäumt hatte, war inzwischen stark gealtert. Und was die<br />
Hauptsache ist: Der Gesinnungsgenosse Stolypins konnte den Unterschied zwischen den<br />
<strong>russischen</strong> Verhältnissen und den alttürkischen unmöglich übersehen und mußte sich<br />
fragen, ob ein Palastumsturz, statt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorzubeugen, nicht zu jenem letzten<br />
Stoß werden könnte, <strong>der</strong> die Lawine ins Rollen bringt, und ob das Heilmittel sich nicht<br />
ver<strong>der</strong>benbringen<strong>der</strong> erweisen würde als die Krankheit selbst?<br />
In <strong>der</strong> Literatur, die <strong>der</strong> Februarrevolution gewidmet ist, wird von <strong>der</strong> Vorbereitung des<br />
Palastumsturzes wie von einer feststehenden Tatsache gesprochen. Miljukow äußert sich<br />
folgen<strong>der</strong>maßen: »Im Februar sollte es schon zu seiner Verwirklichung kommen.«<br />
Denikin verlegt die Verwirklichung auf den März. Beide erwähnen den "Plan", den<br />
Zarenzug unterwegs anzuhalten, die Thronentsagung zu for<strong>der</strong>n und im Falle einer<br />
Weigerung, die man für unvermeidlich hielt, die »physische Beseitigung« des Zaren<br />
vorzunehmen. Miljukow fügt ergänzend hinzu, daß die Führer des progressiven Blocks,<br />
die an <strong>der</strong> Verschwörung unbeteiligt und über <strong>der</strong>en Vorbereitungen nicht »genau«<br />
informiert gewesen wären, in Voraussicht eines wahrscheinlichen Umsturzes im engeren<br />
Kreise darüber diskutiert hätten, wie die Umwälzung im Falle eines Erfolges am besten<br />
auszunutzen wäre. Einige marxistischc Untersuchungen <strong>der</strong> letzten Jahre nehmen<br />
ebenfalls die Version von <strong>der</strong> praktischen Vorbereitung einer Umwälzung gutgläubig<br />
hin. An diesem Beispiel kann man, nebenbei bemerkt, beobachten, wie leicht und fest<br />
Legenden sich einen Platz in <strong>der</strong> historischen Wissenschaft erobern.<br />
Als wichtigster Beweis für die Verschwörung wird nicht selten die farbige Erzählung<br />
Rodsjankos angeführt, die aber gerade ein Beweis dafür ist, daß es keine Verschwörung<br />
gegeben hat. Im Januar 1917 kam General Krymow von <strong>der</strong> Front in die Hauptstadt und<br />
klagte Dumamitglie<strong>der</strong>n gegenüber, daß es so nicht weitergehen könne. »Falls ihr euch<br />
zu diesem äußersten Mittel (einem Zarenwechsel) entschließt, werden wir euch unterstützen.«<br />
Falls ihr euch entschließt!... Der Oktobrist Schidlowski rief wütend aus: »Man<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 52
kann ihn nicht schonen und bemitleiden, wenn er Rußland zugrunde richtet.« Im lärmenden<br />
Streit wurden die tatsächlichen o<strong>der</strong> vermeintlichen Worte Brussilows angeführt:<br />
»Falls man gezwungen sein sollte, zwischen dem Zaren und Rußland zu wählen - gehe<br />
ich mit Rußland.« Falls man gezwungen sein sollte! Der junge Millionär<br />
Tereschtschenko trat als unbeugsamer Zarenmör<strong>der</strong> auf Der Kadett Schingarew sagte:<br />
»Der General hat recht. Ein Umsturz ist notwendig ... Wer aber wird sich dazu entschließen?«<br />
Darum handelt es sich eben: Wer wird sich dazu entschließen? Das ist <strong>der</strong> Kern<br />
<strong>der</strong> Angaben Rodsjankos, <strong>der</strong> selbst gegen den Umsturz aufgetreten war. Während <strong>der</strong><br />
wenigen weiteren Wochen ist <strong>der</strong> Plan offenbar nicht fortgeschritten. Davon, den Zarenzug<br />
aufzuhalten, wurde gesprochen; es ist aber nicht zu entdecken, wer die Operation<br />
durchführen sollte.<br />
Der russische Liberalismus unterstützte, als er noch jünger war, durch Geld und<br />
Sympathien die Terroristen in <strong>der</strong> Hoffnung, sie würden mit ihren Bomben die Monarchie<br />
in die Arme des Liberalismus treiben. Den eigenen Kopf zu riskieren war keiner<br />
dieser würdigen Herren gewohnt. Die Hauptrolle jedoch spielte nicht so sehr persönliche<br />
wie Klassenangst: Jetzt ist es schlimm - erwogen sie -, daß es aber nur nicht schlimmer<br />
werde! Jedenfalls, wenn Gutschkow-Tereschtschenko-Kryrnow ernstlich an einen<br />
Umsturz gedacht, das heißt für seine praktische Vorbereitung Kräfte und Mittel mobilisiert<br />
haben würden, so wäre dies nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> jedenfalls mit voller Bestimmtheit<br />
und Genauigkeit festzustellen gewesen, denn die Teilnehmer, beson<strong>der</strong>s die jungen<br />
Exekutoren, <strong>der</strong>en nicht wenig gebraucht worden wären, hätten keine Veranlassung<br />
gehabt, die »beinah« vollbrachte Heldentat zu verschweigen: Nach dem Februar hätte sie<br />
ihre Karriere nur gesichert. Solche Enthüllungen aber hat es nicht gegeben. Es kann<br />
keinem Zweifel unterliegen, daß es sich für Gutschkow und Krymow um nichts an<strong>der</strong>es<br />
gehandelt hat als um patriotische Stoßseufzer bei Wein und Zigarren. Die leichtsinnigen<br />
Frondeure <strong>der</strong> Aristokratie wie die schwerfälligen Oppositionellen <strong>der</strong> Plutokratie brachten<br />
den Mut nicht auf, den Gang <strong>der</strong> ungünstigen Vorsehung durch eine Tat zu korrigieren.<br />
Einer <strong>der</strong> phrasenhaftesten und hohlsten Liberalen, Maklakow, wird im Mai 1917 in<br />
einer Privatberatung <strong>der</strong> Duma, die - zusammen mit <strong>der</strong> Monarchie - von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
beiseite geschoben ist, rufen: »Wenn unsere Nachkommen diese <strong>Revolution</strong> verfluchen<br />
werden, so werden sie auch uns verfluchen, die wir es nicht verstanden haben, ihr rechtzeitig<br />
durch eine Umwälzung von oben zuvorzukommen!« Noch später, bereits in <strong>der</strong><br />
Emigration, wird, nach Maklakow, auch Kerenski wehklagen: »Ja, das privilegierte<br />
Rußland hat es versäumt, durch einen rechtzeitigen Coup d'Etat von oben (von dem man<br />
so viel gesprochen und auf den man sich so viel [?] vorbereitet hatte) die elementare<br />
Staatsexplosion abzuwenden.«<br />
Diese zwei Ausrufe vollenden das Bild, indem sie zeigen, daß die studierten Flachköpfe<br />
auch dann noch, als die <strong>Revolution</strong> alle ihre unbändigen Kräfte entfesselt hatte, zu<br />
glauben fortführen, ein »rechtzeitiger« Wechsel <strong>der</strong> dynastischen Spitze hätte die<br />
<strong>Revolution</strong> abzuwenden vermocht!<br />
Für den "großen" Palastumsturz hatte die Entschlossenheit nicht ausgereicht. Aber aus<br />
ihm erwuchs <strong>der</strong> Plan des kleinen Umsturzes. Die liberalen Verschwörer wagten nicht,<br />
den Hauptakteur <strong>der</strong> Monarchie zu beseitigen; die Großfürsten beschlossen deshalb,<br />
seinen Souffleur wegzuräumen: in <strong>der</strong> Ermordung Rasputins erblickten sie das letzte<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 53
Mittel zur Rettung <strong>der</strong> Dynastie.<br />
Der mit einer Romanow vermählte Fürst Jussupow zog den Großfürsten Dmitrij<br />
Pawlowitsch und den monarchistischen Deputierten Purischkewitsch zu <strong>der</strong> Aktion<br />
hinzu. Man bemühte sich, auch den Liberalen Maklakow einzubeziehen, wohl um dem<br />
Morde einen "allnationalen" Anstrich zu geben. Der berühmte Advokat wich wohlweislich<br />
aus, versah jedoch die Verschwörer mit Gift. Ein höchst stilvolles Detail! Nicht ohne<br />
Grund rechneten die Verschwörer damit, daß das Romanowsche Automobil nach dem<br />
Morde die Wegschaffung <strong>der</strong> Leiche erleichtern würde: das großfürstliche Wappen fand<br />
Verwendung. Das Weitere spielte sich im Plane einer auf schlechten Geschmack berechneten<br />
kinematographischen Inszenierung ab. In <strong>der</strong> Nacht vom 16. zum 17. Dezember<br />
wurde Rasputin, den man zu einem Trinkgelage verlockt hatte, in <strong>der</strong> Jussupowschen<br />
Villa ermordet.<br />
Außer <strong>der</strong> engeren Kamarilla und den mystischen Anbeterinnen nahmen die regierenden<br />
Klassen die Ermordung Rasputins wie einen Rettungsakt auf. Den mit Hausarrest<br />
bedachten Großfürsten, dessen Hände, nach dem Ausdruck des Zaren, von Bauernblut -<br />
wenn auch ein Christus, so doch ein Bauer! - besuddt waren, besuchten mit dem<br />
Ausdruck <strong>der</strong> Sympathie alle Mitglie<strong>der</strong> des Kaiserlichen Hauses, die sich in Petersburg<br />
aufhielten. Der Zarin leibliche Schwester, die verwitwete Großfürstin Sergius, teilte<br />
telegraphisch mit, daß sie für die Mör<strong>der</strong> bete und sie für ihre patriotische Tat segne.<br />
Solange kein Verbot bestand, Rasputin zu erwähnen, veröffentlichten die Zeitungen<br />
begeisterte Artikel. In den Theatern versuchte man Demonstration zu Ehren <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong><br />
zu veranstalten. In den Straßen gratulierten Passanten einan<strong>der</strong>. »In Privathäusern,<br />
Offiziersklubs, in Restaurants«, schreibt Fürst Jussupow, »trank man auf unsere Gesundheit;<br />
aus den Betrieben schrien uns die Arbeiter "hurra!" zu.« Es ist allerdings anzunehmen,<br />
daß die Arbeiter nicht getrauert haben, als sie von <strong>der</strong> Ermordung Rasputins<br />
erfuhren. Ihre "Hurra"-Rufe aber hatten mit den Hoffnungen auf eine Wie<strong>der</strong>belebung<br />
<strong>der</strong> Dynastie nichts zu tun.<br />
Die Rasputinsche Kamarilla verstummte abwartend. Vor aller Welt geheim, setzten Zar<br />
und Zarin, die Zarentöchter und Wyrubowa Rasputin bei; neben <strong>der</strong> Leiche des heiligen<br />
Freundes, des von Großfürsten ermordeten ehemaligen Pferdediebcs, mußte die Zarenfamilie<br />
sich selbst wie verstoßen fühlen. Aber auch <strong>der</strong> begrabene Rasputin fand keine<br />
Ruhe. Als Nikolaus und Alexandra Romanow schon als Gefangene galten, warfen Soldaten<br />
von Zarskoje Selo sein Grab auf und öffneten den Sarg. Neben dem Kopfe des<br />
Ermordeten lag ein Heiligenbild mit <strong>der</strong> Aufschrift: Alexandra, Olga, Tatjana, Maria,<br />
Anastasia, Anja. Die Provisorische Regierung schickte einen Bevollmächtigten, um die<br />
Leiche aus irgendeinem Grunde nach Petrograd schaffen zu lassen. Die Menge wi<strong>der</strong>setzte<br />
sich, und <strong>der</strong> Bevollmächtigte mußte die Leiche an Ort und Stelle verbrennen.<br />
Nach <strong>der</strong> Ermordung des "Freundes" bestand die Monarchie insgesamt noch zehn<br />
Wochen. Diese kurze Frist aber gehörte ihr. Rasputin war nicht mehr, doch sein Schatten<br />
herrschte weiter. Allen Erwartungen <strong>der</strong> Verschwörer zum Trotz, begann das Zarenpaar<br />
nach <strong>der</strong> Ermordung mit verstärkter Kraft die verächtlichsten Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rasputinschen<br />
Bande auszuzeichnen. Um Rasputin zu rächen, wurde ein berüchtigter Lump zum<br />
Justizminister ernannt. Einige Großfürsten verbannte man aus <strong>der</strong> Hauptstadt. Man<br />
erzählte, Protopopow betreibe Spiritismus, um den Geist Rasputins herbeizurufen. Die<br />
Schlinge <strong>der</strong> Ausweglosigkeit zog sich noch enger zusammen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 54
Die Ermordung Rasputins hatte große Folgen, aber ganz an<strong>der</strong>e als die, mit denen ihre<br />
Teilnehmer und Inspiratoren gerechnet hatten. Sie hatte die Krise nicht gemil<strong>der</strong>t,<br />
son<strong>der</strong>n zugespitzt. Von <strong>der</strong> Ermordung sprach man überall: in den Schlössern, in den<br />
Stäben, in den Betrieben und in den Bauernhütten. Die Schlußfolgerung drängte sich von<br />
selbst auf: sogar die Grossfürsten haben gegen die aussätzige Kamarilla keine an<strong>der</strong>en<br />
Mittel als Gift und Revolver. Der Dichter Alexan<strong>der</strong> Block schrieb über die Ermordung<br />
Rasputins: »Die Kugel, die mit ihm Schluß machte, traf die herrschende Dynastie mitten<br />
ins Herz.«<br />
Schon Robespierre erinnerte die Gesetzgebende Versammlung daran, daß die Opposition<br />
des Adels, indem sie die Monarchie geschwächt, die Bourgeoisie und hinterher auch<br />
die Volksmassen in Schwung gebracht hatte. Robespierre warnte gleichzeitig, daß die<br />
<strong>Revolution</strong> im übrigen Europa sich nicht so schnell entwickeln werde wie in Frankreich,<br />
weil die privilegierten Klassen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>, durch das französische Beispiel<br />
belehrt, die Initiative <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht auf sich nehmen würden. Indem er diese<br />
bemerkenswerte Analyse gab, hatte sich Robespierre jedoch mit seiner Vermutung<br />
getäuscht, daß <strong>der</strong> französische Adel durch seine oppositionelle Verirrung dem Adel <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong> ein für allemal eine Lektion erteilt habe, Rußland hat im Jahre 1905 und<br />
beson<strong>der</strong>s im Jahre 1917 erneut bewiesen, daß eine gegen Selbstherrschertum und halbe<br />
Leibeigenschaft, mithin gegen den Adel gerichtete <strong>Revolution</strong> bei ihren ersten Schritten<br />
eine systemlose, wi<strong>der</strong>spruchsvolle, aber immerhin äußerst wirksame För<strong>der</strong>ung findet,<br />
nicht nur seitens des Durchschnittsadels, son<strong>der</strong>n auch seiner privilegierten Spitzen,<br />
sogar einschließlich <strong>der</strong> Angehörigen <strong>der</strong> Dynastie. Diese bemerkenswerte historische<br />
Tatsache könnte als Gegensatz zu <strong>der</strong> Klassentheorie <strong>der</strong> Gesellschaft erscheinen, in<br />
Wirklichkeit jedoch wi<strong>der</strong>spricht sie nur <strong>der</strong>en vulgärer Auffassung.<br />
Eine <strong>Revolution</strong> bricht aus, wenn alle Antagonismen <strong>der</strong> Gesellschaft die höchste<br />
Spannung erreicht haben. Das aber gerade macht die Situation sogar für die Klassen <strong>der</strong><br />
alten Gesellschaft, das heißt für jene, die dem Untergange geweiht sind, unerträglich.<br />
Ohne den biologischen Analogien mehr Gewicht beizumessen, als sie es verdienen, ist es<br />
dennoch angebracht, daran zu erinnern, daß <strong>der</strong> Akt <strong>der</strong> Geburt in einem gewissen<br />
Augenblick in gleicher Weise für den Organismus <strong>der</strong> Mutter wie für den <strong>der</strong> Frucht<br />
unabwendbar wird. In <strong>der</strong> Opposition <strong>der</strong> privilegierten Klassen äußert sich die Unvereinbarkeit<br />
ihrer traditionellen gesellschaftlichen Lage mit den Bedürfnissen für das<br />
Weiterbestehen <strong>der</strong> Gesellichaft. Der regierenden Bürokratie beginnt alles aus den<br />
Händen zu gleiten. Die Aristokratie, die sich im Mittelpunkt des allgemeinen Hasses<br />
fühlt, schiebt die Schuld auf die Bürokratie. Diese beschuldigt die Aristokratie, und dann<br />
richten sie gemeinsam o<strong>der</strong> getrennt ihre Unzufriedenheit gegen die monarchische<br />
Krönung ihrer Macht.<br />
Der aus dem Dienste in Adelskörperschaften für einige Zeit als Minister herbeigerufene<br />
Fürst Schtscherbatow sagte: »Sowohl Samarin wie ich sind ehemalige Gouvernement-Adelsmarschälle.<br />
Niemand hat uns bisher als Linke betrachtet, und auch wir<br />
betrachten uns nicht als solche. Aber beide können wir eine Lage im Staate nicht<br />
begreifen, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Monarch und seine Regierung sich mit <strong>der</strong> gesamten vernünftigen<br />
Öffentlichkeit (von den revolutionären Intrigen lohnt sich nicht zu sprechen) - mit<br />
den Adligen, den Kaufleuten, den Städten, den Semstwos, sogar mit <strong>der</strong> Armee - in<br />
radikalem Wi<strong>der</strong>spruch befinden. Wenn man mit unserer Meinung oben nicht rechnen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 55
will, ist es unsere Pflicht, abzutreten.«<br />
Der Adel sieht die Ursache allen Übels darin, daß die Monarchie blind geworden ist<br />
o<strong>der</strong> die Vernunft verloren hat. Der privilegierte Stand glaubt nicht, daß es überhaupt<br />
keine Politik mehr geben kann, die die alte Gesellschaft mit <strong>der</strong> ncucn versöhnt; mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten, <strong>der</strong> Adel kann sich mit seinem Geschick nicht abfinden und verwandelt<br />
seine Todesangst in eine Opposition gegen die heiligste Kraft des alten Regimes, das<br />
heißt gegen die Monarchie. Die Schärfe und das Unverantwortliche <strong>der</strong> aristokratischen<br />
Opposition erklären sich aus <strong>der</strong> historischen Verzärtelung <strong>der</strong> Spitzen des Adels und aus<br />
ihrer unerträglichen Furcht vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>; das Systemlose und Wi<strong>der</strong>spruchsvolle<br />
<strong>der</strong> adeligen Fronde damit, daß es die Opposition einer Klasse ist, die keinen Ausweg<br />
mehr hat. Aber wie eine Petroleum-lampe vor dem Erlöschen grell aufleuchtet, wenn<br />
auch schwelend, so erlebt auch <strong>der</strong> Adel vor dem Erlöschen ein oppositionelles Aufflakkern,<br />
das seinen Todfeinden den größten Dienst erweist. Das ist die Dialektik dieses<br />
Prozesses, die sich nicht nur mit <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Klassengesellschaft verträgt, son<strong>der</strong>n<br />
nur von dieser Theorie erklärt werden kann.<br />
Die Agonie <strong>der</strong> Monarchie<br />
Die Dynastie fiel bei <strong>der</strong> Erschütterung wie eine faule Frucht, noch bevor die <strong>Revolution</strong><br />
Zeit gehabt hatte, an die Lösung ihrer nächsten Aufgaben heranzugehen. Das Bild<br />
<strong>der</strong> alten regierenden Klasse würde unvollendet bleiben, versuchten wir nicht zu zeigen,<br />
wie die Monarchie <strong>der</strong> Stunde ihres Sturzes begegnete.<br />
Der Zar weilte im Hauptquartier, in Mohilew, wohin er sich zu begeben pflegte, nicht<br />
weil man seiner dort bedurfte, son<strong>der</strong>n um sich den Petrogra<strong>der</strong> Behehigungen zu entziehen.<br />
Der Hofhistoriker, General Dubenski, <strong>der</strong> sich beim Zaren im Hauptquartier befand,<br />
trug in sein Tagebuch ein: »Ein stilles Leben hat hier begonnen. Alles wird beim alten<br />
bleiben. Von ihm (dem Zaren) wird nichts kommen. Es können nur zufällige äußere<br />
Ursachen sein, die eine Verän<strong>der</strong>ung erzwingen.« Am 24. schrieb die Zarin ins Hauptquartier<br />
wie stets auf Englisch: »Ich hoffe, daß man den Duma-Kedrinski (es handelt sich<br />
um Kerenski) aufhängen wird für seine schrecklichen Reden - das ist unbedingt notwendig.<br />
(Gesetz <strong>der</strong> Kriegszeit.) Und das wird ein Beispiel sein. Alle ersehnen und flehen<br />
Dich an, daß Du Deine Festigkeit zeigest.« Am 25. Februar traf ein Telegramm des<br />
Kriegsministers ein, daß in <strong>der</strong> Hauptstadt Streiks und Arbeiterunruhen ausgebrechen,<br />
aber entsprechende Maßnahmen - getroffen seien; Ernstes wäre nicht zu befürchten. Mit<br />
einem Wort: Wie<strong>der</strong> einmal!<br />
Die Zarin, die den Zaren stets lehrte, nicht nachzugehen, bemüht sich auch jetzt festzubleiben.<br />
Am 26. telegraphiert sie in offenkundiger Absicht, Nikolaus' schwankenden Mut<br />
zu stärken: »In <strong>der</strong> Stadt herrscht Ruhe.« Aber im Abendtelegramm ist sie schon<br />
gezwungen, einzugestehen: »In <strong>der</strong> Stadt sieht es gar nicht gut aus.« Im Briefe schreibt<br />
sie: »Man muß den Arbeitern offen sagen, daß sie keine Streiks machen sollen, wenn sie<br />
es aber tun werden, dann muß man sie zur Strafe an die Front schicken. Es sind gar<br />
keine Schießereien nötig, man braucht nur Ordnung und darf die Arbeiter nicht über die<br />
Brücken lassen.« Wahrhaftig, man braucht nicht viel: nur Ordnung! Und vor allem, die<br />
Arbeiter nicht ins Zentrum lassen, mögen sie in wüten<strong>der</strong> Ohnmacht in ihren Stadtvierteln<br />
ersticken.<br />
Am Morgen des 27. Februar rückte <strong>der</strong> General Iwanow mit einem Bataillon Georgier<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 56
von <strong>der</strong> Front zur Hanptstadt ab; er war mit diktatorischen Vollmachten versehen, die er<br />
allerdings erst nach Besetzung von Zarskoje Selo bekanntgeben sollte. »Man kann sich<br />
kaum eine ungeeignetere Person vorstellen«, schreibt in seinen Erinnerungen General<br />
Denikin, <strong>der</strong> sich späterhin selbst in militärischer Diktatur betätigte, »ein altersschwacher<br />
Mann, <strong>der</strong> sich in einer politischen Situation kaum auskannte und we<strong>der</strong> Kräfte,<br />
noch Energie, noch Willen, noch Strenge besaß.« Die Wahl war auf Iwanow gefallen, in<br />
Erinnerung an die erste <strong>Revolution</strong>: elf Jahre vorher hatte er Kronstadt "gebändigt".<br />
Diese Jahre waren aber nicht spurlos vergangen: die Bändiger waren gebrechlich geworden,<br />
die Gebändigten erwachsen. Der Nord- und <strong>der</strong> Westfront wurde befohlen, Truppen<br />
zum Abmarsch nach Petrograd bereit zu halten. Es ist klar, man meinte, vor<strong>der</strong>hand sei<br />
noch Zeit genug. Iwanow selbst glaubte, alles werde schnell und gut enden, er hatte sogar<br />
nicht vergessen, seinen Adjutanten zu beauftragen, in Mohilew Lebensmittel für die<br />
Petrogra<strong>der</strong> Bekannten einzukaufen.<br />
Am 27. Februar, morgens, schickte Rodsjanko dem Zaren ein neues Telegramm, das<br />
mit den Worten schloß: »Die letzte Stunde ist gekommen, in <strong>der</strong> sich das Schicksal des<br />
Vaterlandes und <strong>der</strong> Dynastie entscheidet.« Der Zar sagte zu seinem Hofminister Fre<strong>der</strong>iks:<br />
»Schon wie<strong>der</strong> schreibt mir dieser dicke Rodsjanko allerhand Unsinn, auf den ich<br />
ihm nicht einmal antworten werde.« Doch nein, es ist kein Unsinn! Und man wird<br />
antworten müssen.<br />
Gegen Mittag des 27. trifft im Hauptquartier ein Bericht von Chabalow ein über<br />
Meutereien in den Pawlowski-, Wolynski-, Litowski- und Preobraschenski-Regimentern.<br />
Der Bericht ersucht um zuverlässige Truppen von <strong>der</strong> Front. Eine Stunde später kommt<br />
ein Beruhigungstelegramm vom Kriegsminister: »Die am Morgen entstandenen Unruhen<br />
werden von den ihrer Pflicht treugebliebenen Kompanien und Bataillonen energisch<br />
unterdrückt... Bin von baldigem Eintritt <strong>der</strong> Ruhe fest überzeugt...« Nach 7 Uhr jedoch<br />
berichtet Belajew bereits: »Mit den wenigen ihrer Pflicht treugebliebenen Abteilungen<br />
die Meuterei <strong>der</strong> Truppen zu unterdrücken, gelingt nicht.« Er bittet um eiligen Abtransport<br />
wirklich zuverlässiger Truppenteile, und zwar in ausreichen<strong>der</strong> Stärke »für gleichzeitiges<br />
Vorgehen in verschiedenen Stadtteilen.«<br />
Der Ministerrat hielt an diesem Tage die Zeit für gekommen, aus eigener Machtvollkommenheit<br />
die vermeintliche Ursache alles Unheils aus seiner Mitte hinauszudrängen:<br />
den halb irrsinnigen Minister des Innern, Protopopow. Gleichzeitig setzte General<br />
Chabalow das geheim von <strong>der</strong> Regierung vorbereitete Dekret in Kraft, wonach auf Allerhöchsten<br />
Befehl über Petrograd <strong>der</strong> Belagerungszustand verhängt sei. Auf diese Weise<br />
wurde auch hier <strong>der</strong> Versuch unternommen, das Heiße mit dem Kalten zu kombinieren,<br />
ein wohl kaum vorbedachter, jedenfalls aber aussichtsloser Versuch. Es gelang nicht<br />
einmal, die Plakate mit <strong>der</strong> Proklamierung des Belagerungszustandes in <strong>der</strong> Stadt<br />
anzukleben: <strong>der</strong> Stadthauptmann Balk besaß we<strong>der</strong> Kleister noch Pinsel. Diese Behörden<br />
konnten überhaupt nichts mehr zusammenkleistern, denn sie gehörten bereits dem Reiche<br />
<strong>der</strong> Schatten an.<br />
Der Hauptschatten des letzten zaristischen Ministeriums war <strong>der</strong> siebzigjährige Fürst<br />
Golizyn, <strong>der</strong> früher irgendwelche wohltätigen Institutionen <strong>der</strong> Zarin verwaltet hatte und<br />
von ihr in <strong>der</strong> Periode des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf den Posten eines Regierungschefs<br />
erhoben worden war. Wenn die Freunde diesen, nach <strong>der</strong> Bezeichnung des liberalen<br />
Barons Nolde »gutmütigen <strong>russischen</strong> Herrn, den alten Schwächling«, fragten,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 57
weshalb er ein so mühevolles Amt auf sich genommen habe, erwi<strong>der</strong>te Golizyn: »Um<br />
eine angenehme Erinnerung mehr zu besitzen.« Dieses Ziel hat er jedenfalls nicht<br />
erreicht. Über das Befinden <strong>der</strong> letzten <strong>russischen</strong> Regierung in jenen Stunden erzählt ein<br />
Bericht Rodsjankos: Bei <strong>der</strong> ersten Nachricht von dem Marsch <strong>der</strong> Massen zum<br />
Mariinski-Palais, wo die Sitzungen des Ministeriums stattfanden, wurden unverzüglich<br />
alle Lichter im Gebäude gelöscht. Die Staatslenker wollten nur eines: daß die <strong>Revolution</strong><br />
sie unbeachtet lassen sollte. Das Gerücht erwies sich jedoch als erfunden, es kam zu<br />
keinem Überfall, und als nian wie<strong>der</strong> Licht machte, hockte manch Mitglied <strong>der</strong> zaristischen<br />
Regierung »zu seiner eigenen Verwun<strong>der</strong>ung« unter dein Tisch. Welche Erinnerungen<br />
sie dort gesammelt haben mögen, ist nicht festgestellt worden.<br />
Aber auch Rodsjankos Befinden war offenbar nicht auf <strong>der</strong> Höhe. Nach langwieriger<br />
und vergeblicher telephonischer Suche nach <strong>der</strong> Regierung klingelte <strong>der</strong><br />
Dumavorsitzende wie<strong>der</strong> mal bei Fürst Golizyn an. Dieser meldet sich: »Bitte, sich in<br />
keinerlei Angelegenheiten mehr an mich zu wenden, ich habe <strong>der</strong>mssioniert.« Auf diesen<br />
Bescheid hin ließ sich Rodsjanko, wie sein ihm ergebener Sekretär erzählt, schwer in den<br />
Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen... »Mein Gott, wie<br />
schrecklich! ... Keine Regierung ... Anarchie ... Blut ...«, und er weinte leise. Beim<br />
Versinken des altersschwachen Gespenstes <strong>der</strong> zaristischen Macht fühlte sich Rodsjanko<br />
unglücklich, verlassen, verwaist. Wie weit war er in dieser Stunde von dem Gedanken<br />
entfernt, daß er morgen die <strong>Revolution</strong> "vertreten" würde!<br />
Die telephonische Antwort Golizyns ist damit zu erklären, daß <strong>der</strong> Ministerrat am<br />
Abend des 27. endgültig seine Unfähigkeit, mit <strong>der</strong> entstandenen Lage fertigzuwerden,<br />
bekannt und dem Zaren empfohlen hatte, an die Spitze <strong>der</strong> Regierung eine Person zu<br />
stellen, die das allgemeine Vertrauen besitze. Der Zar antwortete Golizyn: »Betreffs<br />
Personenwechsel halte ich einen solchen unter den gegebenen Umständen für<br />
unzulässig. Nikolaus.« Auf welche Umstände wartete er denn noch? Gleichzeitig for<strong>der</strong>te<br />
<strong>der</strong> Zar, »energischste Maßnahmen« zur Unterdrückung <strong>der</strong> Meuterei zu treffen. Das war<br />
leichter gesagt als getan.<br />
Am nächsten Tage, dem 28., sinkt schließlich auch <strong>der</strong> Mut <strong>der</strong> ungezähmten Zarin.<br />
»Zugeständnisse sind notwendig«, telegraphiert sie an Nikolaus, »die Streiks dauern an.<br />
Viele Truppen sind auf die Seite <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> übergegangen. Alice.« Es bedurfte des<br />
Aufstandes <strong>der</strong> gesamten Garde, <strong>der</strong> gesamten Garnison, um die hessische Beschützerin<br />
des Selbstherrschertums zu <strong>der</strong> Einsicht zu bringen, »Zugeständnisse sind notwendig«.<br />
Jetzt dämmert es auch dem Zaren, daß <strong>der</strong> »dicke Rodsjanko« ihm keinen Unsinn<br />
mitgeteilt hatte. Nikolaus beschließt, zu seiner Familie zu reisen. Möglich, daß die<br />
Generale des Hauptquartiers, denen es ein wenig ungemütlich wurde, ihn etwas schoben.<br />
Der Zarenzug fuhr anfangs ohne Zwischenfall. Wie stets, empfingen ihn Polizeibeamte<br />
und Gouverneure. Weitab vom Wirbelsturm <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, im gewohnten Waggon,<br />
umgeben vom gewohnten Gefolge, verlor <strong>der</strong> Zar offenbar wie<strong>der</strong> das Gefühl <strong>der</strong> dicht<br />
heranrückenden Lösung. Am 28., um 3 Uhr nachmittags, als sein Schicksal durch den<br />
Lauf <strong>der</strong> Ereignisse bereits besiegelt ist, schickt er <strong>der</strong> Zarin aus Wjasma ein Telegramm:<br />
»Herrliches Wetter. Ich hoffe, Ihr fühlt Euch gut und ruhig. Von <strong>der</strong> Front sind viele<br />
Truppen gesandt. Zärtlich liebend, Niki.« Statt <strong>der</strong> Zugeständnisse, auf die nun die Zarin<br />
drängt, sendet <strong>der</strong> zärtlich liebende Zar Truppen von <strong>der</strong> Front. Aber trotz des »herrlichen<br />
Wetters« muß <strong>der</strong> Zar einige Stunden später höchstpersönlich mit dem revolutionä-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 58
en Orkan zusammengeraten. Der Zug kam bis zur Station Wischera, weiter ließen ihn<br />
die Eisenbahner nicht: »Die Brücke ist zerstört.« Wahrscheinlich hat das Gefolge selbst<br />
diese Ausrede erfunden, um die Situation zu beschönigen. Nikolaus versucht - o<strong>der</strong> man<br />
versucht ihn - über Bologoje zu fahren, mit <strong>der</strong> Nikolajewskaer Eisenbahn; doch auch<br />
hier ließ man den Zug nicht passieren. Das war anschaulicher als alle Telegramme aus<br />
Petrograd. Der Zar war vom Hauptquartier abgeschnitten und fand den Weg nicht in<br />
seine Hauptstadt. Mit den einfachen Eisenbahner-"Figuren" erklärte die <strong>Revolution</strong> dem<br />
König Schach!<br />
General Dubenski, <strong>der</strong> den Zaren auch im Zuge begleitete, vermerkt in seinem<br />
Tagebuch: »Alle sind sich dessen bewußt, daß diese nächtliche Wendung in Wischera<br />
eine historische Nacht bedeutet ... Mir ist es völlig klar, daß die Frage <strong>der</strong> Konstitution<br />
entschieden ist; sie wird bestimmt eingeführt werden ... Alle sprechen nur davon, daß<br />
man mit ihnen, mit den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, handelseinig werden<br />
müsse.« Vor dem heruntergelassenen Streckensignal, hinter dem die Todesgefahr lauert,<br />
sind jetzt Graf Fre<strong>der</strong>iks, Fürst Dolgoruki, Herzog von Leuchtenberg, kurz, all die hohen<br />
Herrschaften, für die Konstitution. Sie denken nicht mehr an einen Kampf. Man müsse<br />
nur verhandeln, das heißt versuchen, wie<strong>der</strong> zu betrügen, wie im Jahre 1905.<br />
Während so <strong>der</strong> Zug herumirrte, ohne einen Weg zu finden, schickte die Zarin ein<br />
Telegramm nach dem an<strong>der</strong>en an den Zaren, in denen sie auf seine eilige Rückkehr<br />
drang. Sie erhielt aber die Telegramme vom Telegraphenamt zurück mit dein Blaustiftvermerk:<br />
»Aufenthaltsort des Adressaten unbekannt.« Die Telegraphenbeamten konnten<br />
den <strong>russischen</strong> Zaren nicht ausfindig machen.<br />
Regimenter mit Musik und Fahnen marschierten zum Taurischen Palais. Die Gardebesatzung<br />
erschien unter dem Kommando des Grossfürsten Kyrill Wladimirowitsch, <strong>der</strong>,<br />
wie die Gräfin Kleinmichel bezeugt, mit einem Male eine revolutionäre Haltung zeigte.<br />
Die Wachposten zogen sich zurück. Der Hofstaat verließ das Schloß: »Es rettete sich,<br />
wer konnte«, schreibt die Wyrubowa in ihren Erinnerungen. Im Schlosse wan<strong>der</strong>ten<br />
Gruppen revolutionärer Soldaten umher und besahen alles mit heißhungriger Neugier.<br />
Bevor die oben sich noch über das "Was nun?" klargeworden waren, hatten die unten das<br />
Zarenpalais schon in ein Museum umgewandelt.<br />
Der Zar, dessen Aufenthalt unbekannt ist, wendet nach Pskow um, zum Stabe <strong>der</strong><br />
Nordfront, die unter dem Kommando des alten Generals Rußki steht. Im Gefolge des<br />
Zaren löst ein Vorschlag den an<strong>der</strong>en ab. Der Zar zögert. Er rechnet noch immer mit<br />
Tagen und Wochen, als die <strong>Revolution</strong> schon nach Minuten zählt.<br />
Der Dichter Block charakterisierte den Zaren in den letzten Monaten <strong>der</strong> Monarchie<br />
folgen<strong>der</strong>maßen: »Eigensinnig, aber willenlos, nervös, aber gegen alles abgestumpft, um<br />
den Glauben an die Menschen gebracht, zerrüttet, aber überlegt in seinen Worten, war<br />
er seiner selbst nicht mehr Herr. Er hörte auf, die Lage zu begreifen, machte keinen<br />
klaren Schritt mehr und begab sich völlig in die Hände <strong>der</strong>er, die er selbst an die Macht<br />
gestellt hatte.« Wie erst müssen sich die Züge <strong>der</strong> Willenlosigkeit und <strong>der</strong> Zerrüttung,<br />
<strong>der</strong> Ängstlichkeit und des Mißtrauens in den letzten Februar- und den ersten Märztagen<br />
verstärkt haben!<br />
Nikolaus raffte sich nun endlich auf, an den ihm verhaßten Rodsjanko ein Telegramm<br />
zu senden - offenbar ist dies aber dann doch nicht abgeschickt worden -, in dem er ihn,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 59
um des Heiles <strong>der</strong> Heimat willen, mit <strong>der</strong> Bildung eines neuen Ministeriums betraute,<br />
unter dem Vorbehalt, Außen-, Kriegs- und Marineminister selbst zu ernennen. Der Zar<br />
möchte mit "ihnen" noch handeln: marschieren doch »zahlreiche Truppen« gegen Petrograd!<br />
General Iwanow erreichte tatsächlich unbehin<strong>der</strong>t Zarskoje Selo: die Eisenbahner<br />
hatten sich wahrscheinlich doch nicht entschließen können, es auf einen Zusammenstoß<br />
mit dem Bataillon Georgier ankommen zu lassen. Allerdings gestand <strong>der</strong> General später,<br />
er sei unterwegs drei- bis viermal gezwungen gewesen, gegen die sich auflehnenden<br />
Soldaten »väterlichen Zwang« anzuwenden. Er ließ sie knien. Die Ortsbehörden erklärten<br />
dem "Diktator" gleich nach dessen Ankunft in Zarskoje Selo, daß ein Zusammenstoß<br />
<strong>der</strong> Georgier mit den Truppen die Zarenfamilie gefährden würde. Man hatte einfach<br />
Angst um sich und empfahl dem "Exekutor", ohne erst die Truppen auszuladen, die<br />
Rückreise anzutreten.<br />
Der General Iwanow stellte an den an<strong>der</strong>en "Diktator", Chabalow, zehn Fragen, die<br />
ihm präzis beantwortet wurden. Wir führen sie in vollem Wortlaut an, denn sie verdienen<br />
es:<br />
Die Fragen Iwanows:<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
4.<br />
5.<br />
6.<br />
Welche Truppenteile halten Ordnung,<br />
und welche erlauben sich Gemeinheiten?<br />
Welche Bahnhöfe werden bewacht?<br />
In welchen Stadtteilen wird die<br />
Ordnung aufrechterhalten?<br />
Welche Behörden üben in diesen<br />
Stadtteilen die Macht aus?<br />
Arbeiten sämtliche Ministerien?<br />
Welche Polizeibehörden stehen im<br />
Augenblick zu Ihrer Verfügung?<br />
Die Antworten Chabalows:<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
4.<br />
5.<br />
6.<br />
Unter meinem Befehl stehen im<br />
Gebäude <strong>der</strong> Admiralität vier Kompanien<br />
<strong>der</strong> Garde, fünf Schwadronen und<br />
Hun<strong>der</strong>tschaften, zwei Batterien; alle<br />
übrigen Truppen sind auf die Seite <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>äre übergegangen o<strong>der</strong><br />
bleiben nach Übereinkunft mit diesen<br />
neutral. Einzelne Soldaten und Banden<br />
treiben sich in <strong>der</strong> Stadt herum und<br />
entwaffnen Offiziere.<br />
Alle Bahnhöfe sind in den Händen <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>äre und werden von diesen<br />
streng bewacht.<br />
Die ganze Stadt ist in <strong>der</strong> Gewalt <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>äre, das Telephon arbeitet<br />
nicht, eine Verbindung mit den Stadtteilen<br />
gibt es nicht.<br />
Kann ich nicht beantworten.<br />
Die Minister sind von den <strong>Revolution</strong>ären<br />
verhaftet.<br />
Keine.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 60
7.<br />
8.<br />
9.<br />
Welche technischen und wirtschaftlichen<br />
Institutionen des Kriegsamtes<br />
unterstehen Ihrem Befehl?<br />
Welche Mengen von Proviant haben<br />
Sie zu ihrer Verfügung?<br />
Sind viele Waffen, Artillerie- und<br />
Kriegsvorräte in die Hände <strong>der</strong> Rebellen<br />
gefallen?<br />
10 Welche Militärbehörden und Stäbe<br />
stehen zu Ihrer Verfügung?<br />
7.<br />
8.<br />
9.<br />
10<br />
Keine.<br />
Ich habe keinen Proviant zu meiner<br />
Verfügung. Am 25. Februar war in <strong>der</strong><br />
Stadt ein Vorrat von 5.600.000 Pud<br />
Mehl.<br />
Alle Artilleriewerke sind in den<br />
Händen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre.<br />
Zu meiner Verfügung steht <strong>der</strong> Chef<br />
des Kreisstabes persönlich; mit den<br />
übrigen Kreisverwaltungen fehlt die<br />
Verbindung.<br />
Nach einer so unzweideutigen Beleuchtung <strong>der</strong> Situation war General Iwanow »einverstanden«,<br />
mit seiner unausgeladenen Staffel zur Station "Dno" zurückzukehren. »Auf<br />
diese Weise«, schlußfolgert eine <strong>der</strong> leitenden Personen des Hauptquartiers, General<br />
Lukomski, »wurde aus - <strong>der</strong> Kommandierung des Generals Iwanow mit diktatorischen<br />
Volirnachten nichts als ein Skandal.«<br />
Übrigens trug <strong>der</strong> Skandal einen stillen Charakter, er ging unbemerkt in den Wogen<br />
<strong>der</strong> Ereignisse unter. Der Diktator schickte, wie wohl anzunehmen ist, die Lebensmittel<br />
an seine Bekannten in Petrograd und hatte eine längere Unterredung mit <strong>der</strong> Zarin: sie<br />
verwies auf ihre selbstaufopfernde Arbeit in den Lazaretten und beklagte sich über die<br />
Undankbarkeit <strong>der</strong> Armee und des Volkes.<br />
Unterdessen laufen über Mohilew nach Pskow Nachrichten, eine schwärzer als die<br />
an<strong>der</strong>e. Die in Petrograd verbliebene persönliche Wache Seiner Majestät, aus <strong>der</strong> je<strong>der</strong><br />
Soldat einzeln <strong>der</strong> Zarenfamilie mit Namen bekannt und von ihr verhätschelt war,<br />
erscheint in <strong>der</strong> Reichsduma und bittet um Erlaubnis, jene Offiziere zu verhaften, die sich<br />
geweigert, am Aufstand teilzunehmen. Der Vizeadmiral Kurosch berichtet, er sehe keine<br />
Möglichkeit, Maßnahmen zur Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes in Kronstadt zu treffen,<br />
denn er könne für keinen einzigen Truppenteil garantieren. Admiral Nepenin telegraphiert,<br />
die Baltische Flotte anerkenne das Provisorische Komitee <strong>der</strong> Reichsduma. Der<br />
Moskauer Oberkommandierende, Mrosowski, berichtet: »Die Mehrzahl <strong>der</strong> Truppen ist<br />
mitsamt <strong>der</strong> Artillerie zu den <strong>Revolution</strong>ären übergegangen, in <strong>der</strong>en Gewalt sich somit<br />
die Stadt befmdet. Der Stadthauptmann und dessen Gehilfen haben sich aus <strong>der</strong> Stadthauptmannschaft<br />
entfernt.« Entfernt bedeutet: sie hatten Reißaus genommen.<br />
Dem Zaren wurde all dies am Abend des 1. März gemeldet. Bis tief in die Nacht hinein<br />
wurde für und wi<strong>der</strong> ein verantwortliches Ministerium geredet. Endlich, um 2 Uhr<br />
nachts, gab <strong>der</strong> Zar die Zustimmung. Seine Umgebung atmete erleichtert auf. Da man es<br />
als selbstverständlich ansah, daß damit das Problem <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gelöst sei, gab man<br />
gleichzeitig Befehl, die Truppenteile, die gegen Petrograd marschierten, um dort den<br />
Aufstand nie<strong>der</strong>zuschlagen, an die Front zurückzuführen. Rußki beeilte sich, bei<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 61
Morgengrauen Rodsjanko die frohe Kunde zu übermitteln. Doch die Uhr des Zaren ging<br />
stark nach. Rodsjanko, den im Taurischen Palais bereits Demokraten, <strong>Sozialisten</strong>, Soldaten<br />
und Arbeiterdeputierte bedrängten, antwortete Rußki: »Was Sie vorschlagen, genügt<br />
nicht, die Frage <strong>der</strong> Dynastie steht auf dem Spiel ... Die Truppen gehen überall auf die<br />
Seite <strong>der</strong> Duma und des Volkes über und for<strong>der</strong>n den Thronverzicht zugunsten des<br />
Sohnes unter <strong>der</strong> Regentschaft Michail Alexandrowitschs.« Die Truppen dachten allerdings<br />
we<strong>der</strong> daran den Sohn noch Michail Alexandrowitsch zu for<strong>der</strong>n. Rodsjanko<br />
schrieb hier einfach den Truppen und dem Volke die Losung zu, mit <strong>der</strong> die Duma noch<br />
immer hoffte, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Einhalt gebieten zu können. Wie dem auch sei, das<br />
Zugeständnis des Zaren kam zu spät: »Die Anarchie erreichte ein solches Maß, daß ich<br />
(Rodsjanko) gezwungen war, heute nacht eine Provisorische Regierung zu ernennen.<br />
Das Manifest kam lei<strong>der</strong> zu spät... « Diese majestätischen Worte beweisen, daß <strong>der</strong><br />
Dumavorsitzende inzwischen Zeit gefunden hatte, die über Golizyn vergossenen Tränen<br />
zu trocknen. Der Zar las die Unterhaltung Rodsjankos mit Rußki und schwankte, las sie<br />
wie<strong>der</strong> und wartete ab. Jetzt aber schlugen die Heeresführer Alarm: die Sache betraf ein<br />
wenig auch sie!<br />
General Alexejew veranstaltete in <strong>der</strong> Nacht gewissermaßen ein Plebiszit unter den<br />
Oberkommandierenden <strong>der</strong> Fronten. Es ist gut, daß mo<strong>der</strong>ne <strong>Revolution</strong>en sich unter<br />
Teilnalime des Telegraphen vollziehen und so die ersten Regungen und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>hall<br />
<strong>der</strong> Machthaber auf Papierstreifen für die <strong>Geschichte</strong> erhalten bleiben. Die Verhandlungen<br />
<strong>der</strong> zaristischen Feldmarschälle in <strong>der</strong> Nacht vom 1. zum 2. März bilden ein<br />
unvergleichliches menschliches Dokument. Soll <strong>der</strong> Zar verzichten o<strong>der</strong> nicht? Der<br />
Oberkommandierende <strong>der</strong> Westfront, General Evert, wollte seine Entschließung erst<br />
treffen, nachdem die Generale Rußki und Brussilow sich geäußert haben würden. Der<br />
Oberkommandierende <strong>der</strong> rumänischen Front, General Sacharow, verlangte, daß man<br />
ihm vorerst die Beschlüsse aller übrigen Oberkommandierenden mitteile. Nach langem<br />
Zögern erklärte dieser glorreiche Kämpe, seine heiße Liebe zum Monarchen erlaube es<br />
ihm nicht, sich mit einem so »nie<strong>der</strong>trächtigen Vorschlag« abzufinden; nichtsdestoweniger<br />
empfahl er dem Zaren »heulend«, »zur Vermeidung noch nie<strong>der</strong>trächtigerer<br />
Zumutungen« auf den Thron zu verzichten. Generaladjutant Evert setzte eindringlich die<br />
Notwendigkeit <strong>der</strong> Kapitulation auseinan<strong>der</strong>: »Ich treffe alle Maßnahmen, damit die<br />
Nachrichten über die gegenwärtige Lage in den Hauptstädten nicht in die Armee<br />
dringen, um die sonst unvermeidlichen Unruhen zu unterbinden. Mittel, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
in den Hauptstädten Einhalt zu gebieten, gibt es nicht.« Der Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch<br />
flehte von <strong>der</strong> kaukasischen Front aus den Zaren kniefällig an, das »Übermaß«<br />
auf sich zu nehmen und dem Thron zu entsagen; ein ähnliches Flehen kam von den<br />
Generälen Alexejew, Brussilow und vom Admiral Nepenin. Rußki seinerseits befürwortete<br />
mündlich das gleiche. Ehrfurchtsvoll richteten die Generale sieben Revolverläufe<br />
gegen die Schläfe des vergötterten Monarchen. Aus Angst, den Augenblick eines<br />
Ausgleiches mit <strong>der</strong> neuen Macht zu verpassen, und nicht min<strong>der</strong> aus Angst vor ihren<br />
eigenen Truppen gaben die Heerführer, gewohnt, ihre Positionen zu räumen, dem Zaren<br />
und Obersten Kriegsherrn einmütig den Rat: kampflos von <strong>der</strong> Szene zu verschwinden.<br />
Das war nun nicht mehr das ferne Petrograd, gegen das man, wie es schien, Truppen<br />
schicken konnte, son<strong>der</strong>n es war die Front, von <strong>der</strong> man die Truppen entnehmen sollte.<br />
Nachdem <strong>der</strong> Zar diesen mit solchem Nachdruck versehenen Bericht entgegengenom-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 62
men hatte, entschloß er sich; auf den Thron zu verzichten, den er bereits nicht mehr<br />
besaß. Man verfertigte ein <strong>der</strong> Situation geziemendes Telegramm an Rodsjanko: »Es gibt<br />
kein Opfer, das ich zum wirklichen Wohle und zur Rettung des teuren Mütterchens<br />
Rußland nicht bringen würde. Deshalb bin ich bereit, auf den Thron zugunsten meines<br />
Sohnes zu verzichten, <strong>der</strong> bis zu seiner Volljährigkeit bei mir verbleibt, bei gleichzeitiger<br />
Regentschaft meines Bru<strong>der</strong>s, des Großfürsten Michail Alexandrowitseh. Nikolaus.«<br />
Aber auch dieses Telegramm wurde nicht abgesandt, da die Nachricht eintraf, die<br />
Deputierten Gutschkow und Schulgin seien von <strong>der</strong> Hauptstadt nach Pskow unterwegs.<br />
Das war eine neue Veranlassung, den Entschluß zu vertagen. Der Zar befahl, ihm das<br />
Telegramm zurückzugeben. Er hatte offenbar Angst, zuviel zu bieten, und wartete noch<br />
immer auf tröstliche Nachrichten, richtiger gesagt, er hoffte auf ein Wun<strong>der</strong>. Die beiden<br />
Deputierten empfing <strong>der</strong> Zar um 12 Uhr in <strong>der</strong> Nacht vom 2. zum 3. März. Kein Wun<strong>der</strong><br />
geschah, und es war nicht mehr möglich, auszuweichen. Der Zar erklärte plötzlich, er<br />
könne sich von seinem Sohne nicht trennen - welche wirren Hoffnungen gingen dabei<br />
durch seinen Kopf? -, und unterschrieb den Thronverzicht zugunsten seines Bru<strong>der</strong>s.<br />
Gleichzeitig wurden Dekrete an den Senat betreffs Ernennung des Fürsten Lwow zum<br />
Vorsitzenden des Ministerrats und Nikolai Nikolajewitschs zum Obersten Kriegsherrn<br />
unterzeichnet. Die Familienbefürchtungen <strong>der</strong> Zarin fanden damit gleichsam ihre Bestätigung:<br />
Der verhaßte »Nikolascha« kehrte, zusammen mit den Verschwörern, zur Macht<br />
zurück. Gutschkow wähnte wohl ernsthaft, die <strong>Revolution</strong> würde sich mit dem Kaiserlichen<br />
Kriegsherrn abfinden. Dieser nahm die Ernennung ebenfalls für bare Münze. Er<br />
versuchte einige Tage hindurch sogar, irgendwelche Befehle zu erteilen und zur Erfüllung<br />
<strong>der</strong> patriotischen Pflicht zu ermahnen. Doch die <strong>Revolution</strong> hat ihn schmerzlos<br />
ausgeschieden.<br />
Um den Schein eines freigefaßten Entschlusses zu wahren, wurde das Abdankungsmanifest<br />
mit 3 Uhr nachmittags gezeichnet, unter dem Vorwand, die Entscheidung des<br />
Zaren, dem Thron zu entsagen, sei ursprünglich um diese Stunde gefaßt worden. Aber<br />
den "Entschluß" vom Tage, <strong>der</strong> den Thron an den Sohn, nicht an den Bru<strong>der</strong> übergab,<br />
war ja, in <strong>der</strong> Hoffnung auf eine günstige Wendung des Rades, faktisch zurückgenommen<br />
worden. Doch daran erinnerte niemand. Der Zar machte noch den letzten Versuch,<br />
Haltung zu zeigen vor den verhaßten Deputierten, die ihrerseits die Fälschung des historischen<br />
Aktes, das heißt den Volksbetrug, zuließen. Die Monarchie entfernte sich vom<br />
Schauplatz unter Wahrung ihres Stils. Aber auch ihre Nachfolger blieben sich treu. Ihre<br />
Nachsicht betrachteten sie wahrscheinlich als Großmut des Siegers gegen den Besiegten.<br />
Von dem unpersönlichen Stil seines Tagebuches etwas abweichend, trägt Nikolaus am<br />
2. März ein: »Am Morgen kam Rußki und las mir ein ganz langes Telephongespräch<br />
mit Rodsjanko vor. Nach dessen Worten sei die Lage in Petrograd <strong>der</strong>art, daß ein<br />
Ministerium aus Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Reichsduma ohnmächtig wäre etwas zu tun, denn es<br />
würde von <strong>der</strong> Sozialdemokratischen Partei in <strong>der</strong> Gestalt des Arbeiterkomitees<br />
bekämpft werden. Mein Thronverzicht sei notwendig. Rußki übermittelte dieses<br />
Gespräch ins Hauptquartier an Alexejew und an alle Oberkommandierenden. Um<br />
12.30 Uhr trafen die Antworten ein. Um Rußland zu retten und die Truppen an <strong>der</strong><br />
Front festzuhalten, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Ich willigte ein, und<br />
aus dem Hauptquartier wurde ein Entwurf des Manifestes geschickt. Abends trafen aus<br />
Petrograd Gutschkow und Schulgin ein, mit denen ich eine Unterredung hatte und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 63
denen ich das unterzeichnete, abgeän<strong>der</strong>te Manifest übergab. Um 1 Uhr reiste ich<br />
schweren Herzens aus Pskow ab; ringsherum Verrat, Feigheit, Betrug.«<br />
Die Erbitterung Nikolaus' war, wie man zugeben muß, nicht unbegründet. Noch am 28.<br />
Februar hatte General Alexejew allen Oberkommandierenden <strong>der</strong> Fronten telegraphiert:<br />
»Uns allen obliegt die heilige Pflicht vor Kaiser und Heimat, in den Truppen <strong>der</strong> aktiven<br />
Armee die Treue zu Pflicht und Eid aufrechtzuerhalten.« Und zwei Tage später rief<br />
Alexejew die gleichen Oberkommandierenden <strong>der</strong> Armee auf, die Treue zu "Pflicht und<br />
Eid" zu verletzen. Im Kommandostand fand sich nicht einer, <strong>der</strong> sich für seinen Zaren<br />
einsetzte. Alle sputeten sich, auf das Schiff <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> umzusteigen, in <strong>der</strong> festen<br />
Zuversicht, dort bequeme Kajüten vorzufinden. Generale und Admirale nahmen die<br />
zaristischen Abzeichen herunter und steckten sich rote Bän<strong>der</strong> an. Man erzählte später<br />
nur von einem Gerechten, irgendeinem Korpskommandanten, <strong>der</strong> beim Ablegen des<br />
neuen Eides an Herzschlag verschied. Es ist jedoch nicht erwiesen, daß sein Herz an<br />
verletztem Monarchismus brach und nicht aus an<strong>der</strong>en Gründen. Die zivilen Würdenträger<br />
brauchten, schon ihrer Stellung nach, nicht mehr Mut zu zeigen als die Militärs. Je<strong>der</strong><br />
rettete sich, wie er konnte.<br />
Aber die Uhr <strong>der</strong> Monarchie ging entschieden nicht im gleichen Takt mit <strong>der</strong> Uhr <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Am 3. März, bei Sonnenaufgang, wird Rußki wie<strong>der</strong> zum Apparat geholt.<br />
Rodsjanko und Fürst Lwow for<strong>der</strong>n, das Zarenmanifest zurückzuhalten, es habe sich<br />
wie<strong>der</strong>um als verspätet erwiesen. Mit <strong>der</strong> Thronbesteigung Alexejs - berichten die neuen<br />
Herren ausweichend - würde man sich vielleicht abfinden - wer? -, die Thronbesteigung<br />
Michails hingegen sei völlig unannehmbar. Nicht ohne Bosheit drückte Rußki sein<br />
Bedauern darüber aus, daß die Deputierten <strong>der</strong> Duma, die gestern hier weilten, über Ziel<br />
und Aufgabe ihrer Reise nicht hinreichend informiert gewesen waren. Aber auch die<br />
Deputierten fanden eine Ausrede. »Es lo<strong>der</strong>te für alle unerwartet eine solche Soldatenmeuterei<br />
auf, wie ich sie nie gesehen habe«, erklärte <strong>der</strong> Kammerherr dem General<br />
Rußki, als habe er sein Lebtag nichts an<strong>der</strong>es getan, als Soldatenmeutereien beobachtet.<br />
»Die Proklamierung Michails zum Kaiser würde bedeuten, Öl ins Feuer zu gießen, und<br />
es würde eme erbarmungslose Vernichtung all dessen anheben, was nur zu vernichten<br />
möglich ist.« Wie es sie alle doch gepackt hat, wie es sie schüttelt, rüttelt, herumwirbelt!<br />
Die Generalität schluckt schweigend auch diese neue »nie<strong>der</strong>trächtige Anmaßung« <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Nur Alexejew erleichtert sich das Herz in einer telegraphischen Nachricht an<br />
die Oberkommandierenden: »Die linken Parteien und die Arbeiterdeputierten üben auf<br />
den Dumavorsitzenden einen gewaltigen Druck aus, in den Berichten Rodsjankos fehlt<br />
die nötige Offenheit und Aufrichtigkeit.« Nur Aufrichtigkeit vermißten die Generale in<br />
jenen Stunden!<br />
Aber da hat es sich <strong>der</strong> Zar nochmals überlegt. Bei seiner Ankunft aus Pskow in<br />
Mohilew händigt er seinem früheren Generalstabschef Alexejew zur Weiterbeför<strong>der</strong>ung<br />
nach Petrograd ein Blatt Papier aus mit <strong>der</strong> Einwilligung, den Thron an den Sohn<br />
abzutreten. Diese Kombination erschien ihm doch wohl als die annehmbarste. Nach dem<br />
Bericht Denikins ging Alexekew mit dem Telegramm davon ... sandte es jedoch nicht ab.<br />
Er betrachtete anscheinend jene zwei Manifeste als ausreichend, die bereits an Armee<br />
und Volk bekanntgegeben waren. Der ungleiche Pendelschlag entstand dadurch, daß<br />
nicht nur <strong>der</strong> Zar und dessen Berater, son<strong>der</strong>n auch die Dumaliberalen langsamer dachten<br />
als die <strong>Revolution</strong>.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 64
Am 8. März, vor seiner endgültigen Abreise aus Mohilew, schrieb <strong>der</strong> formell bereits<br />
verhaftete Zar einen Appell an die Truppen, <strong>der</strong> mit den Worten schloß: »Wer jetzt an<br />
Frieden denkt, wer ihn wünscht, verrät sein Vaterland, ist ein Hochverräter!« Das war<br />
ein ihm von irgendwem eingegebener Versuch, die Beschuldigung des Germanophilentums<br />
den Händen <strong>der</strong> Liberalen zu entreißen. Der Versuch blieb ohne Folgen: man wagte<br />
nicht mehr, den Appell zu veröffentlichen.<br />
So endete eine Regierung, die eine ununterbrochene Kette von Mißerfolgen, Unglück,<br />
Unheil und Verbrechen war, beginnend mit <strong>der</strong> Katastrophe auf Chodynka, während <strong>der</strong><br />
Krönungsfeierlichkeiten, über Erschießungen Streiken<strong>der</strong> und aufständischer Bauern,<br />
über den Russisch-Japanischen Krieg, über die schreckliche Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> von 1905, über zahllose Hinrichtungen, Strafexpeditionen und nationale<br />
Pogrome hinweg, abschließend mit <strong>der</strong> wahnwitzigen und infamen Beteiligung Rußlands<br />
an dem wahnwitzigen und infamen Weltkrieg.<br />
Nach seiner Ankuft in Zarskoje Selo, wo er zusammen mit seiner Familie im Schlosse<br />
gefangengehalten wurde, sagte, nach den Worten <strong>der</strong> Wyrubowa, <strong>der</strong> Zar leise vor sich<br />
hin »Es gibt unter Menschen keine Gerechtigkeit.« Indes sind gerade diese Worte<br />
unwi<strong>der</strong>legbares Zeugnis dafür, daß es eine historische Gerechtigkeit gibt, wenn sie sich<br />
auch manchmal verspätet.<br />
Die Ähnlichkeit des letzten Zarenpaares <strong>der</strong> Romanows mit dem französischen<br />
Königspaar aus <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Großen <strong>Revolution</strong> drängt sich von selbst auf. In <strong>der</strong><br />
Literatur wurde bereits darauf verwiesen, doch nur flüchtig und ohne aus dieser Ähnlichkeit<br />
Schlüsse zu ziehen. Diese Ähnlichkeit ist indes keinesfalls so zufällig, wie es auf den<br />
ersten Blick erscheint, und gibt wertvolles Material für Folgerungen.<br />
Voneinan<strong>der</strong> durch fünfviertel Jahrhun<strong>der</strong>te getrennt, stellen Zar und König in gewissen<br />
Augenblicken zwei Akteure dar, die die gleiche Rolle spielen. Passiver, lauern<strong>der</strong>,<br />
aber rachsüchtiger Treubruch bilden die hervorstechendste Eigenschaft bei<strong>der</strong>, mit dem<br />
Unterschiede, daß sie sich bei Ludwig hinter einer zweifelhaften Gutmütigkeit verbarg,<br />
während sie bei Nikolaus Umgangsform war. Beide machten den Eindruck von<br />
Menschen, die ihr Gewerbe belastet, die aber gleichzeitig nicht gewillt sind, auch nur das<br />
kleinste Teilchen ihrer Rechte, von denen sie keinen Gebrauch machen können, abzutreten.<br />
Die Tagebücher bei<strong>der</strong>, sogar im Stil o<strong>der</strong> im Fehlen des Stiles verwandt, enthüllen<br />
in gleicher Weise eine drückende seelische Leere.<br />
Die Österreicherin und die Deutsche aus Hessen wie<strong>der</strong>um bilden ihrerseits eine<br />
Symmetrie. Die Königinnen erheben sich über die Könige nicht nur ihrem physischen,<br />
son<strong>der</strong>n auch ihrem moralischen Wuchse nach. Marie Antoinette ist weniger fromm als<br />
Alexandra Feodorowna und zum Unterschiede von dieser den Vergnügungen heiß<br />
ergeben Beide hassen in gleicher Weise das Volk, ertragen den Gedanken an Zugeständnisse<br />
nicht, mißtrauen in gleicher Weise dem Mut ihrer Männer und betrachten sie von<br />
oben herab, Antoinette mit einem Schatten von Verachtung, Alexandra mit Mitleid.<br />
Wenn Autoren, die dem Petersburger Hof nähergekommen waren, uns in ihren Memoiren<br />
versichern, daß Nikolaus, wäre er eine Privatperson gewesen, in guter Erinnerung<br />
geblieben wäre, dann reproduzieren sie einfach das alte Klischee <strong>der</strong> wohlwollenden<br />
Gutachten über Ludwig XVI., wodurch sie uns aber we<strong>der</strong> in bezug auf die <strong>Geschichte</strong><br />
noch in bezug auf die menschliche Natur son<strong>der</strong>lich bereichern.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 65
Wir haben bereits gehört, wie sich Fürst Lwow entrüstete, als er während <strong>der</strong> tragischen<br />
Ereignisse <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> anstatt eines nie<strong>der</strong>geschlagenen Zaren ein »lustiges,<br />
munteres Kerlchen in himbeerroter Hemdbluse« vorfand. Ohne es zu wissen, hatte<br />
<strong>der</strong> Fürst das Gutachten des Gouverneurs Morris reproduziert, <strong>der</strong> im Jahre 1790 in<br />
Washington über Ludwig schrieb: »Was kann man von einem Menschen erwarten, <strong>der</strong> in<br />
seiner Lage immer guten Mutes ißt, trinkt, schläft und lacht; von diesem netten Kerl, <strong>der</strong><br />
lustiger ist als sonst einer?«<br />
Wenn Alexandra Feodorowna drei Monate vor dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie prophezeit:<br />
»Alles wendet sich zum Guten, die Träume unseres Freundes besagen so viel!«, wie<strong>der</strong>holt<br />
sie nur Marie Antoinette, die einen Monat vor dem Sturze des Königtums schreibt:<br />
»Ich fühle frischen Mut in mir, und etwas sagt mir, daß wir bald glücklich und gerettet<br />
sein werden.« Untergehend sehen beide rosige Träume.<br />
Einige Elemente <strong>der</strong> Ähnlichkeit tragen selbstverständlich zufälligen Charakter und<br />
besitzen nur das Interesse historischer Anekdoten. Unermeßlich wichtiger sind jene<br />
Züge, die durch die gewaltige Macht <strong>der</strong> Verhältnisse aufgepfropft o<strong>der</strong> geradezu aufgedrängt<br />
wurden und ein grelles Licht werfen auf das Verhältnis zwischen Persönlichkeit<br />
und objektiven Faktoren <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>.<br />
»Er konnte nicht wollen - das ist <strong>der</strong> hervorragende Zug seines Charakters«, sagte ein<br />
reaktionärer französischer Historiker von Ludwig. Diese Worte scheinen wie über<br />
Nikolaus geschrieben. Beide konnten nicht wollen. Dafür aber konnten beide nicht-wollen.<br />
Doch was hätten denn eigentlich diese letzten Vertreter einer hoffnungslos verlorenen<br />
historischen Sache noch »wollen« können?<br />
»Er hörte gewöhnlich zu, lächelte, aber nur selten entschloß er sich zu etwas. Sein<br />
erstes Wort war in <strong>der</strong> Regel nein.« Über wen ist es? Wie<strong>der</strong>um über Capet. Aber dann<br />
war doch das ganze Verhalten Nikolaus' ein durchgehendes Plagiat! Beide gehen dem<br />
Abgrunde zu »mit über die Augen geschobener Krone«. Ist es denn leichter, einem<br />
Abgrund, dem man doch nicht entrinnen kann, mit offenen Augen entgegenzugehen?<br />
Was würde sich in <strong>der</strong> Tat geän<strong>der</strong>t haben, wenn sie die Krone in den Nacken geschoben<br />
hätten?<br />
Man könnte den Berufspsychologen empfehlen, ein Lesebuch <strong>der</strong> parallelen Äußerungen<br />
von Nikolaus und von Ludwig, von Alexandra und von Antoinette und <strong>der</strong>en<br />
Nächsten über sie zusammenzustellen. An Material wäre kein Mangel, und das Ergebnis<br />
würde ein äußerst lehrreiches historisches Zeugnis zugunsten <strong>der</strong> materialistischen<br />
Psychologie sein: gleichartige (selbstverständlich nicht gleiche) Reize ergeben unter<br />
gleichartigen Bedingungen gleichartige Reflexe. Je mächtiger <strong>der</strong> Reizerreger ist, um so<br />
schneller überwindet er die individuellen Beson<strong>der</strong>heiten. Auf Kitzeln reagieren die<br />
Menschen verschieden, auf glühendes Eisen gleichartig. Wie <strong>der</strong> Dampfhammer eine<br />
Kugel und einen Würfel in gleicher Weise in eine Scheibe verwandelt, so platten unter<br />
dem Druck zu großer und unabwendbarer Ereignisse auch wi<strong>der</strong>strebende »Individualitäten«<br />
ab, verlieren ihre Umrisse.<br />
Ludwig und Nikolaus waren Lctztgeborene von Dynastien, die stürmisch gelebt hatten.<br />
Eine gewisse Ausgeglichenheit des einen und des an<strong>der</strong>en, die Ruhe und die "Heiterkeit"<br />
in schwierigen Augenblicken, waren anerzogene Äußerungen <strong>der</strong> Dürftigkeit ihrer<br />
inneren Kräfte, <strong>der</strong> Schwäche <strong>der</strong> nervösen Entladungen, <strong>der</strong> Armseligkeit <strong>der</strong> geistigen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 66
Ressourcen. Moralische Kastraten, waren beide jeglicher Phantasie und schöpferischer<br />
Fähigkeit bar, besaßen gerade noch so viel Geist, um ihre Trivialität zu fühlen, und<br />
hegten feindseligen Neid gegen alles Begabte und- Bedeutende. Beide hatten das Schicksal,<br />
ein Land zu regieren unter Bedingungen tiefer innerer Krisen und des revolutionären<br />
Erwachens des Volkes. Beide wehrten sich gegen das Eindringen neuer Ideen und den<br />
Ansturm feindlicher Mächte. Unentschlossenheit, Heuchelei und Verlogenheit waren bei<br />
beiden weniger <strong>der</strong> Ausdruck persönlicher Schwäche als vielmehr einer völligen Unmöglichkeit,<br />
sich auf den ererbten Positionen zu behaupten.<br />
Und wie verhielt es sich mit den Frauen? In noch höherem Grade als Antoinette wurde<br />
Alexandra durch die Ehe mit dem unbeschränkten Herrscher eines mächtigen Landes auf<br />
die höchsten Gipfel <strong>der</strong> Träumereien einer Prinzessin, und noch dazu einer so provinziellen<br />
wie <strong>der</strong> hessischen, emporgehoben. Beide waren bis zum Rand vom Bewußtsein ihrer<br />
hohen Mission erfüllt. Antoinette mehr auf frivole Art, Alexandra im Geiste <strong>der</strong> protestantischen<br />
Heuchelei, übersetzt in die kirchlich-slawische Sprache. Mißerfolge <strong>der</strong><br />
Regierung und wachsende Unzufriedenheit des Volkes erschütterten erbarmungslos jene<br />
phantastische Welt, welche diese fanatischen, aber letzten Endes doch nur hühnerhaft<br />
kleinen Gehirne sich aufgebaut hatten. Daher die wachsende Erbitterung, die nagende<br />
Feindseligkeit gegen ein fremdes Volk, das sich vor ihnen nicht gebeugt hatte; Haß<br />
gegen solche Minister, die auch nur im geringsten dieser feindlichen Welt, das heißt dem<br />
Lande Rechnung tragen wollten; Entfremdung sogar vom eigenen Hofe und ewiges<br />
Gekränktsein durch den Ehemann, <strong>der</strong> die in <strong>der</strong> Brautzeit erweckten Hoffnungen nicht<br />
erfüllt hat.<br />
Historiker und Biographen psychologischer Richtung suchen und entdecken nicht<br />
selten Rein-Persönliches und Zufälliges dort, wo nur eine Brechung großer historischer<br />
Kräfte in einer Persönlichkeit stattfindet. Es ist dies <strong>der</strong>selbe Sehfehler wie bei den<br />
Hofleuten, die in dem letzten <strong>russischen</strong> Zaren einen geborenen "Pechvogel" erblickten.<br />
Er selbst glaubte ebenfalls, daß er unter einem ungünstigen Stern geboren sei. In<br />
Wirklichkeit ergaben sich seine Mißerfolge aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen zwischen den alten<br />
Zielen, die ihm seine Ahnen vererbt hatten, und den neuen historischen Bedingungen, in<br />
die er hineingestellt war. Wenn die Alten sagten, Jupiter raube dem den Verstand, den er<br />
vernichten wolle, sprachen sie in <strong>der</strong> Form des Aberglaubens nur das Ergebnis tiefer<br />
historischer Beobachtungen aus. Die Worte Goethes: »Vernunft wird Unsinn« enthalten<br />
den gleichen Gedanken von dem unpersönlichen Jupiter <strong>der</strong> historischen Dialektik, <strong>der</strong><br />
überlebten historischen Institutionen den Sinn raubt und <strong>der</strong>en Verteidiger zu Mißerfolg<br />
verurteilt. Die Rollentexte <strong>der</strong> Romanows und <strong>der</strong> Capets waren durch die Entwicklung<br />
des historischen Dramas vorgeschrieben. Den Akteuren blieben höchstens die Nuancen<br />
<strong>der</strong> Interpretation übrig. Das Mißgeschick Nikolaus' wie Ludwigs wurzelte nicht in ihrem<br />
persönlichen Horoskop, son<strong>der</strong>n in dem historischen Horoskop <strong>der</strong> ständisch-bürokratischen<br />
Monarchie. Sie waren vor allem Letztgeborene des Absolutismus. Ihre moralische<br />
Nichtigkeit, die sich aus ihrem dynastischen Epigonentum ergab, verlieh diesem einen<br />
beson<strong>der</strong>s unheilvollen Charakter.<br />
Man könnte erwi<strong>der</strong>n: hätte Alexan<strong>der</strong> III. weniger getrunken, er hätte viel länger<br />
gelebt, die <strong>Revolution</strong> wäre mit einem völlig an<strong>der</strong>sgearteten Zaren zusammengestoßen,<br />
und eine Parallele mit Ludwig XVI. wäre nicht gegeben. Ein solcher Einwand aber<br />
berührt das oben Dargestellte nicht im geringsten. Wir beabsichtigen ja nicht, die Bedeu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 67
tung des Persönlichen in <strong>der</strong> Mechanik des historischen Prozesses o<strong>der</strong> die Bedeutung<br />
des Zufälligen im Persönlichen wegzuleugnen. Es ist nur nötig, daß man die historische<br />
Persönlichkeit mit all ihren Beson<strong>der</strong>heiten nicht als eine bloße Aufzählung psychologischer<br />
Züge nimmt, son<strong>der</strong>n als eine aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen<br />
entstandene und auf diese reagierende lebendige Realität. Wie eine Rose nicht aufhört zu<br />
duften, weil ein Naturwissenschaftler darauf hinweist, durch welche Ingredienzien des<br />
Bodens und <strong>der</strong> Atmosphäre sie sich ernährt, so beraubt auch die Aufdeckung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Wurzeln einer Persönlichkeit diese nicht ihres Aromas o<strong>der</strong> ihres Gestankes.<br />
Gerade die oben angestellte Erwägung über eine längere Lebensdauer Alexan<strong>der</strong>s III.<br />
kann dazu beitragen, dasselbe Problem von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite zu beleuchten. Wir wollen<br />
annehmen, daß ein Alexan<strong>der</strong> III. sich im Jahre 1904 nicht in einen Krieg mit Japan<br />
eingelassen hätte. Damit allein wäre die erste <strong>Revolution</strong> hinausgeschoben worden. Bis<br />
zu welchem Zeitpunkt? Es ist möglich, daß die <strong>Revolution</strong> von 1905, das heißt die erste<br />
Kraftprobe, das erste Loch im System des Absolutismus, eine einfache Einleitung zu <strong>der</strong><br />
zweiten, <strong>der</strong> republikanischen, und zu <strong>der</strong> dritten, <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> gebildet<br />
haben würde. Aber darüber sind nur mehr o<strong>der</strong> weniger interessante Mutmaßungen<br />
möglich. Es ist jedenfalls unbestreitbar, daß die <strong>Revolution</strong> sich nicht aus dem Charakter<br />
Nikolaus' II. ergeben hat und daß nicht Alexan<strong>der</strong> III. ihre Aufgaben gelöst hätte. Es<br />
genügt, daran zu erinnern, daß sich nirgendwo und niemals <strong>der</strong> Übergang vom feudalen<br />
zum bürgerlichen Regime ohne gewaltsame Erschütterungen vollzog. Erst sahen wir dies<br />
in China, dann beobachteten wir es in Indien. Das Äußerste, was man sagen kann, ist,<br />
daß die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Politik einer Monarchie, die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Persönlichkeit<br />
des Monarchen die <strong>Revolution</strong> zu beschleunigen o<strong>der</strong> zu verzögern und ihrem<br />
äußeren Verlauf einen gewissen Stempel aufzudrücken imstande ist.<br />
Mit welch wüten<strong>der</strong> und ohnmächtiger Beharrlichkeit versuchte <strong>der</strong> Zarismus noch in<br />
seinen allerletzten Monaten, Wochen und Tagen sich zu behaupten, während die Partie<br />
bereits hoffnungslos verloren war.<br />
Fehlte es Nikolaus selbst an Willen, so ersetzte die Zarin den Mangel. Rasputin war<br />
das Werkzeug <strong>der</strong> Beeinflussung für eine Clique, die verzweifelt um ihre Selbsterhaltung<br />
kämpfte. Sogar in diesem engen Maßstabe wird die Person des Zaren von einer Gruppe<br />
absorbiert, die ein Stück Vergangenheit und <strong>der</strong>en letzte Konvulsionen darstellt. Die<br />
"Politik" <strong>der</strong> Spitze in Zarskoje Selo bestand angesichts <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> aus Reflexen<br />
eines zu Tode gehetzten und ermatteten Raubtieres. Verfolgt man in <strong>der</strong> Steppe auf<br />
einem schnellen Automobil lange einen Wolf, dann bricht das Tier schließlich zusammen<br />
und bleibt entkräftet liegen. Probiert aber, ihm ein Halsband anzulegen, es wird versuchen,<br />
euch zu zerfleischen o<strong>der</strong> mindestens zu verletzen. Bleibt ihm in seiner Lage<br />
an<strong>der</strong>es übrig?<br />
Ja, wähnten die Liberalen. Anstatt rechtzeitig mit <strong>der</strong> privilegierten Bourgeoisie ein<br />
Abkommen zu treffen und so die <strong>Revolution</strong> abzuwenden - also lautet die Anklageschrift<br />
des Liberalismus gegen den letzten Zaren -, verweigerte Nikolaus hartnäckig jedes<br />
Zugeständnis, zögerte sogar in den allerletzten Tagen, schon unter dem Messer, wo jede<br />
Minute zählte, feilschte mit dem Schicksal und versäunite so die letzte Möglichkeit. Das<br />
klingt alles sehr überzeugend. Wie schade nur, daß <strong>der</strong> Liberalismus, <strong>der</strong> so unfehlbare<br />
Mittel für die Errettung <strong>der</strong> Monarchie wußte, für sich solche Mittel nicht fand.<br />
Es wäre unsinnig, zu behaupten, <strong>der</strong> Zarismus habe niemals und unter keinen Umstän-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 68
den Zugeständnisse gemacht. Er hat sie gemacht, soweit es seine Selbsterhaltung erfor<strong>der</strong>te.<br />
Nach den Nie<strong>der</strong>lagen auf<strong>der</strong> Krim führte Alexan<strong>der</strong> II. eine halbe Befreiung <strong>der</strong><br />
Bauernschaft durch und eine Reihe liberaler Reformen auf dem Gebiete des Semstwo,<br />
<strong>der</strong> Justiz, <strong>der</strong> Presse, <strong>der</strong> Lehranstalten und so weiter. Der Zar selbst erklärte damals den<br />
Leitgedanken seiner Reformen folgen<strong>der</strong>maßen: die Bauern von oben befreien, damit sie<br />
sich nicht von unten befreien. Unter dem Drucke <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> gab Nikolaus II.<br />
eine halbe Konstitution. Stolypin machte dem bäuerlichen Gemeindebesitz den Garaus,<br />
um die Arena <strong>der</strong> kapitalistischen Kräfte zu erweitern. Alle diese Reformen hatten für<br />
den Zarisinus jedoch nur insofern einen Sinn, als die Teilzugeständnisse das Ganze, das<br />
heißt die Grundlagen <strong>der</strong> ständischen Gesellschaft und <strong>der</strong> Monarchie selbst unversehrt<br />
ließen. Sobald die Folgen <strong>der</strong> Reformen diese Grenzen zu überschreiten drohten, wich<br />
die Monarchie unverzüglich zurück. Alexan<strong>der</strong> II. verübte in <strong>der</strong> zweiten Hälfte seiner<br />
Regierung Diebstahl an den Reformen <strong>der</strong> ersten Hälfte. Alexan<strong>der</strong> III. ging auf dem<br />
Wege <strong>der</strong> Konterreformen noch weiter. Nikolaus II. machte im Oktober 1905 vor <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> einen Rückzug, löste sodann die von ihm selbst geschaffene Duma wie<strong>der</strong>holt<br />
auf und vollzog, sobald die <strong>Revolution</strong> erlahmt war, einen Staatsstreich. Im Laufe<br />
von drei Vierteln eines Jahrhun<strong>der</strong>ts - rechnet man seit den Reformen Alexan<strong>der</strong> II. geht<br />
ein bald unterirdischer, bald offener Kampf <strong>der</strong> geschichtlichen Kräfte, <strong>der</strong> weit über die<br />
persönlichen Eigenschaften einzelner Zaren hinausragt und mit dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie<br />
endet. Nur in dem geschichtlichen Rahmen dieses Prozesses kann man den Platz für<br />
einzelne Zaren, <strong>der</strong>en Charaktere und "Biographien" finden.<br />
Auch <strong>der</strong> selbstherrlichste aller Despoten ähnelt recht wenig einer "freien" Individualität,<br />
die willkürlich den Ereignissen ihren Stempel aufdrückt. Er ist stets nur <strong>der</strong> gekrönte<br />
Agent <strong>der</strong> privilegierten Klassen, die die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen. Haben<br />
diese Klassen ihre Mission nicht erschöpft, dann steht auch die Monarchie fest und ist<br />
selbstsicher. Dann verfügt sie über einen zuverlässigen Machtapparat und über eine<br />
unbeschränkte Auswahl an Exekutoren, weil die fähigsten Menschen noch nicht in das<br />
Lager des Feindes übergegangen sind. Dann kann <strong>der</strong> Monarch persönlich o<strong>der</strong> vermittels<br />
seiner Günsthnge zum Träger großer und fortschrittlicher historischer Aufgaben<br />
werden. An<strong>der</strong>s, wenn die Sonne <strong>der</strong> alten Gesellschaft sich endgültig dem Untergange<br />
zuneigt: aus Organisatoren des nationalen Lebens verwandeln sich die privilegierten<br />
Klassen in eine parasitäre Wucherung; mit dem Verlust ihrer führenden Funktion verlieren<br />
sie das Bewußtsein ihrer Mission und den Glauben an ihre Kräfte; die Unzufriedenheit<br />
mit sich selbst verwandeln sie in die Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> Monarchie; die<br />
Dynastie wird isoliert; <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> ihr bis zu Ende ergebenen Menschen verengt sich;<br />
ihr Niveau sinkt; die Gefahren aber nehmen unterdes zu; die neuen Kräfte bedrängen; die<br />
Monarchie büßt die Fähigkeit zu irgendeiner schöpferischen Initiative ein; sie verteidigt<br />
sich, kämpft, beginnt den Rückzug - ihre Handlungen bekommen den Automatismus<br />
primitiver Reflexe. Diesem Schicksal entging auch die halbasiatische Despotie <strong>der</strong><br />
Romanows nicht.<br />
Betrachtet man den in Agonie liegenden Zatismus sozusagen im vertikalen<br />
Querschnitt, dann erscheint Nikolaus als die Achse einer Clique, <strong>der</strong>en Wurzeln in die<br />
hoffnungslos verdammte Vergangenheit zurückgehen. Im horizontalen Querschnitt <strong>der</strong><br />
historischen Monarchie gesehen, ist Nikolaus das letzte Glied einer dynastischen Kette.<br />
Seine nächsten Ahnen, die zu ihrer Zeit ebenfalls den Kollektiven <strong>der</strong> Sippe, <strong>der</strong> Stände,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 69
<strong>der</strong> Bürokratie angehörten, wenn auch größeren, haben verschiedene Mittel und Methoden<br />
<strong>der</strong> Verwaltung ausprobiert, um das alte soziale Regime vor dem drohenden Schicksal<br />
zu bewahren, und haben trotzdem Nikolaus ein chaotisches Reich vermacht, in dessen<br />
Leib die <strong>Revolution</strong> reifte. Wenn ihm eine Wahl gelassen war, so nur zwischen den<br />
verschiedenen Wegen des Unterganges.<br />
Der Liberalismus träumte von einer Monarchie nach britischem Muster. Hat sich aber<br />
<strong>der</strong> Parlamentarismus an <strong>der</strong> Themse auf friedlich evolutionärem Wege entwickelt, o<strong>der</strong><br />
ist er etwa die Frucht <strong>der</strong> "freien" Einsicht eines einzelnen Monarchen? Nein, er hat sich<br />
als Abschluß eines Kampfes herausgebildet, <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te gedauert und in dem einer<br />
<strong>der</strong> Könige sein Haupt am Kreuzwege lassen mußte.<br />
Die hier skizzierte historisch-psychologische Gegenüberstellung <strong>der</strong> Romanows und<br />
<strong>der</strong> Capets kann man mit vollem Erfolg auf das britische Königspaar aus <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong><br />
ersten englischen <strong>Revolution</strong> ausdehnen. Karl 1. wies im wesentlichen die gleichen Züge<br />
auf, mit denen die Memoirenschreiber und Historiker mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> begründet<br />
Ludwig XVI. und Nikolaus II. bedenken. »Karl bleibt passiv«, schreibt Montague, »gab<br />
dort nach, wo er keinen Wi<strong>der</strong>stand zu leisten vermocht hätte, griff, wenn auch unwillig,<br />
zur Täuschung und gewann we<strong>der</strong> Popularität noch Vertrauen.« »Er war kein stumpfer<br />
Mensch«, sagt ein an<strong>der</strong>er Historiker über Karl Stuart, »doch fehlte ihm Charakterstärke<br />
... Die Rolle des bösen Verhängnisses in seinem Leben spielte seine Frau, Henriette von<br />
Frankreich, die Schwester Ludwigs XIII., von den Ideen des Absolutismus noch tiefer<br />
durchdrungen als Karl ...« Wir wollen die Charakteristik dieses dritten - in chronologischer<br />
Reihenfolge ersten - Königspaares, das von <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> zermalmt<br />
wurde, nicht detaillieren. Vermerkt sei nur, daß auch in England <strong>der</strong> Haß sich vor allem<br />
gegen die Königin als eine Französin und Papistin konzentrierte, die des Techtelmechtels<br />
mit Rom, <strong>der</strong> Verschwörung mit den aufrührerischen Irlän<strong>der</strong>n und <strong>der</strong> Intrigen am<br />
französischen Hof beschuldigt wurde.<br />
England aber hatte immerhin Jahrhun<strong>der</strong>te zu seiner Verfügung. Es war <strong>der</strong> Pionier <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Zivilisation. Es stand nicht unter dem Joch an<strong>der</strong>er Nationen, im Gegenteil,<br />
hielt eher diese unter seinem Joch. Es beutete die ganze Welt aus. Das mil<strong>der</strong>te die<br />
inneren Wi<strong>der</strong>sprüche, häufte Konservativismus an, sorgte für Überfluß und Stetigkeit<br />
<strong>der</strong> Fettablagerungen in Form <strong>der</strong> parasitären Schicht <strong>der</strong> Lords, <strong>der</strong> Monarchie, <strong>der</strong><br />
Lordkammer und <strong>der</strong> Staatskirche. Infolge <strong>der</strong> historisch ganz beson<strong>der</strong>s hevorzugten<br />
Entwicklung des bürgerlichen England ist <strong>der</strong> mit Elastizität verbundene Konservativismus<br />
aus den Institutionen in die Sitten übergegangen. Darüber sich zu begeistern haben<br />
manche kontinentalen Philister von <strong>der</strong> Art des <strong>russischen</strong> Professors Miljukow o<strong>der</strong> des<br />
Austromarxisten Otto Bauer bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört. Aber gerade jetzt,<br />
wo England, in <strong>der</strong> ganzen Welt bedrängt, die letzten Hilfsquellen seiner ehemaligen<br />
Vorzugsstellung vergeudet, verliert sein Konservativismus die Elastizität und verwandelt<br />
sich, selbst in Gestalt <strong>der</strong> Labouristen, in die unbändigste Reaktion. Angesichts <strong>der</strong><br />
indischen <strong>Revolution</strong> findet <strong>der</strong> "Sozialist" Macdonald keine an<strong>der</strong>en Methoden als jene,<br />
die Nikolaus II. <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> entgegenstellte.<br />
Nur ein Blin<strong>der</strong> kann übersehen, daß Großbritannien gigantischen revolutionären<br />
Erschütterungen entgegengeht, wobei die Trümmer seines Konservativismus, seiner<br />
Weltherrschaft und seiner heutigen Staatsmaschinerie spurlos untergehen werden. Nicht<br />
im geringsten schlechter und nicht weniger von Blindheit geschlagen als seinerzeit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 70
Nikolaus, bereitet Macdonald diese Erschütterungen vor. Wie wir sehen, ist dies<br />
ebenfalls keine schlechte Illustration zur Frage nach <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> "freien" Persönlichkeit<br />
in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>!<br />
Wie aber sollte Rußland mit seiner verspäteten Entwicklung, als Nachhut aller europäischen<br />
Nationen, mit dem dürftigen ökonomischen Fundament unter den Füßen, einen<br />
"elastischen Konservativismus" <strong>der</strong> gesellschaftlichen Formen - offenbar den beson<strong>der</strong>en<br />
Bedürfnissen des profrssoralen Liberalismus und dessen linken Schattens, des reformistisehen<br />
Sozialismus, entsprechend herausgebildet haben? Rußland war zu lange zurückgeblieben,<br />
- und als <strong>der</strong> Weltimperialismus es mit seiner Schraube erfaßte, war es gezwungen,<br />
seine politische <strong>Geschichte</strong> in einem sehr zusammertgedrängten Lehrkursus<br />
durchaunehmen. Wenn Nikolaus dem Liberalismus entgegengekommen wäre und<br />
Stürmer durch Miljukow ersetzt hätte, die Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse wäre in <strong>der</strong> Form<br />
etwas an<strong>der</strong>s geworden, aber nicht in ihrem Wesen. Hatte doch einst Ludwig gerade<br />
diesen Weg in <strong>der</strong> zweiten Etappe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beschritten, indem er die Gironde an<br />
die Regierung berief: das hat aber we<strong>der</strong> Ludwig selbst, noch später die Gironde vor <strong>der</strong><br />
Guillotine bewahrt. Die angehäuften sozialen Wi<strong>der</strong>sprüche mußten nach außen explodieren<br />
und explodierend die Aufräumungsarbeit zu Ende führen. Vor dem Ansturm <strong>der</strong><br />
Volksmassen, die ihre Unbill und Plagen, ihre Demütigungen, Leidenschaften, Hoffnungen,<br />
Illusionen und Ziele endlich in die offene Arena hinausgetragen hatten, konnten die<br />
Kombinationen <strong>der</strong> Spitzen <strong>der</strong> Monarchie und des Liberalismus nur von episodischer<br />
Bedeutung sein und allenfalls die Reihenfolge <strong>der</strong> Ereignisse, vielleicht auch <strong>der</strong>en Zahl<br />
beeinflussen, nicht aber die Gesamtentwicklung des Dramas und noch weniger dessen<br />
unerbittliche Lösung.<br />
Fünf Tage (23.-27. Februar 1917)<br />
Der 23. Februar war internationaler Frauentag. In sozialdemokratischen Kreisen war<br />
geplant, ihn in üblicher Weise, durch Versammlungen, Reden und Flugblätter, auszuzeichnen.<br />
Keinem kam in den Sinn, daß <strong>der</strong> Frauentag zum ersten Tag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
werden sollte. Nicht eine einzige Organisation rief an diesem Tage zu Streiks auf Mehr<br />
noch, die bolschewistische Organisation, und zwar eine <strong>der</strong> aktivsten, das Komitee des<br />
durchweg proletarischen Wyborger Bezirks, hielt entschieden vor Streiks zurück. Nach<br />
dem Zeugnis Kajurows, eines <strong>der</strong> Arbeiterführer dieses Bezirkes, war die Stimmung <strong>der</strong><br />
Massen sehr - gespannt, je<strong>der</strong> Streik drohte in einen offenen Zusammenstoß umzuschlagen<br />
Da aber das Komitee <strong>der</strong> Ansicht war, die Zeit für Kampfhandlungen sei noch nicht<br />
gekommen, die Partei noch nicht genügend gefestigt, die Arbeiter hätten mit den Soldaten<br />
zu wenig Verbindungen, beschloß es, nicht zum Streik aufzurufen, son<strong>der</strong>n Vorbereitungen<br />
zu treffen für ein Hervortreten in einer unhestimmten Zukunft. Diese Linie vertrat<br />
das Komitee am Vorabend des 23. Februar, und es schien, daß alle sie billigten. Am<br />
an<strong>der</strong>n Morgen jedoch traten den Direktiven zuwi<strong>der</strong> die Textilarbeitennnen einiger<br />
Fabriken in den Ausstand und entsandten Delegierte zu den Metallarbeitern mit <strong>der</strong><br />
Auffor<strong>der</strong>ung, den Streik zu unterstützen. »Schweren Herzens«, schreibt Kajurow,<br />
gingen die Bolschewiki darauf ein, denen sich die mensehewistischen und sozialrevolutionären<br />
Arbeiter anschlossen. Wenn aber Massenstreik, dann müsse man alle auf die<br />
Straße rufen und sich selbst an die Spitze stellen: diesen Beschluß setzte Kajurow durch,<br />
und das Wyborger Komitee mußte ihm beistimmen. »Der Gedanke an eine Aktion reifte<br />
in den Arbeitern schon längst, nur ahnte in diesem Augenblick niemand, welche Formen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 71
sie annehmen würde.« Merken wir uns dieses Zeugnis eines Teilnehmers, das für das<br />
Verständnis <strong>der</strong> Mechanik <strong>der</strong> Ereignisse sehr wichtig ist.<br />
Es galt von vornherein für unzweifelhaft, daß im Falle einer Demonstration die Soldaten<br />
aus den Kasernen gegen die Arbeiter auf die Straße geführt werden würden. Was<br />
wäre die Folge gewesen? Es ist Krieg, die Behörden sind zu Späßen nicht aufgelegt.<br />
An<strong>der</strong>erseits - <strong>der</strong> "Reservist" im Kriege ist nicht <strong>der</strong> alte Soldat <strong>der</strong> Ka<strong>der</strong>armee. Ist er<br />
so gefährlich? Dieses Thema wurde in revolutionären Kreisen zwar viel besprochen,<br />
doch mehr alastrakt, denn niemand, buchstäblich niemand - das darf man auf Grund des<br />
gesamten vorhandenen Materials kategorisch behaupten - dachte damals daran, daß <strong>der</strong><br />
23. Februar zum Ausgangspunkte des entscheidenden Angriffs auf den Absolutismus<br />
werden sollte. Es war die Rede von einer Demonstration mit unbestimmten, jedenfalls<br />
aber beschränkten Perspektiven.<br />
Die Tatsache bleibt also bestehen, daß die Februarrevolution von unten begann nach<br />
Überwindung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stände <strong>der</strong> eigenen revolutionären Organisationen, wobei die<br />
Initiative von dem am meisten unterdrückten und unterjochten Teil des Proletariats, den<br />
Textilarbeiterinnen, unter denen, wie man sich denken kann, nicht wenig Soldatenfrauen<br />
waren, spontan ergriffen wurde. Den letzten Anstoß gaben die immer länger werdenden<br />
Brotschlangen. Ungefähr 90.000 Arbeiterinnen und Arbeiter streikten an diesem Tage.<br />
Die Kampfstimmung entlud sich in Demonstrationen, Versammlungen und Zusammenstößen<br />
mit <strong>der</strong> Polizei. Die Bewegung entwickelte sich im Wyborger Bezirk mit seinen<br />
großen Betrieben, von wo sie auf die Petersburger Seite übersprang. In den übrigen<br />
Stadtteilen gab es nach dem Zeugnis <strong>der</strong> Ochrana keine Streiks und keine Demonstrationen.<br />
An diesem Tage zog man bereits Truppenteile, wenn auch in geringer Zahl, zur<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Polizei heran, es kam aber nicht zu Zusammenstößen mit ihnen. Eine<br />
große Menge Frauen, und zwar nicht nur Arbeiterinnen, zog zur Stadtduma mit <strong>der</strong><br />
For<strong>der</strong>ung nach Brot. Das war dasselbe, wie von einem Bock Milch zu verlangen. Es<br />
tauchten in verschiedenen Stadtteilen rote Banner auf, <strong>der</strong>en Aufschriften besagten, daß<br />
die Werktätigen Brot wollen, aber nicht mehr das Selbstherrschertum und den Krieg. Der<br />
Frauentag verlief erfolgreich, mit Schwung und ohne Opfer. Was er aber in sich barg,<br />
das ahnte am Abend noch niemand.<br />
Am nächsten Tage flaut die Bewegung nicht nur nicht ab, son<strong>der</strong>n wächst enorm an.<br />
Etwa die Hälfte <strong>der</strong> Industriearbeiter Petrograds streikt am 24. Februar. Die Arbeiter<br />
erscheinen morgens in den Betrieben, gehen jedoch nicht an die Arbeit, son<strong>der</strong>n veranstalten<br />
Versammlungen und bilden Züge, die in das Stadtzentrum marschieren. Neue<br />
Stadtbezirke und neue Gruppen <strong>der</strong> Bevölkerung werden in die Bewegung einbezogen.<br />
Die Parole "Brot" wird verdrängt und überdeckt von den Parolen "Nie<strong>der</strong> mit dem<br />
Selbstherrschertum", "Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg". Ununterbrochene Demonstrationen auf<br />
dem Newski-Prospekt: Zuerst kompakte Arbeitermassen, revolutionäre Lie<strong>der</strong> singend,<br />
später erscheint die bunte städtische Menge, in ihr die blauen Mützen <strong>der</strong> Studenten.<br />
»Das spazierende Publikum benahm sich uns gegenüber wohlwollend, aus einigen<br />
Lazaretten winkten uns Soldaten zu.« Ob sich viele klar darüber waren, was das mit den<br />
demonstrierenden Arbeitern sympathisierende Zuwinken <strong>der</strong> kranken Soldaten in sich<br />
barg? Allerdings attackierten die Kosaken die Menge ununterbrochen, wenn auch nicht<br />
erbittert; ihre Pferde waren schaumbedeckt; die Demonstranten wichen auseinan<strong>der</strong>,<br />
schlossen sich jedoch gleich wie<strong>der</strong> zusammen. Angst herrschte in <strong>der</strong> Menge nicht. »Die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 72
Kosaken versprechen, nicht zu schießen«, ging es von Mund zu Mund. Offenbar ließen<br />
die Arbeiter sich mit einzelnen Kosaken in Gespräche ein. Später aber tauchten schimpfend<br />
halbbetrunkene Dragoner auf, ritten in die Menge hinein und schlugen mit den<br />
Lanzen auf die Köpfe. Die Demonstranten hielten mit aller Kraft stand, ohne auseinan<strong>der</strong>zulaufen.<br />
»Man wird nicht schießen.« Man schoß tatsächlich nicht.<br />
Ein liberaler Senator beobachtete in den Straßen die leeren Trams - o<strong>der</strong> war es am<br />
nächsten Tag, und das Gedächtnis hatte ihn im Stich gelassen? -, manche mit zerschlagenen<br />
Scheiben, an<strong>der</strong>e umgeworfen, quer über die Schienen auf <strong>der</strong> Erde. Er gedachte <strong>der</strong><br />
Julitage 1914, des Vorabends des Krieges. »Es schien, als wie<strong>der</strong>hole sich <strong>der</strong> alte<br />
Versuch.« Den Senator hatte sein Blick nicht getäuscht - die Fortsetzung war unverkennbar:<br />
Die <strong>Geschichte</strong> erfaßte die Enden des durch den Krieg zerrissenen revolutionären<br />
Fadens und verband sie durch einen Knoten.<br />
Den ganzen Tag ergossen sich Volksmassen aus einem Stadtteil in den an<strong>der</strong>en,<br />
wurden von <strong>der</strong> Polizei energisch auseinan<strong>der</strong>getrieben, von Kavallerie-, teils auch lnfanterieabteilungen<br />
aufgehalten und zurückgedrängt. Neben den Rufen »Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />
Polizei« erscholl immer häufiger ein »Hurra !« auf die Kosaken. Das war bezeichnend.<br />
Gegen die Polizei war die Menge von wildem Haß erfüllt. Die berittenen Schutzleute<br />
empfing man mit Pflifen, Steinen und Eisstücken. An<strong>der</strong>s gingen die Arbeiter an die<br />
Soldaten heran. An Kasernen, neben Wachtposten, Patrouillen und Sperrketten standen<br />
Gruppen von Arbeitern und Arbeiterinnen; es flogen freundschaftliche Worte hin und<br />
her. Das war eine neue Etappe, sie war die Folge <strong>der</strong> anwachsenden Streiks und <strong>der</strong><br />
Konfrontierung <strong>der</strong> Arbeiter mit <strong>der</strong> Armee. Eine solche Etappe ist in je<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
unvermeidlich. Aber sie wirkt jedesmal neu und tritt auch in <strong>der</strong> Tat jedesmal auf neue<br />
Art auf: Menschen, die über sie gelesen und sogar geschrieben haben, erkennen sie von<br />
Angesicht zu Angesicht nicht.<br />
In <strong>der</strong> Reichsduma erzählte man an diesem Tage, <strong>der</strong> ganze Snamenski-Platz, <strong>der</strong><br />
ganze Newski-Prospekt und alle anliegenden Straßen seien von einer ungeheuren Volksmenge<br />
überflutet und man beobachte eine ganz ungewöhnliche Erscheinung: Die revolutionäre,<br />
nicht die patriotische Menge habe die Kosaken und die mit Musik marschierenden<br />
Regimenter mit »Hurra«Rufen empfangen. Auf die Frage, was dies alles bedeute,<br />
antwortete <strong>der</strong> erstbeste Passant einem Deputierten: »Ein Polizist hat eine Frau mit <strong>der</strong><br />
Nagajka geschlagen, die Kosaken griffen ein und vertrieben die Polizei.« Ob es tatsächlich<br />
so gewesen ist o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s, kann niemand nachprüfen. Die Menge jedenfalls glaubte,<br />
es sei so passiert, es sei wahrscheinlich. Dieser Glaube war nicht vom Himmel gefallen,<br />
er entstammte <strong>der</strong> vorangegangenen Erfahrung und mußte darum ein Pfand des Sieges<br />
werden.<br />
Die gesamte Belegschaft von Erikson, einem <strong>der</strong> fortgeschrittensten Betriebe des<br />
Wyborger Stadtteiles, zog nach einer am frühen Morgen abgehaltenen Versammlung in<br />
Stärke von 2.500 Mann zum Sampsonjewski-Prospekt und stieß an einer engen Stelle auf<br />
Kosaken. Mit <strong>der</strong> Brust <strong>der</strong> Pferde sich den Weg bahnend, dringen zuerst die Offiziere in<br />
die Menge ein. Hinter ihnen, in <strong>der</strong> ganzen Breite <strong>der</strong> Straße, reiten die Kosaken. Ein<br />
entscheiden<strong>der</strong> Augenblick! Aber behutsam, in schmalem Bande, folgen die Reiter durch<br />
den von den Offizieren gebahnten Korridor. »Einige von ihnen lächelten«, erinnert sich<br />
Kajurow, »und <strong>der</strong> eine zwinkerte den Arbeitern gut zu.« Nicht umsonst hat <strong>der</strong> Kosak<br />
gezwinkert. Die Arbeiter sind kühner geworden, von einer den Kosaken freundlichen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 73
und nicht feindlichen Kühnheit, und stecken damit ein wenig die letzteren an. Der<br />
Zwinkernde fand Nachahmer. Trotz <strong>der</strong> erneuten Versuche <strong>der</strong> Offiziere schlängelten<br />
sich die Kosaken durch die Menge, ohne offen die Disziplin zu verletzen, aber auch ohne<br />
die Menge mit Nachdruck auseinan<strong>der</strong>zutreiben. Das wie<strong>der</strong>holte sich drei-, viermal und<br />
brachte die Parteien einan<strong>der</strong> noch näher. Die Kosaken begannen einzeln auf Fragen <strong>der</strong><br />
Arbeiter zu antworten und sogar flüchtige Gespräche anzuknüpfen. Von <strong>der</strong> Disziplin<br />
blieb nur eine dünne, durchsichtige Hülle übrig, die bald, gar bald zu reißen drohte. Die<br />
Offiziere beeilten sich, den Zug von <strong>der</strong> Menge zu lösen, ließen den Gedanken, die<br />
Arbeiter auseinan<strong>der</strong>zutreihen, fallen und stellten die Kosaken als Sperre quer über die<br />
Straße auf, um die Demonstranten nicht nach dem Zentrum durchzulassen. Aber auch das<br />
half nicht: wie befohlen am Platze stehend, hin<strong>der</strong>ten die Kosaken die Arbeiter nicht,<br />
unter die Pferde zu "tauchen". Die <strong>Revolution</strong> wählte ihre Wege nicht willkürlich: bei<br />
ihren ersten Schritten rückte sie zum Siege vor unter dem Hauche des Kosakenpferdes.<br />
Eine bemerkenswerte Episode! Und bemerkenswert das Auge des Erzählers, dem alle<br />
Windungen des Prozesses fest im Gedächtnis blieben. Kein Wun<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Erzähler war<br />
Anführer und hinter ihm mehr als zweitausend Mann das Auge des Kommandeurs, <strong>der</strong><br />
die feindlichen Nagajkas o<strong>der</strong> Kugeln zu befürchten hat, blickt scharf.<br />
Der Umschwung in <strong>der</strong> Armee hatte sich gleichsam zuallererst bei den Kosaken<br />
geäußert, den ewigen Ordnungsstützen und Strafexekutoren. Das bedeutet allerdings<br />
nicht, daß die Kosaken revolutionärer waren als die an<strong>der</strong>en Truppen. Im Gegenteil,<br />
diese wohl bestallten Landeigentümer auf ihren Pferden, die ihre beson<strong>der</strong>en Kosakenrechte<br />
hoch einschätzten, den einfachen Bauern verachteten, dem Arbeiter mißtrauten,<br />
bargen in sich viele Elemente des Konservativismus. Aber gerade deshalb waren die<br />
durch den Krieg hervorgerufenen Verän<strong>der</strong>ungen an ihnen am krassesten erkennbar.<br />
Außerdem wurden gerade sie dauernd hin und her gezerrt, sie vorgeschickt, mit <strong>der</strong> Brust<br />
gegen das Volk gestellt, sie entnervt und vor allen an<strong>der</strong>en Prüfungen ausgesetzt. Das<br />
alles hatten sie, zum Teufel, satt, sie wollten heim und zwin-kerten: macht, was ihr könnt,<br />
hin<strong>der</strong>n werden wir euch nicht. Jedoch das alles waren nur vielsagende Symptome. Die<br />
Armee war noch Armee, durch Disziplin gebunden, und die wichtigsten Fäden noch in<br />
den Händen <strong>der</strong> Monarchie. Die Arbeitermassen unbewaffnet. Die Führer dachten noch<br />
nicht an die entscheidende Lösung.<br />
An diesem Tage kam in <strong>der</strong> Sitzung des Ministerrats neben an<strong>der</strong>en Fragen auch die<br />
<strong>der</strong> Unruhen in <strong>der</strong> Hauptstadt zur Sprache. Streik? Demonstration? Nicht das erstemal.<br />
Alles vorgesehen. Anordnungen getroffen. Übergang zur Tagesordnung.<br />
Worin bestanden sie eigentlich, die Anordnungen? Obwohl im Laufe des 23. und 24.<br />
Februar achtundzwanzig Polizisten verprügelt worden sind eine bestechende Genauigkeit<br />
<strong>der</strong> Buchführung! -, greift <strong>der</strong> Chef des Militärbezirks, General Chabalolow, beinahe<br />
Diktator, noch nicht zur Schußwaffe. Nicht aus Gutmütigkeit: alles war vorgesehen und<br />
berechnet, auch für das Schießen sollte die Zeit kommen.<br />
Die <strong>Revolution</strong> kam nur im Moment überraschend. Allgemein gesagt hatten beide<br />
Pole, <strong>der</strong> revolutionäre und <strong>der</strong> regierende, sich sorgfältig auf sie vorbereitet, Jahre<br />
hindurch, immerwährend sich auf sie vorbereitet. Was die Bolschewiki betrifft, so war<br />
ihre gesamte Tätigkeit nach 1905 nichts an<strong>der</strong>es als eine Vorbereitung auf die zweite<br />
<strong>Revolution</strong>. Aber auch die Tätigkeit <strong>der</strong> Regierung war zum überwiegenden Teile eine<br />
Vorbereitung auf die Unterdrückung <strong>der</strong> neuen <strong>Revolution</strong>. Dieses Gebiet <strong>der</strong> Regie-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 74
ungsarbeit hatte im Herbst 1916 einen beson<strong>der</strong>s planmäßigen Charakter erhalten. Eine<br />
Kommission unter dem Vorsitz Chabalows hatte Mitte Januar 1917 die Ausarbeitung<br />
eines höchst genauen Planes zur Nie<strong>der</strong>schlagung eines neuen Aufstandes beendet. Die<br />
Stadt war in sechs Bezirke mit je einem Polizeimeister zerlegt, die Bezirke wie<strong>der</strong>um in<br />
Rayons. An die Spitze <strong>der</strong> gesamten bewaffneten Macht war <strong>der</strong> Kommandeur <strong>der</strong><br />
Gar<strong>der</strong>eservetruppen, General Tschebykin, gestellt; die Regimenter den Rayons<br />
zugeteilt; in jedem <strong>der</strong> sechs Polizeibezirke das Kommando über Polizei, Gendarmerie<br />
und Truppen beson<strong>der</strong>en Stabsoffizieren übertragen. Die Kosakenreiterei unterstand dem<br />
persönlichen Befehl Tschebykins, für Operationen größeren Maßstabes. Die Reihenfolge<br />
<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfungsmaßnahmen war so vorgesehen: zuerst geht die Polizei allein vor,<br />
dann treten die Kosaken mit Nagajkas auf den Schauplatz, und nur im Notfalle werden<br />
Truppen mit Gewehren und Maschinengewehren aufgeboten. Und dieser Plan, <strong>der</strong> nur<br />
eine Erweiterung <strong>der</strong> Erfahrung von 1905 darstellt, wurde in den Februartagen tatsächlich<br />
angewandt. Das Übel lag nicht an mangeln<strong>der</strong> Voraussicht, auch nicht an den<br />
Fehlern des Planes selbst, son<strong>der</strong>n am Menschenmaterial. Hier drohte ein großer Versager.<br />
Formell stützte sich <strong>der</strong> Plan auf die gesamte Garnison, die 150.000 Mann zählte; in<br />
Wirklichkeit aber wurde mit etwa 10.000 Mann gerechnet: außer den Schutzleuten, von<br />
denen es 3.500 gab, verließ man sich fest auf die Lehrkommandos. Dies ist mit dem<br />
Charakter <strong>der</strong> damaligen Petrogra<strong>der</strong> Garnison zu erklären, die fast ausschließlich aus<br />
Reservetruppenteilen bestand, vor allem aus den 14 Reservebataillonen <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>egimenter,<br />
die sich an <strong>der</strong> Front befanden. Außerdem gehörten zur Garnison: ein Reserve-<br />
Infanterieregiment, ein Radfahrer-Reservebataillon, eine Reserve-Panzerwagendivision,<br />
kleinere Sappeur- und Artillerietruppenteile und zwei Regimenter Donkosaken. Das war<br />
sehr viel, zu viel. Die aufgeschwemmten Reservetruppenteile bestanden aus Menschenmassen,<br />
die entwe<strong>der</strong> fast keinen militärischen Drill durchgemacht o<strong>der</strong> aber sich bereits<br />
von ihm befreit hatten. So war eigentlich die gesamte Armee.<br />
Chabalow hielt peinlichst an dem von ihm ausgearbeiteten Plan fest. Am ersten Tag,<br />
dem 23., trat ausschließlich Polizei in Aktion. Am 24. schickte man hauptsächlich Kavallerie<br />
vor, die aber nur mit Nagajkas und Lanzen operierte. Das Einsetzen von Infanterie<br />
und Feuerwaffen machte man von <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse abhängig.<br />
Die Ereignisse aber ließen nicht auf sich warten.<br />
Am 25. verbreitete sich <strong>der</strong> Streik noch mehr. Nach den Regierungsangaben beteiligten<br />
sich an ihm an diesem Tage 240.000 Arbeiter. Die rückständigeren Schichten folgen <strong>der</strong><br />
Avantgarde, es streiken bereits viele kleinere Betriebe, die Trams bleiben stehen, die<br />
Handelsunternehmen ruhen. Im Laufe des Tages schließen sich die Schüler <strong>der</strong> höheren<br />
Lehranstalten dem Streik an. Viele Zehntausende von Menschen strömen gegen Mittag<br />
vor <strong>der</strong> Kathedrale und in den anliegenden Straßen zusammen. Es werden Versuche<br />
gemacht, Versammlungen unter freiem Himmel abzuhalten. Es kommt zu bewaffneten<br />
Zusammenstößen mit <strong>der</strong> Polizei. Beim Denkmal Alexan<strong>der</strong> III. treten Redner auf. Die<br />
berittene Polizei eröffnet das Feuer. Ein Redner stürzt verwundet nie<strong>der</strong>. Schüsse aus <strong>der</strong><br />
Menge töten einen Polizeiwachtmeister, verwunden einen Polizeimeister und einige<br />
Polizisten. Die Gendarmen werden mit Flaschen, Petarden und Handgranaten beworfen.<br />
Der Krieg hat diese Kunst gelehrt. Die Soldaten verhalten sich passiv, mitunter auch<br />
feindselig gegen die Polizei. In <strong>der</strong> Menge erzählt man sich erregt, daß die Kosaken, als<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 75
die Polizisten am Denkmal Alexan<strong>der</strong> III. die Schießerei eröffneten, eine Salve auf die<br />
berittenen Pharaonen (Spitzname für die Schutzleute) abgegeben hätten und diese flüchten<br />
mußten. Das ist sicherlich keine Legende, die man in Umlauf gesetzt hat, um sich<br />
Mut zu machen, denn die Episode wird in verschiedenen Variationen von verschiedenen<br />
Seiten bestätigt.<br />
Der Arbeiterbolschewik Kajurow, einer <strong>der</strong> echten Führer in jenen Tagen, erzählt, wie<br />
die Demonstranten an einem Platz, dicht bei einer Kosakenstreife, vor den Nagajkas <strong>der</strong><br />
berittenen Polizei auseinan<strong>der</strong>liefen und wie er, Kajurow, und noch einige Arbeiter, den<br />
Flüchtenden nicht folgten, son<strong>der</strong>n die Hüte zogen und an die Kosaken mit den Worten<br />
herantraten: »Brü<strong>der</strong> Kosaken, helft den Arbeitern im Kampfe um ihre friedlichen For<strong>der</strong>ungen,<br />
ihr seht, wie die Pharaonen mit uns hungernden Arbeitern verfahren. Helft uns!«<br />
Dieser bedacht demütige Ton, diese Hüte in den Händen - welcb feine psychologische<br />
Berechnung, welch unnachahmliche Geste! Jede <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Straßenkämpfe und<br />
revolutionären Siege ist voll solcher Improvisationen. Nur gehen sie im Wirbel <strong>der</strong><br />
großen Ereignisse unter, den Geschichtsschreibern bleibt die Hülse <strong>der</strong> Gemeinplätze.<br />
»Die Kosaken sahen sich seltsam an«, fährt Kajurow fort, »kaum hatten wir Zeit, beiseite<br />
zu treten, als sie sich ins Gemenge stürzten. Nach einigen Minuten hob die Menge am<br />
Bahnhoßtor einen Kosaken auf ihren Händen hoch, <strong>der</strong> vor ihren Augen mit dem Säbel<br />
einen Polizeibeamten nie<strong>der</strong>gehackt hatte.«<br />
Die Polizei verschwand bald völlig von <strong>der</strong> Bildfliche, das heißt, sie begann aus dem<br />
Hinterhalt zu operieren. Dagegen erschienen Soldaten mit umgehängten Gewehren. Die<br />
Arbeiter riefen ihnen sorgenvoll zu: »Kameraden, seid ihr wahrhaftig gekommen, <strong>der</strong><br />
Polizei zu helfen?« Die Antwort war ein barsches »Weitergehen!«. Ein erneuter Versuch,<br />
ins Gespräch zu kommen, endete in gleicher Weise. Die Soldaten sind düster, etwas<br />
wurmt sie, auch sie ertragen es nicht mehr, wenn die Frage den Kern ihrer Not trifft.<br />
Die Entwaffnung <strong>der</strong> Pharaonen wird unterdes allgemeine Parole. Die Polizeei ist <strong>der</strong><br />
grimmige, unversöhnliche, verhaßte und hassende Feind. Sie zu gewinnen - davon kann<br />
keine Rede sein. Die Polizisten muß man schlagen o<strong>der</strong> erschlagen. Etwas ganz an<strong>der</strong>es<br />
ist das Heer. Die Menge vermeidet auf jede Weise feindselige Zusammenstöße mit ihm,<br />
im Gegenteil, sie sucht die Soldaten zu gewinnen, zu überzeugen, herüberzuziehen,<br />
zutraulich zu machen, sich mit ihnen zu vereinen. Trotz den, wenn auch vielleicht etwas<br />
übertrieben günstigen Gerüchten über das Verhalten <strong>der</strong> Kosaken ist die Menge vor<br />
ihnen auf <strong>der</strong> Hut. Der Kavallerist ragt hoch über die Menge, und seine Seele ist von <strong>der</strong><br />
Seele <strong>der</strong> Demonstranten durch vier Pferdebeine getrennt. Eine Gestalt, auf die man von<br />
unten emporblicken muß, erscheint immer gewichtig und bedrohlich. Die Infanterie steht<br />
da, gleich nebenan auf dem Pflaster, ist näher und erreichbarer. An sie bemüht sich die<br />
Masse dicht heranzukommen, ihr in die Augen zu blicken, sie mit ihrem heißen Atem zu<br />
umgeben. Eine große Rolle in den Beziehungen zwischen Arbeitern und Soldaten spielen<br />
die Frauen, die Arbeiterinnen. Kühner als die Männer bedrängen sie die Soldatenkette,<br />
greifen mit den Händen an die Gewehre, flehen, befehlen fast: »Wendet eure Bajonette<br />
weg, schließt euch uns an!« Die Soldaten sind erregt, beschämt, sehen sich unruhig an,<br />
schwanken, irgendeiner faßt als erster Mut - und die Bajonette erheben sich über die<br />
Schultern <strong>der</strong> Bedränger, die Barriere ist nie<strong>der</strong>gerissen, ein freudiges, dankbares<br />
»Hurra!« erschüttert die Luft, die Soldaten werden umringt, überall Wortwechsel,<br />
Vorwürfe, Mahnrufe - die <strong>Revolution</strong> hat wie<strong>der</strong> einen Schritt vorwärts gemacht.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 76
Aus dem Hauptquartier schickt Nikolaus einen telegraphischen Befehl an Chabalow,<br />
»gleich morgen« die Unruhen zu unterdrücken. Der Wille des Zaren entspricht dem<br />
weiteren Glied des Chabalowschen "Planes", so daß das Telegramm nur ein Anstoß mehr<br />
ist. Morgen sollen die Truppen ihr Wort sprechen. Ist es nicht zu spät? Das kann man<br />
vorläufig noch nicht sagen. Die Frage ist gestellt, aber längst nicht entschieden. Die<br />
Nachsicht <strong>der</strong> Kosaken, das Schwanken einzelner Infanterieketten sind nur vielverheißende<br />
Episoden, vom vieltausendfachen Echo <strong>der</strong> empfänglichen Straße wie<strong>der</strong>holt. Dies<br />
ist genügend, um die revolutionäre Menge zu begeistern, aber zu wenig für den Sieg. Um<br />
so mehr, als es auch Episoden entgegengesetzten Charakters gibt. In <strong>der</strong> zweiten Hälfte<br />
des Tages eröffnete, angeblich als Antwort auf Revolverschüsse aus <strong>der</strong> Menge, ein Zug<br />
Dragoner das erste Feuer auf die Demonstranten am Gostinyi Dwor: nach dem Bericht<br />
Chabalows an das Hauptquartier gab es 3 Tote und 10 Verwundete. Eine ernste<br />
Warnung! Gleichzeitig sprach Chabalow die Drohung aus, alle reklamierten Arbeiter an<br />
die Front zu schicken, falls sie die Arbeit nicht bis zum 28. aufnehmen sollten. Der<br />
General stellt ein dreitägiges Ultimatum, für die <strong>Revolution</strong> eine größere Frist, als sie<br />
benötigt, um Chabalow zu stürzen und die Monarchie dazu. Aber das wird man erst nach<br />
dem Siege erfahren. Am Abend des 25. ahnt noch niemand, was <strong>der</strong> nächste Tag in<br />
seinem Schoße birgt.<br />
Versuchen wir, die innere Logik <strong>der</strong> Ereignisse uns klar darzustellen. Unter <strong>der</strong> Flagge<br />
des "Frauentages" begann am 23. <strong>der</strong> lange herangereifte und lange zurückgehaltene<br />
Aufstand <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeitermassen. Die erste Stufe des Aufstandes war <strong>der</strong> Streik.<br />
Während dreier Tage dehnte er sich immer mehr aus und wurde faktisch zu einem<br />
Generalstreik. Dies allein stärkte das Sicherheitsgefühl <strong>der</strong> Massen und trug sie vorwärts.<br />
Der Streik nahm immer mehr einen Angriffscharakter an, begleitet von Demonstrationen,<br />
die die revolutionären Massen mit den Truppen zusammenstoßen ließen. Das hob die<br />
Aufgabe in ihrer Gesamtheit auf eine höhere Ebene, wo die Frage durch die bewaffnete<br />
Macht entschieden wird. Die ersten Tage brachten eine Reihe von Teilerfolgen, jedoch<br />
mehr syruptomatischen als materiellen Charakters.<br />
Ein revolutionärer Aufstand, <strong>der</strong> sich auf einige Tage erstreckt, kann sich nur in dem<br />
Falle siegreich entwickeln, wenn er von Stufe zu Stufe sich steigert und immer neue<br />
Fortschritte aufweist. Ein Stillstand in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Erfolge ist gefährlich, längeres<br />
Treten auf einem Fleck verhängnisvoll. Aber auch Erfolge an sich genügen nicht; es<br />
ist nötig, daß die Menge rechtzeitig von ihnen erfährt und Zeit hat, sie zu bewerten. Man<br />
kann den Sieg in einem Augenblick verpassen, wo man nur den Arm auszustrecken<br />
braucht, um ihn zu ergreifen. Das ist in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> schon vorgekommen.<br />
Die ersten drei Tage waren Tage ununterbrochener Steigerung und Verschärfung des<br />
Kampfes. Gerade aus diesem Grunde aber erreichte die Bewegung eine Höhe, wo<br />
symptomatische Erfolge nicht mehr ausreichten. Die gesamte aktive Masse ging auf die<br />
Straße. Mit <strong>der</strong> Polizei wurde sie erfolgreich und mühelos fertig. Die Truppen waren in<br />
den letzten zwei Tagen bereits in die Ereignisse hineingezogen worden, am zweiten Tage<br />
die Kavallerie, am dritten auch die Infanterie. Sie drängten zurück, sperrten den Weg,<br />
übten manchmal Nachsicht, griffen aber fast nie zu den Feuerwaffen. Oben überstürzte<br />
man sieh nicht, den Plan abzuän<strong>der</strong>n, teils weil man die Ereignisse unterschätzte - <strong>der</strong><br />
Fehler im Sehvermögen <strong>der</strong> Reaktion ergänzte symmetrisch den Fehler <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sführer<br />
-, teils weil man <strong>der</strong> Truppen nicht sicher war. Aber gerade <strong>der</strong> dritte Tag zwang<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 77
die Regierung, infolge <strong>der</strong> Steigerung des Kampfes wie infolge des Zarenbefehls, die<br />
Tru~ pen ernsthaft einzusetzen. Die Arbeiter, beson<strong>der</strong>s ihre fortgeschrittene Schicht,<br />
begriffen dies, um so mehr, als die Dragoner am Tage vorher bereits geschossen hatten.<br />
Die Frage erhob sich nun in ihrem vollen Umfange vor beiden Parteien.<br />
In <strong>der</strong> Nacht zum 26. Februar verhaftete man in mehreren Stadtteilen etwa hun<strong>der</strong>t<br />
Personen, die verschiedenen revolutionären Parteien angehörten, darunter auch fünf<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki. Das zeigte gleichfalls, daß die<br />
Regierung zum Angriff übergegangen war. Was wird es heute geben? Wie werden nach<br />
<strong>der</strong> gestrigen Schießerei die Arbeiter heute erwachen? Und die Hauptsache: was werden<br />
die Truppen tun? Die Morgenröte des 26. Februar erglühte im Nebel von Ungewißheit<br />
und schwerer Besorgnis.<br />
Infolge <strong>der</strong> Verhaftung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees ging die Leitung <strong>der</strong> gesamten Arbeit<br />
in <strong>der</strong> Stadt an den Wyborger Bezirk über. Vielleicht ist es auch besser so. Die obere<br />
Führung <strong>der</strong> Partei verspätet sich hoffnungslos. Erst am Morgen des 25. hat das Büro des<br />
Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki endlich beschlossen, ein Flugblatt herauszugeben mit<br />
dem Aufruf zum All<strong>russischen</strong> Generalstreik. Aber im Moment des Erscheinens dieses<br />
Flugblattes - wenn es überhaupt erschienen ist - steht <strong>der</strong> Generalstreik in Petrograd<br />
schon vor <strong>der</strong> Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes. Die Führung schaut von oben<br />
zu, schwankt und bleibt zurück, das heißt führt nicht. Sie trottet hinter <strong>der</strong> Bewegung her.<br />
Je näher an die Betriebe, um so größer die Entschlossenheit. Heute jedoch, am 26., ist<br />
auch in den Bezirken Alarm. Hungrig, müde, durchfroren, eine ungeheure historische<br />
Verantwortung auf den Schultern, versammeln sich die Wyborger Führer außerhalb <strong>der</strong><br />
Stadt, in Gemüsegärten, um ihre Tageseindrücke auszutauschen und eine gemeinsame<br />
Marschroute zu entwerfen ... wofür? Für eine neue Demonstration? Wohin aber kann<br />
eine unbewaffnete Demonstration führen, wenn die Regierung entschlossen ist, bis aufs<br />
Letzte zu gehen? Diese Frage bohrt im Bewußtsein. »Es schien nur eines sicher: <strong>der</strong><br />
Aufstand wird liquidiert.« Wir hören hier die Stimme des uns bereits bekannten Kajurow,<br />
aber im ersten Moment scheint uns, es sei nicht seine Stimme. So tief war das Barometer<br />
vor dem Sturm gefallen.<br />
In den Stunden, wo das Schwanken sogar die den Massen am nächsten stehenden<br />
<strong>Revolution</strong>äre erfaßt, ist die Bewegung selbst im Grunde schon viel weiter gegangen, als<br />
es ihre Teilnehmer dünkt. Bereits am Vorabend, dem 25. Februar, war <strong>der</strong> Wyborger<br />
Stadtteil vollständig in den Händen <strong>der</strong> Aufständischen. Die Polizeireviere waren<br />
zerstört, einzelne Polizeibeamte nie<strong>der</strong>gemacht, die Mehrzahl hielt sich verborgen. Die<br />
Stadthauptmannschaft hatte die Verbindung mit einem bedeutenden Teil <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
gänzlich verloren. Am Morgen des 26. zeigt sich, daß nicht nur <strong>der</strong> Wyborger Teil,<br />
son<strong>der</strong>n auch Peski fast dicht bis zum Litejny-Prospekt von den Außtändischen besetzt<br />
sind. Mindestens schil<strong>der</strong>n die Polizeiberichte die Lage so. In gewissem Sinne traf das<br />
zu, obwohl sich die Aufständischen darüber selbst nicht ganz klar waren: die Polizei<br />
verließ ihre Höhlen in vielen Fällen, noch bevor sie einer Bedrohung seitens <strong>der</strong> Arbeiter<br />
ausgesetzt war. Doch davon abgesehen, konnte die Säuberung <strong>der</strong> Fabrikbezirke von<br />
Polizei in den Augen <strong>der</strong> Arbeiter nicht von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung sein: hatten doch<br />
die Truppen ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Der Aufstand wird »liquidiert«, ging<br />
es den Kühnsten <strong>der</strong> Kühnen durch den Kopf. Indes war er in voller Entfaltung.<br />
Der 26. Februar war ein Sonntag, die Fabriken geschlossen, und dies hin<strong>der</strong>te, morgens<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 78
am Umfang des Streiks die Kraft des Massensturms zu messen. Dazu kam, daß sich die<br />
Arbeiter an diesem Tage nicht wie an den vorangegangenen Tagen in den Betrieben<br />
versammeln konnten, was die Demonstration erschwerte. Am Morgen herrschte auf dem<br />
Newski-Prospekt Stille. In diesen Stunden telegraphierte die Zarin an den Zaren: »In <strong>der</strong><br />
Stadt herrscht Ruhe.« Doch die Ruhe währt nicht lange. Allmählich sammeln sich die<br />
Arbeiter und bewegen sich aus allen Vorstädten nach dem Zentrum. Man läßt sie nicht<br />
über die Brücken. Die Massen strömen über das Eis: es ist ja noch Februar und die ganze<br />
Newa eine Eisbrücke. Die Beschießung <strong>der</strong> Menge auf dem Eis genügt nicht, sie aufzuhalten.<br />
Die Stadt ist wie verwandelt. Uberall Patrouillen, Sperrketten, Streifen Berittener.<br />
Die Zugänge zum Newski werden beson<strong>der</strong>s scharf überwacht. Dauernd ertönen Salven<br />
aus unsichtbarem Hinterhalt. Die Zahl <strong>der</strong> Getöteten und Verwundeten wächst. Nach<br />
verschiedenen Richtungen bewegen sich die Wagen <strong>der</strong> Ersten Hilfe. Woher geschossen<br />
wird, und wer schießt, ist nicht immer zu erkennen. Zweifellos hat die Polizei nach <strong>der</strong><br />
ernsten Lektion, die sie erhalten hat, beschlossen, sich <strong>der</strong> Gefahr nicht mehr offen<br />
auszusetzen. Sie schießt aus Fenstern, Balkontüren, hinter Säulen versteckt, von Dachböden.<br />
Es entstehen Hypothesen, die schnell zu Legenden werden. Man erzählt, zur<br />
Abschreckung <strong>der</strong> Demonstranten seien viele Soldaten in Polizeiuniform gesteckt<br />
worden. Man erzählt, Protopopow habe unzählige Maschinengewehrposten auf Dächern<br />
untergebracht. Eine nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geschaffene Kommission hat solche Posten<br />
nicht nachweisen können. Das heißt aber nicht, daß es sie nicht gegeben hat. Jedenfalls<br />
trat die Polizei an diesem Tage in den Hintergrund. In <strong>der</strong> Tat tritt endgültig Militär auf<br />
den Plan. Es wird ihm strengstens befohlen, zu schießen, und die Soldaten, hauptsächlich<br />
die Lehrkommandos, das heißt die Regimentsschulen für Unteroffiziere, schießen. Nach<br />
offiziellen Meldungen gab es an diesem Tage an die vierzig Tote und ebensoviel<br />
Verwundete, nicht gezählt jene die von <strong>der</strong> Menge weggeführt o<strong>der</strong> weggetragen<br />
wurden. Der Kampf geht in ein entscheidendes Stadium über. Wird die Masse vor dem<br />
Blei in ihre Viertel zurückweichen? Nein, sie weicht nicht zurück. Sie will ihr Ziel erreichen.<br />
Schrecken überkommt das beamtete, bürgerliche, liberale Petrograd. Der Vorsitzende<br />
<strong>der</strong> Reichsduma, Rodsjanko, for<strong>der</strong>t an diesem Tage die Entsendung zuverlässiger<br />
Truppen von <strong>der</strong> Front; dann »überlegt« er es sich und empfiehlt dem Kriegsminister<br />
Belajew, die Menge nicht durch Feuer, son<strong>der</strong>n durch kaltes Wasser aus Schläuchen <strong>der</strong><br />
Feuerwehr auseinan<strong>der</strong>zutreiben. Nach einer Beratung mit General Chabalow antwortet<br />
Belajew, daß Wasserduschen eine umgekehrte Wirkung erzielen, »gerade weil sie<br />
erregen«. So unterhielten sich Liberale, Würdenträger und Polizei über die Vorzüge<br />
einer kalten o<strong>der</strong> heißen Dusche für das aufständische Volk. Die Pohzeimeldungen von<br />
diesem Tage besagen, daß die Feuerwehrschläuche nicht ausreichten. »Während <strong>der</strong><br />
Unruhen konnte man als allgemeine Erscheinung beobachten, daß die tobenden Haufen<br />
ein äußerst herausfor<strong>der</strong>ndes Verhalten gegen die Truppen an den Tag legten; auf die<br />
Auffor<strong>der</strong>ung, auseinan<strong>der</strong>zugehen, antwortete die Menge mit Steinen und von <strong>der</strong><br />
Straße aufgelesenen Eisstücken. Wurden Schreckschüsse in die Luft abgegeben, dann<br />
zerstreute sich die Menge nicht nur nicht, son<strong>der</strong>n nahm solche Salven mit Gelächter auf.<br />
Erst nach Abgabe scharfer Schüsse mitten in die Menge hinein gelang es, die Ansammlungen<br />
zu zerstreuen, <strong>der</strong>en Teilnehmer jedoch in den meisten Fällen sich in den nächstliegenden<br />
Höfen versteckten und wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße erschienen, sobald das Schießen<br />
verstummte.« Diese polizeiliche Übersicht läßt die außerordentlich hohe Temperatur <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 79
Massen erkennen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß die Menge von sich aus begonnen<br />
hat, das Militär, waren es auch die Lehrkommandos, mit Steinen und Eis zu bombardieren:<br />
dies wi<strong>der</strong>spricht völlig <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> Aufständischen und ihrer klugen<br />
Taktik in bezug auf die Armee. Um die Massenmorde nachträglich zu rechtfertigen, sind<br />
die Farben <strong>der</strong> Berichte nicht ganz den Tatsachen entsprechend gewählt und verteilt. Das<br />
Wesentliche aber ist richtig und kraß wie<strong>der</strong>gegeben: die Masse will nicht mehr weichen,<br />
sie wi<strong>der</strong>setzt sich mit optimistischer Wut, bleibt auf den Straßen auch nach den tödlichen<br />
Salven, klammert sich nicht an das Leben, son<strong>der</strong>n an das Pflaster, an die Steine, an<br />
das Eis. Die Menge ist nicht bloß erbittert, sie ist verwegen. Und dies, weil sie, trotz <strong>der</strong><br />
Erschießungen, den Glauben an die Truppen nicht verloren hat. Sie rechnet mit einem<br />
Sieg und will ihn um jeden Preis erringen.<br />
Der Druck <strong>der</strong> Arbeiter auf die Armee verstärkt sich und wirkte dem Druck <strong>der</strong> Behörden<br />
auf die Armee entgegen. Die Petrogra<strong>der</strong> Garinson gerät endgultig in den Brennpunkt<br />
<strong>der</strong> Ereignisse. Die abwartende Periode, die drei Tage währte, in <strong>der</strong> es <strong>der</strong> Hauptrnasse<br />
<strong>der</strong> Garnison möglich war, wohlwollende Neutralität gegen die Aufständischen zu<br />
bewahren, ist zu Ende. »Schieße auf den Feind!« befiehlt die Monarchie. »Schieße nicht<br />
auf deine Brü<strong>der</strong> und Schwestern!« rufen die Arbeiter und Arbeiterinnen, und nicht nur<br />
das: »Geh mit uns!« So spielt sich auf den Straßen und Plätzen, an den Brücken, an den<br />
Toren <strong>der</strong> Kasernen ein ununterbrochener, bald dramatischer, bald unsichtbarer, aber<br />
immer verzweifelter Kampf ab um die Seele des Soldaten. In diesem Kampf, in dieser<br />
engen Berührung <strong>der</strong> Arbeiter und Arbeiterinnen mit den Soldaten unter unausgesetztem<br />
Geknatter <strong>der</strong> Gewehre und Maschinengewehre entschied sich das Schicksal <strong>der</strong> Macht,<br />
des Krieges und des Landes.<br />
Die Nie<strong>der</strong>metzelung von Demonstranten verstärkt die Unsicherheit in den Reihen <strong>der</strong><br />
Führer. Gerade <strong>der</strong> Schwung <strong>der</strong> Bewegung beginnt gefährlich zu erscheinen. Sogar in<br />
<strong>der</strong> Sitzung des Wyborger Komitees, am Abend des 26., das heißt zwölf Stunden vor<br />
dem Siege, ist die Rede davon, ob es nicht Zeit sei, zum Abbruch des Generalstreiks<br />
aufzurufen. Das mag seltsam erscheinen. Aber es ist viel leichter, den Sieg einen Tag<br />
nach dem Erringen zu erkennen als tags zuvor. Übrigens wechselt häufig die Stimmung<br />
unter den Stößen <strong>der</strong> Ereignisse und Gerüchte. Sinken<strong>der</strong> Mut und wachsende Zuversicht<br />
lösen einan<strong>der</strong> schnell ab. Persönlichen Mut besitzen die Kajurows und Tschugurins<br />
genügend, aber mitunter drückt sie die Verantwortung für die Massen schwer. Unter den<br />
Arbeitern selbst gibt es weniger Schwan kungen. Über <strong>der</strong>en Stimmung meldet <strong>der</strong> gut<br />
unterrichtete Agent <strong>der</strong> Ochrana, Schurkanow, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> bolschewistischen Organisation<br />
eine bedeutende Rolle gespielt hat, seiner Behörde: »Da die Truppen die Menge nicht<br />
hin<strong>der</strong>ten«, schrieb <strong>der</strong> Provokateur, »son<strong>der</strong>n in einzelnen Fällen sogar Maßnahmen zur<br />
Paralysierung <strong>der</strong> Polizeiaktionen trafen, wuchs in den Massen das Gefühl <strong>der</strong> Straifreiheit,<br />
und heute, nach zwei Tagen ungehin<strong>der</strong>ten Umhergehens in den Straßen, nachdem<br />
die revolutionären Kreise die Parolen "Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg" und "Nie<strong>der</strong> mit dem<br />
Selbstherrschertum" aufgestellt haben, hat sich im Volke <strong>der</strong> Glaube festgesetzt, die<br />
<strong>Revolution</strong> habe begonnen, <strong>der</strong> Erfolg sei den Massen sicher, die Regierung ohnmächtig,<br />
die Bewegung zu unterdrücken, da die Truppen auf seiten des Volkes ständen, <strong>der</strong><br />
entscheidende Sieg sei nahe, weil die Truppen heute o<strong>der</strong> morgen offen auf die Seite <strong>der</strong><br />
revolutionären Streitkräfte übergehen würden, die entfesselte Bewegung werde nicht<br />
mehr innehalten, sen<strong>der</strong>n ununterbrochen wachsen, bis zum völligen Siege und zum<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 80
Staatsumsturz.« In ihrer Knappheit und Kraßheit eine hervorragende Charakteristik! Der<br />
Bericht ist ein höchst wertvolles historisches Dokument. Das wird die siegreichen Arbeiter<br />
natürlich nicht hin<strong>der</strong>n, seinen Autor zu erschießen.<br />
Die Provokateure, <strong>der</strong>en Zahl ungeheuer ist, beson<strong>der</strong>s in Petrograd, fürchtet mehr als<br />
sonst wer siegt bei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Sie verfolgen ihre Politik: bei den bolschewistischen<br />
Beratungen verteidigt Schurkanow die radikalsten Handlungen in den Berichten an die<br />
Ochrana vertritt er die Notwendigkeit energischer Anwendung <strong>der</strong> Waffen. Vielleicht<br />
war Schurkanow zu diesem Zwecke sogar bemüht, den Offensivgeist <strong>der</strong> Arbeiter zu<br />
übertreiben. Im wesentlichen aber hat er recht: die Ereignisse werden bald seine Beurteilung<br />
als richtig bestätigen.<br />
Schwanken und Rätselraten herrschte bei den Spitzen bei<strong>der</strong> Lager, denn niemand<br />
konnte von vornherein das Kräfteverhältnis ermessen. Die äußeren Anzeichen haben<br />
endgültig aufgehört, als Gradmesser zu dienen: eines <strong>der</strong> Hauptmerkmale <strong>der</strong> revolutionären<br />
Krise besteht eben in dem scharfen Gegensatz zwischen dem Bewußtsein und den<br />
alten Formen <strong>der</strong> gesellschaftlichen Beziehungen. Das neue Kräfteverhältnis nistete<br />
geheimnisvoll im Bewußtsein <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Und gerade <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong><br />
Regierung zur Offensive, hervorgerufen durch die vorangegangene Offensive <strong>der</strong> revolutionären<br />
Massen, leitete das neue Kräfteverhälmis aus dem potentiellen in den aktiven<br />
Zustand über. Erwartungsvoll und gebieterisch schaute <strong>der</strong> Arbeiter dem Soldaten in die<br />
Augen, dieser aber wandte unsicher und unruhig den Blick ab: das bedeutete, <strong>der</strong> Soldat<br />
war seiner selbst nicht mehr gewiß. Der Arbeiter ging nun mutiger an ihn heran. Der<br />
Soldat verharrte in finsterem, doch nicht feindseligem, eher schuldbewußtem Schweigen,<br />
manchmal - ininier häufiger - antwortete er mit scheinbarer Strenge, um zu verbergen,<br />
wie unruhig das Herz in seiner Brust schlug. So vollzog sich <strong>der</strong> Umschwung. Der Soldat<br />
schüttelte sein Soldatentum offensichtlich von sich ab. Dabei erkannte er sich anfangs<br />
selbst nicht. Die Vorgesetzten sagten, die <strong>Revolution</strong> mache den Soldaten trunken; dem<br />
Soldaten hingegen schien es, als erwache er aus einem Opiumrausch <strong>der</strong> Kaserne. So<br />
bereitete sich <strong>der</strong> entscheidende Tag vor: <strong>der</strong> 27. Februar.<br />
Allein schon am Vorabend ereignete sich ein Vorfall, <strong>der</strong> trotz seines episodischen<br />
Charakters die Ereignisse des 26. Februar in neuem Lichte zeigt: am Abend meuterte die<br />
4. Kompanie <strong>der</strong> Leibgarde des Pawlowski-Regiments. In <strong>der</strong> schriftlichen Meldung<br />
eines Polizeiaufsehers wird als Ursache des Aufstandes ganz kategorisch angegeben:<br />
»Empörung über das Lehrkommando des gleichen Regiments, das während des<br />
Wachdienstes auf dem Newski in die Menge geschossen hat.« Wer hat die 4. Kompanie<br />
davon benachrichtigt? Darüber ist zufällig eine Mitteilung erhalten geblieben. Gegen<br />
zwei Uhr mittags kam zu den Kasernen des Pawlowski-Regiments ein Haufen Arbeiter<br />
gelaufen, die, einan<strong>der</strong> erregt unterbrechend, über die Schießerei auf dem Newski berichteten.<br />
»Sagt den Kameraden, daß auch die Pawlowsker auf uns schießen, wir haben auf<br />
dem Newski Soldaten in eurer Uniform gesehen.« Das war ein bitterer Vorwurf, ein<br />
flammen<strong>der</strong> Mahnruf. »Alle waren bewegt und blaß.« Der Samen war nicht auf Stein<br />
gefallen. Gegen sechs Uhr verließ die 4. Kompanie eigenmächtig die Kaserne unter dem<br />
Kommando eines Unteroffiziers - wer war es? sein Name ging spurlos in den Hun<strong>der</strong>ten<br />
und Tausenden ebensolcher heroischer Namen unter - und begab sich zum Newski, um<br />
ihr Lehrkommando wegzuholen. Das ist keine Soldatenmeuterei madigen Specks wegen,<br />
das ist ein Akt hoher revolutionärer Initiative. Unterwegs hatte die Kompanie einen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 81
Zusammenstoß mit einer berittenen Polizeistreife; sie schoß, tötete einen Schutzmann<br />
und ein Pferd, verwundete einen Schutzmann und ein Pferd. Der weitere Weg <strong>der</strong><br />
Aufständischen durch den Wirbel <strong>der</strong> Straße ist nicht aufzuspüren. Die Kompanie kehrte<br />
in die Kaserne zurück und brachte das ganze Regiment auf die Beine. Aber inzwischen<br />
waren die Waffen beiseite gebracht worden; nach einigen Mitteilungen gelang es jedoch<br />
den Soldaten, in den Besitz von dreißig Gewehren zu kommen. Bald wurden sie von<br />
Soldaten des Preobraschenski-Regiments umzingelt, neunzehn Mann verhaftet und in die<br />
Festung gebracht; <strong>der</strong> Rest ergab sich. Nach einer an<strong>der</strong>en Version fehlten am Abend<br />
beim Appell einundzwanzig Mann mit Gewehren. Ein gefährliches Leck! Die einundzwanzig<br />
Soldaten werden die ganze Nacht Verbündete und Beschützer suchen. Retten<br />
kann sie nur <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Von ihnen werden die Arbeiter Zuverlässiges über<br />
das Vorgefallene erfahren. Das ist kein schlechtes Vorzeichen für die morgigen Kämpfe.<br />
Nabokow, einer <strong>der</strong> angesehensten liberalen Führer, dessen glaubwürdig klingende<br />
Memoiren stellenweise wie ein Tagebuch seiner Partei und seiner Klasse anmuten, kehrte<br />
um ein Uhr nachts von einem Besuch heim durch dunkle, lauernde Straßen, »besorgt und<br />
mit düsteren Vorahnungen.. Möglich, daß ihm an einer Straßenkreuzung ein entlaufener<br />
Pawlowsker begegnete. Sie gingen hastig aneinan<strong>der</strong> vorbei: sie hatten sich nichts zu<br />
sagen. In den Arbeitervierteln und in den Kasernen wachten o<strong>der</strong> berieten sich die einen,<br />
während die an<strong>der</strong>en den Halbschlaf des Biwaks schliefen und fieberhaft vom morgigen<br />
Tag träumten. Dort fand <strong>der</strong> entlaufene Pawlowsker Unterkunft.<br />
Wie dürftig sind die Aufzeichnungen über die Massenkämpfe in den Februartagen,<br />
kärglich selbst im Vergleich mit den nicht übermäßig zahlreichen Aufzeichnungen über<br />
die Oktoberkämpfe. Im Oktober leitete die Aufständischen tagaus, tagein die Partei; in<br />
ihren Artikeln, Aufrufen, Protokollen ist doch mindestens die Reihenfolge <strong>der</strong> Kämpfe<br />
festgehalten. An<strong>der</strong>s im Februar. Eine Leitung <strong>der</strong> Massen von oben gab es fast nicht.<br />
Die Zeitungen schwiegen, denn es war Streik. Ohne sich umzuschauen, machten die<br />
Massen selbst ihre <strong>Geschichte</strong>. Ein lebendiges Bild <strong>der</strong> Ereignisse, die in den Straßen<br />
abrollten, zu schaffen, ist fast unmöglich. Es ist schon viel, wenn man ihre allgemeine<br />
Aufeinan<strong>der</strong>folge und innere Gesetzmäßigkeit wie<strong>der</strong>herstellen kann.<br />
Die Regierung, die den Machtapparat noch nicht verloren hatte, überblickte die Ereignisse<br />
im ganzen noch schlechter als die linken Parteien, die, wie wir wissen, alles an<strong>der</strong>e<br />
als auf <strong>der</strong> Höhe waren. Nach den "erfolgreichen" Erschießungen vom 26. faßten die<br />
Minister für einen Augenblick Mut. Am frühen Morgen des 27. meldet Protopopow<br />
beruhigend, daß, nach den vorliegenden Berichten, »ein Teil <strong>der</strong> Arbeiter beabsichtigt,<br />
die Arbeit wie<strong>der</strong>aufzunehmen«. Die Arbeiter aber dachten nicht im entferntesten daran,<br />
zur Werkbank zurückzukehren. Die Erschießungcn und Mißerfolge des gestrigen Tages<br />
haben die Massen nicht entmutigt. Wie ist das zu erklären? Offenbar überwog irgendein<br />
Plus das Minus. Indem sie sich über die Straßen ergießt, mit dem Feinde zusammenstößt,<br />
die Soldaten an den Schultern rüttelt, unter den Bäuchen <strong>der</strong> Pferde hindurchkriecht,<br />
angreift, auseinan<strong>der</strong>läuft, an den Straßenecken Tote zurückläßt, ab und zu Waffen<br />
erobert, Nachrichten weitergibt, Gerüchte auffängt, wird die aufständische Masse zu<br />
einem Kollektivwesen mit unzähligen Augen, Ohren und Fühlern. In <strong>der</strong> Nacht von <strong>der</strong><br />
Arena des Kampfes in die Fabrikviertel zurückgekehrt, verarbeitet die Masse die<br />
Tageseindrücke und zieht, das Kleinliche und Zufällige aussiebend, das schwerwiegende<br />
Fazit. In <strong>der</strong> Nacht zum 27. sah dieses Fazit ungefähr so aus, wie es <strong>der</strong> Provokateur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 82
Schurkanow seinen Vorgesetzten meldete.<br />
Am Morgen strömen die Arbeiter wie<strong>der</strong> in den Betrieben zusammen und beschließen<br />
in gemeinsamen Versammlungen, den Kampf fortzusetzen. Am eifrigsten sind, wie<br />
immer, die Wyborger. Aber auch in den an<strong>der</strong>en Bezirken verlaufen die Meetings unter<br />
großer Begeisterung. Fortsetzung des Kampfes! Aber was bedeutet das heute? Der<br />
Generalstreik hatte sich in revolutionäre Demonstrationen gewaltiger Massen aufgelöst,<br />
und die Demonstrationen hatten zu Zusammenstößen mit den Truppen geführt. Den<br />
Kampffortsetzen bedeutet heute, zum bewaffneten Aufstand aufrufen. Aber diesen Ruf<br />
erhebt keiner. Er wächst unabwendbar aus den Ereignissen hervor, noch ist er von <strong>der</strong><br />
revolutionären Partei durchaus nicht auf die Tagesordnung gestellt.<br />
Die Kunst <strong>der</strong> revolutionären Führung besteht in kritischen Augenblicken zu neun<br />
Zehntel darin, die Masse belauschen zu können, so wie Kajurow die Bewegung <strong>der</strong><br />
Kosakenaugenbraue abgeguckt hat, nur in viel breiterem Maßstabe. Die unühertreifliche<br />
Fähigkeit, die Masse zu belauschen, bildete die große Macht Lenins. Lenin aber war<br />
nicht in Petrograd. Die legalen und halblegalen "sozialistischen" Stäbe, die Kerenski,<br />
Tschcheidse, Skobelew, und all jene, die sie umschwirrten, konnten nur Warnungen<br />
aufbringen und die Bewegung hemmen. Aber auch <strong>der</strong> zentrale bolschewistische Stab,<br />
<strong>der</strong> aus Schljapnikow, Saluzki und Molotow bestand, verblüfft durch Hilflosigkeit und<br />
Mangel jeglicher Initiative. Tatsächlich waren die Bezirke und die Kasernen sich selbst<br />
überlassen. Der erste Aufruf an die Truppen wurde am 26. von einer sozialdemokratischen<br />
Organisation herausgegeben, die den Bolschewiki nahestand. Dieser Aufruf, <strong>der</strong><br />
einen reichlich unentschlossenen Charakter trug (es fehlte darin sogar die Auffor<strong>der</strong>ung,<br />
auf die Seite des Volkes überzugehen), wurde vom Morgen des 27. an in allen Stadtbezirken<br />
verbreitet. »Jedoch« - bezeugt ein Führer dieser Organisation, Jurenjew -, »das<br />
Tempo <strong>der</strong> revolutionären Ereignisse war <strong>der</strong>art, daß unsere Parolen bereits hinter ihm<br />
zurückblieben. In dem Moment, als die Flugblätter in die Soldatenmasse eindrangen,<br />
vollzog sich ihr Aufbruch.« Was das bolschewistische Zentrum betrifft, so schrieb<br />
Schljapnikow erst am Morgen des 27., auf Veranlassung Tschugurins, einem <strong>der</strong> besten<br />
Arbeiterführer <strong>der</strong> Februartage, einen Aufruf an die Soldaten. Wurde er gedruckt?<br />
Bestenfalls erreichte auch er die Soldaten schon beim Aufbruch. Die Ereignisse des 27.<br />
Februar zu beeinflussen, war er nicht mehr imstande. Man muß als Regel feststellen: die<br />
Führer blieben in jenen Tagen um so weiter zurück, je höher sie standen.<br />
Doch <strong>der</strong> Aufstand, den niemand hei Namen nennt, wird trotzdem auf die Tagesordnung<br />
gestellt. Alle Sinne <strong>der</strong> Arbeiter sind auf die Armee gerichtet. Wird es uns gelingen,<br />
sie in Bewegung zu bringen? Vereinzelte Agitation genügt heute nicht mehr. Die Wyborger<br />
veranstalten vor <strong>der</strong> Kaserne des Moskauer Regimentes ein Meeting. Das Unternehmen<br />
mißlang: ist es denn für einen Offizier o<strong>der</strong> einen Feldwebel schwer, das<br />
Maschinengewehr in Tätigkeit zu setzen? Die Arbeiter wurden durch grausames Feuer<br />
auseinan<strong>der</strong>getrieben. Ein gleicher Versuch wurde bei <strong>der</strong> Kaserne des Reserveregiments<br />
unternommen. Und auch dort das gleiche: zwischen Arbeiter und Soldaten stellten sich<br />
Offiziere mit Maschinengewehren. Die Arbeiterführer rasten, suchten nach Waffen,<br />
for<strong>der</strong>ten sie von <strong>der</strong> Partei. Sie erhielten zur Antwort: Waffen sind bei den Soldaten,<br />
holt sie bei ihnen. Dies wußten sie ohnehin. Aber wie sie holen? Wird heute nicht allesjäh<br />
scheitern? So rückte <strong>der</strong> kritische Punkt des Kampfes immer näher. Entwe<strong>der</strong> wird<br />
das Maschinengewehr den Aufstand hinwegfegen, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufstand in Besitz des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 83
Maschinengewehrs kommen.<br />
In seinen Erinnerungen erzählt Schljapnikow, die Hauptfigur des damaligen Petersburger<br />
Zentrums <strong>der</strong> Bolschewiki, wie er die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiter nach Waffen, wenigstens<br />
Revolvern, ablehnte und auf die Waffen in den Kasernen verwies. Er wollte auf<br />
diese Weise blutige Zusammenstöße zwischen Arbeitern und Soldaten vermeiden und<br />
den ganzen Einsatz auf die Agitation stellen, das heißt auf die Gewinnung <strong>der</strong> Soldaten<br />
durch Wort und Beispiel. Wir kennen keine an<strong>der</strong>en Angaben, die diese, eher von<br />
Wankelmut als von Weitblick zeugende Aussage eines angesehenen Führers jener Tage<br />
bestätigt o<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>legt hätten. Einfacher wäre gewesen, zuzugeben, daß die Führer<br />
keine Waffen besaßen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Schicksal je<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
auf einer bestimmten Etappe durch den Umschwung in <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Armee<br />
entschieden wird. Über eine zahlreiche, disziplinierte, gut bewaffnete und fachmännisch<br />
geleitete Militärmacht könnten unbewaffnete o<strong>der</strong> kaum bewaffnete Volksmassen keinen<br />
Sieg erringen. Aber jede tiefgehende nationale Krise muß in diesem o<strong>der</strong> jenem Grade<br />
natürlich auch die Armee erfassen; so bildet sich, zusammen mit den Bedingungen einer<br />
wahrhaften Volksrevolution, die Möglichkeit - allerdings nicht die Gewähr ihres Sieges<br />
heraus. Der Übergang <strong>der</strong> Armee auf die Seite <strong>der</strong> Auf-ständischen vollzieht sich jedoch<br />
nicht automatisch und kann nicht die Folge <strong>der</strong> Agitation allein sein. Die Armee ist<br />
uneinheitlich, und ihre antagonistischen Elemente werden durch den Terror <strong>der</strong> Disziplin<br />
zusammengehalten. Noch am Vorabend <strong>der</strong> entscheidenden Stunde wissen revolutionäre<br />
Soldaten oft nicht, welche Macht sie darstellen und wie groß die Möglichkeiten ihres<br />
Einflusses sind. Uneinheitlich sind allerdings auch die Arbeitermassen. Aber sie besitzen<br />
unermeßlich größere Möglichkeiten, im Prozeß <strong>der</strong> Vorbereitung des entscheidenden<br />
Zusammenstoßes ihre Reihen nachzuprüfen. Streiks, Versammlungen, Demonstrationen<br />
sind sowohl Akte des Kampfes als auch dessen Gradmesser. Nicht die gesamte Masse<br />
nimmt an Streiks teil. Nicht alle Streikenden sind kampfbereit. In den zugespitztesten<br />
Augenblicken sind auf <strong>der</strong> Straße nur die Entsehlossensten. Die Schwankenden, Müden<br />
o<strong>der</strong> Rückständigen sitzen zu Hause. So vollzieht sich die revolutionäre Auslese von<br />
selbst, die Menschen werden durch das Sieb <strong>der</strong> Ereignisse geson<strong>der</strong>t. An<strong>der</strong>s verhält es<br />
sich mit <strong>der</strong> Armee. Die revolutionären Soldaten, die sympathisierenden, die schwankenden,<br />
die feindlich gesinnten - alle sind an den Zwang <strong>der</strong> Disziplin gebunden, <strong>der</strong>en<br />
Fäden bis zum letzten Augenblick in <strong>der</strong> Faust des Offiziers konzentriert bleiben. Die<br />
Soldaten werden noch immer täglich in "erste" und "zweite" Reihen eingeteilt, wie aber<br />
sind sie in Meuternde und Gehorsame einzuteilen?<br />
Der psychologische Moment des Überschwenkens <strong>der</strong> Soldaten auf die Seite <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> wird durch einen langen molekularen Prozeß vorbereitet, <strong>der</strong>, wie alle Naturprozesse,<br />
seinen kritischen Punkt hat. Doch wie ihn bestimmen? Ein Truppenteil kann<br />
für den Anschluß an das Volk völlig reif sein, aber von außen den nötigen Anstoß nicht<br />
erhalten. Die revolutionäre Leitung glaubt noch nicht an die Möglichkeit, die Armee auf<br />
ihrer Seite zu haben, und geht am Sieg vorbei. Nach einem solchen herangereiften, aber<br />
nicht verwirklichten Aufstand, kann sich bei den Truppen eine Reaktion vollziehen: die<br />
Soldaten verlieren die in ihrem Innern aufgeflammte Hoffnung, beugen den Nacken<br />
wie<strong>der</strong> unter das Joch <strong>der</strong> Disziplin und werden dann bei einer neuen Begegnung mit den<br />
Arbeitern beson<strong>der</strong>s auf Distanz, gegen die Aufständischen sein. Dieser Prozeß birgt<br />
viele unwägbare o<strong>der</strong> schwer wägbare Größen, sich kreuzende Ströme, kollektive Sugge-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 84
stionen und Autosuggestionen. Aber von diesem kornplizierten Geflecht materieller und<br />
psychischer Kräfte hebt sich mit unwi<strong>der</strong>stehlicher Grelle die eine Schlußfolgerung ab:<br />
in ihrer Masse sind die Soldaten um so fähiger, die Bajonette zur Seite zu wenden o<strong>der</strong><br />
mit ihnen zum Volke überzugehen, je mehr sie sich davon überzeugen, daß die Aufständischen<br />
sich wirklich erhoben haben; daß es nicht nur eine Demonstration ist, nach <strong>der</strong><br />
man wie<strong>der</strong> in die Kaserne wird zurückkehren und Antwort stehen müssen; daß es ein<br />
Kampf auf Leben und Tod ist; daß das Volk zu siegen imstande ist, wenn man sich ihm<br />
anschließt, und daß dies nicht nur Straffreiheit sichern, son<strong>der</strong>n das ganze Dasein erleichtern<br />
wird. Mit an<strong>der</strong>en Worten, den Stimmungswechsel bei den Soldaten können die<br />
Aufständischen nur in dem Falle hervorrufen, daß sie selbst wirklich bereit sind, den Sieg<br />
um jeden Preis, folglich auch mit ihrem Blute, an sich zu reißen. Diese höchste<br />
Entschlossenheit aber kann und will niemals waffenlos sein.<br />
Die kritische Stunde <strong>der</strong> Berührung <strong>der</strong> vordrängenden Masse mit den ihr den Weg<br />
sperrenden Soldaten hat ihre kritische Minute: dann, wenn die graue Barriere noch nicht<br />
auseinan<strong>der</strong>gefallen ist, noch Schulter an Schulter steht, aber bereits schwankt und <strong>der</strong><br />
Offizier unter Sammlung seiner letzten Entschlossenheit den Befehl "Feuer" gibt. Schreie<br />
<strong>der</strong> Menge, Aufheulen des Schreckens und Drohungen übertönen die Stimme des<br />
Kommandos, - doch nur zur Hälfte. Die Gewehre wogen, die Menge drängt nach vorn.<br />
Da richtet <strong>der</strong> Offizier den Lauf seines Revolvers auf den verdächtigsten Soldaten. Aus<br />
<strong>der</strong> entscheidenden Minute hebt sich die entscheidende Sekunde heraus. Die Vernichtung<br />
des kühnsten Soldaten, auf den unwillkürlich die Blicke aller übrigen gerichtet sind, <strong>der</strong><br />
Schuß eines Unteroffiziers aus dem einem Toten entrissenen Gewehr in die Menge - und<br />
die Barriere schließt sich, die Gewehre gehen von selbst los, die Menge in die Nebenstraßen<br />
und Höfe wegfegend. Aber wie viele Male seit dem Jahre 1905 ist es an<strong>der</strong>s gekommen:<br />
im kritischen Augenblick, als <strong>der</strong> Offizier den Hahn abzudrücken sich anschickt,<br />
kommt ihm ein Schuß aus <strong>der</strong> Menge zuvor, die ihre Kajurows und Tschugurins hat.<br />
Dies entscheidet nicht nur das Schicksal des Zusammenpralls, son<strong>der</strong>n das Schicksal des<br />
Tages, vielleicht des ganzen Aufstandes.<br />
Die Aufgabe, die Schljapnikow sich gestellt hatte: die Arbeiter vor feindlichen Zusammenstößen<br />
mit den Truppen zu bewahren, indem man den Aulständischen keine Schußwaffen<br />
in die Hand gibt, ist überhaupt undurchführbar. Bevor es tatsächlich bis zu einem<br />
Zusammenprall mit den Truppen kam, gab es zahllose Geplänkel mit <strong>der</strong> Polizei. Der<br />
Straßenkampf begann mit <strong>der</strong> Entwaffnung <strong>der</strong> verhaßten "Pharaonen", <strong>der</strong>en Revolver<br />
in den Besitz <strong>der</strong> Aufständischen übergingen. An sich eine schwache Waffe, fast ein<br />
Spielzeug gegenüber den Gewehren, Maschinengewehren und Kanonen des Feindes.<br />
Sind aber diese wirklich in den Händen des Feindes? Um dies nachprüfen zu können,<br />
verlangten die Arbeiter eben Waffen. Die Frage wird auf dem psychologischen Gebiet<br />
entschieden. Aber auch beim Aufstande sind die psychischen Prozesse von den sachlichen<br />
nicht zu trennen. Der Weg zum Soldatengewehr geht über den Revolver, den man<br />
dem "Pharao" abnimmt.<br />
Die Erlebnisse <strong>der</strong> Soldaten in jenen Stunden waren weniger aktiv als die Erlebnisse<br />
<strong>der</strong> Arbeiter, aber nicht weniger tief. Wir wollen nochmals daran erinnern, daß die Garnison<br />
vorwiegend aus vieltausendköpfigen Reservebataillonen bestand, die zur Aufführung<br />
<strong>der</strong> Frontregimenter bestimmt waren. Diesen Menschen, in ihrer Mehrzahl Familienväter,<br />
stand bevor, in die Schützengräben zu gehen, wiewohl <strong>der</strong> Krieg bereits verloren, das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 85
Land ruiniert war. Sie wollten den Krieg nicht, sie wollten nach Hause, zu ihrer<br />
Wirtschaft zurück. Sie wußten sehr gut, was am Hofe sich abspielte, und fühlten nicht die<br />
geringste Anhänglichkeit für die Monarchie. Sie hatten keine Lust, gegen die Deutschen<br />
zu kämpfen und noch weniger gegen die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter. Sie haßten die regierende<br />
Klasse <strong>der</strong> Hauptstadt, die sich während des Krieges dem Wohlleben hingab. Unter ihnen<br />
waren Arbeiter mit revolutionärer Vergangenheit, die all diesen Stimmungen einen<br />
verallgemeinernden Ausdruck zu geben wußten.<br />
Die Soldaten von ihrer tiefen, aber noch nicht nach außen gedrungenen revolutionären<br />
Unzufriedenheit zu offenen, aufrührerischen Taten zu bringen o<strong>der</strong>, fürs erste, wenigstens<br />
zu aufrührerischer Verweigerung von Taten, - das war die Aufgabe. Am dritten<br />
Tage des Kampfes büßten die Soldaten endgültig die Möglichkeit ein, noch weiterhin in<br />
<strong>der</strong> Position wohlwollen<strong>der</strong> Neutralität gegen die Aufständischen zu verharren. Nur<br />
zufällige Bruchteile sind uns darüber erhalten geblieben, was sich in jenen Stunden des<br />
Zusammentreffens <strong>der</strong> Arbeiter mit den Soldaten abgespielt hat. Wir hörten schon, wie<br />
bitter die Arbeiter sich tags zuvor bei dem Pawlowski-Regiment über das Vorgehen des<br />
Lehrkommandos beklagten. Solche Szenen, solche Gespräche, Vorwürfe und Beschwörungen<br />
gab es an allen Enden <strong>der</strong> Stadt. Den Soldaten blieb keine Zeit mehr zum<br />
Schwanken. Man hatte sie gestern gezwungen, zu schießen, man wird sie heute wie<strong>der</strong><br />
dazu zwingen. Die Arbeiter ergeben sich nicht, weichen nicht zurück, unter dem Hagel<br />
des Bleies wollen sie das Ihrige erringen. Arbeiterinnen, Frauen, Mütter, Schwestern,<br />
Geliebte, sind mit ihnen. Das ist ja nun die Stunde, von <strong>der</strong> man so oft flüsternd in<br />
verborgenen Winkeln sprach: »Ja, wenn doch alle gemeinsam ...« Und im Augenblick<br />
<strong>der</strong> höchsten Qual, <strong>der</strong> unerträglichsten Angst vor dem werdenden Tag, im Augenblick<br />
des würgenden Hasses gegen jene, die ihnen die Henkerrolle aufzwingen, ertönen in den<br />
Kasernen die ersten Stimmen des offenen Aufruhrs; und in diesen Stimmen, die namenlos<br />
geblieben sind, erkennt die ganze Kaserne voll Erleichterung und Begeisterung sich<br />
selbst. So brach über das Land <strong>der</strong> Tag des Unterganges <strong>der</strong> Romanowschen Monarchie<br />
herein.<br />
Morgens, in <strong>der</strong> Versammlung bei dem unermüdlichen Kajurow, wo ungefähr vierzig<br />
Vertreter aus Fabriken und Betrieben anwesend waren, sprach sich die Mehrzahl für die<br />
Fortsetzung des Kampfes aus. Die Mehrzahl, doch nicht alle. Es ist bedauerlich, daß man<br />
die genaue Mehrheit nicht feststellen kann. Aber in jenen Stunden stand <strong>der</strong> Sinn nicht<br />
nach Protokollen. Im übrigen kam <strong>der</strong> Beschluß verspätet: die Versammlung wurde<br />
durch die berauschende Nachricht vom Aufstande <strong>der</strong> Soldaten und <strong>der</strong> Öffnung <strong>der</strong><br />
Gefängnisse unterbrochen. »Schurkanow küßte sich mit allen Anwesenden.« Der Kuß des<br />
Judas, zum Glück nicht vor <strong>der</strong> Kreuzigung.<br />
Eines nach dem an<strong>der</strong>en meuterten am Morgen - vor dem Ausmarsch aus <strong>der</strong> Kaserne<br />
-, die Reservegardebataillone, in Fortsetzung dessen, was die 4. Kompanie des Pawlowski-Regimentes<br />
tags zuvor begonnen hatte. In den Dokumenten, Aufzeichnungen und<br />
Erinnerungen hat dieses grandiose Ereignis <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte nur blasse und<br />
verschwommene Spuren hinterlassen. Die unterdrückten Massen erzählen, selbst wenn<br />
sie sich auf die höchsten Gipfel historischer Leistung erheben, nur wenig von sich, und<br />
noch weniger schreiben sie es nie<strong>der</strong>. Und <strong>der</strong> hinreißende Triumph des Sieges verwischt<br />
dann die Arbeit des Gedächtnisses. Nehmen wir also das, was vorhanden ist.<br />
Zuerst erhoben sich die Soldaten des Wolynski-Regiments. Bereits um sieben Uhr<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 86
morgens alarmierte <strong>der</strong> Bataillonskommandeur telephonisch den General Chabalow, um<br />
ihm die bedrohliche Nachricht zu geben, das Lehrkommando, das heißt <strong>der</strong> speziell für<br />
Ruhestiftung vorgesehene Truppenteil, weigere sich, auszurücken, <strong>der</strong> Kommandant sei<br />
ermordet o<strong>der</strong> habe sich vor versammelter Mannschaft selbst erschossen; die zweite<br />
Version wurde übrigens bald fallengelassen. Nachdem sie die Brücken hinter sich<br />
verbrannt hatten, waren die Wolyner bestrebt, die Basis des Aufstandes zu verbreitern:<br />
das war jetzt für sie die einzige Rettung. Sie stürzten in die benachbarten Kasernen <strong>der</strong><br />
Litowski- und Preobraschenski-Regimenter, um die Soldaten "rauszuholen", wie Streikende<br />
von Betrieb zu Betrieb gehen, um die Arbeiter herauszuholen. Nach einiger Zeit<br />
erhielt Chabalow die Meldung, die Wolyner gäben die Gewehre nicht nur nicht ab, wie<br />
es <strong>der</strong> General befohlen, son<strong>der</strong>n sie hätten gemeinsam mit den Preobraschenskern und<br />
Litowskem und, was noch schlimmer war, »vereinigt mit den Arbeitern« die Kasernen<br />
<strong>der</strong> Gendarmeriedivision demoliert. Das besagte, daß die gestrige Erfahrung des<br />
Pawlowski-Regiments nicht verlorengegangen war: die Aurfständischen fanden Führer<br />
und gleichzeitig einen Aktionsplan.<br />
In den frühen Morgenstunden des 27. schien den Arbeitern die Lösung <strong>der</strong> Aufgaben<br />
des Aufstandes unermeßlich ferner, als sie in Wirklichkeit war. Richtiger gesagt, sie<br />
sahen fast noch die ganze Aufgabe vor sich, während diese schon zu neun Zehntel hinter<br />
ihnen lag. Der revolutionäre Ansturm <strong>der</strong> Arbeiter auf die Kasernen fiel zusammen mit<br />
dem bereits begonnenen revolutionären Ausmarsch <strong>der</strong> Soldaten auf die Straße. Im Laufe<br />
des Tages verschmolzen diese zwei mächtigen Ströme in eins, um zuerst Dach, dann<br />
Mauern und schließlich Fundament des alten Gebäudes fortzuspülen und abzutragen.<br />
Tschugurin erschien als einer <strong>der</strong> ersten im Quartier <strong>der</strong> Bolschewiki mit einem<br />
Gewehr in <strong>der</strong> Hand und einem Patronengürtel über den Schultern, »ganz beschmutzt,<br />
aber strahlend und siegreich«. Wie konnte man da nicht strahlen! Die Soldaten gehen<br />
mit dem Gewehr in <strong>der</strong> Hand zu uns über! An manchen Orten war es den Arbeitern<br />
bereits gelungen, sich mit den Soldaten zu vereinigen, in die Kasernen einzudringen und<br />
dort Gewehre und Patronen zu erhalten. Gemeinsam mit dem entschlossensten Teil <strong>der</strong><br />
Soldaten entwarfen die Wyborger einen Aktionsplan: Eroberung <strong>der</strong> Polizeireviere, in<br />
denen sich bewaffnete Schutzleute verschanzt haben, Entwaffnung aller Polizeibeamten,<br />
Befreiung <strong>der</strong> Arbeiter, die in den Polizeirevieren festgehalten werden, und <strong>der</strong> politischen<br />
Gefangenen aus den Gefängnissen; Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Regierungstruppen in <strong>der</strong><br />
Stadt selbst und Vereinigung mit den noch nicht auf die Beine gebrachten Truppenteilen<br />
und mit den Arbeitern <strong>der</strong> übrigen Stadtbezirke.<br />
Das Moskauer-Regiment schloß sich nicht ohne inneren Kampf dem Aufstand an. Es<br />
ist verwun<strong>der</strong>lich, daß es solche Kämpfe in den Regimentern überhaupt so wenig<br />
gegeben hat. Die monarchische Oberschicht fiel kraftlos um vor <strong>der</strong> Soldatenmasse und<br />
verkroch sich entwe<strong>der</strong> in den Löchern o<strong>der</strong> beeilte sich, die Farbe zu wechseln. »Um<br />
zwei Uhr mittags«, schreibt Koroljew, ein Arbeiter aus <strong>der</strong> Fabrik "Arsenal", »nach dem<br />
Ausmarsch des Moskauer-Regiments, bewaffneten wir uns ... Wir nahmen je<strong>der</strong> einen<br />
Revolver und ein Gewehr, bildeten aus den an uns herangetretenen Soldaten Gruppen<br />
(einige von ihnen ersuchten uns, das Kommando zu übernehmen und ihnen zu sagen, was<br />
sie zu tun hätten) und begaben uns in die Tichwinskajastraße, ein Polizeirevier auszuheben.«<br />
Die Arbeiter waren, wie man sieht, nicht eine Minute in Verlegenheit, den Soldaten<br />
zu zeigen, »was zu tun« sei.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 87
Freudige Siegesnachrichten lösten einan<strong>der</strong> ab: Man ist im Besitz von Panzerwagen!<br />
Mit ihren roten Bannern jagen sie in den Bezirken allen jenen Schrecken ein, die sich<br />
noch nicht unterworfen haben. Jetzt braucht man nicht mehr unter den Bäuchen <strong>der</strong><br />
Kosakenpferde herumzukriechen! Die <strong>Revolution</strong> reckt sich in ihrem ganzen Wuchse<br />
hoch!<br />
Gegen zwölf Uhr mittags wurde Petrograd wie<strong>der</strong> zum Schauplatz kriegerischer Aktionen.<br />
Gewehr- und Maschinengewehrgeknatter ertönte überall. Wer schießt und wo<br />
geschossen wird, ist nicht immer zu unterscheiden. Klar war eines: Es beschossen sich<br />
Vergangenheit und Zukunft. Es gab auch nicht selten unnötiges Geschieße: Jugendliche<br />
feuern aus Revolvern, die auf so unerwartete Weise in ihre Hände geraten sind. Das<br />
Arsenal ist ausgeraubt: »Man sagt, allein an Brownings wurden mehrere zehntausend<br />
erbeutet.« Von den brennenden Gebäuden des Bezirksgerichts und <strong>der</strong> Polizeireviere<br />
steigen Rauchsäulen zum Himmel. An einigen Punkten verdichten sich die Zusammenstöße<br />
und Schießereien zu wahren Schlachten. Zu den Baracken am Sampsonjewski-Prospekt,<br />
in denen eine Radfahrertruppe untergebracht ist, von <strong>der</strong> ein Teil vor dem Tore<br />
sich zusammendrängt, kommen Arbeiter. »Was steht ihr da, Kameraden?« Die Soldaten<br />
lächeln - »lächeln nicht gut«, berichtet ein Teilnehmer - und schweigen, die Offiziere<br />
aber befehlen den Arbeitern grob, weiterzugehen. Die Radfahrer sowohl wie die Kavalleristen<br />
zeigten sich in <strong>der</strong> Februar- wie in <strong>der</strong> Oktoberrevolution als die konservativsten<br />
Armeeteile. Vor dem Zaune sammeln sich bald Arbeiter und revolutionäre Soldaten. Man<br />
muß das verdächtige Bataillon herausholen! Jemand sagt, man habe bereits nach Panzerwagen<br />
geschickt, an<strong>der</strong>s seien die Radfahrer wohl kaum zu bezwingen, da sie sich<br />
befestigt und Maschinengewehre aufgestellt hätten. Aber <strong>der</strong> Masse fällt das Warten<br />
schwer: sie ist unruhig und ungeduldig, und sie hat mit ihrer Ungeduld recht. Auf beiden<br />
Seiten fallen Schüsse. Der Bretterzaun, <strong>der</strong> die Soldaten von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> trennt, ist<br />
hin<strong>der</strong>lich. Die Angreifer beschließen, den Zaun umzulegen; ein Teil wird<br />
nie<strong>der</strong>gerissen, ein Teil in Brand gesteckt. Die Baracken, etwa zwanzig an <strong>der</strong> Zahl,<br />
stehen entblößt da. In zwei, drei von ihnen sind die Radfahrer untergebracht. Die leeren<br />
Baracken werden auf <strong>der</strong> Stelle angezündet. Sechs Jahre später wird sich Kajurow entsinnen:<br />
»Die lo<strong>der</strong>nden Baracken und <strong>der</strong> sie umgebende nie<strong>der</strong>gerissene Zaun, das<br />
Knattern <strong>der</strong> Maschinengewehre und Gewehre, die erregten Gesichter <strong>der</strong> Belagerer,<br />
das herbeirasende Lastauto voll bewaffneter <strong>Revolution</strong>äre und schließlich <strong>der</strong> auftauchende<br />
Panzerwagen mit den glänzenden Geschützläufen - ein groflartiges, unvergeßliches<br />
Bild.« Mit diesen Baracken und Zäunen brannte das alte zatistische Rußland <strong>der</strong><br />
Polizei, <strong>der</strong> Leibeigenschaft und <strong>der</strong> Popen, es ging im Feuer und Rauch auf, es krepierte<br />
im Lärm des Maschinengewehrgeknatters. Wie sollten da Kajurow, die Dutzende,<br />
Hun<strong>der</strong>te und Tausende Kajurows nicht gejubelt haben. Der eingetroffene Panzerwagen<br />
gab einige Kanonenschüsse auf die Baracken ab, in denen sich die Offiziere und Radfahrer<br />
festgesetzt hatten. Der Leiter <strong>der</strong> Verteidigung fiel, die Offiziere rissen Achselstücke<br />
und Abzeichen ab und flüchteten durch die angrenzenden Gemüsegärten, die übrigen<br />
ergaben sich. Das war wohl <strong>der</strong> wichtigste Zusammenstoß dieses Tages.<br />
Der militärische Aufstand nahm unterdes epidemischen Charakter an. Es meuterten an<br />
diesem Tage nur jene Truppenteile nicht, die dazu nicht Zeit fanden. Gegen Abend<br />
schlossen sich die Soldaten des Semjonowski-Regiments an, das durch bestialisches<br />
Nie<strong>der</strong>schlagen des Moskauer Aufstandes im Jahre 1905 berühmt geworden war: die elf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 88
Jahre waren nicht spurlos vergangen! Gemeinsam mit den Jägern entwaffneten die<br />
Semjonowsker noch spät abends das Ismajlowski-Regiment, das die Vorgesetzten in den<br />
Kasernen eingeschlossen hielten: Dieses Regiment, das am 3. Dezember 1905 den ersten<br />
Petersburger Sowjet umringt und verhaftet hatte, galt schon damals als eines <strong>der</strong><br />
rückständigsten. Die zatistische Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt, die 150.000 Soldaten zählte,<br />
kroch auseinan<strong>der</strong>, zerschmolz, verschwand. Nachts existierte sie nicht mehr.<br />
Chabalow, <strong>der</strong> am Morgen die Kunde von dem Aulstand <strong>der</strong> Regimenter vernimmt,<br />
versucht noch, Wi<strong>der</strong>stand zu leisten, indem er eine kombinierte Abteilung von etwa<br />
tausend Mann mit den drakonischsten Instruktionen gegen die Aufständischen marschieren<br />
läßt. Doch das Schicksal dieser Abteilung nimmt einen geheininisvollen Verlauf. »Es<br />
beginnt etwas Unwalirscheinliches sich in diesen Tagen abzuspielen«, erzählt <strong>der</strong> unvergleichliche<br />
Chabalow nach dem Umsturz, »... die Abteilung ist ausgerückt, ausgerückt<br />
mit mutigen, entschlossenen Offizieren [die Rede ist vom Obersten Kutjepow], aber ...<br />
ergebnislos.« Die nach dieser Abteilung ausgesandten Kompanien verschwinden gleichfalls<br />
spurlos. Der General beginnt auf dem Schloßplatz Reserveabteilungen zu formieren,<br />
aber »es gab keine Patronen, und man konnte sie nirgendwo auftreiben«. Das alles sind<br />
dokumentarische Angaben Chabalows vor <strong>der</strong> Untersuchungskommission <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung. Wohin verschwanden denn all diese Ordnungstruppen? Dies ist nicht<br />
schwer zu erraten: Sie gingen, kaum ausgerückt, im Aufstande unter. Arbeiter, Frauen,<br />
Jugendliche, meuternde Soldaten umringten die Chabalowschen Abteilungen von allen<br />
Seiten, da sie sie entwe<strong>der</strong> als die Ihrigen betrachteten o<strong>der</strong> zu solchen machen wollten,<br />
und ließen sie nicht an<strong>der</strong>s vorwärts als zusammen mit <strong>der</strong> großen, unübersehbaren<br />
Menge. Gegen diese fest an ihnen klebende, nichts mehr fürchtende, unerschöpifiche,<br />
alles durchdringende Masse zu kämpfen war ebensowenig möglich wie im Teig zu<br />
fechten.<br />
Gleichzeitig mit den Meldungen über Meutereien immer neuer Regimenter erging <strong>der</strong><br />
Ruf nach zuverlässigen Truppenteilen zur Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes, zum Schutze<br />
<strong>der</strong> Telephonstation, des Litauischen Schlosses, des Mariinski-Palais' und an<strong>der</strong>er, noch<br />
geheiligterer Stätten. Chabalow versuchte telephonisch, aus Kronstadt zuverlässige<br />
Truppen anzufor<strong>der</strong>n, aber <strong>der</strong> Kommandant antwortete ihm, er sei selbst um das Schicksal<br />
<strong>der</strong> Festung in Sorge. Chabalow wußte noch nicht, daß <strong>der</strong> Aufstand auch die benachbarten<br />
Garnisonen erfaßt hatte. Der General versuchte, o<strong>der</strong> tat wenigstens so, als versuche<br />
er, sich im Winterpalais zu verschanzen, <strong>der</strong> Plan wurde aber sofort als undurchführbar<br />
aufgegeben und das letzte Häuflein "treuer" Truppen in die Admiralität verlegt. Dort<br />
traf <strong>der</strong> Diktator endlich Sorge, das wichtigste und unaufschiebbarste Werk zu tun: die<br />
zwei letzten Regierungsakte - den Rücktritt Protopopows »wegen Krankheit« und die<br />
Erklärung des Belagerungszustandes - in Druck zu geben. Mit dem Belagerungszustand<br />
hieß es sich allerdings beeilen, denn schon nach wenigen Stunden hob die Armee Chabalows<br />
die »Belagerung« Petrograds wie<strong>der</strong> auf und lief aus <strong>der</strong> Admiralität aus-einan<strong>der</strong>.<br />
Nur in Unkenntnis <strong>der</strong> Lage hat die Revolntion am Abend des 27. den mit schrecklichen<br />
Vollmachten ausgerüsteten, aber gar nicht mehr schrecklichen General nicht verhaftet.<br />
Das wurde ohne Schwierigkeiten am nächsten Tag getan.<br />
War das wirklich <strong>der</strong> ganze Wi<strong>der</strong>stand des furchtbaren kaiserlichen Rußlands<br />
angesichts <strong>der</strong> tödlichen Gefahr? Ja, beinahe <strong>der</strong> ganze, trotz <strong>der</strong> großen Erfahrung in<br />
Exekutionen gegen das Volk und <strong>der</strong> sorgfältigst ausgearbeiteten Pläne. Die später zur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 89
Besinnung gekommenen Monarchisten erklärten die Leichtigkeit des Februarsieges des<br />
Volkes mit dem beson<strong>der</strong>en Charakter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison. Der gesamte weitere<br />
Verlauf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wi<strong>der</strong>legt jedoch diese Behauptung. Es ist richtig, daß bereits zu<br />
Beginn des schlcksalsvollen Jahres die Kamarilla dem Zaren den Gedanken von <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit eincr Erneuerung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison einzuflüstern versucht hatte.<br />
Mühelos ließ sich <strong>der</strong> Zar davon überzeugen, daß die Gardekavallerie, die als beson<strong>der</strong>s<br />
ergeben galt, »lange genug im Feuer gestanden« hätte und eine Ruhepause in den Petrogra<strong>der</strong><br />
Kasernen verdiene. Allein nach ehrfurchtsvollen Vorstellungen seitens <strong>der</strong> Front<br />
willigte <strong>der</strong> Zar ein, vier Gardekavallerieregimenter durch drei Gardematrosenequipagen<br />
zu ersetzen. Nach <strong>der</strong> Protopopowschen Version wurde dieser Wechsel angeblich ohne<br />
Wissen des Zaren vorgenommen, mit einer treubrüchigen Absicht des Kommandos:<br />
»Die Matrosen sind aus Arbeitern ausgewählt und stellen das revolutionäre Element in<br />
<strong>der</strong> Armee dar.« Das ist aber reiner Unsinn. Es ist einfach so, daß die höheren Gardeoffiziere,<br />
beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Kavallerie, zu gute Karriere an <strong>der</strong> Front machten, um Sehnsucht<br />
nach dem Hinterlande zu verspüren. Außerdem dachten sie wohl nicht ohne Angst an die<br />
ihnen vorbehaltenen Unterdrückungsfunktionen an <strong>der</strong> Spitze von Regimentern, die an<br />
<strong>der</strong> Front ganz an<strong>der</strong>s geworden, als sie am Standort, in <strong>der</strong> Hauptstadt, gewesen waren.<br />
Wie die Ereignisse an <strong>der</strong> Front bald zeigten, unterschied sich zu dieser Zeit die Gardekavallerie<br />
nicht von <strong>der</strong> übrigen Reiterei, während die in die Hauptstadt übergeführten<br />
Gardematrosen sich beim Februarumsturz keinesfalls durch eine aktive Rolle auszeichneten.<br />
Die ganze Sache war so, daß das Gewebe des Regimes endgültig verfault und an ihm<br />
kein heiler Faden geblieben war<br />
Im Laufr des 27. Februars wurden ohne Opfer aus zahlreichen Gefängnissen <strong>der</strong><br />
Hauptstadt die politischen Gefangenen befreit, darunter die patriotische Gruppe des<br />
Kriegsindustriekomitees, die seit dem 26. Januar verhaftet war, und die Mitglie<strong>der</strong> des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki, die Chabalow vierzig Stunden vorher festgenommen<br />
hatte. Die politische Abson<strong>der</strong>ung vollzieht sich an Ort und Stelle, jenseits des<br />
Gefängnistores: die Menschewikipatrioten begeben sich in die Duma, wo Rollen und<br />
Posten verteilt werden, die Bolschewiki gehen in die Bezirke, zu den Arbeitern und<br />
Soldaten, um gemeinsam mit ihnen die Eroberung <strong>der</strong> Hauptstadt zu vollenden. Man darf<br />
dem Feinde keine Atempause gewähren. Mehr als irgendeine an<strong>der</strong>e Sache muß man<br />
eine <strong>Revolution</strong> bis ans Ende führen.<br />
Wer auf den Gedanken gekommen war, die aufständischen Regimenter zum Taurischen<br />
Palais zu dirigieren, läßt sich nicht beantworten. Diese politische Marschroute<br />
ergab sich aus <strong>der</strong> ganzen Situation. Zum Taurischen Palais, als dem Sammelpunkt <strong>der</strong><br />
oppositionellen Information, strebten natürlicherweise alle Elemente des Radikalismus,<br />
die mit den Massen nicht verbunden waren. Es ist höchst wahrscheinlich, daß gerade<br />
diese Elemente, die am 27. plötzlich einen Zustrom neuer Lebenskräfte verspürten, als<br />
Anführer <strong>der</strong> meuternden Garde auftraten. Diese Rolle war ehrenvoll und beinahe schon<br />
ungefährlich. Das Palais Potemkin war seiner ganzen Lage nach sehr geeignet als<br />
Zentrum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Nur eine Straße trennte den Taurischen Garten von einem<br />
ganzen Militärstädtchen, wo die Gardekasernen lagen und verschiedene Kriegsämter<br />
untergebracht waren. Allerdings galt dieser Stadtteil während einer Reihe von Jahren<br />
sowohl bei <strong>der</strong> Regierung wie bei den <strong>Revolution</strong>ären als militärische Hochburg <strong>der</strong><br />
Monarchie. Er war es auch. Jetzt aber verwandelte sich alles. Vom Gardesektor ging die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 90
Soldatenrevolte aus. Die aufständischen Truppen hatten nur eine Straße zu überqueren,<br />
um in den Garten des Taurischen Palais zu gelangen, den wie<strong>der</strong> nur ein Straßenblock<br />
von <strong>der</strong> Newa trennte. Hinter <strong>der</strong> Newa aber liegt <strong>der</strong> Wyborger Bezirk, <strong>der</strong> Dampfkessel<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: die Arbeiter brauchten nur die Alexan<strong>der</strong>brücke o<strong>der</strong>, wenn diese auseinan<strong>der</strong>genommen,<br />
das Eis <strong>der</strong> Newa zu passieren, um in die Gardekasernen o<strong>der</strong> in das<br />
Taurische Palais zu gelangen. So schloß sich dieses verschiedenartige und seiner<br />
Abstammung nach gegensätzliche nordöstliche Dreieck Petersburgs: Garde, Potemkin-<br />
Palais und die Riesenbetriebe fest zu einem Heerlager <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zusammen.<br />
In den Räumen des Taurischen Palais werden verschiedene Zentren geschaffen o<strong>der</strong> in<br />
Aussicht genommen, darunter auch <strong>der</strong> Generalstab des Aufstandes. Man kann nicht<br />
sagen, daß dieser einen sehr ernsten Charakter trug. Die "revolutionären" Offiziere, das<br />
heißt Offiziere, die in ihrer Vergangenheit durch irgend etwas, und sei es auch durch ein<br />
Mißverständnis, mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verbunden gewesen waren, den Aufstand jedoch<br />
wohlbehalten verschlafen hatten, suchen nach seinem Sieg sich eiligst in Erinnerung zu<br />
bringen o<strong>der</strong> stellen sich, aufgefor<strong>der</strong>t, »in den Dienst <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Tiefsinnig<br />
betrachten sie die Lage und schütteln pessimistisch die Köpfe. Diese aufgeregten, oft<br />
unbewaffneten Soldatenmassen seien ja nicht kampffähig. Es gäbe we<strong>der</strong> Artillerie, noch<br />
Maschinengewehre, noch Verbindungen, noch Kommandeure. Dem Feinde würde ein<br />
fester Truppenteil genügen! Im Augenblick behin<strong>der</strong>n die revolutionären Haufen allerdings<br />
jede planmäßige Operation in den Straßen. In <strong>der</strong> Nacht aber entfernen sich die<br />
Arbeiter, die Einwohner verstummen, die Stadt wird leer. Greift Chabalow dann mit<br />
einem festen Truppenteil die Kasernen an, kann er sich als Herr <strong>der</strong> Lage erweisen.<br />
Nebenbei gesagt taucht dieser Gedanke später in verschiedenen Variationen in allen<br />
Etappen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf. »Gebt mir ein sicheres Regiment«, wird ein flinker Oberst in<br />
seinem Winkel sagen, »und ich fege im Nu diesen ganzen Unrat weg.« Einige, wie wir<br />
noch sehen werden, machten auch den Versuch. Aber alle werden die Worte Chabalows<br />
wie<strong>der</strong>holen müssen: »Die Abteilung ist ausgerückt mit mutigen Offizieren, aber ...<br />
ergebnislos.«<br />
Woher auch sollten die Ergebnisse kommen? Die unerschütter-lichsten aller Abteilungen<br />
waren die Polizisten, die Gendarmen und zum Teil noch die Lehrkommandos einiger<br />
Regimenter. Sie erwiesen sich aber als kläglich vor dem Ansturm wahrhafter Volksmassen,<br />
wie sich acht Monate später, im Oktober, die Bataillone des Georgjewski-Regiments<br />
und die Junkerschulen als ohnmächtig erweisen werden. Wo sollte die Monarchie die<br />
rettende Truppe hernehmen, die bereit und fähig gewesen wäre zu einem langwierigen<br />
und hoffnungslosen Zweikampfe mit <strong>der</strong> Zweiniillionenstadt? Die <strong>Revolution</strong> erscheint<br />
dem in Worten unternehmungslustigen Obersten schutzlos, weil sie noch schrecklich<br />
chaotisch ist: überall planlose Bewegungen, sich kreuzende Ströme, Menschenstrudel,<br />
erstaunte, gleichsam jäh betäubte Gestalten, zerknüllte Uniformen, gestikulierende<br />
Studenten, Soldaten ohne Gewehre, Gewehre ohne Soldaten, in die Luft schießende<br />
Jugendliche, tausendstimmiger Lärm, Fluten wildester Gerüchte, grundlose Ängste,<br />
grundlose Freuden; es braucht sich, scheint es, nur ein einziger Säbel über diesem Chaos<br />
zu erheben, und alles wird restlos auseinan<strong>der</strong>stieben. Das aber ist ein großer Sehfehler.<br />
Das Chaos ist nur scheinbar. Darunter vollzieht sich unaufhaltsam eine Kristallisierung<br />
<strong>der</strong> Massen um neue Achsen. Die ungezählten Mengen sind sich noch selbst nicht ganz<br />
im klaren, wie sie wollen, dafür aber sind sie von brennendem Haß gegen das erfüllt, was<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 91
sie nicht länger wollen. Hinter ihrem Rücken ist ein nie wie<strong>der</strong> ungeschehen zu machen<strong>der</strong><br />
Einsturz erfolgt. Ein Zurück gibt es nicht. Auch wenn eine Macht vorhanden wäre,<br />
sie auseinan<strong>der</strong>zutreiben, sie wären in einer Stunde wie<strong>der</strong> beisammen, und <strong>der</strong> zweite<br />
Ansturm würde wüten<strong>der</strong> und blutiger geworden sein. Seit den Februartagen ist die<br />
Atmosphäre in Petrograd so glühend heiß, daß je<strong>der</strong> feindliche Truppenteil, <strong>der</strong> in diesen<br />
gewaltigen Herd gerät o<strong>der</strong> sich ihm auch nur nähert, von seinem Atem versengt wird, -<br />
sich verwandelt, die Sicherheit verliert, sich paralysiert fühlt und sich den Siegern<br />
kampflos auf Gnade o<strong>der</strong> Ungnade ergibt. Davon wird sich morgen General Iwanow<br />
überzeugen, den <strong>der</strong> Zar mit einem Bataillon Georgierkavallerie von <strong>der</strong> Front gesandt<br />
hat. Nach fünf Monaten wird das gleiche Schicksal General Kornilow ereilen. Nach acht<br />
Monaten - Kerenski.<br />
In den vorangegangenen Tagen scheinen in den Straßen die Kosaken die nachgiebigsten<br />
zu sein; das kam daher, daß sie am meisten herumgezerrt wurden. Als es aber zum<br />
offenen Aufstand kam, rechtfertigte die Reiterei noch einmal ihre konservative Reputation,<br />
indem sie hinter <strong>der</strong> Infanterie zurückblieb. Am 27. bewahrte sie noch den Schein<br />
abwarten<strong>der</strong> Neutralität. Wenn auch Chabalow nicht mehr auf sie hoffte, die <strong>Revolution</strong><br />
war vor ihr noch immer auf <strong>der</strong> Hut.<br />
Ein Rätsel blieb einstweilen noch die Peterpaulfestung auf <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Newa umspülten<br />
Insel gegenüber dem Winterpalais und den Schlössern <strong>der</strong> Großfürsten. Hinter den<br />
Mauern war - o<strong>der</strong> schien - die Garnison <strong>der</strong> Festung gegen Einflüsse <strong>der</strong> äußeren Welt<br />
am meisten geschützt. Eine ständige Artillerie gab es in <strong>der</strong> Festung nicht, wenn man von<br />
<strong>der</strong> altertümlichen Kanone absieht, die täglich den Petrogra<strong>der</strong>n die Mittagsstunde<br />
verkündete. Heute aber sind auf den Mauern, gegen die Brücke gerichtet, Feldgeschütze<br />
aufgestellt. Was bereitet sich dort vor? Im Taurischen Stab zerbricht man sich nachts<br />
darüber den Kopf, was man mit <strong>der</strong> Peterpaulfestung beginnen solle, während man sich<br />
in <strong>der</strong> Festung mit <strong>der</strong> Frage abquält; was die <strong>Revolution</strong> mit ihr vorhabe. Am Morgen<br />
wird sich das Rätsel lösen. »Unter <strong>der</strong> Bedingung <strong>der</strong> Unantastbarkeit des Offiziersbestandes«<br />
wird die Festung dem Taurischen Palais übergeben. Nachdem sie sich über die<br />
Lage klargeworden waren, was nicht gar so schwer war, beeilten sich die Festungsoffiziere,<br />
dem unvermeidlichen Gang <strong>der</strong> Ereignisse zuvorzukommen.<br />
Gegen Abend des 27. ziehen Soldaten, Arbeiter, Studenten und Bürger zum Taurischen<br />
Palais. Hier hofft man die zu finden, die alles wissen, hier glaubt man Neues erfahren zu<br />
können, Direktiven zu erhalten. Ins Palais werden haufenweise von allen Seiten Waffen<br />
zusammengetragen und in einem Raum aufgestapelt, <strong>der</strong> sich in ein Arsenal verwandelt.<br />
In <strong>der</strong> Nacht hat unterdessen <strong>der</strong> revolutionäre Stab im Taurischen Palais sich ans Werk<br />
gemacht. Er sendet Kommandos aus zur Bewachung <strong>der</strong> Bahnhöfe und Patrouillen in alle<br />
Richtungen, aus denen eventuell Gefahr drohen könnte. Willig und wi<strong>der</strong>spruchslos,<br />
wenn auch in völliger Unordnung, erfüllen die Soldaten die Befehle <strong>der</strong> neuen Macht.<br />
Sie for<strong>der</strong>n aber jedesmal eine schriftliche Or<strong>der</strong>: die Initiative stammt wohl von den<br />
Überresten des Kommandobestandes o<strong>der</strong> von den Militärschreibern. Aber sie haben<br />
recht: man muß unverzüglich Ordnung in das Chaos bringen. Der revolutionäre Stab wie<br />
<strong>der</strong> eben entstandene Sowjet besitzen noch keinerlei Stempel. Der <strong>Revolution</strong> steht erst<br />
bevor, die bürokratische Wirtschaft ein-zuführen. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit wird sie es tun,<br />
lei<strong>der</strong> bis zum Überfluß.<br />
Die <strong>Revolution</strong> beginnt nach den Feinden zu suchen. In <strong>der</strong> Stadt werden Verhaftun-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 92
gen vorgenommen; »eigenmächtig«, werden die Liberalen vorwurfsvoll sagen. Aber die<br />
ganze <strong>Revolution</strong> ist eigenmächtig. Ins Taurische Palais werden unaufbörlich Gefangene<br />
eingeliefert: <strong>der</strong> Vorsitzende des Staatsrates, Minister, Schutzleute, Ochranaagenten, eine<br />
»germanophile« Gräfin, Gendarmerieoffiziere haufenweise. Einige Würdenträger, wie<br />
Protopopow, kommen von selbst, um sich verhaften zu lassen: das ist sicherer. »Die<br />
Wände des Saales, die einst von Ruhmeshymnen auf den Absolutismus ertönten, vernahmen<br />
heute nur Seufzer und Weinen«, wird später die freigelassene Gräfin erzählen.<br />
»Nebenan läßt sich ein gefangener General kraftlos in einen Stuhl sinken. Einige<br />
Dumamitglie<strong>der</strong> bieten mir liebenswürdig eine Tasse Tee an. Der tief in seiner Seele<br />
erschütterte General sagt erregt: "Gräfin, wir sind Zeugen des Unterganges eines<br />
großen Landes!"«<br />
Das große Land, das gar nicht daran dachte, unterzugehen, schritt, mit den Stiefeln<br />
stampfend, mit den Kolben polternd, die Luft mit Rufen erschütternd und auf manchen<br />
Fuß tretend, an den Menschen von gestern vorbei. <strong>Revolution</strong>en pflegten sich stets durch<br />
Unhöflichkeit auszuzeichnen: wohl deshalb, weil die herrschenden Klassen sich nicht<br />
rechtzeitig die Mühe gaben, das Volk an gute Manieren zu gewöhnen.<br />
Das Taurische Palais wird vorübergehend Hauptquartier, Regierungszentrum, Arsenal<br />
und Gefängnisverlies <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die noch nicht Schweiß und Blut von ihrem Antlitz<br />
abgewischt hat. Hier, in diesen Strudel, schleichen sich auch die unternehmungslustigen<br />
Feinde ein. Zufällig wird ein verkleideter Gendarmerieoberst entdeckt, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Ecke<br />
seine Aufzeichnungen macht - nicht etwa für die <strong>Geschichte</strong>, son<strong>der</strong>n für die Feldgerichte.<br />
Soldaten und Arbeiter wollen gleich auf <strong>der</strong> Stelle mit ihm Schluß machen. Doch die<br />
Männer vom "Stab" nehmen sich seiner an und führen ihn behutsam aus <strong>der</strong> Menge. Die<br />
<strong>Revolution</strong> ist zu dieser Zeit noch gutmütig, vertrauensvoll, weichherzig. Sie wird erst<br />
nach einer Reihe von Verrat, Betrug und blutigen Prüfüngen erbarmungslos werden.<br />
Die erste Nacht <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> ist von Unruhe erfüllt. Improvisierte<br />
Kommissare <strong>der</strong> Bahnhöfe und an<strong>der</strong>er Punkte, in ihrer Mehrzahl zufällige Intellektuelle<br />
mit persönlichen Beziehungen, aufdringliche Wichtigtuer, entfernte Bekannte <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> Unteroffiziere, beson<strong>der</strong>s aus <strong>der</strong> Arbeiterschicht, wären viel nützlicher<br />
gewesen! -, beginnen nervös zu werden, wittern überall Gefahr, verwirren die Soldaten<br />
und telephonieren unaufhörlich ins Taurische Palais nach Verstärkungen. Dort herrscht<br />
ebenfalls Aufregung, auch dort wird dauernd telephoniert, Verstärkungen werden ausgesandt,<br />
die den Bestimmungsort meist nicht erreichen. »Wer Befehle erhält«, erzählt ein<br />
Mitglied des nächtlichen Stabs im Taurischen, »führt sie nicht aus, wer handelt - handelt<br />
ohne Befehle...«<br />
Ohne Befehle handeln die Arbeiterviertel. Die revolutionären Obleute, die ihre<br />
Betriebe auf die Straße führten, Polizeireviere besetzten, die Regimenter aus den Kasernen<br />
herausholten und die Nester <strong>der</strong> Konterrevolution aushoben, eilen nicht ins Taurische,<br />
in die Stäbe, in die leitenden Zentren, im Gegenteil, ironisch und mißtrauisch<br />
weisen sie mit dem Kopf in jene Richtung: schon flattern die Herrchen herbei, um das<br />
Fell des nicht von ihnen erlegten und noch nicht völlig erlegten Bären zu teilen. Die<br />
Arbeiter-Bolschewiki wie die Arbeiter <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en linken Parteien verbringen ihre Tage<br />
in den Straßen, die Nächte in den Bezirksstäben, halten die Verbindung mit den Kasernen<br />
aufrecht, bereiten den morgigen Tag vor. In <strong>der</strong> ersten Nacht nach dem Siege setzen<br />
sie die Arbeit fort, die sie die letzten fünf Tage getan haben. Sie bilden das junge<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 93
Knochengerüst <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die, wie jede <strong>Revolution</strong>, an ihrem Anfang noch zu<br />
ungefestigt ist.<br />
Nabokow, das uns bereits bekannte Mitglied des Kadettenzentrums, <strong>der</strong> in dieser Zeit<br />
als legalisierter Deserteur dem Generalstab angehörte, begab sich am 27., wie stets, zum<br />
Dienst in die Kanzlei und blieb dort, ohne etwas von den Ereignissen zu wissen, bis 3<br />
Uhr nachmittags. Am Abend hörte man in <strong>der</strong> Morskaja-Straße Schüsse. Nabokow<br />
vernahm sie in seiner Wohnung, Panzerwagen rasten vorbei, vereinzelte Soldaten und<br />
Matrosen liefen die Mauern entlang durch die Straße, - <strong>der</strong> ehrwürdige Liberale beobachtete<br />
das durch die Seitenfenster seines Erkers. »Das Telephonamt arbeitete weiter, und<br />
die Nachrichten über die Tagesereignisse wurden mir, wenn ich mich recht entsinne, von<br />
meinen Freunden mitgeteilt. Zur gewohnten Stunde gingen wir schlafen.« Dieser Mann<br />
wird bald einer <strong>der</strong> Inspiratoren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>ären (!) Provisorischen Regierung sein, in<br />
Gestalt ihres Geschäftsführers. Auf <strong>der</strong> Straße wird morgen ein unbekannter Greis,<br />
irgendein Bürobeamter o<strong>der</strong> vielleicht Lehrer an ihn herantreten, wird den Hut ziehen<br />
und sprechen: »Dank für alles, was Sie für das Volk getan haben.« Und mit bescheidenem<br />
Stolz wird Nabokow selbst es uns erzählen.<br />
Wer leitete den Februaraufstand?<br />
Die Advokaten und Journalisten <strong>der</strong> durch die <strong>Revolution</strong> betroffenen Klassen haben<br />
nachträglich nicht wenig Tinte verbraucht, um zu beweisen, daß im Februar eigentlich<br />
eine Weiberrebellion stattgefunden habe, die dann von <strong>der</strong> Soldatenmeuterei überdeckt<br />
wurde; das eben habe man für eine <strong>Revolution</strong> ausgegeben. Ludwig XVI. wollte seinerzeit<br />
ebenfalls glauben, die Einnahme <strong>der</strong> Bastille sei eine Rebellion, doch man hat ihm<br />
ehrfurchtsvoll beigebracht, daß es eine <strong>Revolution</strong> sei. Jene, die bei einer <strong>Revolution</strong><br />
verlieren, sind selten geneigt, ihr ihren rechten Namen zuzugestehen, denn dieser ist,<br />
trotz aller Bemühungen wüten<strong>der</strong> Reaktionäre, im historischen Gedächtnis <strong>der</strong> Menschheit<br />
mit <strong>der</strong> Aureole <strong>der</strong> Befreiung von alten Ketten und Vorurteilen umgeben. Die Privilegierten<br />
aller Jahrhun<strong>der</strong>te und <strong>der</strong>en Lakaien haben unentwegt versucht, die<br />
<strong>Revolution</strong>, die sie gestürzt hatte, zum Unterschiede von den früheren, als Wirren,<br />
Meuterei o<strong>der</strong> Pöbelrebellion zu proklamieren. Klassen, die sich überlebt haben, zeichnen<br />
sich nie durch Erfindungsgeist aus.<br />
Kurz nach dem 27. Februar unternahm man Versuche, die Februarrevolution mit dem<br />
jungtürkischen Militärstreich zu vergleichen, von dem, wie wir wissen, man in den<br />
oberen Schichten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie nicht wenig geträumt hatte. Dieser<br />
Vergleich war jedoch <strong>der</strong>art trostlos, daß er sogar in einem bürgerlichen Blatte eine<br />
ernste Zurückweisung fand. Tugan-Baranowski, Nationalökonom, <strong>der</strong> in seiner Jugend<br />
die Marxsche Schule durchgemacht hatte, eine russische Spielart von Sombart, schrieb<br />
am 10. März in <strong>der</strong> 'Birschewyje Wedomosti':<br />
»Die türkische <strong>Revolution</strong> bestand in einer siegreichen Erhebung <strong>der</strong> Armee, die von<br />
den Führern vorbereitet und verwirklicht worden war. Die Soldaten waren nur gehorsame<br />
Vollstrecker <strong>der</strong> Absichten ihrer Offiziere. Aber jene Gar<strong>der</strong>egimenter, die am<br />
27. den <strong>russischen</strong> Thron umgestürzt haben, waren ohne ihre Offiziere erschienen ...<br />
Nicht die Armee, son<strong>der</strong>n die Arbeiter haben den Aufstand begonnen. Nicht Generale,<br />
son<strong>der</strong>n Soldaten sind zur Reichsduma marschiert. Die Soldaten haben die Arbeiter<br />
unterstützt, nicht in gehorsamer Ausführung <strong>der</strong> Befehle ihrer Offiziere, son<strong>der</strong>n, weil<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 94
... sie sich blutsverwandt fühlten mit den Arbeitern, als einer Klasse ebenso werktätiger<br />
Menschen wie sie selbst. Die Bauern und die Arbeiter - das sind die zwei sozialen<br />
Klassen, die die russische <strong>Revolution</strong> vollbrachten.«<br />
Diese Worte bedürfen we<strong>der</strong> einer Berichtigung noch Ergänzung. Die weitere<br />
Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hat ihren Sinn zur Genüge bestätigt und bekräftigt.<br />
Der letzte Februartag war in Petrograd <strong>der</strong> erste Tag nach dem Siege: ein Tag <strong>der</strong><br />
Begeisterung, <strong>der</strong> Umarmungen, freudiger Tränen, wortreicher Ergüsse, doch zugleich<br />
<strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> letzten Schläge gegen den Feind. in den Straßen knatterten noch Schüsse.<br />
Man erzählte, Protopopows "Pharaonen", über den Sieg des Volkes nicht unterrichtet,<br />
schössen noch weiter von den Dächern. Von unten feuerte man gegen Dachböden,<br />
Bodenfenster und Kirchtürme, wo man bewaffnete Phantome des Zarismus vermutete.<br />
Um 4 Uhr nachmittags wurde die Admiralität besetzt, wo sich die letzten Reste einstiger<br />
Staatsmacht verborgen hielten. <strong>Revolution</strong>äre Organisationen und improvisierte Gruppen<br />
nahmen in <strong>der</strong> Stadt Verhaftungen vor. Das Schlüsselburger Zuchthaus wurde ohne einen<br />
Schuß genommen. Es schlossen sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> immer neue und neue Regimenter<br />
an: in <strong>der</strong> Hauptstadt und in <strong>der</strong> Umgebung.<br />
Der Umsturz in Moskau war nur ein Wi<strong>der</strong>hall des Aufstandes in Petrograd. Die<br />
gleichen Stimmungen bei Arbeitern und Soldaten, nur im Ausdruck nicht so kraß. Etwas<br />
linkere Stimmungen bei <strong>der</strong> Bourgeoisie. Eine noch größere Schwäche <strong>der</strong> revolutionären<br />
Organisationen als in Petrograd. Als die Ereignisse an <strong>der</strong> Newa ihren Anfang<br />
nahmen, hielt die Moskauer radikale Intelligenz Beratungen ab, was zu tun sei, und kam<br />
zu keinem Entschluß. Erst am 27. Februar begannen in den Moskauer Fabrikbetrieben<br />
Streiks, danach folgten Demonstrationen. Die Offiziere sagten den Soldaten in den<br />
Kasernen, auf den Straßen meutere Gesindel, das man zur Räson bringen müsse. »Aber<br />
jetzt«, erzählt <strong>der</strong> Soldat Schischilin, »verstanden die Soldaten das Wort Gesindel<br />
verkehrt!« Gegen 2 Uhr nachmittags erschienen vor dem Gebäude <strong>der</strong> Stadtduma aus<br />
verschiedenen Regimentern zahlreiche Soldaten, die Wege suchten, sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
anzuschließen. Am nächsten Tage wuchsen die Ausstände an. Massen zogen mit Fahnen<br />
zur Duma. Der Soldat <strong>der</strong> Automobil-Kompanie, Muralow, ein alter Bolschewik,<br />
Agronom von Beruf, ein großmütiger und tapferer Riese, führte den ersten geschlossenen<br />
und disziplinierten Truppenteil zur Duma, <strong>der</strong> das Radio und an<strong>der</strong>e Punkte besetzte.<br />
Acht Monate später wird Muralow die Truppen des Moskauer Milätarbezirks kommandieren.<br />
Die Gefängnisse wurden geöffnet. Der gleiche Muralow brachte einen Lastwagen mit<br />
befreiten politischen Gefangenen. Die Hand an <strong>der</strong> Mütze, fragte <strong>der</strong> Polizeiaufseher den<br />
<strong>Revolution</strong>är, ob man auch Juden herauslassen solle. Der soeben aus dem Zuchthaus<br />
befreite Dserschlnski, <strong>der</strong> die Arrestantenklei<strong>der</strong> noch nicht gewechselt hatte, trat im<br />
Gebäude <strong>der</strong> Duma auf, wo sich bereits <strong>der</strong> Sowjet formierte. Der Artillerist Dorofejew<br />
wird später erzählen, wie die Arbeiter <strong>der</strong> Konfektfabrik Siou am 1. März mit Fahnen in<br />
<strong>der</strong> Kaseme <strong>der</strong> Artilleriebrigade erschienen, sich mit den Soldaten zu verbrü<strong>der</strong>n, und<br />
wie viele sich vor Freude nicht fassen konnten und weinten. Es gab in <strong>der</strong> Stadt vereinzelte<br />
Schüsse aus dem Hinterhalt, im allgemeinen aber we<strong>der</strong> bewaffnete Zusammenstöße<br />
noch Opfer: für Moskau stand Petrograd ein.<br />
In einer Reihe von Provinzstädten begann die Bewegung erst am 1. März, nachdem <strong>der</strong><br />
Umsturz auch in Moskau bereits vollzogen war. In Twer begaben sich die Arbeiter aus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 95
den Betrieben in Demonstrationszügen zu den Kasernen und marschierten, zusammen<br />
mit den Soldaten, durch die Straßen <strong>der</strong> Stadt. Damals sang man noch die Marseillaise<br />
und nicht die <strong>Internationale</strong>. In Nischni-Nowgorod versammelten sich Tausende von<br />
Menschen beim Gebäude <strong>der</strong> Stadtduma, das in den meisten Städten die Rolle des Taurischen<br />
Palais spielte. Nach <strong>der</strong> Rede des Bürgermeisters setzten sich die Arbeiter mit<br />
roten Fahnen in Bewegung, die Politischen aus den Gefängnissen zu befreien. Von<br />
einundzwanzig Truppenteilen <strong>der</strong> Garnison gingen schon bis zum Abend achtzehn<br />
freiwillig zur <strong>Revolution</strong> über. In Samara und Saratow fanden Meetings statt, wurden<br />
Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten gebildet. In Charkow richtete sich <strong>der</strong> Polizeimeister, <strong>der</strong><br />
Zeit gefunden hatte, am Bahnhof über den Umsturz Erkundigungen einzuziehen, in<br />
seinem Wagen vor <strong>der</strong> erregten Menge hoch und schrie aus voller Lunge, die Mütze in<br />
<strong>der</strong> Luft schwenkend: »Es lebe die <strong>Revolution</strong>, hurra!« Jekaterinoslaw erhielt die Kunde<br />
aus Charkow. An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Manifestation schritt <strong>der</strong> Gehilfe des Polizeimeisters,<br />
den langen Säbel mit <strong>der</strong> Hand stützend, wie es bei Paraden an Zarentagen üblich<br />
gewesen. Als es endgäitig klar war, daß die Monarchie sich nicht mehr erheben werde,<br />
begann man in den Regierungsämtern in aller Stille die Zarenporträts herunterzunehmen<br />
und auf dem Boden zu verstecken. Solche Anekdoten, wahre und erfundene, gab es nicht<br />
wenig in den liberalen Kreisen, die noch den Geschmack an dem scherzhaften Ton in<br />
bezug auf die <strong>Revolution</strong> nicht verloren hatten. Die Arbeiter wie die Soldatengarnisonen<br />
erlebten die Ereignisse auf ganz an<strong>der</strong>e Art.<br />
Von einer Reihe an<strong>der</strong>er Provinzstädte (Pskow, Orel, Rybinsk, Pensa, Kasan, Zarizyn<br />
usw.) vermerkt die Chronik unter dem 2. März: »Man erfuhr von dem vollzogenen<br />
Umsturz, und die Bevölkerung schloß sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an.« Dieser Bericht gibt, trotz<br />
seines summarischen Charakters, das Geschehene im wesentlichen richtig wie<strong>der</strong>.<br />
In das Dorf flossen die Nachrichten über die <strong>Revolution</strong> aus den nächsten Städten teils<br />
durch die Behörden, hauptsächlich durch die Märkte, die Arbeiter und die Urlauber. Das<br />
Dorf nahm den Umsturz langsamer und weniger enthusiastisch auf als die Stadt, aber<br />
nicht min<strong>der</strong> tief: es verband ihn mit Krieg und Land.<br />
Es wäre keine Übertreibung, zu sagen, daß Petrograd die Februarrevolution<br />
vollbrachte. Das übrige Land schloß sich ihm an. Nirgends außer in Petrograd gab es<br />
Kampf. Im ganzen Lande fanden sich keine Bevölkerungskreise, Parteien, Institutionen<br />
o<strong>der</strong> Truppenteile, die es gewagt hätten, zum Schutze des alten Regimes aufzustehen.<br />
Das beweist, wie unbegründet das spätere Gerede <strong>der</strong> Reaktionäre war, wonach das<br />
Schicksal <strong>der</strong> Monarchie sich an<strong>der</strong>s gestaltet hätte, wenn die Gardekavallerie in Petrograd<br />
gewesen wäre o<strong>der</strong> wenn Iwanow eine zuverlässige Brigade von <strong>der</strong> Front gebracht<br />
hätte. We<strong>der</strong> im Hinterlande noch an <strong>der</strong> Front war eine Brigade o<strong>der</strong> ein Regiment<br />
bereit, sich für Nikolaus II. zu schlagen.<br />
Der Umsturz vollzog sich auf Initiative und durch die Kraft einer Stadt, die etwa ein<br />
Fünfundsiebzigstel <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung Rußlands umfaßte. Wenn man will, kann<br />
man sagen, <strong>der</strong> größte demokratische Akt vollzog sich auf die undemokratischste Weise.<br />
Das ganze Land war vor eine vollendete Tatsache gestellt. Der Umstand, daß man in <strong>der</strong><br />
Perspektive mit <strong>der</strong> konstituierenden Versammlung rechnete, än<strong>der</strong>t daran nichts, denn<br />
die Fristen und die Art <strong>der</strong> Einberufung <strong>der</strong> Nationalvertretung wurden von Organen<br />
bestimmt, die aus dem siegreichen Petrogra<strong>der</strong> Aufstand hervorgegangen waren. Das<br />
wirft ein grelles Licht auf die Frage <strong>der</strong> Funktion demokratischer Formen im allgemeinen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 96
und während revolutionärer Epochen im beson<strong>der</strong>en. Dem juristischen Fetischismus des<br />
Volkswillens haben <strong>Revolution</strong>en stets schwere Schläge zugefügt, und zwar um so erbarmungsloser,<br />
je tiefer, kühner, demokratischer diese <strong>Revolution</strong>en waren.<br />
Es ist oft genug davon gesprochen worden, beson<strong>der</strong>s in bezug auf die Große Französische<br />
<strong>Revolution</strong>, daß die äußerste Zentralisierung <strong>der</strong> Monarchie später <strong>der</strong> revolutionären<br />
Hauptstadt gestartete, für das ganze Land zu denken und zu handeln. Diese Erklärung<br />
ist oberflächlich. Wenn die <strong>Revolution</strong> zentralistische Tendenzen aufweist, so nicht als<br />
Nachahmung <strong>der</strong> gestürzten Monarchie, son<strong>der</strong>n infolge <strong>der</strong> unausweichlichen Bedüriiaisse<br />
<strong>der</strong> neuen Gesellschaft, die sich mit Partikularismus nicht vertragen. Wenn die<br />
Hauptstadt in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine so dominierende Rolle spielt und in gewissen Momenten<br />
gleichsam den Willen <strong>der</strong> Nation in sich konzentriert, dann eben deshalb, weil sie die<br />
wesentlichsten Tendenzen <strong>der</strong> neuen Gesellschaft am krassesten ausdrückt und zu Ende<br />
führt. Die Provinz empfindet die Schritte <strong>der</strong> Hauptstadt als ihre eigenen, aber bereits in<br />
die Tat umgesetzten Absichten. Die initiative Rolle <strong>der</strong> Zentren ist nicht eine Verletzung<br />
des Demokratismus, son<strong>der</strong>n seine dynamische Verwirklichung. Jedoch fiel in großen<br />
<strong>Revolution</strong>en <strong>der</strong> Rhythmus dieser Dynamik niemals mit dem Rhythmus <strong>der</strong> formalen,<br />
repräsentativen Demokratie zusammen. Die Provinz schließt sich den Handlungen des<br />
Zentrums an, nur mit Verspätung. Bei <strong>der</strong> eine <strong>Revolution</strong> charakterisierenden schnellen<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse führt dies zu scharfen, mit Methoden <strong>der</strong> Demokratie nicht<br />
zu lösenden Krisen des revolutionären Parlamentarismus. In allen wirklichen <strong>Revolution</strong>en<br />
zerschlug sich die Nationalvertretung unvermeidlich den Kopf an <strong>der</strong> Dynamik <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong>en Hauptherd die Hauptstadt war. So im siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t in<br />
England, im achtzehnten in Frankreich und im zwanzigsten in Rußland. Die Rolle <strong>der</strong><br />
Hauptstadt wird nicht durch die Traditienen des bürokratischen Zentralismus, son<strong>der</strong>n<br />
durch die Lage <strong>der</strong> führenden revolutionären Klasse bestimmt, <strong>der</strong>en Avantgarde sich<br />
naturgemäß in <strong>der</strong> Hauptstadt konzentriert: das trifft in gleicher Weise für die Bourgeoisie<br />
wie für das Proletariat zu.<br />
Als <strong>der</strong> Februarsieg feststand, ging man an das Zählen <strong>der</strong> Opfer. In Petrograd wurden<br />
ermittelt: 1.443 Tote und Verwundete, darunter 869 Militärpersonen, davon 60 Offiziere.<br />
Verglichen mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Opfer einer beliebigen Schlacht <strong>der</strong> großen Metzelei sind<br />
diese erheblichen Zahlen verschwindend gering. Die liberale Presse verkündete die<br />
Februarrevolution als eine unblutige. In den Tagen allgemeiner Auflösung <strong>der</strong> Gefühle<br />
und gegenseitigen Amnestierens <strong>der</strong> patriotischen Parteien unternahm es niemand, die<br />
Wahrheit festzustellen. Albert Thomas, <strong>der</strong> Freund alles Siegreichen, sogar siegreicher<br />
Aufstände, schrieb damals von <strong>der</strong> »allersonnigsten, allerfestlichsten, allerunblutigsten<br />
<strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>«. Allerdings in <strong>der</strong> Hoffnung, sie würde zur Verfügung <strong>der</strong><br />
französischen Börse bleiben. Aber schließlich hatte nicht Thomas das Pulver erfunden.<br />
Am 27. Juni 1789 rief Mirabeau: »Welches Glück, diese große <strong>Revolution</strong> wird ohne<br />
Morde und ohne Tränen auskommen! ... Die <strong>Geschichte</strong> hat zu lange nur von Raubtiertaten<br />
berichtet ... Wir dürfen hoffen, die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschen zu beginnen.« Als alle<br />
drei Stände sich in <strong>der</strong> Nationalversammlung vereinigt hatten, schrieben die Vorfahren<br />
von Albert Thomas: »Die <strong>Revolution</strong> ist beendet, sie hat keinen Tropfen Blut gekostet.«<br />
Und man muß zugeben, daß es in jener Periode tatsächlich noch kein Blut gegeben hatte.<br />
An<strong>der</strong>s in den Februartagen. Doch die Legende von <strong>der</strong> unblutigen <strong>Revolution</strong> erhielt<br />
sich hartnäckig, da es dem Bedürfnis des liberalen Bourgeois entsprach, die Sache so<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 97
darzustellen, als sei ihm die Macht von selbst zugefallen.<br />
Wenn aber die Februarrevolution auch nicht unblutig gewesen ist, so muß man doch<br />
staunen über die geringe Zahl an Opfern, sowohl im Augenblick des Umsturzes als auch<br />
beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> ersten nachfolgenden Periode. War es doch eine Abrechnung für<br />
Sklaverei, Verfolgungen, Hohn und nie<strong>der</strong>trächtige Mißhandlungen, denen die Volksmassen<br />
Rußlands jahrhun<strong>der</strong>telang ausgesetzt gewesen waren! Matrosen und Soldaten<br />
rechneten zwar hie und da mit ihren schlimmsten Schin<strong>der</strong>n in Gestalt von Offizieren ab.<br />
Doch war die Zahl solcher Vergeltungen verschwindend im Vergleich mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong><br />
alten blutigen Kränkungen. Die Massen streiften ihre Gutmütigkeit erst bedeutend später<br />
ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß die herrschenden Klassen alles zurückzuzerren<br />
und die <strong>Revolution</strong>, die sie nicht vollbracht hatten, für sich auszunutzen suchten, wie<br />
sie sich stets die Güter des Lebens, die sie nicht erzeugten, anzueignen pflegten.<br />
Tugan-Baranowski hat recht, wenn er sagt, die Februarrevolution hätten die Arbeiter<br />
und Bauern vollbracht, die letzteren in <strong>der</strong> Person des Soldaten. Es bleibt aber die große<br />
Frage bestehen, wer hat den Umsturz geleitet? Wer hat die Arbeiter auf die Beine<br />
gebracht? Wer die Soldaten auf die Straße geführt? Nach dem Siege wurden diese<br />
Fragen Gegenstand von Parteikänipfen. Am einfachsten suchte man sie durch eine<br />
Universalformel zu lösen: keiner hat die <strong>Revolution</strong> geleitet, sie vollzog sich von selbst.<br />
Diese "Elementar"-Theorie kam nicht nur jenen Herrschaften sehr gelegen, die gestern<br />
noch in aller Ruhe administriert, gerichtet, angeklagt, verteidigt, gehandelt o<strong>der</strong><br />
kommandiert hatten, heute aber Eile zeigten, sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> anzubie<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />
auch vielen Berufspolitikem und gewesenen <strong>Revolution</strong>ären, die, nachdem sie die<br />
<strong>Revolution</strong> verschlafen hatten, nun glauben wollten, sie unterschieden sich in dieser<br />
Hinsicht nicht von allen an<strong>der</strong>en.<br />
In seiner kuriosen "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirren" erzählt General Denikin, <strong>der</strong><br />
ehemalige Höchstkommandierende <strong>der</strong> Weißen Armee, über den 27. Februar: »An<br />
diesem entscheidenden Tage gab es keine Führer, es gab nur entfesselte Elemente. In<br />
ihrem zornigen Lauf konnte man we<strong>der</strong> Ziel, noch Plan, noch Parolen erkennen.« Der<br />
gelehrte Historiker Miljukow schürft nicht tiefer als <strong>der</strong> General, <strong>der</strong> eine Schwäche für<br />
das Schrifttum hat. Bis zum Umsturz hatte <strong>der</strong> liberale Führer jeden Gedanken an eine<br />
<strong>Revolution</strong> für eine Eingebung des deutschen Stabes erklärt. Die Lage wurde aber nach<br />
dem Umsturz, <strong>der</strong> die Liberalen an die Macht brachte, verzwickter. Jetzt bestand Miijukows<br />
Aufgabe nicht mehr darin, die <strong>Revolution</strong> mit <strong>der</strong> Ehrlosigkeit <strong>der</strong> hohenzollernschen<br />
Initiative zu behaften, son<strong>der</strong>n, im Gegenteil, den <strong>Revolution</strong>ären die Ehre <strong>der</strong><br />
Initiative abzusprechen. Der Liberalismus adoptierte vollständig die Theorie vom<br />
elementaren und unpersönlichen Charakter des Umsturzes. Mit Sympathie heruft sich<br />
Miljukow auf den Haibliberalen, Halbsozialisten Stankewitsch, einen Privatdozenten, <strong>der</strong><br />
Regierungskommissar beim Hauptquartier des Oberkommandos geworden war. »Die<br />
Masse kam von selbst in Bewegung, einem unbewußten, inneren Drange gehorchend ...«,<br />
schreibt Stankewitsch über die Februartage. »Mit welcher Parole sind die Soldaten<br />
aufgetreten? Wer führte sie, als sie Petrograd eroberten, als sie das Bezirksgericht<br />
nie<strong>der</strong>brannten? Nicht eine politische Idee, nicht eine revolutionäre Parole, nicht eine<br />
Verschwörung, nicht eine Rebellion, son<strong>der</strong>n die elementare Bewegung, die mit einem<br />
Male die alte Macht restlos einäscherte.« Das Elementare erhält hier einen fast mystischen<br />
Charakter.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 98
Der gleiche Stankewitseh gibt eine sehr wertvolle Zeugenaussage: »Ende Januar hatte<br />
ich Gelegenheit, in einem sehr intimen Kreise Kerenski zu treffen ... Gegenüber <strong>der</strong><br />
Möglichkeit eines Volksaufstandes verhielten sich alle ausgesprochen ablehnend, aus<br />
Furcht, die einmal ausgebrochene Massenbewegung des Volkes könnte in linksradikales<br />
Fahrwasser geraten, und dieses würde außerordentliche Schwierigkeiten für die Kriegsführung<br />
schaffen.« Die Ansichten des Kerenskikreises unterschieden sich im wesentlichen<br />
nicht von denen <strong>der</strong> Kadetten. Nicht von dort konnte die Initiative ausgehen.<br />
»Die <strong>Revolution</strong> schlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein«, sagt <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong><br />
sozialrevolutionären Partei, Sensinow. »Wollen wir offen sein: sie kam als eine große<br />
und freudige Überraschung auch für uns, <strong>Revolution</strong>äre, die lange Jahre für sie gearbeitet<br />
und sie stets erwartet hatten.«<br />
Nicht viel besser verhielt sich die Sache mit den Menschewiki. Ein Journalist <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Emigrantenkreise berichtet über seine Begegnung in <strong>der</strong> Straßenbahn am<br />
24. Februar mit Skobeljew, dem späteren Minister <strong>der</strong> revolutionären Regierung. »Dieser<br />
Sozialdemokrat, einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Bewegung, sagte mir, die Unruhen trügen den<br />
Charakter von Plün<strong>der</strong>ungen, die man unterdrücken müsse. Das hin<strong>der</strong>te Skobeljew<br />
nicht, einen Monat später zu behaupten, er und seine Freunde hätten die <strong>Revolution</strong><br />
gemacht.« Die Farben sind hier sicherlich dick aufgetragen. Doch im wesentlichen ist die<br />
Position <strong>der</strong> legalen Sozialdemokraten, <strong>der</strong> Menschewiki, ziemlich <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
entsprechend wie<strong>der</strong>gegeben.<br />
Schließlich sagt ein späterer Führer des linken Flügels <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre; Mstislawski,<br />
<strong>der</strong> dann zu den Bolschewiki überging, von dem Februarumsturz: »Die <strong>Revolution</strong><br />
hat uns, damalige Parteileute, wie die törichten Jungfrauen des Evangeliums schlafend<br />
überrascht.« Es ist hierbei unwesentlich, wieweit sie Jungfrauen ähnelten, geschlafen<br />
haben sie tatsächlich alle.<br />
Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter<br />
<strong>der</strong> unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei<br />
Männer: die ehernaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und <strong>der</strong> ehemalige Student<br />
Molotow. Schljapnikow, <strong>der</strong> längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher<br />
Verbindung gestanden hatte, war <strong>der</strong> politisch reifere und aktivere <strong>der</strong> drei, die das Büro<br />
des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am<br />
besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde<br />
glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von<br />
vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow,<br />
einer <strong>der</strong> Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: »Direktiven aus den<br />
Parteizentren waren absolut nicht zu verspüren ... Das Petrogra<strong>der</strong> Komitee war verhaftet,<br />
und <strong>der</strong> Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig,<br />
Weisungen für den nächsten Tag zu geben.«<br />
Die Schwäche <strong>der</strong> unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen<br />
Vennichtungsfeldzuges, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung dank <strong>der</strong> zu Beginn des Krieges<br />
herrschenden patriotischen Stimmung ganz beson<strong>der</strong>e Erfolge gebracht harte. Jede<br />
Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen<br />
Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen <strong>der</strong> Bolschewiki hatten sich zu<br />
Beginn des Jahres 1917 von Nie<strong>der</strong>geschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht<br />
erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh <strong>der</strong> revolutionären<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 99
Empörung Platz machte.<br />
Um ein klareres Bild von <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> revolutionären Führung zu erhalten, mußte man<br />
sich vergegenwärtigen, daß die autoritärsten <strong>Revolution</strong>äre, die Führer <strong>der</strong> linken Parteien,<br />
sich in <strong>der</strong> Emigration und zum Teil auch in Gefängnissen und Verbannung<br />
befanden. Je gefährlicher eine Partei für das alte Regime gewesen war, um so grausamer<br />
enthauptet zeigte sie sich zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die Narodniki hatten eine<br />
Dumafraktion, geführt von dem parteilosen Radikalen Kerenski. Der offizielle Führer <strong>der</strong><br />
Sozialrevolutionäre, Tschernow, befand sich in <strong>der</strong> Emigration. Die Menschewiki<br />
verfügten in <strong>der</strong> Duma über eine Parteifraktion mit Tschcheidse und Skobeljew an <strong>der</strong><br />
Spitze. Martow lebte als Emigrant im Auslande, Dan und Zeretelli in <strong>der</strong> Verbannung.<br />
Um die linken Fraktionen, Narodniki und Menschewiki, gruppierte sich ein großer Teil<br />
sozialistischer Intellektueller mit revolutionärer Vergangenheit. Daraus entstand so etwas<br />
wie ein politischer Stab, nur in <strong>der</strong> Art, daß er erst nach dem Siege fähig war, sich zu<br />
zeigen. Die Bolschewiki hatten keine Dumafraktion: 5 Arbeiterdeputierte, in denen die<br />
zaristische Regierung das organisierende Zentrum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sah, waren seit den<br />
ersten Kriegsmonaten verhaftet. Lenin war in <strong>der</strong> Emigration, mit ihm Sinowjew.<br />
Kamenew, wie auch die damals nur wenig bekannten führenden Praktiker Swerdlow,<br />
Rykow, Stalin, in <strong>der</strong> Verbannung. Der polnische Sozialdemokrat Dserschinski, <strong>der</strong><br />
damals noch nicht zu den Bolschewiki gehörte, befand sich in <strong>der</strong> Katorga. Die zufällig<br />
anwesenden Führer hielten we<strong>der</strong> sich noch an<strong>der</strong>e für fähig, eine leitende Rolle in den<br />
revolutionären Ereignissen zu spielen, beson<strong>der</strong>s da sie gewohnt waren, nur unter<br />
unbestritten autoritärer Führung zu handeln.<br />
Wenn aber schon die bolschewistische Partei den Aufständischen keine autoritäre<br />
Leitung zu sichern vermochte, so konnte bei den übrigen politischen Organisationen<br />
davon nicht einmal die Rede sein. Dies unterstützte die verbreitete Meinung vom elementaren<br />
Charakter <strong>der</strong> Februarrevolution. Nichtsdestoweniger ist sie tief irrig, im besten<br />
Falle inhaltlos.<br />
Der Kampf dauerte in <strong>der</strong> Hauptstadt nicht 1 und nicht 2 Stunden, son<strong>der</strong>n 5 Tage. Die<br />
Führer waren bestrebt, ihn einzudämnien. Die Massen antworteten mit verschärftem<br />
Ansturm und drangen vorwärts. Sie hatten gegen sich den alten Staat, hinter dessen traditioneller<br />
Fassade man noch eine mächtige Kraft vermutete, die liberale Bourgeoisie mit<br />
Reichsduma, Semstwo- und Stadtverbänden, Kriegsindustrie-Organisationen, Akademien<br />
Universitäten und weitverzweigter Presse; schließlich zwei starke sozialistische Parteien,<br />
die dem Druck von unten patriotischen Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzten. In <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong><br />
Bolschewiki hatte <strong>der</strong> Aufstand die ihm am nächsten stehende, aber enthauptete Organisation,<br />
mit zersplitterten Ka<strong>der</strong>n und schwachen illegalen Zellen. Dennoch entbrannte die<br />
<strong>Revolution</strong>, die in jenen Tagen niemand erwartet hatte, und als man oben glaubte, die<br />
Bewegung erlösche bereits, sicherte sie sich in schroffem Aufstieg und mächtigen<br />
Konvulsionen den Sieg.<br />
Woher diese beispiellose Kraft <strong>der</strong> Beharrlichkeit und des An-sturmes? Es genügt<br />
nicht, auf die Erbitterung zu verweisen. Erbitterung allein wäre zu wenig gewesen. So<br />
sehr die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter während <strong>der</strong> Kriegsjahre durch menschliches Rohmaterial<br />
auch verwässert worden waren; so besaßen sie immerhin große revolutionäre Erfahrung.<br />
In ihrer Beharrlichkeit und in ihrem Ansturm war, trotz fehlen<strong>der</strong> Leitung und <strong>der</strong><br />
Gegenwirkung von oben, eine nicht immer ausgesprochene, aber auf Lebenserfahrung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 100
egründete Kräftebewertung und selbständige strategische Berechnung.<br />
Am Vorabend des Krieges ging die revolutionäre Schicht <strong>der</strong> Arbeiter mit den<br />
Bolschewiki und führte die Masse hinter sich. Mit Beginn des Krieges än<strong>der</strong>te sich die<br />
Lage schroff: die konservativen Zwischenschichten erhoben den Kopf und rissen einen<br />
bedeutenden Teil <strong>der</strong> Klasse mit sich, die revolutionären Elemente wurden isoliert und<br />
verstummten. Im Verlauf des Krieges än<strong>der</strong>te sich die Situation, anfangs langsam, dann,<br />
nach den Nie<strong>der</strong>lagen, schneller und radikaler. Aktive Unzufriedenheit ergriff die<br />
gesamte Arbeiterklasse. Zwar war sie bei großen Kreisen noch patriotisch gefärbt, doch<br />
hatte das mit dem berechnenden, feigen Patriotimus <strong>der</strong> besitzenden Klasse nichts<br />
gemein, die alle inneren Fragen bis nach dem Siege vertagten. Gerade <strong>der</strong> Krieg, seine<br />
Opfer, seine Schrecken und seine Schande ließen nicht nur die alten, son<strong>der</strong>n auch die<br />
neuen Arbeiterschichten mit dem zaristischen Regime zusammenstoßen, mit neuer<br />
Schärfe anprallen und zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung kommen: man darf es nicht länger dulden!<br />
Diese Schlußfolgerung war allgemein, sie verband die Massen und verlieh ihnen die<br />
gewaltige Kraft des Vorstoßes.<br />
Die Armee quoll auf, Millionen Arbeiter und Bauern in sich aufnehmend. Je<strong>der</strong> hatte<br />
beim Militär die Seinen: einen Sohn, einen Mann, einen Bru<strong>der</strong> o<strong>der</strong> einen an<strong>der</strong>en<br />
Nächsten. Die Armee war nicht mehr wie vor dem Kriege vom Volke abgezäunt. Man<br />
kam jetzt mit Soldaten viel mehr zusammen, man begleitete sie, wenn sie zur Front<br />
abmarschierten, man lebte mit ihnen, wenn sie auf Urlaub kamen, man unterhielt sich mit<br />
ihnen in den Straßen, in den Straßenbahnen über die Front, man besuchte sie in den<br />
Lazaretten. Arbeiterviertel, Kaserne, Front und zum großen Teil auch das Dorf wurden<br />
miteinan<strong>der</strong> verbundene Gefäße. Die Arbeiter wußten, was <strong>der</strong> Soldat dachte und fühlte.<br />
Sie führten endlose Gespräche über den Krieg, über Menschen, die sich am Kriege bereicherten,<br />
über Generale, über Regierung, über Zar und Zarin. Der Soldat sagte über den<br />
Krieg: Verflucht sei er! Der Arbeiter antwortete über die Regierung: Verflucht seien sie<br />
alle! Der Soldat sagte: Weshalb schweigt ihr hier, im Zentrum? Der Arbeiter antwortete:<br />
Mit leeren Händen ist nichts zu machen, schon im Jahre 1905 haben wir uns an <strong>der</strong><br />
Armee blutig gestoßen. Der Soldat grübelnd: Wenn sich doch alle auf einmal erhöben!<br />
Der Arbeiter: Ja, eben alle auf einmal. Solche Gespräche wurden vor dem Kriege von<br />
einzelnen geführt und hatten einen konspirativen Charakter. Jetzt sprach man überall so,<br />
bei jedem Anlaß und fast offen, mindestens in den Arbeitervierteln.<br />
Der zaristischen Ochrana gelang manchmal eine gute Sondierung. Zwei Wochen vor<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> berichtete ein Petrogra<strong>der</strong> Spitzel, <strong>der</strong> mit dem Spitznamen Krestjaninow<br />
unterzeichnete, in seinem Rapport über ein Gespräch in <strong>der</strong> Straßenbahn, die einen<br />
Arbeitervorort kreuzte. Ein Soldat habe erzählt, aus seinem Regiment seien 8 Mann in<br />
die Katorga verschickt worden, weil sie sich im Herbst geweigert hätten, auf die Arbeiter<br />
<strong>der</strong> Nobel-Werke zu schießen, und auf die Polizisten schossen. Dieses Gespräch wurde<br />
ganz offen geführt, da Polizei und Spitzel es in den Arbeitervierteln vorzogen, unbemerkt<br />
zu bleiben. »Wir werden mit ihnen abrechnen«, schloß <strong>der</strong> Soldat. Der Rapport lautet<br />
weiter: »Ein Arbeiter sagte: "Dazu muß man sich organisieren, damit alle wie einer<br />
sind." Der Soldat antwortete: "Darüber braucht man sich keine Sorgen zu machen, bei<br />
uns ist schon längst organisiert ... Sie haben genug Blut getrunken, die Menschen leiden<br />
an <strong>der</strong> Front, sie aber fressen sich hier dicke Fratzen an ..." Beson<strong>der</strong>e Vorfälle haben<br />
sich nicht ereignet. 10. Februar 1917. Krestjaninow.« Ein unvergleichliches Spitzel-E-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 101
pos! »Beson<strong>der</strong>e Vorfälle haben sich nicht ereignet.« Sie werden sich ereignen, und zwar<br />
bald: die Unterhaltung in <strong>der</strong> Straßenbahn verzeichnet ihr unausbleibliches Nahen.<br />
Den elementaren Charakter des Aufstandes illustriert Mstislawski durch ein bemerkenswertes<br />
Beispiel: Als <strong>der</strong> "Verband <strong>der</strong> Offiziere des 27. Februar", <strong>der</strong> gleich nach<br />
dein Umsturz entstanden war, durch eine Umfrage festzustellen versuchte, wer als erster<br />
das Wolynski-Regiment auf die Straße geführt hatte, kamen sieben Angaben über sieben<br />
Initiatoren dieser entscheidenden Aktion. Es ist höchst wahrscheinlich, möchten wir<br />
unsererseits hinzufügen, daß ein Teilchen <strong>der</strong> Initiative tatsächlich mehreren Soldaten<br />
gehörte; wobei nicht ausgeschlossen ist, daß <strong>der</strong> Hauptinitiator in den Straßenkämpfen<br />
fiel, seinen Namen ins Dunkel mitnehmend. Dies aber schmälert das historische Gewicht<br />
seiner namenlosen Initiative nicht. Wichtiger ist noch eine an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> Sache, die<br />
uns über die Mauern <strong>der</strong> Kaserne hinausführt. Der Aufstand <strong>der</strong> Gardebataillone, <strong>der</strong> zur<br />
Überraschung <strong>der</strong> liberalen und legal-sozialistischen Kreise entbrannte, kam gar nicht<br />
unerwartet für die Arbeiter. Ohne <strong>der</strong>en Aufstand wäre auch das Wolynski-Regiment<br />
nicht auf die Straße gegangen. Der Zusammenstoß <strong>der</strong> Arbeiter mit den Kosaken, den <strong>der</strong><br />
Advokat von seinem Fenster aus beobachtet und von dem er telephonisch einem<br />
Deputierten Mitteilung gemacht hatte, erschien beiden wie die Episode eines unpersönlichen<br />
Prozesses: die Heuschrecken <strong>der</strong> Fabriken sind mit den Heuschrecken <strong>der</strong> Kaserne<br />
zusammengeprallt. An<strong>der</strong>s aber erschien die Sache dem Kosaken, <strong>der</strong> es gewagt hatte,<br />
dem Arbeiter zuzublinzeln, wie dem Arbeiter, <strong>der</strong> sofort entschied, <strong>der</strong> Kosak »hat gut<br />
geblinzelt« ... Das molekulare Ineinan<strong>der</strong>dringen von Armee und Volk ging ununterbrochen<br />
vor sich. Die Arbeiter verfolgten die Temperatur <strong>der</strong> Armee und fühlten sofort das<br />
Nahen des kritischen Punktes. Das verlieh auch dem Ansturm <strong>der</strong> auf den Sieg vertrauenden<br />
Massen diese unwi<strong>der</strong>stehliche Kraft.<br />
Hier müssen wir die treffende Bemerkung eines liberalen Würdenträgers anführen, <strong>der</strong><br />
versuchte, das Fazit seiner Februarbeobachtungen zu ziehen: »Es ist üblich, zu sagen: die<br />
Bewegung hat elementar begonnen, die Soldaten sind von selbst auf die Straße<br />
gegangen. Ich kann dem keinesfalls zustimmen. Was will auch das Wörtchen "elementar"<br />
besagen? ... Die "Urzeugung" ist in <strong>der</strong> Soziologie noch unmöglicher als in <strong>der</strong> Naturwissenschaft.<br />
Weil kein revolutionärer Führer von Namen <strong>der</strong> Bewegung sein Etikett<br />
anhängen kann, wird sie nicht unpersönlich, son<strong>der</strong>n nur namenlos.« Diese Fragestellung,<br />
die unvergleichlich ernster ist als die Hinweise Miljukows auf deutsche Agenten<br />
und russische Elementargewalten, gehört einem ehemallgen Staatsanwalt, <strong>der</strong> im Amte<br />
eines zaristischen Senators <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> begegnete. Vielleicht hat gerade die Gerichtserfahrung<br />
Sawadski erlaubt, zu <strong>der</strong> Einsicht zu kommen, daß <strong>der</strong> revolutionäre Außtand<br />
we<strong>der</strong> auf Kommando ausländischer Agenten, noch als unpersönlicher Naturprozeß<br />
entstehen konnte.<br />
Der gleiche Autor führt zwei Episoden an, die es ihm ermöglichten, gleichsam durch<br />
das Schlüsselloch ins Laboratorium des <strong>Revolution</strong>sprozesses zu blicken. Am Freitag,<br />
dem 24. Februar, als oben noch keiner einen Umsturz für die nächsten Tage erwartete,<br />
bog die Straßenbahn, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Senator saß, plötzlich mit solchem Krach, daß die Scheiben<br />
zitterten und eine zerbrach, vom Litejny-Prospekt in eine Nebenstraße ein und blieb<br />
stehen. Der Schaffner for<strong>der</strong>te alle auf, auszusteigen. »Der Wagen wird nicht weiterfahren.«<br />
Die Passagiere protestierten, schimpften, mußten aber aussteigen. »Ich sehe noch<br />
jetzt das Gesicht des sich ausschweigenden Schaffners: bös-entschlossen, irgendein<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 102
Wolfsgesicht.« Der Straßenbahnverkehr stockte überall, soweit <strong>der</strong> Blick reichte. Dieser<br />
entschlossene Schaffner, an dem <strong>der</strong> liberale Würdenträger schon das »Wolfsgesicht«<br />
sah, muß ein hochentwickeltes Pflichtbewußtsein besessen haben, um auf <strong>der</strong> Straße des<br />
kaiserlichen Petrograds, während des Krieges, ganz allein den mit Beamten gefülltenWagen<br />
zum Stehen zu bringen. Genau solche Schaffner haben den Wagen <strong>der</strong> Monarchie<br />
zum Stehen gebracht, ungefähr mit den gleichen Worten: »Der Wagen wird nicht weiterfahren!«,<br />
und die Bürokratie ausgesetzt, ohne in <strong>der</strong> Eile große Unterschiede zwischen<br />
Gendarmeriegeneralen und liberalen Senatoren zu machen. Der Schafiher vom Litejny-<br />
Prospekt war ein bewußter Faktor <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>. Und man mußte ihn vorher erzogen<br />
haben.<br />
Während des Brandes des Bezirksgerichts drückte ein liberaler Jurist, aus dem Kreise<br />
desselben Senators, auf <strong>der</strong> Straße sein Bedauern darüber aus, daß das Laboratorium <strong>der</strong><br />
Gerichtsexpertise und das Notariatsarchiv vernichtet werden. Ein älterer Mann von<br />
düsterem Aussehen, dem Äußeren nach ein Arbeiter, erwi<strong>der</strong>te mürrisch: »Wir werden<br />
die Häuser und das Land verteilen können, auch ohne dein Archiv!« Wahrscheinlich ist<br />
die Episode literatisch abgerundet worden. Doch solcherart ältere Arbeiter, die die nötige<br />
Abfuhr zu geben wußten, gab es in <strong>der</strong> Menge nicht wenig. Sie selbst hatten keine Beziehung<br />
zur Brandstiftung des Bezirksgerichts: jedenfalls aber konnten solche "Exzesse" sie<br />
keineswegs schrecken. Sie bewaffneten die Massen nicht nur mit den nötigen Ideen<br />
gegen die zaristische Polizei, son<strong>der</strong>n auch gegen die liberalen Juristen, die die größte<br />
Angst davor hatten, daß im Feuer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Notariatsakten des Eigentums<br />
verbrennen könnten. Diese namenlosen Politiker <strong>der</strong> Fabrik und <strong>der</strong> Straße waren nicht<br />
vom Himmel gefallen: man mußte sie erzogen haben.<br />
Die Ereignisse <strong>der</strong> letzten Februartage registrierend, bezeichnete auch die Ochrana die<br />
Bewegung als "elementar", das heißt als ohne planmäßige Leitung von oben; doch fügte<br />
sie gleich hinzu: »bei <strong>der</strong> allgemeinen Bearbeitung des Proletariats durch Propaganda.«<br />
Diese Bewertung trifft den Kern: Die berufsmäßigen Kämpfer gegen die <strong>Revolution</strong><br />
hatten, bevor sie die Zellen <strong>der</strong> befreiten <strong>Revolution</strong>äre besetzten, das Antlitz des sich<br />
abwickeln-den Prozesses schärfer erkannt als die Führer des Liberalismus.<br />
Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und<br />
den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die<br />
Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse<br />
stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, es war nicht<br />
die Masse an sich, son<strong>der</strong>n es war die Masse <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiter<br />
im allgememen notwendig, die die <strong>Revolution</strong> von 1905 erlebt hatte und den Moskauer<br />
Dezemberaufstand von 1905, <strong>der</strong> an dem Semjonowski-Gar<strong>der</strong>egiment zerschellte; es<br />
war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von<br />
1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen <strong>der</strong> Liberalen und Menschewiki kritisiert,<br />
die Perspektive <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sich angeeignet, Dutzende Male das Problem <strong>der</strong><br />
Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig<br />
waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den an<strong>der</strong>en<br />
zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen <strong>der</strong> Garnison<br />
fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda<br />
erfaßt o<strong>der</strong> mindestens berührt worden waren.<br />
in je<strong>der</strong> Fabrik, in je<strong>der</strong> Werkstatt, in je<strong>der</strong> Kompanie, in je<strong>der</strong> Teestube, im Lazarett,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 103
in <strong>der</strong> Etappe und sogar in dem entvölkerten Dorfe ging eine molekulare Arbeit des<br />
revolutionären Gedankens vor sich. Überall gab es Deuter <strong>der</strong> Ereignisse, hauptsächlich<br />
Arbeiter, die man ausfragte, was es Neues gäbe, und von denen man das nötige Wort<br />
erwartete. Diese Häupter waren häufig sich selbst überlassen, nährten sich von Bruchteilen<br />
revolutionärer Verallgemeinerungen, zu denen sie auf verschiedenen Wegen kamen;<br />
selbst in liberalen Zeitungen lasen sie, was sie brauchten, zwischen den Zeilen heraus. Ihr<br />
Klasseninstinkt war durch politisches Kriterium geschärft, und führten sie auch nicht<br />
immer ihre Ideen zu Ende, so arbeitete ihr Gedanke doch unablässig und beharrlich stets<br />
in <strong>der</strong> gleichen Richtung. Elemente <strong>der</strong> Erfahrung, <strong>der</strong> Kritik, <strong>der</strong> Initiative, <strong>der</strong> Selbstaufopferung<br />
durchdrangen die Masse und bildeten die innere, dem oberflächlichen Blick<br />
unerreichbare, aber nichtsdestoweniger entscheidende Mechanik <strong>der</strong> revolutionären<br />
Bewegung als eines bewußten Prozesses.<br />
Den hochmütigen Politikern des Liberalismus und des gezähmten Sozilismus erscheint<br />
gewöhnlich alles, was in den Massen geschieht, als instinktiver Prozeß, wie wenn es sich<br />
um einen Ameisenhaufen o<strong>der</strong> Bienenstock handele. Tatsächlich war <strong>der</strong> Gedanke, <strong>der</strong><br />
tief in den Arbeitern bohrte, viel kühner, weitsichtiger und bewußter als jener Ideenwulst,<br />
mit dem die gebildeten Klassen sich die Zeit vertrieben. Und mehr noch, dieser Gedanke<br />
war auch wissenschaftlich begründeter: nicht nur, weil er in großem Maße durch die<br />
Methoden des Marxismus befruchtet war, son<strong>der</strong>n vor allem, weil er sich dauernd von<br />
<strong>der</strong> lebendigen Erfahrung <strong>der</strong> Massen nährte, denen es bevorstand, bald die revolutionäre<br />
Arena zu betreten. Die Wissenschaftlichkeit des Gedankens besteht darin, daß er den<br />
objektiven Prozessen entspricht und diese Prozesse zu beeinflussen und zu lenken fähig<br />
ist. Besaßen denn die Ideen <strong>der</strong> regierenden Kreise, die sich an <strong>der</strong> Apokalypse inspirierten<br />
und an die Träume Rasputins glaubten, auch nur im geringsten diese Eigenschaften?<br />
O<strong>der</strong> waren etwa die Ideen des Liberalismus wissenschaftlich begründet, <strong>der</strong> da hoffte,<br />
daß das rückständige Rußland, indem es an dem Gemetzel <strong>der</strong> kapitalistischen Giganten<br />
teilnahm, fähig werden würde, gleichzeitig den Sieg und den Parlamentarismus zu erringen?<br />
O<strong>der</strong> vielleicht war das geistige Leben <strong>der</strong> Intellektuellenkreise wissenschaftlich,<br />
die sich sklavisch dem von Kind auf altersschwachen Liberalismus anpaßten, wobei sie<br />
ihre scheinbare Selbständigkeit durch längst abgestandene Redensarten schützten ?<br />
Wahrhaftig, hier herrschte das Reich geistiger Starrheit, <strong>der</strong> Gespenster, des Aberglaubens,<br />
<strong>der</strong> Fiktionen, wenn man will, das Reich <strong>der</strong> "Elementargewalt". Haben wir mithin<br />
nicht durchaus das Recht, die liberale Philosophie <strong>der</strong> Februarrevolution völlig umzukehren?<br />
Ja, wir haben das Recht zu sagen: während die offizielle Gesellschaft, dieser ganze<br />
vielstöckige Überbau <strong>der</strong> herrschenden Klassen, Schichten, Gruppen, Parteien und<br />
Cliquen, tagein, tagaus in Trägheit und Automatismus lebte, sich die Zeit mit Resten<br />
abgenutzter Ideen vertrieb, taub gegen die unabwendbaren For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
Entwicklung, sich von Gespenstervisionen blenden ließ und nichts voraussah, - vollzog<br />
sich in den Arbeitermassen ein selbständiger und tiefer Prozeß des Anwachsens nicht nur<br />
des Hasses gegen die Herrschenden, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> kritischen Erkenntnis von <strong>der</strong>en<br />
Ohnmacht, <strong>der</strong> Anhäufung von Erfahrung und schöpferischer Einsicht, die mit dem<br />
revolutionären Aufstand und seinem Siege abschloß.<br />
Auf die oben gestellte Frage: wer hat den Februaraufstand geleitet, können wir folglich<br />
mit genügen<strong>der</strong> Bestimmtheit antworten: die aufgeklärten und gestählten Arbeiter, die<br />
hauptsächlich von <strong>der</strong> Partei Lenins erzogen worden waren. Aber wir müssen dabei<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 104
hinzufügen: diese Leitung genügte, um dem Aufstande den Sieg zu sichern, doch reichte<br />
sie nicht aus, um die Führung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von Anfang an in die Hände <strong>der</strong> proletarischen<br />
Avantgarde zu legen.<br />
Das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
Der Aufstand hatte gesiegt. Aber wem übergab er die <strong>der</strong> Monarchie entrissene Macht?<br />
Hier kommen wir zum zentralen Problem des Februarumsturzes: wie und weshalb geriet<br />
die Macht in die Hände <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie?<br />
Den am 23. Februar begonnenen Unruhen maßen die Dumakreise und die bürgerliche<br />
"Gesellschaft" keine Bedeutung bei. Die liberalen Deputierten und die patriotischen<br />
Journalisten versammelten sich wie sonst in den Salons, diskutierten über Triest und<br />
Fiume und betonten immer wie<strong>der</strong> die Bedeutung <strong>der</strong> Dardanellen für Rußland. Während<br />
<strong>der</strong> Ukas über die Auflösung <strong>der</strong> Duma bereits unterschrieben war, beriet die Dumakommission<br />
noch immer dringlich die Frage <strong>der</strong> Übergabe des Ernährungswesens an die<br />
städtische Selbstverwaltung. Weniger als zwölf Stunden vor dem Aufstande <strong>der</strong> Gardebataillone<br />
hörte die "Gesellschaft Slawischer Gemeinschaft" friedlich den Jahresbericht<br />
an. »Erst als ich aus dieser Versammlung zu Fuß heimkehrte«, erwähnt einer <strong>der</strong><br />
Deputierten, »verblüffte mich irgendeine unheimliche Stille und Leere in den sonst so<br />
belebten Straßen.« Eine unheimliche Leere bildete sich um die alten herrschenden<br />
Klassen und beklemmte auch schon die Herzen <strong>der</strong> morgigen Nachfolger.<br />
Am 26. wurde <strong>der</strong> Ernst <strong>der</strong> Bewegung sowohl <strong>der</strong> Regierung wie den Liberalen klar.<br />
An diesem Tage werden zwischen Ministern und Dumamitglie<strong>der</strong>n Verhandlungen über<br />
ein Abkommen geführt, dessen Schleier die Liberalen auch später nie gelüftet haben.<br />
Protopopow gab bei seiner Vernehmung an, die Führer des Dumablocks hätten, wie<br />
zuvor, die Ernennung neuer Minister aus Personen, die das Vertrauen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
genießen, gefor<strong>der</strong>t. »Diese Maßnahme würde das Volk vielleicht beruhigen.« Doch <strong>der</strong><br />
26. brachte, wie uns bekannt, eine gewisse Stockung in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>,<br />
und die Regierung fühlte sich für einen kurzen Moment fester. Als Rodsjanko bei<br />
Golizyn erschien, um ihn zum Rücktritt zu bewegen, wies <strong>der</strong> Premier als Antwort auf<br />
eine auf dem Tisch liegende Mappe hin, die das fertige Dekret über die Dumaauflösung<br />
enthielt, mit <strong>der</strong> Unterschrift Nikolaus', aber ohne Datum. Das Datum trug Golizyn ein.<br />
Wie konnte sich die Regierung im Augenblick des wachsenden Druckes <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
zu einem solchen Schritt entschliessen? Darüber hatte sich bei <strong>der</strong> regierenden Bürokratie<br />
schon längst eine feste Konzeption herausgebildet: »Ob wir mit dem Block gehen<br />
werden o<strong>der</strong> nicht, das ist <strong>der</strong> Arbeiterbewegung gegenüber belanglos. Mit dieser<br />
Bewegung kann man mit an<strong>der</strong>en Mitteln fertigwerden, und bisher ist das Ministerium<br />
des Innern mit ihr noch immer fertiggeworden.« So sprach Goremykin schon im August<br />
1915. An<strong>der</strong>erseits rechnete die Bürokratie damit, daß die Duma im Falle einer Auflösung<br />
sich zu keinerlei kühnen Schritten entschließen würde. Der Innenminister, Fürst<br />
Schtscherbatow, sagte, gleichfalls schon im August 1915, als die Auflösung <strong>der</strong> unzufriedenen<br />
Duma erwogen wurde: »Die Dumamitglie<strong>der</strong> werden sich wohl kaum zu offenem<br />
Ungehorsam entschließen. Sind sie doch in ihrer übergroßen Mehrzahl Feiglinge, die um<br />
ihre Haut zittern.« Der Fürst drückte sich nicht sehr wählerisch, aber schließlich und<br />
endlich doch treffend aus. Im Kampfe gegen die liberale Opposition fühlte die Bürokratie<br />
also hinlänglich festen Boden unter den Füßen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 105
Am Morgen des 27. versammelten sich die durch die anwachsenden Ereignisse<br />
beunruhigten Deputierten zur fälligen Sitzung. Die Mehrzahl erfuhr erst hier, daß die<br />
Duma aufgelöst sei. Das war um so unerwarteter gekommen, als noch am Vorabend<br />
friedliche Verhandlungen geführt worden waren. »Trotzdem«, schreibt mit Stolz<br />
Rodsjanko, »unterwarf sich die Duma dem Gesetz, immer noch hoffend, einen Ausweg<br />
aus <strong>der</strong> verwickelten Lage zu finden; sie faßte keinerlei Beschlüsse darüber, etwa, nicht<br />
auseinan<strong>der</strong>zugehen o<strong>der</strong> gewaltsam zur Sitzung zusammenzukommen.« Die Deputierten<br />
versammelten sich zu einer Privatberatung, in <strong>der</strong> sie sich gegenseitig ihre Ohnmacht<br />
beichteten. Nicht ohne Schadenfreude erinnerte später <strong>der</strong> gemäßigte Liberale Schidlowski<br />
an den durch den linken Kadetten Nekrassow, den späteren Kampfgenossen<br />
Kerenskis, eingebrachten Antrag: »Errichtung emer militärischen Diktatur durch<br />
Übertragung <strong>der</strong> gesamten Macht auf einen populären General.« Währenddessen unternahmen<br />
die Hauptlenker des progressiven Blocks, die bei <strong>der</strong> Privatberatung <strong>der</strong> Duma<br />
fehlten, einen praktischen Rettungsversuch; Sie machten dem nach Petrograd herbeigerufenen<br />
Großfürsten Michail den Vorschlag, die Diktatur zu übernehmen, den Ministerrat<br />
zur Demission zu »zwingen« und vom Zaren über die direkte Leitung die »huldvolle«<br />
Ernennung eines verantwortlichen Ministeriums zu for<strong>der</strong>n. In den Stunden, wo die<br />
ersten Gar<strong>der</strong>egimenter sich erhoben, machten die Führer <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie den<br />
letzten Versuch, mit Hilfe einer dynastischen Diktatur den Aufstand zu unterdrücken und<br />
gleichzeitig auf Kosten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine Verständigung mit <strong>der</strong> Monarchie zu treffen.<br />
Die »Unentschlossenheit des Großfürsten«, beklagt sich Rodsjanko, »trug dazu bei, daß<br />
<strong>der</strong> günstige Moment verpaßt wurde.«<br />
Wie leicht die radikale Intelligenz an das, was sie ersehnte, geglaubt hat, bezeugt <strong>der</strong><br />
parteilose Sozialist Suchanow, <strong>der</strong> zu jener Zeit im Taurischen Palais eine gewisse politische<br />
Rolle zu spielen begann. »Man teilte mir die hervorragendste politische Neuigkeit<br />
<strong>der</strong> Morgenstunden dieses unvergeßlichen Tages mit«, erzählt er in seinen umfangreichen<br />
Erinnerungen, »das Dekret über die Dumaauflösung sei veröffentlicht, und die<br />
Duma habe es mit <strong>der</strong> Weigerung, auseinan<strong>der</strong>zugehen, beantwortet und ein Provisorisches<br />
Komitee gewählt.« Das schreibt ein Mann, <strong>der</strong> das Taurische Palais fast nicht<br />
verlassen hat und dort. die bekannten Deputierten bei den Köpfen festhielt. Gleich<br />
Rodsjanko erklärt Miljukow in seiner <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kategorisch »Es wurde<br />
dort nach einer Reihe heißer Reden beschlossen, nicht aus Petrograd abzureisen, keinesfalls<br />
aber ist <strong>der</strong> Beschluß gefaßt worden, die Reich-Duma als Institution dürfe nicht<br />
auseinan<strong>der</strong>gehen, wie die entstandene Legende lautet.« »Nicht auseinan<strong>der</strong>zugehen«<br />
hätte bedeutet, irgendeine wenn auch verspätete Initiative zu ergreifen. »Nicht<br />
abzureisen« bedeutete, die Hände in Unschuld zu waschen und abzuwarten, welche<br />
Richtung die Ereignisse nehmen würden. Für die Vertrauensseligkeit Suchanows gibt es<br />
allerdings mil<strong>der</strong>nde Umstände. Das Gerücht, die Duma habe den revolutionären<br />
Beschluß gefaßt, sich dem Zarenukas zu wi<strong>der</strong>setzen, wurde in aller Hast von den<br />
Dumajournalisten durch ihr Informarionsbulletin verbreitet, <strong>der</strong> damals infolge des<br />
Streiks einzigen Publikation. Da <strong>der</strong> Aufstand im Laufe des Tages gesiegt hatte, beeilten<br />
sich die Deputierten keinesfalls, den Irrtum richtigzustellen, son<strong>der</strong>n unterstützten die<br />
Illusionen ihrer linken Freunde: an die Feststellung <strong>der</strong> Wahrheit gingen sie erst in <strong>der</strong><br />
Emigration. Eine scheinbar nebensächliche, doch äußerst bedeutsame Episode. Die<br />
revolutionäre Rolle <strong>der</strong> Duma am Tage des 27. Februar war eine vollkommene Mythe,<br />
geboren aus <strong>der</strong> politischen Leichtgläubigkeit <strong>der</strong> radikalen Intellektuellen, die die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 106
<strong>Revolution</strong> erfreut und erschreckt hatte und die den Glauben an die Fähigkeit <strong>der</strong><br />
Massen, die Sache zu Ende zu führen, nicht besaßen und bestrebt waren, so schnell wie<br />
möglich bei <strong>der</strong> Großbourgeoisie Anschluß zu finden.<br />
In den Memoiren <strong>der</strong> Deputierten, die <strong>der</strong> Dumamehrheit angehörten, ist glücklicherweise<br />
ein Bericht darüber erhalten geblieben, wie die Duma <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> begegnete.<br />
Nach <strong>der</strong> Erzählung des Fürsten Mansyrew, eines rechten Kadetten, befanden sich unter<br />
den Deputierten, die sich am 27. in großer Zahl versammelt hatten, we<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des<br />
Präsidiums noch Parteiführer noch Häupter des progressiven Blocks: diese wußten<br />
bereits von <strong>der</strong> Dumaauflösung und vom Aufstande und zogen es vor, so lange wie<br />
möglich den Kopf nicht herauszustecken; außerdem führten sie anscheinend gerade in<br />
diesen Stunden Verhandlungen mit dem Großfürsten Michail über die Diktatur. »In <strong>der</strong><br />
Duma herrschte allgemeine Verwirrung und Kopflosigkeit«, sagt Mansyrew. »Selbst die<br />
erregten Debatten verstummten, statt dessen vernahm man nur Seufzer und kurze Repliken,<br />
wie etwa: "Weit ist's gekommen", o<strong>der</strong> aber offene Angsteingeständnisse um die<br />
eigene Person.« So berichtet ein gemäßigter Deputierter, <strong>der</strong> lauter als alle an<strong>der</strong>en<br />
geseufzt hat. Schon gegen die zweite Stunde, als die Führer gezwungen waren in <strong>der</strong><br />
Duma zu erscheinen, brachte <strong>der</strong> Sekretär des Präsidiums die frohe, aber unbegründete<br />
Botschaft: »Die Unruhen werden bald unterdrückt sein, es sind Maßnahmen getroffen.«<br />
Es ist möglich, daß mit den Maßnahmen die Verhandlungen über die Diktatur gemeint<br />
waren. Doch die Duma ist bedrückt und wartet auf das erlösende Wort des Führers des<br />
progressiven Blocks. »Wir können im Augenblick schon allein deshalb keine Entschließungen<br />
treffen«, erklärte Miljukow, »weil uns das Ausmaß <strong>der</strong> Unruhen ebensowenig<br />
bekannt ist wie die Tatsache, auf wessen Seite die Mehrheit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Truppen,<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und <strong>der</strong> öffentlichen Organisationen steht. Man muß genaue Auskünfte über<br />
all dies einziehen und erst dann die Lage besprechen, jetzt ist es verfrüht.« Um 2 Uhr<br />
mittags am 27. Februar ist es dem Liberalismus noch immer »verfrüht«! »Auskunft<br />
einziehen« bedeutete, sich die Hände waschen und den Ausgang des Kampfes abwarten.<br />
Aber Miljukow hatte seine Rede noch nicht beendet, die er übrigens begonnen hatte, um<br />
mit nichts zu enden, als Kerenski in höchster Erregung in den Saal hereinstürzte: Gewaltige<br />
Volks- und Soldatenmengen ziehen zum Taurischen Palais, verkündete er, sie wollen<br />
die Duma auffor<strong>der</strong>n, die Macht zu übernehmen! ... Der radikale Deputierte weiß genau,<br />
was die gewaltigen Volksmassen for<strong>der</strong>n. In Wirklichkeit ist er es selbst, Kerenski, <strong>der</strong><br />
zum erstenmal verlangt, daß die Duma, die im stillen noch immer auf eine Unterdrükkung<br />
des Aufstandes hofft, die Macht übernehme. Die Mitteilung Kerenskis ruft »allgemeines<br />
Erstaunen und ratlose Blicke« hervor. Aber noch ist er nicht fertig, als ihn ein in<br />
hellem Schrecken hereinstürmen<strong>der</strong> Dumadiener unterbricht: Die vor<strong>der</strong>sten Reihen <strong>der</strong><br />
Soldaten ständen vor dem Palais, die Wache an <strong>der</strong> Einfahrt habe ihnen den Zutritt<br />
verweigert, <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> Wache sei schwer verwundet. Eine Minute nachher ergibt sich,<br />
die Soldaten sind bereits im Palais. Später wird man in Reden und Artikeln erzählen, die<br />
Soldaten seien gekommen, die Duma zu begrüßen und ihr den Eid abzulegen. Im Augenblick<br />
aber ist alles in tödlicher Panik. Das Wasser steht an <strong>der</strong> Kehle. Die Führer<br />
tuscheln. Man muß Zeit gewinnen. In aller Eile stellt Rodsjanko den ihm eingeflüsterten<br />
Antrag, ein Provisorisches Komitee zu wählen. Zustimmende Rufe. Aber alle möchten<br />
sich schnellstens aus dem Staube machen, ihr Sinn steht nicht nach Wahlen. Der nicht<br />
min<strong>der</strong> als die an<strong>der</strong>en erschrockene Vorsitzende schlägt vor, den Ältestenrat mit <strong>der</strong><br />
Bildung des Komitees zu beauftragen. Wie<strong>der</strong>um zustimmende Rufe einiger noch im<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 107
Saale Verbliebener: die Mehrzahl ist bereits verschwunden. Das war die erste Reaktion<br />
<strong>der</strong> vom Zaren aufgelösten Duma auf den Sieg des Aufstandes.<br />
Inzwischen schuf die <strong>Revolution</strong> im selben Gebäude, aber in seinem weniger prunkvollen<br />
Teil, ein an<strong>der</strong>es Organ. Die revolutionären Führer brauchten es nicht zu erfinden.<br />
Die Erfahrung <strong>der</strong> Sowjets von 1905 hatte sich für immer ins Bewußtsein <strong>der</strong> Arbeiter<br />
eingeprägt. Bei jedem Aufstieg <strong>der</strong> Bewegung, sogar im Kriege, lebte fast automatisch<br />
die Idee <strong>der</strong> Sowjets auf. Und obwohl das Verständnis für die Rolle <strong>der</strong> Sowjets bei<br />
Bolschewiki und Menschewiki verschieden tief war - die Sozialrevolutionäre entbehrten<br />
überhaupt beständiger Einstellungen -, war es, als ob die Form <strong>der</strong> Organisation selbst<br />
außerhalb je<strong>der</strong> Diskussion stünde. Die aus dem Gefängnis befreiten Menschewiki,<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Kriegsindustrie-Komitees, trafen sich im Taurischen Palais mit Führern<br />
<strong>der</strong> Gewerkschaften und <strong>der</strong> Kooperativen des gleichen rechten Flügels, wie auch mit<br />
den menschewistischen Dumadeputierten Tschcheidse und Skobeljew, und bildeten an<br />
Ort und Stelle ein provisorisches Exekutivkomitee des Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten,<br />
das im Laufe des Tages hauptsächlich durch ehemalige <strong>Revolution</strong>äre ergänzt wurde, die<br />
zwar die Verbindung mit den Massen verloren, aber doch einen "Namen" behalten<br />
hatten. Das Exekutivkomitee, das auch Bolschewiki in seinen Bestand einbezog, rief die<br />
Arbeiter auf, unverzüglich Deputierte zu wählen. Die erste Sitzung war für den Abend im<br />
Taurischen Palais anberaumt. Sie fand tatsächlich um 9 Uhr abends statt; sie sanktionierte<br />
die Zusammensetzung des Exekutivkomitees und ergänzte dieses durch offizielle<br />
Vertreter aller sozialistischen Parteien. Doch nicht hierin lag die Bedeutung <strong>der</strong> ersten<br />
Versammlung <strong>der</strong> Vertreter des siegreichen Proletariats <strong>der</strong> Hauptstadt. In <strong>der</strong> Sitzung<br />
traten Delegierte <strong>der</strong> aufständischen Regimenter mit Begrüßungsworten auf Unter ihnen<br />
waren auch die grauen Soldaten, denen die <strong>Revolution</strong> gleichsam Kontusionen beigebracht<br />
hatte und die noch kaum die Zunge bewegen konnten. Gerade sie aber fanden<br />
Worte, die kein Tribun zu finden vermocht hätte. Das war eine <strong>der</strong> pathetischsten Szenen<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die nun ihre Kraft zu fühlen begann, die Unzählbarkeit <strong>der</strong> erwachten<br />
Massen, die Grandiosität <strong>der</strong> Aufgaben, den Stolz auf die eigenen Erfolge, den jubelnden<br />
Herzensschauer vor dem morgigen Tag, <strong>der</strong> noch herrlicher werden müsse als <strong>der</strong> heutige.<br />
Die <strong>Revolution</strong> entbehrt noch ihres Rituals, die Straße liegt noch im Rauch, die<br />
Massen wissen die neuen Lie<strong>der</strong> noch nicht, die Sitzung verläuft in Unordnung, uferlos<br />
wie ein Fluß bei Hochwasser, <strong>der</strong> Sowjet verschluckt sich am eigenen Enthusiasmus. Die<br />
<strong>Revolution</strong> ist bereits mächtig, aber noch von kindlicher Naivität.<br />
In dieser ersten Sitzung wird beschlossen, die Garnison und die Arbeiter zu einem<br />
gemeinsamen Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten zu vereinigen. Wer schlug<br />
diesen Beschluß zuerst vor? Er wird von verschiedenen, o<strong>der</strong> richtiger gesagt, von allen<br />
Seiten gekommen sein, als Wi<strong>der</strong>hall jener Verbrü<strong>der</strong>ung zwlschen Arbeitern und Soldaten,<br />
die an diesem Tage das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entschieden hat. Dabei muß jedoch<br />
vermerkt werden, daß, nach den Worten Schljapnikows, die Sozialpatrioten anfänglich<br />
gegen das Hineinziehen <strong>der</strong> Armee in die Politik protestiert hatten. Vom Moment seiner<br />
Entstehung an beginnt <strong>der</strong> Sowjet in Gestalt des Exekutivkomitees als Regierungsmacht<br />
zu handeln. Er wählt eine provisorische Emährungskommission und überträgt ihr die<br />
Sorge um die Aufständischen und um die Garnison überhaupt. Er stellt an seine Seite<br />
einen provisorischen revolutionären Stab - alles heißt in diesen Tagen provisorisch -, von<br />
dem wir bereits gesprochen haben. Um die Finanzinittel <strong>der</strong> Verfügung <strong>der</strong> Beamten <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 108
alten Regierung zu entziehen, beschließt <strong>der</strong> Sowjet, Reichsbank, Reichsschatzamt,<br />
Münze und Ausgabestelle für Staatspapiere sofort durch revolutionäre Wachen zu besetzen.<br />
Die Aufgaben und die Funktionen des Sowjets wachsen unter dem Druck <strong>der</strong><br />
Massen ununterbrochen. Die <strong>Revolution</strong> bekommt ihr unbestreitbares Zentrum. Die<br />
Arbeiter, Soldaten und bald auch die Bauern werden sich von nun an nur noch an den<br />
Sowjet wenden - er wird in ihren Augen <strong>der</strong> Mittelpunkt aller Hoffnungen und aller<br />
Behörden, die Verkörperung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> selbst sein. Doch auch Vertreter <strong>der</strong> besitzenden<br />
Klasse werden, wenn auch zähneknirschend, beim Sowjet Schutz, Weisungen<br />
und Entscheidung bei Konflikten suchen.<br />
Jedoch schon in den ersten Stunden des Sieges, als die neue <strong>Revolution</strong>sgewalt sich<br />
mit märchenhafter Schnelligkeit und unüberwindlicher Kraft herausbildete, blickten jene<br />
<strong>Sozialisten</strong>, die an die Spitze des Sowjets gelangt waren, besorgt um sich, auf <strong>der</strong> Suche<br />
nach dem echten "Herrn". Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß die Macht an die<br />
Bourgeoisie übergehen müsse. Hier beginnt die Verknüpfung des wichtigsten politischen<br />
Knotens des neuen Regimes: einer <strong>der</strong> Fäden führt in das Zimmer des Exekutivkomitees<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in den Raum, wo das Zentrum <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Parteien sitzt.<br />
Um 3 Uhr nachmittags, als <strong>der</strong> Sieg in <strong>der</strong> Hauptstadt schon völlig feststand, wählte<br />
<strong>der</strong> Ältestenrat aus den Parteien des progressiven Blocks unter Hinzuziehung von<br />
Tschcheidse und Kerenski das "Provisorische Komitee <strong>der</strong> Dumamitglie<strong>der</strong>".<br />
Tschcheidse lehnte ab, Kerenski wand sich hin und her. Der Name des Komitees wies<br />
vorsorglich darauf hin, daß es sich nicht um ein offizielles Organ <strong>der</strong> Reichsduma<br />
handle, son<strong>der</strong>n um ein privates Organ zur Beratung <strong>der</strong> Dumamitghe<strong>der</strong>. Die Führer des<br />
progressiven Blocks hatten nur eine Frage zu Ende gedacht: wie sich vor Verantwortung<br />
schützen, ohne sich die Hände zu binden. Die Aufgabe des Komitees war mit sorgfältiger<br />
Zweideutigkeit formuliert worden: "Herstellung <strong>der</strong> Ordnung, und Verkehr mit Ämtern<br />
und Personen." Kein Wort davon, welche Ordnung die Herren herzustellen und mit<br />
welchen Ämtern sie zu verkehren gedachten. Sie streckten den Arm noch nicht offen<br />
nach dem Fell des Bären aus: wie, wenn er noch nicht ganz tot, son<strong>der</strong>n nur schwer<br />
verwundet ist? Erst am 27. Februar um 11 Uhr abends, erst als - nach dem Eingeständnis<br />
Miljukows - »<strong>der</strong> ganze Umfang <strong>der</strong> revolutionären Bewegung sichtbar wurde,<br />
entschloß sich das Provisorische Komitee, einen weiteren Schritt zu tun um die Macht,<br />
die den Händen <strong>der</strong> Regierung entfallen war, in seine Hände zu nehmen«. Unmerklich<br />
verwandelte sich das neue Organ aus einem Komitee <strong>der</strong> Dumamitglie<strong>der</strong> in ein Komitee<br />
<strong>der</strong> Duma: zur Sicherung <strong>der</strong> staatsrechtlichen Nachfolge gibt es kein besseres Mittel als<br />
die Fälschung. Aber Miljukow verschweigt die Hauptsache: die Führer des im Laufe des<br />
Tages gebildeten Exekutivkomitees hatten bereits Zeit gefünden, sich zum Provisorischen<br />
Komitee zu begeben und dieses dringendst zu ersuchen, die Macht zu übernehmen.<br />
Dieser freundschaftliche. Stoß hatte seine Wirkung. Nachträglich legte Miljukow den<br />
Entschluß des Dumakomitees dahin aus, daß die Regierung sich angeblich anschickte,<br />
zuverlässige Truppen gegen die Aufständischen zu entsenden, »und es drohte in den<br />
Straßen <strong>der</strong> Hauptstadt zu wahren Schlachten zu kommen«. In Wirklichkeit verfügte die<br />
Regierung schon über keinerlei Truppen mehr, <strong>der</strong> Umsturz war bereits vollzogen.<br />
Rodsjanko schrieb später: »Die Duma wäre«, hätte sie die Übemahme <strong>der</strong> Macht<br />
abgelehnt, »in ihrer Gesamtheit von den meutemden Truppen verhaftet und nie<strong>der</strong>ge-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 109
macht worden und die Herrschaft sogleich an die Bolschewiki übergegangen.« Das ist<br />
natürlich eine sinnlose Übertreibung, ganz im Geiste des achtbaren Kammerherrn; jedoch<br />
spiegelt sie unverfälscht die Stimmung <strong>der</strong> Duma wi<strong>der</strong>, die die Einhändigung <strong>der</strong> Macht<br />
als einen Akt politischer Vergewaltigung empfand.<br />
Bei dieser Stimmung fiel ein Beschluß nicht leicht. Beson<strong>der</strong>s heftig schwankte<br />
Rodsjanko, immer die an<strong>der</strong>n aushorchend: »Was wird es sein - Aufruhr o<strong>der</strong> kein<br />
Aufruhr?« Der monarchistische Deputierte Schulgin antwortete ihm, nach seiner eigenen<br />
Wie<strong>der</strong>gabe: »Es gibt keinerlei Aufruhr. Nehmen Sie als getreuer Untertan ruhig an ...<br />
wenn die Minister davongelaufrn sind, muß sie dochjemand ersetzen ... Es sind zwei<br />
Auswege möglich: alles wird sich zum Guten wenden, <strong>der</strong> Kaiser wird eine neue Regierung<br />
ernennen und wir ihm die Macht zurückgeben. Wird sich's aber nicht zum Guten<br />
wenden, dann werden, wenn wir sie nicht nehmen, an<strong>der</strong>e die Macht ergreifen, jene, die<br />
bereits irgendwelche Schufte in den Fabriken gewählt haben ...« Man braucht an den<br />
Pöbeleien des reaktionären Gentleman gegen die Arbeiter keinen Anstoß zu nehmen: die<br />
<strong>Revolution</strong> hat diesen Herren fest auf den Fuß getreten. Die Moral ist klar: siegt die<br />
Monarchie, - werden wir zu ihr stehen, siegt die <strong>Revolution</strong>, - wollen wir uns bemühen,<br />
sie zu bestehlen.<br />
Die Beratung währte lange. Die demokratischen Führer warteten erregt auf den<br />
Beschluß. Endlich trat Miljukow aus dem Zimmer Rodsjankos heraus. Er hatte ein feierliches<br />
Aussehen. An die Sowjetdelegation herantretend, verkündete er: »Der Entschluß<br />
ist gefaßt, wir übernehmen die Macht« ... »Ich fragte nicht, wer ist das - wir«, schreibt<br />
begeistert Suchanow, »ich fragte nichts mehr. Doch fühlte ich sozusagen mit meinem<br />
ganzen Wesen die neue Lage. Ich fühlte, wie das Schiff <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, durch die Willkür<br />
<strong>der</strong> Naturgewalten in dieser Stunde von den Böen hin und her geworfen, seine Segel<br />
hochrichtete und Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit und Gesetzmäßigkeit inmitten des furchtbaren<br />
Sturmes und Schwankens wie<strong>der</strong>gewann.« Welch geschraubte Form für das prosaische<br />
Bekenntnis sklavischer Abhängigkeit <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie vom kapitalistischen<br />
Liberalismus! Und welch mör<strong>der</strong>isches Verkennen <strong>der</strong> politischen Perspektive: die<br />
Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Liberalen wird dem Staatsschiff nicht nur keine Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />
verleihen, son<strong>der</strong>n, im Gegenteil, sie wird von Stund an die Quelle <strong>der</strong><br />
Herrschaftslosigkeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, des größten Chaos, <strong>der</strong> Erbitterung <strong>der</strong> Massen, des<br />
Zusammenbruchs <strong>der</strong> Front und späterhin <strong>der</strong> äußersten Erbitterung des Bürgerkrieges.<br />
Blickt man zurück auf vergangene Jahrhun<strong>der</strong>te, erscheint einem die Tatsache <strong>der</strong><br />
Machtübernahme durch die Bourgeoisie hinlänglich gesetzmäßig: in allen früheren<br />
<strong>Revolution</strong>en kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch<br />
Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide<br />
Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsieht, den Barrikadenkampf von den<br />
Fenstern aus verfolgt hatte. Die Februarrevolution von 1917 jedoch unterscheidet sich<br />
von allen früheren <strong>Revolution</strong>en durch einen unvergleichlich höheren sozialen Charakter<br />
und hohes politisches Niveau <strong>der</strong> revolutionären Klasse, durch das feindselige Mißtrauen<br />
<strong>der</strong> Aufständischen gegen die liberale Bourgeoisie, demzufolge im Augenblick des<br />
Sieges ein neues revolutionäres Machtorgan erstand: <strong>der</strong> Sowjet, <strong>der</strong> sich auf die bewaffnete<br />
Gewalt <strong>der</strong> Massen stützte. Unter diesen Umständen verlangt <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong><br />
Macht in die Hände <strong>der</strong> politisch isolierten und unbewaffneten Bourgeoisie eine Erklärung.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 110
Vor allem muß man das Kräfteverhälmis näher besehen, das sich als Ergebnis des<br />
Umsturzes herausgebildet hatte. Vielleicht war die Sowjetdemokratie kraft <strong>der</strong> objektiven<br />
Umstände gezwungen, zugunsten <strong>der</strong> Großbourgeoisie auf die Macht zu verzichten? Die<br />
Bourgeoisie selbst war nicht dieser Ansicht. Wir wissen bereits, daß sie von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
nicht nur die Macht nicht erwartet hatte, son<strong>der</strong>n im Gegenteil in ihr eine tödliche<br />
Gefahr für die eigene soziale Lage voraussah. »Die gemäßigteren Parteien haben die<br />
<strong>Revolution</strong> nicht nur nicht gewollt«, schrieb Rodsjanko, »sie haben sich vor ihr einfach<br />
gefürchtet. lnsbeson<strong>der</strong>e war die Partei <strong>der</strong> Volksfreiheit ("Kadetten"), die auf dem<br />
linken Flügel <strong>der</strong> gemäßigten Gruppen stand und die meisten Berührungspunkte mit den<br />
revolutionären Parteien des Landes hatte, durch die heranrückende Katastrophe mehr<br />
als alle an<strong>der</strong>en beunruhigt.« Die Erfahrung von 1905 sagte den Liberalen eindringlich<br />
genug, daß <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern sich für die Bourgeoisie nicht weniger<br />
gefahrvoll gestalten kann als für die Monarchie. Man sollte meinen, <strong>der</strong> Gang des<br />
Februaraufstandes hätte diese Voraussicht nur bekräftigen können. So ungeformt in<br />
vieler Hinsicht die politischen Ideen <strong>der</strong> revolutionären Massen in jenen Tagen auch sein<br />
mochten, so war doch die Trennungslinie zwischen den Werktätigen und <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
unversöhnlich gezogen.<br />
Der den liberalen Kreisen nahestehende Privatdozent Stankewitsch, kein Feind,<br />
son<strong>der</strong>n ein Freund des progressiven Blocks, charakterisiert in folgenden Zügen die<br />
Stimmung <strong>der</strong> liberalen Kreise am zweiten Tage nach dem Umsturz, den zu verhin<strong>der</strong>n<br />
sie nicht vermocht hatten: »Offiziell feierte und rühmte man die <strong>Revolution</strong>, schrie den<br />
Freiheitskämpfern "Hurra" zu, schmückte sich mit roten Bän<strong>der</strong>n und marschierte unter<br />
roten Fahnen ... Aber im Innern, in Gesprächen untereinan<strong>der</strong>, war man entsetzt,<br />
erschüttert, fühlte man sich gekettet an ein feindliches Element, das irgendeinen<br />
unbekannten Weg ging. Unvergeßlich bleibt die Figur Rodsjankos, dieses massigen und<br />
vornehmen Herrn, als er unter Wahrung seiner erhabenen Würde, aber mit dem erstarrten<br />
Ausdruck tiefen Leidens und <strong>der</strong> Verzweiflung auf dem blassen Gesicht, in den Korridoren<br />
des Taurischen Palais durch die Haufen ausgelassener Soldaten schritt. Offiziell<br />
hieß es: "die Soldaten sind gekommen, die Duma in ihrem Kampfe gegen die Regierung<br />
zu unterstützen", faktisch aber war die Duma seit dem ersten Tage erledigt. Der gleiche<br />
Ausdruck war auf den Gesichtern aller Mitglie<strong>der</strong> des Provisorischen Dumakomitees<br />
und jener Kreise, die sie umgaben. Man sagt, Vertreter des progressiven Blocks hätten<br />
zu Hause vor ohnmächtiger Verzweiflung hysterisch geweint.« Dieses lebendige Zeugnis<br />
ist wertvoller als alle soziologischen Untersuchungen über das Kräfteverhälinis. Nach<br />
seinem eigenen Bericht erschauerte Rodsjanko vor ohnmächtiger Empörung beim<br />
Anblick dessen, als irgendwelche Soldaten, »unbekannt auf wessen Befehle, Verhaftungen<br />
von Würdenträgern des alten Regimes vornahmen und diese in die Duma brachten.<br />
Der Kammerherr geriet in die Rolle eines Gefängnischefs in bezug auf Menschen, mit<br />
denen er zwar gewisse Meinungsverschiedenheiten hatte, die aber für ihn immerhin<br />
Menschen seines Kreises blieben. Der ob dieser "Willkür" nie<strong>der</strong>geschmetterte<br />
Rodsjanko lud den verhafteten Schtscheglowitow in sein Arbeitsnmmer ein, die Soldaten<br />
weigerten sich entschieden, den ihnen verhaßten Würdenträger auszuliefern. »Als ich<br />
meine Autorität durchzusetzen versuchte«, erzählt Rodsjanko, »bildeten die Soldaten<br />
einen Kreis um ihren Gefangenen und zeigten mit herausfor<strong>der</strong>nden frechen Mienen auf<br />
ihre Gewehre; dann wurde Schtscheglowitow ohne weiteres irgendwohin abgeführt.«<br />
Kann man krasser die Worte Stankewitschs bestätigen, wonach die Regimenter, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 111
angeblich zur Unterstützung <strong>der</strong> Duma gekommen waren, diese in Wirklichkeit erledigten?<br />
Daß die Macht von <strong>der</strong> ersten Stunde an bei dem Sowjet war, darüber konnten die<br />
Dumamitglie<strong>der</strong> weniger als sonst jemand im Zweifel sein. Der Oktobristen-Deputierte<br />
Schidlowski, einer <strong>der</strong> Führer des progressiven Blocks, schreibt in seinen Erinnerungen:<br />
»Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrogra<strong>der</strong><br />
Bahnhöfe, alle Druckereien, so daß man ohne seine Erlaubnis we<strong>der</strong> ein Telegramm<br />
abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte.« Diese<br />
unzweideutige Charakteristik des Kräfteverhältnisses muß man nur in einer Hinsicht<br />
klären: die "Eroberung" <strong>der</strong> Post- und Telegraphenämter, <strong>der</strong> Eisenbahnen, Druckereien<br />
und so weiter durch den Sowjet bedeutet nur, daß die Arbeiter und Angestellten dieser<br />
Betriebe sich keinem, außer dem Sowjet, unterwerfen wollten. Die Klage Schidlowskis<br />
wird, wie es besser nicht möglich ist, durch eine Episode illustriert, die sich in <strong>der</strong> Hitze<br />
<strong>der</strong> Verhandlungen über die Regierung zwischen den Führern des Sowjets und <strong>der</strong> Duma<br />
abspielte. Die gemeinsame Sitzung wurde durch die dringende Mitteilung unterbrochen,<br />
Rodsjanko werde aus Pskow, wo sich nach seinen Irrfahrten auf den Eisenbahnstrecken<br />
<strong>der</strong> Zar nun befand, an die direkte Telephonleitung gerufen. Der allmächtige Dumavorsitzende<br />
erklärte, er wolle nicht allein zum Telegraphenamt fahren. »Die Herren Arbeiter-<br />
und Soldatendeputierten mögen mir einen Schutz mitgeben o<strong>der</strong> mit mir fahren,<br />
sonst wird man mich dort im Telegraphenamt verhaften.« - »Nun ja! Ihr habt die Macht<br />
und die Gewalt«, fuhr er aufgeregt fort, »ihr könnt mich natürlich verhaften lassen ...<br />
Vielleicht werdet ihr uns alle verhaften, wir wissen es nicht!« ... Dies geschah am 1.<br />
März, kaum 48 Stunden nachdem das Provisorische Komitee, an dessen Spitze<br />
Rodsjanko stand, die Macht »übernommen« hatte.<br />
Wie aber kamen unter diesen Umständen die Liberalen dennoch zur Regierung? Wer -<br />
und was - hatte sie ermächtigt, eine Regierung zu bilden als Resultat jener <strong>Revolution</strong>,<br />
die sie gefürchtet, <strong>der</strong> sie entgegengewirkt und die sie zu unterdrücken gesucht hatten,<br />
die von den ihnen feindlichen Massen vollzogen worden war, und zwar mit solcher<br />
Entschiedenheit und Kühnheit, daß <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, <strong>der</strong> aus dem<br />
Aufstand hervorging, als natürlicher und unbestrittener Herr <strong>der</strong> Lage erschien?<br />
Hören wir jetzt die an<strong>der</strong>e Seite an, jene, die die Macht abgegeben hat. »Das Volk<br />
neigte keinesfalls zur Duma«, schreibt Suchanow über die Februartage, »es interessierte<br />
sich nicht für sie und dachte nicht daran, sie - politisch o<strong>der</strong> technisch - zum Zentrum <strong>der</strong><br />
Bewegung zu machen.« Dieses Geständnis ist um so beachtenswerter, als sein Autor in<br />
den nächsten Stunden alle seine Kräfte darauf verwenden wird, dem Komitee <strong>der</strong> Reichsduma<br />
die Macht auszuheiern. »Miljukow begriffvortrefflich«, sagt ferner Suchanow über<br />
die Verhandlungen vom 1. März, »daß es vollständig in <strong>der</strong> Macht des Exekutivkomitees<br />
stand, <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> Großbourgeoisie die Gewalt zu übertragen o<strong>der</strong> sie ihr nicht zu<br />
übertragen.« Kann man sich kategorischer ausdrücken? Kann eine politische Situation<br />
klarer gekennzeichnet sein? Und trotzdem erklärt Suchanow in völligem Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zur Situation und zu sich selbst: »Eine Macht, die den Zarismus ablöst, kann nur eine<br />
bürgerliche Macht sein ... Auf diese Lösung muß <strong>der</strong> Kurs gehalten werden. An<strong>der</strong>nfalls<br />
wird <strong>der</strong> Umsturz mißlingen und die <strong>Revolution</strong> zugrunde gehen.« Die <strong>Revolution</strong> wird<br />
zugrunde gehen - ohne Rodsjanko!<br />
Das Problem des lebendigen Verhältnisses <strong>der</strong> sozialen Kräfte wird hier durch ein<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 112
vorgefaßtes Schema und eine ausgeklügelte Terminologie ersetzt: das eben ist <strong>der</strong> Kern<br />
des intellektuellen Doktrinarismus. Und wir werden später sehen, daß dieser Doktrinarismus<br />
keinesfalls platonischer Art war: er erfüllte eine vollkommen reale politische Funktion,<br />
wenn auch mit verbundenen Augen.<br />
Wir haben nicht zufällig Suchanow zitiert. In dieser ersten Periode war <strong>der</strong> Inspirator<br />
des Exekutivkomitees nicht dessen Vorsitzen<strong>der</strong>, Tschcheidse, ein ehrlicher und<br />
beschränkter Provinzler, son<strong>der</strong>n eben Suchanow, einer, <strong>der</strong> allgemein gesprochen, für<br />
die revolutionäre Führung am wenigsten geeignet war. Halb-Narodnik, Halb-Marxist,<br />
eher gewissenhafter Beobachter als Politiker, mehr Journalist als <strong>Revolution</strong>är, mehr<br />
Räsoneur als Journalist, war er nur fähig, sich so lange an eine revolutionäre Konzeption<br />
zu halten, bis es hieß, sie in die Tat umzusetzen. Passiver Internationalist während des<br />
Krieges, entschied er am ersten Tage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, man müsse so schnell wie möglich<br />
die Macht und den Krieg <strong>der</strong> Bourgeoisie zuschieben. Theoretisch, das heißt mindestens<br />
seinem Bedürfnis, wenn nicht <strong>der</strong> Befähigung nach, eine Sache mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu<br />
verbinden, stand er über den damaligen Mitglie<strong>der</strong>n des Exekutivkomitees. Doch seine<br />
Hauptkraft bestand in <strong>der</strong> Fähigkeit, die organischen Züge dieser bunten und trotzdem<br />
einheitlichen Sippe in die Sprache des Doktrinarismus zu übersetzen: Unglaube an die<br />
eigenen Kräfte; Angst vor <strong>der</strong> Masse und hochmütig-ehrfurchtsvolles Verhältnis zur<br />
Bourgeoisie. Lenin nannte Suchanow einen <strong>der</strong> besten Vertreter Kleinbürgertums. Das<br />
ist aber auch das Schmeichelhafteste, was man über ihn sagen kann.<br />
Man darf nun nicht vergessen, daß es dabei vor allem um das Kleinbürgertum eines<br />
neuen kapitalistischen Typs geht: um die Handels-, Industrie- und Bankangestellten, um<br />
die Beamten des Kapitals emerseits und um die Arbeiterbürokratie an<strong>der</strong>erseits, das heißt<br />
um jenen neuen Mittelstand, in dessen Namen <strong>der</strong> nicht unbekannte deutsche Sozialdemokrat<br />
Eduard Bernstein Ende des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts eine Revision <strong>der</strong> revolutionären<br />
Konzeption von Marx unternahm. Um die Frage zu beantworten, wie die Arbeiterund<br />
Bauemrevolution die Macht an die Bourgeoisie abgetreten hat, muß man in die<br />
politische Kette ein Zwischenglied einführen: die kleinbürgerlichen Demokraten und<br />
<strong>Sozialisten</strong> vom Typ Suchanows, die Journalisten und Politiker des neuen Mittelstandes,<br />
die die Massen lehrten, daß die Bourgeoisie <strong>der</strong> Feind sei, sich aber selbst am meisten<br />
davor fürchteten, die Massen vom Kommando dieses Feindes zu lösen. Der Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zwischen dem Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und dem Charakter <strong>der</strong> aus ihr entstandenen<br />
Regierung ist mit dem wi<strong>der</strong>spruchsvollen Charakter <strong>der</strong> neuen kleinbürgerlichen<br />
Schicht zu erklären, die zwischen den revolutionären Massen und <strong>der</strong> kapitalistischen<br />
Bourgeoisie stand. Im Verlauf <strong>der</strong> weiteren Ereignisse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wird sich uns die<br />
politische Rolle <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie des neuen Typs ganz erschließen.<br />
Vorläufig begnügen wir uns mit wenigen Worten.<br />
Am Aufstand beteiligt sich unmittelbar die Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> revolutionären Klasse,<br />
wobei die Kraft dieser Min<strong>der</strong>heit darin besteht, daß die Mehrheit sie unterstützt, mindestens<br />
mit ihr sympathisiert. Aus <strong>der</strong> aktiven und kampfbereiten Min<strong>der</strong>heit treten unter<br />
dem feindlichen Feuer unvermeidlich die revolutionärsten und aufopferungsfähigsten<br />
Elemente hervor. Es ist natürlich, daß in den Februarkämpfen die bolschewistischen<br />
Arbeiter an erster Stelle standen. Die Lage verän<strong>der</strong>t sich aber mit dem Siege, und zwar<br />
in dem Augenblick, wo seine politische Festigung beginnt. Zu den Wahlen für die<br />
Organe und Institutionen <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> werden aufgerufen und strömen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 113
herbei unermeßlich breitere Massen als jene, die mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand gekämpft<br />
hatten. Das bezieht sich nicht nur auf allgemein demokratische Institutionen, wie Stadtduma<br />
und Semstwo, o<strong>der</strong> später die Konstituierende Versammlung, son<strong>der</strong>n auch auf<br />
Klassenorgane, wie die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten. Die überwältigende Mehrzahl<br />
<strong>der</strong> Arbeiter, Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Parteilosen unterstützte die Bolschewiki<br />
im Augenblick des unmittelbaren Zusammenpralls mit dem Zarismus. Jedoch<br />
begriff nur eine kleine Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Arbeiter, worin sich die Bolschewiki von den<br />
an<strong>der</strong>en sozialistischen Parteien unterschieden. Gleichzeitig aber zogen alle Arbeiter eine<br />
scharfe Trennungslinie zwischen sich und <strong>der</strong> Bourgeoisie. Das entschied die politische<br />
Situation nach dem Siege. Die Arbeiter wählten <strong>Sozialisten</strong>, das heißt solche, die nicht<br />
nur gegen die Monarchie, son<strong>der</strong>n auch gegen die Bourgeoisie waren. Sie machten dabei<br />
fast keinen Unterschied zwischen den drei sozialistischen Parteien. Da aber die Menschewiki<br />
und die Sozialrevolutionäre über unvergleichlich größere Intellektuellen-Ka<strong>der</strong><br />
verfügten, die ihnen von allen Seiten zuströmten und eine riesige Reserve von Agitatoren<br />
stellten, ergaben die Wahlen, sogar in Fabriken und Betrieben, ein großes Übergewicht<br />
<strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre.<br />
In <strong>der</strong> gleichen Richtung, nur mit noch unermeßlich größerer Kraft, ging <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong><br />
erwachten Armee. Am fünften Tage des Aufstands schloß die Petrogra<strong>der</strong> Garnison sich<br />
den Arbeitern an. Nach dem Siege sollte sie berufen sein, die Sowjets zu wählen.<br />
Vertrauensvoll gaben die Soldaten ihre Stimmen jenen, die für die <strong>Revolution</strong> und gegen<br />
die monarchistischen Offiziere waren und dies laut auszusprechen vermochten: das<br />
waren Einjährig-Freiwillige, Schreiber, Feldscher, junge Kriegsoffiziere aus Intellektuellenkreisen,<br />
kleine Militärbeamte, das heißt die untere Schicht des gleichen "neuen Mittelstandes".<br />
Seit dem März waren sie fast sämtlich in die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
eingetreten, die durch ihre geistige Formlosigkeit <strong>der</strong> zwischenstuflichen sozialen Lage<br />
dieser Elemente und ihrer politischen Beschränktheit am besten entsprach. Die Vertretung<br />
<strong>der</strong> Garnison war folglich unvergleichlich gemäßigter und bürgerlicher als die<br />
Soldatenmasse selbst. Die aber erkannte diesen Unterschied nicht; er mußte sich erst aus<br />
<strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> nächsten Monate ergeben. Die Arbeiter wie<strong>der</strong>um wollten sich den<br />
Soldaten so eng wie möglich anschließen, um das blutig erkaufte Bündnis zu festigen<br />
und die <strong>Revolution</strong> sicherer zu bewaffnen. Da nun im Namen <strong>der</strong> Armee vorwiegend<br />
neugebackene Sozialrevolutionäre sprachen, mußte das die Autorität dieser Partei und<br />
die ihrer Verbündeten, <strong>der</strong> Menschewiki, in den Augen <strong>der</strong> Arbeiter steigern. So entstand<br />
in den Sowjets die Vorherrschaft dieser zwei versöhnlerischen Parteien. Es genügt,<br />
darauf zu verweisen, daß in <strong>der</strong> ersten Zeit sogar im Sowjet des Wyborger Bezirks die<br />
führende Rolle menschewistischen Arbeitern gehörte. Der Bolschewismus brodelte in<br />
jener Periode erst tief im Schoße <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die offiziellen Bolschewiki aber bildeten<br />
damals sogar im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet eine verschwindende Min<strong>der</strong>heit, die sich außerdem<br />
über ihre Aufgaben nicht sehr im klaren war.<br />
So entstand das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution: die Macht in Händen demokratischer<br />
<strong>Sozialisten</strong>. Sie hatten sie keinesfalls zufällig, durch einen blanquistischen<br />
Anschlag erobert; nein, sie war ihnen von den siegreichen Volksmassen öffentlich<br />
übertragen worden. Diese Massen verweigern <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht nur Vertrauen und<br />
Unterstützung, son<strong>der</strong>n unterscheiden sie auch von Adel und Bürokratie. Ihre Waffen<br />
stellen sie ausschließlich den Sowjets zur Verfügung. Indessen bildet die einzige Sorge<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 114
<strong>der</strong> so leicht an die Spitze <strong>der</strong> Sowjets gelangten <strong>Sozialisten</strong> die Frage: wird die politisch<br />
isolierte, den Massen verhaßte, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch und durch kindliche Bourgeoisie<br />
bereit sein, aus unseren Händen die Macht zu übernehmen? Ihre Zustimmung muß um<br />
jeden Preis gewonnen werden; da aber die Bourgeoisie offensichtlich nicht auf ihr<br />
bürgerliches Programm verzichten kann, so müssen wir "<strong>Sozialisten</strong>" auf unser<br />
Programm verzichten und über Monarchie, Krieg, Land und Boden schweigen damit die<br />
Bourgeoisie nur ja das Geschenk <strong>der</strong> Macht annimmt. Während die "<strong>Sozialisten</strong>" diese<br />
Operation vornehmen, fahren sie, wie zum Hohn über sich selbst, fort, die Bourgeoisie<br />
nicht an<strong>der</strong>s denn als Klassenfeind zu bezeichnen. In den Ritualformen des Gottesdienstes<br />
wird auf diese Weise ein Akt herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Gotteslästerung begangen. Der bis<br />
ans Ende geführte Klassenkampf ist ein Kampf um die Staatsmacht. Die wesentliche<br />
Eigenschaft einer <strong>Revolution</strong> besteht darin, den Klassenkampf bis zu Ende zu führen.<br />
Die <strong>Revolution</strong> ist eben <strong>der</strong> unmittelbare Kampf um die Macht. Unsere "<strong>Sozialisten</strong>" aber<br />
sind nicht darum besorgt, die Macht dem sogenannten Klassenfeind zu entreißen, <strong>der</strong> sie<br />
nicht besitzt und sie aus eigener Kraft nicht erobern kann - son<strong>der</strong>n darum, ihm die<br />
Macht um jeden Preis auszuhändigen. Ist das etwa kein Paradoxon? Es erschien um so<br />
verblüffen<strong>der</strong>, als die Erfahrung <strong>der</strong> deutschen <strong>Revolution</strong> von 1918 damals noch nicht<br />
existierte und die Menschheit noch nicht Zeuge <strong>der</strong> gewaltigen und unvergleichlich<br />
erfolgreicheren Operation <strong>der</strong> gleichen Art gewesen war, die <strong>der</strong> "neue Mittelstand", <strong>der</strong><br />
die deutsche Sozialdemokratie führt, vollbrachte.<br />
Wie erklärten die Versöhmer ihr Verhalten? Das eine Argument war doktrinärer Art:<br />
da die <strong>Revolution</strong> eine bürgerliche ist, dürfen sich die <strong>Sozialisten</strong> durch die Machtergreifling<br />
nicht kornpromittieren - mag die Bourgeoisie für sich selbst einstehen. Das<br />
klang sehr unversöhnlich. In Wirklichkeit maskierte das Kleinbürgertum mit seiner<br />
angeblichen Unversöhnlichkeit nur seine Kriecherei vor Reichtum, Bildung, Geltung.<br />
Das Recht <strong>der</strong> Großbourgeoisie auf die Macht betrachteten die Kleinbürger als <strong>der</strong>en<br />
Urrecht, unabhängig vom Kräfteverhälmis. Dem lag fast die gleiche instinktive<br />
Bewegung zugrunde, die einen kleinen Kaufmann o<strong>der</strong> einen Lehrer zwingt, auf dem<br />
Bahnhof o<strong>der</strong> im Theater ehrerbietig beiseite zu treten, um ... Rothschild vorzulassen.<br />
Die doktrinären Argumente dienten nur zur Kompensation des Bewußtseins eigener<br />
Min<strong>der</strong>wertigkeit. Schon nach zwei Monaten, als es sich herausstellte, daß die Bourgeoisie<br />
aus eigener Kraft die ihr abgetretene Macht keinesfalls halten würde, schoben die<br />
Versöhnler ihre "sozialistischen" Vorurteile beiseite und traten in ein Koalitionsministerium<br />
ein. Nicht, um die Bourgeoisie von dort zu verdrängen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil, um<br />
sie zu retten. Und nicht gegen <strong>der</strong>en Willen, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong>en Antrag, <strong>der</strong> wie ein<br />
Befehl klang: die Bourgeoisie drohte den Demokraten, im Falle einer Weigerung ihnen<br />
die Macht an den Kopf zu werfen.<br />
Das zweite Argument für die Ablehnung <strong>der</strong> Macht hatte einen praktischeren<br />
Anschein, ohne im wesentlichen viel ernster zu sein. Der uns bereits bekannte Suchanow<br />
berief sich in erster Linie auf das »Zerstäubtsein« <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Demokratie: »In den<br />
Händen <strong>der</strong> Demokratie befanden sich damals keine einigermaßen festen und einflußreichen<br />
Organisationen - we<strong>der</strong> Partei-, noch Gewerkschafts-, noch Selbstverwaltungsorgane.«<br />
Das klingt wie Hohn! Die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten erwähnt<br />
mit keinem Wort <strong>der</strong> Sozialist, <strong>der</strong> im Namen <strong>der</strong> Sowjets auftrat. Indes entstanden die<br />
Sowjets dank <strong>der</strong> Tradition von 1905 wie aus <strong>der</strong> Erde gestampft und waren sofort<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 115
unvergleichlich mächtiger als alle an<strong>der</strong>en Organisationen, die später versuchten, mit<br />
ihnen zu rivalisieren (Munizipalitäten, Kooperative, teils auch Gewerkschaften). Was die<br />
Bauernschaft betrifft, eine ihrer Natur nach zersplitterte Klasse, so war sie gerade infolge<br />
des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mehr denn je organisiert: <strong>der</strong> Krieg versammelte die<br />
Bauern in <strong>der</strong> Armee, und die <strong>Revolution</strong> verlieh <strong>der</strong> Armee einen politischen Charakter!<br />
Nicht weniger als 8 Millionen Bauern waren in Kompanien und Schwadronen vereinigt,<br />
die sofort ihre revolutionären Vertretungen geschaffen hatten und durch <strong>der</strong>en Vermittlung<br />
jeden Moment auf einen telephonischen Anruf hin auf die Beine gebracht werden<br />
konnten. Ähnelt das einem "Zerstäubtsein"?<br />
Man könnte allerdings einwenden, daß <strong>der</strong> Deniokratie im Augenblick <strong>der</strong> Entschedung<br />
<strong>der</strong> Machtfrage die Haltung <strong>der</strong> Armee an <strong>der</strong> Front noch unbekannt gewesen sei.<br />
Wir wollen nicht die Frage berühren, ob auch <strong>der</strong> geringste Grund für die Befürchtung<br />
(o<strong>der</strong> Hoffhung) bestand, die durch den Krieg erschöpften Frontsoldaten könnten bereit<br />
sein, die Bourgeoisie zu unterstützen. Die Tatsache genügt, daß diese Frage in den<br />
nächsten zwei bis drei Tagen gelöst wurde, also in <strong>der</strong> Zeit, die die Versöhnler hinter den<br />
Kulissen mit <strong>der</strong> Vorbereitung einer bürgerlichen Regierung verbrachten. »Der Umsturz<br />
war am 3. Marz glücklich vollzogen«, gesteht Suchanow. Trotzdem sich die ganze<br />
Armee den Sowjets angeschlossen hatte, stießen ihre Führer die Macht mit aller Kraft<br />
von sich: sie fürchteten diese Macht um so mehr, je vollständiger sie sich in ihren<br />
Händen konzentrierte.<br />
Aber weshalb denn? Weshalb fürchteten sich Demokraten, "<strong>Sozialisten</strong>", die sich<br />
unmittelbar auf Menschenmassen stützten, wie sie keine Demokratie in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
gekannt hat, und zwar Massen mit bedeuten<strong>der</strong> Erfahrung, diszipliniert und bewaffnet, in<br />
Sowjets organisiert, - weshalb fürchtete diese allmächtige, wie es scheinen sollte, unverwüstliche<br />
Demokratie die Macht zu übernehmen? Dieses auf den ersten Blick knifflige<br />
Rätsel ist so zu lösen, daß die Demokratie ihrer eigenen Stütze nicht vertraute, sich vor<br />
den Massen fürchtete, die Dauerhaftigkeit <strong>der</strong>en Vertrauens bezweifelte und hauptsächlich<br />
Angst vor "Anarchie" hatte, das heißt davor, daß sie nach Übernahme <strong>der</strong> Macht<br />
zugleich mit dieser Macht ein Spielball <strong>der</strong> sogenannten entfesselten Elemente werden<br />
könnte. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Demokratie fühlte sich im Augenblick des revolutionären<br />
Aufstiegs nicht berufen, Führerin des Volkes zu sein, son<strong>der</strong>n nur linker Flügel <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Ordnung, <strong>der</strong>en zu den Massen ausgestreckter Fühler. Sozialistisch nannte<br />
sie sich und hielt sich sogar dafür, um nicht nur vor den Massen, son<strong>der</strong>n auch vor sich<br />
selbst ihre tatsächliche Rolle zu verschleiern: ohne diese Selbsttäuschung wäre sie nicht<br />
in <strong>der</strong> Lage gewesen, diese Rolle auszuführen. So löst sich das grundlegende Paradoxon<br />
<strong>der</strong> Februarrevolution.<br />
Am Abend des 1. März kamen die Vertreter des Exekutivkomitees, Tschcheidse,<br />
Steklow, Suchanow und an<strong>der</strong>e, zur Sitzung des Dumakomitees, um die Bedingungen zu<br />
besprechen für die Unterstützung <strong>der</strong> neuen Regierung durch die Sowjets. Das Programm<br />
<strong>der</strong> Demokraten ignorierte die Fragen des Krieges, <strong>der</strong> Republik, des Land und Bodcns,<br />
des 8-Stunden-Tags völlig und lief nur auf eine einzige For<strong>der</strong>ung hinaus: den linken<br />
Parteien Agitationsfreiheit zu gewähren. Ein Beispiel <strong>der</strong> Selbstlosigkeit für Völker und<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te: <strong>Sozialisten</strong>, in <strong>der</strong>en Händen die gesamte Macht war und von denen es<br />
abhing, den an<strong>der</strong>en Agitationsfreiheit zu gewähren o<strong>der</strong> nicht, traten ihre Macht an die<br />
"Klassenfeinde" ab unter <strong>der</strong> Bedingung, daß diese ihnen Agitationsfreiheit zusicherten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 116
Rodsjanko fürchtete sich, zum Telegraphenamt zu gehen und sprach zu Tschcheidse und<br />
Suchanow: »Ihr habt die Macht, ihr könnt uns alle verhaften.« Tschcheidse und Suchanow<br />
antworteten ihm: »Nehmt die Macht, aber verhaftet uns nur nicht wegen Propaganda.«<br />
Studiert man die Verhandlungen <strong>der</strong> Versöhnler mit den Liberalen und all die<br />
Episoden aus den gegenseitigen Beziehungen des linken und des rechten Flügels des<br />
Taurischen Palais in jenen Tagen, so scheint einem, als benutze eine Gruppe Provinzschauspieler<br />
auf einer gewaltigen Bühne, auf <strong>der</strong> ein historisches Volksdrama spielt, ein<br />
freies Eckchen und eine kleine Pause, um ein banales Vaudeville mit Verkleidungen zu<br />
geben.<br />
Die Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie waren, man muß ihnen Gerechtigkeit wi<strong>der</strong>fahren lassen,<br />
auf <strong>der</strong>artiges nicht gefaßt gewesen. Sie hätten die <strong>Revolution</strong> wohl weniger gefürchtet,<br />
wenn sie mit einer solchen Politik ihrer Führer gerechnet hätten. Sie würden sich allerdings<br />
auch in diesem Falle verrechnet haben, doch dann gemeinsam mit jenen. Aus <strong>der</strong><br />
Befürchtung heraus, die Bourgeoisie könnte auch unter den angebotenen Bedingungen<br />
die Macht ablehnen, stellt Suchanow das bedrohliche Ultimatum: »Die entfesselten<br />
Elemente können nur wir bändigen, niemand sonst... Es gibt nur einen Ausweg: unsere<br />
Bedingungen an-nehmen.« Mit an<strong>der</strong>en Worten: akzeptiert das Programm, das ja euer<br />
Programm ist; wir aber versprechen euch dafür, die Massen, die uns die Macht anvertraut<br />
haben, zu bändigen. Arme Bändiger <strong>der</strong> Naturgewalten!<br />
Miljukow war erstaunt. »Er dachte nicht daran«, schreibt Suchanow, »seine Genugtuung<br />
und seine angenehme Überraschung zu verbergen.« Als aber die Sowjetdelegierten,<br />
um ihren Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen, hinzufügten, ihre Bedingungen<br />
seien »endgültig«, wurde Mijukow sentimental und machte ihnen mit dem Satz Mut: »Ja,<br />
ich hörte ihnen zu und dachte darüber nach, wie weit unsere Arbeiterbewegung seit dem<br />
Jahre 1905 vorwärtsgeschritten ist ...« In diesem Tone eines gutmütigen Krokodils<br />
unterhielt sich die Hohenzollernsche Diplomatie in Brest-Litowsk mit den Delegierten<br />
<strong>der</strong> Ukrainer Rada, <strong>der</strong>en staatsmännischer Reife die nötige Anerkennung zollend, bevor<br />
sie sie verschluckte. Daß die Bourgeoisie die Sowjetdemokratie nicht verschluckt hat, ist<br />
we<strong>der</strong> Suchanows Verdienst noch Miljukows Schuld.<br />
Die Bourgeoisie erhielt hinter dem Rücken des Volkes die Macht. Sie besaß in den<br />
werktätigen Klassen keine Stütze. Doch zusammen mit <strong>der</strong> Macht bekam sie aus zweiter<br />
Hand so etwas wie einen Stützpunkt. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, von<br />
<strong>der</strong> Masse emporgehoben, bändigten von sich aus <strong>der</strong> Bourgeoisie das Vertrauensmandat<br />
aus. Betrachtet man diese Operation im Querschnitt <strong>der</strong> formalen Demokratie, dann<br />
entsteht das Bild einer Zweiklassenwahl, bei <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre in<br />
<strong>der</strong> technischen Rolle eines Mittelgliedes auftreten, das heißt als Kadettenwähler. Nimmt<br />
man die Frage aber politisch, dann muß man sagen, die Versöhnler haben das Vertrauen<br />
<strong>der</strong> Massen getäuscht, indem sie an die Macht jene beriefen, gegen die sie gewählt<br />
worden waren. Und endlich vom tieferen sozialen Standpunkt aus betrachtet, stellt sich<br />
die Frage so dar: die kleinbürgerlichen Parteien, die unter den Bedingungen des Alltags<br />
außerordentlich anspruchsvoll und selbstzufrieden waren, bekamen, sobald die <strong>Revolution</strong><br />
sie auf die Gipfel <strong>der</strong> Macht gehoben hatte, Angst vor ihrer eigenen Unzulänglichkeit<br />
und beeilten sich, den Vertretern des Kapitals das Steuer zu überlassen. In diesem<br />
Prostrationsakt offenbarte sich jäh die erschreckende Haltlosigkeit des neuen Mittelstandes<br />
und seine beschämende Abhängigkeit von <strong>der</strong> Großbourgeoisie. Im Bewußtsein o<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 117
loß in <strong>der</strong> Vorahnung, daß sie die Macht ohnehin nicht lange zu halten imstande sein<br />
würden, son<strong>der</strong>n diese bald an rechts o<strong>der</strong> links abgeben müßten, beschlossen die<br />
Demokraten, es sei schon besser, sie heute den soliden Liberalen, als morgen den extremen<br />
Vertretern des Proletariats abzugeben. Auch in dieser Beleuchtung hört die Rolle<br />
<strong>der</strong> Versöhnler, trotz ihrer sozialen Bedingtheit, nicht auf, eine den Massen gegenüber<br />
treubrüchige zu sein.<br />
Nachdem sie ihr Vertrauen den <strong>Sozialisten</strong> geschenkt hatten, sahen sich die Arbeiter<br />
und Soldaten, unerwartet für sie selbst, politisch expropriiert. Sie begriffen es nicht,<br />
waren beunruhigt, wußten aber nicht gleich einen Ausweg. Von ihren eigenen Beauftragten<br />
wurden sie durch Argumente betäubt, auf die sie zwar keine Antwort bereit hatten,<br />
die aber all ihren Gefühlen und Absichten wi<strong>der</strong>sprachen: die revolutionären Tendenzen<br />
<strong>der</strong> Massen fielen schon im Augenblick des Februarumsturzes nicht zusammen mit den<br />
versöhnlerischen Tendenzen <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Parteien. Die Proletarier und Bauern<br />
gaben ihre Stimmen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären nicht als Versöhnlern,<br />
seindem als Feinden des Zaren, des Gutsbesitzers und des Kapitalisten. Doch indem<br />
sie sie wählten, schufen sie eine Scheidewand zwischen sich und ihren Zielen. Sie<br />
konnten jetzt nicht mehr vorrücken, ohne auf die von ihnen selbst errichtete Scheidewand<br />
zu stoßen und ohne diese zuvor nie<strong>der</strong>zureißen. Das war das erstaunliche qui pro quo,<br />
das in den Klassenbeziehungen enthalten war, wie sie durch die Februarrevolution aufgedeckt<br />
wurden.<br />
Dem Hauptparadoxon gesellte sich sogleich eine Ergänzung hinzu. Die Liberalen<br />
erklärten sich nur unter <strong>der</strong> Bedingung bereit, die Macht aus den Händen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong><br />
zu übernehmen, daß sich die Monarchie bereit erklären würde, die Macht aus ihren<br />
Händen entgegenzunehmen.<br />
Während Gutschkow mit dem uns bereits bekannten Monarchisten Schulgin zur<br />
Rettung <strong>der</strong> Dynastie nach Pskow reiste, wurde das Problem <strong>der</strong> konstitutionellen<br />
Monarchie Mittelpunkt <strong>der</strong> Verhandlungen <strong>der</strong> zwei Komitees des Taurischen Palais.<br />
Miljukow bemühte sich, die Demokraten, die ihm die Macht auf <strong>der</strong> flachen Hand<br />
darbrachten, zu überzeugen, die Romanows könnten jetzt keine Gefahr mehr sein,<br />
Nikolaus müsse natürlich abgesetzt werden, dagegen aber könnte <strong>der</strong> Zarewitsch Alexej<br />
unter <strong>der</strong> Regentschaft Michails das Wohl des Landes sichern: »Der eine ein krankes<br />
Kind, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ein ganz dummer Mensch.« Fügen wir noch die Charakteristik bei, die<br />
<strong>der</strong> liberale Monarchist Schidlowski von dem Kandidaten für den Zarenthron gab:<br />
»Michail Alexandrowitsch entzog sich auf jede Weise jeglicher Einmischung in die<br />
Staatsgeschäfte und widmete sich restlos dem Pferdesport.« Eine seltsame Empfehlung,<br />
wollte man sie vor den Massen wie<strong>der</strong>holen. Nach <strong>der</strong> Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes<br />
proklamierte Danton im Jakobinerklub, daß ein Mann, <strong>der</strong> schwachsinnig, nicht mehr<br />
König sein könne. Die <strong>russischen</strong> Liberalen dagegen glaubten, ein schwachsinniger<br />
Monarch sei die beste Zierde des konstitutionellen Regimes. Das war allerdings ein<br />
ungezwungenes Argument, berechnet auf die Psychologie <strong>der</strong> linken Einfaltspinsel, doch<br />
auch für diese zu plump. Den breiten Kreisen <strong>der</strong> liberalen Bürger wurde suggeriert,<br />
Michail sei "Anglomane", ohne genau anzugeben, ob die Rede um Pfer<strong>der</strong>ennen o<strong>der</strong> um<br />
Parlamentarismus ging. Hauptsache bleibt, man hat ein "gewohntes Machtsymbol", sonst<br />
könnte das Volk sich einbilden, die Zeit <strong>der</strong> Herrschaftslosigkeit sei gekommen.<br />
Die Demokraten hörten zu, staunten höflich und versuchten zu überreden ... die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 118
Republik zu proklamieren? Nein, nur die Frage nicht vorwegzunehmen. Punkt 3 <strong>der</strong><br />
Bedingungen des Exekutivkomitees lautete: »Die Provisorische Regierung darf keinerlei<br />
Schritte unternehmen, die die zukünftige Regierungsform im voraus festlegen.« Miljukow<br />
machte aus <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Monarchie ein Ultimatum. Die Demokraten waren verzweifelt.<br />
Da aber kamen die Massen zu Hilfe. Auf den Meetings im Taurischen Palais wollte<br />
niemand, we<strong>der</strong> die Arbeiter noch die Soldaten, einen Zaren, und es gab kein Mittel,<br />
ihnen diesen aufzuzwingen. Trotzdem versuchte Miljukow gegen den Strom zu schwimmen<br />
und über die Köpfe <strong>der</strong> linken Verbündeten hinweg Thron und Dynastie zu retten.<br />
In seiner <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verzeichnet er zurückhaltend selbst, daß gegen<br />
Abend des 2. März die durch seine Mitteilung von <strong>der</strong> Regentschaft Michails hervorgerufene<br />
Aufregung »sich bedeutend steigerte«. Viel farbiger schil<strong>der</strong>t Rodsjanko den Effekt,<br />
den die monarchistischen Manöver <strong>der</strong> Liberalen bei den Massen auslösten. Kaum aus<br />
Pskow mit dem Verzichtsakt Nikolaus' zugunsten Michails zurückgekehrt, begab sich<br />
Gutschkow auf Verlangen <strong>der</strong> Arbeiter vom Bahnhof in die Eisenbahnwerkstätten, schil<strong>der</strong>te<br />
das Vorgefallene, las den Verzichtsakt vor und schloß mit den Worten: »Es lebe<br />
Kaiser Michail!« Das Resultat war ein völlig unerwartetes. Der Redner wurde, nach<br />
Rodsjankos Bericht, von den Arbeitern unverzüglich verhaftet, angeblich sogar unter<br />
Androhung <strong>der</strong> Erschießung. »Mit großer Mühe gelang es, ihn mit Hilfe <strong>der</strong> Wachkompanie<br />
des nächsten Regiments zu befreien.« Wie stets, übertreibt Rods~ janko in<br />
manchen Punkten, doch die Darstellung ist im wesentlichen richtig. Das Land hatte die<br />
Monarchie so radikal erbrochen, daß sie dem Volk nicht mehr durch die Kehle gehen<br />
wollte. Die revolutionären Massen ließen den Gedanken an einen neuen Zaren nicht<br />
mehr aufkommen!<br />
Angesichts dieser Konjunktur rückten die Mitglie<strong>der</strong> des Provisorischen Komitees<br />
eines nach dem an<strong>der</strong>n von Michail ab, nicht endgültig, son<strong>der</strong>n »bis zur konstituierenden<br />
Versammlung«: da werde man schon sehen. Nur Miljukow und Gutschkow verteidigten<br />
die Monarchie bis zuletzt und machten weiterlhin ihre Beteiligung am Kabinett<br />
davon abhängig. Was tun? Die Demokraten meinten, man könne ohne Miljnkow keine<br />
bürgerliche Regierung bilden und ohne bürgerliche Regierung die <strong>Revolution</strong> retten. Es<br />
folgten endlose Wortwechsel und Unterredungen. In <strong>der</strong> Vormittagssitzung des 3. März<br />
obsiegte im Provisorischen Komitee fast durchgehend die Überzeugung, es sei notwendig,<br />
»den Großfürsten zur Abdankung zu bewegen« - er wurde mithin schon als Zar<br />
betrachtet! Der linke Kadett Nekrassow hatte bereits den Text <strong>der</strong> Abdankung fertig. Da<br />
aber Miijukow sich hartnäckig wi<strong>der</strong>setzte, fand man nach neuem leidenschaftlichen<br />
Streit schließlich eine Lösung: »Beide Parteien bringen dem Großfürsten ihre motivierten<br />
Ansichten vor und überlassen, ohne in weitere Diskussionen einzugehen, dem<br />
Großfürsten die Entscheidung.« Auf diese Weise wurde <strong>der</strong> »ganz dumme Mensch«, dem<br />
sein durch den Aufstand gestiirzter älterer Bru<strong>der</strong>, in Wi<strong>der</strong>spruch selbst zu den dynastischen<br />
Statuten, den Thron unterzuschieben versucht hatte, zum Schiedsrichter über die<br />
Frage <strong>der</strong> Staatsform des revolutionären Landes. So unglaublich das scheinen mag,<br />
dieser Wettstreitprozeß um das Schicksal des Staates hat stattgefunden. Um den Großfürsten<br />
zu bewegen, sich des Thrones halber von den Ställen loszureißen, versicherte ihm<br />
Miljukow, es bestehe durchaus die Möglichkeit, außerhalb Petrograds eine Militärmacht<br />
zu sammeln zur Verteidigung seiner Rechte. Mit an<strong>der</strong>en Worten, kaum die Macht aus<br />
den Händen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> erhalten, trat Miljukow mit dem Plan eines monarchistischen<br />
Staatsstreiches hervor. Doch nach Beendigung <strong>der</strong> Für- und Wi<strong>der</strong>reden, <strong>der</strong>en es nicht<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 119
wenige gab, erbat sich <strong>der</strong> Großfürst Bedenkzeit. Michail lud Rodsjanko in ein Nebenzimmer<br />
ein und stellte ihm unvermittelt die Frage: können die neuen Herrscher ihm nur<br />
die Krone o<strong>der</strong> auch den Kopf garantieren? Der unvergleichliche Kammerherr<br />
antwortete, er könne dem Monarchen nur versprechen, wenn nötig, mit ihm zusanaanen<br />
zu sterben. Dazu verstand sich <strong>der</strong> Prätendent keinesfalls. Als er nach Umarmungen mit<br />
Rodsjanko zu den ihn erwartenden Deputierten hinaustrat, erklärte Michail Romanow<br />
»ziemlich fest«, er verzichte auf das ihm angebotene hohe, aber gefahrvolle Amt. Da<br />
sprang Kerenski, <strong>der</strong> bei diesen Verhandlungen das Gewissen <strong>der</strong> Demokratie verkörperte,<br />
begeistert vom Stuhl auf mit den Worten: »Hoheit, Sie sind ein edler Mann!« und<br />
schwor, er werde dies von nun an überall verkünden. »Das Pathos Kerenskis«, kommentierte<br />
Miljukow trocken, »harmonierte schlecht mit <strong>der</strong> Prosa des getroffenen Entschlusses.«<br />
Das läßt sich nicht bestreiten. Für Pathos bot <strong>der</strong> Text dieses Zwischenspiels<br />
allerdings keinen Raum. Der oben angestellte Vergleich mit einer Posse im Winkel einer<br />
antiken Arena muß durch den Hinweis ergänzt werden, daß die Bühne durch einen<br />
Wandschirm in zwei Teile geteilt war: in dem einen bettelten die <strong>Revolution</strong>äre die<br />
Liberalen an, die <strong>Revolution</strong> zu retten, in dem an<strong>der</strong>en flehten die Liberalen die Monarchie<br />
an, den Liberalismus zu retten.<br />
Die Vertreter des Exekutivkomitees waren aufrichtig darüber erstaunt, daß ein so<br />
aufgeidärter und weitsichtiger Mann wie Mii-jukow sich irgendeiner Monarchie wegen<br />
wi<strong>der</strong>spenstig zeigte und sogar bereit war, auf die Macht zu verzichten, wenn man ihm<br />
nicht einen Romanow dazu gäbe. Miljukows Monarchismus war jedoch we<strong>der</strong><br />
doktrinärer noch romantischer Art; im Gegenteil, er ergab sich aus <strong>der</strong> nackten<br />
Berechnung <strong>der</strong> erschrockenen Besitzenden. In ihrer Nacktheit bestand eben ihre<br />
hoffnungslose Schwäche. Der Geschichtsschreiber Miljukow konnte sich allerdings<br />
darauf berufen, daß <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> französischen revolutionären Bourgeoisie, Mirabean,<br />
seinerzeit ebenfalls bestrebt war, die <strong>Revolution</strong> mit dem König auszusöhnen. Der Kern<br />
war auch dort Angst <strong>der</strong> Besitzenden um den Besitz: es war vorsichtiger, ihn durch die<br />
Monarchie zu decken, so wie die Monarchie sich mit <strong>der</strong> Kirche deckte.<br />
Doch besaß die Tradition <strong>der</strong> königlichen Macht m Frankreich im Jahre 1789 noch die<br />
Anerkennung des ganzen Volkes, abgesehen davon, daß Europa ringsum noch monarchistisch<br />
war. Sich an den König haltend, stand die französische Bourgeoisie auf dem<br />
gleichen Boden mit dem Volke, mindestens in dem Sinne, daß sie dessen Vorurteile<br />
gegen diese ausnutzte. Ganz an<strong>der</strong>s war die Lage im Jahre 1917 in Rußland. Abgesehen<br />
von den Katastrophen und Havarien des monarchistischen Regimes in verschiedenen<br />
Län<strong>der</strong>n, war schon im Jahre 1905 die russische Monarchie selbst in nichtwie<strong>der</strong>gutzumachen<strong>der</strong><br />
Weise angeschlagen worden. Nach dem 9. Januar verfluchte <strong>der</strong> Pope Gapon<br />
den Zaren und dessen »Schlangenbrut«. Der Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten des Jahres<br />
1905 stand offen auf republikanischem Boden. Die monarchistischen Gefühle <strong>der</strong><br />
Bauernschaft, auf die <strong>der</strong> Zarismus lange Zeit gebaut hatte und mit denen die Bourgeoisie<br />
ihren Monarchismus deckte, erwiesen sich einfach als nicht existierend. Die kriegerische<br />
Konterrevolution, die später den Kopf erheben wird, sagt sich bereits seit Kornilow,<br />
wenn auch heuchlerisch, dafür um so demonstrativer, von <strong>der</strong> Zarenmacht los: so wenig<br />
monarchistische Wurzeln waren im Volke geblieben. Doch die gleiche <strong>Revolution</strong> von<br />
1905, die den Monarchismus <strong>der</strong>art tödlich trat untergrub auch für immer die schwankenden<br />
republikanischen Tendenzen <strong>der</strong> "fortgeschrittenen" Bourgeoisie. Einan<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 120
sprechend, ergänzten sich diese zwei Prozesse. Von den ersten Stunden <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
an ihren Untergang fühlend, griff die Bourgeoisie nach einem Strohhalm. Sie<br />
brauchte die Monarchie nicht deshalb, weil diese <strong>der</strong> Glaube war, den sie mit dem Volke<br />
gemein hatte; im Gegenteil, die Bougeoisie hatte dem Glauben des Volkes nichts mehr<br />
entgegenzuhalten vermocht als das gekrönte Phantom. Die "gebildeten" Klassen<br />
Rußlands haben die Arena <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht als Verkün<strong>der</strong> eines rationellen Staates<br />
betreten, son<strong>der</strong>n. als Verteidiger mittelalterlicher Institutionen. Da sie we<strong>der</strong> im Volke<br />
noch in sich selbst eine Stütze hatten, suchten sie sie oben, über sich. Archimedes wollte<br />
die Erde umwälzen, wenn man ihm einen Stützpunkt gäbe. Miljukow dagegen suchte<br />
einen Stützpunkt, um das Stückchen gutsherrlicher Erde vor einer Umwälzung zu bewahren.<br />
Er fühlte sich dabei den verschrumpftesten zaristischen Generalen und den Hierarchen<br />
<strong>der</strong> rechtgläubigen Kirche naher als den zahmen Demokraten, die um nichts so<br />
besorgt waren wie um das Wohlwollen <strong>der</strong> Liberalen, Ohnmächtig, die <strong>Revolution</strong><br />
nie<strong>der</strong>zuringen, entschloß sich Miljukow fest, sie zu überlisten. Er war vieles zu schlukken<br />
bereit: bürgerliche Freiheiten für die Soldaten, demokratische Munizipalitäten, die<br />
Konstituierende Versammlung, aber alles nur unter <strong>der</strong> einen Bedingung: daß man ihm<br />
den archimedischen Punkt in Form <strong>der</strong> Monarchie belasse. Er beabsichtigte, die Monarchie<br />
allmählich, Schritt für Schritt, zu <strong>der</strong> Achse zu machen, um die sich die Generalität,<br />
die aufgefrischte Bürokratie, die Fürsten <strong>der</strong> Kirche, die Besitzenden, alle mit <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> Unzufriedenen gruppieren könnten. Ein an<strong>der</strong>er Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei,<br />
Nabokow, erklärte später, welcher Hauptvorteil durch die Thronannahme Michails<br />
erreicht worden wäre: »Die fatale Frage <strong>der</strong> Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung während des Krieges wäre beseitigt gewesen.« Diese Worte muß man sich<br />
merken: <strong>der</strong> Kampf um die Fristen <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung nahm in <strong>der</strong> Zeit<br />
zwischen dem Februar und dem Oktober einen großen Platz ein, wobei die Kadetten ihre<br />
Absicht, die Einberufung <strong>der</strong> Volksvertretung hinauszuziehen, kategorisch leugneten, in<br />
Wirklichkeit jedoch beharrlich und hartnäckig eine Verschleppungspolitik verfolgten.<br />
Aber sie mußten sich dabei auf sich selbst stützen: die monarchische Deckung war ihnen<br />
letzten Endes nicht zuteil geworden. Nach <strong>der</strong> Desertion Michails konnte sich Miljukow<br />
auch an einem Strohhalm nicht mehr festhalten.<br />
Die neue Macht<br />
Vom Volke getrennt, mit dem ausländischen Finanzkapital viel enger verbunden als<br />
mit den werktätigen Massen des eigenen Landes, <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> feind,<br />
verspätet auf den Plan getreten, konnte die russische Bourgeoisie im eigenen Namen<br />
nicht ein einziges Argument zugunsten ihrer Machtansprüche geltend machen. Eine<br />
Begründung aber war unbedingt notwendig, denn die <strong>Revolution</strong> unterwirft nicht nur die<br />
vererbten Rechte einer unbarmherzigen Nachprüfung, son<strong>der</strong>n auch die neuen<br />
Ansprüche. Am wenigsten war <strong>der</strong> Vorsitzende des Provisorischen Komitees,<br />
Rodsjanko, <strong>der</strong> in den ersten Tagen nach dem Umsturz an die Spitze des revolutionären<br />
Landes gelangt war, fähig, für die Massen überzeugende Argumente vorzubringen.<br />
Kammerpage unter Alexan<strong>der</strong> II., Offizier des Kavalleriegar<strong>der</strong>egiments, Gouvernement-Adelsmarschall,<br />
Kammerherr Nikolaus' I., durch und durch Monarchist, reicher<br />
Gutsbesitzer und Semstwoführer, Mitglied <strong>der</strong> Oktobristenpartei, Deputierter <strong>der</strong> Reichsduma,<br />
war Rodsjanko später zu <strong>der</strong>en Vorsitzendem gewählt worden. Das geschah,<br />
nachdem Gutschkow, <strong>der</strong> als »Jungtürke« am Hofe verhaßt war, seine Vollmachten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 121
nie<strong>der</strong>gelegt hatte: die Duma hoffte durch Vermittlung des Kammerherrn leichter zum<br />
Herzen des Monarchen Zutritt zu erlangen. Rodsjanko tat, was er konnte: offenherzig<br />
versicherte er dem Zaren, <strong>der</strong> Dynastie ergeben zu sein, erbat als Gnade, dem Thronfolger<br />
vorgestellt zu werden, und empfahl sich diesem. als »<strong>der</strong> größte und dickste, Mann<br />
Rußlands«. Trotz all dieser byzantinischen Gankeleien gelang es dem Kammerherrn<br />
nicht, den Zaren für eine Konstitution zu gewinnen, und die Zarin nannte Rodsjanko in<br />
ihren Briefen kurz einen Schuft. Während des Krieges bereitete <strong>der</strong> Dumavorsitzende<br />
dem Zaren zweifellos nicht wenige unangenehme Minuten, wenn er ihn bei persönlichen<br />
Vorträgen durch schwungvolle Überredungsversuche, patriotische Kritik und düstere<br />
Prophezeiungen in die Ecke drnängte. Rasputin sah in Rodsjanko einen persönlichen<br />
Feind. Der <strong>der</strong> Hofbande nahestehende Kurlow spricht von <strong>der</strong> Rodsjanko eigentümlichen<br />
»Frechheit bei unzweifelhafter Beschränktheit«. Witte äußerte sich über den<br />
Dumavorsitzenden nachsichtiger aber nicht viel günstiger: »Kein dummer Mensch, recht<br />
verständig; doch die Haupteigenschaft Rodsjankows besteht nicht in seinem Verstand,<br />
son<strong>der</strong>n in seiner Stimme: er hat einen vorzüglichen Baß.« Rod~ janko versuchte zuerst,<br />
die <strong>Revolution</strong> mit Hilfe <strong>der</strong> Feuerspritze zu besiegen; weinte dann, als er erfuhr, die<br />
Regierung des Fürsten Golizyn sei auf und davon gelaufen; er lehnte die Macht, die die<br />
<strong>Sozialisten</strong> ihm auftrugen, entsetzt ab; beschloß später, sie anzunehmen, aber nur als<br />
getreuer Untertan, um bei <strong>der</strong> ersten Gelegenheit dem Monarchen den verlorenen Gegenstand<br />
wie<strong>der</strong> zurückzugeben. Es ist nicht Rodsjankos Schuld, daß diese Möglichkeit sich<br />
nicht geboten hat. Dafür brachte die <strong>Revolution</strong>, mit Hilfe <strong>der</strong> gleichen <strong>Sozialisten</strong>, dem<br />
Kammerherrn die breite Möglichkeit, vor den aufständischen Regimentern seinen<br />
polternden Baß wirken zu lassen. Schon am 27. Februar hielt <strong>der</strong> Kavalleriegar<strong>der</strong>ittmeister<br />
a. D. Rodsjanko folgende Ansprache an das Kavallerieregiment, das ins Taurische<br />
Palais gekommen war: »Rechtgläubige Krieger, hört meinen Rat. Ich bin ein alter Mann,<br />
ich werde euch nicht betrügen, hört auf die Offiziere, sie werden euch nichts Schlechtes<br />
lehren und werden in vollem Einverständnis mit <strong>der</strong> Reichsduma handeln. Es lebe das<br />
heilige Rußland!« Eine solche <strong>Revolution</strong> anzunehmen waren alle Gardeoffiziere bereit.<br />
Nur die Soldaten waren stutzig: wozu war es dann nötig gewesen, sie zu machen?<br />
Rodsjanko fürchtete sich vor den Soldaten, vor den Arbeitern; Tschcheidse und an<strong>der</strong>e<br />
Linke hielt er für deutsche Agenten, und an die Spitze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gestellt, sah er sich<br />
alle Augenblicke um, ob <strong>der</strong> Sowjet ihn nicht verhaften wolle.<br />
Die Figur Rodsjankos ist ein wenig lächerlich, aber nicht zufällig <strong>der</strong> Kammerherr mit<br />
dem vorzüglichen Baß verkörperte das Bündnis <strong>der</strong> zwei regierenden Klassen Rußlands,<br />
Gutsbesitzer und Bourgeoisie, mitsamt <strong>der</strong> ihnen angeschlossenen fortschrittlichen Geistlichkeit:<br />
Rodsjanko selbst war sehr gottesfürchtig und des Kirchengesanges kundig; und<br />
die liberalen Bürger, unabhängig von ihrer Einstellung zur Orthodoxie, hielten das<br />
Bündnis mit <strong>der</strong> Kirche zur Erhaltung von Ruhe und Ordnung für ebenso notwendig wie<br />
das Bündnis mit <strong>der</strong> Monarchie.<br />
Der ehrwürdige Monarchist, <strong>der</strong> von Verschwörern, Rebellen und Tyrannenmör<strong>der</strong>n<br />
die Macht empfangen hatte, sah in jenen Tagen erbärmlich aus. Die übrigen Mitglie<strong>der</strong><br />
des Komitees fühlten sich nicht viel besser. Manche von ihnen zeigten sich im Tautischen<br />
Palais überhaupt nicht, da sie die Lage für nicht genügend. geklärt hielten. Die<br />
Weisesten gingen auf Zehenspitzen um den Scheiterhaufen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> herum, husteten<br />
vom Rauche und sagten sich: mag es ausbrennen; dann werden wir versuchen, etwas<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 122
fertig zu braten. Als das Komitee sich bereit erklärte, die Macht anzunehmen, entschloß<br />
es sich nicht gleich, das Ministerium zu bilden. »Abwartend, bis <strong>der</strong> Augenblick für die<br />
Regierungsbildung eintreten wird«, wie Miljukow sich ausdrückt, beschränkte sich das<br />
Komitee auf die Ernennung von Kommissaren aus Dumamitglie<strong>der</strong>n für die hohen<br />
Regierungsämter: das ließ noch die Möglichkeit zum Rückzug offen.<br />
In das Innenministerium wurde <strong>der</strong> unbedeutende, doch vielleicht weniger als die<br />
an<strong>der</strong>en ängstliche Deputierte Karaulow entsandt, <strong>der</strong> am 1. März einen Haftbefehl erließ<br />
gegen alle Beamten <strong>der</strong> öffentlichen und <strong>der</strong> geheimen Polizei und des Gendarmeriekorps.<br />
Diese schreckliche revolutionäre Geste hatte einen rein platonischen Charakter, da<br />
die Polizei schon vor allen Befehlen verhaftet worden war und das Gefängnis für sie den<br />
einzigen Zufiuchtsort vor einem Strafgericht darstellte. Viel später erblickte die Reaktion<br />
in dem Akt Karaulows den Beginn allen weiteren Unheils.<br />
Zum Kommandanten von Petrograd wurde Oberst Engelhardt ernannt, Gardeoffizier,<br />
Rennstall- und Großgrundbesitzer. Anstatt den "Diktator" Iwanow, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Front zur<br />
Bändigung <strong>der</strong> Hauptstadt eingetroffen war, zu verhaften, schickte Engelhardt einen<br />
reaktionären Offizier als Stabschef zu dessen Verfügung: schließlich waren es ja die<br />
eigenen Leute.<br />
In das Justizministerium wurde die Leuchte <strong>der</strong> Moskauer liberalen Advokatur<br />
entsandt, <strong>der</strong> beredte und hohle Maklakow, <strong>der</strong> vor allem den reaktionären Bürokraten zu<br />
verstehen gab, daß er nicht wünsche, Minister von Gnaden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu sein, und<br />
»mit einem Blick auf den hereintretenden Genossen Kurier« auf französisch sagte: »Le<br />
danger est à gauche.«<br />
Die Arbeiter und Soldaten brauchten kein Französisch zu lernen, um in all diesen<br />
Herren ihre grimmigsten Feinde zu fühlen.<br />
Rodsjanko polterte jedoch nicht lange an <strong>der</strong> Spitze des Komitees. Seine Kandidatur<br />
zum Vorsitzenden <strong>der</strong> revolutionären Regierung erledigte sich von selbst: <strong>der</strong> Mittler<br />
zwischen Besitz und Monarchie war zu offensichtlich ungeeignet zum Mittler zwischen<br />
Besitz und <strong>Revolution</strong>. Doch trat er nicht von <strong>der</strong> Bühne ab, ohne hartnäckig versucht zu<br />
haben, als Gegengewicht zum Sowjet die Duma wie<strong>der</strong> zu beleben und im Zentrum aller<br />
Vereinigungsexperimente <strong>der</strong> bürgerlich-gutsherrlichen Konterrevolution zu verharren.<br />
Wir werden von ihm noch hören.<br />
Am 1. März schritt das Provisorische Komitee zur Bildung eines Ministeriums, wobei<br />
es die gleichen Leute ernannte, die die Duma seit 1915 wie<strong>der</strong>holt dem Zaren als Männer<br />
empfohlen hatte, die das Vertrauen des Landes besäßen: es waren Großagrarier und<br />
Industrielle, oppositionelle Dumadeputierte, Führer des progressiven Blocks. Tatsache<br />
ist, daß <strong>der</strong> von den Arbeitern und Soldaten vollzogene Umsturz sich in <strong>der</strong> Zusammensetzung<br />
<strong>der</strong> revolutionären Regierung mit einer Ausnahme überhaupt nicht wi<strong>der</strong>spiegelte.<br />
Die Ausnahme war Kerenski. Die Schwingungsweite Rodsjanke-Kerenski ist die<br />
offizielle Schwingungsweite <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />
Kerenski trat in das Ministerium ein gleichsam als <strong>der</strong>en bevollmächtigter Gesandter.<br />
Sein Verhalten zur <strong>Revolution</strong> war jedoch das Verhalten eines Provinzadvokaten, <strong>der</strong> in<br />
politischen Prozessen auftritt. Kerenski war kein <strong>Revolution</strong>är, er hatte sich nur an <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> gerieben. Als er, dank seiner legalen Lage, in die vierte Duma gelangte,<br />
wurde er <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> grauen, jedes Gesichts entbehrenden Fraktion <strong>der</strong> Trudowi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 123
ki, die die anämische Frucht einer politischen Kreuzung zwischen Liberalismus und<br />
Narodnikitum darstellte. Er besaß we<strong>der</strong> theoretische Vorbereitung, noch politische<br />
Schulung, noch Fähigkeit zu verallgemeinerndem Denken, noch politischen Willen. Alle<br />
diese Eigenschaften ersetzten flüchtige Aufnahmefähigkeit, leichte Entzündbarkeit und<br />
jene Rednergabe, die nicht auf Verstand o<strong>der</strong> Willen wirkt, son<strong>der</strong>n auf die Nerven. Sein<br />
Auftreten in <strong>der</strong> Duma im Geiste deklamatorischen Radikalismus, für den es an Anlässen<br />
nicht mangelte, machten Kerenski wenn nicht populär, so doch bekannt. Im Kriege hielt<br />
er als Patriot, gemeinsam mit den Liberalen, allein schon den Gedanken an eine <strong>Revolution</strong><br />
für ver<strong>der</strong>benbringend. Er erkannte die <strong>Revolution</strong> an, als sie gekommen war und<br />
ihn, am Scheine seiner Popularität festgehakt, so mühelos nach oben hob. Der Umsturz<br />
identifizierte sich für ihn natürlicherweise mit <strong>der</strong> neuen Macht. Das Exekutivkomitee<br />
hatte jedoch beschlossen, die Macht müsse in einer bürgerlichen <strong>Revolution</strong> Bürgertum<br />
gehören. Diese Formel erschien Kerenski schon allein deshalb falsch, weil sie vor ihm<br />
die Türen des Ministeriums zuschlug. Kerenski war begründeterweise davon überzeugt,<br />
daß sein Sozialismus die bürgerliche <strong>Revolution</strong> so wenig behin<strong>der</strong>n könne, wie diese<br />
seinen Sozialismus beeinträchtigen. Das provisorische Dumakomitee beschloß zu versuchen,<br />
den radikalen Deputierten vom Sowjet loszureißen, und erreichte dies ohne<br />
Schwierigkeiten, indem es ihm das Justizportefeuille anbot, auf das Maklakow bereits<br />
verzichtet hatte. Kerenski fing in den Couloirs Freunde ab und befragte sie: nehmen o<strong>der</strong><br />
nicht nehmen? Die Freunde zweifelten nicht, daß er entschlossen war, zu nehmen)<br />
Suchanow, <strong>der</strong> zu jener Zeit Kerenski wohlwollte, entdeckte an ihm, allerdings nach<br />
späteren Erinnerungen, die Überzeugnng von irgendeiner seiner harrenden Mission ...<br />
»und höchste Gereiztheit gegen alle, die diese Mission noch nicht erraten hatten«.<br />
Schließlich empfahlen die Freunde, darunter auch Suchanow, Kerenski, das Portefeuille<br />
anzunehmen: so sei es immerhin sicherer; durch einen <strong>der</strong> Unseren könnte man erfahren,<br />
was dort, bei den schlauen Liberalen, geschieht. Aber während die Führer des Exekutivkomitees<br />
im stillen Kerenski zu diesem Sündenfall stiessen, zu dem es ihn ohnehin aus<br />
allen Kräften zog, verweigerten sie ihm die offizielle Sanktion. Suchanow erinnerte<br />
Kerenski daran, daß das Exekutivkomitee sich ja bereits geäußert habe und daß es »nicht<br />
ungefährlich« sei, die Frage noch einmal im Sowjet aufzurollen, da dieser einfach<br />
antworten könnte: »Die Macht muß <strong>der</strong> Sowjetdemokratie gehören.« Dies ist <strong>der</strong> wörtliche<br />
Bericht Suchanows - eine unglaubliche Mischung von Naivität und Zynismus. Der<br />
Inspirator des ganzen Mysteriums <strong>der</strong> Machtschöpfung gesteht hier offen, daß die<br />
Stimmung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets bereits am 2. März für die formale Übemahme <strong>der</strong><br />
Macht gewesen war, die ihm faktisch seit dem 27. Februar gehörte, und daß die sozialistischen<br />
Führer nur hinter dem Rücken <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, ohne <strong>der</strong>en Wissen<br />
und gegen <strong>der</strong>en wirklichen Willen, die Macht zugunsten <strong>der</strong> Bourgeoisie expropriieren<br />
konnten. Der Schacher <strong>der</strong> Demokraten mit den Liberalen gewinnt in <strong>der</strong> Erzählung<br />
Suchanows alle notwendigen juristischen Merkmale eines Verbrechens gegen die<br />
<strong>Revolution</strong>, und zwar einer Geheimverschwörung gegen die Herrschaft des Volkes und<br />
dessen Rechte.<br />
Anläßlich <strong>der</strong> Ungeduld Kerenskis tuschelten die Führer des Exekutivkomitees, daß es<br />
sich für einen <strong>Sozialisten</strong> nicht schicke, offiziell ein Zipfelchen Macht aus den Händen<br />
<strong>der</strong> Dumamitglie<strong>der</strong> entgegenzunehmen, die soeben aus den Händen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> die<br />
gesamte Macht empfangen hatten. Kerenski möge es lieber auf seine eigene Verantwortung<br />
tun. Wahrhaftig, diese Herren fanden mit untrüglichem Instinkt aus je<strong>der</strong> Situation<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 124
einen möglichst verzwickten und falschen Ausweg. Kerenski jedoch wollte nicht in <strong>der</strong><br />
Jacke eines radikalen Deputiereen in die Regierung gehen; er brauchte den Mantel eines<br />
Bevollmächtigten <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong>. Um nicht auf Wi<strong>der</strong>stand zu stoßen,<br />
wandte er sich um die Sanktion we<strong>der</strong> an die Partei, zu <strong>der</strong> er sich bekannte, noch an das<br />
Exekutivkomitee, als dessen steilvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> er galt. Ohne die Führer<br />
darauf vorbereitet zu haben, nahm er in <strong>der</strong> Plenarsitzung des Sowjets, <strong>der</strong> in den ersten<br />
Tagen noch ein chaotisches<br />
Meeting darstellte, das Wort zu einer außerordentlichen Erklärung, und in einer Rede, die<br />
die einen als wirr, die an<strong>der</strong>en als hysterisch bezeichneten, was allerdings miteinan<strong>der</strong><br />
nicht in Wi<strong>der</strong>spruch steht, for<strong>der</strong>te er für sich das Vertrauen, sprach von seiner allgemeinen<br />
Bereitschaft, für die <strong>Revolution</strong> zu sterben, und von <strong>der</strong> unmittelbaren Bereitschaft,<br />
das Portefeuille des Justizministers anzunehmen. Es genügte die Erwähnung <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit einer vollständigen politischen Amnestie und des Gerichtes über die<br />
zaristischen Würdenträger, um bei <strong>der</strong> unerfahrenen und von niemandem geleiteten<br />
Versammlung stürmischen Applaus hervorzurufen. »Diese Farce«, schrieb später<br />
Schljapnikow, »löste bei vielen tiefe Entrüstung und Ekel gegen Kerenski aus.« Aber<br />
niemand wi<strong>der</strong>sprach ihm: nachdem sie die Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert hatten,<br />
vermieden es die <strong>Sozialisten</strong>, wie wir wissen, diese Frage vor den Massen zu stellen.<br />
Eine Abstimmung fand nicht statt. Kerenski beschloß, den Applaus als Vertrauensmandat<br />
zu deuten. Auf seine Weise hatte er recht. Der Sowjet war zweifellos für den Eintritt <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialisten</strong> in das Ministerium, weil er darin einen Schritt zur Liquidierung <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Regierung erblickte, mit <strong>der</strong> er sich keinen Augenblick abfinden konnte. So o<strong>der</strong> so,<br />
die offizielle Machtdoktrin umstoßend, nahm Kerenski am 2. März den Posten des Justizministers<br />
an. »Mit seiner Ernennung«, erzählt <strong>der</strong> Oktobrist Schidlowski, »war er sehr<br />
zufrieden, und ich erinnere mich sehr gut, wie er im Raume des Provisorischen<br />
Komitees, in einen Stuhl gelehnt, leidenschaftlich davon sprach, auf welch unerreichbar<br />
hohes Piedestal er Rußlands Justiz stellen werde.« Das hat er in <strong>der</strong> Tat einige Monate<br />
später im Prozeß gegen die Bolschewiki bewiesen.<br />
Der Menschewik Tschcheidse, dem die Liberalen, geleitet von allzu durchsichtiger<br />
Berechnung und <strong>der</strong> internationalen Tradition, im schwierigen Augenblick das Arbeitsministerium<br />
aufzwingen wollten, lehnte kategorisch ab und blieb Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
Sowjets <strong>der</strong> Deputierten. Weniger glänzend als Kerenski, war Tschcheidse doch aus<br />
emsterem Material gemacht.<br />
Die Achse <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, wenn auch nicht formell ihr Haupt, wurde<br />
Miljukow, <strong>der</strong> unbestrittene Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei. »Miljukow war mit seinen<br />
übrigen Ministerkollegen überhaupt nicht zu vergleichen«, schrieb <strong>der</strong> Kadett Nabokow,<br />
nachdem er bereits mit Mijukow gebrochen hatte, »sowohl als geistige Kraft, wie als<br />
Mann von ungeheurem, fast unerschöpflichem Wissen und weitem Horizont.« Suchanow,<br />
<strong>der</strong> Miljukow für den Zusammenbruch des <strong>russischen</strong> Liberalismus persönlich verantwortlich<br />
machte, schrieb gleichzeitig: »Miljukow war damals die zentrale Figur, Herz<br />
und Hirn aller bürgerlichen politischen Kreise ... Ohne ihn würde es in <strong>der</strong> ersten<br />
Periode <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> keine bürgerliche Politik gegeben haben.« Bei all ihrer übermäßigen<br />
Geschraubtheit kennzeichnen diese Aussprüche die unbestrittene Überlegenheit<br />
Miljukows vor den übrigen Politikern <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. Seine Stärke bestand<br />
in dem, was auch seine Schwäche ausmachte: vollständiger und vollkommener als die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 125
an<strong>der</strong>en drückte er in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Politik das Schicksal <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie<br />
aus, das heißt ihre historische Ausweglosigkeit. Wenn die Menschewiki jammerten,<br />
Miljukow habe den <strong>russischen</strong> Liberalismus zugrunde gerichtet, so kann man mit mehr<br />
Recht behaupten, <strong>der</strong> Liberalismus habe Mijnkow zugrunde gerichtet.<br />
Trotz seines für die imperialistischen Zwecke aufgewärmten Neoslawismus blieb<br />
Miljukow stets ein bürgerlicher Westler. Das Ziel seiner Partei sah er im Siege <strong>der</strong><br />
europäischen Zivilisation in Rußland. Doch je weiter, um so mehr fürchtete er sich vor<br />
jenen revolutionären Wegen, die die Westvölker gegangen waren. Von seinem Westlertum<br />
blieb daher nichts als ein ohnmächtiger Neid auf den Westen.<br />
Die englische und französische Bourgeoisie hatten die neue Gesellschaft nach ihrem<br />
eigenen Ebenbilde errichtet. Die deutsche ist später gekommen, und sie mußte lange Zeit<br />
bei dem Hafer-absud <strong>der</strong> Philosophie sitzen. Die Deutschen haben das Wort »Weltanschauung«<br />
ausgedacht, das we<strong>der</strong> die Englän<strong>der</strong> noch die Franzosen besitzen: während<br />
die westlichen Nationen eine neue Welt schufen, beschauten die Deutschen sie. Aber die<br />
in bezug auf politische Tätigkeit so dürftige deutsche Bourgeoisie schuf die klassische<br />
Philosophie - und dies ist keine geringe Einlage. Die russische Bourgeoisie kam noch<br />
später. Zwar hatte sie das deutsche Wort »Weltanschauung« ins Russische übersetzt,<br />
sogar in mehreren Varianten, aber damit zeigte sie nur noch krasser zugleich mit ihrer<br />
politischen Impotenz ihre tödliche philosophische Dürftigkeit. Sie importierte Ideen wie<br />
auch Technik, richtete für die letztere hohe Zölle ein und für die ersteren eine Quarantäne<br />
<strong>der</strong> Angst. Diesen Zügen seiner Klasse politischen Ausdruck zu geben, war Miljukow<br />
berufen.<br />
Miijukow, ehemaliger Moskauer Geschichtsprofessor, Autor bedeuten<strong>der</strong> wissenschaftlicher<br />
Arbeiten, später Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> aus dem Bunde liberaler Gutsbesitzer und<br />
dem Bund linker Intellektueller zusammengeschlossenen Kadettenpartei, war des<br />
unerträglichen, teils herrenhaften, teils intellektuellen Zuges jenes politischen Dilettantismus<br />
völlig bar, <strong>der</strong> die Mehrzahl <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> liberalen Politiker kennzeichnet. Er<br />
nahm seinen Beruf sehr ernst, und schon das allein hob ihn hervor.<br />
In <strong>der</strong> Regel schämten sich die <strong>russischen</strong> Liberalen bis zum Jahre 1905, Liberale zu<br />
sein. Ein Anflug von Narodnikitum und später von Marxismus diente ihnen lange als<br />
unentbehrliche Schutzfarbe. In dieser schamhaften, im Wesen oberflächlichen Kapitulation<br />
ziemlich breiter bürgerlicher Kreise, darunter auch einer Reihe jüngerer Industrieller<br />
vor dem Soziahsmus, zeigte sich <strong>der</strong> Mangel innerer Sicherheit einer Klasse, die rechtzeitig<br />
genug gekommen war, um Millionen in ihren Händen zu konzentrieren, aber zu<br />
spät, um sich an die Spitze <strong>der</strong> Nation zu stellen. Die bärtigen Väter, reichgewordene<br />
Bauern und Krämer, häuften Besitz an, ohne über ihre gesellschaftliche Rolle nachzudenken.<br />
Die Söhne absolvierten die Universitäten in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> vorrevolutionären<br />
Ideengärung, und als sie versuchten, ihren Platz in <strong>der</strong> Gesellschaft zu finden, zögerten<br />
sie, sich unter das in fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n bereits verbrauchte, verblaßte und<br />
geflickte Banner des Liberalismus zu stellen. Eine Zeitlang gaben sie einen Teil ihrer<br />
Seele und sogar em Teilchen ihrer Einkünfte den <strong>Revolution</strong>ären hin. In noch höherem<br />
Maße betrifft das die Vertreter <strong>der</strong> freien Berufe: zu einem großen Teil machten sie in<br />
ihren jungen Jahren eine Periode sozialistischer Sympathien durch. Professor Miljukow<br />
aber hatte niemals an den Masern des Sozialismus gelitten. Er war ein organischer<br />
Bourgeois und schämte sich dessen nicht.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 126
Allerdings gab Mtljukow in <strong>der</strong> ersten Epoche <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht ganz die Hoffnung<br />
auf, mittels <strong>der</strong> gezähmten sozialistischen Parteien sich auf die revolutionären Massen<br />
stützen zu können. Witte erzählt, auf eine For<strong>der</strong>ung, die er bei <strong>der</strong> Bildung seines<br />
konstitutionellen Kabinetts im Oktober 1905 an die Kadetten stellte: »den revolutionären<br />
Schwanz abzuhacken«, hätten ihm diese geantwortet, sie könnten ebensowenig auf die<br />
bewaffneten Kräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verzichten wie Witte selbst auf die Armee. Im Kern<br />
<strong>der</strong> Sache war das schon damals Hochstapelei: um ihren Preis zu steigern, schreckten die<br />
Kadetten Witte mit den Massen vor denen sie selbst Angst hatten. Gerade auf Grund <strong>der</strong><br />
Erfahrung des Jahres 1905 hatte Miljukow sich überzeugt: so stark die liberalen Sympathien<br />
<strong>der</strong> sozialistischen Gruppen <strong>der</strong> Intelligenz auch sein mochten, die wahren Kräfte<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die Massen, werden ihre Waffen niemals <strong>der</strong> Bourgeoisie ausliefern und,<br />
je besser bewaffnet, eine um so größere Gefahr für diese bilden. Indem er offen proklamierte,<br />
die rote Fahne sei ein roter Lappen, beendete Miljukow mit sichtbarer Erleichterung<br />
den Roman, den er eigentlich niemals ernstlich begonnen hatte.<br />
Die Losgelöstheit <strong>der</strong> sogenannten "Intelligenz" vom Volke war eines <strong>der</strong> traditionellen<br />
Themen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Journalistik, wobei die Liberalen, im Gegensatz zu den <strong>Sozialisten</strong>,<br />
unter Intelligenz alle "gebildeten", das heißt besitzenden Klassen verstanden.<br />
Nachdem diese Losgelöstheit während <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> sich den Liberalen in so<br />
katastrophaler Weise offenbart hatte, lebten die Ideologen <strong>der</strong> "gebildeten" Klassen<br />
gleichsam in ständiger Erwartung des Jüngsten Gerichts. Ein liberaler Schriftsteller, ein<br />
an die Koventionen <strong>der</strong> Politik nicht gebundener Philosoph, hat die Angst vor den<br />
Massen mit einer Besessenheit ausgesprochen, die an die reaktionäre Epilepsie Dostojewskis<br />
erinnert. »So wie wir sind, können wir nicht nur nicht an eine Verschmelzung mit<br />
dem Volke denken - fürchten müssen wir es, mehr als alle Hinrichtungen <strong>der</strong> Regierung,<br />
und jene Macht segnen, die uns durch ihre Bajonette und Gefängnisse vor <strong>der</strong> Volkswut<br />
schützt.« Konnten die Liberalen bei einem solchen politischen Selbstgefühl davon<br />
träumen, die revolutionäre Nation zu leiten? Die ganze Politik Miljukows ist vom<br />
Stempel <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Im Augenblick <strong>der</strong> nationalen Krise denkt<br />
die von ihm geführte Partei nur daran, wie dem Schlage auszuweichen, nicht aber, wie<br />
ihn zu führen.<br />
Als Schriftsteller ist Miljukow schwerfällig, weitschweifig und ermüdend. Nicht<br />
an<strong>der</strong>s auch als Redner. Dekorativ ist er nicht. Das könnte ein Plus sein, wenn die<br />
engherzige Politik Miljukows nicht so offensichtlich <strong>der</strong> Maskierung bedurft o<strong>der</strong> wenn<br />
er mindestens die objektive Deckung einer großen Tradition besessen hätte: doch er<br />
besaß nicht einmal die kleine. Die offizielle Politik in Frankreich, die Quintessenz<br />
bürgerlichen Egoismus und Verräterei, hat zwei mächtige Stützen: Tradition und Rhetorik.<br />
Miteinan<strong>der</strong> multipliziert umgeben sie jeden bürgerlichen Politiker, selbst ein so<br />
prosaisches Faktotum des Großkapitals wie Poincaré, mit einer schützenden Hülle. Es ist<br />
nicht Miljukows Schuld, daß er keine pathetischen Vorfahren besaß und gezwungen war,<br />
die Politik des bürgerlichen Egoismus an <strong>der</strong> Grenze zwischen Europa und Asien durchzuführen.<br />
»Neben den Sympathien für Kerenski«, lesen wir in den Erinnerungen des Sozialrevolutionärs<br />
Sokolow über die Februarrevolution, »existierte von Anfang an eine große,<br />
unverhüllte und in ihrer Art seltsame Antipathie gegen Miljukow. Mir war und ist es<br />
auch jetzt noch unverständlich, weshalb dieser ehrwürdige Politiker so unpopulär war.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 127
Hätten die Philister den Grund ihrer Begeisterung für Kerenski und ihres Unwillens<br />
gegen Miljukow begreifen können, sie hätten aufgehört, Philister zu sein. Der Spießbürger<br />
liebte Miljukow deshalb nicht, weil dieser zu prosaisch und nüchtern, ohne Beschönigung,<br />
das politische Wesen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie wie<strong>der</strong>gab. Sich in dem<br />
Miljukowschen Spiegel betrachtend, sah <strong>der</strong> Bürger, daß er grau, eigennützig, feige war,<br />
und er fühlte sich, wie das üblich ist, durch den Spiegel beleidigt.<br />
Miljukow, dem die unzufriedenen Grimassen des liberalen Bürgers nicht verborgen<br />
blieben, sagte seinerseits ruhig und sicher: »Der Spießer ist dumm.« Er brachte diese<br />
Worte ohne Gereiztheit vor, fast zärtlich, als wollte er sagen: »Wenn mich <strong>der</strong> Spießer<br />
heute noch nicht versteht, schadet es nichts, er wird es später.« In Miljukow lebte die gut<br />
fundierte Gewißheit, daß <strong>der</strong> Bürger ihn nicht verraten und ihm, <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge<br />
gehorchend, folgen werde, denn ihm blieb kein an<strong>der</strong>er Weg. Und tatsächlich: nach dem<br />
Februarumsturz folgten alle bürgerlichen Parteien, sogar, wenn auch schimpfend und<br />
mitunter fluchend, die rechten, dem Führer <strong>der</strong> Kadetten.<br />
An<strong>der</strong>s verhielt es sich mit dem demokratischen Politiker sozialistischer Färbung, mit<br />
einem Suchanow. Das war kein gewöhnlicher Spießer, im Gegenteil, ein Bcrufspolitiker,<br />
in seinem kleinen Handwerk ziemlich gewitzt. "Gescheit" konnte dieser Politiker nicht<br />
erscheinen, denn zu augenfällig war <strong>der</strong> ständige Wi<strong>der</strong>spruch zwischen dem, was er<br />
wollte, und dem, was er erreichte. Aber er klügelte, verwirrte, langweilte. Um ihn zum<br />
Mitgehen zu bewegen, mußte man ihn täuschen, indem man ihm nicht nur seine volle<br />
Selbständigkeit zubilligte, son<strong>der</strong>n ihn sogar des unmäßigen Kommandierens, <strong>der</strong> Eigenmächtigkeit<br />
beschuldigte. Das schmeichelte ihm und versöhnte ihn mit <strong>der</strong> Rolle des<br />
Handlangers. Im Gespräch mit ebendiesen sozialistischen Schlaubergern warf Miljukow<br />
den Satz hin: »Der Spießer ist dumm.« Das war eine feine Schmeichelei: »Gescheit sind<br />
nur wir zwei.« In Wirklichkeit zog Miljukow gerade in diesem Moment seinen demokratischen<br />
Freunden einen Ring durch die Nase. Mit diesem Ring sind sie später auch<br />
gestürzt worden.<br />
Die persönliche Unpopularität erlaubte Miljukow nicht, sich an die Spitze <strong>der</strong> Regierung<br />
zu stellen: er übernahm die auswärtigen Angelegenheiten, die auch in <strong>der</strong> Duma<br />
seine Spezialität gewesen waren.<br />
Kriegsminister <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wurde <strong>der</strong> uns bereits bekannte Moskauer Großindustrielle<br />
Gutschkow, in seiner Jugend Liberaler, mit einem Einschlag ins Abenteuerliche,<br />
später Vertrauensperson <strong>der</strong> Großbourgeoisie bei Stolypin in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung<br />
<strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>. Die Auflösung <strong>der</strong> zwei ersten Dumas, in denen die<br />
Kadetten geherrscht hatten, führte zum Staatsstreich vom 3. Juni 1907, <strong>der</strong> das Ziel hatte,<br />
das Wahlrecht zugunsten <strong>der</strong> Partei Gutschkows abzuän<strong>der</strong>n, die dann in den zwei<br />
letzten Dumas bis zur <strong>Revolution</strong> die Führung auch behielt. Im Jahre 1911 in Kiew bei<br />
<strong>der</strong> Enthüllung eines Denkmals für Stolypin, <strong>der</strong> von einem Terroristen getötet worden<br />
war, legte Gutschkow schweigend einen Kranz nie<strong>der</strong> und verneigte sich tief bis zur<br />
Erde: das war eine Geste im Namen einer Klasse. In <strong>der</strong> Duma widmete sich Gutschkow<br />
hauptsächlich den Fragen <strong>der</strong> »Kriegsmacht« und ging bei <strong>der</strong> Vorbereitung des Krieges<br />
Hand in Hand mit Miljukow. Als Vorsitzen<strong>der</strong> des Zentralen Kriegsindustriekomitees<br />
vereinigte er die Industriellen unter dem Banner <strong>der</strong> patriotischen Opposition, wobei er<br />
gleichzeitig die Häupter des progressiven Blocks, einschließlich Rodsjanko, keinesfalls<br />
hin<strong>der</strong>te, ihre Hände an Militärlieferungen zu wärmen. Eine revolutionäre Empfehlung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 128
für Gutschkow war die mit seinem Namen verbundene halbe Legende von <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Palastrevolution. Der ehemalige Polizeichef behauptete darüber hinaus,<br />
Gutschkow »erlaubte sich, in Privatgesprächen höchst beleidigende Epitheta in bezug<br />
auf den Monarchen. anzuwenden«. Das ist durchaus wahrscheinlich. Doch bildete<br />
Gutschkow in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die gottesfürchtige Zarin haßte<br />
Gutschkow, sparte in ihren Briefen nicht mit groben Schmähungen an seine Adresse und<br />
sprach die Hoffnung aus, er werde an »einem hohen Baume« aufgehängt werden.<br />
Übrigens hatte die Zarin dafür viele vorgesehen. So o<strong>der</strong> so: jener Mann, <strong>der</strong> sich vor<br />
dem Henker <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> bis zur Erde verneigt hatte, wurde Kriegsminister <strong>der</strong><br />
zweiten.<br />
Zum Ackerbauminister wurde <strong>der</strong> Kadett Schingarew ernannt, ein Provinzarzt, <strong>der</strong><br />
später Dumadeputierter geworden war. Seine nächsten Gesinnungsgenossen aus <strong>der</strong><br />
Partei hielten ihn für eine ehrliche Mittelmäßigkeit o<strong>der</strong>, wie Nabokow sich ausdrückte,<br />
für »einen <strong>russischen</strong> Provinzintellektuellen, gemessen nicht mit dem Staats-, son<strong>der</strong>n<br />
einem Gouverneinents- o<strong>der</strong> Kreismaßstab«. Der unbestimmte Radikalismus <strong>der</strong> Jugendjahre<br />
hatte längst Zeit gehabt, sich zu verflüchtigen, und Schingarews Hauptsorge wurde,<br />
den besitzenden Klassen seine Staatsreife zu zeigen. Obwohl das alte Programm <strong>der</strong><br />
Kadetten von <strong>der</strong> »zwangsweisen Enteignung des gutsherrlichen Bodens nach einer<br />
gerechten Abschätzung« sprach, nahm doch keiner <strong>der</strong> Gutsbesitzer dieses Programm<br />
ernst, beson<strong>der</strong>s jetzt nicht, in den Jahren <strong>der</strong> Kriegsinflation, und Schingarew sah seine<br />
Hauptaufgabe darin, die Lösung des Agrarproblems zu verschleppen und die Bauern mit<br />
dem Trugbild <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung zu vertrösten, die die Kadetten nicht<br />
einberufen wollten. An den Fragen des Grund und Bodens und des Krieges sich das<br />
Genick zu brechen, stand <strong>der</strong> Februar-revolution bevor; Schingarew half dabei, wie er<br />
nur konnte.<br />
Das Portefeuille <strong>der</strong> Finanzen erhielt ein junger Mann namens Tereschtschenko. Wo<br />
haben sie den hergenommen? fragte man sich verwun<strong>der</strong>t im Taurischen Palais. Unterrichtete<br />
Personen erklärten, er sei Besitzer von Zuckerfabriken, Gütern, Wäl<strong>der</strong>n und<br />
an<strong>der</strong>en unzähligen Reichtümern, die man auf etwa 80 Millionen Goldrubel schätzte,<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> des Kriegsindustriekomitees in Kiew, mit guter französischer Aussprache<br />
und überdies Kenner des Balletts. Man fügte noch vielsagend hinzu, Tereschtschenko<br />
habe als Vertrauter Gutscbkows fast an <strong>der</strong> großen Verschwörung teilgenommen, die<br />
Nikolaus II. absetzen sollte. Die <strong>Revolution</strong>, die die Verschwörung vereitelt hatte, half<br />
Tereschtschenko.<br />
Während <strong>der</strong> fünf Februartage, als sich in den kalten Straßen <strong>der</strong> Hauptstadt <strong>Revolution</strong>skämpfe<br />
abspielten, huschte einigemal wie ein Schatten die Figur des Liberalen aus<br />
hohem Hause an uns vorbei - <strong>der</strong> Sohn des ehemaligen zaristischen Ministers Nabokow,<br />
eine in ihrer selbstzufriedenen Korrektheit und egoistischen Engherzigkeit fast symbolische<br />
Gestalt. Die entscheidenden Tage des Aufstandes hatte Nabokow zwischen den vier<br />
Wänden <strong>der</strong> Kanzlei o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Familie »in dumpfer und sorgenvoller Erwartung«<br />
verbracht. Jetzt war er Geschäftsführer <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, faktisch Minister<br />
ohne Portefeujile. In <strong>der</strong> Berliner Emigration, wo ihn die unsinnige Kugel eines Weißigardisten<br />
tötete, hinterließ er nicht uninteressante Aufzeichnungen über die Provisorische<br />
Regierung. Möge ihm dies als Verdienst gebucht werden.<br />
Doch wir vergaßen, den Premier zu erwähnen, den übrigens in ernsten Momenten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 129
seiner kurzen Amtstätigkeit alle vergaßen. Als am 2. März Miljukow bei einem Meeting<br />
im Taurischen Palais die neue Regierung empfahl, nannte er Fürst Lwow »die Verkörperung<br />
<strong>der</strong> vom zaristischen Regime verfolgten <strong>russischen</strong> Öffentlichkeit«. Später, in seiner<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, vermerkt Miljukow vorsichtig, »an die Spitze <strong>der</strong> Regierung<br />
wurde <strong>der</strong> den meisten Mitglie<strong>der</strong>n des Provisorischen Komitees wenig bekannte« Fürst<br />
Lwow gestellt. Der Historiker bemüht sich hier, den Politiker <strong>der</strong> Verantwortung für die<br />
Wahl zu entheben. In Wirklichkeit zählte <strong>der</strong> Fürst schon längst zur Kadettenpartei, zu<br />
ihrem rechten Flügel. Nach <strong>der</strong> Auflösung <strong>der</strong> ersten Duma, auf <strong>der</strong> berühmten<br />
Deputiertentagung in Wyborg, die sich mit dem rituellen Aufruf des beleidigten Liberalismus<br />
an die Bevölkerung wandte, keine Steuern zu zahlen, war Fürst Lwow zwar<br />
anwesend, unterschrieb aber den Aufruf nicht. Nabokow erzählt in seinen Erinnerungen,<br />
<strong>der</strong> Fürst wäre gleich nach Ankunft in Wyborg erkrankt, wobei seine Krankheit »<strong>der</strong><br />
Erregung zugeschrieben wurde, in <strong>der</strong> er sich befand«. Offenbar war <strong>der</strong> Fürst für<br />
revolutionäre Erschütterungen nicht geschaffen. Sehr gemäßigt, duldete Fürst Lwow,<br />
kraft seiner politischen Gleichgültigkeit, die nach politischer Weitherzigkeit aussah, in<br />
allen von ihm geleiteten Organisationen linke Intellektuelle, ehemalige <strong>Revolution</strong>äre,<br />
sozialistische Patrioten, die sich vor dem Kriege drückten. Sie arbeiteten nicht schlechter<br />
als die an<strong>der</strong>en Beamten, stahlen nicht und brachten dem Fürsten gleichzeitig eine Art<br />
Popularität ein. Ein Fürst, ein reicher Mann und Liberaler - das imponierte dem Durchschnittsbürger.<br />
Man hatte deshalb Fürst Lwow schon unter dem Zaren für den Premierposten<br />
vorgemerkt. Alles in allem muß man zugeben, das Regierungshaupt <strong>der</strong><br />
Februarrevolution war zwar ein erlauchter, aber ein notorisch leerer Fleck. Rodsjanko<br />
wäre jedenfalls farbenprächtiger gewesen.<br />
Die Chronik <strong>der</strong> legendären <strong>Geschichte</strong> des Russischen Staates beginnt mit <strong>der</strong> Erzählung,<br />
wie Abgesandte <strong>der</strong> slawischen Stämme sich zu den skandinavischen Fürsten<br />
begaben mit <strong>der</strong> Bitte: »Kommt, besitzt und regiert uns.« Die unglückseligen Vertreter<br />
<strong>der</strong> sozialistischen Demokratie verwandelten die historische Legende in eine wahre<br />
Begebenheit, nicht im 19., son<strong>der</strong>n im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, nur mit dem Unterschiede, daß<br />
sie sich nicht an überseeische, son<strong>der</strong>n an inländische Fürsten wandten. So gerieten als<br />
Resultat des siegreichen Aufstandes <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten einige schwerreiche<br />
Gutsbesitzer und Industrielle an die Macht, durch nichts bemerkenswerte, politische<br />
Dilettanten ohne Programm, mit einem Fürsten an <strong>der</strong> Spitze, <strong>der</strong> keine Aufregungen<br />
vertrug.<br />
Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Regierung rief bei den verbündeten Gesandtschaften, in den<br />
bürgerlichen und bürokratischen Salons, wie in den breiteren Schichten des mittleren<br />
Bürgertums, und teils auch des Kleinbürgertums, Befriedigung hervor. Fürst Lwow, <strong>der</strong><br />
Oktobrist Gutschkow, <strong>der</strong> Kadett Miljukow - diese Namen klangen beruhigend. Der<br />
Name Kerenski veranlaßte vielleicht die Alliierten zu einer Grimasse, aber er schreckte<br />
sie nicht. Die Weiterblickenden begriffen: im Lande ist immerhin <strong>Revolution</strong>; bei einem<br />
so sicheren Deichselpferd wie Miljukow kann ein mutwilliges Begleitpferd nur nützlich<br />
sein. So mußte <strong>der</strong> französische Gesandte Paleólogue denken, <strong>der</strong> russische Metaphern<br />
liebte.<br />
Unter den Arbeitern und Soldaten erweckte die Zusammensetzung <strong>der</strong> Regierung von<br />
Anfang an feindliche Gefühle, bestenfalls dumpfes Staunen. Die Namen Miljukow o<strong>der</strong><br />
Gutschkow konnten keine Zustimmung hervorrufen, we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Fabrik noch in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 130
Kaserne. Dafür sind nicht wenige Zeugnisse vorhanden. Der Offizier Mstislawski berichtet<br />
von <strong>der</strong> düsteren Sorge <strong>der</strong> Soldaten, daß die Macht vom Zaren an einen Fürsten<br />
übergegangen sei: hat es sieh gelohnt, deshalb Blut zu vergießen? Stankewitseh, <strong>der</strong> zum<br />
intimen Kerenski-Kreise gehörte, machte am 3. März einen Rundgang durch sein<br />
Sappeurbataillon, von Kompanie zu Kompanie, und pries die neue Regierung an, die er<br />
selbst für die bestmögliche hielt und von <strong>der</strong> er mit großer Begeisterung sprach. »Aber<br />
man fühlte im Auditorium eine Kühle.« Nur wenn <strong>der</strong> Redner Kerenski erwähnte,<br />
»entflammten« die Soldaten »in wahrer Befriedigung«. Zu dieser Zeit hatte bereits die<br />
öffentliche Meinung <strong>der</strong> Spießbürger <strong>der</strong> Hauptstadt Kerenski in einen Haupthelden <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> verwandelt. Die Soldaten wollten in höherem Maße als die Arbeiter in<br />
Kerenski ein Gegengewicht zur bürgerlichen Regierung sehen und wun<strong>der</strong>ten sich nur<br />
darüber, daß er dort allein war. Doch Kerenski war kein Gegengewicht, son<strong>der</strong>n eine<br />
Ergänzung, eine Deckung, eine Verzierung. Er verteidigte die gleichen Interessen wie<br />
Miljukow, nur beim Aufbhtzen von Magnesium.<br />
Wie war die reale Konstitution des Landes nach <strong>der</strong> Aufrichtung <strong>der</strong> neuen Macht?<br />
Die monarchistische Reaktion verkroch sich in die Löcher. Sobald nur die ersten<br />
Wasser <strong>der</strong> Sintflut zurückwichen, gruppierten sich die Besitzenden aller Arten und<br />
Richtungen um das Banner <strong>der</strong> Kadettenpartei, die mit einem Male die einzige nichtsozialistische<br />
Partei und gleichzeitig die äußerste Rechte in <strong>der</strong> offenen Arena geworden<br />
war.<br />
Die Massen strömten in Scharen zu den <strong>Sozialisten</strong>, die im Bewußtsein des Volkes mit<br />
den Sowjets verschmolzen waren. Nicht nur die Arbeiter und Soldaten <strong>der</strong> großen Garnisonen<br />
des Hinterlandes, son<strong>der</strong>n auch all das bunte Kleinvolk <strong>der</strong> Städte: Handwerker,<br />
Straßenverkäufer, kleine Beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Hausangestellte aller Art<br />
mieden die Provisorische Regierung mit <strong>der</strong>en Kanzleien und suchten eine nähere,<br />
zugänglichere Macht. In immer größerer Zahl kamen Bauernabgesandte ins Taurische<br />
Palais. Die Massen ergossen sich in die Sowjets wie in ein Triumphtor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Alles, was außerhalb <strong>der</strong> Sowjets blieb, fiel von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gleichsam ab und schien<br />
einer an<strong>der</strong>en Welt zugehörig. So war es auch: außerhalb <strong>der</strong> Sowjets blieb die Welt <strong>der</strong><br />
Besitzenden, in <strong>der</strong> sich jetzt alle Farben zu einem graurosa Schutzkolorit vermengten.<br />
Nicht die ganze werktätige Masse wählte die Sowjets, nicht mit einem Male erwachte<br />
sie, nicht alle Schichten <strong>der</strong> Unterdrückten wagten gleich zu glauben, daß <strong>der</strong> Umsturz<br />
auch sie betraf. Im Bewußtsein vieler regte sich nur schwerfällig unartikulierte Hoffnung.<br />
Den Sowjets wandten sich alle Aktiven aus den Massen zu, und während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
siegt mehr denn je die Aktivität; da nun die Massenaktivität von Tag zu Tag wuchs, so<br />
erweiterte sich die Basis <strong>der</strong> Sowjets ununterbrochen. Dies war auch die einzige reale<br />
Basis <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Im Taurischen Palais gab es zwei Hälften: Duma und Sowjet. Das Exekutivkomitee<br />
drängte sich ursprünglich in irgendwelchen engen Kanzleien, durch die ein ununterbrochener<br />
Menschenstrom flutete. Die Dumadeputierten waren bemüht, sich in ihren<br />
Para<strong>der</strong>äumen als die Herren zu fühlen. Doch bald trug das Hochwasser <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
die Schranken hinweg. Trotz <strong>der</strong> ganzen Unentschlossenheit seiner Führer verbreiterte<br />
sich <strong>der</strong> Sowjet unaufhaltsam, während die Duma immer mehr in den Hintergrund<br />
gedrängt wurde. Das neue Kräfteverhältuis brach sich allenthalben Bahn.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 131
Die Deputierten im Taurischen Palais, die Offiziere in ihren Regimentern, die<br />
Kommandeure in ihren Stäben, die Direktoren und Administratoren <strong>der</strong> Betriebe, Eisenbahnen,<br />
Telegraphenämter, die Gutsbesitzer o<strong>der</strong> Verwalter auf den Gütern, alle fühlten<br />
sich von den ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an unter <strong>der</strong> feindseligen und rastlosen<br />
Kontrolle <strong>der</strong> Masse. Der Sowjet war in den Augen dieser Masse <strong>der</strong> organisierte<br />
Ausdruck ihres Mißtrauens gegen all jene, die sie unterdrückt hatten. Die Setzer durchforschten<br />
eifrig den Text <strong>der</strong> Artikel, die sie zu setzen hatten, die Eisenbahnarbeiter<br />
beobachteten besorgt und wachsam die Militärzüge, die Telegraphisten lasen sich auf<br />
neue Art in die Telegramme hinein, die Soldaten sahen sich bei je<strong>der</strong> verdächtigen<br />
Bewegung des Offiziers an, die Arbeiter warfen den als Schwarzhun<strong>der</strong>tmann bekannten<br />
Meister aus dem Betrieb hinaus und hielten ein scharfes Auge auf den liberalen Direktor.<br />
Die Duma wurde von den ersten Stunden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und die Provisorische Regierung<br />
von ihren ersten Tagen an zum Reservoir, in das die Klagen und Beschwerden <strong>der</strong><br />
Oberschichten <strong>der</strong> Gesellschaft, <strong>der</strong>en Proteste gegen "Exzesse", ihre wehmütigen<br />
Beobachtungen und düsteren Vorahnungen zusammenströmten.<br />
»Ohne die Bourgeoisie können wir den Staatsapparat nicht erobern«, meinte <strong>der</strong><br />
sozialistische Kleinbürger mit einem ängstlichen Blick auf die Verwaltungsgebäude, aus<br />
denen mit leeren Augenhöhlen das Skelett des alten Staates starrte. Man fand einen<br />
Ausweg darin, daß man dem durch die <strong>Revolution</strong> enthaupteten Apparat irgendwie einen<br />
liberalen Kopf aufsetzte. Neue Minister begaben sich in die zaristischen Ministerien,<br />
nahmen dort Besitz von dem Apparat <strong>der</strong> Schreibmaschinen, Telephone, Kuriere, Stenotypistinnen<br />
und Beamten und überzeugten sich tagtäglich, daß die Maschine leer läuft.<br />
Kerenski erinnerte sich später, wie die Provisorische Regierung »am dritten Tage <strong>der</strong><br />
all<strong>russischen</strong> Anarchie die Macht in ihre Hände nahm, als es auf <strong>der</strong> ganzen Fläche <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong> Erde nicht nur keine Macht gab, son<strong>der</strong>n buchstäblich kein einziger Schutzmann<br />
übriggeblieben war«. Die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten, die<br />
Millionenmassen leiteten, zählen nicht: das sind doch nur Elemente <strong>der</strong> Anarchie. Die<br />
Verwahrlosung des Landes wird durch das Verschwinden des Schutzmannes charakterisiert.<br />
In diesem Glaubensbekenntnis des allerlinksten Ministers liegt <strong>der</strong> Schlüssel zur<br />
gesamten Politik <strong>der</strong> Regierung.<br />
Die Gouverneurposten wurden, auf Verfügung des Fürsten Lwow, durch Vorsitzende<br />
<strong>der</strong> Gouvernementsemstwoverwaltungen besetzt, die sich nicht viel von ihren Vorgängern<br />
unterschieden; nicht selten waren es Gutsbesitzer von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> alten Leibeigenenherren,<br />
die sogar in den Gouverneuren Jakobiner erblickten. An die Spitze <strong>der</strong> Kreise<br />
kamen die Vorsitzenden <strong>der</strong> Kreissemstwoverwaltungen. Unter <strong>der</strong> frischen Bezeichnung<br />
"Kommissare" erkannte die Bevölkerung ihre alten Feinde. »Die selben alten Popen, nur<br />
unter hochtrabenden Namen«, wie einst Milton von <strong>der</strong> ängstlichen Reformation <strong>der</strong><br />
Presbyterianer sagte. Die Gouvernement- und Kreiskommissare bemächtigten sich <strong>der</strong><br />
Schreibmaschinen, Schreibmaschinenschreiberinnen und Beamten <strong>der</strong> Gouverneure und<br />
lsprawniks, um sich davon zu überzeugen, daß diese ihnen keinerlei Macht vererbt<br />
hatten. Das Leben in den Gouvernements und in den Kreisen konzentrierte sich um die<br />
Sowjets. Auf diese Weise durchsetzte die Doppelherrschaft alles von oben bis unten.<br />
Aber die örtlichen Sowjetleiter, die gleichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki,<br />
waren doch simpler und warfen durchaus nicht immer die Macht, die sich ihnen aus <strong>der</strong><br />
ganzen Situation heraus von selbst aufdrängte, von sich. Infolgedessen bestand die Tätig-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 132
keit <strong>der</strong> Provinzkommissare hauptächlich in Beschwerden über die völlige Unmöglichkeit,<br />
ihre Vollmachten geltend zu machen.<br />
Am Tage nach <strong>der</strong> Bildung des liberalen Ministeriums fühlte die Bourgeoisie, daß sie<br />
die Macht nicht erlangt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil verloren hatte. Bei <strong>der</strong> ganzen phantastischen<br />
Willkür <strong>der</strong> Rasputinschen Clique bis zum Umsturze hatte <strong>der</strong>en reale Macht einen<br />
beschränkten Charakter. Der Einfluß <strong>der</strong> Bourgeoisie auf die Staatsgeschäfte war gewaltig.<br />
Auch Rußlands Beteiligung am Kriege war in höherem Maße eine Angelegenheit <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie als <strong>der</strong> Monarchie. Die Hauptsache aber bestand darin, daß die zaristische<br />
Macht den Besitzenden die Fabriken, Län<strong>der</strong>eien, Banken, Häuser und Zeitungen<br />
gesichert harte und mithin in <strong>der</strong> lebenswichtigsten Frage ihre Regierung gewesen war.<br />
Die Februarrevolution verän<strong>der</strong>te die Lage nach zwei einan<strong>der</strong> entgegengesetzten<br />
Richtungen: sie händigte <strong>der</strong> Bourgeoisie feierlichst die äußerlichen Machttribute aus,<br />
nahm ihr aber gleichzeitig jenen Teil <strong>der</strong> realen Herrschaft, die sie vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
besessen hatte. Die gestrigen Angestellten des Semstwoverbandes, wo Fürst Lwow <strong>der</strong><br />
Gebieter war, und des Kriegsindustriekomitees, wo Gutschkow kommandierte, wurden<br />
heute unter dem Namen Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Herren <strong>der</strong> Lage im<br />
Lande und an <strong>der</strong> Front, in Stadt und Dorf, ernannten Lwow und Gutschkow zu<br />
Ministern und stellten ihnen dabei Bedingungen, wie wenn sie sie als Gehlifen dingen<br />
wollten.<br />
An<strong>der</strong>erseits konnte das Exekutivkomitee, nachdem es die bürgerliche Regierung<br />
geschaffen hatte, sich nicht, dem biblischen Gott gleich, entschließen, kundzutun, die<br />
Schöpfüng sei gut. Im Gegenteil, es beeilte sich, sofort die Distanz zwischen sich und<br />
dem Werke seiner Hand zu vergrößern, indem es erklärte, die neue Macht nur insoweit<br />
unterstützen zu wollen, als diese treu <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> dienen würde. Die<br />
Provisorische Regierung war sich dessen durchaus bewußt, daß sie sich ohne die Unterstützung<br />
<strong>der</strong> offiziellen Demokratie nicht eine Stunde würde halten können; diese Unterstützung<br />
war ihr indes nur als Lohn für gutes Benehmen versprochen, das heißt für die<br />
Durchführung von Aufgaben, die ihr fremd waren und <strong>der</strong>en Lösung die Demokratie<br />
selbst eben noch ausgewichen war. Die Regierung wußte niemals, bis zu welchen<br />
Grenzen sie ihre Macht, die halb Konterbande war, äußern dürfte. Nicht immer könnten<br />
ihr dies die Häupter des Exekutivkomitees von vornherein sagen, denn auch ihnen war es<br />
schwer, zu erraten, bei welcher Grenze die Unzufriedenheit in den eigenen Reihen als<br />
Abbild des Unwillens <strong>der</strong> Massen durchbrechen würde. Die Bourgeoisie tat so, als hätten<br />
die <strong>Sozialisten</strong> sie betrogen. Die <strong>Sozialisten</strong> ihrerseits fürchteten, die Liberalen würden<br />
durch ihre vorzeitigen Ansprüche die Massen erregen und die ohnehin schwierige Lage<br />
verschlechtern. »Insoweit - wie« -, diese Zweideutigkeit drückte <strong>der</strong> ganzen Voroktoberperiode<br />
ihren Stempel auf, indem sie die juristische Formel für die innere Lüge wurde,<br />
die im Zwitterregime <strong>der</strong> Februarrevolution enthalten war.<br />
Um auf die Regierung einen Druck auszuüben, wählte das Exekutivkomitee eine<br />
beson<strong>der</strong>e Kommission, die es höflicher-, aber lächerlicherweise "Kontaktkommission"<br />
nannte. Die Bildung <strong>der</strong> revolutionären Macht war also offiziell auf den Prinzipien <strong>der</strong><br />
gegenseitigen Überredung aufgebaut. Der nicht unbekannte mystische Schriftsteller<br />
Mereschkowski konnte einen Präzedenzfall für ein solches Regime nur im Alten Testament<br />
finden: die Zaren Israels hielten sich Propheten. Die biblischen Propheten jedoch,<br />
wie auch <strong>der</strong> Prophet des letzten Romanow, empfingen wenigstens ihre Eingebungen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 133
unmittelbar vom Himmel und die Zaren wagten keine Wi<strong>der</strong>rede: das sicherte die<br />
Einheitlichkeit <strong>der</strong> Macht. Ganz an<strong>der</strong>s die Propheten des Sowjets: sie predigten nur<br />
unter <strong>der</strong> Eingebung <strong>der</strong> eigenen Beschränktheit. Die liberalen Minister aber waren <strong>der</strong><br />
Meinung, es könne überhaupt nichts Gutes von dem Sowjet kommen. Tschcheidse,<br />
Skobeljew, Suchanow und an<strong>der</strong>e gingen zu <strong>der</strong> Regierung und redeten ihr lang und breit<br />
zu, nachzugeben; die Minister sträubten sich; die Delegierten kehrten zum Exekutivkomitee<br />
zurück; übten hier einen Druck mittels <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> Regierung aus; traten<br />
wie<strong>der</strong> in Verbindung mit den Ministern und - begannen wie<strong>der</strong> vom Anfang. Diese<br />
komplizierte Mühle mahlte nichts aus.<br />
In <strong>der</strong> Kontaktkommission beklagten sich alle. Beson<strong>der</strong>s Gutschkow jammerte vor<br />
den Demokraten über Unordnung in <strong>der</strong> Armee, hervorgerufen durch das Gewährenlassen<br />
des Sowjets. Manchmal vergoß <strong>der</strong> Kriegsminister <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> »in direktem und<br />
buchstäblichen Sinne ... Tränen, mindestens wischte er sich eiftig die Augen mit dem<br />
Taschentuch«. Er meinte nicht ohne Grund, die Tränen <strong>der</strong> Gesalbten zu trocknen, sei die<br />
direkte Funktion <strong>der</strong> Propheten.<br />
Am 9. März telegraphierte General Alexejew, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Spitze des Hauptquartiers<br />
stand, an den Kriegsminister: »Das deutsche Joch ist nahe, wenn wir dem Sowjet weiter<br />
nachgeben.« Gutschkow antwortete ihm höchst weinerlich: die Regierung verfügt lei<strong>der</strong><br />
über keine reale Macht, in den Händen des Sowjets sind Truppen, Eisenbahn, Post und<br />
Telegraph. »Man kann geradezu sagen, die Provisorische Regierung existiert nur,<br />
solange <strong>der</strong> Sowjet es zuläßt.«<br />
Eine Woche nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verging, die Lage aber besserte sich nicht im geringsten.<br />
Als die Provisorische Regierung Anfang April Dumadeputierte an die Front sandte,<br />
schärfte sie ihnen zähneknirschend ein, keine Meinungsverschiedenheiten mit den<br />
Sowjetdelegierten erkennen zu lassen. Die liberalen Deputierten fühlten sich während <strong>der</strong><br />
ganzen Reise gleichsam unter Eskorte, doch waren sie sich bewußt, daß sie sonst, trotz<br />
all ihren hohen Volimachten, nicht nur nicht vor den Soldaten erscheinen, son<strong>der</strong>n auch<br />
keinen Platz im Wagen finden könnten. Dieses prosaische Detail aus den Erinnerungen<br />
des Fürsten Mansyrew ergänzt vorzüglich den Briefwechsel Gutschkows mit dem Hauptquartier<br />
über das Wesen <strong>der</strong> Februarkonstitution. Ein reaktionärer Witzbold charakterisierte<br />
nicht ohne Berechtigung die Lage folgen<strong>der</strong>maßen: »Die alte Regierung sitzt in <strong>der</strong><br />
Peter-Paul-Festung und die neue unter Hausarrest.«<br />
Besaß denn die Provisorische Regierung keine an<strong>der</strong>e Stütze außer <strong>der</strong> fragwürdigen<br />
Hilfe <strong>der</strong> Sowjetführer? Wo waren die besitzenden Klassen hingeraten? Eine begründete<br />
Frage. In ihrer Vergangenheit mit <strong>der</strong> Monarchie verbunden, hatten es die besitzenden<br />
Klassen nach <strong>der</strong> Umwälzung eilig, sich um eine neue Achse zu gruppieren. Der Rat für<br />
Industrie und Handel, die Vertretung des vereinigten Kapitals des gesamten Landes, hatte<br />
sich bereits am 2. März »vor <strong>der</strong> großen Tat <strong>der</strong> Reichsduma verbeugt« und sich »völlig<br />
zur Verfügung« ihres Komitees gestellt. Die Semstwos und die Stadtdumas beschritten<br />
denselben Weg. Am 10. März rief sogar <strong>der</strong> Rat des vereinigten Adels, die Stütze des<br />
Thrones, in <strong>der</strong> Sprache pathetischer Feigheit das ganze russische Volk auf, »sich um die<br />
Provisorische Regierung, als die heute einzige gesetzliche Macht in Rußland, zusammenzuschließen«.<br />
Fast zu gleicher Zeit begannen die Institutionen und Organe <strong>der</strong> besitzenden<br />
Klassen die Doppelherrschaft zu tadeln und schoben, zuerst schüchtern, dann immer<br />
kühner, die Verantwortung für die Unordnung den Sowjets zu. Hinter den Herren herzo-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 134
gen die Spitzen <strong>der</strong> Angestellten, die Vereinigungen <strong>der</strong> liberalen Berufe, die Staatsbeamten.<br />
Von <strong>der</strong> Armee trafen in den Stäben fabrizierte Telegramme, Denkschriften und<br />
Resolutionen gleichen Charakters ein. Die liberale Presse eröffnete eine Kampagne »für<br />
die Einheitsregierung«, die in den weiteren Monaten den Charakter eines Trommelfeuers<br />
gegen die Sowjetführer annahm. Alles zusammen sah äußerst imposant aus. Die große<br />
Anzahl <strong>der</strong> Organisationen, bekannte Namen, Resolutionen, Artikel, <strong>der</strong> entschiedene<br />
Ton, all das wirkte unfehlbar auf die empfänglichen Lenker des Exekutivkomitees.<br />
Nichtsdestoweniger stand hinter <strong>der</strong> dräuenden Parade <strong>der</strong> besitzenden Klassen keine<br />
ernsthafte Macht. »Und die Macht des Besitzes?« erwi<strong>der</strong>ten den Bolschewiki die kleinbürgerlichen<br />
<strong>Sozialisten</strong>. Besitz ist das Verhältnis zwischen Menschen. Er stellt eine<br />
riesige Macht dar, solange er allgemeine Anerkennung findet, die durch das Zwangssystem,<br />
das sich Recht und Staat nennt, aufrechterhalten wird. Aber darin bestand ja das<br />
Wesen <strong>der</strong> Lage, daß <strong>der</strong> alte Staat jäh zusammengebrochen und von den Massen hinter<br />
das gesamte alte Recht ein Fragezeichen gestellt war. In den Fabriken betrachteten sich<br />
die Arbeiter immer mehr als die Herren, den Herrn aber als den ungebetenen Gast. Noch<br />
weniger sicher fühlten sich die Gutsbesitzer auf dem Lande, von Angesicht zu Angesicht<br />
mit den finsteren, haßerfüllten Bauern, fern von <strong>der</strong> Macht, an <strong>der</strong>en Existenz die<br />
Gutsbesitzer, <strong>der</strong> weiten Entfernung halber, anfangs noch glaubten. Aber die<br />
Besitzenden, <strong>der</strong> Möglichkeit beraubt, über ihren Besitz zu verfügen und sogar, ihn zu<br />
schützen, hörten auf, wahre Besitzer zu sein, und wurden stark erschrockene<br />
Spießbürger, die ihrer Regierung keine Hilfe leisten konnten, denn sie selbst bedurften<br />
ihrer am meisten. Gar bald begannen sie, die Regierung ihrer Schwäche wegen zu verfluchen.<br />
Doch in <strong>der</strong> Gestalt <strong>der</strong> Regierung verfluchten sie nur ihr eigenes Schicksal.<br />
Indes machten sich Exekutivkomitee und Ministerium in gemeinsamer Tätigkeit<br />
gleichsam zur Aufgabe, nachzuweisen, daß während einer <strong>Revolution</strong> die Kunst des<br />
Regierens in wortreichem Zeitvergeuden besteht. Bei den Liberalen war es Sache bewußter<br />
Berechnung. Ihrer festen Überzeugung nach verlangten alle Fragen eine Vertagung,<br />
außer <strong>der</strong> einen: Ablegung des Treueeids für die Entente.<br />
Miljukow machte seine Kollegen mit den Geheiniverträgen bekannt. Kerenski<br />
überhörte sie. Es scheint, nur <strong>der</strong> Oberprokureur des Heiligen Synods, <strong>der</strong> an Überraschungen<br />
reiche Lwow, des Premiers Namensvetter, aber nicht Fürst, empörte sich<br />
stürmisch und bezeichnete die Verträge sogar als »räuberisch und schwindelhaft«, womit<br />
er sicherlich bei Miljukow ein nachsichtiges Lächeln (»<strong>der</strong> Spießer ist dumm«) und den<br />
Antrag hervorgerufen haben mag, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Die offizielle<br />
Regierungsdeklaration versprach die Einberufüng <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung in<br />
kürzester Frist, die aber absichtlich nicht festgesetzt wurde. Von <strong>der</strong> Staatsform war<br />
keine Rede: die Regierung hoffte noch, das verlorene Paradies <strong>der</strong> Monarchie wie<strong>der</strong>herstellen<br />
zu können. Doch bestand <strong>der</strong> wirkliche Sinn <strong>der</strong> Deklaration in <strong>der</strong> Verpflichtung,<br />
den Krieg bis zum siegreichen Ende zu führen und »unentwegt die mit den Alliierten<br />
geschlossenen Vereinbarungen zu erfüllen«. Hinsichtlich des bedrohlichsten Preblenis im<br />
Dasein des Volkes hatte sich die <strong>Revolution</strong> scheinbar nur vollzogen, um zu erklären:<br />
alles bleibt beim alten.<br />
Am 8. kam endlich aus dem Ministerlaboratonum das Dekret über die Amnestie<br />
heraus. Zu dieser Zeit waren bereits die Türen <strong>der</strong> Gefängnisse im ganzen Lande vom<br />
Volk geöffnet worden, politische Verbannte kehrten zurück im dichten Strom von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 135
Versammlungen, Enthusiasmus, Militärmusik, Reden und Blumen. Das Amnestiedekret<br />
klang wie ein verspätetes Echo <strong>der</strong> Kanzleien. Am 12. wurde die Abschaffung <strong>der</strong><br />
Todesstrafe proklamiert. Vier Monate später die Todesstrafe für Soldaten wie<strong>der</strong> eingeführt.<br />
Kerenski hatte versprochen, die Rechtspflege auf eine nie dagewesene Höhe zu<br />
heben. In <strong>der</strong> Hitze des Gefechts hatte er tatsächlich den Antrag zur Annahme gebracht,<br />
<strong>der</strong> Vertreter von Arbeitern und Soldaten als Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Friedensgerichte ein-führte.<br />
Das war die einzige Maßnahme, in <strong>der</strong> man den Pulsschlag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> verspürte und<br />
die darum bei allen Eunuchen <strong>der</strong> Justiz Entsetzen hervorrief. Damit aber endete die<br />
Sache. Der unter Kerenski einen hohen Ministerposten innehabende Advokat Demjanow,<br />
ebenfalls "Sozialist", beschloß, nach seinen eigenen Worten, sich an das Prinzip zu<br />
halten, alle alten Beamten auf ihren Plätzen zu belassen: »Die Politik <strong>der</strong> revolutionären<br />
Regierung darf niemanden ohne Notwendigkeit kränken.« Das war im wesentlichen die<br />
Regel <strong>der</strong> gesamten Provisorischen Regierung, die am meisten Angst hatte, jemand aus<br />
<strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> herrschenden Klassen zu kränken, sogar die zaristische Bürokratie. Nicht<br />
nur die Richter, son<strong>der</strong>n auch die Staatsanwälte des Zarismus blieben auf ihren Posten.<br />
Gewiß, die Massen konnten sich deswegen gekränkt fühlen. Das aber ging die Sowjets<br />
an: die Massen blieben außerhalb des Gesichtsfeldes <strong>der</strong> Regierung.<br />
Etwas wie einen frischen Strahl brachte nur <strong>der</strong> bereits erwähnte temperamentvolle<br />
Oberprokureur Lwow hinein, <strong>der</strong> offiziell über die »Idioten und Schufte«, die im Heiligen<br />
Synod saßen, berichtete. Nicht ohne Besorgnis tauschten die Minister diesen saftigen<br />
Charakteristiken, <strong>der</strong> Synod aber blieb als Staatsinstitution und die Orthodoxie als Staatsreligion<br />
weiter bestehen. Sogar die Zusammensetzung des Synods blieb erhalten: die<br />
<strong>Revolution</strong> darf es sich mit keinem ver<strong>der</strong>ben.<br />
Die Mitglie<strong>der</strong> des Staatsrates, treue Diener zweier o<strong>der</strong> dreier Kaiser, fuhren fort zu<br />
tagen, zumindest ihr Gehalt zu beziehen. Diese Tatsache gewann bald symbolische<br />
Bedeutung. In den Fabriken und Kasernen protestierte man laut. Das Exekutivkomitee<br />
war erregt. Die Regierung verwendete zwei Tage auf die Beratung über Schicksal und<br />
Gehalt <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Staatsrates und konnte zu keinem Entschluß kommen. Wie<br />
sollte man auch ehrwürdige Männer beunruhigen, unter denen zudem nicht wenige gute<br />
Bekannte waren?<br />
Die Rasputinschen Minister saßen noch in <strong>der</strong> Festung, aber die Provisorische Regierung<br />
beeilte sich bereits, den ehemaligen Ministern eine Pension auszusetzen. Das klang<br />
wie eine Verhöhnung o<strong>der</strong> wie eine Stimme aus dem Jenseits. Die Regierung jedoch<br />
wollte sich's mit ihren Vorgängern nicht ver<strong>der</strong>ben, wenn man diese auch ins Gefängnis<br />
gesetzt hatte.<br />
Die Senatoren schlummerten weiter in ihren betreßten Uniformen, und als <strong>der</strong> von<br />
Kerenski neu ernannte linke Senator Sokolow es wagte, im schwarzen Gehrock zu<br />
erscheinen, wurde er einfach aus <strong>der</strong> Sitzung entfernt: die zaristischen Senatoren fürchteten<br />
sich vor einem Streit mit <strong>der</strong> Februarrevolution nicht, nachdem sie sich überzeugt<br />
hatten, daß <strong>der</strong>en Regierung zahnlos war.<br />
Die Ursache für den Zusammenbruch <strong>der</strong> Märzrevolution in Deutschland erblickte<br />
einst Marx darin, daß sie »nur die politische Spitze reformierte, während sie alle Schichten<br />
unterhalb dieser Spitze unangetastet ließ - die alte Bürokratie, die alte Armee, die<br />
alten, im Dienste des Absolutismus geborenen, erzogenen und ergrauten Richter«. Die<br />
<strong>Sozialisten</strong> vom Typ Kerenskis suchten Rettung darin, worin Marx die Ursache des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 136
Unterganges sah. Die menschewistischen Marxisten gingen mit Kerenski, nicht mit<br />
Marx.<br />
Das einzige Gebiet, auf dem die Regierung Initiative und revolutionäres Tempo an den<br />
Tag legte, war die Gesetzgebung für Aktiengesellschaften: ein Reformdekret wurde<br />
bereits am 17. März erlassen. Nationale Beschränkungen wie die des Glaubens wurden<br />
erst drei Tage später abgeschafft. In <strong>der</strong> Regierung gab es nicht wenige Personen, die<br />
unter dem alten Regime an nichts weiter als an den Mängeln des Aktienwesens gelitten<br />
hatten.<br />
Die Arbeiter for<strong>der</strong>ten ungeduldig den Achtstundentag. Die Regierung stellte sich taub<br />
auf beiden Ohren. Jetzt sei doch Krieg, alle müßten sich für das Wohl des Vaterlandes<br />
aufopfern. Überdies sei es Sache des Sowjets: möge er die Arbeiter beruhigen.<br />
Noch bedrohlicher stand die Bodcnbesitzfrage. Hier mußte unbedingt etwas geschehen.<br />
Von den Propheten angetrieben, verfügte <strong>der</strong> Ackerbauminister Schingarew dic Schaffung<br />
von lokalen Landkomitees, vorsichtigerweise ohne <strong>der</strong>en Funktionen und Aufgaben<br />
zu bestimmen. Die Bauern bildeten sich ein, die Komitees müßten ihnen Land geben. Die<br />
Gutsbesitzer waren <strong>der</strong> Ansicht, die Komitees hätten den Besitz zu schützen. So zog sich<br />
um den Hals des Februarregimes von Anfang an die bäuerliche Schlinge zusammen,<br />
unerbittlicher als alle an<strong>der</strong>en.<br />
Der offiziellen Doktrin gemäß wurden alle Fragen, die die <strong>Revolution</strong> aufgeworfen<br />
hatte, bis zur Konstituierenden Versammlung vertagt. Konnten denn die untadeligen<br />
konstitutionellen Demokraten dem Volkswillen vorgreifen, nachdem es ihnen - ach!<br />
-nicht gelungen war, Michail Romanow rittlings auf diesen Willen zu setzen? Die Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> zukünftigen Nationalvertretung wurde indes mit so bürokratischer Solidität<br />
und berechneter Saumseligkeit getroffen, daß die Konstituierende Versammlung sich in<br />
ein Trugbild verwandelte. Erst am 25. März, fast einen Monat nach dem Umsturz - ein<br />
Monat <strong>Revolution</strong>! -, ordnete die Regierung zur Ausarbeitung eines Wahlgesetzes die<br />
Bildung eines schwerfälligen Beson<strong>der</strong>en Ausschusses an. Doch trat dieser nicht in<br />
Funktion. In seiner durch und durch unwahren "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>" teilt Miljukow<br />
verlegen mit, daß infolge verschiedener Verzögerungen »<strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>e Ausschuß<br />
unter <strong>der</strong> ersten Regierung seine Arbeit nicht begonnen hat«. Die Verschleppungen<br />
gehörten zur Konstitution des Ausschusses und zu seinen Pflichten. Die Aufgabe bestand<br />
darin, die Konstituierende Versammlung auf bessere Zeiten zu verzögern: bis zum Siege,<br />
zum Frieden o<strong>der</strong> zum Kornilowschen Kalen<strong>der</strong>.<br />
Die russische Bourgeoisie, die zu spät zur Welt gekommen war, haßte die <strong>Revolution</strong><br />
tödlich. Ihrem Haß fehlte jedoch die Kraft. Es hieß abwarten und manövrieren. Da sie die<br />
Möglichkeit nicht besaß, die <strong>Revolution</strong> nie<strong>der</strong>zuwerfen und zu ersticken, hoffte die<br />
Bourgeoisie darauf, sie zu ermatten.<br />
Doppelherrschaft<br />
Worin besteht das Wesen <strong>der</strong> Doppelherrschaft? Man darf an dieser Frage nicht<br />
vorbeigehen, <strong>der</strong>en Beleuchtung wir in <strong>der</strong> historischen Literatur bisher nicht begegnet<br />
sind. Indes ist die Doppelherrschaft ein eigenartiger Zustand <strong>der</strong> gesellschaftlichen Krise,<br />
<strong>der</strong> durchaus nicht nur für die russische <strong>Revolution</strong> von 1917 allein charakteristisch ist,<br />
wenn er auch hier am deutlichsten beobachtet werden konnte.<br />
Antagonistische Klassen existierten in <strong>der</strong> Gesellschaft stets, und die von <strong>der</strong> Macht<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 137
ausgeschlossene Klasse ist unvermeidlich bestrebt, den Staatskurs in diesem o<strong>der</strong> jenem<br />
Grade in ihre Richtung zu lenken. Das bedeutet jedoch noch keinesfalls, daß in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft eine Doppel- o<strong>der</strong> Vielherrschaft besteht. Der Charakter eines politischen<br />
Regimes wird unmittelbar bestimmt von dem Verhältnis <strong>der</strong> unterdrückten Klassen zu<br />
den herrschenden. Die Einzelherrschaft, die notwendige Bedingung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />
eines jeden Regimes, kann nur so lange bestehen, wie es <strong>der</strong> herrschenden Klasse<br />
gelingt, ihre ökonomischen und politischen Formen als die einzig möglichen <strong>der</strong> ganzen<br />
Gesellschaft aufzuzwingen.<br />
Die gleichzeitige Herrschaft des Junkertums und <strong>der</strong> Bourgeoisie - in <strong>der</strong> hohenzollernschen<br />
o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> republikanischen Form - ist, so stark zeitweilig die Konflikte zwischen<br />
den beiden Partnern <strong>der</strong> Macht auch sein mögen, noch keine Doppelherrschaft: sie haben<br />
eine gemeinsame soziale Basis, ihre Zusammenstöße drohen nicht den Staatsapparat zu<br />
spalten. Das Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft entsteht nur aus dem unversöhnlichen Zusammenprall<br />
<strong>der</strong> Klassen, ist demzufolge nur in einer revolutionären Epoche möglich und<br />
bildet eines ihrer wesentlichen Elemente.<br />
Die politische Mechanik <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht in dem Übergang <strong>der</strong> Macht von <strong>der</strong><br />
einen Klasse zur an<strong>der</strong>en. Die gewaltsame Umwälzung an sich kommt gewöhnlich innerhalb<br />
einer kurzen Frist zustande. Aber keine historische Klasse erhebt sich aus <strong>der</strong> unterdrückten<br />
Lage zur herrschenden mit einem Male, sozusagen über Nacht, mag es auch die<br />
Nacht einer <strong>Revolution</strong> sein. Sie muß schon am Vorabend in bezug auf die offiziell<br />
herrschende Klasse eine höchst unabhängige Stellung eingenommen haben; mehr noch,<br />
sie muß die Hoffnungen <strong>der</strong> Zwischenklassen und -schichten, <strong>der</strong> mit dem Bestehenden<br />
Unzufriedenen, aber für eine selbständige Rolle Unfähigen, auf sich konzentriert haben.<br />
Die historische Vorbereitung einer Umwälzung führt in <strong>der</strong> vorrevolutionären Periode zu<br />
einer Situation, in <strong>der</strong> die Klasse, die das neue Gesellschaftssystem zu verwirklichen<br />
berufen ist, ohne bereits Herr im Lande zu sein, faktisch einen bedeutenden Teil <strong>der</strong><br />
Staatsmacht in Händen hält, während <strong>der</strong> offizielle Staatsapparat noch im Besitz <strong>der</strong> alten<br />
Machthaber verbleibt. Dieses ist <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Doppelherrschaft in einer jeden<br />
<strong>Revolution</strong>.<br />
Doch das ist nicht ihre einzige Form. Falls die neue Klasse, die durch die <strong>Revolution</strong>,<br />
die sie nicht gewollt, an die Macht gestellt wird, eine alte, historisch verspätete Klasse<br />
ist; falls sie sich etwa vor ihrer offiziellen Krönung verbraucht hat; falls sie, zur Macht<br />
gekommen, ihren Wi<strong>der</strong>partner bereits hinreichend reif, den Arm nach dem Staatssteuer<br />
ausgestreckt, vorfindet, - dann führt die politische Umwälzung zum Ersatz <strong>der</strong> einen<br />
Doppelherrschaft mit sehr schwankendem Gleichgewicht durch eine an<strong>der</strong>e, mitunter<br />
noch weniger wi<strong>der</strong>standsfähige. Im Siege über die "Anarchie" <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />
besteht eben auf je<strong>der</strong> neuen Etappe die Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> o<strong>der</strong> - <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />
Die Doppelherrschaft setzt die Teilung <strong>der</strong> Macht in gleiche Hälften o<strong>der</strong> überhaupt<br />
irgendein formales Gleichgewicht <strong>der</strong> beiden Mächte nicht nur nicht voraus, son<strong>der</strong>n<br />
schließt sie, allgemein gesprochen, völlig aus. Das ist keine konstitutionelle, son<strong>der</strong>n eine<br />
revolutionäre Tatsache. Sie beweist, daß die Störung des sozialen Gleichgewichts den<br />
Staatsüberbau bereits gespalten hat. Eine Doppelherrschaft entsteht dort, wo feindliche<br />
Klassen sich bereits ihrem Wesen nach miteinan<strong>der</strong> nicht zu vereinbarende staatliche<br />
Organisationen stützen - eine im Ableben und eine im Entstehen begriffene -, die auf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 138
dem Gebiet <strong>der</strong> Staatsleitung einan<strong>der</strong> auf jedem Schritt bedrängen. Der Teil <strong>der</strong> Macht,<br />
<strong>der</strong> hierbei e<strong>der</strong> <strong>der</strong> kämpfrnden Klassen zufällt, wird vom Kräfteverhälmis und dem<br />
Gang des Kampfes bestimmt.<br />
Ein solcher Zustand kann seinem ganzen Wesen nach nicht beständig sein. Die Gesellschaft<br />
verlangt Konzentration <strong>der</strong> Macht und strebt in Gestalt <strong>der</strong> herrschenden Klasse,<br />
o<strong>der</strong> in diesem Falle. <strong>der</strong> zwei halbherrschenden Klassen, unversöhnlich dahin. Die<br />
Spaltung <strong>der</strong> Macht kündet nichts an<strong>der</strong>es an als den Bürgerkrieg. Jedoch bevor sich die<br />
rivalisierenden Klassen und Parteien zu diesem entschließen, können sie, beson<strong>der</strong>s<br />
wenn sie die Einmischung einer dritten Macht fürchten, gezwungen sein, das System <strong>der</strong><br />
Doppelherrschaft ziemlich lange zu dulden und sogar gewissermaßen zu sanktionieren.<br />
Aber doch wird es unvermeidlich gesprengt werden. Der Bürgerkrieg verleiht <strong>der</strong><br />
Doppelherrschaft einen augenfälligen, und zwar einen territorialen Ausdruck: indem sich<br />
jede Macht einen befestigten Punkt schafft, führt sie den Kampf um das übrige Territorium,<br />
das nicht selten eine Doppelherrschaft in Form des aufeinan<strong>der</strong>folgenden Einfalls<br />
<strong>der</strong> beiden kriegführenden Mächte erduldet, bis eine von ihnen sich endgriltig festsetzt.<br />
Die englische <strong>Revolution</strong> des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts zeigt, gerade weil sie eine große<br />
<strong>Revolution</strong> war, die die Nation bis in die Tiefen aufwühlte, ein deutliches Abwechseln<br />
von Doppelherrschaftregimes, mit scharfen Übergängen von dem einen zum an<strong>der</strong>en, in<br />
Form des Bürgerkrieges.<br />
Zuerst stehen <strong>der</strong> Königsmacht, die sich auf die privilegierten Klassen o<strong>der</strong> die<br />
Oberschichten dieser Klassen, Aristokraten und Bischöfe, stützt, Bourgeoisie und dieser<br />
nahestehende Schichten des kleinen Landadels gegenüber. Die Regierung <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
ist das Presbyterianer-Parlament, das sich auf die Londoner City stützt. Der andauernde<br />
Kampf dieser zwei Regimes wird im offenen Bürgerkrieg entschieden. Zwei<br />
Regierungszentren, London und Oxford, schaffen sich ihre Armeen, die Doppelherrschaft<br />
nimmt eine territoriale Form an, wenn auch die territorialen Abgrenzungen, wie<br />
stets im Bürgerkriege, sehr schwankend sind. Das Parlament obsiegt. Der König ist<br />
gefangen und harrt seines Geschicks.<br />
Es könnte scheinen, die Bedingungen für die Einzelherrschaft <strong>der</strong> presbyterianischen<br />
Bourgeoisie seien im Entstehen. Aber bevor noch die Königsmacht gebrochen ist,<br />
verwandelt sich die Armee des Parlaments in eine selbständige politische Kraft. Sie<br />
vereinigt in ihren Reihen die Independenten, fromme und entschlossene Kleinbürger,<br />
Handwerker und Ackerbauer. Die Armee mischt sich machtvoll in das öffentliche Lehen<br />
ein, aber nicht einfach als bewaffnete Gewalt, auch nicht als Prätorianergarde, son<strong>der</strong>n<br />
als politische Vertretung einer neuen Klasse, die sich <strong>der</strong> reichen und wohlhabenden<br />
Bourgeoisie entgegenstellt Dementsprechend schafft die Armee ein neues Staatsorgan,<br />
das sich über das militärische Kommando erhebt: den Rat <strong>der</strong> Soldaten und Offizersdeputierten<br />
("Agitatoren"). Es beginnt eine neue Periode <strong>der</strong> Doppelherrschaft: die des<br />
presbyterianischen Parlaments und <strong>der</strong> lndependenten-Armee. Die Doppelherrschaft<br />
führt zum offenen Zusammenstoß. Die Bourgeoisie erweist sich als ohnmächtig, <strong>der</strong><br />
"mustergültigen Armee" Cromwells, das heißt den bewaffneten Plebejern, eine eigene<br />
Armee entgegenzustellen; Der Konflikt endet mit einer Säuberung des presbyterianischen<br />
Parlaments mit Hilfe des Independentensäbels. Vom Parlament bleibt nur Spreu, es<br />
wird die Diktatur Cromwells errichtet. Die unteren Schichten <strong>der</strong> Armee versuchen unter<br />
Leitung <strong>der</strong> Leveller, des äußersten linken Flügels <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 139
militärischen Spitzen, <strong>der</strong> Granden <strong>der</strong> Armee ihr eigenes, wahrhaft plebejisches Regime<br />
entgegenzustellen. Doch die neue Doppelhemehaft kommt nicht zur Entwicklung: die<br />
Levellers, die untere Schicht <strong>der</strong> Kleinbürger, haben noch keinen eigenen historischen<br />
Weg und kömien ihn auch noch nicht haben. Cromwell wird mit den Gegnern bald fertig.<br />
Es entsteht für eine Reihe von Jahren ein neues, allerdings keinesfalls wi<strong>der</strong>standsfähiges<br />
politisches Gleichgewicht.<br />
In <strong>der</strong> großen Französischen <strong>Revolution</strong> konzentriert die Konstituierende Versammlung,<br />
<strong>der</strong>en Rückgrat die oberste Schicht des dritten Standes ist, die Macht in ihren<br />
Händen, jedoch ohne dem König seine Vorrechte völlig zu nehmen. Die Periode <strong>der</strong><br />
Konstituierenden Versammlung ist die Periode scharfer Doppelherrschaft, die mit <strong>der</strong><br />
Flucht des Königs nach Varennes endet und formell erst mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> Republik<br />
liquidiert wird.<br />
Die erste französische Konstitution (1791), aufgebaut auf <strong>der</strong> Fiktion <strong>der</strong> voneinan<strong>der</strong><br />
völlig unabhängigen gesetzgebenden und ausführenden Gewalt, verschleierte in<br />
Wirklichkeit, o<strong>der</strong> suchte vor dem Volke zu verschleiern, die tatsächliche Doppelherrschaft:<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie, die sich nach <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Bastille durch das Volk endgültig<br />
in <strong>der</strong> Nationalversammlung verschanzt hatte, und <strong>der</strong> alten Monarchie, die sich noch<br />
auf die Spitzen des Adels, des Klerus, <strong>der</strong> Bürokratie und <strong>der</strong> Militärs stützte, nicht zu<br />
reden von ihren Hoffnungen auf eine ausländische Intervention. In diesem wi<strong>der</strong>spruchsvollen<br />
Regime lag die Unvermeidlichkeit seines Zusammenbruchs. Ein Ausweg konnte<br />
nur gefunden werden entwe<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> bürgerlichen Vertretung mit den<br />
Kräften <strong>der</strong> europäischen Reaktion o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Guillotine für den König und die Monarchie.<br />
Paris und Koblenz mußten ihre Kräfte messen.<br />
Aber noch bevor es zu Krieg und Guillotine kommt, tritt auf die Bühne die Pariser<br />
Kommune, die sich auf die unteren Schichten des dritten Standes <strong>der</strong> Stadt stützt und den<br />
offiziellen Vertretern <strong>der</strong> bürgerlichen Nation die Herrschaft immer kühner streitig<br />
macht. Es entsteht eine neue Doppelberrschaft, <strong>der</strong>en erste Äußerungen wir bereits im<br />
Jahre 1790 wahrnehmen, zu einer Zeit, wo die Mittel- und Großbourgeoisie noch in<br />
Administrationen und Munizipalitäten festsitzt. Welch erstaunliches - und gleichzeitig<br />
niedrig verleumdetes! - Bild <strong>der</strong> Bemühungen <strong>der</strong> plebejischen Schichten, aus <strong>der</strong> Tiefe<br />
emporzusteigen, aus den sozialen Kellern und Katakomben, und jene verbotene Arena zu<br />
betreten, wo Menschen in Perücken und Culotten die Schicksale <strong>der</strong> Nation entscheiden.<br />
Es schien, als sei das Fundament selbst, getreten von den Füßen <strong>der</strong> aufgeklärten<br />
Bourgeoisie, lebendig geworden und in Bewegung geraten; aus <strong>der</strong> formlosen Masse<br />
erhoben sich menschliche Häupter, streckten sich schwielige Hände in die Höhe, heisere,<br />
aber mutige Stimmen wurden vernehmbar! Die Pariser Distrikte, die Bastarde <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>, begannen ihr eigenes Leben zu leben. Sie wurden anerkannt - sie nicht<br />
anzuerkennen war unmöglich! - und in Sektionen umgewandelt. Aber unentwegt rissen<br />
sie die Schranken <strong>der</strong> Legalität nie<strong>der</strong>, erhielten Zustrom frischen Blutes von unten und<br />
öffneten, dem Gesetz zuwi<strong>der</strong>, den Entrechteten, Armen, den Sansculotten Zutritt in ihre<br />
Reihen. Gleichzeitig bieten die Landmunizipalitäten dem bäuerlichen Aufstand Deckung<br />
gegen die bürgerliche Gesetzlichkeit; die den Feudalbesitz begönnert. So erhebt sich<br />
unter den Füßen <strong>der</strong> zweiten Nation die dritte.<br />
Die Pariser Sektionen verhielten sich anfangs <strong>der</strong> Kommune gegenüber, in <strong>der</strong> noch<br />
die ehrenwerte Bourgeoisie herrschte, oppositionell. Durch einen kühnen Vorstoß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 140
eroberten die Sektionen sie am 10. August 1792. Von nun an bildete die revolutionäre<br />
Kommune einen Gegensatz zur Gesetzgebenden Versammlung und später zum Konvent,<br />
die beide hinter dem Gang und den Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zurückblieben, die die<br />
Ereignisse registrierten, aber nicht machten, weil sie nicht die Energie, die Kühnheit, die<br />
Einmütigkeit jener neuen Klasse besaßen, die inzwischen aus den Tiefen <strong>der</strong> Pariser<br />
Distrikte aufgestiegen war und einen Stützpunkt in den zurückgebhebensten Dörfern<br />
gefunden hatte. In gleicher Weise, wie die Sektionen die Kommune eroberten, eroberte<br />
die Kommune durch einen neuen Aufstand den Konvent. Jede dieser Etappen war von<br />
<strong>der</strong> scharf umrissenen Doppelhertschaft charakterisiert, <strong>der</strong>en beide Flügel bestrebt<br />
waren, eine einheitliche und starke Macht aufzurichten, <strong>der</strong> rechte Flügel auf dem Wege<br />
<strong>der</strong> Verteidigung, <strong>der</strong> linke auf dem des Angriffes. Das sowohl die <strong>Revolution</strong> wie die<br />
Konterrevolution kennzeichnende Bedürfnis nach einer Diktatur entspringt den unerträglichen<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Ihr Übergang von einer Form zur an<strong>der</strong>en<br />
wird auf dem Wege des Bürgerkrieges vollzogen. Große <strong>Revolution</strong>setappen, das heißt<br />
Verschiebungen <strong>der</strong> Macht an neue Klassen o<strong>der</strong> Schichten, fallen dabei ganz und gar<br />
nicht zusammen mit den Zyklen <strong>der</strong> Vertretungskörperschaften, die hinter <strong>der</strong> Dynamik<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> einherschreiten als verspätete Schatten. Zwar verschmilzt schließlich die<br />
revolutionäre Diktatur <strong>der</strong> Sansculotten mit <strong>der</strong> Diktatur des Konvents - aber welches? -,<br />
des durch die Hand des Terrors von den Girondisten, die noch gestern ihn beherrschten,<br />
gesäuberten, beschnittenen, <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> neuen sozialen Kraft angepaßten<br />
Konvents. So erhebt sich über die Stufen <strong>der</strong> Doppelherrschaft im Laufe von vier Jahren<br />
die Französische <strong>Revolution</strong> zu ihrem Höhepunkt. Mit dem 9. Thermidor beginnt sie<br />
wie<strong>der</strong>um über die Stufen <strong>der</strong> Doppelherrschaft hinabzusteigen. Und wie<strong>der</strong> geht <strong>der</strong><br />
Bürgerkrieg dem Abstieg voran, wie er früner den Aufstieg begleitete. So sucht die neue<br />
Gesellschaft ein neues Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte.<br />
Die russische Bourgeoisie, die gegen die Rasputinsche Bürokrade kämpfte und gleichzeitig<br />
mit ihr zusammenarbeitete, hatte im Kriege ihre politischen Positionen sehr stark<br />
gefestigt. Indem sie die Nie<strong>der</strong>lagen des Zarismus ausbeutete, konzentrierte sie mittels<br />
<strong>der</strong> Semstwo- und Stadtverbände und <strong>der</strong> Kriegsindustriekomitees eine bedeutende<br />
Macht in ihren Händen, verfügte selbständig über gewaltige Staatsmittel und stellte im<br />
Grunde genommen eine Parallelregierung dar. Während des Krieges beklagten sich die<br />
zaristischen Minister, Fürst Lwow versorge die Armee, ernähre und heile sie und errichte<br />
sogar Friseurgeschäfte für Soldaten. »Man muß damit Schluß machen o<strong>der</strong> aber die<br />
ganze Macht in seine Hände geben«, sagte schon 1915 Minister Kriwoschejin. Er hat<br />
damals noch nicht geahnt, daß Fürst Lwow nach an<strong>der</strong>thalb Jahren tatsächlich »die ganze<br />
Macht« bekommen würde, nur nicht aus den Händen des Zaren, son<strong>der</strong>n aus denen<br />
Kereuskis, Tschcheidses und Suchanows. Doch am Tage nachdem dies geschehen war,<br />
entstand eine neue Doppelherrschaft: neben <strong>der</strong> gestrigen liberalen Halbregierung, heute<br />
formell gesetzlichen, erwuchs die inoffizielle, aber um so realere Regierung <strong>der</strong> werktätigen<br />
Massen in Gestalt <strong>der</strong> Sowjets. Mit diesem Augenblick beginnt die Russische<br />
<strong>Revolution</strong> ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung zu werden.<br />
Worin besteht nun die Eigenart <strong>der</strong> Doppelherrschaft <strong>der</strong> Februarrevolution? Bei den<br />
Ereignissen des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bildete die Doppelherrschaft jedesmal eine<br />
natürliche Kampfetappe, die sich den Beteiligten durch das zeitliche Kräfteverhältnis<br />
aufdrängte, wobei jede <strong>der</strong> Parteien bestrebt war, die Doppelherrschaft durch die eigene<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 141
Einzelherrschaft zu ersetzen. In <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1917 sehen wir, wie die offizielle<br />
Demokratie die Doppelherrschaft bewußt und vorbedacht schafft und sich mit allen<br />
Kräften dagegen stemmt, die Macht allein zu übernehmen. Die Doppelherrschaft entsteht<br />
- so mag es auf den ersten Blick scheinen - nicht als Resultat des Kampfes <strong>der</strong> Klassen<br />
um die Macht, son<strong>der</strong>n als Resultat des freiwilligen "Abtretens" <strong>der</strong> Macht durch die eine<br />
Klasse an die an<strong>der</strong>e. Insofern die russische "Demokratie" einen Ausweg aus <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />
suchte, sah sie ihn im eigenen Rücktritt von <strong>der</strong> Macht. Ebendieses nannten<br />
wir das Paradoxon <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />
Eine gewisse Analogie kann man eventuell in dem Verhalten <strong>der</strong> deutschen Bourgeoisie<br />
in bezug auf die Monarchie im Jahre 1848 finden. Doch ist diese Analogie nicht<br />
vollständig. Die deutsche Bourgeoisie wollte zwar um jeden Preis auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
einer Verständigung die Macht mit <strong>der</strong> Monarchie teilen, doch war sie nicht restlos im<br />
Besitze <strong>der</strong> Macht und wollte sie auch keinesfalls völlig <strong>der</strong> Monarchie abtreten. »Die<br />
preußische Bourgeoisie war nomineller Besitzer <strong>der</strong> Herrschaft, sie zweifelte keinen<br />
Augenblick, daß die Mächte des alten Staates ohne Hinterhalt sich ihr zu Gebote gestellt<br />
und in ebenso viele devote Ableger ihrer eigenen Allmacht verwandelt hätten« (Marx<br />
und Engels). Die russische Demokratie von 1917, die seit dem ersten Augenblick des<br />
Umsturzes die ganze Macht innehatte, strebte nicht einfach danach, sie mit <strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />
zu teilen, son<strong>der</strong>n dieser den Staat vollständig auszuliefern. Das könnte wohl bedeuten,<br />
daß die offizielle russische Demokratie im ersten Viertel des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Zeit<br />
gehabt hatte, sich politisch stärker zu zersetzen als die deutsche liberale Bourgeoisie <strong>der</strong><br />
Mitte des 19. Es ist dies auch völlig gesetzmäßig, denn es bildet die Kehrseite jenes<br />
Aufstieges, den in diesen Jahrzehnten das Proletariat erlebte, das den Platz <strong>der</strong> Handwerker<br />
Cromwells und <strong>der</strong> Sansculotten Robespierres eingenommen hat.<br />
Betrachtet man aber die Sache tiefer, so zeigt die Doppelherrschaft <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung und des Exekutivkomitees den Charakter einer bjoßen Wi<strong>der</strong>spiegelung.<br />
Prätendent auf die neue Macht konnte nur das Proletariat sein. Zaghaft sich auf die<br />
Arbeiter und Soldaten stützend, waren die Versöhnler gezwungen, <strong>der</strong> doppelten<br />
Buchführung <strong>der</strong> Zaren und <strong>der</strong> Propheten Beihilfe zu leisten. Die Doppelherrschaft <strong>der</strong><br />
Liberalen und Demokraten spiegelte nur die vorläufig unterirdische Doppelherrschaft <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie und des Proletariats wi<strong>der</strong>. Wenn die Bolschewiki die Versöhnler von <strong>der</strong><br />
Spitze <strong>der</strong> Sowjets verdrängen werden - was nach einigen Monaten geschieht -, dann<br />
wird die unterirdische Doppelherrschaft nach außen dringen, und dies wird <strong>der</strong> Vorabend<br />
<strong>der</strong> Oktoberrevolution sein. Bis zu diesem Augenblick wird die <strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> Welt<br />
politischer Wi<strong>der</strong>spiegelungen leben. Sich durch die Kannegießerei <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Intelligenz brechend, verwandelte sich die Doppelherrschaft aus einer Etappe des<br />
Klassenkampfes in eine regulative Idee. Gerade das stellte sie ins Zentrum <strong>der</strong> theoretischen<br />
Diskussion. Nichts geht verloren. Der wi<strong>der</strong>spiegelnde Charakter <strong>der</strong> Februar-<br />
Doppelherrschaft erlaubte uns, jene Etappen <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> besser zu verstehen, in<br />
denen die Doppelherrschaft als vollblütige Episode im Kampfe zweier Regime<br />
hervortritt. So ermöglicht das reflektierte und kraftlose Licht des Mondes, wichtige<br />
Schlußfolgerungen über das Sonnenlicht zu machen.<br />
In <strong>der</strong> unermeßlich höheren Reife des <strong>russischen</strong> Proletariats bestand eben, verglichen<br />
mit den Stadtmassen <strong>der</strong> alten <strong>Revolution</strong>en, die grundlegende Eigenart <strong>der</strong> Russischen<br />
<strong>Revolution</strong>, die anfangs zum Paradoxon einer halb gespenstischen Doppelherrschaft<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 142
geführt und dann den Abschluß <strong>der</strong> realen Doppelherrschaft zugunsten <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
verhin<strong>der</strong>t hat. Denn die Frage stand so: entwe<strong>der</strong> erobert die Bourgeoisie tatsächlich den<br />
alten Staatsapparat und erneuert ihn für ihre eigenen Ziele, wobei die Sowjets verschwinden<br />
müssen, o<strong>der</strong> die Sowjets werden zur Grundlage eines neuen Staates, wobei sie nicht<br />
nur den alten Apparat, son<strong>der</strong>n auch die Herrschaft jener Klassen, denen er gedient,<br />
liquidieren. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre hielten den Kurs auf die erste<br />
Lösung. Die Bolschewiki auf die zweite. Die unterdrückten Klassen, denen es, nach<br />
Marats Worten, in <strong>der</strong> Vergangenheit an Wissen, Fertigkeit und Führung gefehlt hat, um<br />
das von ihnen begonnene Werk zu Ende zu bringen, waren in <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong><br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit dem einen, dem an<strong>der</strong>en und dem dritten ausgerüstet. Es siegten<br />
die Bolschewiki.<br />
Ein Jahr nach ihrem Siege wie<strong>der</strong>holte sich die gleiche Frage, bei einem an<strong>der</strong>en<br />
Kräfteverhältnis, in Deutschland. Die Sozialdemokratie hielt den Kurs auf Errichtung <strong>der</strong><br />
demokratischen Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie und Liquidierung <strong>der</strong> Sowjets. Luxemburg und<br />
Liebknecht nahmen den Weg auf die Diktatur <strong>der</strong> Sowjets. Es siegten die Sozialdemokraten.<br />
Hilferding und Kautsky m Deutschland, Max Adler in Österreich schlugen vor,<br />
Demokratie und Sowjetsystem zu »kombinieren« und die Arbeitersowjets in die Verfassung<br />
einzubeziehen. Das hätte bedeutet, den potentiellen o<strong>der</strong> offenen Bürgerkrieg in<br />
einen Bestandteil des Staatsregimes zu verwandeln. Eine kuriosere Utopie läßt sich nicht<br />
ausdenken. Zu ihrer einzigen Rechtfertigung dient in deutschen Landen vielleicht die alte<br />
Tradition: schon die Württemberger Demokraten von 1848 wollten eine Republik mit<br />
einem Herzog an <strong>der</strong> Spitze.<br />
Wi<strong>der</strong>spricht die Erscheinung <strong>der</strong> Doppelherrschaft, bisher nicht genügend bewertet,<br />
<strong>der</strong> Marxschen Staatstheorie, die die Regierung als das Exekutivkomitee <strong>der</strong> herrschenden<br />
Klasse ansieht? Das wäre dasselbe, als wollte man sagen: wi<strong>der</strong>spricht das Schwanken<br />
<strong>der</strong> Preise unter dem Einfluß von Nachfrage und Angebot <strong>der</strong> Werttheorie? Wi<strong>der</strong>legt<br />
die Selbstaufopferung des Weibchens, das sein Junges verteidigt, die Theorie vom<br />
Kampf ums Dasein? Nein, in diesen Erscheinungen finden wir nur eine komplizierte<br />
Kreuzung <strong>der</strong> gleichen Gesetze. Wenn <strong>der</strong> Staat die Organisation <strong>der</strong> Klassenherrschaft<br />
ist, die <strong>Revolution</strong> aber die Ablösung <strong>der</strong> herrschenden Klasse, so muß <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong><br />
Macht von <strong>der</strong> einen Klasse zur an<strong>der</strong>en notwendigerweise wi<strong>der</strong>spruchsvolle Staatszustände<br />
schaffen, vor allem in Form <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Das Verhältnis <strong>der</strong> Klassenkräfte<br />
ist keine mathematische Größe, die sich von vornherein berechnen läßt. Wenn das<br />
alte Regime aus dem Gleichgewicht geschleu<strong>der</strong>t ist, kann das neue Verhältnis <strong>der</strong> Kräfte<br />
sich nur als Resultat ihrer gegenseitigen Nachprüfung im Kampf ergeben. Das eben ist<br />
die <strong>Revolution</strong>.<br />
Es könnte scheinen, daß diese theoretische Exkursion uns von den Ereignissen des<br />
Jahres 1917 abgelenkt hat. In Wirklichkeit führt sie uns zu ihrem innersten Kern. Gerade<br />
um das Problem <strong>der</strong> Doppelherrschaft drehte sich <strong>der</strong> dramatische Kampf <strong>der</strong> Parteien<br />
und Klassen. Nur von <strong>der</strong> theoretischen Warte herab kann man sie ganz übersehen und<br />
richtig begreifen.<br />
Das Exekutivkomitee<br />
Was am 27. Februar jm Taurischen Palais unter dem Namen Exekutivkomitee des<br />
Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten entstanden war, hatte im wesentlichen wenig mit diesem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 143
Namen gemein. Der Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten von 1905, <strong>der</strong> Stammvater des<br />
Systems, war aus dem Generalstreik hervorgegangen. Er repräsentierte unmittelbar die<br />
Massen im Kampfe. Die Streikführer wurden Deputierte des Sowjets. Die Auswahl des<br />
Personenbestandes vollzog sich im Feuer. Das führende Organ wurde zur weiteren<br />
Leitung des Kampfes vom Sowjet gewählt. Gerade das Exekutivkomitee von 1905 war<br />
es gewesen, das den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung gestellt hatte.<br />
Die Februarrevolution siegte, dank dem Aufstand <strong>der</strong> Regimenter, bevor noch die<br />
Arbeiter Sowjets geschaffen hatten. Das Exekutivkomitee bildete sich eigenmächtig vor<br />
dem Sowjet, unabhängig von den Betrieben und Regimentern, nach dem Siege <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Wir sehen hier die klassische Initiative <strong>der</strong> Radikalen, die beim revolutionären<br />
Kampfe abseits stehen, aber bereit sind, seine Früchte zu ernten. Die wirklichen<br />
Arbeiterführer verließen die Straßen noch nicht, sie entwaffneten die einen, bewaffneten<br />
die an<strong>der</strong>en, befestigten den Sieg. Die Weiterblickenden unter ihnen waren durch die<br />
Nachrichten von <strong>der</strong> Entstehung irgendeines Sowjets <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten im Taurischen<br />
Palais sogleich beunruhigt. Wie die liberale Bourgeoisie in Erwartung <strong>der</strong> Palastrevolution,<br />
die irgendwer vollziehen sollte, im Herbst 1916 eine Reserveregierung vorbereitet<br />
hatte, um sie im Falle des Gelingens dem neuen Zaren aufzudrängen, so hatten<br />
auch die radikalen Intellektuellen im Augenblick des Februarsieges ihre Reserve-Unterregierung<br />
gebildet. Und da sie alle, wenigstens in <strong>der</strong> Vergangenheit, mit <strong>der</strong> Arbeiterbewegung<br />
in Verbindung gewesen und mit <strong>der</strong>en Traditionen sich zu decken geneigt<br />
waren, gaben sie ihrem Kinde den Namen Exekutivkomitee des Sowjets. Das war eine<br />
jener halb beabsichtigten Fälschungen, an denen die <strong>Geschichte</strong>, darunter auch die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Volksaufstände, reich ist. Bei einer revolutionären Wendung <strong>der</strong> Ereignisse<br />
und einem Riß in <strong>der</strong> Nachfolge greifen jene "gebildeten" Schichten, denen es<br />
bevorsteht, sich <strong>der</strong> Macht anzuschließen, willig zu Namen und Symbolen, die mit den<br />
heroischen Erinnerungen <strong>der</strong> Massen verbunden sind. Worte verschleiern oft das Wesen<br />
<strong>der</strong> Dinge, beson<strong>der</strong>s, wenn dies die Interessen einflußreicher Schichten erfor<strong>der</strong>n. Die<br />
riesige Autorität, des Exekutivkomitees stützte sich schon am Tage seiner Entstehung auf<br />
seine angebliche Nachfolge des Sowjets von 1905. Das von <strong>der</strong> ersten chaotischen<br />
Versammlung des Sowjets bestätigte Komitee übte dann entscheidenden Einfluß sowohl<br />
auf die Zusammensetzung des Sowjets wie auf dessen Politik aus. Dieser Einfluß war um<br />
so konservativer, als es eine natürliche Auslese revolutionärer Vertreter, die dureb die<br />
glüliende Atmosphäre des Kampies gewährleistet wird, nicht mehr gab. Der Aufstand lag<br />
bereits im Rücken, alle berauschten sich am Siege, machten Anstalten, sich auf neue<br />
Weise einzurichten, die Seelen waren weich, teils auch die Köpfe. Es waren Monate<br />
neuer Konflikte und Kämpfe nötig, unter neuen Bedingungen und <strong>der</strong> sich daraus<br />
ergebenden Menschenumschichtung, damit die Sowjets aus Organen, die den Sieg<br />
nachträglich gekrönt hatten, zu wahrhaften Organen des Kampfes und <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
eines neuen Aufstandes wurden. Wir heben diese Seite <strong>der</strong> Sache um so mehr hervor, als<br />
sie bis jetzt völlig im Schatten geblieben ist.<br />
Jedoch nicht nur die Entstehungsbedingungen des Exekutivkomitees und des Sowjets<br />
bestimmten <strong>der</strong>en gemäßigten und versöhnlerischen Charakter; es waren tiefere und<br />
nachhaltigere Ursachen vorhanden, die sich in gleicher Richtung auswirkten.<br />
Soldaten gab es in Petrograd über 150.000 Mann. Arbeiter und Arbeiterinnen aller<br />
Kategorien mindestens die vierfache Zahl. Und trotzdem kamen auf zwei Arbeiterdele-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 144
gierte im Sowjet fünf Soldatendelegierte. Die Normen <strong>der</strong> Vertretung hatten einen sehr<br />
dehnbaren Charakter, man kam den Soldaten auf jede Weise entgegen. Während die<br />
Arbeiter einen Vertreter auf tausend wählten, schickten kleinere Truppenteile häufig<br />
zwei. Das graue Soldatenbuch wurde <strong>der</strong> Grundton <strong>der</strong> Sowjets.<br />
Aber auch die Zivilisten waren lange nicht alle durch Arbeiter gewählt worden. Nicht<br />
wenige Menschen gerieten auf persönliche Einladung hin, durch Protektion o<strong>der</strong> einfach<br />
durch ihre Verschlagenheit in den Sowjet, radikale Advokaten und Ärzte, Studenten,<br />
Journalisten, die verschiedene problematische Gruppen und am häufigsten den eigenen<br />
Ehrgeiz vertraten. Diese offenbare Verfälschung des Charakters des Sowjets wurde von<br />
den Leitern gerne geduldet, die nicht abgeneigt waren, die allzu herbe Essenz <strong>der</strong> Fabriken<br />
und Kasernen mit dem lauwarmen Wässerchen des gebildeten Spießertums zu<br />
verdünnen. Viele dieser zufällig Daherkommenden, Abenteuersüchtigen, Usurpatoren<br />
und an die Tribüne gewöhnten Schwätzer verdrängten mit <strong>der</strong> Autorität ihrer Ellenbogen<br />
für lange die schweigsamen Arbeiter und die unentschlossenen Soldaten.<br />
Wenn sich die Sache schon in Petrograd so verhielt, kann man sich leicht vorstellen,<br />
wie es in <strong>der</strong> Provinz aussah, wo <strong>der</strong> Sieg ganz ohne Kampf gekommen war. Das ganze<br />
Land wimmelte von Soldaten. Die Garnisonen von Kiew, Helsingfors und Tiffis standen<br />
zahlenmäßig hinter Petrograd nicht zurück, in Saratow, Samara, Tambow, Omsk standen<br />
je 70.000 bis 80.000 Soldaten, in Jaroslaw, Jekaterinoslaw, Jekaterinburg je 60.000, in<br />
einer ganzen Reihe von Städten je 50.000, 40.000 und 30.000. Die Sowjetvertretung war<br />
in den verschiedenen Orten verschieden aufgebaut, wies aber überall den Soldaten eine<br />
privilegierte Stellung zu. Politisch wurde dies hervorgerufen durch das Bestreben <strong>der</strong><br />
Arbeiter selbst, den Soldaten so weit wie möglich entgegenzukommen. Ebenso gern<br />
erwiesen die Führer den Offizieren Entgegenkommen. Außer <strong>der</strong> bedeutenden Zahl <strong>der</strong><br />
Leumants und Fähntiche, die in <strong>der</strong> ersten Zeit von Soldaten gewählt wurden, bewilligte<br />
man häufig, vor allem in <strong>der</strong> Provinz, dem Kommandobestand beson<strong>der</strong>e Vertreter. Im<br />
Resultat hatte das Militär in vielen Sowjets die überwältigende Mehrheit. Die Soldatenmassen,<br />
die noch keine Zeit gehabt hatten, sich eine politische Physiognomle<br />
anzueignen, bestimmten durch ihre Vertreter die Physiognomle <strong>der</strong> Sowjets.<br />
Jede Vertretung verbirgt ein Element des Mißverständnisses in sich. Es ist beson<strong>der</strong>s<br />
groß am Tage nach einem Umsturz. Als Deputierte politisch unbeholfrner Soldaten<br />
figurierten in <strong>der</strong> ersten Zeit den Soldaten und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> völlig fremde Personen,<br />
allerhand Intellektuelle und Halbintellektuelle, die sich in den Hinterlandsgarnisonen<br />
versteckt hielten und deshalb als extreme Patrioten auftraten. So entstand das Auseinan<strong>der</strong>klaffen<br />
<strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Kaserne und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Sowjets. Der Offtzier Stankewitsch,<br />
dem die Soldaten seines Bataillons nach dem Umsturze finster und mißtrauisch begegneten,<br />
konnte in <strong>der</strong> Soldatensektion erfolgreich zum akuten Thema, über Disziplin,<br />
sprechen. »Warum sind die Stimmungen im Sowjet«, fragte er sich, »mil<strong>der</strong> und angenehmer<br />
als beim Bataillon?« Diese naive Ahnungslosigkeit beweist zum Überfluß, wie<br />
schwer es für die wahren Gefühle <strong>der</strong> unteren Schichten ist, sich einen Weg nach oben zu<br />
bahnen.<br />
Nichtsdestoweniger begannen die Meetings <strong>der</strong> Soldaten und Arbeiter schon seit dem<br />
3. März vom Sowjet zu for<strong>der</strong>n, unverzüglich die Provisorische Regierung <strong>der</strong> liberalen<br />
Bourgeoisie zu beseitigen und die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Die Initiative<br />
gehörte auch hier dem Wyborger Bezirk. Konnte es auch eine For<strong>der</strong>ung geben, die den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 145
Massen verständlicher und näher gewesen wäre? Aber diese Agitation brach bald ab:<br />
nicht nur deshalb, weil die Vaterlandsverteidiger sie scharf zurückwiesen; schlimmer<br />
war, daß die bolschewistische Führung in <strong>der</strong> ersten Märzhälfte sich faktisch vor dem<br />
Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft beugte. Außer den Bolschewiki aber konnte niemand die<br />
Machtfrage auf die Spitze treiben. Die Wyborger Führer mußten den Rückzug antreten.<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter schenkten indes <strong>der</strong> neuen Regierung nicht eine Stunde<br />
Vertrauen und betrachteten sie nicht als die ihre. Doch horchten sie wacham auf die<br />
Soldaten, bemüht, sich zu ihnen nicht zu schroff in Wi<strong>der</strong>spruch zu stellen. Die Soldaten<br />
dagegen, die eben die ersten Sätze <strong>der</strong> Politik silbenweise entzifferten, trauten zwar nach<br />
Bauernart den Herren nicht, horchten aber aufmerksam auf ihre Vertreter, die ihrerseits<br />
ehrerbietig auf die autoritativen Häupter des Exekutivkomitees horchten; was die letzteren<br />
betrifft, so taten sie nichts an<strong>der</strong>es, als auf den Puls <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie zu<br />
horchen. Auf diesem Horchen von unten nach oben hielt sich eben alles - bis auf<br />
weiteres.<br />
Doch die Stimmung <strong>der</strong> unteren Schichten brachen nach außen, und die künstlich<br />
abgesetzte Machtfrage drängte sich jedesmal vor, wenn auch in maskierter Form. »Die<br />
Soldaten wissen nicht, auf wen zu hören ist«, klagten Bezirke und Provinz, auf diese<br />
Weise die Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> Doppelherrschaft dem Exekutivkomitee bekanntgebend.<br />
Die Delegationen <strong>der</strong> Baltischen und <strong>der</strong> Schwarzmeer-Flotte erklärten am 16.<br />
März, sie seien bereit, <strong>der</strong> Provisorischen Regierung in dem Maße Rechnung zu tragen,<br />
in dem diese mit dem Exekutivkomitee zusammengehen werde. Mit an<strong>der</strong>en Worten, sie<br />
hatten vor, mit ihr überhaupt nicht zu rechnen. Je weiter, um so beharrlicher klingt diese<br />
Note. »Armee und Bevölkerung haben nur den Anordnungen des Sowjets Folge zu<br />
leisten«, bestimmt das 172. Reserveregiment und formuliert sogleich das umgekehrte<br />
Theorem: »Befehlen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die den Beschlüssen des Sowjets<br />
wi<strong>der</strong>sprechen, ist nicht Folge zu leisten.« Mit gemischten Gefühlen von Befriedigung<br />
und Besorgnis sanktionierte das Exekutivkomitee diesen Zustand. Mit Zähneknirschen<br />
duldete ihn die Regierung. Beiden blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig.<br />
Schon Anfang März entstehen Sowjets in allen wichtigen Städten und Industriezentren.<br />
Von dort aus verbreiten sie sich während <strong>der</strong> nächsten Wochen über das ganze Land. Das<br />
Dorf beginnen sie erst im April-Mai zu erfassen. Im Namen <strong>der</strong> Bauernschaft spricht<br />
anfangs hauptsächlich die Armee.<br />
Das Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets erhielt natürlicherweise gesamtstaatliche<br />
Bedeutung. Die übrigen Sowjets richteten sich nach <strong>der</strong> Hauptstadt und faßten einer nach<br />
dem an<strong>der</strong>n Beschlüsse über die bedingte Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung.<br />
Obwohl sich in den ersten Monaten die Beziehungen zwischen dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet<br />
und denen <strong>der</strong> Provinz reibungslos herausbildeten, ohne Konflikte und ernstliche<br />
Mißverständnisse, ergab sich die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen Organisation<br />
aus <strong>der</strong> ganzen Lage. Einen Monat nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung des Selbstherrschertums<br />
wurde die erste Konfetenz <strong>der</strong> Sowjets einberufen, sie war unvollständig und in ihrer<br />
Zusammensetzung einseitig. Obwohl von den 185 vertretenen Organisationen zwei<br />
Drittel den lokalen Sowjets gehörten, waren es doch vorwiegend Soldatensowjets;<br />
zusammen mit den Vertretern <strong>der</strong> Frontorganisationen hatten die Delegierten <strong>der</strong> Armee,<br />
hauptsächlich Offiziere, die erdrückende Mehrheit. Es ertönten Reden vom Krieg bis<br />
zum siegreichen Ende und Zurechtweisungen an die Adresse <strong>der</strong> Bolschewiki, trotz<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 146
<strong>der</strong>en mehr als maßvollem Benehmen. Die Konferenz ergänzte das Petrogra<strong>der</strong> Exekutivkomitee<br />
durch 16 konservative Provinzler und legte so seinen gesamtstaatlichen Charakter<br />
fest.<br />
Der rechte Flügel war noch mehr gefestigt worden. Von nun an schreckte man die<br />
Unzufriedenen immer häufiger mit <strong>der</strong> Provinz. Die Bestimmung über die Regelung <strong>der</strong><br />
Zusammensetzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, angenommen noch am 14. März, wurde fast<br />
nicht durchgeführt. Beschlüsse würden ja doch nicht vom lokalen Sowjet gefaßt, son<strong>der</strong>n<br />
vom All<strong>russischen</strong> Exekutivkomitee. Die offiziellen Führer nahmen eine fast unnahbare<br />
Position ein. Wichtigere Beschlüsse wurden im Exekutivkomitee, richtiger in seinem<br />
regierenden Kern getroffen, nach vorheriger Übereinkunft mit dem Kern <strong>der</strong> Regierung.<br />
Der Sowjet stand beiseite. Man behandelte ihn wie ein Meeting: »Nicht dort, nicht in den<br />
Vollversammlungen wird die Politik gemacht, und alle diese "Plenums" haben nicht die<br />
geringste praktische Bedeutung« (Suchanow). Die selbstzufriedenen Vollstrecker <strong>der</strong><br />
Geschicke waren <strong>der</strong> Ansicht, die Sowjets hätten, nachdem sie ihnen die Führung anvertraut,<br />
eigentlich ihre Rolle erfüllt. Die nächste Zukunft wird zeigen, daß dem nicht sb<br />
war. Die Masse kann sehr geduldig sein, aber sie ist keineswegs Lehm, den man nach<br />
Belieben kneten kann. Und in revolutionären Epochen lernt sie schnell. Darin besteht<br />
eben die wesentliche Stärke <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Um die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse besser zu verstehen, muß man bei <strong>der</strong><br />
Charakteristik jener zwei Parteien verweilen, die seit dem Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> einen<br />
engen Block geschlossen hatten, in den Sowjets, den demokratischen Munizipalitäten,<br />
auf den Kongressen <strong>der</strong> sogenannten revolutionären Demokratie herrschten und sogar<br />
ihre, allerdings mehr und mehr dahinschmelzende Mehrheit hinüberretteten bis zur<br />
Konstituierenden Versammlung, die zum letzten Abglanz ihrer entschwundenen Macht<br />
wurde, wie die Abendröte aufeinem Berggipfel noch leuchtet von <strong>der</strong> untergegangenen<br />
Sonne.<br />
Kam die russische Bourgeoisie zu spät, um demokratisch zu sein, so wollte sich die<br />
russische Demokratie aus demselben Grunde als sozialistisch betrachten. Die demokratische<br />
Ideologie hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts hoffnungslos verausgabt. An<br />
<strong>der</strong> Grenze des 20. war für die russische radikale Intelligenz, wollte sie Zugang zu den<br />
Massen finden, eine sozialistische Färbung notwendig. Das ist die allgemeine historische<br />
Ursache, die zur Entstehung <strong>der</strong> Mittelparteien führte: <strong>der</strong> Menschewiki und <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre.<br />
Jede von ihnen hatte indes ihre eigene Genealogie und ihre eigene Ideologie.<br />
Die Ansichten <strong>der</strong> Menschewiki erwuchsen auf marxistischer Basis. Infolge <strong>der</strong> nämlichen<br />
historischen Verspätung Rußlands wurde hier <strong>der</strong> Marxismus anfänglich nicht so<br />
sehr Kritik <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft wie Begründung <strong>der</strong> Unvermeidlichkeit <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Entwicklung des Landes. Die <strong>Geschichte</strong> hat, als sie es bräuchte, die<br />
kastrierte Theorie <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> geschickt dazu benutzt, um mit ihrer<br />
Hilfe breite Kreise muffiger Narodniki-Intellektueller in bürgerlichem Geiste zu europäisieren.<br />
Den Menschewiki wurde in diesem Prozeß ein großer Platz zugewiesen. Den<br />
linken Flügel <strong>der</strong> bürgerlichen Intelligenz bildend, verbanden sie diese mit den gemäßigsten<br />
Zwischenschichten jener Arbeiter, die zur legalen Arbeit in <strong>der</strong> Duma und in den<br />
Gewerkschaften neigten.<br />
Die Sozialrevolutionäre hingegen bekämpften, ihm teilweise erliegend, theoretisch den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 147
Marxismus. Sie hielten sich für die Partei, die das Bündnis zwischen Intelligenz, Arbeitern<br />
und Bauern verwirklichte, selbstverständlich unter Leitung <strong>der</strong> kritischen Vernunft.<br />
Auf ökonomischem Gebiet stellten ihre Ideen einen unverdaulichen Mischmasch<br />
verschiedener historischer Schichtungen dar, die die Gegensätze in den Daseinsbedingungcn<br />
<strong>der</strong> Bauernschaften und die des in schneller kapitalistischer Entwicklung befindlichen<br />
Landes wi<strong>der</strong>spiegelten. Die zukünftige <strong>Revolution</strong> dachten sich die<br />
Sozialrevolutionäre we<strong>der</strong> als bürgerlich noch als sozialistisch, son<strong>der</strong>n als "demokratisch":<br />
den sozialen Inhalt ersetzten sie durch eine politische Formel. Sie zeichneten sich<br />
auf diese Weise einen Weg vor zwischen Bourgeoisie und Proletariat, folglich auch die<br />
Rolle eines Schiedsrichters über beide. Nach dem Februar konnte es scheinen, die Sozialrevolutionäre<br />
seien einer solchen Stellung sehr nahe gekommen.<br />
Noch von <strong>der</strong> ersten Revolunon her hatten sie Wurzeln in <strong>der</strong> Bauernschaft. In den<br />
ersten Monaten des Jahres 1917 machte sieh die gesamte Dorfintelligenz die traditionelle<br />
Formel <strong>der</strong> Narodniki zu eigen: "Land und Freiheit." Zum Unterschiede von den<br />
Menschewiki, die stets eine reine Stadtpartei geblieben waren, schienen die Sozialrevolutionäre<br />
im Dorf eine mächtige Stütze gefunden zu haben. Noch mehr, sie hatten auch in<br />
<strong>der</strong> Stadt die Vorherrschaft: sowohl in den Sowjets durch die Soldatensektionen, wie in<br />
den ersten demokratischen Munizipalitäten, wo sie die absolute Stimmenrnehrheit<br />
besaßen. Die Macht <strong>der</strong> Partei schien unbegrenzt. In Wirklichkeit war es nur eine politische<br />
Verirrung. Eine Partei, für die alle stimmen, außer jener Min<strong>der</strong>heit, welche weiß,<br />
für wen sie zu stimmen hat, ist keine Partei, wie die Sprache, in <strong>der</strong> die Säuglinge aller<br />
Län<strong>der</strong> sprechen, keine nationale Sprache ist. Die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre trat auf<br />
als die feierliche Bezeichnung für all das, was an <strong>der</strong> Februarrev~ lution unreif,<br />
ungeformt und wirr war. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> vor-revolutionären Vergangenheit keine<br />
genügenden Gründe geerbt hatte, für Kadetten o<strong>der</strong> Bolschewiki zu stimmen, stimmte für<br />
die Sozialrevolutionäre. Doch die Kadetten standen im geschlossenen Lager <strong>der</strong> Besitzenden.<br />
Die Bolschewiki aber waren noch gering an Zahl, unverständlich und sogar<br />
furchterweckend. Die Wahl <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre bedeutete die Wahl <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
im großen und ganzen und verpflichtete zu nichts. In den Städten bedeutete sie das<br />
Bestreben <strong>der</strong> Soldaten, sich <strong>der</strong> Partei anzunähern, die zu den Bauern steht, das Bestreben<br />
des rückständigen Teiles <strong>der</strong> Arbeiter, sich näher an die Soldaten zu halten, das<br />
Bestreben des städtischen Kleinvolkes, sich von den Soldaten und Bauern nicht zu<br />
entfernen. In jener Periode war die Mitgliedskarte des Sozialrevolutionärs vorübergehend<br />
eine Anweisung auf das Recht, die Institutionen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu betreten, und behielt<br />
ihre Kraft bis zum Austausch gegen eine an<strong>der</strong>e Karte von ernsterem Charakter. Nicht zu<br />
Unrecht wurde von <strong>der</strong> großen Partei, die alles und alle erfaßte, gesagt, sie sei nur eine<br />
grandiose Null.<br />
Bereits seit <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> leiteten die Menschewiki die Notwendigkeit eines<br />
Bündnisses mit den Liberalen aus dem bürgerlichen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ab und<br />
stellten dieses Bündnis über die Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Bauernschaft, als einem<br />
unzuverlässigen Verbündeten. Die Bolschewiki dagegen bauten die ganze Perspektive<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf dem Bündnis von Proletariat und Bauernschaft gegen die liberale<br />
Bourgeoisie. Da die Sozialrevolutionäre sich vor allem für eine Bauernpartei hielten, so<br />
hätte man, könnte es scheinen, in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ein Bündnis zwischen Bolschewiki und<br />
Narodniki als Gegengewicht zum Bündnis <strong>der</strong> Mensehewiki und liberalen Bourgeoisie<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 148
erwarten dürfen. In Wirklichkeit sehen wir in <strong>der</strong> Februarrevolution die entgegengesetzte<br />
Gruppierung: Menschewiki und Sozialrevolu-tionäre treten in engstem Bündnis auf, das<br />
durch ihren Block mit <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie ergänzt wird. Die Bolschewiki sind auf<br />
dem offiziellen Feld <strong>der</strong> Politik völlig isoliert.<br />
Diese auf den ersten Blick unerklärliche Tatsache ist in Wirklichkeit ganz gesetzmäßig.<br />
Die Sozialrevolutionäre waren keinesfalls eine Bauernpartei, trotz <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Sympathien des Dorfes für ihre Parolen. Der grundlegende Kern <strong>der</strong> Partei, jener, <strong>der</strong><br />
ihre wirkliche Politik bestimmte und aus seiner Mitte Minister und Beamte stellte, war<br />
viel mehr mit den liberalen und radikalen Kreisen <strong>der</strong> Stadt verbunden als mit den rebellierenden<br />
Bauernmassen. Dieser führende Kern, <strong>der</strong> infolge des Zustroms von ehrgeizigen<br />
Märzsozialrevolutionären ungeheurer angeschwollen war, bekam Todesangst vor<br />
dem Schwung <strong>der</strong> Bauernbewegung, die unter sozialrevolutionären Parolen ging. Die<br />
neugebackenen Narodniki wünschten freilich den Bauern alles Gute, aber den roten<br />
Hahn wollten sie nicht. Der Schrecken <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre vor dem aufständischeh<br />
Dorf geht parallel mit dem Schrecken <strong>der</strong> Menschewiki vor dem Vorstoß des<br />
Proletariats; in seiner Gesamtheit war <strong>der</strong> demokratische Schreck ein treues Abbild <strong>der</strong><br />
vollkommen realen Gefahr, die die Bewegung <strong>der</strong> Unterdrückten den besitzenden<br />
Klassen brachte und diese zu einem einigen Lager bürgerlich-gutsherrlicher Reaktion<br />
zusammenschweißte. Der Block <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre mit <strong>der</strong> Regierung des Gutsbesitzers<br />
Lwow kennzeichnete ihren Bruch mit <strong>der</strong> Agrarrevolution, wie <strong>der</strong> Block <strong>der</strong><br />
Menschewiki mit den Industriellen und Bankiers vom Typ <strong>der</strong> Gntschkow<br />
Tereschtschenko und Konowalow <strong>der</strong>en Bruch mit <strong>der</strong> proletarischen Bewegung gleichkam.<br />
Das Bündnis zwischen Menschewiki und Sozialrevolutionären bedeutete unter<br />
diesen Umständen nicht die Zusammenarbeit von Proletariat und Bauernschaft, son<strong>der</strong>n<br />
eine Koalition von Parteien, die zugunsten eines Blocks mit den besitzenden Klassen mit<br />
Proletariat und Bauernschaft gebrochen hatten.<br />
Aus dem Dargelegten ist klar, wie fiktiv <strong>der</strong> Sozialismus <strong>der</strong> beiden demokratischen<br />
Parteien war; aber das heißt noch nicht, daß ihr Demokratismus echt war. Im Gegenteil,<br />
gerade die Saftlosigkeit des Demokratismus erfor<strong>der</strong>te eben die sozialistische Maskierung.<br />
Das russische Proletariat führte den Kampf um Demokratie in unversöhnlichem<br />
Antagonismus zur liberalen Bourgeoisie. Die demokratischen Parteien, die im Blocke mit<br />
<strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie waren, mußten unvermeidlich mit dem Proletariat in Konflikt<br />
geraten. Dies sind die sozialen Wurzeln des weiteren erbitterten Kampfes zwischen den<br />
Versöhnlern und den Bolschewiki.<br />
Führt man die oben umrissenen Prozesse auf ihre nackte Klassenmechanik zurück,<br />
<strong>der</strong>en sich die Teilnehmer und sogar die Führer <strong>der</strong> beiden Versöhnlerparteien allerdings<br />
nicht restlos bewußt wurden, so entsteht etwa folgende Verteilung <strong>der</strong> historischen<br />
Funktionen. Die liberale Bourgeoisie vermochte die Massen bereits nicht mehr zu gewinnen.<br />
Darum fürchtete sie die <strong>Revolution</strong>. Aber die <strong>Revolution</strong> war für die bürgerliche<br />
Entwicklung notwendig. Von <strong>der</strong> Großbourgeoisie trennten sich zwei Abteilungen ab,<br />
die aus <strong>der</strong>en jüngeren Brü<strong>der</strong>n und Söhnen bestanden. Die eine Abteilung begab sich zu<br />
den Arbeitern, die an<strong>der</strong>e zu den Bauern. Sie trachteten die einen wie die an<strong>der</strong>en an sich<br />
zu ziehen, indem sie aufrichtig und leidenschaftlich zu beweisen suchten, sie seien <strong>Sozialisten</strong>.<br />
Auf diese Weise gewannen sie tatsächlich bedeutenden Einfluß im Volke. Aber<br />
sehr bald waren die Auswirkungen ihrer Ideen ihnen über den Kopf gewachsen. Die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 149
Bourgeoisie empfand die tödliche Gefahr und gab das Alarmsignal. Die von ihr<br />
abgetrennten Abteilungen, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, beantworteten einmütig<br />
den Zuruf des Familienältesten. Über die alten Meinungsverschiedenheiten hinwegschreitend,<br />
stellten sie sich Schulter an Schulter auf und stürzten, den Massen den<br />
Rücken zugekehrt, <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft zu Hilfe.<br />
Sogar verglichen mit den Menschewiki verblüfften die Sozialrevolutionäre durch<br />
Schwammigkeit und Welkheit. Den Bolschewiki erschienen sie in allen wichtigen<br />
Augenblicken einfach als Kadetten dritter Sorte. Den Kadetten galten sie als drittklassige<br />
Bolschewiki. Den Platz <strong>der</strong> zweiten Sorte nahmen in beiden Fällen die Menschewiki ein.<br />
Die schwankende Basis und die Formlosigkeit <strong>der</strong> Ideologie führten zu einer entsprechenden<br />
Menschenauslese: alle sozialrevolutionären Führer trugen den Stempel <strong>der</strong><br />
Unfertigkeit, Oberflächlichkeit und sentimentalen Unzuverlässigkeit. Man kann ohne<br />
jede Übertreibung sagen: ein Durchschnittsbolschewik bewies in <strong>der</strong> Politik, das heißt in<br />
den Klassenbeziehungen, mehr Scharfsinn als die berühmtesten sozialrevolutionären<br />
Führer.<br />
Bar fester Kriterien, neigten die Sozialrevolutionäre zu ethischen Imperativen. Man<br />
braucht nicht zu beweisen, daß moralische Prätentionen sie nicht hin<strong>der</strong>ten, in <strong>der</strong> großen<br />
Politik kleine Gaunereien zu begehen, was im allgemeinen charakteristisch ist für Mittelparteien<br />
ohne feste Basis, klare Doktrin und wahren sittlichen Kern.<br />
Im Blocke <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre gehörte <strong>der</strong> führende Platz den<br />
Menschewiki, trotz <strong>der</strong> fraglos zahlenmäßigen Überlegenheit <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre. In<br />
dieser Rollenverteilung äußerte sich auf ihre Weise die Hegemonie <strong>der</strong> Stadt über das<br />
Dorf, das Übergewicht <strong>der</strong> städtischen Kleinbourgeoisie über die ländliche, schließlich<br />
die geistige Überlegenheit <strong>der</strong> "marxistischen" Intelligenz über die Intelligenz, die sich<br />
an die echtrussische Soziologie hielt und auf die Dürftigkeit <strong>der</strong> alten <strong>russischen</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> stolz war.<br />
In den ersten Wochen nach dem Umsturz hatte, wie wir wissen, keine <strong>der</strong> linken<br />
Parteien in <strong>der</strong> Hauptstadt ihren wirklichen Stab. Die allgemein anerkannten Führer <strong>der</strong><br />
sozialistischen Parteien befanden sich in <strong>der</strong> Emigration. Die Führer zweiten Ranges<br />
waren vom Fernen Osten nach dem Zentrum unterwegs. Das erzeugte bei den jeweiligen<br />
Häuptern eine behutsame und abwartende Stimmung, die sie näher aneinan<strong>der</strong>stieß.<br />
Nicht eine <strong>der</strong> leitenden Gruppen führte in jenen Wochen ihre Gedanken zu Ende. Der<br />
Kampf <strong>der</strong> Parteien im Sowjet trug einen äußerst friedlichen Charakter: es war, als ginge<br />
es um Schattierungen innerhalb ein und <strong>der</strong>selben "revolutionären Demokratie". Allerdings<br />
vollzog die Leitung <strong>der</strong> Sowjets mit <strong>der</strong> Ankunft Zeretellis aus <strong>der</strong> Verbannung<br />
(19. März) eine schroffe Wendung nach rechts, in die Richtung <strong>der</strong> direkten Verantwortung<br />
für die Regierung und den Krieg. Doch auch die Bolschewiki schwenkten Mitte<br />
März unter dem Einfluß <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Verbannung angekommenen Kamenew und Stalin<br />
schroff nach rechts, so daß die Distanz zwischen <strong>der</strong> Sowjetmehrheit und <strong>der</strong> linken<br />
Opposition Anfang April wohl geringer war als Anfang März. Die eigentliche Differenzierung<br />
begann etwas später. Man kann sogar ihr genaues Datum nennen: am 4. April,<br />
dem Tag nach <strong>der</strong> Ankunft Lenins m Petrograd.<br />
Die Partei <strong>der</strong> Menschewiki hatte an den Spitzen ihrer verschiedenen Richtungen eine<br />
Reihe hervorragen<strong>der</strong> Gestalten, aber nicht einen revolutionären Führer. Der äußerste<br />
rechte Flügel, vertreten durch die alten Lehrer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Sozialdemokratie, Plecha-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 150
now, Wera Sassulitsch, Deutsch, stand schon unter dem Selbstherrschertum auf <strong>der</strong><br />
patriotischen Position. Gerade am Vorabend <strong>der</strong> Februarrevolution schrieb Plechanow,<br />
<strong>der</strong> sich selbst jämmerlich überlebte, in einer amerikanischen Zeitung, Streiks und an<strong>der</strong>e<br />
Kampfesarten <strong>der</strong> Arbeiter in Rußland wären jetzt ein Verbrechen. Breitere Kreise <strong>der</strong><br />
alten Menschewiki, darunter Gestalten wie Martow, Dan, Zeretelli, zählten sich zum<br />
Lager von Zimmerwald und lehnten die Verantwortung für den Krieg ab. Doch <strong>der</strong> Internationalismus<br />
<strong>der</strong> linken Menschewiki wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre war in den<br />
meisten Fällen eine Deckung für ihre demokratisch-oppositionelle Stellung. Die Februarrevolution<br />
versöhnte die Mehrheit dieser "Zimmerwal<strong>der</strong>" mit dem Krieg, in dem sie von<br />
nun an die Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entdeckten. Mit <strong>der</strong> größten Entschlossenheit<br />
betrat diesen Weg Zeretelli, <strong>der</strong> Dan und an<strong>der</strong>e hintcr sich herzog. Martow, <strong>der</strong> den<br />
Beginn des Krieges in Frankreich erlebte und erst am 9. Mai aus dem Ausland eintraf,<br />
konnte nicht übersehen, daß seine gestrigen Gesinnungsgenossen nach <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
dort angelangt waren, wo Guesde, Sembat und an<strong>der</strong>e im Jahre 1914 begonnen<br />
hatten, als sie die Verteidigung <strong>der</strong> bürgerlichen Republik gegen den deutschen Absolutismus<br />
auf sich nahmen. Sich an die Spitze des linken Flügels <strong>der</strong> Menschewiki stellend,<br />
dem es nicht gelang, sich zu irgendeiner ernsten Rolle in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu erheben,<br />
blieb Martow in Opposition zu <strong>der</strong> Politik Zeretelli-Dan, wobei er gleichzeitig <strong>der</strong><br />
Annäherung <strong>der</strong> linken Menschewiki an die Bolschewiki entgegenwirkte. Im Namen des<br />
offiziellen Menschewismus trat Zeretelil auf, hinter dem eine unbestrittene Mehrheit<br />
stand: die vorrevolutionären Patrioten vereinigten sich mühelos mit den Patrioten des<br />
Februaraufgebots. Plechanow hatte allerdings seine eigene, ganz chauvinistische Gruppe,<br />
die außerhalb <strong>der</strong> Partei und sogar außerhalb des Sowjets stand. Martows Fraktion, die<br />
die gemeinsame Partei nicht verließ, hatte keine eigene Zeitung, wie sie auch keine<br />
eigene Politik besaß. Wie stets während großer historischer Ereignisse, verlor Martow<br />
hoffnungslos den Kopf und hing in <strong>der</strong> Luft. Im Jahre 1917, wie im Jahre 1905, hat die<br />
<strong>Revolution</strong> diesen hervorragenden Menschen fast nicht bemerkt.<br />
Zum Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets und später des Zentral-Exekutivkomitees<br />
wurde fast automatisch <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> menschewistischen Dumafraktion,<br />
Tschcheidse. Er war bestrebt, den ganzen Vorrat seiner Gewissenhaftigkeit in seine<br />
Pflichten hineinzutragen, wobei er seine stete Unsicherheit durch eine simple Scherzhaftigkeit<br />
verschleierte. Auf ihm lag <strong>der</strong> unauslöschliche Stempel seiner Provinz. Das<br />
bergige Georgien, das Land <strong>der</strong> Sonne, <strong>der</strong> Weingärten, Bauern und des Kleinadeis, mit<br />
einem geringen Prozent von Arbeitern, hat eine breite Schicht linker Intellektueller<br />
hervorgebracht, die, geschmeidig, temperamentvoll, sich jedoch in ihrer erdrückenden<br />
Mehrheit nicht über den kleinbürgerlichen Horizont erhob. In alle vier Dumas schickte<br />
Georgien Menschewiki als Deputierte, und in allen vier Fraktionen spielten seine<br />
Deputierten die Rolle von Führern. Georgien wurde die Gironde <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong>.<br />
Beschuldigte man die Girondisten des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts des Fö<strong>der</strong>alismus, so<br />
endeten die Girondisten Georgiens, die mit <strong>der</strong> Verteidigung des einen und unteilbaren<br />
Rußlands begonnen hatten, beim Separatismus.<br />
Die markanteste Figur, die die georgische Gironde hervorgebracht hat, war zweifellos<br />
<strong>der</strong> ehemalige Deputierte <strong>der</strong> zweiten Duma, Zeretelli, <strong>der</strong> sogleich nach seiner Ankunft<br />
aus <strong>der</strong> Verbannung nicht nur das Haupt <strong>der</strong> Menschewiki, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gesamten damaligen<br />
Sowjetmehrheit wurde. We<strong>der</strong> Theoretiker noch Journalist, aber hervorragen<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 151
Redner, war und blieb Zeretelli <strong>der</strong> Radikale von südfranzösischem Typus. Unter den<br />
Bedingungen parlamentarischer Routine würde er sich wie ein Fisch im Wasser gefühlt<br />
haben. Doch er war in einer revolutionären Epoche geboren und hatte sich in seinerJugend<br />
mit einer Dosis Marxismus vergiftet. Jedenfalls entwickelte er bei revolutionären<br />
Ereignissen von allen Menschewiki den größten Schwung und das Bestreben, konsequent<br />
zu sein. Gerade deshalb hat er mehr als die an<strong>der</strong>en zum Zusammenbruch des<br />
Februarregimes beigetragen. Tschcheidse unterwarf sich ihm ganz, wenn er auch in<br />
gewissen Augenblicken Angst bekam vor dessen doktrinärer Geradlinigkeit, die den<br />
gestrigen revolutionären Zuchthäusler den konservativen Vertretern <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
annäherte.<br />
Der Menschewik Skobeljew, <strong>der</strong> seine frische Popularität <strong>der</strong> Stellung als Deputierter<br />
<strong>der</strong> letzten Duma verdankte, machte, nicht nur infolge seines jugendlichen Aussehens,<br />
den Eindruck eines Studenten, <strong>der</strong> auf einer Hausbühne die Rolle eines Staatsmannes<br />
spielt. Skobeljew spezialisierte sich auf das Löschen von "Exzessen", Beseitigung lokaler<br />
Konflikte und überhaupt auf praktische Verkleisterung <strong>der</strong> Risse <strong>der</strong> Doppelherrschaft,<br />
bis er im Mai in <strong>der</strong> unglückseligen Rolle eines Arbeitsministers in die Koalitionsregierung<br />
geriet.<br />
Eine einflußreichere Figur unter den Menschewiki war Dan, ein alter Parteiarbeiter, <strong>der</strong><br />
stets als die zweite Person nach Martow galt. Wenn Sitten und Geist <strong>der</strong> deutschen<br />
Sozialdemokratie <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>gangsepoche dem Menschewismus überhaupt in Fleisch und<br />
Blut eingegangen waren, so schien Dan nachgerade ein Mitglied <strong>der</strong> deutschen Parteileitung<br />
zu sein, ein Ebert kleineren Formats. Der deutsche Dan hat ein Jahr später in<br />
Deutschland erfolgreich jene Politik durchgeführt, die dem <strong>russischen</strong> Ebert in Rußland<br />
mißlungen war. Der Grund lag allerdings nicht in den Menschen, son<strong>der</strong>n in den Verhältnissen.<br />
War die erste Geige im Orchester <strong>der</strong> Sowjetmehrheit Zeretelli, so spielte auf schriller<br />
Klarinette mit blutunterlaufenen Augen Liber aus aller Lungenkraft. Das war ein<br />
Menschewik aus dem jüdischen Arbeiterbund (Bund), mit langer revolutionärer Vergangenheit,<br />
sehr aufrichtig, sehr temperamentvoll, sehr beredt, sehr beschränkt und leidenschaftlich<br />
bestrebt, sich als unbeugsamer Patriot und eiserner Staatsmann zu zeigen.<br />
Liber verzehrte sich buchstäblich in Haß gegen die Bolschewiki.<br />
Die Phalanx menschewistischer Führer kann man mit dem ehemaligen ultralinken<br />
Bolschewiki Wojtinski abschließen, einem angesehenen Teilnehmer <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>,<br />
<strong>der</strong> die Katorga hinter sich hatte und im März auf dem Boden des Patriotismus mit<br />
<strong>der</strong> Partei brach. Nachdem er sich den Menschewiki angeschlossen hatte, wurde Wojtinski,<br />
wie es sich gehört, professioneller Bolschewikenfresser. Ihm fehlte nur das Temperament,<br />
um in <strong>der</strong> Hetze gegen seine früheren Gesinnungsgenossen es mit Liber aufnehmen<br />
zu können.<br />
Der Stab <strong>der</strong> Narodniki war ebensowenig einheitlich, aber bei weitem nicht so bedeutend<br />
und farbig. Die sogenannten Volkssozialisten, die die äußerste rechte Flanke bildeten,<br />
führte <strong>der</strong> alte Emigrant Tschajkowski, <strong>der</strong> in seinem kämpferischen Chauvinismus<br />
Plechanow glich, ohne dessen Talente o<strong>der</strong> dessen Vergangenheit zu besitzen. Neben<br />
ihm stand die alte Breschko-Breschkowskaja, die die Sozialrevolutionäre Großmutter <strong>der</strong><br />
Russischen <strong>Revolution</strong> nannten, die sich aber eifrig als Taufmutter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Konterrevolution vordrängte. Der betagte Anarchist Krapotkin, <strong>der</strong> aus seiner Jugend<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 152
eine Schwäche für die Narodniki behalten hatte, benutzte den Krieg, um all das zu<br />
desavouieren, was er fast ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t gelehrt hatte: <strong>der</strong> Staatsverneiner unterstützte<br />
die Entente, und wenn er die russische Doppelherrschaft verurteilte, so nicht im<br />
Namen <strong>der</strong> Herrschaftslosigkeit, son<strong>der</strong>n im Namen <strong>der</strong> Alleinherrschaft <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie. Diese Alten spielten jedoch eher eine dekorative Rolle, wenn auch Tschajkowski<br />
später, im Kriege gegen die Bolschewiki, an <strong>der</strong> Spitze einer <strong>der</strong> weißen Regierungen<br />
stand, die von Churchil ausgehalten wurden.<br />
Den ersten Platz unter den Sozialrevolutionären, allen an<strong>der</strong>en weit voran, aber nicht in<br />
<strong>der</strong> Partei, son<strong>der</strong>n über <strong>der</strong> Partei, nahm Kerenski ein, ein Mann ohne jegliche Parteivergangenheit.<br />
Wir werden im weiteren mehr als einmal dieser von <strong>der</strong> Vorsehung erkorenen<br />
Figur begegnen, <strong>der</strong>en Stärke in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Doppelherrschaft die Verbindung<br />
<strong>der</strong> Schwächen des Liberalismus mit den Schwächen <strong>der</strong> Demokratie bildete. Der<br />
formelle Eintritt in die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre än<strong>der</strong>te nichts an Kerenskis<br />
verächtlichem Verhalten zu Parteien im allgemeinen: er hielt sich für den unmittelbar<br />
Auserwählten <strong>der</strong> Nation. Aber auch die sozialrevolutionäre Partei hatte ja zu jener Zeit<br />
aufgehört, eine Partei zu sein, und war eine grandiose, wahrhaft nationale Null. In<br />
Kerenski fand sie den ihr adäquaten Führer.<br />
Der spätere Ackerbauminister und dann auch Vorsitzende <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung, Tschernow, war zweifellos die repräsentativste Figur <strong>der</strong> alten sozialrevolutionären<br />
Partei und galt nicht zufällig als <strong>der</strong>en Inspirator, Theoretiker und Führer. Mit<br />
bedeutenden, aber nicht zu einer Einheit verbundenen Kenntnissen, eher ein Bücherkundiger<br />
als ein gebildeter Mensch, hatte Tschernow stets eine unbeschränkte Auswahl<br />
passen<strong>der</strong> Zitate zu seiner Verfügung, die lange auf die Phantasie <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Jugend<br />
gewirkt hatten, ohne sie viel zu lehren. Nur auf eine einzige Frage hatte dieser redselige<br />
Führer keine Antwort: wen und wohin führt er? Die eklektischen Formeln Tschernows,<br />
aufgeputzt mit Moral und Versehen, vereinigten bis zu einer bestimmten Zeit das bunteste<br />
Publikum, das in allen kritischen Stunden nach verschiedenen Richtungen hin zerrte.<br />
Es ist nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, wenn Tschernow seine Methode <strong>der</strong> Parteibildung<br />
selbstzufrieden dem Leninschen "Sektierertum" gegenüber-stellte.<br />
Tschernow kam fünf Tage nach Lenin in Petrograd an: England hatte ihn schließlich<br />
durchgelassen. Auf die vielen Begrüßungen im Sowjet antwortete <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> größten<br />
Partei mit <strong>der</strong> längsten Rede, über die sich Suchanow, ein halber Sozialrevolutionär,<br />
folgen<strong>der</strong>maßen äußerte: »Nicht ich allein, son<strong>der</strong>n auch viele sozialrevolutionäre<br />
Parteipatrioten runzelten die Stirn und schüttelten die Köpfr: was singt er da so unangenehm,<br />
was macht er für seltsame Grimassen und verdreht die Äuglein und spricht endlos<br />
ungereimtes Zeug.« Die gesamte weitere Tätigkeit Tschernows in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entwikkelte<br />
sich im Grundton seiner ersten Rede. Nach einigen Versuchen, sich Kerenski und<br />
Zeretelli von links entgegenzustellen, ergab sich Tschernow, von allen Seiten eingeklemmt,<br />
kampflos, säuberte sich von seinen Zimmerwaldismus <strong>der</strong> Emigration, ging in<br />
die Kontaktkommission und später in die Koalitionsregierung. Alles, was er tat, traf<br />
daneben. Er beschloß daher, auszuweichen. Stimmenthaltung wurde für ihn die Form des<br />
politischen Daseins. Seine Autorität schmolz von April bis Oktober noch schneller als<br />
die Reihen seiner Partei. Bei allem Unterschied zwischen Tschernow und Kerenski, die<br />
einan<strong>der</strong> haßten, wurzelten beide gänzlich in <strong>der</strong> vorrevolutionären Vergangenheit, in <strong>der</strong><br />
alten <strong>russischen</strong> morschen Gesellschaft, in <strong>der</strong> saftlosen und prätentiösen Intelligenz, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 153
darauf brannte, die Volksmassen zu belehren, zu bevormunden, ihnen Wohltaten zu<br />
erweisen, aber völlig unfähig war, sie anzuhören, zu begreiien und von ihnen zu lernen.<br />
Ohne dieses aber gibt es keine revolutionäre Politik.<br />
Awksentjew, den die Partei auf die höchsten Posten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erhob - Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Bauerndeputierten, Minister des Innern, Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
Vorparlaments -, stellte schon die völlige Karikatur eines Politikers dar: bezaubern<strong>der</strong><br />
Literaturlehrer des Mädchengymnasiums in Orel - das ist alles, was man von ihm sagen<br />
kann. Allerdings - seine politische Tätigkeit war bei weitem bösartiger als seine Person.<br />
Eine große Rolle, aber mehr hinter den Kulissen, spielte in <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Soziatrevolutionäre<br />
und im regierenden Sowjetkern Goz. Terrorist aus einer bekannten revolutionären<br />
Familie, war Goz weniger anspruchsvoll und sachlicher als seine näheren politischen<br />
Freunde. Jedoch in <strong>der</strong> Eigenschaft eines sogenannten "Praktikers" beschränkte er sich<br />
auf die Angelegenheiten <strong>der</strong> Küche und überließ die großen Fragen den an<strong>der</strong>en. Man<br />
muß übrigens hinzufügen, daß er we<strong>der</strong> Redner noch Schriftsteller war und sein wichtigstes<br />
Hilfsmittel persönliche Autorität bildete, die er mit Jahren Zwangsarbeit erkauft<br />
hatte.<br />
Wir haben im wesentlichen alle genannt, die man aus dem führenden Kreis <strong>der</strong> Narodniki<br />
nennen könnte. Es folgen nur noch ganz zufällige Gestalten, wie etwa Filippowski,<br />
bezüglich dessen niemand erklären konnte, wie er denn eigentlich auf den obersten<br />
Gipfel des Februarolymps geraten war: es bleibt nur anzunehmen, daß dabei die entscheidende<br />
Rolle seine Seeoffiziersuniform gespielt hat.<br />
Neben den offiziellen Führern <strong>der</strong> zwei herrschenden Parteien gab es im Exekutivkomitee<br />
nicht wenig "Wilde", Einzelgänger, in <strong>der</strong> Vergangenheit Teilnehmer <strong>der</strong><br />
Bewegung auf <strong>der</strong>en verschiedenen Etappen, Menschen, die längst vor <strong>der</strong> Umwälzung<br />
vom Kampfe zurückgetreten waren und die jetzt, nach hastiger Rückkehr unter das<br />
Banner <strong>der</strong> siegreichen <strong>Revolution</strong> sich nicht beeilten, ins Parteijoch zu gehen. In allen<br />
Grundfragen gingen die Wilden die Linie <strong>der</strong> Sowjetmehrheit. In <strong>der</strong> ersten Zeit gehörte<br />
ihnen sogar die führende Rolle. Aber in dem Maße, wie die offiziellen Führer aus <strong>der</strong><br />
Verbannung und Emigration zurückkehrten, wurden die Parteilosen auf die zweite Stelle<br />
verdrängt, die Politik bekam Form, das Parteimäßige trat in seine Rechte.<br />
Die Gegner des Exekutivkomitees aus dem Lager <strong>der</strong> Reaktion haben später mehr als<br />
einmal auf die Übermacht <strong>der</strong> Fremdstämmigen im Komitee verwiesen: Juden, Georgier,<br />
Letten, Polen usw. Obwohl die Fremdstämmigen im Verhältnis zur ganzen Mitglie<strong>der</strong>masse<br />
des Exekutivkornitees einen durchaus niedrigen Prozentsatz ausmachten, nahmen<br />
sie zweifellos im Präsidium, in verschiedenen Kommissionen, unter den Referenten usw.<br />
einen sehr sichtbaren Platz ein. Da die Intelligenz <strong>der</strong> unterdrückten Nationalitäten,<br />
hauptsächlich in den Städten konzentriert, reichlich die revolutionären Reihen füllte, so<br />
ist es nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß die Zahl <strong>der</strong> Fremdstämmigen unter <strong>der</strong> älteren<br />
Generation <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre beson<strong>der</strong>s ansehnlich war. Ihre Erfahrung, obwohl nicht<br />
immer von hoher Qualität, machte sie unentbehrlich bei Errichtung <strong>der</strong> neuen gesellschaftlichen<br />
Formen. Ganz abgeschmackt sind aber die Versuche, die Politik <strong>der</strong> Sowjets<br />
und den Verlauf <strong>der</strong> gesamten <strong>Revolution</strong> aus <strong>der</strong> angeblichen Übermacht <strong>der</strong> Fremdstämmigen<br />
abzuleiten. Der Nationalismus enthüllt auch in diesem Falle Verachtung für<br />
die wirkliche Nation, das heißt das Volk, indem er es in <strong>der</strong> Periode seines großen nationalen<br />
Erwachens als einen völligen Tölpel in fremden und zufälligen Händen schil<strong>der</strong>t.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 154
Weshalb aber und wie konnten die Fremdstämmigen eine solche wun<strong>der</strong>tätige Macht<br />
über die eingeborenen Millionen erlangen? In <strong>der</strong> Tat stellt die Masse <strong>der</strong> Nation im<br />
Moment einer einschneidenden historischen Wendung nicht selten jene Elemente in ihren<br />
Dienst, die noch gestern unterdrückt waren und deshalb mit höchster Bereitschaft den<br />
neuen Aufgaben Ausdruck geben. Nicht die fremdstämmigen führen die <strong>Revolution</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n die <strong>Revolution</strong> benutzt die Fremdstämmigen. So geschah es sogar bei großen<br />
Reformen von oben. Die Politik Peters 1. hörte nicht auf, national zu sein, als sie von den<br />
alten Wegen abbog und Fremdstämmige und Auslän<strong>der</strong> in ihren Dienst zog. Die Meister<br />
<strong>der</strong> Deutschen Vorstadt und die holländischen Schiffer drückten in jener Periode die<br />
Bedürfnisse <strong>der</strong> nationalen Entwicklung Rußlands besser aus als die <strong>russischen</strong> Popen,<br />
die ehemals von den Griechen herangeschleppt worden waren, o<strong>der</strong> die Moskauer<br />
Bojaren, die ebenfalls über die fremdländische Vergewaltigung klagten, obwohl sie<br />
selber von Fremden abstammten, die den <strong>russischen</strong> Staat gebildet hatten. Jedenfalls<br />
verteilte sich die fremdstämmige Intelligenz im Jahre 1917 auf die gleichen Parteien wie<br />
die echtrussische, litt an den gleichen Gebrechen und beging dieselben Fehler, wobei<br />
gerade die Frenidstämmigen unter den Menschewiki und Sozialrevolutionären mit beson<strong>der</strong>em<br />
Eifer für die Verteidigung und Einheit Rußlands paradierten.<br />
So sah das Exekutivkomitee aus, das oberste Organ <strong>der</strong> Demokratie. Zwei Parteien, die<br />
ihre Illusionen verloren, aber die Vorurteile behalten hatten, mit einem Führerstab, <strong>der</strong><br />
unfähig war, vom Wort zur Tat überzugehen, gelangten an die Spitze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die<br />
berufen war, Jahrhun<strong>der</strong>te alte Ketten zu brechen und die Grundsteine einer neuen<br />
Gesellschaft zu legen. Die gesamte Tätigkeit <strong>der</strong> Versöhnler wurde eine Kette qualvoller<br />
Wi<strong>der</strong>sprüche, die die Volksmassen entkräfteten und die Konvulsionen des Bürgerkrieges<br />
vorbereiteten.<br />
Die Arbeiter, die Soldaten, die Bauern nahmen die Ereignisse ernst. Sie meinten, daß<br />
die von ihnen geschaffenen Sowjets unverzüglich an die Beseitigung jener Nöte schreiten<br />
müßten, die die <strong>Revolution</strong> geboren hatten. Alle kamen zu den Sowjets. Je<strong>der</strong> brachte,<br />
was ihn schmerzte. Und wen schmerzte nichts? Man verlangte Beschlüsse, erhoffte Hilfe,<br />
erwartete Gerechtigkeit, for<strong>der</strong>te Vergeltung. Fürsprecher, Beschwerdeführer, Bittsteller,<br />
Entlarver glaubten, daß nun endlich die feindliche Macht durch eine eigene ersetzt war.<br />
Das Volk vertraut dem Sowjet, das Volk ist bewaffnet, also ist <strong>der</strong> Sowjet die Regierung.<br />
So verstanden sie die Sache - und hatten sie etwa nicht recht? »Ein ununterbrochener<br />
Strom von Soldaten, Arbeitern, Soldatenfrauen, Kleinhändlern, Bediensteten, Müttern,<br />
Vätern öffnete und schloß die Türe, suchte, fragte, weinte, for<strong>der</strong>te, zwang Maßnahmen<br />
zu treffen - manchmal genau bezeichnend welche - und verwandelte den Sowjet tatsächlich<br />
in eine revolutionäre Macht. Das war durchaus nicht im Interesse und paßte keinesfalls<br />
in die Pläne des Sowjets selbst«, klagt <strong>der</strong> uns bekannte Suchanow, <strong>der</strong><br />
selbstverständlich »nach Kräften gegen diesen Prozeß ankämpfte«. Ob mit Erfolg? Ach,<br />
er ist gezwungen, gleich zu gestehen: »Der Sowjetapparat begann unwillkürlich,<br />
automatisch, gegen den Willen des Sowjets die offizielle Staatsmaschinerie zu verdrängen,<br />
die immer mehr im Leerlauf ging.« Was aber taten die Doktrinäre <strong>der</strong> Kapitulation,<br />
die Mechaniker des Leerlaufs? »Man war gezwungen, sich damit abzufinden und<br />
einzelne Funktionen <strong>der</strong> Regierung zu übernehmen«, gesteht Suchanow melancholisch,<br />
»und gleichzeitig die Fiktion aufrechtzuerhalten, als hätte das Mariinski-Palais die<br />
Leitung.« Das ist es, womit sich diese Leute in einem verelendeten Lande beschäftigten,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 155
das in den Flammen des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> stand: durch maskeradenhafte<br />
Maßnahmen schützten sie das Prestige einer Regierung, die das Volk organisch ausgeschieden<br />
hatte. Möge die <strong>Revolution</strong> umkommen, aber es lebe die Fiktion! Gleichzeitig<br />
jedoch stieg die Macht, die diese Männer zur Türe hlnausjagten, durchs Fenster zu ihnen<br />
zurück, wobei sie sie jedesmal überraschte und in eine lächerliche. o<strong>der</strong> unwürdige Lage<br />
versetzte.<br />
Noch in <strong>der</strong> Nacht zum 28. Februar hatte das Exekutivkomitee die monarchistische<br />
Presse geschlossen und für Zeitungen Erlaubnispflicht eingeführt. Proteste ertönten. Am<br />
lautesten schrien die, die gewohnt waren, allen den Mund zu verstopfen. Nach einigen<br />
Tagen stieß das Komitee wie<strong>der</strong> auf die Frage <strong>der</strong> Pressefreiheit: soll man reaktionäre<br />
Zeitungen erlauben o<strong>der</strong> nicht? Es entstanden Meinungsverschiedenheiten. Doktrinäre<br />
vom Typ Suchanow waren für absolute Pressefreiheit. Tschcheidse war anfangs nicht<br />
einverstanden: wie dürfe man die Waffen dem Todfeinde zur unkontrollierbaren<br />
Verwendung überlassen? Es war, nebenbei gesagt, keinem in den Sinn gekommen, die<br />
Entscheidung <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Regierung anheimzustellen. Das wäre auch gegenstandslos<br />
gewesen: die Druckcreiarbeiter erkannten nur die Verfügungen des Sowjets an. Am 5.<br />
März bestätigte das Exekutivkomitee: die rechte Presse ist zu schließen, das Erscheinen<br />
neuer Zeitungen ist von <strong>der</strong> Genehmigung des Sowjets abhängig zu machen. Aber schon<br />
am 10. wurde die Verordnung unter dem Ansturm <strong>der</strong> bürgerlichen Kreise wie<strong>der</strong> aufgehoben.<br />
»Drei Tage genügten, um zur Vernunft zu kommen«, triumphiert Suchanow. Ein<br />
unbegründeter Triumph! Die Presse steht nicht über <strong>der</strong> Gesellschaft. Ihre Existenzbedingungen<br />
geben in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> selbst wie<strong>der</strong>. Wenn diese den<br />
Charakter des Bürgerkrieges annimmt o<strong>der</strong> anzunehmen droht, wird keines <strong>der</strong> kämpfenden<br />
Lager die Existenz <strong>der</strong> feindlichen Presse auf dem Gebiete ihres Einflusses zulassen,<br />
wie es auch nicht die Kontrolle über Arsenale, Eisenbahnen o<strong>der</strong> Druckereien freiwillig<br />
aus <strong>der</strong> Hand gibt. Im revolutionären Kampfe ist die Presse nur eine <strong>der</strong> Waffengattungen.<br />
Das Recht auf das Wort steht jedenfalls nicht über dem Recht auf das Leben. Die<br />
<strong>Revolution</strong> jedoch eignet sich auch dieses an. Man kann als Gesetz aufstellen, revolutionäre<br />
Regierungen sind um so liberaler, um so duldsamer, um so "großmütiger" gegen die<br />
Reaktion, je nichtiger ihr Programm, je mehr sie mit <strong>der</strong> Vergangenheit verknüpft sind, je<br />
konservativer ihre Rolle ist. Und umgekehrt: Je grandioser die Aufgaben sind, je größer<br />
die Zahl <strong>der</strong> erworbenen Rechte und Interessen, die durch sie verletzt werden, um so<br />
konzentrierter ist die revolutionäre Macht, um so unverhüllter ihre Diktatur. Mag das nun<br />
gut o<strong>der</strong> schlecht sein, aber gerade auf diesen Wegen ist die Menschheit bisher vorwärtsgeschritten.<br />
Der Sowjet hatte recht, als er die Kontrolle über die Presse in seinen Händen behalten<br />
wollte. Weshalb aber hat er so leicht darauf verzichtet? Weil er überhaupt auf einen<br />
ernsten Kampf verzichtet hatte. Er schwieg sich aus über Frieden, über Grund und<br />
Boden, sogar über die Republik. Nachdem er <strong>der</strong> konservativen Bourgeoisie die Macht<br />
übergeben hatte, blieb ihm we<strong>der</strong> Anlaß, die rechte Presse zu fürchten, noch die<br />
Mögliclikeit, gegen sie zu kämpfen. Dafür aber begann die Regierung mit Hilfe des<br />
Sowjets bereits nach wenigen Monaten erbarmungslos gegen die linke Presse vorzugehen.<br />
Zeitungen <strong>der</strong> Bolschewiki wurden eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en geschlossen.<br />
Am 7. März deklamierte Kerenski in Moskau: »Nikolaus II. ist in meinen Händen...<br />
Ein Marat <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong> werde ich niemals sein... Nikolaus II. wird sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 156
unter meiner persönlichen Überwachung nach England begeben ...« Damen warfen<br />
Blumen, Studenten klatschten Beifall. Die Massen aber horchten auf Noch nie hatte eine<br />
ernste <strong>Revolution</strong>, das heißt eine solche, die was zu verlieren hatte, den gestürzten<br />
Monarchen ins Ausland gelassen. Von den Arbeitern und Soldaten gingen ununterbrochen<br />
For<strong>der</strong>ungen ein: die Romanows zu verhaften. Das Exekutivkomitee fühlte, daß<br />
man in diesem Punkte nicht spaßen dürfe.<br />
Es wurde beschlossen, die Angelegenheit <strong>der</strong> Romanows müsse <strong>der</strong> Sowjet in seine<br />
Hände nehmen: damit war offen anerkannt, daß die Regierung kein Vertrauen verdiene.<br />
Das Exekutivkomitee gab an alle Eisenbahnstrecken den Befehl, Romanow nicht durchlassen:<br />
das war es, warum <strong>der</strong> Zarenzug unterwegs umherirrt! Eines <strong>der</strong> Exekutivkomiteemitglie<strong>der</strong>,<br />
<strong>der</strong> Arbeiter Gwosdjew, ein rechtsstehen<strong>der</strong> Menschewiki, wurde entsandt,<br />
Nikolaus zu verhaften. Kerenski war desavouiert und mit ihm die Regierung. Sie trat<br />
aber nicht zurück, son<strong>der</strong>n unterwarf sich stillschweigend. Schon am 9. März berichtete<br />
Tschcheidse dem Exekutivkomitee, die Regierung hätte von dem Gedanken, Nikolaus<br />
nach England zu schicken, »Abstand« genommen. Die Zarenfamilie wurde im Winterpalais<br />
<strong>der</strong> Haft unterworfen. So stahl das Exekutivkomitee sich selbst die Macht unter dem<br />
Kissen hervor. Von <strong>der</strong> Front aber kamen immer eindringlichere For<strong>der</strong>ungen: den<br />
ehemaligen Zaren in die Peter-Paul-Festung überzuführen.<br />
<strong>Revolution</strong>en bedeuteten stets Besitzumschichtungen, nicht nur im Wege <strong>der</strong> Gesetzgebung,<br />
son<strong>der</strong>n auch im Wege von Expropriationen durch die Massen. Die Agrarrevolution<br />
vollzog sich in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> überhaupt nie an<strong>der</strong>s: die legale Reform ging beständig<br />
in Begleitung des roten Hahnes. In den Städten war die Rolle <strong>der</strong> Expropriation<br />
kleiner: bürgerliche <strong>Revolution</strong>en hatten nicht die Aufgabe, den bürgerlichen Besitz zu<br />
erschüttern. Doch gab es kaum eine <strong>Revolution</strong>, in <strong>der</strong> die Massen nicht für allgemeine<br />
Zwecke von Gebäuden Besitz ergriffen hätten, die den Feinden des Volkes gehörten.<br />
Gleich nach <strong>der</strong> Februarumwälzung tauchten Parteien aus <strong>der</strong> Illegalität hervor, entstanden<br />
Gewerkschaftsverbände, wurden ununterbrochen Meetings abgehalten, alle Stadtbezirke<br />
hatten ihre Sowjets - alle brauchten Räume. Die Organisationen nahmen Besitz von<br />
unbewohnten Villen <strong>der</strong> zaristischen Minister o<strong>der</strong> von leerstehenden Palästen <strong>der</strong> Zarenballerinen.<br />
Die Betroffenen erhoben Beschwerde, o<strong>der</strong> die Behörden griffen aus eigener<br />
Initiative ein. Da die Aneigner aber im Grunde die Macht besaßen, die offizielle Macht<br />
hingegen ein Gespenst war, so waren die Staatsanwälte letzten Endes gezwungen, sich an<br />
das Exekutivkomitee zu wenden mit dem Ersuchen um Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> verletzten<br />
Rechte <strong>der</strong> Ballerinen, <strong>der</strong>en unkomplizierte Funktionen von den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
Dynastie aus den Volksmitteln hoch bezahlt worden waren. Wie es sich gehört, setzte<br />
man die Kontaktkommission in Bewegung, die Minister tagten, das Exekutivkomitee<br />
beriet, es wurden Delegationen zu den Aneignern geschickt - die Sache zog sich monatelang<br />
hin.<br />
Suchanow teilt mit, als "Linker" hätte er an sich nichts gegen die radikalsten gesetzgebenden<br />
Eingriffe in den Privatbesitz gehabt, dafür aber wäre er »ein heftiger Feind jeglicher<br />
gewaltsamen Aneignungen«. Mit solchen Kniffen verhüllten die linken Pechvögel<br />
ihren Bankrott. Eine wahrhaft revolutionäre Regierung wäre zweifellos imstande<br />
gewesen, durch ein rechtzeitiges Dekret über die Requisitionen von Räumlichkeiten die<br />
Zahl <strong>der</strong> chaotischen Besitzergreifungen auf ein Minimum herabzusetzen. Doch die<br />
linken Versöhnler hatten die Macht an die Eigentumsfanatiker abgetreten, um hinterher<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 157
den Massen vergeblich Achtung vor revolutionärer Gesetzlichkeit zu predigen... unter<br />
freiem Himmel. Petrograds Klima begünstigt Platonismus nicht.<br />
Die Brotschlangen gaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den letzten Antrieb. Sie waren auch die erste<br />
Gefährdung des neuen Regimes. Schon in <strong>der</strong> konstituierenden Sitzung des Sowjets war<br />
beschlossen worden, eine Ernährungskommission zu schaffen. Die Regierung machte<br />
sich wemg Sorgen darüber, wie die Hauptstadt zu ernähren sei. Sie war nicht abgeneigt,<br />
sie durch Hunger zu zähmen. Das Ernährungsproblem fiel auch späterhin dem Sowjet zu.<br />
Zu seiner Verfügung standen Nationalökonomen und Statistiker mit einiger praktischer<br />
Erfahrung, die früher im Dienste wirtschaftlicher und administrativer Organe <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie gewesen waren. In den meisten Fällen waren das Menschewiki des rechten<br />
Flügels, wie Gromann und Tscherewanin, o<strong>der</strong> ehemalige weit nach rechts gerückte<br />
Bolschewiki, wie Basarow und Awilow. Aber kaum von Angesicht zu Angesicht vor das<br />
Ernährungsproblem <strong>der</strong> Hauptstadt gestellt, waren sie durch die ganze Situation gezwungen,<br />
radikalste Maßnahmen zur Bändigung <strong>der</strong> Spekulation und zur Organisierung des<br />
Marktes vorzuschlagen. In einer Reihe von Sitzungen des Sowjets wurde ein ganzes<br />
System von Maßnahmen »des Kriegssozialismus« bestätigt, das die Proklamierung aller<br />
Brotvorräte als Staatsgut, Festsetzung von Höchstpreisen für Brot entsprechend ebensolchen<br />
Preisen für Industrieprodukte, staatliche Produktionskontrolle und geordneten<br />
Warenaustausch mit dem Dorfe zum Inhalt hatte. Die Führer des Exekutivkomitees<br />
wechselten besorgte Blicke; da sie nichts vorzuschlagen wußten, schlossen sie sich den<br />
radikalen Resolutionen an. Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kontaktkommission übermittelten sie dann<br />
verlegen <strong>der</strong> Regierung. Die Regierung versprach, die Sache zu studieren. Aber we<strong>der</strong><br />
Fürst Lwow noch Gutschkow noch Konowalow hatten Lust zu kontrollieren, zu requirieren,<br />
sich selbst und ihre Freunde einzuschränken. Alle wirtschaftlichen Verfügungen des<br />
Sowjets zerschellten an dem passiven Wi<strong>der</strong>stand des Staatsapparates, soweit sie nicht<br />
durch die lokalen Sowjets eigenmächtig verwirklicht wurden. Die einzige praktische<br />
Maßnahme, die <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet auf dem Gebiete <strong>der</strong> Ernährung durchgeführt<br />
hatte, bestand in <strong>der</strong> Einschränkung des Konsumenten durch eine feste Ration: an<strong>der</strong>thalb<br />
Pfund Brot für physische Arbeiter, ein Pfund für die übrigen. Allerdings brachte<br />
diese Einschränkung noch fast keine An<strong>der</strong>ungen in das reale Ernährungsbudget <strong>der</strong><br />
Hauptstadtbevölkerung: - ein Pfund beziehungsweise an<strong>der</strong>thalb Pfund - es läßt sich<br />
leben. Das Elend täglichen Hungerns steht noch bevor. Die <strong>Revolution</strong> wird gezwungen<br />
sein, nicht monate-, son<strong>der</strong>n jahrelang den Riemen am eingefallenen Leibe enger und<br />
enger zu ziehen. Sie wird diese Prüfung ertragen. Im Augenblick quält sie nicht Hunger,<br />
son<strong>der</strong>n die Ungewißheit, die Unbestimmtheit des Kurses, die Unsicherheit vor dem<br />
morgigen Tag. Ökonomische Schwierigkeiten, verschärft durch 32 Kriegsmonate,<br />
klopfen an Türen und Fenster des neuen Regimes. Zerrüttung des Transports, Mangel an<br />
verschiedenen Arten von Rohstoffen, Abgenutztheit eines großen Teiles des Inventars,<br />
bedrohliche lnflation, Desorganisation des Warenumsatzes, das alles erfor<strong>der</strong>t kühne und<br />
unaufschiebbare Maßnahmen. Während sie auf <strong>der</strong> ökonomischen Linie zu diesen<br />
gelangten, machten die Versöhnler die Durchführung politisch unmöglich. Jedes<br />
Wirtschaftsproblem, dem sie sich verschlossen, verwandelte sich in eine Verurteilung <strong>der</strong><br />
Doppelhenschaft, und je<strong>der</strong> Beschluß, den sie unterzeichnet hatten, verbrannte ihnen<br />
unerträglich die Finger.<br />
Zu einer großen Nachprüfung <strong>der</strong> Kräfte und Beziehungen wurde die Frage des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 158
8-Stunden-Tages. Der Aufstand hat gesiegt, doch <strong>der</strong> Generalstreik geht weiter. Die<br />
Arbeiter sind ernstlich <strong>der</strong> Meinung, die Än<strong>der</strong>ung des Regimes müsse eine Än<strong>der</strong>ung<br />
auch in ihr Schicksal bringen. Das erregt sofort Besorgnis bei den neuen Herrschern,<br />
Liberalen wie <strong>Sozialisten</strong>. Patriotische Parteien und Zeitungen erheben den Ruf: »Soldaten<br />
in die Kasernen, Arbeiter an die Werkbank!« Also bleibt alles beim alten? fragen die<br />
Arbeiter. Bis auf weiteres, antworten verlegen die Menschewiki. Doch die Arbeiter<br />
begreifen: wenn es nicht sofort Än<strong>der</strong>ungen gibt, später erst recht nicht. Die Sache mit<br />
den Arbeitern zu regeln, überläßt die Bourgeoisie den <strong>Sozialisten</strong>. Sich darauf berufend,<br />
daß <strong>der</strong> errungene Sieg »die Position <strong>der</strong> Arbeiterklasse in ihrem revolutionären Kampfe<br />
in genügendem Maße gesichert hat« - und in <strong>der</strong> Tat: stehen nicht liberale Gutsbesitzer<br />
an <strong>der</strong> Macht? -, beschließt das Exekutivkomitee am 5. März, die Arbeit im Petrogra<strong>der</strong><br />
Rayon wie<strong>der</strong> aufzunehmen. Arbeiter an die Werkbank! So stark war die Macht des<br />
gepanzerten Egoismus <strong>der</strong> gebildeten Klassen, <strong>der</strong> Liberalen gemeinsam mit ihren <strong>Sozialisten</strong>.<br />
Diese Menschen glaubten, daß Millionen Arbeiter und Soldaten, die sich unter<br />
dem unerbittlichen Druck von Unzufriedenheit und Hoffnung zum Aufstand erhoben<br />
hatten, sich nach dem Siege gehorsam mit den alten Lebensbedingungen bescheiden<br />
würden. Aus Geschichtsbüchern hatten diese Führer die Überzeugung gewonnen, so sei<br />
es auch in früheren <strong>Revolution</strong>en geschehen. Aber nein, so war es sogar in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
nie gewesen. Wurden die Werktätigen in den alten Stall zurückgetrieben, so nur<br />
auf Umwegen, durch eine Reihe von Nie<strong>der</strong>lagen und Überlistungen. Die grausame<br />
soziale Kehrseite politischer Umwälzungen hatte Marat scharf empfunden. Deshalb ist er<br />
auch von den offiziellen Geschichtsschreihern so verleumdet worden. »Die <strong>Revolution</strong><br />
wird vollzogen und gestützt nur von den unteren Klassen <strong>der</strong> Gesellschaft, von all den<br />
Elenden, die <strong>der</strong> schamlose Reichtum als Canaille verachtet und die von den Römern,<br />
mit dem diesen eigenen Zynismus, einst Proletarier genannt wurden«, schrieb Marat<br />
einen Monat vor dem Umsturz des 10. August 1792. Was gibt nun die <strong>Revolution</strong> den<br />
Elenden? »Nachdem die Bewegung anfangs einen gewissen Erfolg erreicht hat, erweist<br />
sie sich schließlich als besiegt; es fehlt ihr stets noch an Wissen, Festigkeit, Mitteln,<br />
Waffen, Führern, an einem bestimmten Aktionsplan; sie bleibt schutzlos gegen die<br />
Verschwörer, welche Erfahrung, Geschicklichkeit und Schlauheit besitzen.« Ist es da<br />
verwun<strong>der</strong>lich, daß Kerenski kein Marat <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong> sein wollte?<br />
Einer <strong>der</strong> ehemaligen <strong>russischen</strong> Industriekapitäne, W. Auerbach, erzählt mit Entrüstung,<br />
daß »die Hefe die <strong>Revolution</strong> etwa wie einen Karneval verstanden hat: das Dienstmädchen,<br />
zum Beispiel, verschwand für ganze Tage, ging mit roten Schleifen spazieren,<br />
fuhr Auto, kehrte erst gegen Morgen heim; um sich zu waschen und wie<strong>der</strong> auf den<br />
Bummel zu gehen«. Es ist bemerkenswert, daß <strong>der</strong> Entlarver, <strong>der</strong> es unternimmt, die<br />
demoralisierende Wirkung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu zeigen, das Benehmen des Dienstmädchens<br />
in jenen Zügen schil<strong>der</strong>t, die, vielleicht außer <strong>der</strong> roten Schleife, am besten das Alltagsleben<br />
einer bürgerlichen Patrizierin wie<strong>der</strong>geben. Ja, die Unterdrückten nehmen die<br />
<strong>Revolution</strong> wie einen Festtag auf, o<strong>der</strong> wie den Vorabend eines Festtages, und die erste<br />
Regung <strong>der</strong> durch sie geweckten Haussklavinnen besteht eben darin, das Joch <strong>der</strong> täglichen,<br />
erniedrigenden, beklemmenden, ausweglosen Unfreiheit abzuschwächen. Die<br />
Arbeiterklasse in ihrer Gesarntheit konnte und wollte sich nicht bloß mit den roten<br />
Schleifen allein, als Siegessymbol für an<strong>der</strong>e, abfinden. In den Betrieben Petrograds<br />
herrschte Erregung. Eine nicht geringe Anzahl von Betrieben wi<strong>der</strong>setzte sich offen den<br />
Beschlüssen des Sowjets. An die Werkbänke zu gehen sind die Arbeiter freilich bereit,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 159
denn sie sind dazu gezwungen; doch unter welchen Bedingungen? Die Arbeiter for<strong>der</strong>ten<br />
den 8-Stunden-Tag. Die Menschewiki beriefen sich auf das Jahr 1905, wo die Arbeiter<br />
auf dem Wege <strong>der</strong> Gewalt den 8-Stunden-Tag einzuführen versucht und eine Nie<strong>der</strong>lage<br />
erlitten hatten: »Der Kampf auf zwei Fronten - gegen Reaktion und Kapitalisten - geht<br />
über die Kräfte des Proletariats.« Das war ihre zentrale Idee. Allgemein gesprochen,<br />
anerkannten die Menschewiki für die Zukunft die Unvermeidlichkeit eines Bruches mit<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie. Doch dies rein theoretische Bekennmis verpflichtete sie zu nichts. Sie<br />
meinten, man dürfe den Bruch nicht forcieren. Da aber die Bourgeoisie nicht durch<br />
leidenschaftliche Phrasen <strong>der</strong> Redner und Journalisten in das Lager <strong>der</strong> Reaktion zurückgeworfen<br />
wird, son<strong>der</strong>n durch die selbständige Bewegung <strong>der</strong> werktätigen Klassen,<br />
wi<strong>der</strong>setzten sich die Menschewiki aus allen Kräften dem ökonomischen Kampfe <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Bauern. »Für die Arbeiterklasse«, lehrten sie, »stehen jetzt nicht die sozialen<br />
Fragen auf dem ersten Platz. Sie erkämpft sich jetzt die politische Freiheit.« Worin<br />
jedoch diese Freiheit bestand, konnten die Arbeiter nicht begreifen. Sie wollten vor allern<br />
etwas Freiheit für ihre Muskeln und Nerven. Und sie bedrängten die Unternehmer.<br />
Welche Ironie: gerade am 10. März, als die menschewistische Zeitung schrieb, <strong>der</strong><br />
8-Stunden-Tag stehe nicht auf <strong>der</strong> Tagesordnung, erklärte die Vereinigung <strong>der</strong> Fabrikanten,<br />
die am Vorabend bereits gezwungen gewesen war, mit dem Sowjet in offizielle<br />
Verhandlungen zu treten, ihre Zustimmung zur Einführung des 8-Stunden-Tages und zur<br />
Bildung von Fabrikkomitees. Die Industriellen bewiesen mehr Weitsicht als die Strategen<br />
des Sowjets. Das ist nicht verwun<strong>der</strong>lich: in den Fabriken standen die Unternehmer<br />
von Angesicht zu Angesicht den Arbeitern gegenüber, die mindestens in <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Betriebe, darunter vorwiegend <strong>der</strong> größten, nach 8-stündiger Arbeit einmütig<br />
die Werkbänke verließen. Sie nahmen sich selbst, was ihnen Regierung und Sowjet<br />
versagten. Als die liberale Presse gerührt die Geste <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Industriellen vom 10.<br />
März 1917 mit <strong>der</strong> Geste des französischen Adels vom 4. August 1789 verglich, war sie<br />
<strong>der</strong> historischen Wahrheit viel näher, als sie es selbst geglaubt haben mag: ähnlich den<br />
Feudalen am Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts handelten die <strong>russischen</strong> Kapitalisten unter den<br />
Schlägen des Zwanges und hofften durch eine vorübergehende Konzession in die Lage<br />
zu kommen, später das Verlorene wie<strong>der</strong> einzuholen. Unter Verletzung <strong>der</strong> offiziellen<br />
Lüge gestand ein kadettischer Publizist offen: »Zum Unglück <strong>der</strong> Menschewiki haben die<br />
Bolschewiki die Vereinigung <strong>der</strong> Fabrikanten durch Terror bereits gezwungen, sich mit<br />
<strong>der</strong> sofortigen Einführung des 8-Stunden-Tages einverstanden zu erklären.« Worin <strong>der</strong><br />
Terror bestand, wissen wir schon. Die Arbeiterbolschewiki nahmen in dieser Bewegung<br />
zweifellos den ersten Platz ein. Und wie<strong>der</strong>um ging, wie in den entscheidenden Tagen<br />
des Februar, die erdrückende Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter mit ihnen.<br />
Mit sehr gemischten Gefühlen registrierte <strong>der</strong> von den Menschewiki geleitete Sowjet<br />
den gewaltigen Sieg, <strong>der</strong> eigentlich gegen ihn errungen worden war. Die beschämten<br />
Führer mußten jedoch einen Schritt weitergehen und <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
vorschlagen, noch vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung ein Dekret über den 8-Stunden-Tag<br />
für das ganze Land zu erlassen. Nach einer Übereinkunft mit den Unternehmern<br />
weigerte sich aber die Regierung, in Erwartung besserer Tage, die ihr ohne jeglichen<br />
Nachdruck gestellte For<strong>der</strong>ung zu erfüllen.<br />
Im Moskauer Bezirk begann <strong>der</strong> gleiche Kampf, nur nahm er einen schleichen<strong>der</strong>en<br />
Charakter an. Auch hier verlangte, entgegen dem Wi<strong>der</strong>stande <strong>der</strong> Arbeiter, <strong>der</strong> Sowjet<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 160
die Wie<strong>der</strong>aufnahme <strong>der</strong> Arbeit. In einer <strong>der</strong> größten Fabriken erhielt die Resolution<br />
gegen den Abbruch des Streiks 7.000 von 13.000 Stimmen. So ungefähr reagierten auch<br />
die an<strong>der</strong>en Betriebe. Am 10. März wie<strong>der</strong>holte <strong>der</strong> Sowjet den Beschluß, wonach die<br />
Arbeiter sofort in die Betriebe zurückgehen sollten. Obwohl daraufhin in den meisten<br />
Fabriken die Arbeit aufgenommen wurde, entbrannte fast überall <strong>der</strong> Kampf um die<br />
Verkürzung des Arbeitstages. Die Arbeiter korrigierten ihre Führer durch die Tat. Der<br />
sich lange sträubende Moskauer Sowjet war schließlich, am 21. März, gezwungen, durch<br />
einen eigenen Beschluß den 8-Stunden-Tag einzuführen. Die Industriellen unterwarfen<br />
sich unverzüglich. In <strong>der</strong> Provinz dauerte <strong>der</strong> Kampf noch bis in den April hinein. Fast<br />
überall bremsten die Sowjets anfangs die Bewegung und wirkten ihr entgegen; später<br />
traten sie, unter dem Druck <strong>der</strong> Arbeiter, mit den Unternehmern in Verhandlung; wo<br />
diese ihre Zustimmung verweigerten, waren die Sowjets gezwungen, den 8-Stunden-Tag<br />
eigenmächtig zu dekretieren. Welche Bresche im System!<br />
Die Regierung hielt sich absichtlich beiseite. Inzwischen wurde, dirigiert von den<br />
liberalen Führern, eine wütende Kampagne gegen die Arbeiter eröffnet. Um sie mürbe zu<br />
machen, beschloß man, die Soldaten gegen sie aufzuhetzen. Eine Verkürzung des<br />
Arbeitstages bedeutete doch Schwächung <strong>der</strong> Front. Dürfe man etwa während des<br />
Krieges nur an sich denken? Würden etwa in den Schützengräben die Stunden gezählt?<br />
Wenn die besitzenden Klassen den Weg <strong>der</strong> Demagogie beschreiten, machen sie vor<br />
nichts halt. Die Agitation nahm einen wüsten Charakter an und wurde bald in die Schützengräben<br />
übertragen. Der Soldat Pirejko gesteht in seinen Fronterinnerungen, daß die<br />
Agitation, hauptsächlich von neugebackenen <strong>Sozialisten</strong> aus dem Offiziersstande geführt,<br />
nicht ohne Wirkung blieb. »Aber das ganze Pech des Offiziersstandes, <strong>der</strong> es versuchte,<br />
die Soldaten gegen die Arbeiter aufzuhetzen, bestand darin, daß sie Offiziere waren. Zu<br />
frisch war noch in <strong>der</strong> Erinnerung eines jeden Soldaten, was früher <strong>der</strong> Offizier bedeutet<br />
hatte.« Den schärfsten Charakter nahm die Arbeiterhetze in <strong>der</strong> Hauptstadt an. im Verein<br />
mit dem Kadettenstab fanden die Industriellen unbeschränkte Mittel und Kräfte für die<br />
Agitation in <strong>der</strong> Garnison. »Um den 20. herum«, erzählt Suchanow, »konnte man an<br />
allen Straßenecken, in den Straßenbahnen, an jedem öffentlichen Platz Arbeiter und<br />
Soldaten in wütendem Wortgefecht miteinan<strong>der</strong> antreffen.« Es kam auch zu Schlägereien.<br />
Die Arbeiter begriffen die Gefahr und wandten sie geschickt ab.<br />
Es genügte ihnen, zu diesem Zwecke die Wahrheit zu erzählen, die Zahlen <strong>der</strong> Kriegsgewinne<br />
zu nennen, den Soldaten die Betriebe und Werkstätten mit ihrem Maschinenlärm,<br />
höllischen Flammen <strong>der</strong> Öfen zu zeigen - ihre ewige Front, an <strong>der</strong> sie ungezählte<br />
Opfer brachten. Auf Initiative <strong>der</strong> Arbeiter begannen regelmäßige Besuche <strong>der</strong> Betriebe<br />
durch Garnisonteile, beson<strong>der</strong>s jener Betriebe, die für die Landesverteidigung arbeiteten.<br />
Der Soldat sah und hörte, <strong>der</strong> Arbeiter zeigte und erklärte. Die Besuche endeten mit<br />
feierlichen Verbrü<strong>der</strong>ungen. Die sozialistischen Zeitungen veröffentlichten zahlreiche<br />
Resolutionen von Truppenteilen über <strong>der</strong>en unverbrüchliche Solidarität mit den Arbeitern.<br />
Um die Mitte des Monats April verschwand <strong>der</strong> Konfliktgegenstand restlos aus den<br />
Spalten <strong>der</strong> Zeitungen. Die bürgerliche Presse verstummte. So errangen die Arbeiter nach<br />
dem ökonomischen einen politischen und moralischen Sieg.<br />
Die mit dem Kampf um den 8-Stunden-Tag verbundenen Ereignisse waren für die<br />
ganze weitere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von großer Bedeutung. Die Arbeiter gewannen<br />
einige freie Stunden in <strong>der</strong> Woche für Lektüre, Versammlungen, aber auch für<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 161
Gewehrübungen, die mit <strong>der</strong> Schaffung <strong>der</strong> Arbeitermiliz einen geordneten Charakter<br />
bekamen. Nach einer so krassen Lehre fingen die Arbeiter an, sich die Sowjetleiter näher<br />
zu besehen. Die Autorität <strong>der</strong> Menschewiki hatte eine ernstliche Einbuße erlitten. Die<br />
Bolschewiki befestigten sich in den Betrieben, teils auch in den Kasernen. Der Soldat<br />
wurde aufmerksamer nachdenklicher, vorsichtiger; er begrift daß ihm jemand auf-lauere.<br />
Die verräterische Absicht <strong>der</strong> Demagogie wandte sich gegen <strong>der</strong>en Inspiratoren. Statt<br />
Entfremdung und Feindschaft entstand eine innigere Zusammenschweißung <strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten.<br />
Trotz des Kontaktidylls haßte die Regierung den Sowjet, seine Führer, seine Bevormundung.<br />
Sie bewies es bei <strong>der</strong> ersten sich bietenden Gelegenheit. Da <strong>der</strong> Sowjet reine<br />
Regierungsfunktionen ausübte, und zwar auf eigenes Ersuchen <strong>der</strong> Regierung, sobald es<br />
hieß, die Massen im Zaume zu halten, kam das Exekutivkomitee um einen bescheidenen<br />
Unkostenzuschuß ein. Die Regierung lehnte ab und beharrte, trotz wie<strong>der</strong>holten<br />
Drängens des Sowjets, bei ihrer Weigerung: sie könne einer "Privatorganisation" keine<br />
Staatsmittel bewilligen. Der Sowjet schwieg. Das Budget des Sowjets belastete die<br />
Arbeiter, die nicht müde wurden, Geldsammlungen für die Bedürfnisse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
zu veranstalten.<br />
Indes wahrten beide Parteien, Liberale und <strong>Sozialisten</strong>, den Schein restloser gegenseitiger<br />
Freundschaft. Auf <strong>der</strong> Allrussisehen Konierenz <strong>der</strong> Sowjets wurde das Vorhandensein<br />
einer Doppelmacht für eine Erfindung erklärt. Kerenski versicherte den Ddegierten<br />
<strong>der</strong> Armee, zwischen Regierung und Sowjet bestehe völlige Einigkeit über Aufgaben und<br />
Ziele. Nicht min<strong>der</strong> eifrig bestritten Zeretelli, Dan und an<strong>der</strong>e Sowjethäupter die<br />
Existenz <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Mit Hilfe <strong>der</strong> Lüge suchte man ein Regime zu festigen,<br />
das auf Lüge aufgebaut war.<br />
Doch schwankte das Regime seit den ersten Wochen. Die Führer waren unermüdlich in<br />
organisatorischen Kombinationen: sie versuchten, sich gegen die Massen auf zufällige<br />
Vertreter zu stützen, auf die Soldaten gegen die Arbeiter, auf neue Dumas, Semstwos,<br />
Kooperationen gegen die Sowjets, auf die Provinz gegen die Hauptstadt und zum Schluß<br />
auf die Offiziere gegen das Volk.<br />
Die Sowjetform enthält keinerlei mystische Kraft. Sie ist durchaus nicht von den<br />
Fehlern einer jeden Vertretungsform frei, die unvermeidlich bleiben, solange diese selbst<br />
unvermeidlich ist. Aber ihre Stärke besteht darin, daß sie diese Fehler auf das äußerste<br />
herabmin<strong>der</strong>t. Man kann mit Bestimmtheit sagen - und die Erfahrung wird das bald<br />
bestätigen -, daß jede an<strong>der</strong>e die Massen atomisierende Vertretung in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
<strong>der</strong>en wirklichen Willen unvergleichlich schlechter und mit weitaus größerer Verspätung<br />
zum Ausdruck gebracht haben würde. Von allen revolutionären Vertretungsformen ist<br />
<strong>der</strong> Sowjet die biegsamste, unmittelbarste und klarste. Aber, doch ist es nur eine Form.<br />
Sie kann nicht mehr geben, als die Massen in jedem gegebenen Augenblick fähig sind, in<br />
sie hineinzulegen. Dafür aber kann sie den Massen das Verständnis für die begangenen<br />
Fehler und <strong>der</strong>en Richtigstellung erleichtern. Darin eben bestand eine <strong>der</strong> wichtigsten<br />
Bürgschaften für die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Wie aber waren die politischen Perspektiven des Exekutivkomitees? Es ist fraglich, ob<br />
einer seiner Führer bis zu Ende durchdachte Perspektiven besaß. Suchanow versicherte<br />
später, daß, nach seinem Plan, die Macht nur für eine kurze Frist an die Bourgeoisie<br />
abgetreten werden sollte, bis die Demokratie, stärker geworden, diese Macht umso siche-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 162
er übernehmen könne. Doch diesean sich naive Konstruktion hat einen durchsichtig<br />
retrospektiven Charakter. Jedenfalls wurde sie seinerzeit von niemandem formuliert.<br />
Unter <strong>der</strong> Leitung Zeretellis hörten zwar die Schwankungen des Exekutivkomitees nicht<br />
auf, wurden aber in ein System gebracht. Zeretelli verkündete offen, ohne eine feste<br />
bürgerliche Macht drohe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>der</strong> unabwendbare Untergang. Die Demokratie<br />
müsse sich darauf beschränken, auf die liberale Bourgeoisie einen Druck auszuüben, und<br />
sich hüten, durch eine unvorsichtige Handlung sie in das Lager <strong>der</strong> Reaktion zu stoßen;<br />
im Gegenteil, sie müsse die liberale Bourgeoisie, insoweit diese die Errungenschaften <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> festigen werde, unterstützen. Letzten Endes mußte dieses unbestimmte<br />
Regime auf eine bürgerliche Republik mit den <strong>Sozialisten</strong> als parlamentarischer Opposition<br />
hinauslaufen.<br />
Einen Stein des Anstoßes bildete für die Führer weniger die Perspektive als das<br />
laufende Aktionsprogramm. Die Versöhnler versprachen den Massen, auf dem Wege des<br />
"Drucks" von <strong>der</strong> Bourgeoisie eine demokratische Innen- und Außenpolitik zu erkämpfen.<br />
Zweifellos haben in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> die herrschenden Klassen mehr als einmal unter<br />
dem Druck <strong>der</strong> Volksmassen Konzessionen gemacht. Aber <strong>der</strong> "Druck" bedeutete letzten<br />
Endes die Drohung, die herrschende Klasse von <strong>der</strong> Macht zu verdrängen und <strong>der</strong>en<br />
Platz einzunehmen. Gerade diese Waffe jedoch hatte die Demokratie nicht in den<br />
Händen. Sie selbst hatte freiwillig die Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert. Bei Ausbruch<br />
von Konflikten drohte nicht die Demokratie mit <strong>der</strong> Wegnahme <strong>der</strong> Macht, son<strong>der</strong>n<br />
umgekehrt die Bourgeoisie schreckte mit ihrem Verzicht auf die Macht. So lag <strong>der</strong><br />
Haupthebel <strong>der</strong> Druckmechanik in den Händen <strong>der</strong> Bourgeoisie. Das erklärt auch,<br />
weshalb die Regierung bei ihrer ganzen Ohnmacht allen ernsten Bestrebungen <strong>der</strong><br />
Sowjetspitzen mit Erfolg Wi<strong>der</strong>stand leisten konnte.<br />
Mitte April erweist sich sogar das Exekutivkomitee als ein zu breites Organ für die<br />
politischen Sakramente des führenden Kernes, <strong>der</strong> sein Gesicht endgültig den Liberalen<br />
zugewandt hatte. Es wurde ein Büro abgeson<strong>der</strong>t, ausschließlich aus rechten Vaterlandsverteidigern.<br />
Von nun an machte man große Politik im eigenen Kreise. Alles schien ins<br />
Geleise zu kommen und sich zu festigen. Zeretelli herrschte in den Sowjets uneingeschränkt.<br />
Kerenski stieg höher und höher. Aber gerade in diesem Moment begannen<br />
unten, bei den Massen, die ersten beunruhigenden Anzeichen deutlich sichtbar zu<br />
werden. »Es ist erstaunlich«, schreibt Stankewitseh, <strong>der</strong> dem Kreise Kerenskis<br />
nahestand, »daß gerade in dem Augenblick, als das Komitee sich organisierte, als das<br />
Büro, gewählt ausschließlich aus Parteien <strong>der</strong> Vaterlandsverteidigung, die Verantwortung<br />
für die Arbeit übernahm, daß gerade zu dieser Zeit das Komitee aus seinen Händen<br />
die Leitung <strong>der</strong> Massen verlor, die sich von ihm abwandten.« Erstaunlich? Nein, nur<br />
gesetzmäßig.<br />
Armee und Krieg<br />
Schon in den <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorangegangenen Monaten war die Disziplin in <strong>der</strong><br />
Armee merklich ins Wanken geraten. Man kann nicht wenige Klagen von Offizieren aus<br />
jener Zeit finden: die Soldaten benähmen sich ungebührlich gegen die Vorgesetzten, die<br />
Behandlung <strong>der</strong> Pferde, des Fiskusgutes, sogar <strong>der</strong> Waffen, sei unter je<strong>der</strong> Kritik, in den<br />
Militärzügen herrsche Unordnung. Nicht überall war die Sache gleich schlecht. Doch<br />
bewegte sie sich überall in <strong>der</strong> gleichen Richtung: dem Zerfall zu.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 163
Nun kam die Erschütterung durch die <strong>Revolution</strong> hinzu. Der Aufstand <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Garnison vollzog sich nicht nur ohne den Offiziersstand, son<strong>der</strong>n gegen ihn. In den kritischen<br />
versteckten die Kommandeure einfach die Köpfe. Der Oktobristendeputierte<br />
Sehidlowski unterhielt sich am 27. Februar mit Offizieren des Preobraschenski-Regiments,<br />
offenbar in <strong>der</strong> Absicht, <strong>der</strong>en Einstellung zur Duma herauszufühlen, aber er traf<br />
bei den Gardearistokraten völliges Unverständnis für die Geschehnisse, was übrigens<br />
vielleicht zur Hälfte Verstellung war: waren es doch alles erschrockene Monarchisten.<br />
»Wie groß war meine Verwun<strong>der</strong>ung«, berichtet Schidlowski, »als ich am nächsten<br />
Morgen auf <strong>der</strong> Straße das gesamte Preobraschenski-Regiment, in mustergultiger<br />
Ordnung in Reih und Glied marschierend, mit einem Orchester an <strong>der</strong> Spitze, ohne einen<br />
einzigen Offizier erblickte ...« Allerdings kamen einige Truppenteile ins Taurische Palais<br />
mit ihren Kommandeuren, genauer gesagt, sie führten diese mit sieh. Die Offiziere<br />
fühlten sich bei diesem Festzug in <strong>der</strong> Lage von Gefangenen. Gräfin Kleinmichel, die als<br />
Verhaftete diese Szenen beobachtet hat, drückt sich bestimmter aus: die Offiziere ähnelten<br />
Hammeln, die man zur Schlachtbank führt.<br />
Die Februarrevolution hat die Trennung zwischen Soldaten und Offizieren nicht<br />
geschaffen, sie hat sie nur aufgedeckt. Im Bewußtsein <strong>der</strong> Soldaten war <strong>der</strong> Aufstand<br />
gegen die Monarchie zuallererst ein Aufstand gegen die Vorgesetzten. »Seit dem Morgen<br />
des 28. Februar«, erinnert sich <strong>der</strong> Kadett Nabokow, <strong>der</strong> in jenen Tagen Offiziersuniform<br />
trug, »war es gefährlich, auszugehen, weil man den Offizieren die Achselstücke<br />
herunterriß.« So sah <strong>der</strong> erste Tag des neuen Regimes in <strong>der</strong> Garnison aus!<br />
Die erste Sorge des Exekutivkomitees war, die Soldaten mit den Offizieren zu versöhnen.<br />
Das bedeutete nichts an<strong>der</strong>es, als die Truppenteile wie<strong>der</strong> den alten Kommandeuren<br />
zu unterstellen. Die Rückkehr <strong>der</strong> Offiziere zu den Regimentern sollte, nach Suchanows<br />
Worten, die Armee vor »allgemeiner Anarchie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> finsteren und<br />
zersetzenden Soldateska« bewahren. Wie die Liberalen, fürchteten diese <strong>Revolution</strong>äre<br />
die Soldaten und nicht die Offiziere. Indes erwarteten die Arbeiter gemeinsam mit <strong>der</strong><br />
"finsteren Soldateska" alles Übel gerade von seiten <strong>der</strong> glanzvollen Offiziere. Die<br />
Versöhnung war deshalb nicht von Dauer.<br />
Stankewitseh schil<strong>der</strong>t das Verhalten <strong>der</strong> Soldaten gegenüber den nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />
zu ihnen zurückgekehrten Offizieren in folgenden Zügen: »Es stellte sich heraus, daß die<br />
Soldaten, die unter Verletzung <strong>der</strong> Disziplin nicht nur ohne Offiziere, son<strong>der</strong>n ... in<br />
vielen Fällen trotz <strong>der</strong> Offiziere die Kasernen verlassen und jene Vorgesetzten, die ihre<br />
Pflicht erfüllten, sogar getötet, ein großes Heldenstück <strong>der</strong> Befreiung vollbracht hatten.<br />
Wenn dies eine Heldentat war und die Offiziere es jetzt selbst behaupteten, weshalb<br />
haben sie dann nicht selbst die Soldaten auf die Straße geführt - für sie wäre es doch<br />
leichter und gefahrloser gewesen? Jetzt, nach <strong>der</strong> Tatsache des Sieges, schließen sie sich<br />
<strong>der</strong> Heldentat an. Ob aber aufrichtig und für lange?« Diese Worte sind um um so lehrreicher,<br />
als ihr Autor selbst zu jenen "linken" Offizieren gehörte, die nicht mal daran<br />
gedacht hatten, die Soldaten auf die Straße zu führen.<br />
Am Morgen des 28. klärte auf dem Sampsonjewski-Prospekt <strong>der</strong> Kommandeur einer<br />
Genieabteilung seine Soldaten auf: »Die allen verhaßte Regierung ist gestürzt«, eine<br />
neue sei gebildet, mit dem Fürsten Lwow an <strong>der</strong> Spitze, folglich müsse man in alter<br />
Weise den Offizieren gehorchen. »Und jetzt - bitte je<strong>der</strong> auf seinen Platz in die<br />
Kasernen. Einige Soldaten riefen: "Zu Befehl", die Mehrzahl blickte verwirrt drein: das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 164
ist alles? Diese Szene hatte Kajurow zufällig beobachtet. Es ging ihm durch und durch.<br />
»Gestatten Sie mir das Wort, Herr Kommandeur« ... Und ohne die Erlaubnis abzuwarten,<br />
stellte Kajurow die Frage: »Ist denn wegen <strong>der</strong> Ablösung des einen Gutsbesitzers durch<br />
den an<strong>der</strong>en drei. Tage lang in den Straßen Petrograds Arbeiterblut geflossen?«<br />
Kajurow hatte auch hier den Stier bei den Hörnern gepackt. Die von ihm gestellte Frage<br />
bildete den Kampfinhalt <strong>der</strong> nächsten Monate. Der Antagonismus zwischen Soldat und<br />
Offizier war die Wi<strong>der</strong>spiegelung <strong>der</strong> Feindschaft zwischen Bauer und Gutsbesitzer.<br />
In <strong>der</strong> Provinz stellten die Kommandeure, die offenbar inzwischen Instruktionen erhalten<br />
hatten, die Ereignisse nach einem und demselben Muster dar: <strong>der</strong> Kaiser habe sich in<br />
Sorge um das Land erschöpft und sei gezwungen gewesen, die Last <strong>der</strong> Regierung<br />
seinem Bru<strong>der</strong> zu übertragen. Man las auf den Gesichtern <strong>der</strong> Soldaten, klagt ein Offizier<br />
aus einem entlegenen Winkel <strong>der</strong> Krim: Nikolaus o<strong>der</strong> Michail - alles einerlei. Als<br />
jedoch <strong>der</strong> gleiche Kommandeur gezwungen war, am nächsten Morgen dem Bataillon<br />
den Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mitzuteilen, waren die Soldaten, nach seinen Worten, wie<br />
umgewandelt. Ihre Fragen, Gesten, Blicke zeugten klar von <strong>der</strong> »beharrlichen, langwierigen<br />
Arbeit, die jemand an diesen finsteren, grauen, des Denkens ungewohnten Hirnen<br />
vollbracht hatte«. Welche Kluft zwischen den Offizieren, <strong>der</strong>en Gehirne sich so mühelos<br />
dem letzten Petrogra<strong>der</strong> Telegramm anpaßten, und diesen Soldaten, die zwar schwer,<br />
aber ehrlich ihr Verhältnis zu den Ereignissen bestimmten, sie selbständig auf <strong>der</strong><br />
schwieligen Hand wägend!<br />
Das Oberste Kommando, das die Umwälzung formell anerkannt hatte, beschloß, die<br />
<strong>Revolution</strong> überhaupt nicht an die Front durchzulassen. Der Stabschef des Hauptquartiers<br />
befahl den Oberkommandierenden <strong>der</strong> Fronten: falls auf den ihnen unterstellten Territorien<br />
revolutionäre Delegationen auftauchen sollten, die General Alexcjew <strong>der</strong> Kürze<br />
halber Banden nannte, sie unverzüglich gefangenzunehmen und an Ort und Stelle vor ein<br />
Feldgericht zu stellen. Am nächsten Tage verlangte <strong>der</strong> gleiche General im Namen<br />
"Seiner Hoheit", des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, von <strong>der</strong> Regierung »Einstellung<br />
alles dessen, was heute in den Armeebezirken des Hinterlandes geschieht«, mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten - <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Das Kommando verschleppte es solange wie möglich, die aktive Armee über die<br />
Umwälzung zu unterrichten, weniger aus Treue für die Monarchie als aus Angst vor <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. An einigen Fronten errichtete man wahre Quarantänen: Briefe aus Petrograd<br />
wurden nicht durchgelassen, ankommende Personen festgehalten, so stahl das alte<br />
Regime von <strong>der</strong> Ewigkeit einige überzählige Tage. Die Kunde von <strong>der</strong> Umwälzung<br />
erreichte die Kampflinie nicht vor dem 5.-6. März. Aber in welcher Gestalt? Wir haben<br />
es schon ungefähr vernommen: zum Höchstkommandierenden sei <strong>der</strong> Großfürst ernannt,<br />
<strong>der</strong> Zar habe zum Wohle des Vaterlandes auf den Thron verzichtet, sonst sei alles beim<br />
alten. In viele Schützengräben, vielleicht in die meisten, gelangten Nachrichten von <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> früher durch die Deutschen als aus Petrograd. Konnten bei den Soldaten da<br />
noch Zweifel bestehen, daß das gesamte Kommando eine Verschwörung zur Unterdrükkung<br />
<strong>der</strong> Wahrheit gebildet hatte? Und konnten die Soldaten auch nur für einen Pfliferling<br />
jenen Offizieren Glauben schenken, die sich nach ein bis zwei Tagen rote Schleifchen<br />
ansteckten?<br />
Der Stabschef <strong>der</strong> Schwarzmeerfiotte erzählt, die Nachncht von den Ereignissen in<br />
Petrograd habe angeblich auf die Matrosen anfangs keinen merklichen Eindruck<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 165
gemacht. Sobald aber aus <strong>der</strong> Hauptstadt die ersten sozialistischen Zeitungen angekommen<br />
waren, »verän<strong>der</strong>te sich die Stimmung <strong>der</strong> Kommandos im Nu, es begannen<br />
Meetings, aus den Löchern krochen verbrecherische Agitatoren heraus«. Der Admiral<br />
begriff einfach nichts von dem, was sich vor seinen Augen abspielte. Nicht die Zeitungen<br />
hatten den Stimmungswechsel hervorgerufen. Sie zerstreuten nur die Zweifel <strong>der</strong> Matrosen<br />
über den Ernst <strong>der</strong> Umwälzung und erlaubten ihnen, offen ihre wahren Gefühle zu<br />
zeigen, ohne Angst vor Strafe seitens <strong>der</strong> Vorgesetzten. Der gleiche Autor charakterisiert<br />
das politische Gesicht <strong>der</strong> Offiziere <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte, darunter auch sein eigenes,<br />
durch einen Satz: »Die Mehrzahl <strong>der</strong> Offiziere glaubte, das Vaterland werde ohne Zaren<br />
zugrunde gehen.« Die Demokraten glaubten, das Vaterland werde ohne die Rückkehr<br />
solcher Leuchten zu den finsteren Matrosen zugrunde gehen.<br />
Der Kommandobestand <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> Flotte son<strong>der</strong>te bald zwei Phalangen ab: die<br />
eine versuchte, ihre Posten zu behalten, indem sie sich bei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> anbie<strong>der</strong>te, in<br />
die sozialrevolutionäre Partei eintrat; ein Teil von ihnen versuchte später sogar, bei den<br />
Bolschewiki unterzukriechen. Die an<strong>der</strong>en dagegen bäumten sich auf, versuchten, <strong>der</strong><br />
neuen Ordnung Wi<strong>der</strong>stand leisten, doch schon beim nächsten scharfen Konflikt<br />
zerschellten und wurden von <strong>der</strong> Soldatenüberschwemmung weggespült. Gruppierrangen<br />
dieser Art sind so natürlich, daß sie sich in allen <strong>Revolution</strong>en wie<strong>der</strong>holen. Die unversöhnlichen<br />
Offiziere <strong>der</strong> französischen Monarchie, jene, die, nach dem Ausdruck eines<br />
von ihnen, »gekämpft hatten, solange sie konnten«, litten weniger unter dem Ungehorsam<br />
<strong>der</strong> Soldaten als unter <strong>der</strong> Liebedienerei <strong>der</strong> adeligen Kollegen. Schließlich wurde<br />
die Mehrzahl des alten Kommandobestandes abgedrängt, unterdrückt, und nur ein kleiner<br />
Teil stellte sich um und assimilierte sich. Der Offiziersstand teilte nur in dramatischerer<br />
Form das Schicksal jener Klassen, denen er entstammte.<br />
Die Armee stellt überhaupt ein Abbild <strong>der</strong> Gesellschaft dar, <strong>der</strong> sie dient, mit dem<br />
Unterschiede, daß sie den sozialen Beziehungen einen konzentrierteren Charakter<br />
verleiht, <strong>der</strong>en positive und negative Züge in ihr extremsten Ausdruck finden. Es ist kein<br />
Zufall, daß in Rußland <strong>der</strong> Krieg nicht einen Militär von Namen hervorgebracht hat. Der<br />
höchste Kommandobestand ist von einem aus seiner Mitte recht kraß charakterisiert<br />
worden. »Viel Abenteuertum, viel Unbildung, viel Egoismus, Intrigen, Karrierismus,<br />
Habsucht, Unfähigkeit und Kurzsichtigkeit«, schreibt General Salesski, »aber sehr wenig<br />
Kenntnisse, Begabungen, Bereitschaft, sich o<strong>der</strong> auch nur seinen Komfort o<strong>der</strong> seine<br />
Gesundheit zu riskieren.« Nikolai Nikolajewitsch, <strong>der</strong> erste Höchstkommandierende,<br />
zeichnete sich nur durch hohen Wuchs und allerdurchlauchtigste Grobheit aus. Die<br />
Stärke des Generals Alexejew, einer grauen Mittelmäßigkeit, des höheren Militärschreibers<br />
<strong>der</strong> Armee, war fester Hosenboden. Kornilow, den mutigen Draufgänger, hielten<br />
sogar seine Verehrer für einen Einfaltspinsel; Werchowski, Kerenskis Kriegsminister,<br />
äußerte sich später über Kornilow: ein Löwenherz mit einem Hammelkopf. Brussilow<br />
und Admiral Koltschak überragten wohl die an<strong>der</strong>en an Intelligenz, aber auch nur das.<br />
Denikin war nicht ohne Charakter, im übrigen aber ganz und gar ein Durchschnittsgeneral,<br />
<strong>der</strong> fünf o<strong>der</strong> sechs Bücher gelesen hatte. Danach folgten die Judenitseh, Dragomirow,<br />
Lukomski, mit und ohne Französisch, gewöhnliche Trinker, starke Trinker, aber<br />
völlige Nullen.<br />
Im Offizierskorps war allerdings nicht nur das adelige, son<strong>der</strong>n auch das bürgerliche<br />
und demokratische Rußland stark vertreten. Der Krieg ergoß in die Reihen <strong>der</strong> Armee zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 166
Zehntausenden die kleinbürgerliche Jugend, als Offiziere, Kriegibeamte, Arzte, Ingenieure.<br />
Diese Kreise, die fast durchweg für den Krieg bis zum Siege waren, empfanden die<br />
Notwendigkeit irgendwelcher weitgehen<strong>der</strong> Maßnahmen, unterwarfen sich jedoch letzten<br />
Endes den reaktionären Oberschichten, unter dem Zarismus - aus Angst, nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung - aus Überzeugung, - wie sich die Demokratie im Hinterlande <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
unterwarf. Der versöhnlerische Teil <strong>der</strong> Offiziere teilte später das unselige Geschick<br />
<strong>der</strong> Versöhnlerparteien, mit dem Unterschiede, daß sich die Situation an <strong>der</strong> Front unvergleichlich<br />
schärfer gestaltete. Im Exekutivkomitee konnte man sich lange Zeit durch<br />
Zweideutigkeiten halten, unter den Augen <strong>der</strong> Soldaten war das schwieriger.<br />
Mißgunst und Reibungen zwischen demokratischen und aristokratischen Offizieren,<br />
die nicht imstande waren, die Armee zu erneuern, trugen in diese nur noch ein weiteres<br />
Element <strong>der</strong> Zersetzung hinein. Die Physiognomie <strong>der</strong> Armee bestimmte das alte<br />
Rußland, und das war durch und durch die Physiognomie <strong>der</strong> Leibeigenschaft. Die<br />
Offiziere hielten in alter Weise für den besten Soldaten den gehorsamen, urteilslosen<br />
Bauernjungen, in dem das Bewußtsein <strong>der</strong> menschlichen Persönlichkeit noch nicht<br />
erwacht war. Dies bildete die "nationale" Suworowsche Tradition <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee,<br />
die sich auf primitiven Ackerbau, Leibeigenschaft und Dorfgemeinde stützte. Im 18.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t vermochte Suworow mit diesem Material noch Wun<strong>der</strong> zu wirken. Leo<br />
Tolstoi idealisierte mit <strong>der</strong> Vorliebe eines Gutsherrn in seinem Platon Karatajew den<br />
alten Typ des <strong>russischen</strong> Soldaten, <strong>der</strong> sich widcrstandslos <strong>der</strong> Natur, <strong>der</strong> Willkür und<br />
dem Tode unterwirft ("Krieg und Frieden"); Die Französische <strong>Revolution</strong>, die den glanzvollen<br />
Durchbruch des Individualismus auf allen Gebieten <strong>der</strong> menschlichen Tätigkeit<br />
ermöglichte, hat über die Suworowsche Kriegskunst ein Kreuz gemacht. Im Verlaufe des<br />
19. wie des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, in <strong>der</strong> ganzen Epoche zwischen <strong>der</strong> Französischen und <strong>der</strong><br />
Russischen <strong>Revolution</strong>, wurde die zaristische Armee, als eine Leibeigenenarmee, ständig<br />
geschlagen. Der auf diesem "nationalen" Boden herangebildete Kommandobestand<br />
zeichnete sich durch Verachtung für die Person des Soldaten aus, durch passiven Mandarinengeist,<br />
Unwissen in seinem Handwerk, völligen Mangel heroischen Elements und<br />
vollendetes Diebswesen. Die Autorität des Offiziersstandes stützte sich auf äußere<br />
Rangabzeichen, auf ein Ritual von Ehrenbezeigungen, ein System von Repressalien und<br />
sogar eine beson<strong>der</strong>s festgelegte Sprache, die nie<strong>der</strong>trächtige Mundart <strong>der</strong> Sklaverei -<br />
»Zu Befehl«, »Melde gehorsamst« -, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Soldat mit dem Offizier sprechen mußte.<br />
Indem sie die <strong>Revolution</strong> in Worten akzeptierten und <strong>der</strong> Provisorischen Regierung den<br />
Eid leisteten, unterschoben die zaristischen Marschälle einfach ihre eigenen Sünden <strong>der</strong><br />
gefallenen Dynastie. Gnädig stimmten sie dem zu, daß Nikolaus zum Sündenbock für die<br />
ganze Vergangenheit gemacht wurde. Aber weiter - nicht einen Schritt! Wie sollten sie<br />
auch begreifen, daß das moralische Wesen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> Vergeistigung jener<br />
Menschenmasse bestand, auf <strong>der</strong>en geistiger Unbeweglichkeit ihr ganzes Wohlergehen<br />
beruhte. Der zum Befehlshaber <strong>der</strong> Front ernannte Denikin erklärte Minsk: »Ich akzeptiere<br />
die <strong>Revolution</strong> ganz und vorbehaltlos. Doch betrachte ich die <strong>Revolution</strong>ierung <strong>der</strong><br />
Armee und das Hineintragen von Demagogie in ihre Reihen als ver<strong>der</strong>blich für das<br />
Land.« Eine klassische Formel des Generalsstumpfsinns! Was die Durchschnittsgenerale<br />
betrifft, so verlangten sie, nach dem Ausdruck Salesskis, nur eines: »Rührt uns nur nicht<br />
an - alles an<strong>der</strong>e ist uns gleichgültig!« Die <strong>Revolution</strong> jedoch konnte sie nicht unangerührt<br />
lassen. Abkömmlinge privilegierter Klassen, konnten sie nichts gewinnen, aber<br />
vieles verlieren. Ihnen drohte nicht nur <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Kommandoprivilegien, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 167
auch des Bodenbesitzes. Unter dem Deckmantel <strong>der</strong> Loyalität gegen die Provisorische<br />
Regierung entfesselten die reaktionären Offiziere einen um so erbitterteren Kampf gegen<br />
die Sowjets. Als sie sich davon überzeugten, daß die <strong>Revolution</strong> unaufhaltsam in die<br />
Soldatenmassen und die Erbgüter drang, erblickten sie darin einen unerhörten Treubruch<br />
- seitens Kerenskis, Miljukows und sogar Rodsjankos. Von den Bolschewiken nicht erst<br />
zu sprechen.<br />
Die Existenzbedingungen <strong>der</strong> Kriegsflotte bargen in viel höherem Maße als die <strong>der</strong><br />
Armee ständig lebendige Keime des Bürgerkrieges in sich. Das Leben <strong>der</strong> Matrosen in<br />
den Stahlkisten, in die man sie gewaltsam für einige Jahre hineinpferchte, unterschied<br />
sich sogar in <strong>der</strong> Verpflegung wenig vom Leben <strong>der</strong> Zuchthäusler. Und daneben die<br />
Offiziere, meist aus privilegierten Kreisen, die den Seedienst freiwillig zu ihrem Beruf<br />
erwählt hatten, das Vaterland mit dem Zaren, den Zaren mit sich identifizierten und im<br />
Matrosen den wertlosesten Bestandteil des Kriegsschiffes erblickten. Zwei einan<strong>der</strong><br />
fremde Welten lebten in enger Berührung, ohne einan<strong>der</strong> aus den Augen zu lassen. Die<br />
Schiffe <strong>der</strong> Flotte hatten ihren Standort in industriellen Hafenstädten mit großer Arbeiterzahl,<br />
die für Bau und Reparaturen <strong>der</strong> Schiffe notwendig war. Dazu gab es unter dem<br />
Maschinenpersonal und dem technischen Dienst auf den Schiffen selbst nicht wenig<br />
qualifizierte Arbeiter. Das waren die Bedingungen, die die Kriegsflotte in eine revolutionäre<br />
Mine verwandelten. In den Umwälzungen und militärischen Aufständen aller<br />
Län<strong>der</strong> bildeten die Matrosen den explosivsten Stoff; fast stets pflegten sie bei <strong>der</strong> ersten<br />
Gelegenheit mit ihren Offizieren grausam abzurechnen. Die <strong>russischen</strong> Matrosen bildeten<br />
keine Ausnahme.<br />
In Kronstadt war die Umwälzung von einem blutigen Rache-ausbruch gegen die<br />
Kommandeure begleitet, die aus Entsetzen vor <strong>der</strong> eigenen Vergangenheit versucht<br />
hatten, die <strong>Revolution</strong> vor den Matrosen zu verbergen. Als eines <strong>der</strong> ersten Opfer fiel <strong>der</strong><br />
Flottenkommandierende, Admiral Wieren, <strong>der</strong> wohlverdienten Haß genoß. Ein Teil des<br />
Kommandobestandes wurde von den Matrosen verhaftet. Die in Freiheit belassenen<br />
Offiziere wurden entwaffnet.<br />
In Helsingfors und Sweaborg ließ Admiral Nepenin bis zur Nacht des 4. März keine<br />
Nachrichten aus dem aufständischen Petrograd durch und bedrohte Matrosen und Soldaten<br />
mit Repressalien. Um so wüten<strong>der</strong> entbrannte hier <strong>der</strong> Aufstand, <strong>der</strong> einen Tag und<br />
eine Nacht dauerte. Viele Offiziere wurden verhaftet. Die verhaßtesten ließ man unter<br />
dem Eis schwimmen. »Urteilt man nach Skobeljews Erzählung über das Verhalten <strong>der</strong><br />
Vorgesetzten in Helsingfors und bei <strong>der</strong> Flotte«, schreibt <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> »finsteren Soldateska«<br />
keinesfalls nachsichtige Suchanow, »so muß man sich nur wun<strong>der</strong>n, daß die Exzesse<br />
hier so geringfügig waren.«<br />
Aber auch bei den Landtruppen blieb es nicht ohne blutige Abrechnung, die sich in<br />
einigen Zwischenräumen abspielte. Anfangs war es Rache für die Vergangenheit, für die<br />
nie<strong>der</strong>trächtigen Peinigungen <strong>der</strong> Soldaten. An Erinnerungen, brennend wieWunden,<br />
bestand kein Mangel. Seit 1915 war in <strong>der</strong> zaristischen Armee offiziell die Disziplinarstrafe<br />
<strong>der</strong> Auspeitschung eingeführt. Die Offiziere ließen eigenmächtig Soldaten, nicht<br />
selten Familienväter, auspeitschen. Aber es ging nicht immer nur um die Vergangenheit.<br />
Auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Sowjetkonferenz berichtete <strong>der</strong> Referent über die Lage in <strong>der</strong><br />
Armee, daß noch in <strong>der</strong> Zeit vom 5. bis 17. März Befehle über die Anwendung körperlicher<br />
Strafen gegen Soldaten erlassen wurden. Ein von <strong>der</strong> Front zuruckgekehrter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 168
Dumadeputierter erzählte, Kosaken hätten ihm in Abwesenheit <strong>der</strong> Offiziere erklärt: »Sie<br />
sprechen da von einem Befehl [offenbar <strong>der</strong> berühmte "Befehl Nr. 1", von dem noch die<br />
Rede sein wird]. Er ist gestern angekommen, und heute hat mich <strong>der</strong> Kommandant in die<br />
Fresse geschlagen.« Die Bolschewiki bemühten sich ebenso häufig wie die Versöhnler,<br />
die Soldaten von Exzessen zurückzuhalten. Doch blutige Vergeltungen waren ebenso<br />
unvermeidlich wie <strong>der</strong> Rückstoß nach dem Schuß. Jedenfalls hatten die Liberalen keinen<br />
an<strong>der</strong>en Grund, die Februarrevolution unblutig zu nennen, als den, daß sie ihnen die<br />
Macht gebracht hatte.<br />
Einige Offiziere verstanden es, scharfe Konflikte heraufzubeschwören, <strong>der</strong> roten<br />
Schleifen wegen. die in den Augen <strong>der</strong> Soldaten das Symbol des Bruches mit <strong>der</strong><br />
Vergangenheit waren. Aus diesem Anlaß wurde <strong>der</strong> Kommandeur des Sumaer Regiments<br />
getötet. Ein Korpskommandeur, <strong>der</strong> die neu eingetroffenen Reserven aufgefor<strong>der</strong>t hatte,<br />
die roten Schleifen abzunehmen, wurde von den Soldaten verhaftet und auf die Hauptwache<br />
gebracht. Nicht wenige Zusammenstöße gab es auch wegen <strong>der</strong> Zarenporträts, die<br />
man aus den öffentlichen Räumen nicht entfernte. War das Ergebenheit für die Monarchie?<br />
In den meisten Fällen nur Unglaube an den Bestand <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und persönliche<br />
Rückversicherung. Die Soldaten aber sahen nicht ohne Grund hinter den Porträts das<br />
lauernde Gespenst des alten Regimes.<br />
Nicht überlegte Maßnahmen von oben, son<strong>der</strong>n stürmische Bewegungen von unten<br />
begründeten das neue Regime in <strong>der</strong> Armee. Die Disziplinargewalt <strong>der</strong> Offiziere war<br />
we<strong>der</strong> abgeschafft noch eingeschränkt; sie erledigte sich im Laufe <strong>der</strong> ersten Märzwochen<br />
einfach von selbst. »Es war klar«, sagt <strong>der</strong> Stabschef <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte, »hätte<br />
ein Offizier es unternommen, einem Matrosen eine Disziplinarstrafe aufzuerlegen, es<br />
wären keine Kräfte vorhanden gewesen, diese Strafe durchzuführen.« Darin besteht eines<br />
<strong>der</strong> Merkmale einer wahren Volksrevolution.<br />
Mit dem Wegfall <strong>der</strong> Disziplinargewalt offenbarte sich unverhüllt die praktische<br />
Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Offrziere. Stankewitsch, dem man we<strong>der</strong> Beobachtungsgabe noch<br />
Interesse für das Kriegshandwerk absprechen kann, gibt auch in dieser Hinsicht ein<br />
vernichtendes Urteil über den Kommandobestand: die Ausbildung vollzog sich immer<br />
noch nach den alten Statuten, die den Erfor<strong>der</strong>nissen des Krieges absolut nicht entsprachen.<br />
»Solche Übungen waren nur Proben auf Geduld und Gehorsam <strong>der</strong> Soldaten.« Die<br />
Offiziere waren selbstverständlich bestrebt, die Schuld für die eigene Unzulänglichkeit<br />
auf die <strong>Revolution</strong> abzuwälzen.<br />
Mit erbarmungsloser Abrechung schnell bei <strong>der</strong> Hand, neigten die Soldaten auch leicht<br />
zu kindlicher Vertrauensseligkeit und selbstaufopfern<strong>der</strong> Dankbarkeit. Für einen flüchtigen<br />
Augenblick erschien <strong>der</strong> Deputierte Filonenko, Geistlicher und Liberaler, den Frontsoldaten<br />
als Träger <strong>der</strong> Befreiungsideen und Seelenhirte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Alte kirchliche<br />
Vorstellungen vermischten sich wun<strong>der</strong>sam mit dem neuen Glauben. Die Soldaten trugen<br />
den Geistlichen auf Händen, hoben ihn hoch über die Köpfe, setzten ihn behutsam in den<br />
Schlitten, und er durfte später, vor Begeisterung sich überschlagend, in <strong>der</strong> Duma berichten:<br />
»Wir konnten nicht voneinan<strong>der</strong> Abschied nehmen. Sie küßten uns Hände und<br />
Füße:« Dem Deputierten schien es, als genieße die Duma bei <strong>der</strong> Armee ungeheure<br />
Autorität. In Wirklichkeit besaß Autorität die <strong>Revolution</strong>, und sie war es, die ihren<br />
blendenden Abglanz auf einzelne zufällige Figuren warf.<br />
Sie symbolische Säuberung, die Gutschkow an den Spitzen <strong>der</strong> Armee vorgenommen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 169
hatte - Absetzung einiger Dutzend Generale -, konnte die Soldaten nicht befriedigen und<br />
erzeugte gleichzeitig unter den höheren Offizieren einen Zustand <strong>der</strong> Unsicherheit. Je<strong>der</strong><br />
fürchtete, sich nicht zu bewähren, die Mehrzahl schwamm mit <strong>der</strong> Strömung, versuchte,<br />
sich einzuschmeicheln, - und machte die Faust in <strong>der</strong> Tasche. Noch schlimmer war es um<br />
den mittleren und den unteren Offiziersstand bestellt, <strong>der</strong> mit den Soldaten von<br />
Angesicht zu Angesicht zu tun hatte. Hier fand eine Säuberung seitens <strong>der</strong> Regierung<br />
überhaupt nicht statt. Auf <strong>der</strong> Suche nach legalen Wegen schrieben die Artilleristen einer<br />
Frontbatterie an das Exekutivkomitee und die Reichsduma über ihren Kommandeur:<br />
»Brü<strong>der</strong> ... wir bitten ergebenst unseren inneren Feind Wantschechasa zu entfernen.« Da<br />
sie keine Antwort bekamen, gingen die Soldaten in <strong>der</strong> Regel mit eigenen Mitteln vor:<br />
Gehorsamsverweigerung, Hinausdrängsing, sogar Verhaftungen. Erst dann schreckte die<br />
Behörde auf, entfernte die Verhafteten, versuchte manchmal, auch die Soldaten zu<br />
bestrafen, häufiger ließ sie sie straflos, um die Sache nicht noch mehr zu verwickeln. Das<br />
schuf eine unerträgliche Lage für die Offiziere, ohne Klarheit in die Lage <strong>der</strong> Soldaten zu<br />
bringen.<br />
Sogar viele aktive Offiziere, die das Schicksal <strong>der</strong> Armee ernst nahmen, betonten die<br />
Notwendigkeit einer Generalsäuberung des Kommandobestandes: an<strong>der</strong>s war, nach ihrer<br />
Versicherung, eine Erneuerung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Truppenteile undenkbar. Die<br />
Soldaten brachten den Dumadeputierten nicht weniger überzeugende Argumente vor.<br />
Waren sie früher beleidigt worden, so mußten sie bei den Vorgesetzten Beschwerde<br />
führen, die gewöhnlich unbeachtet blieb. Was wäre jetzt zu tun? Es seien doch die alten<br />
Vorgesetzten geblieben, und auch das Schicksal <strong>der</strong> Beschwerden werde also das alte<br />
bleiben. »Diese Frage war sehr schwer zu beantworten«, gesteht ein Deputierter. Indes<br />
umfaßte diese einfache Frage das ganze Schicksal <strong>der</strong> Armee und bestimmte <strong>der</strong>en<br />
Zukunft voraus.<br />
Man darf sich die Wechselbeziehungen in <strong>der</strong> Armee nicht als einheitlich auf dem<br />
gesamten Territorium des Landes, bei allen Waffengattungen und Truppenteilen, vorstellen.<br />
Nein, die Mannigfaltigkeit war sehr beträchtlich. Reagierten die Matrosen <strong>der</strong> Baltischen<br />
Flotte bei <strong>der</strong> ersten Kunde von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mit einem Strafgericht an den<br />
Offizieren, so nahmen nebenan, in <strong>der</strong> Garnison von Helsingfors, die Offiziere noch<br />
Anfang April in den Soldatensowjets leitende Positionen ein, und bei Paraden trat hier im<br />
Namen <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre ein achtunggebieten<strong>der</strong> General auf. Solche Gegensätze<br />
von Haß und Vertrauensseligkeit gab es nicht wenige. Aber dennoch bildete die Armee<br />
ein System verbundener Gefäße, und die politischen Stimmungen <strong>der</strong> Soldaten und<br />
Matrosen gravitierten nach einer Ebene.<br />
Die Disziplin hielt sich noch einigermaßen aufrecht, solange die Soldaten mit schnellen<br />
und entschiedenen Maßnahmen rechneten. »Als aber die Soldaten sahen, daß - nach den<br />
Worten eines Frontdelegierten - alles beim alten blieb, das alte Joch, Sklaverei und<br />
Finsternis, <strong>der</strong> alte Hohn, - begannen Unruhen.« Die Natur, die nicht darauf verfallen<br />
ist, die Mehrzahl <strong>der</strong> Menschheit mit Buckeln zu versorgen, hat zum Unglück die Soldaten<br />
mit einem Nervensystem versehen. <strong>Revolution</strong>en dienen dazu, von Zeit zu Zeit an<br />
dieses doppelte Verfehlen zu erinnern.<br />
Wie an <strong>der</strong> Front, führten auch im Hinterlande zufällige Anlässe leicht zu Konflikten.<br />
Den Soldaten war »gleich allen an<strong>der</strong>en Bürgern« das Recht des freien Besuches von<br />
Theatern, Versammlungen, Konzerten usw. eingeräumt worden. Viele Soldaten deuteten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 170
das als Recht unentgeltlichen Theaterbesuches. Der Minister setzte ihnen auseman<strong>der</strong>,<br />
daß man die "Freiheit" im bildlichen Sinne verstehen müsse. Aufständische Volksmassen<br />
jedoch haben noch niemals Neigung zu Platonismus o<strong>der</strong> Kantianismus bewiesen.<br />
Das abgenutzte Gewebe <strong>der</strong> Disziplin zerriß erst allmählich, zu verschiedenen<br />
Zeitpunkten, in verschiedenen Garnisonen und verschiedenen Truppenteilen. Dem<br />
Kommandeur schien nicht selten, in seinem Regiment o<strong>der</strong> in seiner Division sei alles<br />
wohlbestellt gewesen bis zur Ankunft <strong>der</strong> Zeitungen o<strong>der</strong> eines Agitators von außen. In<br />
Wirklichkeit vollzog sich eine Arbeit tiefschürfen<strong>der</strong> und unabwendbarer Kräfte.<br />
Der liberale Deputierte Januschkewitsch brachte von <strong>der</strong> Front die Verallgemeinerung<br />
mit, die Desorganisation zeige sich am stärksten in den "grünen" Truppenteilen dort, wo<br />
es Bauern gäbe. »In den revolutionären Truppenteilen kommt man mit den Offizieren<br />
sehr gut aus.« In <strong>der</strong> Tat hielt sich die Disziplin am längsten auf den zwei Polen: bei <strong>der</strong><br />
privilegierten Kavallerie, bestehend aus wohlhaben<strong>der</strong>en Bauern, und bei <strong>der</strong> Artillerie,<br />
überhaupt bei den technischen Truppen, mit einem hohen Prozentsatz von Arheitern und<br />
Intellektuellen. Am längsten wi<strong>der</strong>standen die Kosaken, - Bodenbesitzer, die vor <strong>der</strong><br />
Agrarrevolution, bei welcher die Mehrzahl von ihnen nur verlieren, nicht aber gewinnen<br />
konnte, Angst hatten. Einzelne Kosakentruppenteile haben auch nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />
mehr als einmal Unterdrückungsarbeit geleistet. Im allgemeinen aber bestand <strong>der</strong> ganze<br />
Unterschied nur im Tempo und in den Fristen <strong>der</strong> Zersetzung.<br />
Der dumpfe Kampf hatte seine Fluten und Ebben. Die Offiziere versuchten, sich<br />
anzupassen. Die Soldaten begannen, wie<strong>der</strong> abzuwarten. Doch durch die vorübergehenden<br />
Mil<strong>der</strong>ungen, durch die Tage und Wochen <strong>der</strong> Kampfpause erreichte <strong>der</strong> soziale<br />
Haß, <strong>der</strong> die Armee des alten Regimes zersetzte, immer höhere Spannung. Immer häufiger<br />
zuckte er in tragischem Wetterleuchten auf. In Moskau fand in einem Zirkus eine<br />
Versammlung von Kriegsinvaliden, Soldaten und Offizieren statt. Der Redner, ein<br />
Krüppel, sprach von <strong>der</strong> Tribüne herab scharf für die Offiziere. Da erhob sich ein<br />
Protestlärm, Poltern mit Füßen, Stöcken und Krücken. »Ist es denn lange her, ihr Herren<br />
Offiziere, daß ihr die Soldaten mit Ruten und Fäusten gedemütigt habt?« Verwundete,<br />
verkrüppelte Menschen standen wie eine Wand gegeneinan<strong>der</strong>, verstümmelte Soldaten<br />
gegen verstümmelte Offiziere, Mehrheit gegen Min<strong>der</strong>heit, Krücken gegen Krücken.<br />
Diese wie ein Alpdruck wirkende Szene in <strong>der</strong> Arena des Zirkus enthielt bereits die<br />
künftige Wildheit des Bürgerkrieges.<br />
Über allen Beziehungen und Wi<strong>der</strong>sprüchen in <strong>der</strong> Armee wie im Lande schwebte die<br />
eine Frage, die man mit dem kurzen Wort Krieg bezeichnete. Vom Baltischen bis zum<br />
Schwarzen Metr, vom Schwarzen bis zum Kaspischen, und weiter in das Innere Persiens,<br />
auf <strong>der</strong> unübersehbaren Front, standen 68 Infanterie- und 9 Kavalleriekorps. Was sollte<br />
mit ihnen nun werden? Was mit dem Kriege?<br />
Auf dem Gebiete <strong>der</strong> Kriegsausrüstung war die Armee zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
bedeutend gefestigt worden. Die einheimische Produktion für den Kriegsbedarf war<br />
gestiegen, gleichzeitig hatte sich über Murmansk und Archangelsk die Zufuhr an Kriegsmaterial<br />
seitens <strong>der</strong> Alliierten verstärkt, beson<strong>der</strong>s für die Artillerie. Gewehre, Kanonen<br />
und Geschosse gab es in unvergleichlich größerer Zahl als in den ersten Kriegsjahren.<br />
Man ging an die Zusammenstellung von neuen Infanteriedivisionen. Die Elitetruppen<br />
wurden erweitert. Aus diesem Grund versuchten einige <strong>der</strong> verkrachten Feldherren später<br />
den Nachweis zu führen, daß Rußland am Vorabend des Sieges gestanden und nur die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 171
<strong>Revolution</strong> ihn verhin<strong>der</strong>t habe. Zwölf Jahre vorher hatten Kuropatkin und Linewitsch<br />
mit <strong>der</strong> gleichen Begründung behauptet, Witte habe sie gehin<strong>der</strong>t, die Japaner zu<br />
zertrümmern. In Wirklichkeit war Rußland zu Beginn des Jahres 1917 von einem Siege<br />
weiter entfernt als je. Neben <strong>der</strong> gesteigerten Kriegsausrüstung zeigte sieh Ende 1916 bei<br />
<strong>der</strong> Armee scharfer Mangel an Lebensmitteln; Typhus und Skorbut verschlangen mehr<br />
Opfer als die Schlachten. Die Zerrüttung des Transports erschwerte immer stärker die<br />
Truppenverschiebungen, und das allein schon machte strategische Kombinationen<br />
zunichte, die mit bedeutenden Umgruppierungen <strong>der</strong> Truppenmassen verbunden waren.<br />
Schließlich verurteilte <strong>der</strong> große Mangel an Pferden die Artillerie oft zum Stillstand.<br />
Doch lag die Hauptsache nicht darin: hoffnungslos war <strong>der</strong> moralische Zustand <strong>der</strong><br />
Armee. Man kann ihn so formulieren: die Armee als Armee gab es nicht mehr. Nie<strong>der</strong>lagen,<br />
Rückzüge, Abscheulichkeiten <strong>der</strong> Regierenden hatten den Geist <strong>der</strong> Truppen völlig<br />
erschüttert. Das war nicht durch administrative Maßnahmen gutzumachen, wie man auch<br />
nicht das Nervensystem des Landes verän<strong>der</strong>n konnte. Der Soldat blickte jetzt auf den<br />
Haufen <strong>der</strong> Geschosse mit gleichem Ekel wie auf einen Haufen wurmigen Fleisches: all<br />
das schien ihm überflüssig, unbrauchbar, Betrug und Diebstahl. Der Offizier konnte ihm<br />
nichts Überzeugendes sagen und wagte nicht mehr, ihm die Zähne einzuschlagen. Der<br />
Offizier wähnte sich selbst vom oberen Kommando betrogen und fühlte sich gleichzeitig<br />
nicht selten für die Oberen vor dem Soldaten verantwortlich. Die Armee war unheilbar<br />
krank. Sie war noch fähig, in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ihr Wort zu sprechen. Für den Krieg aber<br />
existierte sie nicht mehr. Niemand glaubte an den Sieg, Offiziere so wenig wie Soldaten.<br />
Niemand mehr wollte kämpfen, we<strong>der</strong> die Armee; noch das Volk.<br />
Allerdings sprach man noch in den hohen Kanzleien, wo man ein eigenes Leben lebte,<br />
automatisch von großen Operationen, in <strong>der</strong> Frühlingsoffensive, <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> türkischen<br />
Meerengen. In <strong>der</strong> Krim stellte man für diesen Zweck sogar ein großes Detachement<br />
zusammen. Offizielle Nachrichten besagten, für die Landung seien die besten<br />
Elemente <strong>der</strong> Armee ausersehen. Aus Petrograd schickte man Gardetruppen. Nach <strong>der</strong><br />
Darstellung des Offiziers jedoch, <strong>der</strong> am 25. Februar, das heißt zwei Tage vor <strong>der</strong><br />
Umwälzung, sie auszubilden begann, war das Reservematerial unter je<strong>der</strong> Kritik. Nicht<br />
die geringste Kampflust war in diesen gleichgültigen blauen, braunen und grauen Augen<br />
... »All ihre Gedanken und ihre Wünsche waren einzig und allein - Friede.«<br />
Solche und ähnliche Zeugnisse gibt es nicht wenige. Die <strong>Revolution</strong> hat nur an den<br />
Tag gebracht, was vor ihr entstanden war. Die Parole »Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg« wurde<br />
deshalb eine <strong>der</strong> Hauptparolen <strong>der</strong> Februartage. Sie ging aus von den Frauendemonstrationen,<br />
von den Arbeitern des Wyborger Bezirks und den Gardekasernen.<br />
Anfang März, bei den Rundreisen <strong>der</strong> Deputierten an <strong>der</strong> Front, wurde ihnen von<br />
Soldaten, beson<strong>der</strong>s den älteren Jahrgängen, immer wie<strong>der</strong> die Frage gestellt: »Und was<br />
sagt man über den Boden?« Die Deputierten antworteten ausweichend, die Bodenfrage<br />
werde in <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung gelöst werden. Doch da ertönte eine<br />
Stimme, die den geheimen Gedanken aller verriet: »Was Boden! Wenn ich nicht mehr da<br />
sein werde, brauche ich auch keinen Boden.« Das war <strong>der</strong> Ausgangspunkt des Soldatenprogramms<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: zuerst Frieden, dann Boden.<br />
Auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Sowjetkonferenz, Ende März, wo es nicht wenige patriotische<br />
Phrasen gab, berichtete ein Delegierter, <strong>der</strong> unmittelbar die Soldaten <strong>der</strong> Schützengräben<br />
vertrat, mit großer Aufrichtigkeit, wie die Front die Nachricht von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> aufge-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 172
nommen hatte: »Alle Soldaten sagten: Gott sei Dank, vielleicht wird es jetzt bald Frieden<br />
geben.« Die Schützengräben beauftragten diesen Delegierten, <strong>der</strong> Konferenz mitzuteilen:<br />
»Wir sind bereit, unser Leben für die Freiheit hinzugeben, aber dennoch, Genossen,<br />
wollen wir das Ende des Krieges.« Das war eine lebendige Stimme <strong>der</strong> Wirklichkeit,<br />
beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> Botschaft. »Gedulden, - wir wollen's schon ein<br />
wenig, aber, daß die oben sich mit dem Frieden beeilen!«<br />
Die zaristischen Truppen in Frankreich, das heißt in einer für sie völlig fremden<br />
Umgebung, waren von denselben Gefühlen bewegt und machten die gleichen Zersetzungsetappen<br />
durch wie die Armee in <strong>der</strong> Heimat. »Als wir hörten, daß <strong>der</strong> Zar<br />
abgedankt habe«, erklärte in <strong>der</strong> Fremde ein älterer Soldat, ein bäuerlicher Analphabet,<br />
einem Offizier, »so dachten wir uns gleich, nun heißt es auch Schluß mit dem Kriege ...<br />
hat uns doch <strong>der</strong> Zar in den Krieg geschickt ... Was nützt mir Freiheit, wenn ich weiter in<br />
den Schützengräben faulen muß?« Diese echte Soldatenphilosophie ist nicht von außen<br />
hineingetragen worden: solche einfache und überzeugende Worte kann kein Agitator<br />
ausdenken.<br />
Die Liberalen und die halbliberalen <strong>Sozialisten</strong> versuchten nachträglich, die <strong>Revolution</strong><br />
als einen patriotischen Aufstand darzustellen. Am 11. März erklärte Miljukow<br />
französischen Journalisten: »Die Russische <strong>Revolution</strong> wurde gemacht, um die Hin<strong>der</strong>nisse,<br />
die auf dem Wege zum Siege Rußlands standen, zu beseitigen.« Hier geht Heuchelei<br />
Hand in Hand mit Selbstbetrug, obwohl, wie man annehmen kann, dabei immerhin<br />
die Heuchelei größer ist. Aufrichtige Reaktionäre sahen klarer. Von Struve, Panslawist<br />
deutscher Abstammung, rechtgläubiger Lutheraner und Monarchist marxistischer<br />
Herkunft, bezeichnete, wenn auch in <strong>der</strong> Sprache reaktionären Hasses, so doch genauer<br />
die wahren Quellen <strong>der</strong> Umwälzung. »Soweit an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Volksmassen, beson<strong>der</strong>s<br />
Soldatenmassen beteiligt waren«, schrieb er, »war sie kein patriotischer Ausbruch,<br />
son<strong>der</strong>n eine eigenmächtige pogromartige Demobilisierung und direkt gegen die Fortsetzung<br />
des Krieges gerichtet, das heißt, sie wurde des Kriegsabbruchs wegen unternommen.«<br />
Neben einem richtigen Gedanken enthalten diese Worte jedoch auch eine Verleumdung.<br />
Die pogromartige Demobilisierung erwuchs in Wirklichkeit aus dem Kriege selbst.<br />
Die <strong>Revolution</strong> hat sie nicht geschaffen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil sogar unterbrochen. Die<br />
am Vorabend <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> außerordentlich häufige Desertion ließ in den ersten<br />
Wochen nach <strong>der</strong> Umwälzung nach. Die Armee wartete ab. In <strong>der</strong> Hoffnung, die <strong>Revolution</strong><br />
werde Frieden bringen, war <strong>der</strong> Soldat bereit, die Front mit seiner Schulter noch zu<br />
stützen: an<strong>der</strong>nfalls könnte ja die neue Regierung auch den Frieden nicht schließen.<br />
»Die Soldaten äußern die bestimmte Ansicht«, berichtet am 23. März <strong>der</strong> Chef einer<br />
Grenadierdivision, »daß wir uns nur verteidigen, nicht aber angreifen können.« Militärische<br />
Rapporte und politische Berichte wie<strong>der</strong>holen diesen Gedanken in verschiedenen<br />
Variationen. Der Fähnrich Krylenko, ein alter <strong>Revolution</strong>är und später Oberstkommandieren<strong>der</strong><br />
bei den Bolschewiki, bezeugt, daß die Soldaten in jener Zeit die Frage des<br />
Krieges durch die Formel lösten: »Die Front halten, keinen Angriff unternehmen.« In<br />
einer feierlichen, aber völlig aufrichtigen Sprache hieß das auch, die Freiheit verteidigen.<br />
»Man darf die Bajonette nicht in die Erde stecken!« Unter dem Einfluß verworrener<br />
und wi<strong>der</strong>spruchsvoller Stimmungen weigerten sich die Soldaten in jener Zeit nicht<br />
selten, die Bolschewiki auch nur anzuhören. Sie glaubten, vielleicht unter dem Einfluß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 173
einzelner ungeschickter Reden, die Bolschewiki kümmerten sich nicht um die Verteidigung<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und könnten die Regierung hin<strong>der</strong>n, Frieden zu schließen. Darin<br />
bekräftigten die sozialpatriorischen Zeitungen und Agitatoren sie immer mehr. Aber<br />
wenn sie auch mitunter die Bolschewiki am Sprechen hin<strong>der</strong>ten, lehnten die Soldaten<br />
doch von den ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an jeden Gedanken an eine Offensive<br />
entschieden ab. Den Hauptstadtpolitikern erschien dies als eine Art Mißverständnis, das<br />
man durch gebührenden Druck auf die Soldaten beseitigen könflte. Die Agitation für die<br />
Fortsetzung des Krieges wuchs in außerordentlichem Umfange an. Die bürgerliche<br />
Presse schil<strong>der</strong>te in Millionen von Exemplaren die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Lichte<br />
des Krieges bis mm Siege. Die Versöhnler sangen bei dieser Agitation mit, anfangs leise,<br />
dann kühner. Der Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki, sehr schwach im Augenblick <strong>der</strong><br />
Umwälzung, verkleinerte sich noch, als die Tausende Arbeiter, die wegen Streiks an die<br />
Front geschickt worden waren, die Reihen <strong>der</strong> Armee verließen. Das Streben nach<br />
Frieden fand auf diese Weise keinen offenen und klaren Ausdruck gerade dort, wo es am<br />
gespanntesten war. Den Kommandeuren und Kommissaren, die tröstende Illusionen<br />
suchten, ermöglichte diese Situation, sich über den wirklichen Stand <strong>der</strong> Dinge hinwegzutäuschen.<br />
In Artikeln und Reden aus jener Zeit gibt es häufig Behauptungen, die<br />
Soldaten verweigerten die Offensive angeblich ausschließlich aus falscher Deutung <strong>der</strong><br />
Formel "ohne Annexionen und Kontributionen" heraus. Die Versöhnler wurden nicht<br />
müde, zu beweisen, daß <strong>der</strong> Verteidigungskrieg den Angriff nicht ausschließe, ihn<br />
manchmal sogar erfor<strong>der</strong>e. Als ob es um die Scholastik ging! Eine Offensive bedeutete<br />
Wie<strong>der</strong>aufnahme des Krieges. Das abwartende Halten <strong>der</strong> Front bedeutete Waffenstillstand.<br />
Die soldatische Tbeorie und Praxis des Verteidigungskrieges war die Form <strong>der</strong><br />
stillschweigenden und späterhin auch offenen Verständigung mit den Deutschen: »Laßt<br />
uns in Ruhe, und wir werden euch in Ruhe lassen.« Mehr vermochte die Armee dem<br />
Krieg schon nicht zu geben.<br />
Die Soldaten fielen auf die kriegerischen Ermahnungen. um so weniger herein, als die<br />
reaktionären Offiziere unter dem Schein <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive sich offensichtlich<br />
bemühten, die Zügel stramm zu ziehen. Ein unter Soldaten üblicher Satz war: »Das<br />
Bajonett gegen den Deutschen, den Kolben gegen den inneren Feind.« Das Bajonett<br />
bedeutete hier jedenfalls die Verteidigung. An die Meerengen dachten die Soldaten in<br />
den Schützengräben nicht. Die Friedenssehnsucht bildete eine mächtige, unterirdische<br />
Strömung, die bald nach außen dringen sollte.<br />
Ohne zu leugnen, daß in <strong>der</strong> Armee schon vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> negative Erscheinungen<br />
"beobachtet" worden waren, versuchte Miljukow dennoch längere Zeit nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />
zu behaupten, die Armee wäre fähig gewesen, die ihr von <strong>der</strong> Entente vorgeschriebenen<br />
Aufgaben zu erfüllen. »Die bolschewistische Propaganda«, schrieb er in <strong>der</strong><br />
Eigenschaft eines Historikers, »drang nicht sogleich an die Front. Den ersten Monat<br />
o<strong>der</strong> die ersten an<strong>der</strong>thalb Monate nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> blieb die Armee gesund.« Die<br />
ganze Frage wird in <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Propaganda hetrachtet, als wäre mit dieser <strong>der</strong> historische<br />
Prozeß erschöpft. Unter dem Schein des verspäteten Kampfes gegen die Bolschewiki,<br />
denen er eine mystische Kraft zuschreibt, führt Miijukow einen Kampf gegen<br />
Tatsachen. Wir haben bereits gesehen, wie es mit <strong>der</strong> Armee in Wirklichkeit bestellt war.<br />
Jetzt wollen wir sehen, wie die Kommandeure selbst ihre Kampffähigkeit in den ersten<br />
Wochen und sogar Tagen nach <strong>der</strong> Umwälzung einschätzten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 174
Am 6. März teilt <strong>der</strong> Oberstkommandierende <strong>der</strong> Nordfront, General Russki, dem<br />
Exekutivkomitee mit, die Soldaten verweigerten den Vorgesetzten vollständig den<br />
Gehorsam; die Ankunft populärer Führer an <strong>der</strong> Front sei unbedingt notwendig, um<br />
irgendwie Beruhigung in die Armee zu bringen.<br />
Der Chef des Stabes <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte erzählt in seinen Erinnerungen: »Seit den<br />
ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war es mir klar geworden, daß man den Krieg nicht weiterführen<br />
könne, daß er verloren sei.« Der gleichen Ansicht war, nach seinen Worten, auch<br />
Koltsehak, und wenn er im Amte des Frontkommandierenden verblieb, so nur, um die<br />
Offiziere gegen Gewalttaten zu schützen.<br />
Graf Ignatjew, <strong>der</strong> einen hohen Kommandoposten bei <strong>der</strong> Garde innehatte, schrieb im<br />
März an Nabokow: Man muß sich klar Rechenschaft darüber geben, daß <strong>der</strong> Krieg zu<br />
Ende ist, daß wir nicht mehr kämpfen können und nicht kämpfen werden. Kluge Männer<br />
müßten ein Mittel ersinnen, den Krieg schmerzlos zu liquidieren, an<strong>der</strong>nfalls naht eine<br />
Katastrophe ... Gutschkow sagte damals zu Nabokow, er erhalte Briefe solcher Art in<br />
Massen.<br />
Einzelne, sehr seltene, äußerlich günstigere Urteile werden in <strong>der</strong> Regel durch ergänzende<br />
Erklärungen umgestoßen. »Der Wunsch <strong>der</strong> Truppe nach einem Sieg ist<br />
geblieben«, berichtet <strong>der</strong> Kommandierende <strong>der</strong> 2. Armee, Danilow, »bei einzelnen<br />
Truppenteilen sogar gewachsen.« Aber er vermerkt sogleich: »Die Disziplin ist<br />
gesunken... Es ist wünschenswert, Offensivaktionen so lange zu vertagen, bis die<br />
zugespitzte Situation vorüber sein wird (1-3 Monate).« Danach ein überraschen<strong>der</strong><br />
Nachtrag: »Von dem Nachschub kommen nur 50 Prozent an; wenn sie weiter so<br />
hinschmelzen und sich so undiszipliniert benehmen sollten, ist mit einer erfolgreichen<br />
Offensive nicht zu rechnen.«<br />
»Zu Defensivaktionen ist die Division durchaus fähig«, meldet <strong>der</strong> wackere Befehlshaber<br />
<strong>der</strong> 51. Infanteriedivision - und fügt sofort hinzu: »Es ist unbedingt notwendig, die<br />
Armee von dem Einfluß <strong>der</strong> Soldaten- und Arbeiterdeputierten zu befreien.« Das jedoch<br />
war nicht so einfach!<br />
Der Befehlshaber <strong>der</strong> 182. Division meldete dem Korpskommandeur: »Mit jedem Tag<br />
entstehen immer häufiger Mißverständnisse, eigentlich wegen Nichtigkeiten, aber<br />
bedrohlichen Charakters; die Soldaten, und noch mehr die Offiziere, werden immer<br />
nervöser gemacht.«<br />
Hier handelt es sich noch immer um vereinzelte, wenn auch zahlreiche Zeugnisse.<br />
Aber am 18.. März fand im Hauptquartier eine Beratung <strong>der</strong> höheren Kommandos über<br />
den Zustand <strong>der</strong> Armee statt. Die Schlußfolgerungen <strong>der</strong> zentralen Verwaltungen stimmten<br />
überein. »Die Mannschaftsauffüllung durch Abgabe <strong>der</strong> nötigen Zahl an die Front ist<br />
in den nächsten Monaten unmöglich, denn bei allen Reservetruppenteilen herrscht<br />
Gärung. Die Armee macht eine Krankheit durch. Die Beziehungen zwischen Offizieren<br />
und Soldaten in Ordnung zu bringen, wird wahrscheinlich erst in zwei bis drei Monaten<br />
gelingen. (Die Generale begreifen nicht, daß die Krankheit nur noch fortschreiten wird.)<br />
Gegenwärtig bemerkt man ein Sinken des Mutes bei den Offizieren, Gärung bei den<br />
Truppen, beträchtliche Desertionen. Die Schlagfähigkeit <strong>der</strong> Armee ist gemin<strong>der</strong>t, und es<br />
ist schwer damit zu rechnen, daß die Truppen in dieser Zeit vorwärtsgehen würden.«<br />
Schlußfolgerung: »Heute die für den Frühling vorgemerkten aktiven Operationen durch-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 175
zuführen, ist unmöglich.«<br />
In den folgenden Wochen verschlimmert sich die Lage schnell, wofür sich die Beweise<br />
endlos mehren.<br />
Ende März schreibt <strong>der</strong> Kommandierende <strong>der</strong> 5. Armee, General Dragomirow, an<br />
General Russki: »Die Kampfstimmung ist gesunken. Den Soldaten fehlt nicht nur jede<br />
Lust zum Angriff, son<strong>der</strong>n auch das einfache Ausharren in <strong>der</strong> Verteidigung ist bis zu<br />
einem Grade hinabgemin<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> den Ausgang des Krieges bedroht ... Die Politik, die<br />
alle Schichten <strong>der</strong> Armee breit erfaßt hat, ... zwingt die Masse <strong>der</strong> Truppen nur das eine<br />
zu wünschen - Abbruch des Krieges und Heimkehr.«<br />
General Lukomski, eine <strong>der</strong> Stützen des reaktionären Haupt-quartiers, sattelte,<br />
unzufrieden mit <strong>der</strong> neuen Ordnung, zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zum Korpskommandeur<br />
um und fand, nach seinem Bericht, daß die Disziplin sich nur noch bei den Artillerie- und<br />
den Elitetruppen hielte, in denen es viel Ka<strong>der</strong>offiziere und -soldaten gab. »Was die drei<br />
Infanteriedivisionen betrifft, so waren sie auf dem Wege zum völligen Zerfall.«<br />
Die Desertion, die unter dem Einfluß <strong>der</strong> Hoffnungen nach dem Umsturz abgenommen<br />
hatte, nahm unter dem Einfluß <strong>der</strong> Enttäuschung wie<strong>der</strong> zu. In einer Woche, vom 1. bis<br />
zum 7. April, desertierten, nach den Mitteilungen General Alexejews, etwa 8.000 Soldaten<br />
<strong>der</strong> Nord- und Westfront. »Mit großem Erstaunen«, schrieb er an Gutschkow, »lese<br />
ich die Berichte unverantwortlicher Männer über die "vorzügliche" Stimmung in <strong>der</strong><br />
Armee. Wozu? Die Deutschen werden wir nicht täuschen, und für uns ist es ein verhängnisvoller<br />
Selbstbetrug.«<br />
Man muß sich merken, daß es vorläufig noch nirgendwo einen Hinweis auf die<br />
Bolschewiki gibt: die Mehrzahl <strong>der</strong> Offiziere hatte sich kaum diesen seltsamen Namen<br />
gemerkt. Ist in den Rapporten von den Ursachen <strong>der</strong> Zersetzung in <strong>der</strong> Armee die Rede,<br />
so nennt man Zeitungen, Agitatoren, Sowjets, die "Politik" überhaupt, mit einem Wort,<br />
die Februarrevolution.<br />
Man begegnet noch einzelnen optimistischen Befehlshabern, die da hoffen, es werde<br />
noch alles gut werden. Es gab allerdings mehr solche, die absichtlich die Augen vor den<br />
Tatsachen verschlossen, um <strong>der</strong> neuen Macht keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.<br />
Wie auch umgekehrt eine bedeutende Zahl <strong>der</strong> Kommandeure, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> höheren,<br />
bewußt die Anzeichen des Zerfalls übertrieb, um von <strong>der</strong> Regierung entschiedene<br />
Maßnahmen zu erreichen, die sie aber selbst nicht bei Namen nennen konnten o<strong>der</strong><br />
wollten. Das wesentliche Bild bleibt unbestritten. Die Umwälzung fand eine kranke<br />
Armee vor und kleidete den Prozeß ihres unabwendbaren Zerfalls in politische Formen,<br />
die mit je<strong>der</strong> Woche eine immer unbarmherzigere Deutlichkeit bekamen. Die <strong>Revolution</strong><br />
steigerte nicht nur die leidenschaftliche Sehnsucht nach Frieden auf höchste, son<strong>der</strong>n<br />
auch den Haß <strong>der</strong> Soldatenmasse gegen den Kommandobestand und die herrschenden<br />
Klassen überhaupt.<br />
Mitte April erstattete Alexejew persönlich <strong>der</strong> Regierung Bericht über die Stimmung<br />
<strong>der</strong> Armee, wobei er sichtlich mit Farben nicht sparte. »Ich erinnere mich gut«, schreibt<br />
Nabokow, »welches Gefühl des Grauens und <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit mich erfaßte.« Es<br />
ist anzunehmen, daß bei dieser Berichterstattung, die sich ja nur auf die ersten 6 Wochen<br />
nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beziehen kann, auch Miljukow anwesend war; es ist sehr<br />
wahrscheinlich, daß gerade er Alexejew auftreten ließ, um seinen Kollegen und durch sie<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 176
den sozialistischen Freunden Angst einzujagen. Gutschkow hatte tatsächlich danach eine<br />
Unterredung mit Vertretern des Exekutivkomitees. »Es haben katastrophale Verän<strong>der</strong>ungen<br />
begonnen«, klagte er. »Es sind Fälle von offenem Ungehorsam registriert worden.<br />
Befehle werden zuerst in Armeeorganisationen und auf offenen Meetings diskutiert. Von<br />
aktiven Operationen will man in solchen Truppenteilen nichts hören... Wenn Menschen<br />
hoffen, es werde morgen Frieden sein«, sagte nicht unbereehtigt Gutschkow, »dann kann<br />
man nicht erwarten, daß sie heute geneigt sein werden, ihren Kopf zu lassen.« Daraus<br />
zog <strong>der</strong> Kriegsminister die Schlußfolgerung: »Man muß aufhören, laut vom Frieden zu<br />
sprechen.« Da aber gerade die <strong>Revolution</strong> die Menschen gelehrt hat, laut auszusprechen,<br />
was sie früher nur für sich gedacht, so bedeutet das: man muß die <strong>Revolution</strong> ersticken.<br />
Der Soldat hatte freilich auch am ersten Kriegstage we<strong>der</strong> sterben noch kämpfrn<br />
wollen. Aber er hatte es ebenso nicht gewollt, das Artilleriepferd ein schweres Geschütz<br />
nicht durch den Morast ziehen will. So wenig wie das Pferd hatte er gedacht, sich <strong>der</strong><br />
ihm aufgebürdeten Last entledigen zu können. Zwischen seinem Willen und den Kriegsereignissen<br />
bestand keine Beziehung. Die Rwolution hatte ihm diese Beziehung eröffnet.<br />
Für Millionen von Soldaten bedeutete sie das Recht auf ein besseres Leben, vor allem<br />
das Recht auf Leben überhaupt, das Recht, sein Leben vor Kugeln und Geschossen zu<br />
schützen und gleichzeitig auch sein Gesicht vor <strong>der</strong> Offiziersfaust. In diesem Sinne ist<br />
auch oben gesagt, daß <strong>der</strong> grundlegende psychologische Prozeß in <strong>der</strong> Armee im<br />
Erwachen <strong>der</strong> Persönlichkeit bestand. In dem vulkanischen Ausbruch des Individualismus,<br />
<strong>der</strong> nicht selten anarchische Formen annahm, sahen die gebildeten Klassen Verrat<br />
an <strong>der</strong> Nation. Während sich in Wirklichkeit die Nation in dem stürmischen Auftreten<br />
<strong>der</strong> Soldaten, in ihren ungezähmten Protesten, sogar in ihren blutigen Exzessen aus dem<br />
rohen unpersönlichen prähistorischen Material erst formierte. Die <strong>der</strong> Bourgeoisie so<br />
verhaßte Überschwemmung des Massenindividualismus war durch den Charakter <strong>der</strong><br />
Februarrevolution hervorgerufen worden, und zwar als einer bürgerlichen <strong>Revolution</strong>.<br />
Doch das war nicht ihr einziger Inhalt. Denn außer dem Bauern und seinem Sohn, dem<br />
Soldaten, war auch <strong>der</strong> Arbeiter an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beteiligt. Er fühlte sich längst als<br />
Persönlichkeit, ging in den Krieg nicht nur mit Haß gegen diesen, son<strong>der</strong>n auch mit dem<br />
Gedanken des Kampfes gegen ihn, und die <strong>Revolution</strong> bedeutete für den Arbeiter nicht<br />
nur die nackte Tatsache des Sieges, son<strong>der</strong>n auch den teilweisen Triumph seiner Ideen.<br />
Die Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Monarchie war für ihn nur die erste Stufe, und er hielt sich bei<br />
ihr nicht auf, an<strong>der</strong>en Zielen zueilend. Für ihn bestand die ganze Frage darin, wie weit<br />
Soldat und Bauer ihn unterstützen werden. »Was nützt mir Boden, wenn ich nicht mehr<br />
sein werde?« fragte <strong>der</strong> Soldat. »Was nützt mir Freiheit«, sprach er dem Arbeiter nach,<br />
vor den für ihn verschlossenen Türen des Theaters, »wenn die Schlüssel zur Freiheit bei<br />
den Herren sind?« So leuchteten durch das unübersichtliche Chaos <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
hindurch bereits die stählemen Umrisse des Oktobers.<br />
Die Regierenden und <strong>der</strong> Krieg<br />
Was gedachten die Provisorische Regierung und das Exekutivkomitee mit diesem<br />
Krieg und dieser Armee zu beginnen?<br />
Vor allem muß man die Politik <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie begreifen, da diese die erste<br />
Geige spielte. Äußerlich blieb die Politik des Liberalismus aggressiv-patriotisch,<br />
annexionistisch, unversöhnlith. In Wirklichkeit war sie wi<strong>der</strong>spruchsvoll, treubrüchig<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 177
und wurde schnell defätistisch.<br />
»Auch wenn es keine <strong>Revolution</strong> gegeben hätte, <strong>der</strong> Krieg wäre dennoch verloren und<br />
wahrscheinlich ein Separatfrieden geschlossen worden«, schrieb später Rodsjanko.<br />
dessen Urteile sich nicht durch Selbständigkeit auszeichneten, gerade deshalb aber die<br />
Durchschnittsmeinung <strong>der</strong> liberalkonservativen Kreise gut ausdrückten. Der Aufstand<br />
<strong>der</strong> Gardebataillone kündete den besitzenden Klassen nicht den äußeren Sieg an, son<strong>der</strong>n<br />
die innere Nie<strong>der</strong>lage. Die Liberalen konnten sich darüber um so weniger Illusionen<br />
machen, als sie die Gefahr vorausgesehen und nach Kräften gegen sie gekämpft hatten.<br />
Der unerwartete revolutionäre Optimismus Miljukows, <strong>der</strong> die Umwälzung als eine Stufe<br />
zum Siege erklärte, war eigentlich die letzte Zuflucht <strong>der</strong> Verzweiflung. Die Frage nach<br />
Krieg und Frieden hatte für die Liberalen zu drei Vierteln aufgehört, eine selbständige<br />
Frage zu sein. Sie fühlten, daß es ihnen nicht gegeben sein würde, die <strong>Revolution</strong> für den<br />
Krieg auszunutzen. Um so gebieterischer erstand vor ihnen die an<strong>der</strong>e Aufgabe: den<br />
Krieg gegen die <strong>Revolution</strong> auszunutzen.<br />
Die Fragen <strong>der</strong> internationalen Lage Rußlands nach dem Kriege: Schulden und neue<br />
Anleihen, Kapital- und Absatzmärkte, standen selbstverständlich auch jetzt vor den<br />
Führern <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. Aber nicht diese Fragen bestimmten unmittelbar ihre<br />
Politik. Heute ging es nicht um die Sicherung <strong>der</strong> vorteilhaftesten internationalen Bedingungen<br />
für das bürgerliche Rußland, son<strong>der</strong>n um Rettung des bürgerlichen Regimes<br />
selbst, wenn auch um den Preis einer weiteren Schwächung Rußlands. »Zuerst muß man<br />
gesunden«, sagte die schwer verwundete Klasse, »und erst später die Angelegenheiten in<br />
Ordnung bringen.« Gesunden bedeutete, mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> fertigwerden.<br />
Die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Kriegshypnose und <strong>der</strong> chauvinistischen Stimmungen gab<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie die einzige Möglichkeit eines politischen Bandes mit den Massen, vor<br />
allem mit <strong>der</strong> Armee, gegen die sogenannten Vorwärtstreiber <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die<br />
Aufgabe bestand darin, den vom Zarismus vererbten Krieg, mit den bisherigen Verbündeten<br />
und Zielen, dem Volke als einen neuen Krieg, als Verteidigung <strong>der</strong> revolutionären<br />
Errungenschaften und Hoffnungen, darzustellen. Es hätte genügt, dies zu erreichen - aber<br />
wie? -, und <strong>der</strong> Liberalismus rechnete fest damit, gegen die <strong>Revolution</strong> jene ganze<br />
Organisation <strong>der</strong> patriotischen öffentlichen Meinung richten zu können, die ihm gestern<br />
gegen die Rasputinsche Clique Dienste geleistet hat. Wenn es nicht gelungen war, die<br />
Monarchie gegen den Willen des Volkes als höchste Instanz zu retten, dann mußte man<br />
sich um so mehr an die Alliierten halten: für die Dauer des Krieges bildete die Entente<br />
jedenfalls eine unvergleichlich mächtigere Appellationsinstanz, als es die eigene Monarchie<br />
hätte sein können.<br />
Die Fortsetzung des Krieges sollte die Aufrechterhaltung des militärischen und<br />
bürokratischen Apparates rechtfertigen, die Vertagung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung,<br />
die Unterwerfung des revolutionären Landes unter die Front, das heißt unter die<br />
Generalität, die sich mit <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie zusammengeschlossen hatte. Alle<br />
inneren Fragen, vor allem die Agrarfrage und die gesamte soziale Gesetzgebung, vertagte<br />
man bis zum Ende des Krieges, dieses wie<strong>der</strong>um bis zum Siege, an den die Liberalen<br />
nicht glaubten. Krieg bis zur Ermattung des Feindes verwandelte sich in Krieg zur<br />
Ermattung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Mag sein, daß dies kein fertiger, im voraus in offiziellen<br />
Sitzungen beratener und erwogener Plan war. Aber das war auch nicht nötig. Der Plan<br />
ergab sich aus <strong>der</strong> gesamten vorangegangenen Politik des Liberalismus und aus <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 178
durch die <strong>Revolution</strong> geschaffenen Lage.<br />
Gezwungen, den Weg des Krieges zu gehen, hatte Miljukow selbstverständlich keine<br />
Veranlassung, auf den Beuteanteil zu verzichten. Waren doch die Hoffnungen auf den<br />
Sieg <strong>der</strong> Alliierten ganz realer Natur und mit dem Eintritt Amerikas in den Krieg erheblich<br />
gestiegen. Allerdings war die Entente eines, und Rußland ein an<strong>der</strong>es. Die Führer<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie hatten während des Krieges begreifen gelernt, daß <strong>der</strong> Sieg<br />
<strong>der</strong> Entente über die Zentralmächte bei <strong>der</strong> ökonomischen und militärischen Schwäche<br />
Rußlands unvermeidlich zu einem Sieg über Rußland werden müsse, das bei allen<br />
denkbaren Möglichkeiten geschlagen und geschwächt aus dem Krieg herausgehen<br />
würde. Dennoch beschlossen die liberalen Imperialisten, vor dieser Perspektive bewußt<br />
die Augen zu schließen. Es blieb ihnen auch nichts an<strong>der</strong>es übrig. Gutschkow hatte in<br />
seinem Kreise offen erklärt, daß nur ein Wun<strong>der</strong> Rußland retten könne, und die<br />
Hoffnung auf ein Wun<strong>der</strong> bilde sein, des Kriegsministers, Programm. Miljukow brauchte<br />
für die Innenpolitik den Mythos des Sieges. In welchem Maße er selber an ihn glaubte,<br />
ist unwesentlich. Aber hartnäckig behauptete er: Konstantinopel müsse uns gehören.<br />
Dabei verfuhr er mit dem ihm eigenen Zynismus. Am 20. März versuchte <strong>der</strong> russische<br />
Außenminister die Botschafter <strong>der</strong> Alliierten zu überreden, Serbien zu verraten, um mit<br />
diesem Preise den Verrat Bulgariens an die Zentralmächte zu erkaufen. Der französische<br />
Gesandte runzelte die Stirn. Miljukow aber bestand auf »<strong>der</strong> Notwendigkeit, von sentimentalen<br />
Erwägungen in dieser Frage abzusehen« und unter an<strong>der</strong>em auch von jenem<br />
Neoslawismus, den er seit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> gepredigt hatte.<br />
Nicht umsonst schrieb Engels noch im Jahre 1882 an Bernstein: »Worauf läuft die ganze<br />
russische panslawistische Scharlatanerie hinaus? Auf die Einnahme von Konstantinopel<br />
- auf weiter nichts.«<br />
Die noch gestern gegen die Hofkamarilla erhobenen Beschuldigungen des Germanophilentums<br />
und sogar <strong>der</strong> Käuflichkeit durch Deutschland wurden heute mit ihrer vergifteten<br />
Spitze gegen die <strong>Revolution</strong> gerichtet. Je weiter, um so kühner, lauter und frecher<br />
klang diese Note in den Reden und Artikeln <strong>der</strong> Kadettenpartei. Bevor er an die Eroberung<br />
<strong>der</strong> türkischen Gewässer ging, trübte <strong>der</strong> Liberalismus die Quellen und vergiftete<br />
die Brunnen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Bei weitem nicht alle liberalen Führer haben in <strong>der</strong> Frage des Krieges eine unversöhnliche<br />
Position eingenommen, jedenfalls nicht sogleich nach <strong>der</strong> Umwälzung. Viele befanden<br />
sich noch in <strong>der</strong> Atmosphäre <strong>der</strong> vorrevolutionären Stimmungen, die mit <strong>der</strong><br />
Perspektive des Separatfriedens verbunden waren. Einzelne führende Kadetten erzählten<br />
es später ganz offenherzig. Nabokow hatte, nach seinem eigenen Geständnis, bereits am<br />
7. März mit Regierungsmitglie<strong>der</strong>n Besprechungen über einen Separatfrieden. Einige<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Kadettenzentrums versuchten kollektiv, ihren Führer von <strong>der</strong> Unmöglichkeit<br />
<strong>der</strong> Fortsetzung des Krieges zu überzeugen. »Mit <strong>der</strong> ihm eigenen kalten Präzision<br />
bemühte sich Miljukow, nach den Worten des Barons Nolde, zu beweisen, daß die Ziele<br />
des Krieges erreicht werden müßten.« General Alexejew, <strong>der</strong> sich um diese Zeit den<br />
Kadetten näherte, unter-stützte Mibukow und behauptete, »die Armee kann in Bewegung<br />
gebracht werden«. Sie in Bewegung zu bringen, fühlte sich wohl dieser Generalstabsorganisator<br />
allen Unheils berufen.<br />
Mancher Naivere unter den Liberalen und Demokraten begriff den Kurs Miljukows<br />
nicht und hielt diesen selbst für den Ritter <strong>der</strong> Treue gegen die Alliierten, für den Don<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 179
Quichotte <strong>der</strong> Entente. Welcher Unsinn! Nachdem die Bolschewiki die Macht übernommen<br />
hatten, zögerte Miljukow nicht eine Minute, sich in das von den Deutschen besetzte<br />
Kiew zu begeben und seine Dienste <strong>der</strong> Hohenzollernregierung anzubieten, die sich<br />
allerdings nicht übereilte, davon Gebrauch zu machen. Miljukows nächstes Ziel dabei<br />
war, für den Kampf gegen die Bolschewiki das nämliche deutsche Gold zu erhalten, mit<br />
dessen Gespenster vorher die <strong>Revolution</strong> zu beschmutzen gesucht hatte. Miljukows<br />
Appell an Deutschland schien im Jahre 1918 vielen Liberalen ebenso unverständlich wie<br />
in den ersten Monaten des Jahres 1917 sein Programm <strong>der</strong> Zerschmetterung Deutschlands.<br />
Doch waren es nur zwei Seiten <strong>der</strong> gleichen Medaille. Im Begriffe, die Alliierten,<br />
wie früher Serbien, zu verraten, verriet Miljukow we<strong>der</strong> sich selbst noch seine Klasse. Er<br />
verfolgte ein und dieselbe Politik, und es war nicht seine Schuld, wenn sie nicht schön<br />
aussah. Ob er nun unter dem Zarismus die Wege zuin Separatfrieden abtastete, um <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> auszuweichen, ob er den Krieg bis ans Ende for<strong>der</strong>te, um mit <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
fertigauwerden, ob er später ein Bündnis mit den Hohenzollern suchte, um die<br />
Oktoberrevolution zu stürzen, Miljukow blieb stets in gleicher Weise den Interessen <strong>der</strong><br />
Besitzenden treu. Wenn er ihnen nicht helfen konnte und jedesmal an eine neue Wand<br />
anrannte, so deshalb, weil seine Auftraggeber sich in einer Sackgasse befanden.<br />
Was Miljukow in <strong>der</strong> ersten Zeit nach <strong>der</strong> Umwälzung besonden gefehlt hat, war ein<br />
feindlicher Angrift, ein guter deutscher Schlag gegen den Schädel <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Zum<br />
Unglück waren die Monate März und April aus klimatischen Gründen für Operationen<br />
größeren Maßstabs an <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Front ungünstig gewesen. Und die Hauptsache war,<br />
daß die Deutschen, <strong>der</strong>en Lage immer schwieriger wurde, nach großen Schwankungen<br />
beschlossen hatten, die Russische <strong>Revolution</strong> ihren inneren Prozessen zu überlassen. Nur<br />
<strong>der</strong> General Linsingen bewies am 20.-21. März am Stochod Privatinitiative. Sein Erfolg<br />
erschreckte die deutsche Regierung und erfreute gleichzeitig die russische. Mit <strong>der</strong><br />
gleichen Unverschämtheit, mit <strong>der</strong> das Hauptquartier unter dem Zaren den geringsten<br />
Erfolg übertrieben hatte, bauschte es jetzt die Nie<strong>der</strong>lage am Stochod auf. Ihm folgte die<br />
liberale Presse. Fälle von Rückzügen, Panik und Verlusten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen<br />
wurden mit dem gleichen Behagen ausgemalt wie früher Gefangene und Trophäen.<br />
Bourgeoisie und Generalität gingen sichtbar auf die Position des Defätismus über.<br />
Linsingen aber wurde auf einen Befehl von oben her zurückgehalten, und die Front<br />
erstarrte wie<strong>der</strong> in Frühlingsschlamm und Abwarten.<br />
Die Absicht, sich gegen die <strong>Revolution</strong> auf den Krieg zu stützen, hätte nur Erfolg<br />
haben können, wenn die Mittelparteien, hinter denen die Volksmassen hergingen, bereit<br />
gewesen wären, die Rolle <strong>der</strong> Transmission <strong>der</strong> liberalen Politik auf sich zu nehmen. Die<br />
Idee des Krieges mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu verbinden, ging über die Kraft des<br />
Liberalismus: noch gestern predigte er, die <strong>Revolution</strong> bedeute die Katastrophe des<br />
Krieges. Es war nötig, diese Aufgabe <strong>der</strong> Demokratie zuzuschieben. Doch durfte man<br />
freilich das "Geheimnis" vor ihr nicht enthüllen. Man durfte sie nicht in den Plan einweihen,<br />
son<strong>der</strong>n mußte sie kö<strong>der</strong>n. Man mußte an ihren Vorurteilen, ihrer Prahlerei mit <strong>der</strong><br />
Staatsweisheit, ihrer Angst vor Anarchie, ihrer abergläubischen Anbetung <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
einhaken.<br />
In den ersten Tagen wußten die <strong>Sozialisten</strong> - wir sind gezwungen, die Menschewiki<br />
und Sozialrevoluüonäre <strong>der</strong> Kürze halber so zu nennen - nicht, was sie mit dem Kriege<br />
anfangen sollten. Tschcheidse seufzte: »Wir haben die ganze Zeit hindurch gegen den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 180
Krieg gesprochen, wie kann ich denn jetzt zur Fortsetzung des Krieges aufrufen?« Am<br />
10. März beschloß das Exekutivkomitee, Franz Mehring ein Begrüßungstelegramm zu<br />
schicken. Mit dieser kleinen Demonstration versuchte <strong>der</strong> linke Flügel sein nicht sehr<br />
anspruchsvolles sozialistisches Gewissen zu beruhigen. Über den Krieg selbst fuhr <strong>der</strong><br />
Sowjet fort, zu schweigen. Die Führer fürchteten in dieser Frage einen Konflikt mit <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung heraufzubeschwören und die Honigwochen des "Kontaktes"<br />
zu trüben. Nicht weniger Angst hatten sie vor Meinungsverschiedenheiten in <strong>der</strong> eigenen<br />
Mitte. Es gab unter ihnen Landesverteidiger und Zimmerwal<strong>der</strong>. Die einen wie die<br />
an<strong>der</strong>en überschätzten ihre Meinungsverschiedenheiten. Breite Kreise <strong>der</strong> revolutionären<br />
Intelligenz hatten während des Krieges eine gründliche bürgerliche Umwandlung durchgemacht.<br />
Der offene o<strong>der</strong> verschleierte Patriotismus verband die Intelligenz mit den<br />
regierenden Klassen und trennte sie von den Massen. Das Banner von Zimmerwald, mit<br />
dem sich <strong>der</strong> linke Flügel umhüllte, verpflichtete wenig, verbarg aber immerhin seine<br />
auffällige patriotische Solidarität mit <strong>der</strong> Rasputinschen Clique. Nun aber war das<br />
Romanowsche Regime gestürzt. Rußland war ein demokratisches Land geworden. Seine<br />
in allen Farben schimmernde Freiheit hob sich grell vom Polizeihintergrunde des in <strong>der</strong><br />
Militärdiktatur eingeklemmten Europa ab. Sollen wir etwa unsere <strong>Revolution</strong> nicht gegen<br />
den Hohenzollern schützen? schrien die alten und die neuen Patrioten, die sich an die<br />
Spitze des Exekutivkomitees gestellt hatten. Die Zimmerwal<strong>der</strong> vom Typ Suchanows<br />
und Steklows beriefen sich unsicher darauf, <strong>der</strong> Krieg sei imperialistisch geblieben:<br />
erklären doch die Liberalen, die <strong>Revolution</strong> müsse die vom Zaren vorgemerkten<br />
Annexionen sichern. »Wie kann ich da jetzt zur Fortsetzung des Kriell;es aufrufen?«<br />
beunruhigte sich Tschcheidse. Da aber die Zimmerwal<strong>der</strong> selbst die Initiatoren <strong>der</strong><br />
Machtübergabe an die Liberalen gewesen waren, hingen ihre Einwendungen in <strong>der</strong> Luft.<br />
Nach einigen Wochen Schwankens und Sträubens war mit Zeretellis Hilfe <strong>der</strong> erste Teil<br />
des Miljukowschen Planes glücklich gelöst: Schlechte Demokraten, die sich für <strong>Sozialisten</strong><br />
hielten, spannten sich in das Geschirr des Krieges ein und bemühten sich, unter <strong>der</strong><br />
Knute <strong>der</strong> Liberalen aus allen ihren schwachen Kräften den Sieg zu sichern ... <strong>der</strong><br />
Entente über Rußland, Amerikas über Europa.<br />
Die Hauptfunktion <strong>der</strong> Versöhnler bestand darin, die revolutionäre Energie <strong>der</strong> Massen<br />
auf die Leitung des Patriotismus umzuschalten. Sie strebten einerseits danach, die<br />
Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee wie<strong>der</strong>zubeleben - das war schwer; sie versuchten an<strong>der</strong>erseits,<br />
die Regierungen <strong>der</strong> Entente zu bewegen, auf den Raub zu verzichten das war<br />
lachhaft. In beiden Richtungen gingen sie von Illusionen zu Enttäuschungen und von<br />
Fehlern zu Demütigungen.<br />
In den Stunden seiner kurzwährenden Größe hatte Rodsjanko Zeit gefunden, einen<br />
Befehl zu erlassen, wonach die Soldaten sofort in die Kasernen zurückzukehren und<br />
ihren Offizieren Gehorsam zu leisten hätten. Die dadurch hervorgeruiene Erregung <strong>der</strong><br />
Garnison zwang den Sowjet, eine seiner ersten Sitzungen <strong>der</strong> Frage des weiteren Schicksals<br />
<strong>der</strong> Soldaten zu widmen. In <strong>der</strong> heißen Atmosphäre jener Stunden, im Chaos <strong>der</strong><br />
Sitzung, die eher einem Meeting glich, unter dem direkten Diktat <strong>der</strong> Soldaten, die von<br />
den abwesenden Führern nicht behin<strong>der</strong>t werden konnten, entstand <strong>der</strong> berühmte "Befehl<br />
Nr. 1", das einzige würdige Dokument <strong>der</strong> Februarrevolution, die Freiheitscharta <strong>der</strong><br />
revolutionären Armee. Seine kühnen Paragraphen, die den Soldaten den organisierten<br />
Ausweg auf eine neue Bahn wiesen, verfügten: bei allen Truppenteilen Wahlkomitees zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 181
schaffen; Soldatenvertreter in den Sowjet zu wählen; bei allen politischen Auftritten, sich<br />
dem Sowjet und den eigenen Komitees unterzuordnen; die Waffen unter Kontrolle <strong>der</strong><br />
Kompanie- und Bataillonskomitees zu halten und sie »unter keinen Umständen den<br />
Offizieren auszuliefern«; im Dienste strenge militärische Disziplin, außerhalb des<br />
Dienstes alle Bürgerrechte; Ehrenbezeigungen und Titulierungen <strong>der</strong> Offiziere außerhalb<br />
des Dienstes werden abgeschafft; grobes Benehmen gegen Soldaten, insbeson<strong>der</strong>e die<br />
Anrede mit »Du« ist verboten usw.<br />
Dies waren die Schlußfolgerungen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Soldaten aus ihrer Teilnahme an<br />
<strong>der</strong> Umwälzung. Hätten es auch an<strong>der</strong>e sein können? Sich zu wi<strong>der</strong>setzen wagte<br />
niemand. Während <strong>der</strong> Ausarbeitung des "Befehls" waren die Häupter <strong>der</strong> Sowjets durch<br />
erhabenere Sorgen abgelenkt: sie führten Verhandlungen mit den Liberalen. Dieses<br />
ermöglichte ihnen, sich auf ihr Alibi zu berufen, als sie gezwungen waren, sich vor <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie und dem Kommandobestand zu rechtfertigen.<br />
Gleichzeitig mit dem "Befehl Nr. 1" schickte das Exekutivkomitee, das Zeit gefunden<br />
hatte, sich zu besinnen, in die Druckerei als Gegengift einen Appell an die Soldaten, <strong>der</strong><br />
unter dem Scheine <strong>der</strong> Verurteilung <strong>der</strong> Selbstjustiz gegen Offiziere Unterordnung<br />
gegenüber dem alten Kommandobestand for<strong>der</strong>te. Die Setzer weigerten sich einfach,<br />
dieses Dokument zu setzen. Die demokratischen Autoren waren vor Empörung außer<br />
sich: Wohin führt das? Es wäre jedoch falsch anzunehmen, die Setzer härten blutige<br />
Strafgerichte gegen die Offiziere angestrebt. Der Aufruf zur Unterordnung am Tage nach<br />
dem Umsturz schien ihnen gleichbedeutend mit dem Öffnen <strong>der</strong> Tore für die Konterrevolution.<br />
Gewiß, die Setzer hatten ihre Befugnisse überschritten. Doch sie fühlten sich nicht<br />
nur als Setzer. Es ging ihrer Meinung nach um den Kopf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
In jenen ersten Tagen, als das Schicksal <strong>der</strong> zu den Regimentern zurückkehrenden<br />
Offiziere sowohl Soldaten wie Arbeiter äußerst heftig erregte, hatte die "interrayonale"<br />
sozialdemokratische Organisation, die den Bolschewiki nahestand, die heikle Frage mit<br />
revolutionärer Kühnheit gestellt. »Damit euch <strong>der</strong> Adel und die Offiziere nicht betrügen<br />
können«, lautete <strong>der</strong> von ihr erlassene Aufluf an die Soldaten, »wählt selbst Zug-,<br />
Kompanie- und Regimentskommandeure. Nehmt nur die Offiziere auf, die ihr als<br />
Freunde des Volkes kennt.« Aber was geschah? Die den Verhältnissen völlig entsprechende<br />
Proklamation wurde sofort vom Exekutivkomitee beschlagnahmt, und<br />
Tschcheidse bezeichnete sie in seiner Rede als Provokation. Wie wir sehen, scheuten sich<br />
die Demokraten gar nicht, die Pressefreiheit einzuschränken, wenn es galt, Schläge nach<br />
links auszuteilen. Glücklicherweise war ihre eigene Freiheit genügend eingeschränkt.<br />
Während die Arbeiter und Soldaten das Exekutivkomitee als ihr höchstes Organ unterstützten,<br />
korrigierten sie in allen wichtigsten Momenten die Politik <strong>der</strong> Leitung durch<br />
unmittelbare Einmischung.<br />
Schon nach wenigen Tagen versuchte das Exekutivkomitee durch einen "Befehl Nr. 2"<br />
den ersten zu wi<strong>der</strong>rufen, indem es seine Gültigkeit auf den Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirk<br />
einschränkte. Vergeblich! Der Befehl Nr. ! war nicht zu erschüttern, denn er hatte nichts<br />
erfunden, son<strong>der</strong>n nur das bekräftigt, was im Hinterlande und an <strong>der</strong> Front nach außen<br />
drängte und Anerkennung verlangte. Den Soldaten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehend,<br />
deckten sich sogar die liberalen Deputierten bei Fragen und Vorwürfen mit<br />
dem "Befehl Nr.1". In <strong>der</strong> großen Politik aber wurde <strong>der</strong> mutige Befehl zum Hauptargument<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie gegen die Sowjets. Die geschlagenen Generale hatten nunmehr in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 182
dem "Befehl Nr.1" das Haupthin<strong>der</strong>nis entdeckt, das ihnen verwehrt habe, die deutschen<br />
Truppen zu zerschmettern. Als Ursprungsort des Befehls wurde Deutschland bezeichnet.<br />
Die Versöhnler wurden nicht müde, sich für Getanes zu rechtfertigen, und erregten die<br />
Soldaten, indem sie versuchten, mit <strong>der</strong> rechten Hand das zu nehmen, was <strong>der</strong> linken<br />
entglitten war.<br />
Inzwischen verlangte im Sowjet bereits die Mehrheit <strong>der</strong> Deputierten Wählbarkeit <strong>der</strong><br />
Kommandeure. Die Demokraten wurden unruhig. Suchanow, <strong>der</strong> keine besseren<br />
Argumente finden konnte, drohte, die Bourgeoisie, <strong>der</strong> die Macht übergeben war, würde<br />
auf Wählbarkeit nicht eingehen. Die Demokraten versteckten sich ungeniert hinter<br />
Gutschkows Rücken. Bei diesem Spiel nahmen die Liberalen den gleichen Platz ein, den<br />
beim Spiel des Liberalismus die Monarchie einnehmen sollte. »Als ich vom Podium zu<br />
meinem Platze ging«, erzählt Suchanow, »stieß ich auf einen Soldaten, <strong>der</strong> mir den Weg<br />
versperrte und, vor meinen Augen mit den Fäusten fuchtelnd, wutentbrannt gegen die<br />
Herren wetterte, die niemals in <strong>der</strong> Soldatenhaut gesteckt hätten.« Nach diesem "Exzeß"<br />
lief unser Demokrat, <strong>der</strong> seine Fassung endgültig verloren hatte, Kerenski zu suchen, und<br />
erst mit dessen Hilfe »wurde die Frage dann irgendwie verwischt«. Diese Menschen<br />
taten nichts an<strong>der</strong>es, als Fragen zu verwischen.<br />
Zwei Wochen lang war es ihnen gelungen, so zu tun, als bemerkten sie den Krieg<br />
nicht. Schließlich wurde ein weiteres Hinausschieben unmöglich. Am 4. März brachte<br />
das Exekutivkomitee im Sowjet den von Suchanow geschriebenen Entwurf eines<br />
Manifestes "An die Völker <strong>der</strong> ganzen Welt" ein. Die liberale Presse nannte sehr bald<br />
dieses Dokument, das die rechten und linken Versöhnler vereinigte, den »Befehl Nr. 1<br />
auf dem Gebiet <strong>der</strong> Außenpolitik«. Doch diese schmeichelhafte Bezeichnung war ebenso<br />
unwahrhaftig wie das Dokument, auf das sie sich bezog. Der "Befehl Nr.1" war eine<br />
ehrliche, direkte Antwort <strong>der</strong> unteren Schichten auf jene Fragen, die die <strong>Revolution</strong> vor<br />
<strong>der</strong> Armee aufgerichet hatte. Das Manifest vom 14. März war eine treubrüchige Antwort<br />
<strong>der</strong> oberen Schichten auf Fragen, die ihnen von den Soldaten und Arbeitern ehrlich<br />
gestellt worden waren.<br />
Das Manifest drückte allerdings das Streben nach Frieden aus, und zwar nach einem<br />
demokratischen, ohne Annexionen und Kontributionen. Aber diese Phraseologie hatten<br />
die Imperialisten des Westens lange vor <strong>der</strong> Februarrevolution anzuwenden gelernt.<br />
Gerade im Namen eines gesicherten, ehrlichen, "demokratischen" Friedens schickte sich<br />
Wilson in jenen Tagen an, in den Krieg einzutreten. Der fromme Asqvith gab im Parlament<br />
eine gelehrte Klassifizierung <strong>der</strong> Annexionen, aus <strong>der</strong> sich unzweifelhaft ergab, daß<br />
alle jene Annexionen als unsittlich zu verurteilen waren, die den Interessen Großbritanniens<br />
wi<strong>der</strong>sprachen. Was die französische Diplomatie betrifft, so bestand ihr ganzes<br />
Wesen darin, <strong>der</strong> Gier des Krämers und Wucherers einen möglichst freiheitlichen<br />
Ausdruck zu verleihen. Das Sowjetdokument, dem man eine gewisse simple Aufrichtigkeit<br />
<strong>der</strong> Beweggründe nicht absprechen kann, geriet fatalerweise auf das ausgefahrene<br />
Gleis <strong>der</strong> offiziellen französischen Heuchelei. Das Manifest versprach »standhaft unsere<br />
eigene Freiheit zu verteidigen« gegen den ausländischen Militarismus. Gerade damit aber<br />
gingen die französischen Sozialpatrioten seit August 1914 rückwärts. »Es ist für die<br />
Völker die Zeit gekommen, über die Frage des Krieges und des Friedens selbst zu<br />
entscheiden«, verkündete das Manifest, <strong>der</strong>en Verfasser soeben im Namen des <strong>russischen</strong><br />
Volkes die Lösung dieser Frage <strong>der</strong> Großbourgeoisie überlassen hatten. Die Arbeiter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 183
Deutschlands und Österreich-Ungarns for<strong>der</strong>te das Manifest auf: »Weigert euch, ein<br />
Werkzeug <strong>der</strong> Eroberungen und Vergewaltigungen in den Händen <strong>der</strong> Könige, Gutsbesitzer<br />
und Bankiers zu sein!« In diesen Worten lag die Quintessenz <strong>der</strong> Lüge, denn die<br />
Häupter des Sowjets dachten nicht daran, ihr eigenes Bündnis mit den Königen von<br />
Großbritannien, Belgien, mit dem Kaiser von Japan, mit den Gutsbesitzem und Bankiers,<br />
ihren eigenen sowohl wie denen <strong>der</strong> Ententelän<strong>der</strong>, zu zerreißen. Nachdem sie die<br />
Leitung <strong>der</strong> Außenpolitik an Miljukow abgetreten hatten, <strong>der</strong> sich vor kurzem noch<br />
anschickte, Ostpreußen in ein russisches Gouvernement zu verwandeln, riefen die Führer<br />
des Sowjets die deutschen und österreich-ungarischen Arbeiter auf, dem Beispiel <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> zu folgen. Die theatralische Verurteilung des Krieges än<strong>der</strong>te<br />
nichts: auch <strong>der</strong> Papst beschäftigte sich damit. Mit Hilfe pathetischer Phrasen, gerichtet<br />
gegen die Schatten von Bankier, Gutsbesitzer und König, verwandelten die Versöhnler<br />
die Februarrevolution in ein Werkzeug <strong>der</strong> realen Könige, Gutsbesitzer und Bankiers.<br />
Schon in seinem Begrüßüngstelegramm an die Provisorische Regierung bewertete Lloyd<br />
George die Russische <strong>Revolution</strong> als einen Beweis dafür, daß »<strong>der</strong> gegenwärtige Krieg<br />
in seinem Wesen ein Kampf um Volksregierung und Freiheit ist«. Das Manifest vom 14.<br />
März solidarisierte sich »in seinem Wesen« mit Lloyd George und leistete <strong>der</strong> militaristischen<br />
Propaganda in Amerika wertvolle Hilfe. Dreifach Recht hatte die Zeitung Miljukows,<br />
als sie schrieb, daß »<strong>der</strong> Aufruf, <strong>der</strong> mit so typisch pazifistischen Tönen beginnt, im<br />
wesentlichen auf die uns mit allen unseren Verbündeten gemeinsame Ideologie hinausläuft«.<br />
Wenn die <strong>russischen</strong> Liberalen trotzdem mehr als einmal das Manifest wütend<br />
angriffen und die französische Zensur es überhaupt nicht passieren ließ, so war das von<br />
<strong>der</strong> Angst vor jener Deutung hervorgerufen, die diesem Dokument die revolutionären,<br />
aber noch vertrauensseligen Massen gaben.<br />
Das von einem Zimmerwal<strong>der</strong> verfaßte Manifest kennzeichnete den prinzipiellen Sieg<br />
des patriotischen Flügels. In <strong>der</strong> Provinz griffen die Sowjets das Signal auf Die Losung<br />
"Krieg dem Kriege" wurde als unzulässig erklärt. Sogar am Ural und in Kostroma, wo<br />
die Bolschewiki stark waren, erhielt das patriotische Manifest einstimmige Billigung.<br />
Nicht verwun<strong>der</strong>lich: hatten doch auch im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet die Bolschewiki diesem<br />
verlogenen Dokument keinen Wi<strong>der</strong>stand geleistet.<br />
Nach einigen Wochen war man gezwungen, eine Teilzahlung auf den Wechsel zu<br />
leisten. Die Provisorische Regierung gab eine Kriegsanleihe heraus, die allerdings<br />
"Freiheitsanleihe" genannt wurde. Zeretelli wies nach, daß, da die Regierung »im großen<br />
und ganzen« ihren Verpflichtungen nachkomme, die Demokratie die Anleihe unterstützen<br />
müsse. Im Exekutivkomitee vereinigte <strong>der</strong> oppositionelle Flügel mehr als ein Drittel<br />
<strong>der</strong> Stimmen auf sich. Doch im Plenum des Sowjets stimmten am 22. April gegen die<br />
Anleihe nur 112 von annähernd 2.000 Deputierten. Daraus zog man manchmal den<br />
Schluß: das Exekutivkomitee sei linker als <strong>der</strong> Sowjet. Das war aber falsch. Der Sowjet<br />
war nur ehrlicher als das Exekutivkomitee. Ist <strong>der</strong> Krieg die Verteidigung <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>, dann muß man Geld für den Krieg geben, muß man die Anleihe unterstützen.<br />
Das Exekutivkomitee war nicht revolutionärer, son<strong>der</strong>n verschlagener. Es lebte von<br />
Zweideutigkeiten und Ausreden. Die von ihm geschaffene Regierung unterstützte es »im<br />
großen und ganzen« und übernahm die Verantwortung für den Krieg nur »insofern wie«.<br />
Diese kleinen Schlauheiten waren den Massen fremd. Die Soldaten konnten we<strong>der</strong><br />
kämpfen »insofern wie« noch sterben »im großen und ganzen«.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 184
Um den Sieg des Staatsgedankens über die Wahnidee zu festigen, wurde General<br />
Alexejew, <strong>der</strong> am 5. März geplant hatte, die Propagandistenbanden zu erschießen, am 1.<br />
April offiziell an die Spitze <strong>der</strong> bewaffneten Macht gestellt. Von nun an war alles in<br />
Ordnung. Der Inspirator <strong>der</strong> Außenpolitik des Zarismus, Miljukow, war Minister des<br />
Auswärtigen. Der Befehlshaber <strong>der</strong> Armee unter dem Zaren, Alexejew, Oberkommandieren<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die Nachfolgeschaft war damit vollständig hergestellt.<br />
Gleichzeitig waren die Sowjetführer durch die Logik <strong>der</strong> Lage gezwungen, die<br />
Maschen des Netzes aufzulösen, das sie selbst geflochten. Die offizielle Demokratie hatte<br />
eine Todesangst vor jenen Kommandeuren, die sie duldete und stützte. Sie konnte nicht<br />
an<strong>der</strong>s, als diesen eine Kontrolle entgegenzustellen, wobei sie bestrebt war, sie in den<br />
Soldaten zu verankern und gleichzeitig möglichst unabhängig von diesen zu machen. In<br />
<strong>der</strong> Sitzung vom 6. März erklärte das Exekutivkomitee es als wünschenswert, bei allen<br />
Truppenteilen und militärischen Ämtern eigene Kommissare einzuführen. So entstand<br />
eine dreifache Verbindung: die Truppenteile delegierten ihren Vertreter in den Sowjet;<br />
das Exekutivkomitee schickte seine Kommissare in die Truppenteile, und schließlich<br />
wurde an die Spitze jedes Truppenteils ein gewähltes Komitee gestellt, das so etwas wie<br />
eine untere Zelle des Sowjets bildete.<br />
Eine <strong>der</strong> wichtigsten Aufgaben <strong>der</strong> Kommissare bestand in <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong><br />
politischen Zuverlässigkeit <strong>der</strong> Stäbe und des Kommandobestandes. »Das demokratische<br />
Regime hat bald das selbstherrliche übertroffen«, entrüstet sich Denikin und fügt<br />
prahlend gleich hinzu, wie geschickt sein Stab die chiffrierte Korrespondenz <strong>der</strong><br />
Kommissare mit Petrograd abfing und ihm übermittelte. Monarchisten und Verteidiger<br />
<strong>der</strong> Leibeigenschaft auf die Finger zu schauen - was kann es Empören<strong>der</strong>es gehen?<br />
Etwas an<strong>der</strong>es ist, die Korrespondenz <strong>der</strong> Kommissare mit <strong>der</strong> Regierung zu stehlen. Wie<br />
es auch mit <strong>der</strong> Moral bestellt gewesen sein mag, die inneren Beziehungen des leitenden<br />
Armeeapparates treten in aller Kraßheit hervor: beide Parteien fürchten einan<strong>der</strong> und<br />
überwachen sich feindselig. Sie verbindet nur die gemeinsame Angst vor den Soldaten.<br />
Selbst die Generale und Admirale, wie ihre weiteren Pläne und Hoffnungen auch<br />
gewesen sein mochten, sahen klar, daß es ihnen ohne demokratische Deckung nicht gut<br />
gehen würde. Die Bestimmungen über die Komitees bei <strong>der</strong> Flotte wurden von Koltschak<br />
ausgearbeitet. Er rechnete damit, sie später zu erdrosseln. Da man aber heute keinen<br />
Schritt ohne die Komitees machen konnte, kam Koltschak beim Hauptquartier um <strong>der</strong>en<br />
Bestätigung ein. In ähnhcher Weise schickte General Markow, einer <strong>der</strong> späteren weißen<br />
Heerführer, Anfang April an das Ministerium einen Entwurf betreffend die Einsetzung<br />
von Kommissaren zur Überwachung <strong>der</strong> Loyalität des Kommandobestandes. So brachen<br />
unter dem Ansturm <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die "uralten Gesetze <strong>der</strong> Armee", das heißt die Traditionen<br />
des militärischen Bürokratismus, wie Strohhalme zusammen.<br />
Die Soldaten gingen vom an<strong>der</strong>en Ende an die Komitees heran und schlossen sich um<br />
sie zusammen gegen den Kommandobestand. Und wenn auch die Komitees die<br />
Kommandeure gegen die Soldaten schützen, so doch nur bis zu einer bestimmten Grenze.<br />
Die Lage des Offiziers, <strong>der</strong> mit dem Komitee in Konflikt geraten war, wurde<br />
unerträglich. So entstand das ungeschriebene Gesetz <strong>der</strong> Soldaten, die Befehlshaber<br />
absetzen zu können. An <strong>der</strong> Westfront mußten nach Denikins Bericht bis Anfang Juli an<br />
die sechzig alte Befehlshaber, vom Korpskommandeur bis zum Regimentskommandeur,<br />
abtreten. Ähnliche Absetzungen erfolgten auch innerhalb <strong>der</strong> Regimenter.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 185
Inzwischen ging im Kriegsmmisterium, im Exekutivkomitee, in den Sitzungen <strong>der</strong><br />
Kontaktkommission eine mühselige Kauzleiarbeit vonstatten, die die Aufgabe hatte,<br />
"vernünftige" Formen <strong>der</strong> Beziehungen in <strong>der</strong> Armee zu schaffen und die Autorität <strong>der</strong><br />
Vorgesetzten zu heben durch Herabmin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Armeekomitees auf<br />
eine untergeordnete, hauptsächlich wirtschaftliche Rolle. Aber während die erhabenen<br />
Führer mit dem Schatten eines Besens den Schatten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> säuberten, entfalteten<br />
sich die Komitees zu einem mächtigen zentralisierten System, das bis zum Petrogra<strong>der</strong><br />
Exekutivkomitee hinaufreichte und diesem organisatorisch die Macht über die Armee<br />
sicherte. Diese Macht nutzte jedoch das Exekutivkomitee hauptsächlich dazu aus, um die<br />
Armee mittels <strong>der</strong> Kommissare und <strong>der</strong> Komitees wie<strong>der</strong> in den Krieg einzuspannen. Die<br />
Soldaten sind immer häufiger gezwungen, über die Frage nachzudenken, wie es denn<br />
komme, daß die von ihnen gewählten Komitees häufig nicht das aussprechen, was sie,<br />
die Soldaten, denken, son<strong>der</strong>n das, was von ihnen, den Soldaten, die Vorgesetzten<br />
wünschen.<br />
Die Schützengräben schicken m immer größerer Zahl Deputierte in die Hauptstadt, um<br />
zu erfahren, was denn los sei. Seit Anfang April besteht eine ununterbrochene Verbindung<br />
mit <strong>der</strong> Front, jeden Tag fmden im Taurisehen Palais Kollektivbesprechungen statt,<br />
die von draußen ankommenden Soldaten bewegen schwer ihre Hirne in dem Bemühen,<br />
sich in den Geheimnissen <strong>der</strong> Politik des Exekutivkomitees zurechtzufinden, das auf<br />
keine ihrer Fragen klare Antwort geben kann. Die Armee geht mühselig auf die Position<br />
<strong>der</strong> Sowjets über, um sich so klarer von <strong>der</strong> Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Sowjetleitung zu<br />
überzeugen.<br />
Die Liberalen, die nicht wagen, sich dem Sowjet offen entgegenzustellen, versuchen<br />
dennoch einen Kampf um die Armee zu führen. Als politisches Band mit ihr muß natürlich<br />
<strong>der</strong> Chauvinismus herhalten. In einer <strong>der</strong> Unterredungen mit Abgesandten aus den<br />
Schützengräben verteidigte <strong>der</strong> kadettische Minister Schingarew den Befehl Gutschkows<br />
gegen die »übermäßige Nachsicht« mit den Gefangenen, verweisend auf die »deutschen<br />
Greueltaten«. Der Minister fand nicht die geringste Zustimmung. Die Versammlung<br />
sprach sich entschieden für die Erleichterung des Schicksals <strong>der</strong> Gefangenen aus. Das<br />
waren die gleichen Männer, die die Liberalen beständig <strong>der</strong> Exzesse und Greueltaten<br />
beschuldigten. Aber die graue Frontmasse hatte ihre Maßstäbe. Sie betrachtete es als<br />
erlaubt, Rache zu nehmen an einem Offizier für Quälereien <strong>der</strong> Soldaten; aber sie<br />
betrachtete es als eine Niedrigkeit, Rache zu nehmen an einem gefangenen deutschen<br />
Soldaten wegen tatsächlicher o<strong>der</strong> angeblicher Greueltaten Ludendorfis. Die ewigen<br />
Normen <strong>der</strong> Moral blieben, ach, diesen knorrigen und verlausten Bauern fremd.<br />
Aus den Versuchen <strong>der</strong> Bourgeoisie, die Armee in ihre Hände zu bekommen, entstand<br />
auf <strong>der</strong> Delegiertenkonferenz <strong>der</strong> Westfront vom 7.-10. April zwischen den Liberalen<br />
und den Versöhnlem ein übrigens nicht zur Entfaltung gelangter Wettstreit. Die erste<br />
Konferenz einer <strong>der</strong> Fronten sollte die entscheidende politische Nachprüfung <strong>der</strong> Armee<br />
werden, und beide Parteien schickten ihre besten Kräfte nach Minsk. Der Sowjet:<br />
Zeretelli, Tschcheidse, Skobeljew, Gwosdjew; die Bourgeoisie: Rodsjanko höchstselbst,<br />
den Kadettendemosthenes Roditschjew und an<strong>der</strong>e. Leidenschaftliche Spannung<br />
herrschte in dem überfüllten Theatergebäude zu Minsk und verbreitete sich von dort aus<br />
wellenartig über die Stadt. Die Berichte <strong>der</strong> Delegierten ergaben ein Bild dessen, was ist.<br />
An <strong>der</strong> ganzen Front geht die Verbrü<strong>der</strong>ung vor sich, die Soldaten ergreifen immer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 186
kühner die Ininative, das Kommando vermag an Repressalien nicht einmal zu denken.<br />
Was konnten da die Liberalen sagen? Angesichts dieses leidenschaftlichen Auditoriums<br />
verzichteten sie sogleich auf den Gedanken, ihre Resolutionen denen <strong>der</strong> Sowjets entgegenzustellen.<br />
Sie beschränkten sich auf patriotische Töne in ihren Begrüßungsreden und<br />
wurden bald völlig hinweggespült. Die Schlacht war von den Demokraten ohne Kampf<br />
gewonnen. Sie brauchten die Massen nicht gegen die Bourgeoisie zu führen, son<strong>der</strong>n<br />
mußten sie zurückhalten. Die Losung des Friedens, zweideutig mit <strong>der</strong> Losung <strong>der</strong><br />
Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Geiste des Manifestes vom 14. März verflochten,<br />
beherrschte den Kongreß. Die Sowjetresolution über den Krieg wurde mit 610 gegen 8<br />
Stimmen bei 46 Stimmenthaltungen angenommen. Die letzte Hoffnung <strong>der</strong> Liberalen,<br />
dem Hinterland die Front, dem Sowjet die Armee entgegenstellen zu können, zerstob in<br />
Asche. Doch auch die demokratischen Führer kehrten vom Kongreß zurück, mehr<br />
verängstigt als begeistert über ihren Sieg. Sie hatten die Geister erblickt, die die <strong>Revolution</strong><br />
erweckt hatte, und sie fühlten, daß sie diesen Geistern nicht gewachsen waren.<br />
Die Bolschewiki und Lenin<br />
Am 3. April kam aus <strong>der</strong> Emigration Lenin in Petrograd an. Erst mit diesem Moment<br />
beginnt die bolschewistische Partei mit vol1er, und was noch wichtiger, mit eigener<br />
Stimme zu sprechen.<br />
Der erste Monat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war für den Bolschewismus eine Zeit <strong>der</strong> Fassungslosigkeit<br />
und Schwankungen. Im "Manifest" des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, verfaßt<br />
gleich nach dem Siege des Aufstandes, hieß es, »die Arbeiter <strong>der</strong> Fabriken und Werkstätten<br />
wie auch die aufständischen Truppen müssen sofort ihre Vertreter in die revolutionäre<br />
Provisorische Regierung wählen«. Das Manifest war im offiziellen Organ des<br />
Sowjets ohne Kommentare und Wi<strong>der</strong>reden abgedruckt worden, als betreffe es nur eine<br />
akademische Frage. Doch auch die leitenden Bolschewiki verliehen ihrer Losung rein<br />
demonstrative Bedeutung. Sie handelten nicht wie Vertreter einer proletarischen Partei,<br />
die sich zum selbständigen Kampf um die Macht vorbereitet, son<strong>der</strong>n als linker Flügel<br />
<strong>der</strong> Demokratie, <strong>der</strong>, seine Prinzipien verkündend, die Absicht hat, während einer<br />
unbestimmt langen Zeit die Rolle <strong>der</strong> loyalen Opposition zu spielen.<br />
Suchanow behauptet, daß in <strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees vom 1. März im<br />
Zentrum <strong>der</strong> Beratungen nur die Bedingungen <strong>der</strong> Machtübergabe standen: gegen die<br />
Tatsache <strong>der</strong> Bildung einer bürgerlichen Regierung selbst hätte sich keine einzige<br />
Stimme erhoben, ungeachtet dessen, daß im Exekutivkomitee von den 39 Mitglie<strong>der</strong>n 11<br />
zu den Bolschewiki und den diesen Nahestehenden zählten, darunter drei Mitglie<strong>der</strong> des<br />
Zentrums, Salutzki, Schljapnikow und Molotow.<br />
Am nächsten Tage stimmten im Sowjet, nach einem Bericht Schljapnikows selbst, von<br />
den anwesenden 400 Deputierten im ganzen 19 Mann gegen die Übergabe <strong>der</strong> Macht an<br />
die Bourgeoisie, während die bolschewistische Fraktion bereits an die 40 Mann zählte.<br />
Die Abstimmung an sich verlief vollkommen unbemerkt, in formell-parlamentarischer<br />
Ordnung, ohne klare Gegenvorschläge seitens <strong>der</strong> Bolschewiki, ohne Kampf und ohne<br />
jegliche Agitation in <strong>der</strong> bolschewistischen Presse.<br />
Am 4. März beschloß das Büro des Zentralkomitiees eine Resolution über den konterrevolutionären<br />
Charakter <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und die Notwendigkeit, den Kurs<br />
auf die demokratische Diktatur des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft zu halten. Das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 187
Petrogra<strong>der</strong> Komitee, das nicht ohne Grund diese Resolution als akademisch bezeichnete,<br />
da sie überhaupt nicht sagte, was im Augenblick zu tun sei, ging an das Problem vom<br />
entgegengesetzten Ende heran. »Der vom Sowjet angenommenen Resolution über die<br />
Provisorische Regierung Rechnung tragend«, erklärte es, »<strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung nicht entgegenzuwirken, insofern wie ...« Im wesentlichen war es die Position<br />
<strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre, nur auf die zweite Schützengrabenlinie<br />
zurückverlegt. Die offen opportunistische Resolution des Petrogra<strong>der</strong> Komitees wi<strong>der</strong>sprach<br />
nur <strong>der</strong> Form nach <strong>der</strong> Position des Zentralkomitees, <strong>der</strong>en akademischer Charakter<br />
nichts an<strong>der</strong>es bedeutete ah die politische Versöhnung mit <strong>der</strong> vollzogenen Tatsache.<br />
Die Bereitschaft, sich schweigend o<strong>der</strong> mit einem Vorbehalt vor <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie zu verneigen, fand keineswegs ungeteilte Sympathie in <strong>der</strong> Partei. Die<br />
bolschewistischen Arbeiter stießen sogleich auf die Provisorische Regierung wie auf eine<br />
feindliche Feste, die sich plötzlich auf ihrem Wege erhob. Das Wyborger Komitee führte<br />
tausendköpfige Versammlungen von Arbeitern und Soldaten durch, die fast einstimmig<br />
Resolutionen über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Machtergreifung durch den Sowjet annahmen.<br />
Ein aktiver Teilnehmer dieser Agitation, Dingelstedt, bezeugt: »Es gab kein Meeting,<br />
keine Arbeiterversammlung, die unsere Resolutionen dieses Inhalts abgelehnt haben<br />
würde, wenn nur irgend jemand dagewesen wäre, sie einzubringen.« Menschewiki und<br />
Sozialrevolutionäre fürchteten sich in <strong>der</strong> ersten Zeit, mit ihrer Fragestellung die Macht<br />
betreffend vor einem Arbeiter- und Soldatenauditorium offen aufzutreten. Die Resolution<br />
<strong>der</strong> Wyborger wurde in Anbetracht ihres Erfolges gedruckt und plakatiert. Das Petrogra<strong>der</strong><br />
Komitee aber belegte diese Resolution mit einem direkten Verbot, und die Wyborger<br />
mußten nachgeben.<br />
In <strong>der</strong> Frage des sozialen Inhalts <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong> Perspektiven ihrer Entwicklung<br />
war die Position <strong>der</strong> bolschewistischen Leitung nicht min<strong>der</strong> verworren. Schljapnikow<br />
berichtet: »Wir waren mit den Menschewiki darin einig, daß wir den Moment eines<br />
revolutionären Bruches <strong>der</strong> Feudal- und Leibeigenschaftsverhältnisse durchleben und<br />
daß diese durch verschiedene, den bürgerlichen Verhältnissen eigene "Freiheiten"<br />
abgelöst werden.« Die 'Prawda' schrieb in ihrer ersten Nummer: »Die Grundaufgabe ist<br />
... Einführung des demokratisch-republikanischen Regimes.« In seiner Weisung an die<br />
Arbeiterdeputierten verkündete das Moskauer Komitee: »Das Proletariat ist bestrebt, die<br />
Freiheit für den Kampf um den Sozialismus - das Endziel - zu erlangen.« Der traditionelle<br />
Hinweis auf das "Endziel" unterstreicht zur Genüge die historische Distanz in<br />
bezug auf den Sozialismus. Weiter ging niemand. Die Befürchtung, die Grenzen <strong>der</strong><br />
demokratischen <strong>Revolution</strong> zu überschreiten, diktierte die Politik des Abwartens, <strong>der</strong><br />
Anpassung und des faktischen Rückzuges vor den Versöhnlern.<br />
Wie drückend die politische Charakterlosigkeit des Zentrums sich auf die Provinz<br />
auswirkte, ist nicht schwer zu begreifen. Begnügen wir uns mit dem Zeugnis eines<br />
Leiters <strong>der</strong> Saratower Organisation: »Unsere Partei, die an dem Aufstand aktiv beteiligt<br />
gewesen war, hatte offenbar den Einfluß auf die Massen verloren, und er wurde von den<br />
Soziakevolutionären aufgefangen. Welches dier Parolen <strong>der</strong> Bolschewiki waren, wußte<br />
niemand ... Ein sehr unangenehmes Bild.«<br />
Die linken Bolschewiki, vor allem die Arbeiter, waren aus allen Kräften bestrebt, die<br />
Quarantäne zu durchbrechen. Doch auch sie wußten nicht, wie die Argumente vom<br />
bürgerlichen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und den Gefahren <strong>der</strong> Isolierung für das Proleta-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 188
iat zu parieren. Mit innerer Überwindung unterwarfen sie sich den Direktiven <strong>der</strong><br />
Leitung. Verschiedene Strömungen im Bolchewismus prallten vom ersten Tag an<br />
ziemlich heftig aneinan<strong>der</strong>, aber nicht eine führte ihre Gedanken zu Ende. Die 'Prawda'<br />
spiegelte diesen verworrenen und schwankenden Ideenzustand <strong>der</strong> Partei wi<strong>der</strong>, ohne<br />
eine Einheit hineinzubringen. Die Lage wurde noch verwickelter Mitte März, nach <strong>der</strong><br />
Ankunft Kamenews und Stalins aus <strong>der</strong> Verbannung, die das Steuer <strong>der</strong> offiziellen<br />
Parteipolitik schroff nach rechts warfen.<br />
Bolschewik fast seit <strong>der</strong> Entstehung des Bolschewismus, stand Kamenew stets auf dem<br />
rechten Flügel <strong>der</strong> Partei. Nicht ohne theoretische Vorbereitung und politischen Instinkt,<br />
mit großer Erfahrung im <strong>russischen</strong> Fraktionskampfe und einem Vorrat an politischen<br />
Beobachtungen im Westen, griff er besser als viele an<strong>der</strong>e Bolschewiki Lenins Gesamtideen<br />
auf, aber nur, um ihnen in <strong>der</strong> Praxis eine möglichst friedliche Deutung zu geben.<br />
We<strong>der</strong> Selbständigkeit des Entschlusses noch Initiative <strong>der</strong> Tat durfte man von ihm<br />
erwarten. Hervorragen<strong>der</strong> Propagandist, Redner, kein glänzen<strong>der</strong>, aber ein nachdenklicher<br />
Journalist, war Kamenew beson<strong>der</strong>s wertvoll für Verhandlungen mit an<strong>der</strong>en<br />
Parteien und sogar für die Erforschung an<strong>der</strong>er Gesellschaftskreise, wobei er von solchen<br />
Exkursionen stets ein Partikel parteifrem<strong>der</strong> Stimmungen mitbrachte. Diese Eigenschaften<br />
Kamenews traten <strong>der</strong>art klar zutage, daß sich fast niemand in bezug auf seine politische<br />
Figur täuschte. Suchanow vermerkt an ihm das Fehlen »scharfer Kanten« er »muß<br />
stets ins Schlepptau genommen werden, und wenn er sich mitunter auch wi<strong>der</strong>setzt, so<br />
doch nicht heftig«. In gleichem Sinne schreibt auch Stankewitseh: Die Beziehungen<br />
Kamenews zu den Gegnern »waren so mil<strong>der</strong> Art, daß es schien, als schämte er sich<br />
selbst über die Unversöhnlichkeit seiner Position im Komitee war er zweifellos nicht<br />
Feind, son<strong>der</strong>n nur Opposition«. Dem ist fast nichts hinzuzufügen.<br />
Stalin stellte sowohl seiner psychologischen Verfassung wie dem Charakter seiner<br />
Parteiarbeit nach, einen ganz an<strong>der</strong>eu Bolschewikentyp dar: den des festen, theoretisch<br />
und politisch primitiven Organisators. Blieb Kamenew in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Publizisten<br />
eine Reihe von Jahren mit Lenin in <strong>der</strong> Emigration, wo sich <strong>der</strong> Herd <strong>der</strong> theoretischen<br />
Arbeit <strong>der</strong> Partei befand, so war Stalin als sogenannter Praktiker ohne theoretischen<br />
Horizont, ohne breite politische Interesse und ohne Kenntnis frem<strong>der</strong> Sprachen<br />
vom <strong>russischen</strong> Bodcn nicht zu trennen. Solche Arbeiter tauchten im Auslande nur<br />
vorübergehend auf, um Instruktionen zu erhalten und wie<strong>der</strong> nach Rußland zurückzukehren.<br />
Stalin zeichnete sich unter den Praktikern durch Energie, Beharrlichkeit und Erfindungsgabe<br />
für Kulissenkombinationen aus. Wenn Kamenew aus seiner Natur heraus sich<br />
<strong>der</strong> praktischen Folgerunge Bolschewismus "schämte", so neigte im Gegenteil Stalin<br />
einmal erfaßte praktische Folgerungen ohne jede Mil<strong>der</strong>ung zu verteidigen, mit einer<br />
Mischung von Beharrlichkeit und Grobheit.<br />
Ungeachtet <strong>der</strong> Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere haben Kamenew und Stalin nicht<br />
zufällig zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine gemeinsame Position eingenommen: sie ergänzten<br />
einan<strong>der</strong>. <strong>Revolution</strong>äre Konzeption ohne revolutionären Willen ist dasselbe wie eine<br />
Uhr mit zerbrochener Fe<strong>der</strong>: <strong>der</strong> politische Zeiger Kamenews blieb stets hinter den<br />
revolutionären Aufgaben zurück. Doch das Fehlen einer breiten politischen Konzeption<br />
verurteilt den willensstärksten Politiker zur Unentschiedenheit beim Eintreten großer und<br />
komplizierter Ereignisse. Der Empiriker Stalin ist fremden Einflüssen ausgesetzt nicht<br />
von seiten des Willens, son<strong>der</strong>n des Denkens. So brachten <strong>der</strong> Publizist ohne Entschluß-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 189
kraft und <strong>der</strong> Organisator ohne Horizont im März ihren Bolschewismus bis hart an die<br />
Grenze des Menschewismus. Stalin zeigte sich dabei noch weniger befähigt als<br />
Kamenew, im Exekutivkomitee, in das er eintrat, als Vertreter <strong>der</strong> Partei eine selbständige<br />
Position zu entwickeln. In den Protokollen wie in <strong>der</strong> Presse ist nicht ein Antrag,<br />
eine Erklärung, ein Protest enthalten, in denen Stalin, im Gegensatz zur Kriecherei <strong>der</strong><br />
"Demokratie" vor dem Liberalismus, dem bolschewistischen Standpunkt Ausdruck<br />
verliehen hätte Suchanow sagt in seinen Aufzeichnungen: »Bei den Bolschewiki tauchte<br />
außer Kamenew zu dieser Zeit im Exekutivkomitee Stalin auf ... Während seiner bescheidenen<br />
Tätigkeit im Exekutivkomitee machte [er] - nicht nur auf mich den Eindruck eines<br />
grauen Hecks, <strong>der</strong> manchmal trübe schimmerte. Mehr ist über ihn eigentlich nicht zu<br />
sagen.« Wenn Suchanow Stalin im großen und ganzen sichtlich unterschätzt, so charakterisiert<br />
er doch richtig dessen politische Gesichtslosigkeit im versöhnlerischen Exekutivkomitee.<br />
Am 14. März wurde das Manifest "An die Völker <strong>der</strong> ganzen Welt", das die Februarrevolution<br />
im Interesse <strong>der</strong> Entente deutete und den Triumph des neuen, republikanischen<br />
Sozialpatriotismus französischer Marke darstellte, im Sowjet einstimmig angenommen.<br />
Das war zweifellos ein Sieg Kamenew-Stalin, <strong>der</strong> offensichtlich ohne großen Kanipf<br />
erreicht worden war. Die 'Prawda' schrieb darüber als von einem »bewußten Kompromiß<br />
zwischen den verschiedenen im Sowjet vertretenen Ströiiiungen«. Es hätte nur hinzugefügt<br />
werden müssen, daß <strong>der</strong> Kompromiß einen offenen Bruch mit <strong>der</strong> Strömung Lenins<br />
bedeutete, die im Sowjet überhaupt nicht vertreten war.<br />
Das Mitglied <strong>der</strong> ausländischen Redaktion des Zentralorgans, Kamenew, das Mitglied<br />
des Zentralkomitees, Stalin, und <strong>der</strong> Dumadeputierte Muranow, ebenfalls aus Sibirien<br />
zurückgekehrt, schoben die alte, zu "inke" Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' beiseite und nahmen,<br />
auf ihre problematischen Rechte gestützt, am 15. März die Zeitung in ihre Hände. Im<br />
Programmartikel <strong>der</strong> neuen Redaktion wurde verkündet, die BolschewIki würden die<br />
Provisorische Regierung entschieden unterstützen, »insofern sie gegen Reaktion und<br />
Konterrevolution kämpft«. In <strong>der</strong> Frage des Krieges sprachen sich die neuen Leiter nicht<br />
weniger kategorisch aus: solange die deutsche Armee ihrem Kaiser gehorcht, müßte <strong>der</strong><br />
russische Soldat »fest auf seinem Posten stehen, Kugel mit Kugel und Geschoß mit<br />
Geschoß beantworten«. »Nicht das inhaltlose "Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg" ist unsere Losung.<br />
Unsere Losung ist - <strong>der</strong> Druck auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu<br />
zwingen ... mit einem Versuch hervorzutreten, alle kämpfenden Län<strong>der</strong> zur sofortigen<br />
Aufnahme von Friedensverhandlungen zu bewegen ... Bis dahin bleibt aber je<strong>der</strong> auf<br />
seinem Kampfposten!« Idee wie Formulierung sind durch und durch im Geiste <strong>der</strong><br />
Landesverteidigung. Das Programm des Druckes auf die imperialistische Regierung mit<br />
dem Ziele, diese zur friedlichen Handlungsweise »zu bewegen«, war das Programm<br />
Kautskys in Deutschland, Jean Longuets in Frankreich, Macdonalds in England, keinesfalls<br />
aber das Programm Lenins, <strong>der</strong> zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> imperialistischen Herrschaft<br />
aufrief. In ihrer Verteidigung vor <strong>der</strong> patriotischen Presse ging die 'Prawda' noch weiter:<br />
»Jeglicher "Defätismus"«, schrieb sie, »o<strong>der</strong> richtiger das, was die nicht wählerische<br />
Presse unter dem Schutze <strong>der</strong> zaristischen Zensur mit diesem Namen brandmarkte, starb<br />
in dem Augenblick, als in den Straßen Petrograds das erste revolutionäre Regiment<br />
erschien.« Das war direkt Abgrenzung gegen Lenin. Der »Defätismus« war keinesfalls<br />
eine Erfindung <strong>der</strong> feindlichen Presse unter dem Schutze <strong>der</strong> Zensur, er wurde von Lenin<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 190
mit <strong>der</strong> Formel gegeben: »Die Nie<strong>der</strong>lage Rußlands ist das kleinere Übel.« Das Erscheinen<br />
des ersten revolutionären Regiments und sogar <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Monarchie än<strong>der</strong>te an<br />
dem imperialistischen Charakter des Krieges nichts. »Der Tag des Erscheinens <strong>der</strong><br />
ersten Nummer <strong>der</strong> umgestalteten 'Prawda' - am 15. März -«, erzählt Schljapnikow,<br />
»war ein Triumphtag für die Landesverteidiger. Das ganze Taurische Palais, von den<br />
Geschäftemachern des Komitees <strong>der</strong> Reichsduma bis zum Herzen <strong>der</strong> revolutionären<br />
Demokratie - dem Exekutivkomitee-, waren von <strong>der</strong> Neuigkeit erfüllt: dem Siege <strong>der</strong><br />
gemäßigten, vernünftigen Bolschewiki über die Extremen. Im Exekutivkomitee selbst<br />
empfing man uns mit giftigem Lächeln ... Als diese Nummer <strong>der</strong> 'Prawda' in die Fabriken<br />
gelangte, rief sie unter den Mitglie<strong>der</strong>n unserer Partei und den mit ihr Sympathisierenden<br />
tiefes Erstaunen hervor und höhnende Freude bei den Gegnern ... Die Empörung in<br />
den Bezirken war groß, und als die Proletarier erfuhren, daß die 'Prawda' von drei aus<br />
Sibirien angekommenen früheren Leitern des Blattes eigenmächtig übernommen worden<br />
sei, verlangten sie <strong>der</strong>en Ausschluß aus <strong>der</strong> Partei.«<br />
Die 'Prawda' war bald gezwungen, einen scharfen Protest <strong>der</strong> Wyborger abzudrucken:<br />
»Wenn sie [die Zeitung] nicht das Vertrauen <strong>der</strong> Arbeiterviertel verlieren will, so muß<br />
und wird sie das Licht des revolutionären Bewußtseins tragen, so grell es den bürgerlichen<br />
Eulen auch sein mag.« Proteste von unten veranlaßten die Redaktion, etwas<br />
vorsichtiger in den Ausdrücken zu sein, nicht aber die Politik zu än<strong>der</strong>n. Sogar Lenins<br />
erster Artikel, <strong>der</strong> inzwischen aus dem Auslande angekommen war, berührte das<br />
Bewußtsein <strong>der</strong> Redaktion nicht. Der Kurs ging auf <strong>der</strong> ganzen Linie nach rechts. »In<br />
unserer Agitation«, erzählt Dingelstedt, ein Vertreter des linken Flügeis, »mußten wir<br />
dem Prinzip <strong>der</strong> Doppelherrschaft Rechnung tragen ... und die Unvermeidlichkeit dieses<br />
Umweges jener Arbeiter- und Soldatenmasse nachzuweisen suchen, die während eines<br />
halben Monats intensiven politischen Lebens in einem ganz an<strong>der</strong>en Begriff ihrer Aufgaben<br />
erzogen worden war.«<br />
Die Politik <strong>der</strong> Partei im ganzen Lande glich sich naturgemäß <strong>der</strong> 'Prawda' an. In vielen<br />
Sowjets wurden jetzt Resolutionen über grundlegende Fragen einstimmig angenommen:<br />
die Bolschewiki beugten sich einfach <strong>der</strong> Sowjetmehrheit. Auf <strong>der</strong> Sowjetkonferenz des<br />
Moskauer Bezirks schlossen sich die Bolschewiki <strong>der</strong> Resolution <strong>der</strong> Sozialpatrioten<br />
über den Krieg an. Schließlich stimmten die Bolschewiki auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Konferenz<br />
<strong>der</strong> Vertreter von 82 Sowjets in Petrograd, Ende März und Anfang April, für die<br />
offizielle, von Dan befürwortete Resolution über die Macht. Diese merkwürdige politische<br />
Annäherung an die Menschewiki lag im Wesen <strong>der</strong> breit herausgebildeten Vereinigungstendenzen.<br />
In <strong>der</strong> Provinz veremigten sich Bolschewiki und Menschewiki in<br />
gemeinsamen Organisationen. Die Fraktion Kamenew-Stalin verwandelte sich immer<br />
mehr in die linke Flanke <strong>der</strong> sogenannten revolutionären Demokratie und schloß sich <strong>der</strong><br />
Mechanik des parlamentarischen Hinter-den-Kulissen-"Drucks" auf die Bourgeoisie an,<br />
diesen durch einen Druck hinter den Kulissen auf die Demokratie ergänzend.<br />
Der ausländische Teil des Zentralkomitees und die Redaktion des Zentralorgans 'Sozialdemokrat'<br />
bildeten das geistige Zentrum <strong>der</strong> Partei. Lenin, mit Sinowjew als Helfer,<br />
trug die ganze leitende Arbeit. Äußerst verantwortliche Sekretärpflichten erfüllte Lenins<br />
Frau, Krupskaja. In <strong>der</strong> praktischen Arbeit stützte sich dieses kleine Zentrum auf die<br />
Hilfe einiger Dutzend zu den Bolschewiki gehören<strong>der</strong> Emigranten. Die Abgetrennteit<br />
von Rußland wurde im Kriege um so unerträglicher, je enger die Militärpolizei <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 191
Entente ihre Kreise zog. Der Ausbruch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, den man lange und gespannt<br />
erwartet hatte, kam überraschend. England lehnte kategorisch die Durchlassung <strong>der</strong><br />
Emigranten-Internationalisten, über die es sorgfältigst Listen führte, nach Rußland ab.<br />
Lenin raste im Züricher Käfig, nach einem Ausweg suchend. Unter Hun<strong>der</strong>ten von<br />
Plänen, die einan<strong>der</strong> ablösten, gab es auch den, auf den Paß eines taubstummen Skandinaviers<br />
zu reisen. Gleichzeitig läßt Lenin keine Gelegenheit vorübergehen, seine Stimme<br />
aus <strong>der</strong> Schweiz hören zu lassen. Schon am 6. März telegraphiert er über Stockholm nach<br />
Petrograd: »Unsere Taktik: restloses Mißtrauen, keinerlei Unterstützung <strong>der</strong> neuen<br />
Regierung; Kerenski mißtrauen wir beson<strong>der</strong>s; Bewaffnung des Proletariats die einzige<br />
Garantie; unverzüglich Wahlen in die Petrogra<strong>der</strong> Duma; keine Annäherung an an<strong>der</strong>e<br />
Parteien.« Allein die Erwähnung <strong>der</strong> Wahlen für die Duma, statt für den Sowjet, hatte in<br />
dieser ersten Direktive episodischen Charakter und kam bald in Wegfall; die übrigen<br />
Punkte, mit telegraphischer Bestimmtheit ausgedrückt, gehen schon vollständig die allgemeine<br />
Richtung <strong>der</strong> Politik wie<strong>der</strong>. Gleichzeitig beginnt Lenin, an die 'Prawda' seine<br />
"Briefe aus <strong>der</strong> Ferne" zu senden, die, auf Bruchteile ausländischer Informationen<br />
gestützt, eine fertige Analyse <strong>der</strong> revolutionären Situation enthalten. Die Nachrichten <strong>der</strong><br />
ausländischen Presse ermöglichen ihm bald den Schluß, daß die Provisorische Regierung<br />
unter direkter Beihilfe nicht nur Kerenskis, son<strong>der</strong>n auch Tschcheidses die Arbeiter mit<br />
Erfolg betrügt, indem sie den im-perialistischen Krieg für einen Landesverteidigungskrieg<br />
ausgibt. Am 17. März schickt Lenin durch Vermittlung <strong>der</strong> Freunde in Stockholm<br />
einen von Sorge erfüllten Brief. »Unsere Partei würde sich für ewig mit Schande bedekken,<br />
politisch umbringen, wenn sie auf einen solchen Betrug einginge ... lch werde sogar<br />
einen sofortigen Bruch, mit wem auch immer aus unserer Partei, vorziehen, als dem<br />
Sozialpairiotismus nachgeben ...« Nach dieser dem Anschein nach unpersönlichen,<br />
jedoch auf bestimmte Personen berechneten Drohung beschwört Lenin: »Kamenew muß<br />
begreifen, daß auf ihm welthistorische Verantwortung ruht.« Kamenew wird deshalb<br />
genannt, weil es sich um prinzipielle Fragen <strong>der</strong> Politik handelt. Würde Lenin die praktische<br />
Kampfaufgabe meinen, er würde eher an Stalin denken. Doch gerade in jenen<br />
Stunden, als Lenin bestrebt war, durch das rauchende Europa hindurch die Spannkraft<br />
seines Willens nach Petrograd zu leiten, schwenkte Kamenew unter Mitwirkung Stalins<br />
schroff in die Richtung zum Sozialpatriotismus ab.<br />
All die Pläne von Schminke, Perücken, fremden und falschen Pässen fielen einer nach<br />
dem an<strong>der</strong>en als undurchführbar weg. Gleichzeitig trat immer konkreter die Idee <strong>der</strong><br />
Reise durch Deutschland hervor. Dieser Plan erschreckte die Mehrzahl <strong>der</strong> Emigranten,<br />
und zwar nicht nur die Patrioten. Martow und an<strong>der</strong>e Menschewiki wagten nicht, sich <strong>der</strong><br />
kühnen Initiative Lenins anzuschließen, und fuhren fort, vergeblich an die Türen <strong>der</strong><br />
Entente zu klopfen. Vorwürfe wegen <strong>der</strong> Reise durch Deutschland wurden später sogar<br />
von vielen Bolschewiken erhoben, infolge <strong>der</strong> Schwierigkeiten, die <strong>der</strong> »plombierte<br />
Wagen« für die Agitation geschaffen hatte. Lenin schloß von Anfang an die Augen nicht<br />
vor den späteren Schwierigkeiten. Krupskaja schrieb kurz vor <strong>der</strong> Abreise aus Zürich:<br />
»Gewiß werden die Patrioten in Rußland ein Geheul anstimmen, aber man muß darauf<br />
gefaßt sein.« Die Frage stand so: entwe<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schweiz bleiben o<strong>der</strong> durch Deutschland<br />
reisen. An<strong>der</strong>e Wege gab es überhaupt nicht. Konnte Lenin da auch nur einen<br />
Moment zweifeln? Genau einen Monat später mußten Martow, Axelrod und an<strong>der</strong>e<br />
Lenins Spuren folgen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 192
In <strong>der</strong> Organisation dieser ungewöhnlichen Reise durch feindliches Land während des<br />
Krieges äußern sich die grundlegenden Züge Lenins als Politiker: Kühnheit des Vorhabens<br />
und umsichtige Sorgfalt <strong>der</strong> Durchführung. In diesem großen <strong>Revolution</strong>är lebte ein<br />
pedantischer Notar, <strong>der</strong> jedoch seinen Platz kannte und zur Aufnahme seines Akts in dem<br />
Moment schritt, wo dies <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> Vernichtung sämtlicher Notariatsakte dienen<br />
konnte. Äußerst sorgfältig ausgearbeitete Bedingungen <strong>der</strong> Reise durch Deutschland<br />
bildeten die Basis eines eigenartigen internationalen Vertrages zwischen <strong>der</strong> Redaktion<br />
<strong>der</strong> Emigrantenzeitung und dem Reiche <strong>der</strong> Hohenzollern. Lenin for<strong>der</strong>t für die Durchfahrt<br />
volle Exterritorialität: keine Kontrolle über die personale Zusammensetzung <strong>der</strong><br />
Durchreisenden, ihrer Pässe und ihres Gepäcks, kein Mensch durfte unterwegs den<br />
Wagen betreten (daher die Legende vom »plombierten« Wagen). Ihrerseits verpflichtete<br />
sich die Emigrantengruppe, in Rußland auf die Freilassung einer entsprechenden Anzahl<br />
von Zivilgefangenen, Deutschen und Österreichern, zu dringen.<br />
Gemeinsam mit einigen ausländischen <strong>Revolution</strong>ären wurde eine Deklaration ausgearbeitet.<br />
»Die <strong>russischen</strong> Internationalisten, die ... sich jetzt nach Rußland begeben, um<br />
dort <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu dienen, werden uns helfen, die Proletarier <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Län<strong>der</strong>, insbeson<strong>der</strong>e die Proletarier Deutschlands und Österreich-Ungarns, zur<br />
Erhebung gegen ihre Regierungen zu bringen.« So lautete das Protokoll, das von Loriot<br />
und Guilbeaux für Frankreich, Paul Levi für Deutschland, Platten für die Schweiz, von<br />
den schwedischen linken Deputierten und an<strong>der</strong>en mehr unterschrieben wurde. Unter<br />
diesen Bedingungen und Vorsichtsmaßregeln reisten Ende März dreißig russische<br />
Emigranten aus <strong>der</strong> Schweiz ab, selbst unter den Frachten des Krieges eine Fracht von<br />
außerordentlieber Explosivkraft.<br />
In dem Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter erinnerte Lenin an die Erklärung des<br />
Zentralorgans <strong>der</strong> Bolschewiki vom Herbst 1915: Sollte die <strong>Revolution</strong> in Rußland eine<br />
republikanische Regierung an die Macht bringen, die den imperialistischen Krieg fortsetzen<br />
will, werden die Bolschewiki gegen die Verteidigung des republikanischen Vaterlandes<br />
sein. Heute ist diese Situation eingetreten. »Unsere Losung: keine Unterstützung <strong>der</strong><br />
Regierung Gutschkow-Miljukow.« Mit diesen Worten betrat jetzt Lenin das Territorium<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung sahen jedoch keinen Grund zur Beunruhigung.<br />
Nabokow erzählt: »ln einer Märzsitzung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, in <strong>der</strong><br />
Pause, vor <strong>der</strong> Fortsetzung eines Gesprächs über die anwachsende bolschewistische<br />
Propaganda, erklärte Kerenski, wie üblich hysterisch kichernd: "Wartet nur, Lenin selbst<br />
ist unterwegs, da wird es erst richtig beginnen" ...« Kerenski hatte recht: das Richtige<br />
sollte erst beginnen. Doch sahen die Minister, nach den Worten Nabokows, keinen<br />
Grund zu Beunruhigung: »Allein die Tatsache, sich an Deutschland gewandt zu haben,<br />
wird Lenins Autorität <strong>der</strong>maßen untergraben, daß man ihn nicht zu fürchten haben<br />
wird.« Wie üblich, waren die Minister auch hier sehr scharfsichtig.<br />
Freunde und Schüler reisten nach Finnland, Lenin abzuholen. »Kaum hatte er das<br />
Coupé betreten und Platz genommen«, erzählt Raskolnikow, ein junger Seeoffizier und<br />
Bolschewik, »fiel Wladimir lljitsch auch schon über Kamenew her: "Was wird bei euch<br />
in <strong>der</strong> Prawda geschrieben? Wir haben einige Nummern gesehen und tüchtig auf euch<br />
geschimpft" ...« Das war die Begegnung nach einigen Jahren <strong>der</strong> Trennung. Doch das<br />
hin<strong>der</strong>te nicht, daß sie herzlich war.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 193
Unter Mitwirkung <strong>der</strong> militärischen Organisation mobilisierte das Petrogra<strong>der</strong> Komitee<br />
einige tausend Arbeiter und Soldaten für den festlichen Empfang Lenins. Eine befreundete<br />
Panzerwagendivision ordnete für diesen Zweck alle vorhandenen Panzerautos ab.<br />
Das Komitee beschloß, in Begleitung <strong>der</strong> Panzerwagen zum Bahnhof zu gehen: die<br />
<strong>Revolution</strong> hatte bereits die Leidenschaft für diese massigen Ungeheuer geweckt, die in<br />
den Straßen <strong>der</strong> Stadt auf seiner Seite zu haben so vorteilhaft ist.<br />
Die Beschreibung des offiziellen Empfanges, <strong>der</strong> im sogenannten Zarenzimmer des<br />
Finnländischen Bahnhofs stattfand, bildete eine sehr lebendige Seite <strong>der</strong> vielbändigen<br />
und sonst recht schläfrigen Aufzeichnungen Suchanows. »Ins Zarenzimmer kam o<strong>der</strong><br />
richtiger stürzte Lenin herein, im runden Hut, mit erfrorenem Gesicht und - einem prächtigen<br />
Bukett in <strong>der</strong> Hand. Als er bis zur Mitte des Zimmers gelaufen war, blieb er plötzlich<br />
vor Tschcheidse stehen, als sei er auf ein ganz unerwartetes Hin<strong>der</strong>nis gestoßen. Da<br />
trug Tschcheidse, ohne sein bisheriges mürrisches Aussehen zu verän<strong>der</strong>n, folgende<br />
nicht nur im Geist und Text, son<strong>der</strong>n auch im Ton einer Belehrung gehaltene "Begriißungs"-Rede<br />
vor: »Genosse Lenin, im Namen des Petersburger Sowjets und <strong>der</strong> gesamten<br />
<strong>Revolution</strong> begrüßen wir Sie in Rußland ... Aber wir sind <strong>der</strong> Ansicht, daß die Hauptaufgabe<br />
<strong>der</strong> revolutionären Demokratie jetzt in <strong>der</strong> Verteidigung unserer <strong>Revolution</strong><br />
gegen alle Anschläge, von innen wie von außen, besteht ... Wir hoffen, daß Sie gemeinsam<br />
mit uns diese Ziele verfolgen werden.« Tschcheidse schwieg. Ich war außer mir vor<br />
Überraschung ... Lenin aber wußte sichtlich gut, wie sich all dem gegenüber zu<br />
verhalten. Er stand da mit einem Ausdruck, als betreffe all das Geschehene ihn nicht im<br />
geringsten: er blickte nach allen Seiten, betrachtete die Gesichter ringsum und sogar die<br />
Decke des "Zaren"zimmers, ordnete sein Bukett (das recht wenig mit seiner ganzen Figur<br />
harmonierte), und dann, von <strong>der</strong> Delegation des Exekutivkomitees schon völlig<br />
abgewandt, "antwortete" er: »Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin<br />
glücklich, in eurer Person die siegreiche Russische <strong>Revolution</strong> zu begrüßen, euch als die<br />
Avantgarde <strong>der</strong> proletanschen Weltarmee zu begrüßen ... Die Stunde ist nicht fern, wo<br />
auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter,<br />
die Kapitalisten, richten werden ... Die Russische <strong>Revolution</strong>, von euch vollbracht,<br />
hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution ...«<br />
Suchanow hat recht, - das Bukett harmonierte schlecht mit Lenins Figur, es behin<strong>der</strong>te<br />
ihn zweitellos und beengte ihn durch die Deplaziertheit auf dem grauen Hintergrunde <strong>der</strong><br />
Ereignisse. Überhaupt liebte Lenin Blumen nicht im Bukett. Doch noch viel mehr mußte<br />
ihn dieser offizielle heuchlerisch-belehrende Empfang im Paradezimmer des Bahnhofs<br />
beengen. Tschcheidse war besser als seine Begrüßungsrede. Er fürchtete Lenin ein<br />
wenig. Doch war ihm sicher eingeflößt worden, man müsse diesen "Sektierer" von<br />
Anfang an zurechtweisen. Als Ergänzung zu <strong>der</strong> Rede Tschcheidses, die das traurige<br />
Niveau <strong>der</strong> Führung demonstrierte, verfiel ein junger Flottenequipagekommandeur, <strong>der</strong><br />
im Namen <strong>der</strong> Matrosen sprach, darauf, den Wunsch zu äußern, Lenin möge Mitglied <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung werden. So empfing die Februarrevolution, zerfahren,<br />
wortreich und einfältig den Mann, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> ersten Absicht gekommen war, ihr Sinn und<br />
Willen einzuflößen. Schon diese ersten Eindräcke, die mitgebrachte Besorgnis verzehnfachend,<br />
riefen ein schwer zurückzuhaltendes Protestgefühl hervor. Nur schnell die<br />
Ärmel hochkrempeln! Appellierend von Tschcheidse an die Matrosen und Arbeiter, von<br />
<strong>der</strong> Vaterlandsverteidigung an die internationale <strong>Revolution</strong>, von <strong>der</strong> Provisorischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 194
Regierung an Liebknecht, machte Lenin auf dem Bahnhof nur eine kleine Probe seiner<br />
ganzen weiteren Politik durch.<br />
Und dennoch hatte diese plumpe <strong>Revolution</strong> den Führer sogleich und fest in ihren<br />
Schoß aufgenommen. Die Soldaten verlangten, daß Lenin auf einem Panzerwagen Platz<br />
nähme, und es blieb ihm nichts übrig, als diese For<strong>der</strong>ung zu erfüllen. Die herabgesunkene<br />
Nacht gestaltete den Zug beson<strong>der</strong>s imposant. Bei gelöschten Lichtern <strong>der</strong> übrigen<br />
Panzerwagen durchschnitt <strong>der</strong> Scheinwerfer des Autos, in dem Lenin fuhr, grell die<br />
Finsternis. Der Lichtstrahl entriß dem Dunkel <strong>der</strong> Straßen die erregten Scharen <strong>der</strong><br />
Arbeiter, Soldaten und Matrosen, <strong>der</strong> gleichen, die die größte Umwälzung vollbracht<br />
hatten, die Macht aber zwischen den Fingern entgleiten ließen. Das Militärorchester<br />
mußte unterwegs mehrere Male schweigen, um Lenin die Möglichkeit zu geben, vor<br />
immer neuen und neuen Hörern seine Bahnhofsrede zu variieren. »Der Triumph war<br />
glänzend«, sagt Suchanow, »und sogar recht symbolisch.«<br />
Im Kschesinskaja-Palais, dem bolschewistischen Stab im Atlasnest <strong>der</strong> Hofballerina -<br />
diese Vermischung muß <strong>der</strong> stets wachen Ironie Lenins Spaß gemacht haben -, begannen<br />
die Begrüßungen von neuem. Das war schon zuviel. Lenin erduldete die Ströme von<br />
Lobreden wie ein ungeduldiger Passant den Regen unter einem zufälligen Tor. Er fühlte<br />
die aufrichtige Freude über seine Ankunft heraus, aber es ärgerte ihn, daß diese Freude<br />
so redselig war. Der ganze Ton <strong>der</strong> offiziellen Begrüßungen kam ihm nachgeahmt, affektiert<br />
vor, mit einem Wort, <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie entlehnt, deklamatorisch,<br />
sentimental und falsch. Er sah, daß die <strong>Revolution</strong> ihrer Aufgaben und Wege noch nicht<br />
bestimmt, aber bereits ihre ermüdende Etikette geschaffen hatte. Er lächelte gutmütigvorwurfsvoll,<br />
blickte auf die Uhr und gähnte wohl von Zeit zu Zeit ungezwungen. Noch<br />
waren die letzten Begrüßungsworte nicht verklungen, als <strong>der</strong> ungewöhnliche Gast über<br />
dieses Auditorium mit einem reißenden Strom leidenschaftlicher Gedanken herfiel, die<br />
sehr häufig wie Geffielhiebe klangen. In jener Periode war die Stenographiekunst dem<br />
Bolschewismus noch nicht geläufig. Niemand machte Notizen, alle waren zu stark vom<br />
Geschehen ergriffen. Die Rede ist nicht erhalten geblieben, es blieb nur <strong>der</strong> allgemeine<br />
Eindruck von ihr in den Erinnerungen <strong>der</strong> Zuhörer, aber auch er unterlag <strong>der</strong> Bearbeitung<br />
<strong>der</strong> Zeit: Die Begeisterung wurde vergrößert, die Angst verkleinert. In Wirklichkeit war<br />
<strong>der</strong> Eindruck <strong>der</strong> Rede, selbst bei den Allernächsten, vorwiegend gerade <strong>der</strong> <strong>der</strong> Angst.<br />
Alle gewohnten Formeln, die während des Monats, wie es schien, durch endlose Wie<strong>der</strong>holungen<br />
unerschütterlichc Festigkeit gewonnen hatten, explodierten eine nach <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>n vor den Augen des Auditoriums. Die kurze Leninsche Replik auf dem Bahnhof,<br />
hingeworfen über den Kopf des fassungslosen Tschcheidse, wurde hier zu einer<br />
zweistündigen Rede entwickelt, unmittelbar an die Petrogra<strong>der</strong> Ka<strong>der</strong> des Bolschewismus<br />
gerichtet.<br />
Zufällig war in dieser Versammlung als Gast, eingelassen durch Kamenews Gutmütigkeit<br />
- Lenin duldete solche Nachsicht nicht -, <strong>der</strong> parteilose Suchanow anwesend. Diesem<br />
Umstand verdanken wir die von einem Außenstehenden stammende, halb frindliche, halb<br />
begeisterte Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> ersten Begegnung Lenins mit den Petrogra<strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
»Unvergeßlich ist mir die donnerähnliche Rede, die nicht allein mich, einen zufällig<br />
hierher geratenen Häretiker, erschütterte und verblüffte, son<strong>der</strong>n auch alle Rechtgläubigen.<br />
Ich behaupte, niemand hatte so etwas erwartet. Es schien, als hätten sich alle<br />
Elemente aus ihren Höhlen erhoben, und <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Vernichtung, <strong>der</strong> keine<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 195
Grenzen, keine Zweifel, kcine menschlichen Schwierigkeiten, keine menschlichen<br />
Berechnungen kennt, schwebe im Saale <strong>der</strong> Kschesinskaja über den Häuptern <strong>der</strong><br />
verzauberten Schüler.«<br />
Menschliche Berechnungen und Schwierigkeiten, das sind für Suchanow hauptsächlich<br />
die Schwankungen des Redaktionskreises um die 'Nowaja Schisn', während des Tees bei<br />
Maxim Gorki. Die Berechnungen Lenins waren tieferer Natur. Nicht Elemente schwebten<br />
im Saale, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> menschliche Gedanke, vor den Elementen nicht erschrocken,<br />
son<strong>der</strong>n bestrebt, sie zu begreifen, um sie zu beherrschen. Aber immerhin: <strong>der</strong> Eindruck<br />
ist grell wie<strong>der</strong>gegeben.<br />
»Als ich mit den Genossen hierher fuhr«, sagte Lenin nach Suchanows Wie<strong>der</strong>gabe,<br />
»dachte ich, man würde uns vom Bahnhof direkt in die Peter-Paul-Festung bringen. Wie<br />
wir sehen, sind wir sehr weit davon entfernt. Doch wollen wir die Hoffnung nicht verlieren,<br />
daß das an uns nicht vorbeigehen wird, daß wir es nicht werden vermeiden können.«<br />
Während für die an<strong>der</strong>en die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gleichbedeutend mit <strong>der</strong><br />
Befestigung <strong>der</strong> Demokratie war, führte für Lenin die nächste Perspektive direkt in die<br />
Peter-Paul-Festung. Das klang wie ein unheilkünden<strong>der</strong> Scherz. Doch dachte Lenin, und<br />
gemeinsam mit ihm die <strong>Revolution</strong>, durchaus nicht daran, zu scherzen.<br />
»Die Agrarreform auf gesetzgebendem Wege«, klagt Suchanow, »schleu<strong>der</strong>te er<br />
ebenso weg wie die übrige feste Politik des Sowjets. Er verkündete die organisierte<br />
Aneignung des Landes durch die Bauern, ohne auf irgendwelche Staatsmacht ... zu<br />
warten.«<br />
»Wir brauchen keine parlamentarische Republik, wir brauchen keine bürgerliche<br />
Demokratie, wir brauchen keinerlei Regierung außer den Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten<br />
und Landarbeiterdeputierten!«<br />
Gleichzeitig grenzte sich Lenin schroff gegen die Sowjetmehrheit ab, diese in das<br />
feindliche Lager verweisend. »Dies allein genügte in jener Zeit, daß den Zuhörern<br />
schwindlig wurde!«<br />
»Nur die Zimmerwal<strong>der</strong> Linke steht auf <strong>der</strong> Wacht <strong>der</strong> proletarischen Interessen und<br />
<strong>der</strong> Weltrevolution«, gibt Suchanow empört die Leninschen Gedanken wie<strong>der</strong>. »Die<br />
übrigen sind die gleichen Opportunisten, die gute Worte sprechen, in <strong>der</strong> Tat aber ...<br />
die Sache des Sozialismus und <strong>der</strong> Arbeitermassen verraten.«<br />
»Entschieden geißelte er die Taktik, die die leitenden Parteigruppen und einzelne<br />
Genossen bis zu seiner Ankunft verfolgt hatten«, ergänzt Raskolnikow Suchanow.<br />
»Hier waren die verantwortlichsten Parteiarbeiter vertreten. Aber auch ihnen kam die<br />
Rede Iljitschs als eine wahre Offenbarung. Sie hatte den Rubikon gezogen zwischen<br />
<strong>der</strong> Taktik des gestrigen und des heutigen Tages.«<br />
Diskussionen über das Referat gab es nicht: alle waren zu betäubt, und je<strong>der</strong> wollte erst<br />
seine Gedanken sammeln. »Ich ging auf die Straße hinaus«, schließt Suchanow, »ich<br />
hatte das Gefühl, als wäre ich in dieser Nacht mit Ketten auf den Kopf geschlagen<br />
worden. Klar war nur das eine: nein, mit Lenin habe ich, <strong>der</strong> Wilde, keinen gemeinsamen<br />
Weg!« Allerdings!<br />
Am nächsten Tage präsentierte Lenin <strong>der</strong> Partei eine kurze schriftliche Darstellung<br />
seiner Ansichten, die, unter dem Namen "Thesen vom 4. April", eines <strong>der</strong> wichtigsten<br />
Dokumente <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geworden sind. Die Thesen gaben einfache Gedanken in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 196
einfachen, allen verständlichen Worten wie<strong>der</strong>. Die Republik, die aus dem Februaraufstand<br />
hervorgegangen ist, ist nicht unsere Republik, und <strong>der</strong> Krieg, den sie führt, nicht<br />
unser Krieg. Die Aufgabe <strong>der</strong> Bolschewiken besteht darin, die imperialistische Regierung<br />
zu stürzen. Doch hält diese sich durch die Unterstützung <strong>der</strong> Sozialtevolutionäre und<br />
Menschewiki, die sich auf das Vertrauen <strong>der</strong> Volksmassen stützen. Wir sind in <strong>der</strong><br />
Min<strong>der</strong>heit. Unter diesen Bedingungen kann von Gewalt unsererseits nicht die Rede sein.<br />
Man muß die Massen lehren, den Versöhnlern und Landesverteidigern zu mißtrauen.<br />
»Man muß geduldig aufklären.« Der Erfolg einer solchen Politik, die sich aus <strong>der</strong> gesamten<br />
Situation ergibt, ist gesichert und wird uns zur Diktatur des Proletariats führen, also<br />
folglich über die Grenzen des bürgerlichen Regimes hinaus. Wir wollen restlos mit dem<br />
Kapital brechen, seine Geheimverträge veröffentlichen und die Arbeiter <strong>der</strong> ganzen Welt<br />
zum Bruch mit <strong>der</strong> Bourgeoisie und zur Liquidierung des Krieges aufrufen. Wir beginnen<br />
die internationale <strong>Revolution</strong>. Nur ihr Erfolg wird unseren Erfolg festigen und den<br />
Übergang zum sozialistischen Regime sichern.<br />
Lenins Thesen wurden in seinem eigenen und nur in seinem Namen veröffentlicht. Die<br />
zentralen Parteiinstitutionen begegneten ihnen mit Feindseligkeit, die nur durch<br />
Fassungslosigkeit gemil<strong>der</strong>t war. Niemand we<strong>der</strong> eine Organisation, noch eine Gruppe,<br />
noch eine Person - schloß sich ihnen durch Unterschrift an. Sogar Sinowjew, <strong>der</strong> gemeinsam<br />
mit Lenin aus dem Auslande angekommen war, wo sich seine Gedanken im Laufe<br />
von zehn Jahren unter Lenins unmittelbarem und täglichem Einfluß geformt hatten, trat<br />
schweigend beiseite. Und dieser Abgang kam dem Lehrer, <strong>der</strong> seinen nächsten Schüler<br />
nur zu gut kannte, nicht unerwartet. Wenn Kamenew Propagandist und Popularisator<br />
war, so war Sinowjew Agitator und sogar, nach Lenins Ausdruck, nur Agitator. Um<br />
Führer zu sein, fehlte ihm vor allem Verantwortunsgefühl. Aber nicht nur dies. Sein je<strong>der</strong><br />
inneren Disziplin bares Denken ist zu theoretischer Arbeit völlig unfähig und geht auf in<br />
<strong>der</strong> formlosen Intuition des Agitators. Dank einem beson<strong>der</strong>s geschärften Instinkt,<br />
erfaßte er stets im Fluge die ihm notwendigen Formulierungen, das heißt solche, die auf<br />
die Massen die effektvollste Wirkung erleichterten. Als Journalist wie als Redner blieb er<br />
unverän<strong>der</strong>lich Agitator, mit dem Unterschiede, daß in den Artikeln hauptsächlich seine<br />
schwachen Seiten hervortreten, während in <strong>der</strong> mündlichen Rede die starken überwiegen.<br />
Verwegener und ungezähmter in <strong>der</strong> Agitation als sonst jemand von den Bolschewiki, ist<br />
Sinowjew noch weniger als Kamenjew zu revolutionärer Initiative fähig. Er ist unentschlossen<br />
wie alle Demagogen. Aus <strong>der</strong> Arena fraktioneller Zusammenstöße in die Arena<br />
<strong>der</strong> unmittelbaren Massenkämpfe hinübergetreten, trennte sich Sinowjew fast unwillkürlich<br />
von seinem Lehrer.<br />
In den letzten Jahren hat es nicht an Versuchen gefehlt, zu beweisen, daß die Aprilkrise<br />
<strong>der</strong> Partei eine flüchtige und fast zufällige Verwirrung gewesen sei. Doch alle zerstäuben<br />
sie zu Asche bei <strong>der</strong> ersten Berührung mit den Tatsachen. 3<br />
Schon das, was wir über die Tätigkeit <strong>der</strong> Partei im Laufe des März wissen, deckt uns<br />
den tiefsten Gegensatz zwischen Lenin und <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Parteileitung auf Gerade im<br />
Augenblick des Eintreffens Lenins erreichte <strong>der</strong> Gegensatz höchste Spannung. Gleichzeitig<br />
mit <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Konferenz <strong>der</strong> Vertreter von 82 Sowjets, wo Kamenew und<br />
3 In <strong>der</strong> großen Kollektivarbeit unter <strong>der</strong> Redaktion Prof. Pokrowskis "Abrisse zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Oktoberrevolution"<br />
(Bd. II, Moskau 1927) ist <strong>der</strong> April-"Verwirrung" die apologetische Arbeit eines gewissen<br />
Bajewski gewidmet, die man nach ihrem ungenierten Umspringen mit Tatsachen und Dokumenten zynisch<br />
nennen müßte, wenn sie nicht so kindlich unbeholfen wäre.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 197
Stalin für die von den Sozialrevolutionären und Menschewiki eingebrachte Resolution<br />
über die Macht stimmten, fand in Petrograd die Parteikonferenz <strong>der</strong> aus ganz Rußland<br />
zusammengekommenen Bolschewiki statt. Für die Charakteristik <strong>der</strong> Stimmungen und<br />
Meinungen <strong>der</strong> Partei, richtiger ihrer Oberschicht, wie sie aus dem Krieg hervorgegangen<br />
war, ist die Konferenz, an <strong>der</strong>en Schluß Lenin eintraf von ganz beson<strong>der</strong>em Interesse.<br />
Die Lektüre <strong>der</strong> Protokolle, die bis auf den heutigen Tag nicht veröffentlicht worden<br />
sind, ruft nicht selten Zweifel hervor: soll tatsächlich die Partei, von diesen Delegierten<br />
vertreten, in sieben Monaten mit eiserner Hand die Macht ergreifen?<br />
Nach <strong>der</strong> Umwälzung war schon ein Monat vergangen - für einen Krieg wie für eine<br />
<strong>Revolution</strong> eine lange Frist. In <strong>der</strong> Partei aber waren noch die Ansichten über die grundlegenden<br />
Fragen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht geklärt. Extreme Patrioten, von <strong>der</strong> Art Wojtinskis,<br />
Eliawas und an<strong>der</strong>er, beteiligten sich an <strong>der</strong> Konferenz Seite an Seite mit denen, die sich<br />
für Inteinationalisten hielten. Der Prozentsatz <strong>der</strong> offenen Patrioten, unvergleichlich<br />
geringer als bei den MenschewIki, war immerhin bedeutend. Die Konferenz in ihrer<br />
Gesamtheit ließ die Frage unentschieden: Spaltung mit den eigenen Patrioten o<strong>der</strong> Vereinigung<br />
mit den Patrioten des Menschewismus. In den Pausen zwischen den Sitzungen<br />
<strong>der</strong> bolschewistischen Konferenz fanden gemeinsame Sitzungen von Bolschewiki und<br />
MenschewIki, Delegierten <strong>der</strong> Sowjetkonferenz, statt, um die Frage des Krieges zu<br />
erörtern. Der wütendste menschewistische Patriot, Liber, erklärte auf dieser gemeinsamen<br />
Konferenz: »Die frühere Teilung in Bolschewiki und Menschewiki muß beiseitegestellt<br />
und es soll nur von unserer Stellung zum Kriege gesprochen werden.« Der Bolschewik<br />
Wojtinski zögerte nicht, seine Bereitschaft zu proklamieren, jedes Wort Libers zu<br />
unterschreiben. Alle zusammen, Bolschewiki und Menschewiki, Patrioten und Internationalisten,<br />
suchten eine gemeinsame Formel für ihre Stellung zum Kriege.<br />
Die Ansichten <strong>der</strong> bolschewistischen Konferenz fanden ihren zweifellos adäquatesten<br />
Ausdruck in Stalins Referat über die Stellung zur Provisorischen Regierung. Es ist nötig,<br />
hier den zentralen Gedanken des Referats wie<strong>der</strong>zugeben, das, wie die Protokolle im<br />
ganzen, bis heute nirgendwo veröffentlicht wurde. »Die Macht ist auf zwei Organe<br />
aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf<br />
zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat<br />
faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist <strong>der</strong><br />
revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung<br />
kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des<br />
Befestigers <strong>der</strong> Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet<br />
mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt<br />
wi<strong>der</strong>strebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes,<br />
die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch<br />
negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem<br />
wir den Prozeß <strong>der</strong> Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in <strong>der</strong><br />
Folge unvermeidlich von uns trennen mussen.«<br />
Das Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat stellt <strong>der</strong> Referent, <strong>der</strong> sich über<br />
die Klassen erhebt als einfache Arbeitsteilung dar. Die Arbeiter und Soldaten vollbringen<br />
die <strong>Revolution</strong>, Gutschkow und Miljukow »festigen« sie. Wir erkennen hier die traditionelle<br />
Konzeption des Menschewismus, eine schlechte Kopie <strong>der</strong> Ereignisse des Jahres<br />
1789. Gerade den Führern des Menschewismus ist dieses inspektorhafte Herangehen an<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 198
den historischen Prozeß eigen, die Erteilung von Befehlen an verschiedene Klassen und<br />
die gönnerhafte Kritik an <strong>der</strong>en Ausführung. Der Gedanke, daß es unvorteilhaft sei, den<br />
Rückzug <strong>der</strong> Bourgeoisie von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu beschleunigen, war stets das höchste<br />
Kriterium <strong>der</strong> gesamten Politik <strong>der</strong> Menschewiki gewesen. In <strong>der</strong> Tat bedeutete es:<br />
Abstumpfung und Schwächung <strong>der</strong> Massenbewegung, um die liberalen Verbündeten<br />
nicht abzuschrecken. Schließlich deckten sich Stalins Folgerungen in bezug auf die<br />
Provisorische Regierung völlig mit <strong>der</strong> zweideutigen Formel <strong>der</strong> Versöhnler: »Sofern die<br />
Provisorische Regierung die Schritte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> festigt, ist sie zu unterstützen; sofern<br />
sie konterrevolutionär ist, ist eine Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung unzulässig.«<br />
Das Referat Stalins wurde am 29. März gehalten. Am nächsten Tage entwarf <strong>der</strong> offizielle<br />
Berichterstatter <strong>der</strong> Sowjetkonferenz, <strong>der</strong> parteilose Sozialdemokrat Stecklow, zur<br />
Verteidigung <strong>der</strong> gleichen bedingten Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung in <strong>der</strong><br />
Hitze <strong>der</strong> Ekstase ein solches Bild von <strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> »Befestiger« <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> -<br />
Wi<strong>der</strong>stand gegen soziale Reformen, Neigung zur Monarchie, Begönnerung konterrevolutionärer<br />
Kräfte, annexionistische Appetite -, daß die Konfrrenz <strong>der</strong> Bolschewiki vor <strong>der</strong><br />
Formel <strong>der</strong> Unterstützung beunruhigt zurückprallte. Der rechte Bolschewik Nogin erklärte:<br />
»Das Referat Stecklows hat einen neuen Gedanken hineingebracht: es ist offenbar,<br />
daß jetzt nicht von einer Unterstützung, son<strong>der</strong>n vom Wi<strong>der</strong>stand die Rede sein muß.«<br />
Skrypnik kam ebenfalls zu dem Schluß, nach dem Referat von Stecklow »hat sich vieles<br />
verän<strong>der</strong>t: von <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> Regierung kann nicht mehr gesprochen werden. Es<br />
gibt eine Verschwörung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung gegen Volk und <strong>Revolution</strong>«.<br />
Stalin, <strong>der</strong> tags zuvor ein idyllisches Bild <strong>der</strong> »Arbeitsteilung« zwischen Regierung und<br />
Sowjet gemalt hatte, sah sich gezwungen, den Punkt <strong>der</strong> Unterstützung zu streichen. Die<br />
kurzen und sehr wenig tiefen Diskussionen drehten sich um die Frage: ist die Provisorische<br />
Regierung »insofern wie«, o<strong>der</strong> sind nur ihre revolutionären Aktionen zu unterstützen.<br />
Der Delegierte von Saratow, Wassiljew, erklärte nicht ohne Grund:<br />
»Die Stellung zur Provisorischen Regierung ist bei allen die gleiche.« Krestinski<br />
formulierte die Situation noch krasser: »In praktischen Schritten gibt es zwischen Stalin<br />
und Wojtinski keine Meinungsverschiedenheiten.« Obwohl Wojtinski sogleich nach <strong>der</strong><br />
Konferenz zu den MenschewIki überging, hatte Krestinski gar nicht so unrecht: indem<br />
Stalin die offene Erwähnung <strong>der</strong> Unterstützung zurücknahm, strich er die Unterstützung<br />
an sich nicht. Prinzipiell die Frage zu stellen, versuchte nur Krassikow, einer jener alten<br />
Bolschewiki, die für eine Reihe von Jahren die Partei verlassen hatten und jetzt, von<br />
Lebenserfahrung recht belastet, versuchten, in ihre Reihen zurückzukehren. Krassikow<br />
fürchtete sich nicht, den Stier bei den Hörnern zu packen: beabsichtigt ihr etwa, die<br />
Diktatur des Proletariats aufzurichten? fragte er ironisch. Die Resolution <strong>der</strong> Konferenz<br />
rief die revolutionäre Demokratie auf die Provisorische Regierung »zum energischen<br />
Kampfe für die völlige Liquidierung des alten Regimes« zu bewegen, das heißt, sie wies<br />
<strong>der</strong> proletarischen Partei die Rolle einer Gouvernante <strong>der</strong> Bourgeoisie zu.<br />
Am nächsten Tage kam <strong>der</strong> Antrag Zeretellis über die Vereinigung von Bolschewiki<br />
und Menschewiki zur Beratung. Stalin verhielt sich dem Antrag gegenüber absolut<br />
positiv: »Wir müssen darauf eingehen. Es ist notwendig, unsere Vorschläge über die<br />
Linie <strong>der</strong> Vereinigung festzulegen. Eine Vereinigung auf <strong>der</strong> Linie Zimmerwald-Kienthal<br />
ist möglich.« Molotow, von Kamenew und Stalin wegen zu radikaler Richtung <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 199
Zeitung aus <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' entfernt, trat mit dem Einwand auf: Zeretelli<br />
wolle die gemischtesten Elemente vereinigen, nenne sich selbst auch einen Zimmerwal<strong>der</strong>,<br />
die Vereinigung auf dieser Linie sei falsch. Stalin jedoch blieb bei seiner Meinung:<br />
»Man darf nicht vorauseilen«, sagte er, »und den Meinungsverschiedenheiten vorgreifen.<br />
Ohne Meinungsverschiedenheiten gibt es kein Parteileben. Innerhalb <strong>der</strong> Partei werden<br />
wir die kleinen Meinungsverschiedenheiten austragen.« Der ganze Kampf den Lenin in<br />
den Jahren des Krieges gegen Sozialpatriotismus und dessen pazifistische Maskierung<br />
geführt hatte, war wie ausgelöscht. Im September 1916 schrieb Lenin mit beson<strong>der</strong>em<br />
Nachdruck an Schljapnikow nach Petrograd: »Versöhnlertum und Vereinigungsidee sind<br />
für die Arbeiterpartei in Rußland das Schädlichste, nicht nur Idiotie, son<strong>der</strong>n Ruin <strong>der</strong><br />
Partei... Verlassen können wir uns nur auf jene, die den ganzen Betrug <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong><br />
Vereinigung und die ganze Notwendigkeit des Bruches mit dieser Kumpanei<br />
(Tschcheidse & Co.) in Rußland begriffen haben.« Diese Warnung blieb unverstanden.<br />
Die Meinungsverschiedenheiten mit Zeretelli, dem Führer des regierenden Sowjetblocks,<br />
wurden von Stalin für »kleine« Meinungsverschiedenheiten erklärt, die man innerhalb<br />
einer gemeinsamen Partei austragen könne. Dieses Kriterium gibt die beste Bewertung<br />
<strong>der</strong> damaligen Ansichten Stalins.<br />
Am 4. April erscheint auf <strong>der</strong> Parteikonferenz Lenin. Seine Rede, die die »Thesen«<br />
kommentiert, fährt über alle Arbeiten <strong>der</strong> Konferenz hinweg wie <strong>der</strong> feuchte Schwamm<br />
des Lehrers, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Tafel alles auswischt, was ein irren<strong>der</strong> Schuljunge darauf<br />
schrieb.<br />
»Warum wurde die Macht nicht genommen?« fragt Lenin. Auf <strong>der</strong> Sowjetkonferenz<br />
hatte Stecklow kurz vorher die Grunde für die Machtenthaltung wirr auseinan<strong>der</strong>zusetzen<br />
versucht: eine bürgerliche <strong>Revolution</strong> -, erste Etappe -, Krieg und so weiter. »Das ist<br />
Unsinn«, erklärt Lenin, »es handelt sich darum, daß das Proletariat nicht genügend<br />
aufgeklärt und nicht genügend organisiert ist. Das muß man zugeben. Die materielle<br />
Macht ist in den Händen des Proletariats, aber die Bourgeoisie zeigte sich aufgeklärt<br />
und vorbereitet. Das ist eine ungeheuerliche Tatsache, doch muß man sie offen und<br />
geradeheraus zugeben und dem Volke erklären, daß man die Macht nicht übernommen<br />
habe, weil man unorganisiert und unaufgeklärt ist.«<br />
Aus <strong>der</strong> Ebene des falschen Objektivismus, hinter dem sich die politischen Kapitulanten<br />
verstecken, rückte Lenin die Frage auf die subjektive Ebene. Das Proletariat hat im<br />
Februar die Macht nicht ergriffen, weil die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki nicht auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong><br />
objektiven Aufgaben war und die Versöhnler nicht zu hin<strong>der</strong>n vermochte, die Volksmassen<br />
zugunsten <strong>der</strong> Bourgeoisie politisch zu expropriieren.<br />
Am Vorabend hatte <strong>der</strong> Advokat Krassikow herausfor<strong>der</strong>nd gesagt: »Glauben wir, daß<br />
die Zeit für die Verwirklichung <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats gekommen ist, dann muß<br />
man die Frage auch dementsprechend stellen. Die physische Kraft im Sinne <strong>der</strong> Machtergreifung<br />
besitzen wir zweifellos.« Der Vorsitzende hatte daraufhin Krassikow das Wort<br />
mit <strong>der</strong> Begründung entzogen, es handle sich um praktische Aufgaben, und die Frage <strong>der</strong><br />
Diktatur stehe nicht zur Diskussion. Lenin aber meinte, die einzige praktische Aufgabe<br />
sei gerade die Frage <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats. »Die Eigentümlichkeit<br />
des gegenwärtigen Momentes in Rußland«, sagte er in den Thesen, »besteht im<br />
Übergang von <strong>der</strong> ersten Etappe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die infolge <strong>der</strong> mangelnden Aufgeklärtheit<br />
und Organisiertheit des Proletariats, die Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert hat zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 200
ihrer zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und <strong>der</strong> ärmsten<br />
Schicht <strong>der</strong> Bauernschaft geben muß.«<br />
Nach <strong>der</strong> 'Prawda' beschränkte die Konferenz die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf<br />
demokratische Umwandlungen, zu verwirklichen durch die Konstituierende Versammlung.<br />
Im Gegensatz dazu erklärte Lenin: »Das Leben und die <strong>Revolution</strong> rücken die<br />
Konstituierende Versammlung in den Hintergrund ... Die Diktatur des Proletariats<br />
existiert, aber man weiß nicht, was mit ihr anfangen.«<br />
Die Delegierten tauschten Blicke aus, flüsterten einan<strong>der</strong> zu, Iljitseh hätte zu lange im<br />
Auslande gesessen, habe sich nicht umgesehen, kenne sich nicht aus. Aber Stalins<br />
Referat über die weise Arbeitsteilung zwischen Regierung und Sowjet versank sogleich<br />
und für immer in die nie wie<strong>der</strong>kehrende Vergangenheit. Stalin selbst schwieg. Hinfort<br />
wird er lange schweigen müssen. Verteidigen wird sich nur Kamenew.<br />
Schon von Genf aus hatte Lenin in Briefen gewarnt, daß er bereit sei, mit jedem zu<br />
brechen, <strong>der</strong> in den Fragen des Krieges, des Chauvinismus und des Versöhnlertums <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie Konzesionen machen sollte. Jetzt, angesichts <strong>der</strong> führenden Schicht <strong>der</strong><br />
Partei, eröffnet Lenin den Angriff auf <strong>der</strong> ganzen Linie. Anfangs nennt er noch keinen<br />
<strong>der</strong> Bolschewilti beim Namen. Braucht er ein lebendes Beispiel <strong>der</strong> Falschheit o<strong>der</strong><br />
Halbheit, dann zeigt er mit dem Finger auf die außerhalb <strong>der</strong> Partei Stehenden, Stecklow<br />
o<strong>der</strong> Tschcheidse. Das ist die übliche Art Lenins: niemand vorzeitig auf eine Position<br />
festzunageln, um den Vorsichtigen Zeit zu lassen, schweigend das Feld zu räumen, und<br />
damit die späteren offenen Gegner von vornherein zu schwächen. Kamenew und Stalin<br />
meinten, nach dem Februar verteidigen <strong>der</strong> Soldat und <strong>der</strong> Arbeiter durch Teilnahme am<br />
Kriege die <strong>Revolution</strong>. Lenin meint, Soldat und Arbeiter nähmen am Kriege, wie bisher,<br />
als unterjochte Sklaven des Kapitals teil. »Sogar unsere Bolschewiki«, sagt Lenin, die<br />
Kreise um die Gegner enger ziehend, »beweisen Vertrauensseligkeit gegenüber <strong>der</strong><br />
Regierung. Das kann man nur mit dem Rausch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erklären. Das ist <strong>der</strong><br />
Zusammenbruch des Sozialismus ... Wenn dem so ist, trennen sich unsere Wege. Dann<br />
bliebe ich lieber in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit!« Das ist keine leere oratorische Drohung. Das ist ein<br />
klar und bis zu Ende überlegter Weg.<br />
Ohne Kamenew und Stalin beim Namen zu nennen, ist Lenin jedoch gezwungen, die<br />
Zeitung zu erwähnen: »Die 'Prawda' for<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Regierung, sie solle auf Annexionen<br />
verzichten. Von einer Regierung <strong>der</strong> Kapitalisten verlangen, sie soll auf Annexionen<br />
verzichten - ist Unsinn, schreien<strong>der</strong> Hohn ...« Die zurückgehaltene Empörung bricht hier<br />
auf einer hohen Note durch. Doch <strong>der</strong> Redner nimmt sich sofort wie<strong>der</strong> zusammen: er<br />
will nicht weniger sagen als nötig, aber auch nicht mehr. Beiläufig, flüchtig gibt Lenin<br />
unvergleichliche Regeln revolutionärer Politik: »Wenn die Massen erklären, sie wollen<br />
keine Eroberungen, glaube ich ihnen. Wenn Gutschkow und Lwow sagen, sie wollen<br />
keine Eroberungen - sind sie Betrüger. Wenn <strong>der</strong> Arbeiter sagt, er wolle die Verteidigung<br />
des Landes, spricht aus ihm <strong>der</strong> Instinkt des unterdrückten Menschen.«<br />
Über den Aufruf des Sowjets »An die Völker <strong>der</strong> ganzen Welt«, <strong>der</strong> seinerzeit <strong>der</strong><br />
liberalen Zeitung 'Rjetsch' Anlaß gegeben hatte, zu erklären, das Thema Pazifismus<br />
entwickle sich bei uns zu einer uns und unseren Verbündeten gemeinsamen Ideologie,<br />
drückte sich Lenin präziser und krasser aus: »Was in Rußland eigenartig ist, das ist <strong>der</strong><br />
gigantisch schnelle Übergang von rohester Willkür zu feinstem Betrug.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 201
»Dieser Aufruf«, schrieb Stalin über das Manifest, »wird, wenn er die breiten Massen<br />
(des Westens) erreicht, zweifellos Hun<strong>der</strong>te und Tausende Arbeiter bewegen, zu <strong>der</strong> in<br />
Vergessenheit geratenen Parole "Proletarier aller Län<strong>der</strong>, vereinigt euch" zurückzukehren.«<br />
»In dem Aufruf des Sowjets«, erwi<strong>der</strong>te Lenin, »ist kein Wort, das von KIassenbewußtsein<br />
durchdrungen ist. Es ist eine einzige Phrase.« Das Dokument, auf das die hausbakkenen<br />
Zimmerwal<strong>der</strong> so stolz waren, ist in Lenins Augen eine Waffe »feinsten<br />
Betruges«.<br />
Bis zu Lenins Ankunft hatte die 'Prawda' die Zimmerwal<strong>der</strong> Linke üigrhaupt nicht<br />
erwähnt. Sprach sie von <strong>der</strong> <strong>Internationale</strong>, sagte sie nicht, welche. Das eben nannte<br />
Lenin »den Kautskyanismus« <strong>der</strong> 'Prawda'. »In Zimmerwald und Kienthal«, sagt er auf<br />
<strong>der</strong> Konferenz, »erhielt das Zentrum das Übergewicht ... Wir erklären, daß wir eine<br />
Linke gebildet und mit dem Zentrum gebrochen haben ... Die Richtung des linken<br />
Zimmerwald existiert in allen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt. Die Massen sollen erfahren, daß <strong>der</strong><br />
Sozialismus in <strong>der</strong> ganzen Welt gespalten ist ...«<br />
Drei Tage zuvor hatte Stalin auf <strong>der</strong> gleichen Konferenz seine Bereitschaft verkündet,<br />
die Meinungsverschiedenheiten mit Zeretelli auf <strong>der</strong> Basis von Zimmerwald-Kienthal<br />
auszutragen, das heißt auf <strong>der</strong> Basis des Kautskyanismus. »Ich höre, daß in Rußland eine<br />
Vereinigungstendenz besteht«, sagte Lenin, »eine Vereinigung mit den Landesverteidigern,<br />
- das ist Verrat am Sozialismus. Ich glaube, es ist besser, allein zu bleiben, wie<br />
Liebknecht, Einer gegen 116!« Die Beschuldigung des Verrats am Sozialismus, vorläufig<br />
noch namenlos, ist hier nicht einfach ein starkes Wort: sie drückt vollständig die Stellung<br />
Lenins gegen jene Bolschewiki aus, die den Sozialpatrioten einen Finger entgegenstrekken.<br />
Im Gegensatz zu Stalin, <strong>der</strong> es für möglich erachtet, sich mir den Menschewiki zu<br />
vereinigen, hält Lenin es für unzulässig, noch weiterhin mit ihnen den Namen Sozialdemokratie<br />
gemeinsam zu tragen. »Für meine Person«, sagt er, »schlage ich vor, den<br />
Namen unserer Partei zu än<strong>der</strong>n und uns Kommunistische Partei zu nennen.« »Für<br />
meine Person« - das bedeutet, daß niemand, kein einziger Teilnehmer <strong>der</strong> Konferenz, mit<br />
dieser symbolischen Geste des endgültigen Bruchs mit <strong>der</strong> Zweiten <strong>Internationale</strong> einverstanden<br />
war.<br />
»Ihr fürchtet, alten Erinnerungen untreu zu werden«, sagt <strong>der</strong> Redner den betretenen,<br />
bestürzten, teils auch entrüsteten Delegierten. Doch die Zeit ist da, »die Wäsche zu<br />
wechseln, - man muß das schmutzige Hemd ausziehen und ein sauberes anziehen.« Und<br />
wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> drängt er: »Klammert euch nicht an ein altes Wort, das durch und<br />
durch verfault ist. Habt den Willen, eine neue Partei aufzubauen ... - und es werden alle<br />
Unterdrückten zu euch kommen.«<br />
Die Größe <strong>der</strong> bevorstehenden Aufgaben, die geistige Verwirrung in den eigenen<br />
Reihen, <strong>der</strong> scharfe Gedanke an die wertvolle Zeit, die sinnlos vergeudet wird für<br />
Empfänge, Begrüßungen, rituale Resolutionen, entreißt dem Redner den Schrei: »Genug<br />
<strong>der</strong> Bcgrüßungen und Resolutionen - es ist Zeit, zur Sache zu schreiten, man muß zur<br />
sachlichen, nüchternen Arbeit übergehen!«<br />
Eine Stunde später ist Lenin gezwungen, in <strong>der</strong> allgemeinen Versammlung <strong>der</strong><br />
Bolschewiki und Menschewiki seine Rede zu wie<strong>der</strong>holen, wo sie die Mehrzahl <strong>der</strong><br />
Zuhörer als ein Mittelding zwischen Hohn und Fieberwahn erscheint. Die Nachsichtige-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 202
en zucken die Achseln. Dieser Mann ist offenbar vom Monde gefallen: nach zehn<br />
Jahren Abwesenheit, kaum die Stufen des Finnländischen Bahnhofs heruntergestiegen,<br />
predigt er die Machteroberung durch das Proletariat. Die weniger Gutmütigen unter den<br />
Patrioten erwähnen den plombierten Wagen. Stankewitsch bezeugt, daß das Auftreten<br />
Lenins dessen Gegner sehr erfreut habe: »Ein Mann, <strong>der</strong> solche Dummheiten spricht, ist<br />
ungefährlich. Gut, daß er gekommen ist, jetzt ist er allen sichtbar ..., jetzt wi<strong>der</strong>legt er<br />
sich selbst.«<br />
Indes ist bei aller Kühnheit ihres revolutionären Elans, bei <strong>der</strong> unbeugsamen<br />
Entschlossenheit, sogar mit alten Gesinnungs- und Kampfgenossen zu brechen, sollten<br />
sie sich als unfähig erweisen, mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Schritt zu halten, Lenins Rede, <strong>der</strong>en<br />
Teile alle gegeneinan<strong>der</strong> abgewogen sind, von tiefem Realismus und untrüglichem<br />
Masseninstinkt erfüllt. Und gerade deshalb mußte sie den an <strong>der</strong> Oberfläche gleitenden<br />
Demokraten phantastisch erscheinen.<br />
Die Bolschewiki sind eine kleine Min<strong>der</strong>beit in den Sowjets, und Lenin plant die<br />
Eroberung <strong>der</strong> Macht. Ist denn das nicht Abenteurertum? Nicht ein Schatten von<br />
Abenteurertum war in <strong>der</strong> Leninschen Fragestellung. Keinen Augenblick schließt er die<br />
Augen vor dem Vorhandensein einer "ehrlichen" Landesverteidigungsstimmung unter<br />
<strong>der</strong> breiten Masse. Ohne in ihr aufzugehen, beabsichtigt er auch nicht, hinter ihrem<br />
Rücken zu handeln. »Wir sind keine Scharlatane«, wirft er den zu erwartenden Einwänden<br />
und Beschuldigungen entgegen, »wir müssen uns nur auf das Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Massen stützen. Und wenn wir sogar gezwungen sein sollten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu<br />
bleiben - sei's drum. Es lohnt sich, für eine Zeit auf die führende Stellung zu verzichten,<br />
man darf sich nicht davor fürchten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben.« Sich nicht fürchten, in<br />
<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben - selbst allein, wie Liebknecht, gegen 110 - das ist das Leitmotiv<br />
<strong>der</strong> Rede.<br />
»Die gegenwärtige Regierung, das ist <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter-deputierten ... Im Sowjet<br />
ist unsere Partei in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit ... Nichts zu machen! Es bleibt uns nur das Irrige<br />
ihrer Taktik nachzuweisen, geduldig, beharrlich, systematisch. Solange wir in <strong>der</strong><br />
Min<strong>der</strong>heit sind, leisten wir die Arbeit <strong>der</strong> Kritik, um die Massen vor Betrug zu<br />
bewahren. Wir wollen nicht, daß die Massen uns aufs Wort glauben. Wir sind keine<br />
Scharlatane. Wir wollen, daß die Massen durch Erfahrung sich von ihren lrrtümern<br />
befreien.« Nicht fürchten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben! Nicht für immer, nur für eine<br />
Zeit. Die Stunde des Bolschewismus wird schlagen. »Unsere Linie wird sich als richtig<br />
erweisen ... Zu uns wird je<strong>der</strong> Unterdrückte kommen, weil <strong>der</strong> Krieg ihn zu uns bringen<br />
wird, an<strong>der</strong>en Ausweg hat er nicht.«<br />
»Auf <strong>der</strong> "Vereinigungs"konferenz«, berichtet Suchanow, »erschien Lenin als lebendige<br />
Verkörperung <strong>der</strong> Spaltung... Ich erinne mich an Bogdanow (ein angesehener<br />
Menschewik), <strong>der</strong> zwei Schritt entfernt von <strong>der</strong> Rednertribüne saß. "Das ist ja Fieberwahn,<br />
unterbrach er Lenin, "<strong>der</strong> Fieberwahn eines Irrsinnigen! ... Es ist eine Schande,<br />
diesem Gallimathias zu applaudieren", schrie er, zum Auditorium gewandt, blaß vor<br />
Zorn und Verachtung, "ihr schändet euch selbst! Marxisten!"«<br />
Das ehemalige Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, Goldenberg, <strong>der</strong> zu<br />
jener Zeit außerhalb <strong>der</strong> Partei stand, bewertete in <strong>der</strong> Diskussion Lenins Thesen mit<br />
folgenden vernichtenden Worten: »Viele Jahre blieb <strong>der</strong> Platz Bakunins in <strong>der</strong> Russischen<br />
<strong>Revolution</strong> unbesetzt, jetzt ist er von Lenin besetzt worden.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 203
»Sein Programm wurde damals nicht so sehr mit Entrüstung wie mit Hohn aufgenommen«,<br />
schrieb später <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »<strong>der</strong>art sinnlos und ausgeklügelt<br />
erschien es allen.«<br />
Am Abend desselben Tages kam bei einer Unterhaltung zweier <strong>Sozialisten</strong> mit Miljukow,<br />
vor <strong>der</strong> Türe <strong>der</strong> Kontaktkommission das Gespräch auf Lenin. Skobeljew schätzte<br />
ihn ein als »einen vollkommen erledigten, außerhalb <strong>der</strong> Bewegung stehenden<br />
Menschen«. Suchanow schloß sich <strong>der</strong> Skobeljewschen Bewertung an und fügte hinzu,<br />
»Lenin ist in solchem Maße für keinen akzeptabel, daß er im Augenblick meinem<br />
Gesprächspartner Miljukow ganz ungefährlich ist«. Die Rollenverteilung bei dieser<br />
Unterhaltung war jedoch ganz nach Lenin: <strong>Sozialisten</strong> wachten über die Ruhe <strong>der</strong><br />
Liberalen und bewahrten sie vor Sorgen, die diesen aus dem Bolschewismus erwachsen<br />
konnten.<br />
Sogar bis zum britischen Gesandten gelangten die Gerüchte darüber, daß Lenin als<br />
schlechter Marxist erkannt worden war. »Unter den neu eingetroffenen Anarchisten ...«,<br />
schreibt Bucharian, »war Lenin, <strong>der</strong> im plombierten Wagen aus Deutschland kam. Er<br />
erschien öffentlich zum erstenmal in <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Sozialdemokratischen Partei<br />
und wurde schlecht empfangen.«<br />
Nachsichtiger als die an<strong>der</strong>en verhielt sich zu Lenin in jenen Tagen wohl Kerenski, <strong>der</strong><br />
im Kreise <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung plötzlich erklärte, er gedenke<br />
Lenin aufzusuchen, und auf die erstaunten Fragen erläuterte: »Er lebt doch in einer vollig<br />
isolierten Atmosphäre, er weiß nichts, sieht alles durch die Brille seines Fanatismus,<br />
niemand ist um ihn, <strong>der</strong> ihm auch nur einigermaßen helfen könnte, sich darüber, was<br />
geschieht, zu orientieren.« So die Zeugenaussage Nabokows. Aber Kerenski fand dann<br />
doch nicht die freie Zeit, Lenin darüber, was geschah, zu orientieren.<br />
Lenins Aprilthesen hatten nicht nur die erstaunte Entrüstung <strong>der</strong> Feinde und Gegner<br />
hervorgerufen. Sie stießen einc Reihe alter Bolschewiki in das Lager des Menschewismus<br />
ab o<strong>der</strong> in die Zwischengruppe, die sich um die Zeitung Gorkis zusammerschloß.<br />
Ernste politische Bedeutung hat dieser Abgang nicht gehabt. Unermeßlich wichtiger ist<br />
<strong>der</strong> Eindruck, den Lenins Stellung auf die führende Parteischicht ausübte. »In den ersten<br />
Tagen nach seiner Ankunft«, schreibt Suchanow, »war seine völlige Isoliertheit unter den<br />
aufgeklärten Parteigenossen zweifellos... Sogar seine Parteigenossen, die Bolschewiki«,<br />
bestätigt <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »wandten sich verlegen von ihm ab.« Die<br />
Autoren dieser Gutachten kamen mit den führenden Bolschewiki täglich im Exekutivkomitee<br />
zusammen und besaßen Nachrichten aus erster Hand.<br />
Doch herrscht auch kein Mangel an ähnlichen Zeugenaussagen aus bolschewistischen<br />
Reihen. »Als Lenins Thesen erschienen«, erinnert sich später Zichon, wie die Mehrzahl<br />
<strong>der</strong> alten Bolschewiki, die über die Februarrevolution gestolpert sind, die Farben stark<br />
mil<strong>der</strong>nd, »machten sich in unserer Partei gewisse Schwankungen fühlbar, viele Genossen<br />
wiesen daraufhin, Lenin habe eine syndikalistische Abweichung, er sei Rußland<br />
entfremdet, berechne den gegebenen Moment nicht usw.« Ein angesehener bolschewistischer<br />
Parteiarbeiter in <strong>der</strong> Provinz, Lebedew, schreibt: »Nach Lenins Ankunft in Rußland<br />
wurde seine Agitation, die anfangs auch uns Bolschewiken nicht ganz verständlich war,<br />
utopisch schien und mit seiner langen Trennung vom <strong>russischen</strong> Leben erklärt wurde -<br />
von uns allmählich erfaßt und ging uns, wie man zu sagen pflegt, in Fleisch und Blut<br />
über.« Saleschski, ein Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees und Organisator des Empfan-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 204
ges, äußert sich offener: »Die Thesen Lenins machten den Eindruck einer platzenden<br />
Bombe.« Saleschski bestätigt durchaus die vollkommene Isoliertheit Lenins nach dem so<br />
heißen und eindrucksvollen Empfang. »An jenem Tage [dem 4. April] fand Genosse<br />
Lenin sogar in unseren Reihen keine offenen Anhänger.«<br />
Noch wichtiger sind jedoch die Angaben <strong>der</strong> 'Prawda'. Am 8. April, vier Tage nach<br />
Bekanntgabe <strong>der</strong> Thesen, als man sich bereits auseinan<strong>der</strong>zusetzen und zu verständigen<br />
vermochte, schrieb die Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda': »Was das allgemeine Schema des Genossen<br />
Lenin betrifft, so erscheint es uns unannehmbar, insofern es von <strong>der</strong> Einschätzung<br />
<strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen <strong>Revolution</strong> als einer abgeschlossenen ausgeht und mit<br />
<strong>der</strong> sofortigen Umwandlung dieser <strong>Revolution</strong> in eine sozialistische <strong>Revolution</strong> rechnet.«<br />
Das Zentralorgan <strong>der</strong> Partei erklärte auf diese Weise vor dem Angesicht <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />
und <strong>der</strong>en Feinden offen das Auseinan<strong>der</strong>gehen mit dem allgemein anerkannten<br />
Führer <strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> Kernfrage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, auf die die bolschewistischen Ka<strong>der</strong><br />
sich während einer langen Reihe von Jahren vorbereitet hatten. Dies allein genügt, um<br />
die ganze Tiefe <strong>der</strong> Aprilkrise <strong>der</strong> Partei richtig einzuschätzen, die aus dem Zusammenstoß<br />
zweier unversöhnlicher Linien erwachsen war. Ohne Über-windung dieser Krise<br />
konnte die <strong>Revolution</strong> nicht weiterschreiten.<br />
Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei<br />
Womit ist nun Lenins außerordentliche Isoliertheit Anfang April zu erklären? Wie<br />
konnte eine solche Lage überhaupt entstehen? Und wie wurde die Umbewaffnung <strong>der</strong><br />
Ka<strong>der</strong> des Bolschewismus erreicht?<br />
Seit 1905 führt die bolschewistische Partei den Kampf gegen das Selbstherrschertum<br />
unter <strong>der</strong> Losung: "Demokratische Diktatur des Proletariats und <strong>der</strong> Bauemsehaft." Die<br />
Losung wie ihre theoretische Begründung gingen von Lenin aus. Im Gegensatz zu den<br />
Menschewiki, <strong>der</strong>en Theoretiker Plechanow einen unversöhnlichen Kampf führte gegen<br />
den »irrigen Gedanken von <strong>der</strong> Möglichkeit, die bürgerliche <strong>Revolution</strong> ohne Bürgertum<br />
zu vollbringen«, meinte Lenin, die russische Bourgeoisie sei bereits unfähig, ihre eigene<br />
<strong>Revolution</strong> zu leiten. Die demokratische <strong>Revolution</strong> gegen Monarchie und Gutsbesitzer<br />
zu Ende führen, könnten nur Proletariat und Bauernschaft in engem Bündnis. Der Sieg<br />
dieses Bündnisses würde, nach Lenin, die demokratische Diktatur herbeiführen, die sich<br />
keinesfalls mit <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats identifizieren ließe, vielmehr ihr entgegengesetzt<br />
sein würde, denn die Aufgabe sei nicht Errichtung <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft,<br />
auch nicht Schaffung von Übergangsformen zu dieser, son<strong>der</strong>n nur unerbittliche Säuberung<br />
<strong>der</strong> Augiasställe des Mittelalters. Das Ziel des revolutionären Kampfes war durch<br />
drei Kampfparolen genau testgelegt - demokratische Republik, Konfiskation des<br />
gutsherrlichen Bodens, Achtstundentag -, die in <strong>der</strong> Volkssprache die drei Walfische des<br />
Bolschewismus hießen, nach <strong>der</strong> Analogie zu jenen Walfischen, auf denen, nach einer<br />
alten Volkssage, die Welt ruht.<br />
Die Frage <strong>der</strong> Durchführbarkeit <strong>der</strong> demokratischen Diktatur des Proletariats und <strong>der</strong><br />
Bauernschaft wurde gelöst im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Befähigung <strong>der</strong> Bauernschaft, ihre<br />
eigene <strong>Revolution</strong> zu vollbringen, das heißt, eine neue Macht aufzustellen, fähig, Monarchie<br />
und Adelsgrundbesitz zu liquidieren. Allerdings setzte die Parole <strong>der</strong> demokratischen<br />
Diktatur auch die Beteiligung von Arbeitervertretern an <strong>der</strong> revolutionären<br />
Regierung voraus. Doch wurde diese Beteiligung im voraus eingeschränkt durch die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 205
Rolle des Proletariats als linken Verbündeten bei <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Aufgaben <strong>der</strong> Bauernrevolution.<br />
Die populäre und sogar offiziell anerkannte Idee <strong>der</strong> Hegemonie des Proletariats<br />
in <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> konnte folglich nichts an<strong>der</strong>es bedeuten, als daß die<br />
Arbeiterpartei mit dem politischen Rüstzeug aus ihrem Arsenal den Bauern helfen, ihnen<br />
die besten Mittel und Methoden zur Liquidierung <strong>der</strong> Feudalgesellschaft eingeben und<br />
<strong>der</strong>en Anwendung in <strong>der</strong> Praxis zeigen würde. Jedenfalls bedeuteten die Reden von <strong>der</strong><br />
führenden Rolle des Proletariats in <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> niemals, daß das Proletariat<br />
den Bauernaufstand benutzen sollte, um, auf ihn gestützt, seine eigenen historischen<br />
Aufgaben, d.h. den direkten Übergang zur sozialistischen Gesellschaft auf die Tagesordnung<br />
zu stellen. Die Hegemonie des Proletariats in <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> unterschied<br />
sich scharf von <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats und wurde dieser auch polemisch<br />
entgegengehalten. Auf diese Ideen war die bolschewistische Partei seit dem Frühling<br />
1905 ausgerichtet worden.<br />
Der tatsächliche Verlauf <strong>der</strong> Februarumwälzung hatte das gewohnte Schema des<br />
Bolschewismus übertreten. Allerdings war die <strong>Revolution</strong> durch das Bündnis <strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Bauern vollzogen worden. Daß die Bauern hauptsächlich als Soldaten aufgetreten<br />
waren, än<strong>der</strong>te an <strong>der</strong> Sache nichts. Das Verhalten <strong>der</strong> bäuerlichen Armee des Zarismus<br />
wäre auch in dem Falle von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung gewesen, wenn sich die <strong>Revolution</strong><br />
in Friedenszeit entfaltet hätte. Um so natürlicher ist es, daß unter den Bedingungen<br />
des Krieges die Millionenarmee in <strong>der</strong> ersten Zeit die Bauernschaft gänzlich verdeckt hat.<br />
Nach dem Siege des Aufstandes erwiesen sich Arbeiter und Soldaten als Herren <strong>der</strong><br />
Lage. Es sollte scheinen, daß man in diesem Sinne hätte sagen können, die demokratische<br />
Diktatur <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern sei hergestellt. In Wirklichkeit aber hatte die<br />
Februarumwälzung zu einer bürgerlichen Regierung geführt, wobei die Macht <strong>der</strong> besitzenden<br />
Klassen durch die nicht zur Vollendung geführte Macht <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatensowjets<br />
eingeschränkt war. Alle Karten waren vermengt. An Stelle <strong>der</strong> revolutionären<br />
Diktatur, das heißt <strong>der</strong> konzentriertesten Macht, entstand ein wackliges Regime <strong>der</strong><br />
Doppelherrschatt, wo die kümmerliche Energie <strong>der</strong> regierenden Kreise fruchtlos zur<br />
Überwindung <strong>der</strong> inneren Reibungen unfruchtbar verausgabt wurde. Dieses Regime hatte<br />
niemand vorausgesehen. Man kann auch von einer Prognose nicht verlangen, daß sie<br />
nicht nur die grundlegenden Tendenzen, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong>en episodische Verquickungen<br />
aufzeige. »Wer hat jemals wirklich eine große <strong>Revolution</strong> vollbringen und im voraus<br />
wissen können, wie sie zu Ende zu führen?« fragte später Lenin. »Woher könnte man<br />
solches Wissen nehmen? Es ist nicht aus Büchern zu schöpfen. Solche Bücher gibt es<br />
nicht. Nur aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Massen konnte unser Entschluß geboren werden.«<br />
Doch das menschliche Denken ist konservativ, und das Denken <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre ist<br />
es mitunter beson<strong>der</strong>s. Die bolschewistischen Ka<strong>der</strong> in Rußland fuhren fort, an dem alten<br />
Schema festzuhalten, und sahen in <strong>der</strong> Februarrevolution, obwohl in ihr klar zwei nicht<br />
zu vereinbarende Regime enthalten waren, nur die erste Etappe <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong>.<br />
Ende März schickte Rykow aus Sibirien im Namen <strong>der</strong> Sozialdemokraten an die<br />
'Prawda' ein Begrüßungstelegramm anläßlich des Sieges <strong>der</strong> "nationalen <strong>Revolution</strong>",<br />
<strong>der</strong>en Aufgabe »die Eroberung <strong>der</strong> politischen Freiheit« sei. Sämtliche führenden<br />
Bolschewiki, ohne Ausnahme - wir kennen keine einzige - glaubten, die demokratische<br />
Diktatur stünde noch bevor. Nachdem die Provisorische Regierung »sich erschöpft haben<br />
wird«, würde die demokratische Diktatur <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern erstehen, als Vorstufe<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 206
des bürgerlich-parlamentarischen Regimes. Das war eine völlig falsche Perspektive. Das<br />
aus <strong>der</strong> Februarumwälzung hervorgegangene Regime leitete die demokratische Diktatur<br />
nicht nur nicht ein, son<strong>der</strong>n war <strong>der</strong> lebendige und erschöpfende Beweis dafür, daß sie<br />
überhaupt nicht möglich ist. Daß die Versöhnlerdemokratie nicht zufällig, nicht durch<br />
Kerenskis Leichtsinn o<strong>der</strong> Tschcheidses Beschränktheit, die Macht an die Liberalen<br />
ausgeliefert hatte, bewies sie dadurch, daß sie während acht weiterer Monate aus allen<br />
Kräften für die Erhaltung <strong>der</strong> bürgerlichen Regierung kämpfte, Arbeiter, Bauern und<br />
Soldaten unterdrückte und am 25. Oktober auf dem Posten einer Verbündeten und Schützerin<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie fiel. Und es war von Anfang an klar: wenn die Demokratie, die vor<br />
sich gigantische Aufgaben und in den Massen uneingeschränkte Unterstützung hatte,<br />
freiwillig auf die Macht verzichtete, geschah dies nicht aus politischen Prinzipien o<strong>der</strong><br />
Vorurteilen heraus, son<strong>der</strong>n infolge <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit <strong>der</strong> Lage des Kleinbürgertums<br />
in <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Periode von Krieg und<br />
<strong>Revolution</strong>, wo es um die grundlegenden Existenzfragen von Län<strong>der</strong>n, Völkern und<br />
Klassen geht. Indem es Miljukow das Zepter aushändigte, sagte das Kleinbürgertum:<br />
nein, diese Aufgaben gehen über meine Kraft.<br />
Die Bauernschaft, die auf ihrem Rücken die Versöhiilerdemokratie emporgehoben<br />
hatte, schließt alle Klassen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft in <strong>der</strong>en Urform ein. Gemeinsam<br />
mit dem städtischen Kleinbürgertum, das jedoch in Rußland niemals eine ernsthafte<br />
Rolle gespielt hat, bildete sie jenes Protoplasma, aus dem sich in <strong>der</strong> Vergangenheit die<br />
neuen Klassen differenzierten und in <strong>der</strong> Gegenwart weiter difitrenzieren. Die Bauernschaft<br />
hat immer zwei Gesichter: eines dem Proletariat zugewandt, das an<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie. Die zwischenstufliche, vermittelnde, versöhnlerische Position "bäuerlicher"<br />
Parteien, von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, kann sich nur unter den Bedingungen eines<br />
relativen politischen Stillstandes halten; in einer revolutionären Epoche tritt unvermeidlich<br />
<strong>der</strong> Monient ein, wo das Kleinbürgertum wählen muß. Die Sozialrevolutionäre und<br />
Menschewiki trafen ihre Wahl in <strong>der</strong> ersten Stunde. Sie liquidierten im Keime die<br />
"demokratische Diktatur", um sie zu hin<strong>der</strong>n, eine Brücke zur Diktatur des Proletariats zu<br />
werden. Doch gerade damit hatten sie <strong>der</strong> letzteren den Weg geöffnet, nur vom an<strong>der</strong>en<br />
Ende: nicht durch sie, son<strong>der</strong>n gegen sie.<br />
Die weitere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> konnte offenbar nur von neuen Tatsachen,<br />
nicht aber von alten Schemen ausgehen. Durch ihre Vertretung wurden die Massen, halb<br />
gegen ihren Willen, halb ohne ihr Wissen in die Mechanik <strong>der</strong> Doppelherrschaft hineingezogen.<br />
Sie mußten von nun an durch diese hindurchgehen, um sich durch Erfahrung zu<br />
überzeugen, daß sie ihnen we<strong>der</strong> Frieden noch Land geben könne. Vom Regime <strong>der</strong><br />
Doppelherrschaft sich abzuwenden, bedeutet für die Massen von nun an, mit den Sozialrevolutionären<br />
und Menschewiki zu brechen: Es ist aber ganz offensichtlich, daß die<br />
politische Wendung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten zu den Bolschewiki den ganzen Bau <strong>der</strong><br />
Doppelherrschaft umwarf und nichts an<strong>der</strong>es mehr bedeuten konnte als die Errichtung<br />
<strong>der</strong> Diktatur des Proletariats, die sich auf das Bündnis <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern stützte.<br />
Im Falle einer Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Volksmassen konnte auf den Ruinen <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Partei nur die Militärdiktatur des Kapitals entstehen. Die "demokratische Diktatur" war<br />
in beiden Fällen ausgeschlossen. Auf sie den Blick gerichtet, wandten die Bolschewiki<br />
faktisch das Gesicht dem Gespenst <strong>der</strong> Vergangenheit zu. In dieser Lage fand sie Lenin,<br />
<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> unbeugsamen Absicht gekommen war, die Partei auf einen neuen Weg zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 207
führen.<br />
Die Formel <strong>der</strong> demokratischen Diktatur hatte allerdings auch Lenin selbst bis zum<br />
Beginn <strong>der</strong> Februarrevolution durch keine an<strong>der</strong>e ersetzt, we<strong>der</strong> bedingt noch hypothetisch.<br />
War das richtig? Wir glauben, nein. Was in <strong>der</strong> Partei nach <strong>der</strong> Umwälzung vor<br />
sich ging, enthüllte allzu bedrohlich die Verspätung <strong>der</strong> Umbewaffnung, die noch dazu<br />
unter den gegebenen Umständen nur Lenin vornehmen konnte. Er hatte sich darauf<br />
vorbereitet. Im Feuer des Krieges seinen Stahl bis zur Weißglut erhitzt und wie<strong>der</strong>holt<br />
umgeschmiedet. Es verän<strong>der</strong>te sich in seinen Augen die Gesamtperspektive des historischen<br />
Prozesses. Die Erschütterungen des Krieges hatten die möglichen Fristen <strong>der</strong><br />
sozialistischen <strong>Revolution</strong> im Westen stark verkürzt. Die für Lenin noch immer<br />
demokratisch gebliebene Russische <strong>Revolution</strong> sollte <strong>der</strong> sozialistischen Umwälzung in<br />
Europa einen Anstoß geben, die dann auch das zurückgebliebene Rußland in ihren<br />
Strudel hineinziehen müßte. Das war die allgemeine Konzeption Lenins, als er Zürich<br />
verließ. Der von uns bereits zitierte Brief an die Schweizer Arbeiter lautet: »Rußland ist<br />
ein Bauernland, eines <strong>der</strong> rückständigsten europäischen Län<strong>der</strong>. Unmittelbar kann <strong>der</strong><br />
Sozialismus dort nicht sofort siegen. Doch <strong>der</strong> bäuerliche Charakter des Landes kann<br />
angesichts des heute noch erhalten gebliebenen gewaltigen Bodenbestandes <strong>der</strong> adligen<br />
Gutsbesitzer, auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Erfahrung von 1905, <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen<br />
<strong>Revolution</strong> in Rußland einen ungeheuren Schwung verleihen und unsere <strong>Revolution</strong> in<br />
den Prolog zur sozialistischen Weltrevolution verwandeln, in eine Stufe zu dieser.« In<br />
diesem Sinne schrieb Lenin jetzt zum erstenmat daß das russische Proletariat die sozialistische<br />
<strong>Revolution</strong> beginnen werde.<br />
Dies war das Bindeglied zwischen <strong>der</strong> alten Position des Bolschewismus, die die<br />
<strong>Revolution</strong> auf demokratische Ziele begrenzte, und <strong>der</strong> neuen Position, die Lenin in<br />
seinen Thesen vom 4. April zum erstenmal <strong>der</strong> Partei bekanntgab. Die Perspektive des<br />
unmittelbaren Überganges zur Diktatur des Proletariats kam ganz überraschend, <strong>der</strong><br />
Tradition wi<strong>der</strong>sprechend, und wollte einfach in die Köpfe nicht hinein. Es ist<br />
notwendig, hier daran zu erinnern, daß man bis zum Ausbruch <strong>der</strong> Februarrevolution und<br />
in <strong>der</strong> ersten Zeit danach unter Trotzkismus nicht den Gedanken verstand, daß man<br />
innerhalb <strong>der</strong> nationalen Grenzen Rußlands keine sozialistische Gesellschaftsordnung<br />
aufzubauen vermag (<strong>der</strong> Gedanke an eine solche "Möglichkeit" wurde bis zum Jahre<br />
1924 überhaupt von niemand ausgesprochen und kam wohl keinem in den Sinn), - Trotzkismus<br />
nannte man den Gedanken, daß das Proletariat Rußlands früher als das Proletariat<br />
des Westens zur Macht gelangen und in diesem Falle sich nicht im Rahmen <strong>der</strong> demokratischen<br />
Diktatur halten kann, son<strong>der</strong>n an die ersten sozialistischen Maßnahmen herangehen<br />
muß. Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß man die Aprilthesen Lenins als trotzkistisch<br />
brand-markte.<br />
Die Einwände <strong>der</strong> "alten Bolschewiki" bewegten sich auf verschiedenen Linien. Der<br />
Hauptstreit ging um die Frage, ob die bürgerlieh-demokratische <strong>Revolution</strong> abgeschlossen<br />
sei. Da die Agrarumwälzung sich noch nicht vollzogen hatte, konnten Lenins Gegner<br />
mit vollem Recht behaupten, die demokratische <strong>Revolution</strong> sei nicht zu Ende geführt,<br />
und daraus folgern, es gäbe für die Diktatur des Proletariats auch dann keinen Platz,<br />
wenn die sozialen Verhältnisse Rußlands diese in einer mehr o<strong>der</strong> weniger nahen<br />
Zukunft ermöglichen sollten. Gerade so hatte die Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' in dem von uns<br />
bereits angeführten Zitat die Frage gestellt. Später, auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz, wie<strong>der</strong>holte<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 208
Kamenew:<br />
»Lenin hat nicht recht, wenn er sagt, die bürgerlich-demokratische <strong>Revolution</strong> sei<br />
abgeschlossen ... Der klassische Rest des Feudalismus - <strong>der</strong> gutsherrliche Bodenbesitz<br />
- ist noch nicht liquidiert ... Der Staat nicht in eine demokratische Gesellschaft<br />
umgewandelt ... Es ist verfrüht zu sagen, die bürgerliche Demokratie habe alle ihre<br />
Möglichkeiten erschöpft.«<br />
»Die demokratische Diktatur«, erwi<strong>der</strong>te Tomski, »das ist unsere Basis ... Wir müssen<br />
die Macht des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft organisieren und sie von <strong>der</strong><br />
Kommune trennen, da dort die Macht nur dem Proletariat gehört.«<br />
»Vor uns stehen gewaltige revolutionäre Aufgaben«, stimmte ihnen Rykow bei. »Aber<br />
die Verwirklichung dieser Aufgaben führt uns über den Rahmen des bürgerlichen<br />
Regimes noch nicht hinaus.«<br />
Lenin sah gewiß nicht weniger scharf als seine Opponenten, daß die demokratische<br />
<strong>Revolution</strong> nicht abgeschlossen war, richtiger, daß sie, kaum angefangen, schon zurückzurollen<br />
begann. Aber eben daraus folgte, daß sie lediglich unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong><br />
neuen Klasse zu Ende zu führen war und daß man dazu nur gelangen könnte, wenn man<br />
die Massen dem Einfluß <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre entriß, das heißt dem<br />
indirekten Einfluß <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie. Die Verbindung dieser Parteien mit den<br />
Arbeitern und insbeson<strong>der</strong>e mit den Soldaten wurde durch die Idee <strong>der</strong> Verteidigung<br />
genährt - <strong>der</strong> »Verteidigung des Landes« o<strong>der</strong> <strong>der</strong> »Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Lenin<br />
for<strong>der</strong>te deshalb: unversöhnliche Politik in Beziehung auf alle Schattierungen des Sozialpatriotismus,<br />
Trennung <strong>der</strong> Partei von den rückständigen Massen, um dann diese Massen<br />
von ihrer Rückständigkeit zu befreien. »Den alten Bolschewismus muß man aufgeben«,<br />
sagte er wie<strong>der</strong>holt. »Es ist notwendig, die Scheidelinie zwischen Kleinbürgertum und<br />
Lohnproletariat zu ziehen.«<br />
Einem oberflächlichen Blick mochte es scheinen, alte Gegner hätten ihr Rüstzeug<br />
getauscht. Menschewiki und Sozialrevolutionäre vertraten jetzt die Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten und verwirklichten gleichsam in <strong>der</strong> Tat das politische Bündnis zwischen<br />
Proletariat und Bauernschaft, das die Bolschewiki stets im Gegensatz zu den Menschewiki<br />
verkündet hatten. Lenin aber for<strong>der</strong>te, die proletarische Avantgarde solle sich von<br />
diesem Bündnis lostrennen. In Wirklichkeit blieb jede Partei sich treu. Die Menschewiki<br />
betrachteten, wie stets, ihre Mission in <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie. Ihr<br />
Bündnis mit den Sozialrevolutionären war nur ein Mittel zur Verbreiterung und Festigung<br />
dieser Unterstützung. Dagegen bedeutete <strong>der</strong> Bruch <strong>der</strong> proletarischen Avantgarde<br />
mit dem kleinbürgerlichen Block die Vorbereitung des Bündnisses zwischen Arbeitern<br />
und Bauern unter Führung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, das heißt die Diktatur des Proletariats.<br />
Einwände an<strong>der</strong>cr Art ergaben sich aus <strong>der</strong> Rückständigkeit Rußlands. Die Macht <strong>der</strong><br />
Arbeiterklasse bedeute unabwendbar Übergang zum Sozialismus. Die Ökonomik und<br />
Kultur Russlands sei dafür aber nicht reif. Wir müßten die demokratische <strong>Revolution</strong> zu<br />
Ende führen. Nur die sozialistische <strong>Revolution</strong> im Westen könne die Diktatur des Proletariats<br />
bei uns rechtfertigen. Das waren die Einwände Rykows auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz.<br />
Daß die kulturökonomischen Bedingungen Rußlands an sich für den Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Gesellschaft ungenügend sind, war für Lenin das Abc. Doch die Gesellschaft ist<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 209
durchaus nicht so rationell aufgebaut, daß die Fristen für die Diktatur des Proletariats<br />
gerade in dem Moment eintreten, wenn die ökonomischeri und kultarellen Bedingungen<br />
für den Sozialismus gereift sind. Würde sich die Menschheit so planmäßig entwickeln,<br />
dann bestände keine Notwendigkeit für die Diktatur, wie für <strong>Revolution</strong>en überhaupt. Es<br />
geht eben darum, daß die lebendige historische Gesellschaft durch und durch disharmonisch<br />
ist, und zwar um so mehr, je verspäteter ihre Entwicklung. Einen Ausdruck dieser<br />
Disharmehie bildet eben die Tatsache, daß in einem so rückständigen Lande wie Rußland<br />
die Bourgeoisie bereits vor dem vollen Siege des bürgerlichen Regimes gänzlich verfault<br />
ist und außer dem Proletariat niemand sie als Führer <strong>der</strong> Nation ersetzen kann. Rußlands<br />
ökonomische Rückständigkeit befreit die Arbeiterklasse nicht von <strong>der</strong> Pflicht, die ihr<br />
zukommende Aufgabe zu erfüllen, sie gestaltet nur diese Erfüllung äußerst schwierig.<br />
Rykow, <strong>der</strong> betont hatte, Sozialismus müsse aus Län<strong>der</strong>n mit entwickelterer Industrie<br />
kommen, erhielt von Lenin eine einfache, aber erschöptende Antwort: »Es läßt sich nicht<br />
sagen, wer beginnen und wer beenden wird.«<br />
Im Jahre 1921, als die Partei, von bürokratischer Verknöcherung noch weit entfernt,<br />
mit <strong>der</strong> gleichen Freimütigkeit ihre Vergangenheit beurteilte, wie sie ihre Zukunft vorbereitet<br />
hatte, beschäftigte sich einer <strong>der</strong> älteren Bolschewiki, Olminski, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Parteipresse<br />
auf allen Etappen ihrer Entwicklung leitenden Anteil genommen hatte, mit <strong>der</strong><br />
Frage, wie die Tatsache zu erklären sei, daß die Partei im Moment <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
auf den opportunistischen Weg geraten war. Und was ihr dann so schnell ermöglichte,<br />
auf die Oktoberbahn abzubiegen. Die Quelle <strong>der</strong> Märzirrungen sieht <strong>der</strong> genannte Autor<br />
ganz richtig in <strong>der</strong> Tatsache, daß die Partei den Kurs auf demokratische Diktatur »zu<br />
lange gehalten hat«. »"Die bevorstehende <strong>Revolution</strong> kann nur eine bürgerliche <strong>Revolution</strong><br />
sein" ... Das war«, sagt Olminski, »für jedes Parteimitglied ein obligatorisches<br />
Urteil, die offizielle Meinung <strong>der</strong> Partei, ihre ständige und unverän<strong>der</strong>liche Losung bis<br />
zur Februarrevolution 1917 und sogar einige Zeit danach.« Zur Illustration könnte<br />
Olminski darauf verweisen, daß die 'Prawda' noch vor Stalin und Kamenew, das heißt<br />
unter <strong>der</strong> "linken" Redaktion, einschließlich Olminskis, am 7. März wie selbstverständlich<br />
geschrieben hat: »Gewiß handelt es sich bei uns noch nicht um den Sturz <strong>der</strong><br />
Herrschaft des Kapitals, son<strong>der</strong>n um den Sturz <strong>der</strong> Herrschaft des Absolutismus und<br />
Feudalismus« ... Durch die zu kurze Visierung des Ziels geriet die Partei in die Märzgefangenschaft<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie. »Wie ist es dann zur Oktoberrevolution<br />
gekommen«, fragt <strong>der</strong> Autor weiter, »wie konnte es geschehen, daß die Partei, von den<br />
Führern bis zum letzten Mitglied, so "plötzlich" sich von dem lossagte, was sie fast zwei<br />
Jahrzehnte hindurch als unumstößliche Wahrheit betrachtet hatte?«<br />
Suchanow stellt als Gegner die gleiche Frage auf an<strong>der</strong>e Weise: »Wie und wodurch<br />
hatte es Lenin verstanden, seine Bolschewiki zu besiegen?« In <strong>der</strong> Tat, Lenins Sieg innerhalb<br />
<strong>der</strong> Partei war nicht nur voll, son<strong>der</strong>n auch in sehr kurzer Frist errungen. Die Gegner<br />
ironisierten aus diesem Anlaß überhaupt nicht wenig das persönliche Regime in <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei. Auf die von ihm aufgeworfene Frage gibt Suchanow selbst die<br />
Antwort ganz im Geiste des heroischen Prinzips: »Der geniale Lenin war eine historische<br />
Autorität - das ist die eine Seite <strong>der</strong> Sache. Die an<strong>der</strong>e ist die, daß es außer Lenin in<br />
<strong>der</strong> Partei niemand und nichts gegeben hat. Einige bedeuten<strong>der</strong>e Generale waren ohne<br />
Lenin - nichts, wie einige unerreichbare Planeten ohne die Sonne (ich lasse hier Trotzki<br />
außer acht, <strong>der</strong> damals noch nicht in den Reihen des Ordens stand).« Diese kuriosen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 210
Zeilen versuchen, den Einfluß Lenins durch dessen Einfluß zu erklären, wie wenn etwa<br />
die Eigen-schaft des Opiums, schläfrig zu machen, mit seiner einschläfernden Kraft<br />
erklärt wird.<br />
Der tatsächliche Einfluß Lenins in <strong>der</strong> Partei war zweifellos sehr groß, aber doch<br />
keinesfalls unbeschränkt. Er blieb auch später nicht uneingeschränkt, nach dem Oktober,<br />
als Lenins Autorität außerordentlich gewachsen war, da die Partei seine Kraft an dem<br />
Metermaß <strong>der</strong> Weltereignisse nachgeprüft hatte. Um so unzureichen<strong>der</strong> sind die nackten<br />
Hinweise auf die persönliche Autorität Lenins im April 1917, als die ganze führende<br />
Parteischicht bereits Zeit gefunden harte, eine Position einzunehmen, die <strong>der</strong> Leninschen<br />
entgegengesetzt war.<br />
Viel näher an die Lösung <strong>der</strong> Frage geht Olminski heran, wenn er beweist, daß die<br />
Partei, trotz ihrer Formel <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen <strong>Revolution</strong>, sich durch ihre<br />
gesamte Politik <strong>der</strong> Bourgeoisie und Demokratie gegenüber faktisch seit langer Zeit<br />
darauf vorbereitet hatte, an die Spitze des Proletariats im unmittelbaren Kampfe um die<br />
Macht zu treten. »Wir (o<strong>der</strong> viele von uns)«, sagt Olminski, »hielten unbewußt den Kurs<br />
auf die proletarische <strong>Revolution</strong>, während wir vermeinten, den Kurs auf die bürgerlichdemokratische<br />
<strong>Revolution</strong> zu halten. Mit an<strong>der</strong>en Worten, wir bereiteten den Oktober<br />
vor, während wir glaubten, die Februarrevolution vorzubereiten.« Eine sehr wertvolle<br />
Verallgemeinerung, die gleichzeitig eine einwandfreie Zeugenaussage ist!<br />
In <strong>der</strong> theoretischen Erziehung <strong>der</strong> revolutionären Partei war ein Element des Wi<strong>der</strong>spruches<br />
enthalten, <strong>der</strong> seinen Ausdruck in <strong>der</strong> zweideutigen Formel "demokratische<br />
Diktatur" des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft fand. Eine Delegierte, die auf <strong>der</strong> Konferenz<br />
zum Referat Lenins Stellung nahm, äußerte den Gedanken Olminskis noch<br />
einfacher: »Die Prognose, die die Bolschewiki aufgestellt hatten, erwies sich als falsch,<br />
aber die Taktik war richtig.«<br />
In den Aprilthesen, die so paradox schienen, stützte sich Lenin gegenüber <strong>der</strong> alten<br />
Formel auf die lebendige Tradition <strong>der</strong> Partei: ihre Unversöhnlichkeit gegen die<br />
herrschenden Klassen und Feindseligkeit gegen alle Halbheiten, während die "alten<br />
Bolschewiki" <strong>der</strong> konkreten Entwicklung des Klassenkampfes zwar frische, aber bereits<br />
den Archiven gehörende Erinnerungen entgegenstellten. Lenin besaß eine zu sichere<br />
Stütze, die durch die ganze <strong>Geschichte</strong> des Kampfes <strong>der</strong> Bolschewiki und Menschewiki<br />
vorbereitet war. Es ist hier angebracht, zu erinnern, daß das offizielle sozialdemokratische<br />
Programm in jener Zeit bei Bolschewiki und Menschewiki noch gemeinsam war<br />
und die praktischen Aufgaben <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> auf dem Papier bei beiden<br />
Parteien gleich aussahen. Doch waren sie in <strong>der</strong> Wirklichkeit durchaus nicht gleich. Die<br />
bolschewistischen Arbeiter ergriffen sofort nach <strong>der</strong> Umwälzung die Initiative des<br />
Kampfes um den Achtstundentag; die Menschewiki erklärten diese For<strong>der</strong>ung für unzeitgemäß.<br />
Die Bolschewiki leiteten die Verhaftung <strong>der</strong> zaristischen Beamten, die Menschewiki<br />
wi<strong>der</strong>setzten sieh "Exzessen". Die Bolschewiki gingen energisch an die Schaffung<br />
<strong>der</strong> Arbeitermiliz, die Menschewiki bremsten die Bewaffnung des Proletariats, da sie es<br />
sich mit <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht zu ver<strong>der</strong>ben wünschten. Noch ehe sie den Kreis <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Demokratie überschritten hatten, waren die Bolschewiki aus allen Kräften<br />
bestrebt, wenn auch durch die Führung vom Weg abgelenkt, wie unversöhnliche <strong>Revolution</strong>äre<br />
zu handeln. Dagegen opferten die Menschewiki bei jedem Schritt das demokratische<br />
Programm im Interesse des Bündnisses mit den Liberalen. Bei völligem Fehlen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 211
demokratischer Verbündeter mußten Kamenew und Stalin unvermeidlich in <strong>der</strong> Luft<br />
hängenbleiben.<br />
Der Aprilzusammenstoß Lenins mit dem Generalstab <strong>der</strong> Partei ist nicht <strong>der</strong> einzige<br />
gewesen. In <strong>der</strong> ganzen <strong>Geschichte</strong> des Bolschewismus unter Abzug einzelner Episoden,<br />
die im Wesen die Regel nur bestätigen, standen alle Führer <strong>der</strong> Partei in allen wichtigen<br />
Momenten <strong>der</strong> Entwicklung rechts von Lenin. Zufällig? Nein! Lenin ist gerade darum<br />
<strong>der</strong> unbestrittene Führer <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Weltgeschichte revolutionärsten Partei geworden, weil<br />
sein Denken und Wille letzten Endes den grandiosen revolutionären Möglichkeiten des<br />
Landes und <strong>der</strong> Epoche angemessen waren. Den an<strong>der</strong>en fehlten bald ein, bald zwei Zoll,<br />
oft aber auch mehr.<br />
Fast die gesamte Führerschicht <strong>der</strong> bolschewistischen Partei befand sich in den<br />
Monaten und Jahren, die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorangegangen waren, außerhalb <strong>der</strong> aktiven<br />
Arbeit. Viele hatten die lastenden Eindrücke <strong>der</strong> ersten Kriegsmonate in die Gefängnisse<br />
und die Verbannung mitgenommen und den Zusammenbruch <strong>der</strong> <strong>Internationale</strong> einsam<br />
o<strong>der</strong> in kleinen Gruppen erlebt. Wenn sie in den Reihen <strong>der</strong> Partei auch hinreichende<br />
Aufnahmefähigkeit für die Ideen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gezeigt hatten, was sie ja auch an den<br />
Bolschewismus fesselte, so besaßen sie, isoliert, doch nicht die Kraft, dem Drucke <strong>der</strong><br />
Umgebung Wi<strong>der</strong>stand zu leisten und selbständig die Ereignisse marxistisch einzuschätzen.<br />
Der ungeheure Umschwung, <strong>der</strong> sich in den Massen in den zweieinhalb Kriegsjahren<br />
vollzogen hatte, war fast außerhalb ihres Gesichtsfeldes geblieben. Die Umwälzung<br />
aber hatte sie nicht nur <strong>der</strong> Isoliertheit entrissen, son<strong>der</strong>n sie kraft ihrer autoritativen<br />
Stellung auf entscheidende Posten in <strong>der</strong> Partei gestellt. Ihren Stimmungen nach waren<br />
diese Elemente nicht selten <strong>der</strong> "Zimmerwal<strong>der</strong>" Intelligenz viel näher als den revolutionären<br />
Arbeitern aus den Betrieben.<br />
Die "alten Bolschewiki", die ihren Ruf im April 1917 mit so viel aufgeblähtem Selbstbewußtsein<br />
nachlebten, waren zur Nie<strong>der</strong>lage verurteilt, denn sie verteidigten gerade<br />
jenes Element <strong>der</strong> Parteitradition, das <strong>der</strong> geschichtlichen Nachprüfung nicht standgehalten<br />
hatte. »Ich gehöre zu den alten Bolschewiki-Leninisten«, sagte zum Beispiel auf <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Konferenz am 14. April Kalinin, »und vertrete die Ansicht, <strong>der</strong> alte Leninismus<br />
hat sich im gegenwärtigen, eigenartigen Moment keinesfalls als untauglich<br />
erwiesen, und ich kann über die Erklärung des Genossen Lenin nur staunen, daß die<br />
alten Bolschewiki im gegenwärtigen Moment ein Hemmnis geworden seien.« Solche<br />
gekränkte Stimmen mußte Lenin in jenen Tagen nicht selten vernehmen. Mit <strong>der</strong> traditionellen<br />
Formel <strong>der</strong> Partei brechend, hörte Lenin indes nicht im geringsten auf, "Leninist"<br />
zu sein: er warf die abgenutzte Schale des Bolschewismus beiseite, um dessen Kern zu<br />
neuem Leben zu erwecken. Gegen die alten Bolschewiki fand Lenin in einer an<strong>der</strong>en,<br />
bereits gestählten, aber frischeren und mehr mit den Massen verbundenen Parteischicht<br />
eine Stütze. In <strong>der</strong> Februarrevolution hatten die bolschewistischen Arbeiter, wie wir<br />
wissen, die entscheidende Rolle gespielt. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß<br />
jene Klasse die Macht übernehmen müsse, die den Sieg errungen hatte. Diese Arbeiter<br />
hatten stürmisch gegen den Kurs Kamenew-Stalin protestiert und <strong>der</strong> Wyborger Bezirk<br />
sogar mit dein Ausschluß <strong>der</strong> "Führer" aus <strong>der</strong> Partei gedroht. Das gleiche war in <strong>der</strong><br />
Provinz zu beobachten. Fast überall gab es linke Bolschewiki, die man des Maximalismus<br />
und sogar des Anarchismus beschuldigte. Den revolutionären Arbeitern fehlten nur<br />
die theoretischen Mittel, um ihre Positionen zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 212
ersten Zuruf mit Wi<strong>der</strong>hall zu beantworten.<br />
Nach dieser Arbeiterschicht, die während des Aufschwungs <strong>der</strong> Jahre 1912-1914 sich<br />
endgültig hochgerichtet hatte, orientierte sich Lenin. Schon zu Beginn des Krieges, als<br />
die Regierung durch die Zerschlagung <strong>der</strong> bolschewistischen Dumafraktion <strong>der</strong> Partei<br />
einen schweren Hieb zugefügt hatte, verwies Lenin, über die fernere revolutionäre Arbeit<br />
sprechend, auf die von <strong>der</strong> Partei erzogenen »Tausende klassenbewußte Arbeiter, aus<br />
denen, allen Schwierigkeiten zum Trotz, ein neues Führerkollektiv entstehen wird«.<br />
Durch zwei Fronten von ihnen getrennt, fast ohne Verbindung, riß sich Lenin von ihnen<br />
doch niemals los. »Mag sie Krieg, Gefängnis, Sibirien, Katorga fünffach, zehnfach<br />
zerschlagen. Diese Schicht zu vernichten, ist unmöglich. Sie lebt. Sie ist von revolutionärern<br />
Geist und Antichauvinismus durchdrungen.« In Gedanken erlebte Lenin die Ereignisse<br />
gemeinsam mit diesen Arbeiterbolschewiki, zog gemeinsam mit ihnen die notwendigen<br />
Schlüsse, nur breiter und kühner als sie. Zum Kampfe gegen die Unentschlossenheit<br />
des Stabes und <strong>der</strong> breiten Offiziersschicht <strong>der</strong> Partei stützte sich Lenin sicher anf<br />
die Unteroffiziersschicht, die den einfachen Arbeiterbolschewiken besser wi<strong>der</strong>spiegelte.<br />
Die zeitweilige Macht <strong>der</strong> Sozialpatrioten und die verhüllte Schwäche des opportunistischen<br />
Flügels <strong>der</strong> Bolschewiki bestanden darin, daß die ersteren sich auf die damaligen<br />
Vorurteile und Illusionen <strong>der</strong> Massen stützten und die an<strong>der</strong>en sich ihnen anpaßten. Die<br />
Hauptstärke Lenins war, daß er die innere Logik <strong>der</strong> Bewegung begriff und danach seine<br />
Politik richtete. Er zwang den Massen seinen Plan nicht auf. Er half den Massen, ihren<br />
eigenen Plan zu erkennen und zu verwirklichen. Als Lenin alle Probleme <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
auf das eine Problem zurückführte: »Geduldig aufklären«, hieß dies, das Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Massen mit jener Situation in Übereinstimmung zu bringen, in die <strong>der</strong> historische Prezeß<br />
sie hineingetrieben hatte. Arbeiter o<strong>der</strong> Soldat mußte, enttäuscht von <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong><br />
Versöhnler, auf Lenins Position übergehen, ohne sich auf <strong>der</strong> Zwischenetappe<br />
Kamenew-Stalin aufzuhalten.<br />
Sobald die Leninschen Formeln gegeben waren, erhellten sie vor den Bolschewiki die<br />
Erfahrung des verflossenen Monats und die Erfahrung jedes neuen Tages mi neuen<br />
Lichte. Unter <strong>der</strong> breiten Parteimasse begann eine schnelle Differeinierung: nach links!<br />
nach links! zu den Thesen Lenins!<br />
»Bezirk auf Bezirk«, sagte Saleschski, »schloß sich ihnen an, und auf <strong>der</strong> am 24. April<br />
versammelten All<strong>russischen</strong> Parteikonferenz sprach sich die Petrogra<strong>der</strong> Organisation<br />
in ihrer Gesamtheit für die Thesen aus.«<br />
Der Kampf um die Umbewaffnung <strong>der</strong> bolschewistischen Ka<strong>der</strong>, <strong>der</strong> am Abend des 3.<br />
April begonnen hatte, war gegen Ende des Monats im wesentlichen bereits beendet 4 . Die<br />
Parteikonferenz, die in Petrograd vom 24.-29. April tagte, zog das Fazit des März, des<br />
4 Am gleichen Tage, als Lenin in Petrograd ankam, holte jenseits des Atlantischen O'teans, bei Halifax, die<br />
britische Seepolizei fünf Emigranten von dem norwegischen Dampfer "Christianiafjord" herunter, die auf <strong>der</strong><br />
Rückkehr aus New York nach Rußland waren: Trotzki, Tschudnowski, Melnitschanski, Muchin, Fischelew<br />
und Romantschenko. Diese Personen erhielten erst am 4. Mai die Möglichkeit, nach Petrograd zu kommen,<br />
als die politische Umbewaffnung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei mindestens im gröbsten beendet war. Wir<br />
erachten es deshaih für nicht angebracht, in den Text unseres Berichtes die Darsellung jener Ansichten über<br />
die <strong>Revolution</strong> einzufügen, die Trotzki in <strong>der</strong> damals in New York erschienenen <strong>russischen</strong> Tageszeitung<br />
enewickelte. Da an<strong>der</strong>erseits die Kenntnis dieser Ansichten dem Leser das Verständnis für die weiteren<br />
Parteigruppierungen und insbeson<strong>der</strong>e für den Ideenkampf am Vorabend des Oktobers erleichtern dürfte, so<br />
halten wir es für zweckmäßig, die darauf bezügliche Auskunft auszuson<strong>der</strong>n und sie am Ende des Buches als<br />
Anhang beizugeben. Der Leser, <strong>der</strong> sich an einem detaillierteren Studium <strong>der</strong> theoretischen Vorbereitung <strong>der</strong><br />
Oktoberrevolution desinteressiert glaubt, mag ruhig an diesem Anhang vorübergehen. (Anhang Nr.2)<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 213
Monats opportunistischer Schwankungen, und des Aprils, des Monats <strong>der</strong> scharfen Krise.<br />
Zu dieser Zeit war die Partei sehr stark gewachsen, sowohl zahlenmäßig wie politisch.<br />
149 Delegierte vertraten 79.000 Parteimitglie<strong>der</strong>, davon 15.000 aus Petrograd. Für die<br />
gestern noch illegale und heute antipatriotische Partei eine imposante Zahl, und Lenin<br />
wie<strong>der</strong>holte sie mehrere Male mit Genugtuung. Die politische Physiognomie <strong>der</strong> Konferenz<br />
wurde schon bei <strong>der</strong> Wahl des fünfgliedrigen Präsidiums bestimmt: we<strong>der</strong><br />
Kamenew noch Stalin, die Hauptschuldigen des Märzunheils, kamen hinein.<br />
Trotzdem die Streitfragen für die Partei im ganzen bereits fest entschieden waren,<br />
blieben viele Führer, an den gestrigen Tag gebunden, auf dieser Konferenz in Opposition<br />
o<strong>der</strong> Halbopposition zu Lenin. Stalin bewahrte Schweigen und wartete ab. Dserschinski<br />
for<strong>der</strong>te im Namen »vieler«, die »mit den Thesen des Referenten prinzipiell nicht einverstanden<br />
sind«, ein Korreferat seitens »<strong>der</strong> Genossen, die gemeinsam mit uns die <strong>Revolution</strong><br />
praktisch erlebt haben«. Das war eine deutliche Anspielung auf den<br />
Emigrantencharakter <strong>der</strong> Leninschen Thesen. Kamenew trat tatsächlich auf <strong>der</strong> Konferenz<br />
mit einem Korreferat auf zur Verteidigung <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen Diktatur.<br />
Rykow, Tomski und Kalinin versuchten mehr o<strong>der</strong> weniger, bei ihren Märzpositionen zu<br />
verharren. Kalinin fuhr fort, auf <strong>der</strong> Vereinigung mit den Menschewiki zu bestehen, im<br />
Interesse des Kampfes gegen den Liberalismus. Ein angesehener Moskauer<br />
Parteiarbeiter, Smidowitsch, führte leidenschaftlich Klage: »Wo immer wir auftreten,<br />
wird gegen uns ein Schreckgespenst in Gestalt <strong>der</strong> Thesen des Genossen Lenin<br />
gerichtet.« Früher, solange die Moskauer für die Resolutionen <strong>der</strong> Menschewiki stimmten,<br />
ließ es sich viel ruhiger leben.<br />
Als Schüler Rosa Luxemburgs trat Dserschinski gegen das Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong><br />
Nationen auf und beschuldigte Lenin <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung separatistischer Tendenzen, die das<br />
Proletariat Rußlands schwächten. Auf die Gegenanklage wegen Unterstützung des<br />
groß<strong>russischen</strong> Chauvinismus antwortete Dserschinski: »Ich kann ihm (Lenin) den<br />
Vorwurf machen, daß er auf dem Standpunkt polnischer, ukrainischer und an<strong>der</strong>er<br />
Chauvinisten steht.« Dieser Dialog entbehrt nicht politischer Pikanterie: <strong>der</strong> Großrusse<br />
Lenin beschuldigt den Polen Dserschinski des groß<strong>russischen</strong>, gegen die Polen gerichteten<br />
Chauvinismus und wird von diesem des polnischen Chauvinismus beschuldigt. Das<br />
politische Recht war auch in diesem Streitfall völlig auf seiten Lenins. Seine nationale<br />
Politik ging als wichtiges Grundelement in die Oktoberrevolution ein.<br />
Die Opposition erlosch merklich. In den strittigen Fragen brachte sie nicht mehr als<br />
sieben Stimmen zusammen. Es gab jedoch eine bemerkenswerte und krasse Ausnahme,<br />
die die internationalen Verbindungen <strong>der</strong> Partei betraf. Knapp vor Schluß <strong>der</strong> Arbeiten,<br />
in <strong>der</strong> Abendsitzung des 29. April, brachte Sinowjew im Namen einer Kommission<br />
folgenden Resolutionsentwuif ein: »An <strong>der</strong> auf den 18. Mai anberaumten internationalen<br />
Konferenz <strong>der</strong> Zimmerwal<strong>der</strong> teilzunehmen« (in Stockholm). Das Protokoll lautet:<br />
»Angenommen mit allen Stimmen gegen eine.« Diese eine Stimme war Lenin. Er<br />
verlangte den Bruch mit Zimmerwald, wo die Mehrheit endgültig bei den deutschen<br />
Unabhängigen und den neutralen Pazifisten vom Schlag des Schweizers Grimm<br />
angelangt war. Für die <strong>russischen</strong> Parteika<strong>der</strong> jedoch war Zinimerwald während des<br />
Krieges fast identisch mit dem Bolschewismus geworden. Die Delegierten weigerten<br />
sich, sowohl auf den Namen Sozialdemokratie zu verzichten, wie mit Zimmerwald zu<br />
brechen, das ihnen immer noch als eine Verbindung mit den Massen <strong>der</strong> Zweiten Interna-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 214
tionale erschien. Lenin versuchte, die Beteiligung an <strong>der</strong> bevorstehenden Konferenz<br />
wenigstens auf rein informatorische Zwecke zu begrenzen. Sinowjew trat dagegen auf.<br />
Der Antrag Lenins ging nicht durch. Darauf stimmte er gegen die ganze Resolution.<br />
Niemand unterstützte ihn. Das war letztes Aufflackern <strong>der</strong> "März"-Stimmungen,<br />
Festklammern an die gestrigen Positionen, Angst vor "Isolierung". Die Konferenz fand<br />
jedoch überhaupt nicht statt, und zwar infolge <strong>der</strong> gleichen inneren Krankheiten von<br />
Zimmerwald, die Lenin gerade bewogen hatten, mit ihm zu brechen. Die gegen eine<br />
Stimme abgelehnte Boykottpolitik wurde auf diese Weise doch verwirklicht.<br />
Der schroffe Charakter <strong>der</strong> Wendung, die in <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Partei vorgenommen<br />
worden war, wurde für alle offenbar. Schmidt, Arbeiterbolschewik, später Volkskommissar<br />
für Arbeit, sagte auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz: »Lenin hat dem Charakter <strong>der</strong> Parteitätigkeit<br />
eine neue Richtung gegeben.« Nach dem, allerdings einige Jahre später geschriebenen<br />
Ausdruck Raskolnikows hat Lenin im April 1917 »die Oktoberrevolution im Bewußtsein<br />
<strong>der</strong> Parteileiter vollzogen ... Die Taktik unserer Partei bildet keine gerade Linie, nach <strong>der</strong><br />
Ankunft Lenins machte sie eine schroffe Kurve nach links.« Unmittelbarer und gleichzeitig<br />
präziser beurteilt die alte Bolsehewistin Ludmilla Stahl die Än<strong>der</strong>ung: »Alle Genossen<br />
haben bis zur Ankunft Lenins im Dunkeln getappt«, sagte sie am 14. April auf <strong>der</strong><br />
Stadtkonferenz. »Es gab nur die Formeln von 1905. Angesichts seiner selbständigen<br />
Schöpfung vermochten wir nicht das Volk zu lehren ... Unsere Genossen konnten sich<br />
nur auf die Vorbereitung zur Konstituierenden Versammlung mit parlamentarischen<br />
Mitteln beschränken und nicht die Möglichkeit berechnen, weiter zu schreiten. Wenn wir<br />
die Parolen Lenins akzeptieren, tun wir nur, was uns das Leben selbst eingibt. Man darf<br />
sich vor <strong>der</strong> Kommune, weil das ja schon eine Arbeiterregierung ist, nicht fürchten. Die<br />
Pariser Kommune war nicht ausschließlich eine Arbeiterkommune, son<strong>der</strong>n auch kleinbürgerlich.«<br />
Man kann Suchanow zustimmen, daß die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei »<strong>der</strong><br />
wichtigste und grundlegende Sieg Lenins, abgeschlossen Anfang Mai, gewesen ist.«<br />
Allerdings, Suchanow meinte, Lenin habe bei dieser Operation die marxistischen Waffen<br />
mit den anarchistischen vertauscht.<br />
Es bleibt zu fragen, und es ist keine unwichtige Frage, obwohl sie leichter zu stellen als<br />
zu beantworten ist: welche Entwicklung würde die <strong>Revolution</strong> genommen haben, wenn<br />
Lenin im April 1917 Rußland nicht erreicht hätte? Wenn unsere Darstellung überhaupt<br />
etwas beweist und nachweist, so ist es, hoffen wir, dies, daß Lenin nicht Schöpfer des<br />
revolutionären Prozesses war, son<strong>der</strong>n sich nur in die Kette <strong>der</strong> objektiven historischen<br />
Kräfte eingeglie<strong>der</strong>t hat. Doch war er in dieser Kette ein großes Glied. Die Diktatur des<br />
Proletariats ergab sich aus <strong>der</strong> ganzen Situation. Aber man mußte sie erst errichten. Sie<br />
war ohne die Partei nicht zu errichten. Die Partei jedoch konnte ihre Mission nur<br />
erfüllen, nachdem sie sie erkannt hatte. Dazu war eben Lenin notwendig. Bis zu seiner<br />
Ankunft war nicht einer <strong>der</strong> bolschewistischen Führer imstande gewesen, die Diagnose<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu stellen. Die Führung Kamenew-Stalin wurde durch den Lauf <strong>der</strong><br />
Dinge nach rechts geschleu<strong>der</strong>t, zu den Sozialpatrioten: zwischen Lenin und dem<br />
Menschewismus ließ die <strong>Revolution</strong> keinen Raum für Mittelpositionen. Der innere<br />
Kampf in <strong>der</strong> bolschewistischen Partei war vollkommen unvermeidlich. Lenins Ankunft<br />
hat den Prozeß nur beschleunigt. Sein persönlicher Einfluß hat die Krise verkürzt. Kann<br />
man aber mit Bestimmtheit sagen, die Partei würde auch ohne ihn ihren Weg gefunden<br />
haben? Dies zu behaupten, könnten wir uns keinesfalls entschließen. Der Faktor Zeit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 215
entscheidet hier, und hinterher läßt sich schwer auf die Uhr <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> blicken.<br />
Dialektischer Materialismus hat jedenfalls nichts mit Fatalismus gemein. Die Krise, die<br />
die opportunistische Leitung unvermeidlich hervorrufen mußte, würde ohne Lenin einen<br />
beson<strong>der</strong>s scharfen und langwierigen Charakter angenommen haben. Die Bedingungen<br />
des Krieges und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ließen aber <strong>der</strong> Partei für die Erfüllung ihrer Mission<br />
keine langen Fristen. Es ist deshalb ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß die desorientierte<br />
und zerrissene Partei die revolutionäre Situation auf viele Jahre hinaus verpassen<br />
konnte. Die Rolle <strong>der</strong> Persönlichkeit tritt hier vor uns wahrhaft gigantischem Maßstahe<br />
auf. Nur muß man diese richtig begreifen und die Persönlichkeit als ein Glied <strong>der</strong> historischen<br />
Kette betrachten.<br />
Lenins "plötzliche" Ankunft aus dem Auslande nach langer Abwesenheit, <strong>der</strong> wilde<br />
Lärm <strong>der</strong> Presse um seinen Namen, <strong>der</strong> Zusammenstoß Lenins mit allen Führern <strong>der</strong><br />
eigenen Partei und sein schneller Sieg über sie - kurz die äußere Hülle <strong>der</strong> Ereignisse hat<br />
in diesem Falle stark zur mechanischen Gegenüberstellung von Person, Held, Genie,<br />
objektiven Verhältnissen, Masse, Partei beigetragen. In Wirklichkeit ist eine solche<br />
Gegenüberstellung völlig einseitig. Lenin war kein zufälliges Element <strong>der</strong> historischen<br />
Entwicklung, son<strong>der</strong>n Produkt <strong>der</strong> gesamten vergangenen <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>. Er war<br />
tief in ihr verwurzelt. Gemeinsam mit den fortgeschrittenen Arbeitern hatte er während<br />
des vorangegangenen Vierteljahrhun<strong>der</strong>ts ihren ganzen Kampf mitgemacht. "Zufall" war<br />
nicht sein Eingreifen in die Ereignisse, son<strong>der</strong>n eher jener Strohhalm, mit dem Lloyd<br />
George ihm den Weg zu sperren versucht hatte. Lenin stand <strong>der</strong> Partei nicht von außen<br />
gegenüber son<strong>der</strong>n er war ihr vollendetster Ausdruck. Indem er sie erzog, erzog er sich<br />
an ihr. Sein Auseinan<strong>der</strong>gehen mit <strong>der</strong> Führerschicht <strong>der</strong> Bolschewiki bedeutete den<br />
Kampf des morgigen Tages <strong>der</strong> Partei mit ihrem gestrigen Tage. Wäre Lenin nicht künstlich<br />
durch Emigration und Krieg von <strong>der</strong> Partei getrennt gewesen, so wäre die äußere<br />
Mechanik <strong>der</strong> Krise nicht so dramatisch und die innere Kontinuität <strong>der</strong> Parteientwieklung<br />
nicht so verhüllt. Aus jener beson<strong>der</strong>en Bedeutung, die Lenins Ankunft erhalten hat,<br />
ergibt sich nur, daß Führer nicht zufällig erstehen, daß ihre Auslese und Erziehung<br />
Jahrzehnte erfor<strong>der</strong>n, daß sie nicht willkürlich zu ersetzen sind, daß ihre mechanische<br />
Ausschaltung aus dem Kampfe <strong>der</strong> Partei eine offene Wunde zufügen und unter Umständen<br />
die Partei für lange Zeit paralysieren kann.<br />
"Apriltage"<br />
Am 23. März traten die Vereinigten Staaten in den Krieg ein. Am gleichen Tage fand<br />
in Petrograd die Beisetzung <strong>der</strong> Opfer <strong>der</strong> Februarrevolution statt. Die traurige, doch<br />
ihrer Stimmung nach festlich-lebensfreudige Kundgebung war ein mächtiger Schlußakkord<br />
<strong>der</strong> Symphonie <strong>der</strong> fünf Tage. Zur Beisetzung kamen alle: sowohl jene, die Seite an<br />
Seite mit den Gemordeten gekämpft, wie jene, die vom Kampfe zurückgehalten, und<br />
wahrscheinlich auch jene, die sie gemordet hatten, am zahlreichsten aber die, die beim<br />
Kampfe abseits geblieben waren. Neben Arbeitern, Soldaten und städtischem Kleinvolk<br />
waren hier Studenten, Minister, Gesandte, solide Bürger, Journalisten, Redner, Häupter<br />
aller Parteien. Rote Särge schwebten auf den Händen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten aus den<br />
Stadtbezirken dem Marsfelde zu. Als man die Särge in die Gruft senkte, ertönte von <strong>der</strong><br />
Peter-Paul-Festung her, die gewaltigen Volksmassen erschütternd, <strong>der</strong> erste Trauersalut.<br />
Die Kanonen donnerten auf neue Art: Unsere Kanonen, unser Salut. Der Wyborger<br />
Bezirk trug 51 rote Särge. Das war nur ein Teil <strong>der</strong> Opfer, auf die er stolz war. Im Zuge<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 216
<strong>der</strong> Wyborger, dem dichtesten von allen, ragten zahlreiche bolschewistische Fahnen<br />
hervor. Doch wehten sie friedlich neben den an<strong>der</strong>en. Auf dem Marsfeld selbst blieben<br />
nur die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung des Sowjets und <strong>der</strong> bereits verblichenen, aber ihrer<br />
eigenen Beisetzung hartnäckig wi<strong>der</strong>strebenden Reichsduma. An den Gräbern defilierten<br />
mit Bannern und Musikorchestern im Laufe des Tages wenigstens achthun<strong>der</strong>ttausend<br />
Mann vorbei. Und obwohl nach Ansicht <strong>der</strong> höchsten militärischen Autoritäten in <strong>der</strong><br />
vorgesehenen Zeit eine solche Menschenmasse nicht ohne größtes Chaos und katastrophale<br />
Wirbel hätte vorbeigehen können, verlief die Manifestation dennoch in vollster<br />
Ordnung, wie sie für solche revolutionäre Umzüge charakteristisch ist, bei denen das<br />
befriedigende Bewußtsein zum erstenmal vollbrachter großer Taten herrscht, verbunden<br />
mit <strong>der</strong> Hoffnung, nun werde alles besser sein. Nur diese Stimmung hielt die Ordnung<br />
aufrecht, denn die Organisation war noch schwach, unerfahren und ihrer selbst nicht<br />
sicher.<br />
Die Tatsache <strong>der</strong> Beerdigung war, sollte man meinen, eine genügende Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong><br />
Legende von <strong>der</strong> unblutigen <strong>Revolution</strong>. Und doch gab die bei <strong>der</strong> Beerdigung<br />
herrschende Stimmung teilweise jene Atmosphäre <strong>der</strong> ersten Tage wie<strong>der</strong>, aus <strong>der</strong> diese<br />
Legende entstanden war.<br />
Nach 25 Tagen - in dieser Zeit hatten die Sowjets viel an Erfahrung und Sicherheit<br />
gewonnen - fand die Feier des 1. Mai nach europäischer Zeitrechnung (am 18. April nach<br />
dem alten Stil) statt. Alle Städte im Lande waren von Versammlungen und Demonstrationen<br />
überschwemmt. Nicht nur die Industriebetriebe, son<strong>der</strong>n auch die Staats-, Stadt-, und<br />
die Semstwo-Institutionen feierten. In Mohilew, wo sich das Hauptquartier befand,<br />
schritten die Ritter des Georgskreuzes an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Demonstration. Die Kolonne des<br />
Stabes mit den nicht abgesetzten Zarengeneralen trug ihre Maiplakate. Das Fest des<br />
proletarischen Antimilitarismus verschmolz mit <strong>der</strong> revolutionär gefärbten Manifestation<br />
des Patriotismus. Die verschiedenen Schichten <strong>der</strong> Bevölkerung brachten in das Fest ihre<br />
Note, doch alles zusammen vereinigte sich noch zu einem zwar äußerst verschwommenen,<br />
teils unwahren, aber im allgemeinen großartigen Ganzen.<br />
In den beiden Hauptstädten und den Industriezentren waren bei dem Fest die Arbeiter<br />
vorherrschend, und in ihrer Masse hoben sich schon deutlich - durch Banner, Plakate,<br />
Reden und Zwischenrufe - die festen Kerne des Bolschewismus ab. Über die riesige<br />
Fassade des Mariinski-Palais, <strong>der</strong> Unterkunft <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, spannte sich<br />
ein herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> roter Streifen mit <strong>der</strong> Aufschrift: »Es lebe die Dritte<br />
<strong>Internationale</strong>!« Die Behörden, die ihre administrative Schüchternheit noch nicht<br />
abgeworfen hatten, konnten sich nicht entschließen, dieses unangenehme und besorgniserregende<br />
Plakat zu entfernen. Es schien, als feierten alle. Soweit sie konnte, feierte auch<br />
die aktive Armee. Berichte trafen ein über Versammlungen, Reden, Fahnen und revolutionäre<br />
Lie<strong>der</strong> in den Schützengräben. Es gab auch Wi<strong>der</strong>hall von deutscher Seite.<br />
Der Krieg ging noch nicht dem Ende zu, im Gegenteil, er erweiterte seine Kreise. War<br />
doch vor kurzem, gerade am Tage <strong>der</strong> Beisetzung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sopfer, ein ganzer<br />
Kontinent dem Kriege beigetreten, um ihm einen neuen Schwung zu verleihen. Zur<br />
gleichen Zeit nahmen in allen Gegenden Rußlands mit den Soldaten auch Kriegsgefangene<br />
an den Kundgebungen teil, unter gemeinsamem Banner, manchmal auch mit<br />
gemeinsamer Hymne in verschiedenen Sprachen. In diesem unübersehbaren Fest, einem<br />
Hochwasser ähnlich, das Klassen-, Partei- und Ideenumrisse überschwemmte, war die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 217
gemeinsame Demonstration <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Soldaten und <strong>der</strong> österreichischen und<br />
deutschen Gefangenen ein greller hoffnungserregen<strong>der</strong> Faktor, <strong>der</strong> den Glauben weckte,<br />
die <strong>Revolution</strong> verbürge trotz allem irgendeine bessere Welt.<br />
Gleich <strong>der</strong> Märzbeisetzung verlief auch die Maifeier in völliger Ordnung, ohne Zusammenstöße<br />
und Opfer, wie ein "allnationales" Fest. Das aufmerksame Ohr jedoch konnte<br />
mühelos aus den Reihen <strong>der</strong> Soldaten und Arbeiter eine ungeduldige und sogar drohende<br />
Note vernehmen. Das Leben werde immer schwerer. Und in <strong>der</strong> Tat: die Preise wuchsen<br />
bedrohlich, die Arbeiter fordenen feste Minimallöhne, die Unternehmer wi<strong>der</strong>setzten<br />
sich, die Konflikte in den Betrieben nahmen ununterbrochen zu. Die Ernährungslage<br />
verschlechterte sich, die Brotration wurde kleiner, sogar für Graupen führte man Karten<br />
ein. Auch in <strong>der</strong> Garnison wuchs die Unzufriedenheit. Der Kreisstab beabsichtigte, durch<br />
Entfernung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile aus Petrograd die Soldaten unschädlich zu<br />
machen. In <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> gesamten Garnison vom 17. April verlangten Soldaten,<br />
die die feindliche Absicht errieten, Einstellung des Abtransports von Truppenteilen: diese<br />
For<strong>der</strong>ung wird sich künftig bei je<strong>der</strong> neuen Krise <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in immer schärferer<br />
Form erheben. Doch die Wurzel allen Unheils bleibt <strong>der</strong> Krieg, dessen Ende nicht<br />
abzusehen ist. Wann wird die <strong>Revolution</strong> Frieden bringen? Warum schauen Kerenski<br />
und Zeretelli zu? Immer aufmerksamer lauschten die Massen den Bolschewiki, lauernd,<br />
abwartend blickten sie zu ihnen hin, die einen noch halb feindselig, die an<strong>der</strong>en bereits<br />
vertrauensvoll. Unter <strong>der</strong> Feiertagsdisziplin verbarg sich eine gespannte Stimmung; in<br />
den Massen gärte es.<br />
Aber niemand, auch nicht die Autoren des Transparentes am Mariinski-Palais, ahnte,<br />
daß schon die nächsten zwei, drei Tage die Hülle nationaler Einheit, die die <strong>Revolution</strong><br />
umgab, erbarmungslos zerreißen würden. Die bedrohlichen Ereignisse, <strong>der</strong>en Unvermeidlichkeit<br />
viele vorausgesehen, niemand aber so bald erwartet hatte, brachen überraschend<br />
herein. Den Anstoß dazu gab die Außenpolitik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, das<br />
heißt das Problem des Krieges. Kein an<strong>der</strong>er als Miljukow hat das Zündholz an den<br />
Docht gelegt.<br />
Die <strong>Geschichte</strong> des Zündholzes und des Dochtes: Am Tage des Eintritts Amerikas in<br />
den Krieg entwickelte <strong>der</strong> Außenminister <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, <strong>der</strong> nun Mut<br />
geschöpft hatte, den Journalisten sein Programm: Eroberung Konstantinopels, Eroberung<br />
Armeniens, Aufteilung Österreichs und <strong>der</strong> Türkei, Eroberung Nordpersiens und darüber<br />
hinaus selbstverständlich das Recht <strong>der</strong> Nationen auf Selbstbestimmung. »Bei jedem<br />
Hervortreten«, deutet Historiker Mijukow den Minister Miljukow, »unterstrich er<br />
entschieden die pazifistischen Ziele des Befreiungkrieges, aber er brachte sie stets in<br />
engste Verbindung mit den nationalen Aufgaben und Interessen Rußlands.« Das Interview<br />
scheuchte die Versöhnler auf »Wann wird die Außenpolitik <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung sich endlich von Heuchelei befreien?« entrüstete sich die Zeitung <strong>der</strong><br />
Menschewiki. »Weshalb verlangt die Provisorische Regierung von den alliierten Regierungen<br />
nicht den offenen und entschiedenen Verzicht auf Annexionen?« Als Heuchelei<br />
betrachteten diese Menschen die offene Sprache des Räubers. Sie wären bereit gewesen,<br />
in einer pazifistischen Verschleierung des Appetits die Befreiung von Heuchelei zu<br />
erblicken. Der über die Erregung <strong>der</strong> Demokratie erschrockene Kerenski beeilte sich,<br />
mittels des Pressebüros verlauten zu lassen: das Programm Miljukows sei dessen persönliche<br />
Ansicht. Daß <strong>der</strong> Autor dieser persönlichen Ansicht Außenminister war, galt offen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 218
ar als purer Zufall.<br />
Zeretelli, <strong>der</strong> das Talent besaß, jede Frage zu einem Gemeinplatz zu machen, bestand<br />
nun auf <strong>der</strong> Notwendigkeit einer Regierungserklärung, daß <strong>der</strong> Krieg für Rußland<br />
ausschließlich ein Verteidigungskrieg sei. Der Wi<strong>der</strong>stand Miljukows und zum Teil<br />
Gutschkows wurde gebrochen, und am 27. März kam die Regierung mit folgen<strong>der</strong><br />
Deklaration nie<strong>der</strong>: »Das Ziel des freien Rußland ist nicht Herrschaft über an<strong>der</strong>e<br />
Völker, nicht Enteignung ihres Nationalbesitzes, nicht gewaltsame Eroberung fremden<br />
Territoriums«, sicher aber »restlose Einhaltung <strong>der</strong> unseren Alliierten gegenüber<br />
übernommenen Verpflichtungen«. Auf diese Weise verkündeten die Zaren und Propheten<br />
<strong>der</strong> Doppelherrschaft ihre Absicht, zusammen mit den Vatermör<strong>der</strong>n und Ehebrechern<br />
ins Himmelreich zu kommen. Diesen Herren fehlte nebetk allem an<strong>der</strong>en das Gefühl für<br />
das Lächerliche. Die Erklärung vom 27. März wurde nicht nur von <strong>der</strong> gesamten<br />
Versöhnlerpresse begrüßt, son<strong>der</strong>n auch von <strong>der</strong> 'Prawda' Kamenew-Stalins, die vier<br />
Tage vor Lenins Ankunft in einem Leitartikel schrieb: »Klar und deutlich hat die Provisorische<br />
Regierung ... vor dem ganzen Volke erklärt, daß das Ziel des freien Rußland<br />
nicht die Herrschaft über an<strong>der</strong>e Völker ist« usw. Die englische Presse legte sofort mit<br />
Befriedigung den Verzicht Rußlands auf Annexionen als Verzicht auf Konstantinopel<br />
aus, wobei sie natürlich keinesfalls daran dachte, die Enthaltungsformel auch auf sich zu<br />
beziehen. Der russische Gesandte in London schlug Alarm und verlangte von Moskau<br />
dahingehende Erläuterungen, daß das Prinzip »Frieden ohne Annexionen von Rußland<br />
nicht bedingungslos angenommen wird, son<strong>der</strong>n nur insofern es unseren Lebensinteressen<br />
nicht wi<strong>der</strong>spricht«. Aber das war ja gerade Miljukows Formel: das Versprechen,<br />
nicht zu rauben, was wir nicht brauchen können. Im Gegensatz zu London unterstützte<br />
Paris nicht nur Miljukow, sondem trieb ihn durch Paléologue an zu einer entschlosseneren<br />
Politik den Sowjets gegenüber.<br />
Der damalige Premier Ribot, außer sich über die kläglichen Litaneien Petrograds,<br />
befragte London und Rom, ob »sie es nicht für notwendig erachten, die Provisorische<br />
Regierung aufzufor<strong>der</strong>n, mit jeglicher Zweideutigkeit (équivoque) ein Ende zu machen«.<br />
London erwi<strong>der</strong>te, es sei klüger, »den nach Rußland entsandten französischen und englischen<br />
<strong>Sozialisten</strong> Zeit zu lassen, auf ihre Gesinnungsgenossen einzuwirken«.<br />
Die Entsendung <strong>der</strong> alliierten <strong>Sozialisten</strong> nach Rußland war auf Initiative des <strong>russischen</strong><br />
Hauptquartiers, das heißt <strong>der</strong> alten zaristischen Generalität, unternommen worden.<br />
»Wir rechnen auf ihn«, schrieb Ribot über Albert Thomas, »um den Beschlüssen <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung einige Festigkeit zu verleihen.« Miljukow jedoch beklagte<br />
sich, Thomas halte sich zu eng an die Sowjetführer. Ribot antwortete darauf, Thomas sei<br />
»aufrichtig bestrebt«, den Standpunkt Miljukows zu unterstützen, versprach aber, seinen<br />
Abgesandten zu einer noch aktiveren Unterstützung zu veranlassen.<br />
Die durch und durch leere Deklaration vorn 27. März beunruhigte immerhin die<br />
Alliierten, die in ihr eine Konzession an den Sowjet erblickten. Aus London drohte man,<br />
den Glauben »an die Kampfkraft Rußlands« zu verlieren. Paléologue beschwerte sich<br />
über die »Schüchternheit und Unbestimmtheit« <strong>der</strong> Deklaration. Gerade das brauchte<br />
Miljukow. In <strong>der</strong> Hoffnung auf Hilfe <strong>der</strong> Alliierten ließ sich Mitjukow in ein großes<br />
Spiel ein, das seine Geldmittel weit überstieg. Sein Leitgedanke war, den Krieg gegen die<br />
<strong>Revolution</strong> zu wenden, die nächste Aufgabe auf diesem Wege - die Demokratie zu<br />
demoralisieren. Doch begannen die Versöhnler gerade im April in Fragen <strong>der</strong> Außenpoli-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 219
tik immer nen und betriebsamer zu werden, denn man bedrängte sie unablässig von<br />
unten. Die Regierung brauchte eine Anleihe. Die Massen jedoch waren bei aller<br />
Stimmung zugunsten <strong>der</strong> Landesverteidigung nur bereit, eine Friedensanleihe, nicht aber<br />
eine Kriegsanleihe zu unterstützen. Man mußte ihnen mindestens den Schein einer<br />
Friedensperspektive zeigen.<br />
Indem er die Rettungspolitik <strong>der</strong> Gemeinplätze entwickelte, schlug Zeretelli vor, von<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu for<strong>der</strong>n, daß sie an die Alliierten eine <strong>der</strong> innerpolitischen<br />
Erklärung vom 27. März analoge Note richte. Dafür verpflichtete sich das Exekutivkomitee,<br />
im Sowjet die Abstimmung für eine "Freiheitsanleihe" vorzunehmen.<br />
Miljukow ging auf den Betrug ein: Anleihe gegen Note, - beschloß aber, den Handel<br />
doppelt auszunutzen. Unter dem Schein einer Erläuterung zu <strong>der</strong> "Erklärung" desavouierte<br />
die Note diese. Sie betonte, daß die Friedensphrasen <strong>der</strong> neuen Macht »nicht den<br />
geringsten Vorwand geben, zu glauben, daß die Rolle Rußlands im Gesamtkampfe <strong>der</strong><br />
Alliierten durch die vollzogene Umwälzung eine Schwächung erlitten hat. Ganz im<br />
Gegenteil, - das allgemeine Bestreben des Volkes, den Weltkrieg bis zum endgültigen<br />
Siege zu führen, hat sich nur verstärkt« ... Die Note sprach ferner die Überzeugung aus,<br />
daß die Sieger »das Mittel finden werden, jene Garantiert und Sanktionen zu erlangen,<br />
die notwendig sind zur Vermeidung neuer blutiger Zusammenstöße in <strong>der</strong> Zukunft«. Die<br />
Worte »Garantien« und »Sanktionen«, die auf Drängen Thomas' aufgenommen wurden,<br />
bedeuteten in <strong>der</strong> Diebessprache <strong>der</strong> Diplomatie, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> französischen, nichts<br />
an<strong>der</strong>es als Annexionen und Kontributionen. Am Tage <strong>der</strong> Maifeier übergab Miljukow<br />
seine unter dem Diktat <strong>der</strong> alliierten Diplomatie verfaßte Note telegraphisch an die<br />
Regierungen <strong>der</strong> Entente, und erst danach wurde sie dem Exekutivkomitee übermittelt<br />
und gleichzeitig den Zeitungen. Die Kontaktkommission war von <strong>der</strong> Regierung<br />
übergangen worden, und die Führer des Exekutivkomitees gerieten in die Lage einfacher<br />
Bürger. Erfuhren die Versöhnler aus <strong>der</strong> Note auch nichts, was sie nicht schon vorher<br />
von Miljukow gehört hatten, so konnten sie doch den mit Vorbedacht kindlichen Akt<br />
nicht übersehen. Die Note entwaffnete sie vor den Massen und stellte sie direkt vor die<br />
Wahl zwischen Bolschewismus und Imperialismus. Lag nicht gerade darin Miljukows<br />
Absicht? Alles spricht dafür, daß seine Absicht noch weiter ging.<br />
Schon seit März war Miljukow mit allen Mitteln bestrebt, den unglückseligen Plan <strong>der</strong><br />
Eroberung <strong>der</strong> Dardanellen durch eine russische Landung wie<strong>der</strong> aufleben zu lassen. Er<br />
führte darüber zahlreiche Verhandlungen mit General Alexejew und suchte diesen zur<br />
energischen Durchführung <strong>der</strong> Operation zu bewegen, die, seiner Meinung nach, die<br />
gegen Annexionen protestierende vor eine vollendete Tatsache stellen würde. Die Note<br />
Miljukow's vom 18. April war gleichsam eine Parallellandung auf dem schlecht verteidigten<br />
Ufer <strong>der</strong> Demokratie. Zwei Aktionen - die militärische und die politische - ergänzten<br />
sich und rechtfertigten einan<strong>der</strong> für den Fall eines Sieges. Mit Siegern wird im<br />
allgemeinen nicht gerechtet. Doch Miljukow war es nicht beschieden, Sieger zu bleiben.<br />
Zur Landung waren 200.000 bis 300.000 Soldaten nötig. Die Sache scheiterte indes an<br />
einer Kleinigkeit: <strong>der</strong> Weigerung <strong>der</strong> Soldaten. Die <strong>Revolution</strong> zu verteidigen waren sie<br />
bereit, nicht aber anzugreifen. Das Dardanellenattentat Miljukows erlitt Fiasko. Und dies<br />
untergrub alle seine weiteren Pläne. Man muß zugeben, sie waren nicht schlecht berechnet<br />
... unter <strong>der</strong> Voraussetzung des Sieges.<br />
Am 17. April fand in Petrograd eine grauenerregende patriotische Demonstration <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 220
Kriegsinvaliden statt: eine riesige Zahl Verwundeter aus den Lazaretten <strong>der</strong> Hauptstadt,<br />
beinlose, armlose, bandagierte Soldaten, bewegte sich zum Taurischen Palais. Die nicht<br />
gehen konnten, wurden in Lastautos gefahren. Auf den Fahnen stand: "Krieg bis zum<br />
Ende." Das war eine Verzweiflungsdemonstration <strong>der</strong> menschlichen Überreste des<br />
imperialistischen Krieges, die nicht wollten, daß die <strong>Revolution</strong> die von ihnen gebrachten<br />
Opfer für sinnlos erkläre. Doch hinter den Demonstranten stand die Kadettenpartei,<br />
genauer gesagt Miljukow, <strong>der</strong> für morgen seinen großen Schlag vorbereitete.<br />
Am 19., nachts, beriet das Exekutivkomitee in einer außerordentlichen Sitzung die am<br />
Vorabend den alliierten Regierungen übermittelte Note. »Nach <strong>der</strong> ersten Lesung«,<br />
berichtet Stankewitsch, »wurde von allen einmütig und ohne Diskussion anerkannt, die<br />
Note sei etwas ganz an<strong>der</strong>es, als das Exekutivkomitee erwartet hatte.« Für die Note aber<br />
war die Regierung in ihrer Gesamtheit, einschließlich Kerenskis, verantwortlich. Man<br />
mußte folglich zuallererst die Regierung retten. Zeretelli begann, die unchiffrierte Note<br />
zu "dechiffrieren" und immer mehr und mehr Vorzüge an ihr zu entdecken. Skobeljew<br />
wies tiefsinnig nach, man könne »völlige Übereinstimmung« zwischen den Bestrebungen<br />
<strong>der</strong> Demokratie und <strong>der</strong> Regierung überhaupt nicht verlangen. Die Weisen quälten sich<br />
bis zum Morgengrauen, fanden aber keine Lösung. Gegen Morgen ging man<br />
auseinan<strong>der</strong>, um sich nach einigen Stunden wie<strong>der</strong> zu versammeln. Man rechnete offenbar<br />
mit <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Zeit, jegliche Wunden zu heilen.<br />
Am Morgen erschien die Note in allen Zeitungen. Die 'Rjetsch' kommentierte sie im<br />
Geiste reiflich erwogener Provokation. Die sozialistische Presse ,äußerte sich höchst<br />
gereizt. Die menschewistische 'Rabotschaja Gaseta' ('Arbeiterzeitung'), die gemeinsam<br />
mit Zeretelli und Skobeljew noch nicht Zeit gefunden hatte, sich von dem Dunst <strong>der</strong><br />
nächtlichen Empörung zu erholen, schrieb, die Provisorische Regierung veröffentliche<br />
einen »Akt, <strong>der</strong> ein Hohn auf die Bestrebungen <strong>der</strong> Demokratie ist«, und for<strong>der</strong>te vom<br />
Sowjet entschlossene Maßnahmen, »um seine schrecklichen Folgen abzuwenden«. In<br />
diesen Sätzen war <strong>der</strong> wachsende Druck <strong>der</strong> Bolschewiki deutlich fühlbar.<br />
Das Exekutivkomitee nahm seine Sitzung wie<strong>der</strong> auf, jedoch nur, um sich wie<strong>der</strong> von<br />
seiner Unfähigkeit, irgendeinen Entschluß zu fassen, zu überzeugen. Es wurde beschlossen,<br />
eine außerordentliche Plenarsitzung des Sowjets »zur Information« einzuberufen, in<br />
Wirklichkeit aber, um den Grad <strong>der</strong> Unzufriedenheit in den unteren Schichten herauszufühlen<br />
und Zeit zu gewinnen für die eigenen Schwankungen. In <strong>der</strong> Zwischenzeit plante<br />
man allerhand Kontaktsitzungen, die die Frage zunichte machen sollten.<br />
Doch in dieses rituale Getriebe <strong>der</strong> Doppelherrschaft mischte sich unerwartet eine<br />
dritte Macht ein: die Massen gingen mit Waffen in den Händen auf die Straße. Zwischen<br />
den Bajonetten <strong>der</strong> Soldaten tauchten Plakate auf: »Nie<strong>der</strong> mit Miljukow!« Auf an<strong>der</strong>en<br />
Plakaten prangte Gutschkow. Es war schwer, in den entrüsteten Kolonnen die Demonstranten<br />
vom 1. Mai wie<strong>der</strong>zuerkennen.<br />
Die Geschichtsschreiber nennen diese Bewegung »elementar« in dem bedingten Sinne,<br />
daß keine Partei die Initiative <strong>der</strong> Aktion ergriffen hatte. Der unmittelbare Aufruf, auf die<br />
Straße zu gehen, stammte von einem gewissen Linde, <strong>der</strong> damit seinen Namen in die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eingetragen hat. »Der Gelehrte, Mathematiker und<br />
Philosoph« Linde stand außerhalb je<strong>der</strong> Partei, war mit ganzer Seele auf seiten <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> und wünschte heiß, daß sie erfülle, was sie verhieß. Miljukows Note und <strong>der</strong><br />
Artikel <strong>der</strong> 'Prawda' hatten ihn empört. »Ohne sich mit jemand beraten zu haben«,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 221
erzählt sein Biograph, »schritt er sofort zu Taten ... begab sieh zum Finnländischen<br />
Regiment, rief das Komitee zusammen und schlug vor, mit dem ganzen Regiment<br />
sogleich zum Mariinski-Palais zu ziehen ... Der Vorschlag Lindes fand Zustimmung, und<br />
bereits um 3 Uhr nachmittags bewegte sich eine imposante Demonstration <strong>der</strong> Finnlän<strong>der</strong><br />
mit herausfor<strong>der</strong>nden Plakaten durch die Straßen Petrograds.« Dem Finnländischen<br />
folgten die Soldaten des 180. Reserveregiments, <strong>der</strong> Moskauer, Pawlowsker, Kexholmer<br />
Regimenter, die Matrosen <strong>der</strong> 2. Baltischen Flottenequipage, insgesamt 25.000-30.000<br />
Mann, alle in Waffen. In den Arbeitervierteln entstand Bewegung, man stellte die Arbeit<br />
ein und ging betriebsweise hinter den Regimentern her auf die Straßen.<br />
»Die Mehrzahl <strong>der</strong> Soldaten wußte nicht, weshalb sie gekommen war«, versicherte<br />
Miljukow, als habe er Zeit gehabt, sie zu befragen. »Außer den Truppen beteiligten sich<br />
an <strong>der</strong> Demonstradon halbwüchsige Arbeiter, welche laut [!] erklärten, man habe jedem<br />
von ihnen 10 bis 15 Rubel dafür bezahlt.« Die Quelle <strong>der</strong> Bezahlung ist klar: »Die Aufgabe,<br />
die beiden Minister [Miljukow und Gutschkow] zu entfernen, war direkt von<br />
Deutschland gestellt worden.« Mijukow gab diese tiefsinnige Erklärung nicht in <strong>der</strong><br />
Hitze des Aprilkampfes ab, son<strong>der</strong>n drei Jahre nach den Oktoberereignissen, die zur<br />
Genüge gezeigt haben, daß für niemand die Notwendigkeit bestand, den Haß <strong>der</strong> Volksmassen<br />
gegen Miljukow mit hohem Tageslohn zu bezahlen.<br />
Die überraschende Schärfe <strong>der</strong> Aprildemonstration läßt sich mit <strong>der</strong> Unmittelbarkeit<br />
<strong>der</strong> Massenreaktion auf den Betrug von oben erklären. »Solange die Regierung den<br />
Frieden nicht erlangt hat, muß man sich verteidigen.« Das wurde ohne Enthusiasmus,<br />
aber mit Überzeugung gesagt. Man nahm an, oben werde alles getan, um den Frieden<br />
herbeizuführen. Allerdings wurde seitens <strong>der</strong> Bolschewiki behauptet, die Regierung<br />
wolle die Fortsetzung des Krieges zu räuberischen Zwecken. Ist das aber denkbar? Und<br />
Kerenski? »Wir kennen die Sowjetführer vom Februar her, sie sind als erste zu uns in die<br />
Kasernen gekommen, sie sind für Frieden. Lenin ist aus Berlin eingetroffen, Zeretelli<br />
aber war in <strong>der</strong> Katorga. Man muß sich gedulden ...« Gleichzeitig nahmen die fortgeschrittenen<br />
Betriebe und Regimenter immer energischer die bolschewistischen Parolen<br />
<strong>der</strong> Friedenspolitik auf: Veröffentlichung <strong>der</strong> Geheimverträge und Bruch mit den Eroberungsplänen<br />
<strong>der</strong> Entente, offenes Angebot eines sofortigen Friedens an alle kriegführenden<br />
Län<strong>der</strong>. In diese verwickelten und schwankenden Stimmungen fiel die Note des 18.<br />
April. Wie? Man ist also oben nicht für Frieden, son<strong>der</strong>n für die alten Kriegsziele? Also<br />
wir warten und leiden vergeblich? Nie<strong>der</strong>! ... Aber mit wem nie<strong>der</strong>? Haben tatsächlich<br />
die Bolschewiki recht? Unmöglich. Aber was ist dann mit <strong>der</strong> Note? Verkauft wirklich<br />
jemand unsere Haut an die Verbündeten des Zaren? Aus <strong>der</strong> einfachen Gegenüberstellung<br />
<strong>der</strong> kadettischen und versöhnlerischen Presse ergab sich, daß Miljukow das allgemeine<br />
Vertrauen täuschte und gemeinsam mit Lloyd George und Ribot Eroberungspolitik<br />
treiben wollte. Auch Kerenski hatte ja erklärt, das Attentat auf Konstantinopel sei Miljukows<br />
»persönliche Ansicht«. So entstand die Bewegung.<br />
Doch war sie nicht einheitlich. Einzelne Hitzköpfe aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre<br />
überschätzten Umfang und politische Reife <strong>der</strong> Bewegung um so mehr, je greller und<br />
überraschen<strong>der</strong> sie durchbrach. Bei den Truppenteilen und in den Betrieben entwickelten<br />
die Bolschewiki große Energie. Die For<strong>der</strong>ung »Hinweg mit Miljukow«, die gewissermaßen<br />
das Minimalprogramm <strong>der</strong> Bewegung war, ergänzten sie durch Plakate gegen die<br />
Provisorische Regierung überhaupt, wobei verschiedene Elemente es verschieden<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 222
verstanden: die einen als eine Propagandalosung, die an<strong>der</strong>en als Aufgabe des Tages. Die<br />
von den bewaffneten Soldaten und Matrosen auf die Straßen getragene Losung »Nie<strong>der</strong><br />
mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung« mußte unvermeidlich in die Demonstration eine<br />
Strömung des bewaffneten Aufstandes hineinbringen. Beträchtliche Arbeiter- und Soldatengruppen<br />
waren nicht abgeneigt, die Provisorische Regierung sofort hinwegzufegen.<br />
Von ihnen stammten die Versuche, in das Mariinski-Palais einzudringen, seine Ausgänge<br />
zu besetzen und die Minister zu verhaften. Zu <strong>der</strong>en Rettung wurde Skobeljew abkommandiert,<br />
<strong>der</strong> seine Mission um so erfolgreicher erfüllen konnte, als das Mariinski-Palais<br />
leer war.<br />
Infolge Gutschkows Erkrankung tagte die Regierung dieses Mal in seiner Privatwohnung.<br />
Doch nicht dieser Zufall hatte die Minister vor Verhaftung bewahrt; sie waren von<br />
ihr gar nicht ernstlich bedroht gewesen. Die Armee von 25.000 bis 30.000 Soldaten, die<br />
auf die Straßen gegangen war, um gegen die Kriegsverlängerer zu kämpfen, hätte<br />
vollständig genügt, auch eine soli<strong>der</strong>e Regierung zu stürzen, als die, an <strong>der</strong>en Spitze<br />
Fürst Lwow stand. Die Demonstranten aber hatten sich dieses Ziel nicht gestellt. Sie<br />
beabsichtigten eigentlich nur, mit <strong>der</strong> Faust durch das Fenster zu drohen, damit die hohen<br />
Herren aufhören, die Zähne gegen Konstantinopel zu fletschen, und ernstlich an die<br />
Friedensfrage herangehen. Damit glaubten die Soldaten, Kerenski und Zeretelli gegen<br />
Miljukow zu unterstützen.<br />
In <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Regierung erschien General Kornilow, herichtete über die bewaffneten<br />
Demonstrationen und erklärte als Kommandieren<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks,<br />
über hinreichend Kräfte zu verfügen, um mit bewaffneter Hand die Meuterei nie<strong>der</strong>zuwerfen:<br />
es hänge nur von dem Befehl ab. Koltschak, <strong>der</strong> zufällig in dieser Regierungssitzung<br />
anwesend war, bekundete später in dem Prozeß, <strong>der</strong> seiner Erschießung voranging,<br />
Fürst Lwow und Kerenski seien gegen den Versuch eines militärischen Strafgerichtes<br />
über die Demonstranten gewesen. Miljukow sprach es nicht direkt aus, zog aber seine<br />
Schlußfolgerung in dem Sinne, die Herren Minister mochten über die Lage urteilen wie<br />
immer, das würde ihre Übersiedlung ins Gefängnis nicht verhin<strong>der</strong>n. Es konnte kein<br />
Zweifel darüber bestehen, daß Kornilow in Übereinstimmung mit dem Kadettenzentrum<br />
handelte.<br />
Den versöhnlerischen Führern gelang es mühelos, die demonstrierenden Soldaten zur<br />
Räumung des Platzes vor dem Mariinski-Palais zu bewegen und sie sogar in die Kasernen<br />
zurückzuleiten. Die in <strong>der</strong> Stadt entstandene Erregung ging jedoch nicht in ihre Ufer<br />
zurück. Es versammelten sich Massen, Meetings wurden abgehalten, an den Straßenkreuzungen<br />
gab es Diskussionen, in den Trams teilte man sich in Anhänger und Gegner<br />
Miljukows. Auf dem Newskij-Prospekt und in den anliegenden Straßen agitierten<br />
bürgerliche Redner gegen Lenin, <strong>der</strong> von Deutschland geschickt worden sei, den großen<br />
Patrioten Miljukow zu stürzen. In den Randbezirken und den Arbeitervierteln bemühten<br />
sich die Bolschewiki, die Empörung gegen die Note und ihren Autor auf die gesamte<br />
Regierung auszudehnen.<br />
Um 7 Uhr abends versammelte sich das Plenum des Sowjets. Die Führer wußten nicht,<br />
was sie dem vor leidenschaftlicher Spannung bebenden Auditorium sagen sollten.<br />
Tschcheidse berichtete weitschweifend, es stehe nach <strong>der</strong> Sitzung eine Zusammenkunft<br />
mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bevor. Tschernow schreckte mit dem nahenden<br />
Bürgerkrieg. Feodorow, ein Metallarbeiter, das Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 223
Bolschewiki, erwi<strong>der</strong>te, <strong>der</strong> Bürgerkrieg sei bereits da, es bleibe den Sowjets nur übrig,<br />
sich auf ihn zu stützen und die Macht zu übernehmen. »Das waren neue und damals sehr<br />
schreckliche Worte«, schreibt Suchanow. »Sie trafen den Kern <strong>der</strong> Stimmungen und<br />
fanden diesmal einen solchen Wi<strong>der</strong>hall, wie ihn die Bolschewiki we<strong>der</strong> früher, noch<br />
lange Zeit nachher zu verzeichnen hatten.«<br />
Zum Höhepunkt <strong>der</strong> Sitzung wurde, unerwartet für alle, die Rede des Vertrauten<br />
Kerenskis, des liberalen <strong>Sozialisten</strong> Stankewitsch: »Weshalb, Genossen, sollen wir<br />
"aufmarschieren"?« fragte er. »Gegen wen sollen wir Gewalt anwenden? Die ganze<br />
Macht, das seid ja ihr und die Massen, die hinter euch stehen ... Schaut hin, es fehlen<br />
jetzt noch fünf Minuten bis 7 Uhr [Stankewitsch streckt die Hand nach <strong>der</strong> Wanduhr aus,<br />
<strong>der</strong> ganze Saal blickt in die gleiche Richtung). Verfügt, daß die Provisorische Regierung<br />
verschwinde, daß sie demissioniere. Wir geben es telephonisch weiter, und in fünf<br />
Minuten wird sie ihre Vollmachten nie<strong>der</strong>legen. Wozu da Gewalt, Aktionen,<br />
Bürgerkrieg?« Im Saal stürmischer Applaus, begeisterte Zwischenrufe. Der Redner<br />
wollte den Sowjet durch die extremen Folgerungen aus <strong>der</strong> entstandenen Lage schrecken,<br />
erschrak aber selbst vor dem Effekt seiner Rede. Die unverhoffte Wahrheit <strong>der</strong> Worte<br />
über die Macht <strong>der</strong> Sowjets hob die Versammlung hoch über das klägliche Getriebe <strong>der</strong><br />
Führer, die am meisten darum besorgt waren, den Sowjet zu hin<strong>der</strong>n, irgendeinen<br />
Beschluß zu fassen. »Wer wird die Regierung ersetzen?« erwi<strong>der</strong>te auf den Applaus<br />
einer <strong>der</strong> Redner. »Wir? Aber uns zittern die Hände ...« Das war eine unvergleichliche<br />
Charakteristik <strong>der</strong> Versöhnler, <strong>der</strong> hochtrabenden Führer mit den zitternden Händen.<br />
Der Vorsitzende des Ministerrats, Ministerpräsident Lwow, gab, gleichsam um Stankewitseh<br />
von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite zu ergänzen, am nächsten Tage folgende Erklärung ab:<br />
»Die Provisorische Regierung fand bis jetzt unablässig Unterstützung seitens des führenden<br />
Organs des Sowjets. In den letzten zwei Wochen ... ist die Regierung unter Verdacht<br />
gestellt. Unter solchen Bedingungen ... ist es für die Provisorische Regierung das beste,<br />
zurückzutreten.« Wie<strong>der</strong> sehen wir, welches die reale Verfassung des Februar-Rußland<br />
gewesen ist!<br />
Im Mariinski-Palais fand die Zusammenkunft des Exekutivkomitees mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung statt. In seiner Einführungsrede beklagte sich Fürst Lwow über den<br />
Feldzug, den die sozialistischen Kreise gegen die Regierung begonnen hätten, und sprach<br />
halb beleidigt, halb drohend von Demission. Der Reihe nach schil<strong>der</strong>ten die Minister die<br />
Schwierigkeiten, zu <strong>der</strong>en Anhäufung sie aus allen Kräften beigetragen hatten. Dem<br />
Kontaktredeschwall den Rücken kehrend, sprach Miljukow vom Balkon aus zu kadettischen<br />
Demonstrationen: »Als ich die Plakate mit den Aufschriften "Nie<strong>der</strong> mit Miljukow"<br />
sah ... fürchtete ich nicht für Miljukow. Ich fürchtete für Rußland.« So gibt <strong>der</strong> Historiker<br />
Miljukow die schlichten Worte wie<strong>der</strong>, die <strong>der</strong> Minister Miljukow vor <strong>der</strong> auf dem Platze<br />
versammelten Menge sprach. Zeretelli for<strong>der</strong>te von <strong>der</strong> Regierung eine neue Note.<br />
Tschernow fand einen genialen Ausweg, indem er Miljukow vorschlug, in das Ministerium<br />
für Volksbildung überzugehen. Als Objekt <strong>der</strong> Geographe war Konstantinopel<br />
jedenfalls ungefährlicher denn als Objekt <strong>der</strong> Diplomatie. Miljukow weigerte sich aber<br />
entschieden, sowohl zur Wissenschaft zurückzukehren, wie eine neue Note zu schreiben.<br />
Die Führer des Sowjets ließen sich jedoch nicht lange bitten und gaben sich mit einer<br />
"Erläuterung" <strong>der</strong> alten Note zufrieden. Es blieb nur noch übrig, einige Phrasen zu<br />
finden, <strong>der</strong>en Verlogenheit hinreichend demokratisch verbrämt war, um die Lage - und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 224
damit gleichzeitig das Portefeuille Miljukows - als gerettet zu betrachten.<br />
Doch <strong>der</strong> unruhige Dritte wollte sich nicht beruhigen. Der Tag des 21. April brachte<br />
eine neue Erregungswelle, eine mächtigere als die des vorigen Tages. Jetzt rief bereits<br />
das Petrogra<strong>der</strong> Komitee <strong>der</strong> Bolschewiki zur Demonstration auf Trotz <strong>der</strong> Gegenagitation<br />
<strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre setzten sich ungeheuere Arbeitermassen<br />
von <strong>der</strong> Wyborger Seite und dann auch von an<strong>der</strong>en Bezirken nach dem Zentrum in<br />
Bewegung. Das Exekutivkomitee schickte autoritative Ruhestifter, mit Tschcheidse an<br />
<strong>der</strong> Spitze, den Demonstranten entgegen. Doch die Arbeiter wollten entschieden ihr Wort<br />
sprechen, und sie hatten was zu sagen. Ein bekannter liberaler Journalist beschrieb in <strong>der</strong><br />
'Rjetsch' die Arbeiterdemonstration auf dem Newskij: »Voran etwa 100 Bewaffnete;<br />
hinter ihnen geordnete Reihen unbewaffneter Männer und Frauen - Tausende von<br />
Menschen. Zu beiden Seiten lebende Ketten. Gesang. Ihre Gesichter verblüfften mich.<br />
Diese Tausende hatten ein Gesicht, das besessene, mönchische Gesicht <strong>der</strong> ersten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te des Christentums, unversöhnlich, erbarmungslos bereit zu Mord, Inquisition<br />
und Tod.« Der liberale Journalist hatte <strong>der</strong> Arbeiterrevolution in die Augen geschaut<br />
und einen Moment <strong>der</strong>en konzentrierte Entschlossenheit gespürt. Wie unähnlich sind<br />
diese Arbeiter den Miljukowschen - für 15 Rubel pro Tag von Ludendorff gekauften<br />
Halbwüchsigen!<br />
Wie am Vorabend gingen auch diesmal die Demonstranten nicht darauf aus, die Regierung<br />
zu stürzen, obwohl die Mehrzahl von ihnen sicherlich über diese Aufgabe schon<br />
ernstlich nachdachte und ein Teil bereit war, die Demonstration schon heute über die<br />
Stimmung <strong>der</strong> Mehrzahl hinaus mitzureißen. Tschcheidse ermahnte die Demonstranten,<br />
in ihre Stadtviertel umzukehren. Die Anführer aber antworteten barsch, die Arbeiter<br />
wüßten selbst, was sie zu tun hätten. Das war ein neuer Ton, und Tschcheidse wird sich<br />
in den nächsten Wochen an ihn gewöhnen müssen.<br />
Während die Versöhnler beschwichtigten und löschten, provozierten und schürten die<br />
Kadetten. Obwohl Kornilow gestern die Sanktion zur Waffenanwendung nicht erhalten<br />
hatte, gab er seinen Plan nicht nur nicht auf, son<strong>der</strong>n traf im Gegenteil gerade heute seit<br />
dem frühen Morgen Maßnahmen, um den Demonstranten Kavallerie und Artillerie entgegenzustellen.<br />
Im festen Vertrauen auf die Bravour des Generals hatten die Kadetten<br />
durch ein Flugblatt ihre Anhänger auf die Straße gerufen, offen bestrebt, die Sache zum<br />
entscheidenden Konflikt zu treiben. Wenn auch ohne erfolgreiche Landung an <strong>der</strong><br />
Dardanellenküste, setzte Miljukow mit Kornilow als Avantgarde und <strong>der</strong> Entente als<br />
schwere Reserve seine Offensive fort. Die hinter dem Rücken des Sowjets abgesandte<br />
Note und <strong>der</strong> Leitartikel <strong>der</strong> 'Rjetsch' sollten die Rolle <strong>der</strong> Emser Depesche des liberalen<br />
Kanzlers <strong>der</strong> Februarrevolution spielen. »Alle, die für Rußland und dessen Freiheit sind,<br />
müssen sich um die Provisorische Regierung zusammenschließen und sie unterstützen«,<br />
lautete <strong>der</strong> Aufruf des Zentralkomitees <strong>der</strong> Kadetten, <strong>der</strong> alle guten Bürger zum Kampf<br />
gegen die Anhänger des sofortigen Friedens auf die Straße rief.<br />
Der Newskij-Prospekt, die Haupta<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bourgeoisie, verwandelte sich in ein<br />
kompaktes kadettisches Meeting. Eine große Demonstration mit den Mitglie<strong>der</strong>n des<br />
kadettischen Zentralkomitees an <strong>der</strong> Spitze bewegte sich zum Mariinski-Palais. Man sah<br />
überall neue, soeben aus <strong>der</strong> Werkstatt gekommene Plakate: »Volles Vertrauen zur<br />
Provisorischen Regierung«, »Hoch Miljukow!« Die Minister sahen wie Gebunstagskin<strong>der</strong><br />
aus: es hatte sich herausgestellt, daß auch sie ihr "Volk" hatten, was um so mehr<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 225
auffiel, als die Abgesandten des Sowjets aus allen Kräften bemüht waren, die revolutionären<br />
Meetings aufzulösen, die Arbeiter- und Soldatendemonstrationen aus dem Zentrum<br />
in die Randbezirke abzuleiten und Kasernen und Fabriken vorn Ausmarsch zurückzuhalten.<br />
Unter <strong>der</strong> Flagge <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Regierung fand die erste offene und breite<br />
Mobilisierung <strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte statt. Im Zentrum <strong>der</strong> Stadt tauchten<br />
Lastautos mit bewaffneten Offizieren, Junkern, Studenten auf. Es marschierten die Ritter<br />
des Georgskreuzes. Die goldene Jugend organisierte auf dem Newskij ein Tribunal, das<br />
gleich an Ort und Stelle die Leninisten und »deutschen Spione« überführte. Es gab<br />
bereits Zusammenstöße und Opfer. Wie man berichtete, kam es zum ersten blutigen<br />
Zusammenprall, als Offiziere versuchten, Arbeitern ein Banner mit <strong>der</strong> Parole gegen die<br />
Provisorische Regierung zu entreißen. Die Zusammenstöße wurden immer erbitterter, es<br />
entstand eine Schießerei, die fast den ganzen Nachmittag dauerte. Niemand wußte genau,<br />
wer schoß und weshalb geschossen wurde. Aber es gab bereits Opfer dieser planlosen,<br />
teils böswilligen, teils panischen Schießerei. Die Temperatur erhitzte sich.<br />
Nein, dieser Tag ähnelte keinesfalls einer Manifestation nationaler Einheit. Zwei<br />
Welten standen einan<strong>der</strong> gegenüber. Die patriotischen Kolonnen, von <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />
gegen die Arbeiter und Soldaten auf die Straße gerufen, entstammten ausschließlich<br />
bürgerlichen Bevölkerungsschichten, dem Offiziersstande, <strong>der</strong> Beamtenschaft und <strong>der</strong><br />
Intelligenz. Zwei Menschenströme, für Konstantinopel und für den Frieden, kamen aus<br />
verschiedenen Stadtteilen hervor, verschieden ihrer sozialen Zusammensetzung nach,<br />
schon äußerlich einan<strong>der</strong> in nichts ähnlich, mit feindlichen Aufschriften auf den Plakaten<br />
prallten sie aneinan<strong>der</strong> und setzten Fäuste, Stöcke, sogar Feuerwaffen in Bewegung.<br />
Das Exekutivkomitee erhielt die sensationelle Nachricht, Kornilow lasse auf dem<br />
Schloßplatz Kanonen auffahren. Aus eigener Initiative des Kreiskommandierenden?<br />
Nein, <strong>der</strong> Charakter und die weitere Laufbahn Kornilows bezeugen, daß den wackeren<br />
General stets irgendwer an <strong>der</strong> Nase herumführte - eine Funktion, die diesmal die Kadettenführer<br />
ausübten. Nur im Hinblick auf die Einmischung Kornilows und um diese<br />
Einmischung notwendig zu machen, hatten sie auch ihre Massen auf die Straße gerufen.<br />
Ein junger Historiker hebt richtig hervor, daß Kornilows Versuch, die Militärschulen auf<br />
dem Schloßplatze zusammenzuziehen, nicht mit <strong>der</strong> wirklichen o<strong>der</strong> scheinbaren<br />
Notwendigkeit zusammenfiel, das Mariinski-Palais gegen eine feindliche Menge zu<br />
verteidigen, son<strong>der</strong>n mit dem Moment des höchsten Aufschwunges <strong>der</strong> kadettischen<br />
Manifestation.<br />
Der Plan Miljukow-Kornilow scheiterte jedoch, und zwar überaus schmählich. So<br />
einfältig die Führer des Exekutivkomitees auch waren, so konnte ihnen doch nicht<br />
verborgen bleiben, daß es um ihre Köpfe ging. Schon vor dem Eintreffen <strong>der</strong> Nachricht<br />
von den blutigen Zusammenstößen auf dem Newskij hatte das Exekutivkomitee an alle<br />
Truppenteile Petrograds und Umgebung telegraphischen Befehl gegeben, ohne Verfügung<br />
des Sowjets keine Truppen auf die Straße zu schicken. Jetzt, nachdem die Absichten<br />
Kornilows zutage getreten waren, legte das Exekutivkomitee, entgegen all seinen<br />
feindlichen Deklarationen, beide Hände an das Steuer, indem es nicht nur vom Kommandierenden<br />
sofortige Abberufung <strong>der</strong> Truppen for<strong>der</strong>te, son<strong>der</strong>n außerdem Skobeljew und<br />
Filippowski beauftragte, die ausmarschierten Truppen im Namen des Sowjets in die<br />
Kasernen zurückzuführen. »Geht in diesen unruhigen Tagen, ohne Auffor<strong>der</strong>ung des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 226
Exekutivkomitees, nicht mit Waffen in <strong>der</strong> Hand auf die Straße. Nur das Exekutivkomitee<br />
hat das Recht, über euch zu verfügen.« Von nun an muß je<strong>der</strong> Befehl über Truppenentsendungen<br />
außer <strong>der</strong> üblichen Or<strong>der</strong> auf einem offiziellen Dokument des Sowjets erteilt<br />
und mit <strong>der</strong> Unterschrift mindestens zweier dazu Bevollmächtigter bekräftigt sein. Es<br />
sollte scheinen, daß <strong>der</strong> Sowjet damit Kornilows Vorgehen unzweideutig als Versuch <strong>der</strong><br />
Konterrevolution, den Bürgerkrieg zu entfesseln, erläutert hatte. Aber obgleich das<br />
Exekutivkomitee durch seinen Befehl das Kreiskommando lahmlegte, dachte es dennoch<br />
nicht daran, Kornilow selbst abzusetzen: Durfte man die Vorrechte <strong>der</strong> Macht antasten?<br />
»Es zitterten die Hände.« Das junge Regime war von Fiktionen umgeben, wie ein<br />
Kranker von Kissen und Kompressen. Vom Standpunkte des Kräfteverhältnisses ist<br />
jedoch die Tatsache am lehr-reichsten, daß, noch bevor sie Tschcheidses Befehl<br />
erhielten, nicht nur die Truppenteile, son<strong>der</strong>n auch die Offiziersschulen sich geweigert<br />
hatten, ohne Sanktion des Sowjets auszurücken. Die hintereinan<strong>der</strong> hagelnden, von den<br />
Kadetten nicht vorausgesehenen Unannehmlichkeiten waren die unvermeidliche Folge<br />
davon, daß die russische Bourgeoisie zur Zeit <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> eine antinationale<br />
Klasse war, - dies ließ sich für kurze Zeit durch die Doppelherrschaft verschleiern,<br />
än<strong>der</strong>n aber konnte man es nicht.<br />
Die Aprilkrise sollte anscheinend eine unentschiedene Partie werden. Dem Exekutivkomitee<br />
gelang es, die Massen an <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> Doppelherrschaft festzuhalten. Ihrerseits<br />
erläuterte die erkenntliche Regierung, unter "Garantien" und "Sanktionen" seien<br />
internationale Tribunale, Einschränkung <strong>der</strong> Rüstungen und an<strong>der</strong>e herrliche Dinge zu<br />
verstehen. Das Exekutivkomitee benutzte schleunigst diese terminologischen Konzessionen,<br />
um mit 34 gegen 19 Stimmen die Frage als erledigt zu erklären. Zur Beschwichtigung<br />
seiner aufgescheuchten Reihen wurden von <strong>der</strong> Mehrheit noch diese<br />
Bestimmungen angenommen: die Kontrolle über die Tätigkeit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
sei zu verstärken; ohne vorherige Verständigung des Exekutivkomitees dürfte kein<br />
wichtiger Akt erlassen werden; die Zusammensetzung <strong>der</strong> diplomatischen Vertretung sei<br />
radikal zu än<strong>der</strong>n. Die faktische Doppelherrschaft wurde in die juristische Sprache <strong>der</strong><br />
Konstitution übersetzt. Die Natur <strong>der</strong> Dinge blieb jedoch unberührt. Dem linken Flügel<br />
gelang es nicht einmal, von <strong>der</strong> Versöhnler-Mehrheit die Verabschiedung Miljukows<br />
durchzusetzen. Alles sollte beim alten bleiben. Über die Provisorische Regierung erhob<br />
sich die weit wirksamere Kontrolle <strong>der</strong> Entente, die anzutasten sich das Exekutivkomitee<br />
nicht einmal einfallen ließ.<br />
Am Abend des 21. zog <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet das Fazit. Zeretelli berichtete von dem<br />
neuen Sieg <strong>der</strong> weisen Führer, <strong>der</strong> allen falschen Deutungen <strong>der</strong> Note vom 27. März ein<br />
Ende bereitet habe. Kamenew beantragte im Namen <strong>der</strong> Bolschewiki die Bildung einer<br />
reinen Sowjet-Regierung. Kolontay, eine populäre <strong>Revolution</strong>ärin, die während des<br />
Krieges von den Menschewiki zu den Bolschewiki übergegangen war, schlug vor, in den<br />
Bezirken und Vororten Petrograds eine Volksabstimmung über die Regierungsfrage<br />
vorzunehmen. Diese Vorschläge gingen jedoch an dem Bewußtsein des Sowjets fast<br />
unmerklich vorüber: die Frage schien beigelegt. Mit großer Mehrheit, gegen 13 Stimmen,<br />
fand die tröstliche Resolution des Exekutivkomitees Annahme. Allerdings war die<br />
Mehrzahl <strong>der</strong> bolschewistischen Deputierten noch in den Betrieben, auf den Straßen, bei<br />
Demonstrationen. Immerhin bleibt unzweifelhaft, daß in <strong>der</strong> ausschlaggebenden Masse<br />
des Sowjets noch kein Umschwung zum Bolschewismus eingetreten war.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 227
Der Sowjet verfügte, in den nächsten zwei Tagen sich jeglicher Straßendemonstrationen<br />
zu enthalten. Der Beschluß wurde einstimmig angenommen. Es konnte bei keinem<br />
auch nur <strong>der</strong> Schatten eines Zweifels entstehen, daß sich alle dem Beschluß unterwerfen<br />
würden. Und tatsächlich, Arbeiter, Soldaten, bürgerliche Jugend, <strong>der</strong> Wyborger Bezirk<br />
und <strong>der</strong> Newskij-Prospekt - niemand wagte sich <strong>der</strong> Weisung des Sowjets zu<br />
wi<strong>der</strong>setzen. Die Beruhigung trat ohne irgendwelche Zwangsmaßnahmen ein. Es genügte<br />
dem Sowjet, sich als Herr <strong>der</strong> Lage zu fühlen, um es in <strong>der</strong> Tat zu sein.<br />
In die Redaktionen <strong>der</strong> linken Zeitungen strömten inzwischen zu Dutzenden in Betrieben<br />
und Regimentern angenommene Resolutionen mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> sofortigen<br />
Verabschiedung Miljukows, mitunter auch <strong>der</strong> gesamten Provisorischen Regierung.<br />
Nicht nur Petrograd war in Wallung gekommen. In Moskau verließen Arbeiter die<br />
Werkbank, Soldaten die Kasernen und erfüllten die Straßen mit stürmischen Protesten.<br />
Das Exekutivkomitee erhielt in den folgenden Tagen Dutzende von Telegrammen von<br />
örtlichen Sowjets mit Protesten gegen die Politik Miljukows und <strong>der</strong> Versicherung restloser<br />
Unterstützung des Sowjets. Ähnliche Erklärungen trafen von <strong>der</strong> Front ein. Dennoch<br />
sollte alles beim alten bleiben.<br />
»Während des 21. April«, behauptete Miljukow später, »überwog auf den Straßen eine<br />
<strong>der</strong> Regierung wohlwollende Stimmung.« Er meinte offenbar die Straßen, die er von<br />
seinem Balkon aus überblicken konnte, nachdem die Mehrzahl <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
in ihre Quartiere zurückgekehrt war. ln Wirklichkeit war die Regierung vollkommen<br />
entblößt. Es stand keinerlei ernstliche Macht hinter ihr. Wir haben es schon von Stankewitsch<br />
und dem Fürsten Lwow selbst vernommen. Was aber bedeuteten Kornilows<br />
Versicherungen, er besäße Kräfte genug, um mit den Meuterern fertigzuwerden? Nichts<br />
als des ehrenwerten Generals äußersten Leichtsinn. Er wird im August seinen Gipfel<br />
erreichen, wenn <strong>der</strong> Verschwörer Kornilow nicht existierende Truppen gegen Petrograd<br />
anrücken lassen wird. Die Sache lag nämlich so, daß Kornilow noch immer versuchte,<br />
vom Kommandobestand auf die Truppen zu schließen. Die Offiziere standen in ihrer<br />
Mehrzahl zweifellos hinter ihm; das heißt, sie waren bereit, unter dem Vorwand, die<br />
Provisorische Regierung zu schützen, dem Sowjet die Rippen zu brechen. Die Soldaten<br />
jedoch hielten zum Sowjet, wobei sie ihrer Stimmung nach unvergleichlich weiter links<br />
standen als <strong>der</strong> Sowjet. Da aber <strong>der</strong> Sowjet selbst für die Provisorische Regierung eintrat,<br />
ergab sich, daß Kornilow zum Schutze <strong>der</strong> Provisorischen Regierung Sowjetsoldaten mit<br />
reaktionären Offizieren an <strong>der</strong> Spitze hinausführen konnte. Dank dem Regime <strong>der</strong><br />
Doppelherrschaft spielten alle miteinan<strong>der</strong> Blindekuh. Kaum jedoch hatten die Sowjetführer<br />
den Truppen befohlen, die Kasernen nicht zu verlassen, blieb Kornilow mitsamt<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung in <strong>der</strong> Luft hängen.<br />
Trotzdem stürzte die Regierung nicht. Die Massen die den Angriff begonnen hatten,<br />
waren keineswegs darauf vorbereitet, ihn zu Ende zu führen. Die Versöhnler durften<br />
deshalb noch versuchen, das Februarregime auf seinen Ausgangspunkt zurückzubringen.<br />
Als hätten sie vergessen o<strong>der</strong> als wollten sie bloß die an<strong>der</strong>en vergessen machen, daß das<br />
Exekutivkomitee gezwungen gewesen war, offen gegen die "geserzliche" Macht Hand<br />
auf die Armee zu legen, klagten die »Mitteilungen« des Sowjets vom 22. April: »Die<br />
Sowjets haben die Ergreifung <strong>der</strong> Macht nicht angestrebt. Indes trugen viele Banner <strong>der</strong><br />
Sowjetanhänger Aufschriften, die den Sturz <strong>der</strong> Regierung und die Ubertragung <strong>der</strong><br />
gesamten Macht an die Sowjets for<strong>der</strong>ten« ... Ist es denn nicht in <strong>der</strong> Tat empörend, daß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 228
Arbeiter und Soldaten die Versöhnler zur Übernahme <strong>der</strong> Macht zu verflihren versucht,<br />
das heißt jene Herren ernstlich für fähig gehalten hatten, von <strong>der</strong> Macht revolutionären<br />
Gebrauch zu machen?<br />
Nein, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki wollten die Macht nicht. Die<br />
bolschewistische Resolution, die die Übertragung <strong>der</strong> Macht an die Sowjets verlangte,<br />
erhielt, wie wir gesehen haben, im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet eine verschwindende<br />
Stimmenzahl. In Moskau erhielt die von den Bolschewiki am 22. April eingebrachte<br />
Resolution, mit dem Mißtrauensvotum für die Provisotische Regierung, nur 74 von<br />
vielen hun<strong>der</strong>t Stimmen. Allerdings hatte <strong>der</strong> Helsingforser Sowjet, obgleich dort Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki in <strong>der</strong> Mehrheit waren, an diesem Tage eine für jene Zeit<br />
ausnahmsweise mutige Resolution angenommen, in <strong>der</strong> er dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet zur<br />
Beseitigung <strong>der</strong> »imperialistischen Provisoriselien Regierung« seine bewaffnete Hilfe<br />
anbot. Doch bildete diese unter dem direkten Druck <strong>der</strong> Matrosen an-genommene<br />
Resolution eine Ausnahme. In ihrer überwiegenden Mehrheit verharrte die Sowjetvertretung<br />
<strong>der</strong> gestern noch einem Aufstand gegen die Provisorische Regierung so nahe<br />
gewesenen Massen durchaus auf dem Boden <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Was bedeutete das?<br />
Der in die Augen springende Wi<strong>der</strong>spruch zwischen <strong>der</strong> Entschlossenheit des Massenangriffs<br />
und <strong>der</strong> Halbheit seiner politischen Wi<strong>der</strong>spiegelung ist nicht zufällig. In einer<br />
revolutionären Epoche werden die unterdrückten Massen leichter und schneller in eine<br />
direkte Aktion hineingezogen als geübt, durch eigene Vertretung ihren Wünschen und<br />
For<strong>der</strong>ungen geformten Ausdruck zu verleihen. Je abstrakter das System einer Vertretung<br />
ist, um so weiter bleibt es hinter dem Rhythmus <strong>der</strong> Ereignisse zurück, <strong>der</strong> die<br />
Handlungen <strong>der</strong> Massen bestimmt. Die Sowjetvertretung, von allen Vertretungsformen<br />
die am wenigsten abstrakte, bietet unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> unermeßliche<br />
Vorzüge: es genügt, daran zu erinnern, daß die demokratischen Dumas, gewählt auf<br />
Grund <strong>der</strong> Bestimmungen vom 17. April, durch nichts und durch keinen eingeschränkt,<br />
sich völlig unfähig zeigten, mit den Sowjets zu konkurrieren. Doch bei allen Vorzügen<br />
ihrer organischen Verbindung mit den Betrieben und den Regimentern, das heißt mit den<br />
handelnden Massen, bleiben die Sowjets immerhin eine, Vertretung und folglich von den<br />
Konventionen und Verfälschungen des Parlamentarismus nicht frei. Der Wi<strong>der</strong>spruch<br />
je<strong>der</strong> Vertretung, auch <strong>der</strong> des Sowjets, besteht darin, daß sie einerseits für die Massenaktionen<br />
notwendig ist, an<strong>der</strong>erseits aber leicht zu einem konservativen Hin<strong>der</strong>nis für die<br />
Aktion wird. Der praktische Ausweg aus dem Wi<strong>der</strong>spruch besteht in <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Erneuerung <strong>der</strong> Vertretung. Doch diese keinesfalls so einfache Operation ist, beson<strong>der</strong>s<br />
in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die Folge <strong>der</strong> aktiven Aktion und bleibt daher hinter ihr zurück. Jedenfalls<br />
saßen am nächsten Tag nach dem halben o<strong>der</strong> richtiger viertel Aufstand vom April -<br />
<strong>der</strong> halbe wird erst im Juli kommen - im Sowjet die gleichen Deputierten wie am<br />
Vorabend und, wie<strong>der</strong> in die gewohnte Umgebung geraten, stimmten für die Anträge <strong>der</strong><br />
gewohnten Führer.<br />
Doch bedeutet das keinesfalls, daß <strong>der</strong> Aprilsturm an den Sowjets und am Februarsystem<br />
überhaupt, geschweige an den Massen selbst, spurlos vorübergegangen war. Das<br />
grandiose, wenn auch nicht zu Ende geführte Eingreifen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten in die<br />
politischen Ereignisse verän<strong>der</strong>t die politische Situation, gibt <strong>der</strong> Gesamtbewegung <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> einen Anstoß, beschleunigt die unvermeidlichen Umgruppierungen und<br />
zwingt die Stuben- und Hintertreppenpolitiker, ihre gestrigen Pläne zu vergessen und ihr<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 229
Vorgehen <strong>der</strong> neuen Lage anzupassen.<br />
Nachdem die Versöhnler das Aufflackern des Bürgerkrieges liquidiert hatten, wobei<br />
sie sich einbildeten, alles kehre auf die alten Positionen zurück, begann erst in Wirklichkeit<br />
die Regierungskrise. Die Liberalen wollten nicht mehr ohne direkte Teilnahme <strong>der</strong><br />
<strong>Sozialisten</strong> regieren. Durch die Logik <strong>der</strong> Doppelhenschaft gezwungen, dieser Bedingung<br />
entgegen zukommen, verlangten die <strong>Sozialisten</strong> ihrerseits die demonstrative Liquidierung<br />
des Dardanellenprogramms, was unabwendbar zur Liquidierung Miljukows<br />
führen mußte. Am 2. Mai war Miljukow gezwungen, die Reihen <strong>der</strong> Regierung zu<br />
verlassen. Die Losung <strong>der</strong> Demonstration vom 20. April wurde auf diese Weise mit einer<br />
Verspätung von 12 Tagen und gegen den Willen <strong>der</strong> Sowjetführer verwirklicht.<br />
Doch hatten die Verschleppungen und Verschiebungen die Ohnmacht <strong>der</strong> Regierenden<br />
nur noch krasser unterstrichen. Miljukow, <strong>der</strong> mit Hilfe seines Generals eine schroffe<br />
Wendung im Kräfteverhältnis herbeizuführen geplant hatte, sprang - wie ein Pfropfen -<br />
mit einem Knall aus <strong>der</strong> Regierung. Der Haudegengeneral war gezwungen, seine Demission<br />
zu nehmen. Die Minister waren gar nicht mehr Geburtstagskin<strong>der</strong>n ähnlich. Die<br />
Regierung flehte den Sowjet um eine Koalition an. Und all das, weil die Massen auf das<br />
lange Ende des Hebels gedrückt hatten.<br />
Doch bedeutet das nicht, daß die Versöhnlerparteien den Arbeitern und Soldaten<br />
nähergekommen waren. Im Gegenteil, die Aprilereignisse, die entlarvt hatten, welche<br />
Überraschungen die Massen in sich bargen, stießen die demokratischen Führer noch<br />
weiter nach rechts, in die Richtung einer engeren Anlehnung an die Bourgeoisie. Von<br />
nun an gewinnt die patriotische Linie endgültig Oberhand. Die Mehrheit des Exekutivkomitees<br />
schließt sich enger zusammen. Formlose Radikale, wie Suchanow, Stecklow usw.,<br />
die vor kurzem noch die Sowjetpolitik inspirierten und bestrebt waren, irgendwelche<br />
Traditionen des Sozialismus zu wahren, werden beiseite geschoben. Zeretelli steuert<br />
einen festen konservativen und patriotischen Kurs, <strong>der</strong> die Anpassung <strong>der</strong> Miljukowschen<br />
Politik an die Vertretung <strong>der</strong> werktätigen Massen bedeutet.<br />
Die Haltung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei in den Apriltagen war nicht einheitlich. Die<br />
Ereignisse kamen <strong>der</strong> Partei überraschend. Die innere Krise ging erst ihrem Abschluß<br />
entgegen, die Parteikonferenz wurde eifrig vorbereitet. Unter dem Eindruck <strong>der</strong> starken<br />
Erregung in den Bezirken sprachen sich einige Bolschewiki für den Sturz <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung aus. Das Petrogra<strong>der</strong> Komitee, das noch am 5. März die Resolution des<br />
bedingten Vertrauens zur Provisorischen Regierung angenommen hatte, schwankte. Es<br />
wurde beschlossen, am 21. eine Demonstration zu veranstalten, <strong>der</strong>en Ziel jedoch nicht<br />
klar bestimmt war Ein Teil des Petrogra<strong>der</strong> Komitees führte die Arbeiter und Soldaten<br />
auf die Straße mit <strong>der</strong> allerdings nicht ausgesprochenen Absicht, nebenbei den Versuch<br />
zu machen, die Provisorische Regierung zu stürzen. In <strong>der</strong> gleichen Richtung wirkten<br />
einzelne linke Elemente außerhalb <strong>der</strong> Partei. Es mischten sich anscheinend auch die<br />
nicht zah-reichen aber betriebsamen Anarchisten ein. Einzelne Personen wandten sich an<br />
die Truppenteile mit Ersuchen um Panzerautos o<strong>der</strong> Verstärkung überhaupt, bald zum<br />
Zwecke <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, bald für Straßenkampf gegen den<br />
Feind im allgemeinen. Aber die mit den Bolschewiki sympathisierende Panzerdivision<br />
erklärte, sie würde ohne Befehl des Exekutivkomitees niemand Wagen zur Verfügung<br />
stellen.<br />
Die Kadetten bemühten sich aus allen Kräften, die Schuld für die blutigen Zusammen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 230
stöße auf die Bolschewiki abzuwälzen. Doch wurde durch eine beson<strong>der</strong>e Kommission<br />
des Sowjets unwi<strong>der</strong>legbar festgestellt, daß die, Schießerei nicht von <strong>der</strong> Straße her,<br />
son<strong>der</strong>n aus Haustoren und Fenstern begonnen hatte. Die Zeitungen veröffentlichten<br />
einen Bericht des Staatsanwalts: »Die Schießerei ist von dem Auswurf <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
inszeniert worden, um Unruhen und Verwirrung zu stiften, was den Rowdies stets zum<br />
Vorteil gereicht.«<br />
Die Feindseligkeit gegen die Bolschewiki seitens <strong>der</strong> regierenden Sowjetparteien hatte<br />
noch lange nicht jene Spannung erreicht, die zwei Monate später, im Juli, Vernunft und<br />
Gewissen restlos verdunkelte. Die Gerichtsbarkeit, wenngleich in alter Zusammensetzung,<br />
nahm sich vor dem Antlitz <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zusammen und erlaubte sich im April<br />
noch nicht, gegen die extreme Linke Methoden <strong>der</strong> zaristischen Ochrana anzuwenden.<br />
Die Attacke Miljukows war auch auf dieser Linie mühelos zurückgeschlagen worden.<br />
Das Zentralkomitee wies den linken Flüget <strong>der</strong> Bolschewiki zurecht und erklärte am<br />
21. April, es erachte das vom Sowjet erlassene Verbot von Straßenkundgebungen für<br />
durchaus richtig, und es sei unbedingt zu befolgen. »Die Losung "Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung" ist momentan unrichtig«, lautete die Resolution des Zentralkomitees,<br />
»weil eine solche Losung beim Fehlen einer festen [das heißt bewußten und<br />
organisierten] Mehrheit des Volkes seitens des revolutionären Proletariats entwe<strong>der</strong><br />
Phrase ist o<strong>der</strong> objektiv auf Unternehmen abenteuerlicher Art hinausläuft.« Als Aufgaben<br />
des Augenblicks nennt die Resolution: Kritik, Propaganda und, als Voraussetzung<br />
<strong>der</strong> Machtergreifung, Eroberung <strong>der</strong> Mehrheit in den Sowjets. Die Gegner erblickten in<br />
dieser Erklärung einen Rückzug erschrockener Führer o<strong>der</strong> aber ein schlaues Manöver.<br />
Aber wir kennen bereits Lenins Grundeinstellung zur Frage <strong>der</strong> Macht; jetzt lehrte er die<br />
Partei, die "Aprilthesen" in <strong>der</strong> Praxis anzuwenden.<br />
Drei Wochen zuvor hatte Kamenew erklärt, er sei »glücklich«, gemeinsam mit den<br />
Menschewiki und Soziatrevolutionären für die einheitliche Resolution über die Provisorische<br />
Regierung stimmen zu können, während Stalin die Theorie <strong>der</strong> Arbeitsteilung<br />
zwischen Kadetten und Bolschewiki entwickelte. In welch weite Ferne waren diese Tage<br />
und diese Theorien gerückt! Nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Apriltage trat Stalin nun zum ersten<br />
Male gegen die Theorie <strong>der</strong> wohlwollenden "Kontrolle" über die Provisorische Regierung<br />
auf, behutsam vor seinem eigenen gestrigen Tag zurückweichend. Doch blieb dieses<br />
Manöver unbeachtet.<br />
Worin bestand das Element des Abenteurertums in <strong>der</strong> Politik einiger Teile <strong>der</strong> Partei?<br />
fragte Lenin auf <strong>der</strong> Konferenz, die gleich nach den ernsten Tagen stattfand. In dem<br />
Versuch, dort mit Gewalt vorzugehen, wo es für revolutionäre Gewalt noch nicht o<strong>der</strong><br />
nicht mehr Platz gibt. »Man kann jemand stürzen, <strong>der</strong> dem Volke als Gewalthaber<br />
bekannt ist. Jetzt gibt es keine Gewalthaber, die Kanonen und Gewehre sind bei den<br />
Soldaten, nicht bei den Kapitalisten; die Kapitalisten gehen jetzt nicht mit Gewalt vor,<br />
son<strong>der</strong>n mit Betrug, und jetzt nach Gewalt zu schreien, ist Unsinn ... Wir hatten die<br />
Parole friedlicher Demonstrationen ausgegeben. Wir beabsichtigten nur eine friedliche<br />
Auskundschaftung <strong>der</strong> Kräfte des Feindes, nicht aber eine Schlacht zu liefern, das Petrogra<strong>der</strong><br />
Komitee jedoch steuerte ein bißchen zu sehr nach links ... Gleichzeitig mit <strong>der</strong><br />
richtigen Parole: "Hoch die Sowjets" wurde eine unrichtige gegeben: "Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung". Im Augenblick <strong>der</strong> Aktion war es unangebracht, "ein<br />
bißchen zu sehr nach links" zu steuern. Wir betrachten das als das größte Verbrechen,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 231
als Desorganisation.«<br />
Was liegt den dramatischen Ereignissen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zugrunde? Verschiebungen im<br />
Kräfteverhälmis. Wodurch werden sie hervorgerufen? Hauptsächlich durch die Schwankungen<br />
<strong>der</strong> Zwischenklassen, <strong>der</strong> Bauernschaft, des Kleinbürgertums, <strong>der</strong> Armee. Ein<br />
gigantischer Abstand <strong>der</strong> Schwankungen - vom kadettischen Imperialismus bis zum<br />
Bolschewismus. Diese Schwankungen gehen gleichzeitig nach zwei entgegengesetzten<br />
Richtungen. Die politische Vertretung des Kleinbürgertuins, dessen Spitzen, die versöhnlerischen<br />
Führer, neigen immer mehr nach rechts, zur Bourgeoisie. Die unterdrückten<br />
Massen werden immer schärfer und mutiger nach links schwingen. Während Lenin<br />
gegen das von den Leitern <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Organisation bekundete Abenteurertum<br />
auftritt, macht er den Vorbehalt: würde sich die Zweischichten-Masse ernstlich,<br />
entschlossen und dauerhaft zu uns bekennen, wir würden keinen Augenblick zau<strong>der</strong>n, die<br />
Regierung aus dem Mariinski-Palais hinauszusetzen. Das aber ist noch nicht <strong>der</strong> Fall. Die<br />
Aprilkrise, die sich auf den Straßen abspielte, ist »nicht das erste und nicht das letzte<br />
Schwanken <strong>der</strong> kleinbürgerlichen und halbproletarischen Masse«. Unsere Aufgabe ist<br />
vorläufig noch: »geduldig aufklären«, die nächste, tiefere, bewußtere Schwenkung <strong>der</strong><br />
Massen auf unsere Seite vorbereiten.<br />
Was das Proletariat betrifft, so bekam seine Wendung zu den Bolschewiki im Laufe<br />
des April klar ausgeprägten Charakter. Es erschienen Arbeiter bei den Parteikomitees<br />
und fragten, wie man sich von <strong>der</strong> menschewistischen Partei in die bolschewistische<br />
umschreiben könnte. In den Betrieben bedrängte man die eigenen Deputierten mit Fragen<br />
über Außenpolitik, Krieg, Doppelherrschaft, Ernährung, und als Folge solcher Prüfungen<br />
wurden die sozialrevolutionären o<strong>der</strong> menschewistischen Deputierten immer häufiger<br />
durch bolschewistische ersetzt. Die schroffe Wendung begann bei den Bezirkssowjets,<br />
als den den Betrieben am nächsten stehenden. In den Sowjets <strong>der</strong> Wyborger Seite <strong>der</strong><br />
Wassiljewski-Insel und des Narwskij-Bezirks waren die Bolschewiki Ende April wie mit<br />
einem Schlage in <strong>der</strong> Mehrheit. Das war von größter Bedeutung, aber die von <strong>der</strong> hohen<br />
Politik in Anspruch genommenen Führer des Exekutivkomitees betrachteten nur<br />
hochmütig das Treiben <strong>der</strong> Bolschewiki in den Arbeitervierteln. Die Bezirke jedoch<br />
bedrängten das Zentrum immer stärker. Ohne Zutun des Petrogra<strong>der</strong> Komitees begann in<br />
den Betrieben eine energische und erfolgreiche Kampagne für Neuwahlen zum Stadtsowjet<br />
<strong>der</strong> Arbeiterdeputierten. Suchanow glaubt, daß Anfang Mai ein Drittel des Petrogra<strong>der</strong><br />
Proletariats hinter den Bolschewiki stand. Keinesfalls weniger, und außerdem das<br />
aktivste Drittel. Die Formlosigkeit des März verschwand, die politischen Linien bekamen<br />
Umrisse, die "phantastischen" Thesen Lenins füllten sich in den Bezirken Petrograds mit<br />
Fleisch und Blut.<br />
Je<strong>der</strong> Schritt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorwärts wird hervorgerufen o<strong>der</strong> erzwungen durch direktes<br />
Eingreifen <strong>der</strong> Massen, das in den meisten Fällen für die Sowjetparteien ganz<br />
unerwartet erfolgt. Die Führer des Exekutivkomitees betrachteten die Rolle <strong>der</strong> Masssen<br />
nach <strong>der</strong> Februarumwälzung, nachdem die Arbeiter und Soldaten die Monarchie gestürzt<br />
hatten, als erledigt. Doch war dies ein fataler Irrtum. Die Massen dachten nicht daran,<br />
von <strong>der</strong> Bühne zu verschwinden. Bereits Anfang März, während <strong>der</strong> Kampagne um den<br />
Achtstundentag, und trotzdem die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich an ihre<br />
Schultern hängten, war es den Arbeitern geglückt, den Kapitalisten eine Konzession zu<br />
entreißen. Der Sowjet war gezwungen, den Sieg, <strong>der</strong> ohne ihn und gegen ihn errungen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 232
worden war, zu registrieren. Die Aprildemonstration war eine Korrektur ähnlicher Art.<br />
Jedes Auftreten <strong>der</strong> Massen ist, abgesehen von seinen unmittelbaren Zielen, eine<br />
Warnung an die Adresse <strong>der</strong> Sowjetleiter. Die Warnung trägt anfangs milden Charakter,<br />
doch wird sie immer energischer. Im Juli verwandelt sie sich in Drohung. Im Oktober<br />
kommt die Lösung.<br />
In allen kritischen Momenten greifen die Massen »elementar« ein, mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten, ihren eigenen aus <strong>der</strong> politischen Erfahrung gewonnenen Erkenntnissen und<br />
ihren offiziell noch nicht anerkannten Führern folgend. Indem die Massen gewisse<br />
Elemente <strong>der</strong> Agitation in sich aufnehmen, übersetzen sie diese selbständig in die<br />
Sprache <strong>der</strong> Tat. Die Bolschewiki als Partei haben noch nicht die Kampagne für den<br />
Achtstundentag geleitet. Die Bolschewiki haben auch nicht im April die Massen zur<br />
Demonstration aufgerufen. Die Bolschewiki werden auch nicht im Juli die bewaffneten<br />
Massen auf die Straße führen. Erst im Oktober wird es <strong>der</strong> Partei gelingen, den Schritt<br />
auszugleichen, und sie wird dann an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Massen schon nicht zur Demonstration,<br />
son<strong>der</strong>n zur Umwälzung marschieren.<br />
Erste Koalition<br />
Entgegen allen offiziellen Theorien, Deklarationen und Aushängeschil<strong>der</strong>n besaß die<br />
Provisorische Regierung die Macht nur auf dem Papier. Upgeachtet des Wi<strong>der</strong>standes<br />
<strong>der</strong> sogenannten Demokratie, schritt die <strong>Revolution</strong> vorwärts, hob neue Massen empor,<br />
stärkte die Sowjets, bewaffnete, wenn auch in beschränktem Maße, die Arbeiter. Die<br />
lokalen Regierungskommissare und die ihnen beigeordneten "öffentlichen Komitees", in<br />
denen in <strong>der</strong> Regel Vertreter <strong>der</strong> bürgerlichen Organisationen vorherrschten, wurden<br />
naturnotwendig und mühelos von den Sowjets verdrängt. In den Fällen, wo die Agenten<br />
<strong>der</strong> Zentralmacht Wi<strong>der</strong>stand zu leisten versuchten, entbrannten heftige Konflikte. Die<br />
Kommissare beschuldigten die lokalen Sowjets <strong>der</strong> Mißachtung <strong>der</strong> Zentralmacht. Die<br />
bürgerliche Presse heulte auf: Kronstadt, Schlüsselburg und Zarizyn seien von Rußland<br />
abgefallen, hätten sich in selbständige Republiken verwandelt. Die lokalen Sowjets<br />
protestierten gegen solchen Unsinn. Die Minister gerieten in Erregung. Regierungssozialisten<br />
reisten in die Provinz, versuchten zu überreden, drohten, rechtfertigten sich vor <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie. Doch all das än<strong>der</strong>te das Kräfteverhältuis nicht. Die Unabwendbarkeit <strong>der</strong><br />
Prozesse, die die Doppelherrschaft untergruben, kam schon darin zum Ausdruck, daß sie,<br />
wenn auch nicht überall im gleichen Tempo, im ganzen Lande vor sich gingen. Aus<br />
Kontrollorganen verwandelten sich die Sowjets in Verwaltungsorgane. Sie wollten von<br />
keiner Theorie <strong>der</strong> Machtteilung etwas, wissen und mischten sich in die Verwaltung <strong>der</strong><br />
Armee ein, in Wirtschaftskonflikte, Ernährungs- und Transportfragen und sogar<br />
Gerichtsangelegenheiten. Unter dem Druck <strong>der</strong> Arbeiter dekretierten die Sowjets den<br />
Achtstundentag, setzten übereifrige reaktionäre Administratoren ab, entließen die<br />
unerträglichsten Kommissare <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, nahmen Verhaftungen und<br />
Haussuchungen vor, untersagten das Erscheinen feindlicher Zeitungen. Unter dem<br />
Einfluß <strong>der</strong> ständig anwachsenden Emährungsschwierigkeiten und des Warenhungers<br />
griffen die Provinzsowjets zu Preisregulierungen, Ausfuhrverboten für bestimmte<br />
Gouvernements und zur Requisition von Vorräten. Dabei standen überall an <strong>der</strong> Spitze<br />
<strong>der</strong> Sowjets Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die mit Entrüstung die bolschewistische<br />
Parole "Alle Macht den Sowjets" ablehnten.<br />
Sehr lehrreich war in dieser Beziehung die Tätigkeit des Sowjets in Tiflis, dem Herzen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 233
<strong>der</strong> menschewistischen Gironde, die <strong>der</strong> Februarrevolution Führer wie Zeretelli und<br />
Tschcheidse gegeben und später, nachdem sie sich in Perrograd rettungslos verbraucht,<br />
ihnen Asyl gewährt hat. Der von Jordania, dem späteren Haupt des unabhängigen<br />
Georgiens geleitete Tifliser Sowjet, mußte auf Schritt und Tritt die Prinzipien <strong>der</strong> darin<br />
herrschenden Menschewiki verletzen und wie eine Regierungsmacht handeln. Der<br />
Sowjet konfiszierte für seine Bedürfnisse eine Privatdruckerei, nahm Verhaftungen vor,<br />
leitete Untersuchung und Gerichtsverfahren in politischen Prozessen, setzte die Brotration<br />
fest, bestimmte Preise für Nahrungsmittel und unentbehrliche Bedarfsartikel. Der<br />
Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> sich von den ersten Tagen an zwischen offizieller Doktrin und Leben<br />
ergab, fand erst im Laufe des März und April eine Steigerung.<br />
In Petrograd wurde mindestens das Dekorum gewahrt, wenn auch, wie wir gesehen<br />
haben, nicht immer. Die Apriltage jedoch hatten zu eindeutig die Ohnmacht <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung entschleiert und gezeigt, daß sie auch in <strong>der</strong> Hauptstadt keine ernstliche<br />
Stütze besaß. Im letzten Drittel des April führte die Regierung nur noch ein<br />
qualvolles, im Erlöschen begriffenes Leben. »Mit Wehmut sprach Kerenski davon, daß<br />
es keine Regierung mehr gäbe, sie arbeite nicht, son<strong>der</strong>n bespräche nur noch ihre Lage«<br />
(Stankewitsch). Von dieser Regierung kann man im allgemeinen sagen, daß sie bis zu<br />
den Oktobertagen in schwierigen Momenten Krisen durchmachte und in den Pausen<br />
zwischen den Krisen ... existierte. Indem sie fortwährend »ihre Lage besprach«, hatte sie<br />
ohnehin keine Zeit, sich <strong>der</strong> Arbeit zu widmen.<br />
Aus <strong>der</strong> Krise, die durch die Aprilprobe <strong>der</strong> kommenden Kämpfe entstanden war,<br />
waren theoretisch drei Auswege denkbar. Entwe<strong>der</strong> mußte die Macht gänzlich an die<br />
Bourgeoisie übergehen: das war nicht an<strong>der</strong>s als durch Bürgerkrieg zu verwirklichen;<br />
Miljukow hatte es versucht, war aber gescheitert. O<strong>der</strong> die Macht mußte völlig an die<br />
Sowjets abgetreten werden: das war ohne jeden Bürgerkrieg zu erreichen, durch eine<br />
Handbewegung, es hieß nur wollen. Doch die Versöhnler wollten nicht wollen, während<br />
die Massen noch immer den Glauben an die Versöhnler bewahrten - wenn er auch bereits<br />
einen Riß hatte. Auf diese Weise waren die beiden Hauptauswege - sowohl auf <strong>der</strong><br />
bürgerlichen wie auf <strong>der</strong> proletarischen Linie - versperrt. Es blieb die dritte Möglichkeit:<br />
<strong>der</strong> verworrene, geteilte, ängstliche Hal~ ausweg des Kompromisses, sein Name - Koalition.<br />
Am Ausgang <strong>der</strong> Apriltage dachten die <strong>Sozialisten</strong> an eine Koalition nicht im entferntesten:<br />
diese Menschen vermochten überhaupt nie etwas vorauszusehen. Mit <strong>der</strong> Resolution<br />
vom 21. April verwandelte das Exekutivkomitee die Doppelherrschaft offiziell aus<br />
einer Tatsache in ein konstitutionelles Prinzip. Aber die Weisheitseule hatte auch diesmal<br />
ihren Flug zu spät unternommen: die juristische Weihe <strong>der</strong> Märzform <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />
- Zaren und Propheten - wurde in dem Augenblick vollzogen, als diese Form<br />
bereits durch das Auftreten <strong>der</strong> Massen gesprengt war. Die <strong>Sozialisten</strong> bemühten sich,<br />
vor dieser Tatsache die Augen zu schließen. Miljukow erzählt, daß Zeretelli, als seitens<br />
<strong>der</strong> Regierung die Frage <strong>der</strong> Koalition gestellt wurde, erklärt habe: »Welchen Nutzen<br />
habt ihr davon, wenn wir in eure Reihen eintreten? Wir würden ja ..., falls ihr euch<br />
unnachgiebig zeigen solltet, gezwungen sein, mit Lärm aus dem Ministerium<br />
auszutreten.« Zeretelli versuchte, die Liberalen mit seinem künftigen »Lärm« zu schrekken.<br />
Zur Begründung ihrer Haltung appellierten die Menschewiki, wie stets, an die Interessen<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie. Doch das Wasser stieg an die Kehle. Kerenski schreckte das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 234
Exekutivkomitee: »Die Regierung befindet sich augenblicklich in einer unerträglich<br />
schwierigen Situation; die Demissionsgerüchte sind kein politisches Spiel.« Gleichzeitig<br />
setzte ein Druck seitens <strong>der</strong> bürgerlichen Kreise ein. Die Moskauer Stadtduma erklärte<br />
sich in einer Resolution für die Koalition. Am 26. April, als <strong>der</strong> Boden genügend vorbereitet<br />
war, verkündete die Provisorische Regierung in einem beson<strong>der</strong>en Aufruf die<br />
Notwendigkeit, »jene aktiven schöpferischen Kräfte des Landes, die sich bisher nicht<br />
daran beteiligt hatten«, zur Staatsarbeit heranzuziehen. Die Frage war in aller Schärfe<br />
gestellt.<br />
Immerhin war die Stimmung gegen die Koalition noch recht stark. Gegen den Eintritt<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in die Regierung äußerten sich Ende April die Sowjets von Moskau,<br />
Tiflis, Odessa, Jekaterinburg, Nishnij Nowgorod, Twer und an<strong>der</strong>en Orten. Ihre Beweggründe<br />
drückte ein menschewistischer Führer in Moskau kraß aus: wenn die <strong>Sozialisten</strong><br />
in die Regierung eintreten, wird niemand vorhanden sein, die Massenbewegung »in<br />
bestimmte Fahrwasser« zu leiten. Aber es war schwer, diese Erwägung den Arbeitern<br />
und Soldaten zu suggerieren, gegen die sie gerichtet war. Soweit die Massen noch nicht<br />
mit den Bolschewiki gingen, waren sie durchweg für den Eintritt <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in die<br />
Regierung. Wenn es gut ist, daß Kerenski Minister ist, dann sind sechs Kerenski noch<br />
besser. Die Massen wußten nicht, daß dies Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie hieß und daß<br />
die Bourgeoisie sich durch die <strong>Sozialisten</strong> gegen das Volk decken wollte. Von <strong>der</strong><br />
Kaserne aus betrachtet, sah die Koalition an<strong>der</strong>s aus als vom Mariinski-Palais. Die<br />
Massen wollten durch die <strong>Sozialisten</strong> die Bourgeoisie aus <strong>der</strong> Regierung verdrängen. So<br />
verquickten sich zwei in entgegengesetzte Richtungen gehende Druckwirkungen für<br />
einen kurzen Augenblick in eins.<br />
In Petrograd stimmte eine Reihe von Truppenteilen, darunter auch die den Bolschewiken<br />
freundliche Panzerdivision, für eine Koalitionsregierung. Desgleichen in überwiegen<strong>der</strong><br />
Mehrheit die Provinz. Bei den Sozialzevolutionären herrschte die<br />
Koalitionsstimmung vor, nur fürchteten sie sieh, ohne die Menschewiki in die Regierung<br />
zu gehen. Für die Koalition war schließlich auch die Armee. Später, auf dem Rätekongreß<br />
im Juni, hat ein Delegierter die Stellung <strong>der</strong> Front zur Frage <strong>der</strong> Macht recht gut<br />
wie<strong>der</strong>gegeben: »Wir glaubten, jener Seufzer, den die Armee ausstieß, als sie erfuhr, daß<br />
die <strong>Sozialisten</strong> nicht ins Ministerium wollten, zur Zusammenarbeit mit Menschen, denen<br />
sie nicht vertrauten, indes doch die gesamte Armee gezwungen war, weiter mit Menschen<br />
zu sterben, denen sie nicht traute - wir glaubten, jener Seufzer habe Petrograd erreicht.«<br />
Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung war in dieser Frage, wie in allen an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> Krieg.<br />
Die <strong>Sozialisten</strong> hatten anfangs die Absicht, die Frage des Krieges wie die <strong>der</strong> Macht zu<br />
übergehen und zu warten. Doch <strong>der</strong> Krieg wartete nicht. Die Verbündeten warteten nicht.<br />
Und auch die Front wollte nicht länger warten. Gerade während <strong>der</strong> Regierungskrise<br />
kamen Frontdelegierte zum Exekutivkomitee und stellten den Führern die Frage: Führen<br />
wir Krieg o<strong>der</strong> nicht? Das hieß: ühernehmt ihr die Verantwortung für den Krieg o<strong>der</strong><br />
nicht? Nicht zu antworten war unmöglich. Die gleiche Frage stellte in <strong>der</strong> Sprache halber<br />
Drohungen die Entente.<br />
Die Apriloffensive an <strong>der</strong> westeuropäischen Front kam die Alliierten teuer zu stehen<br />
und brachte keine Resultate. Die französische Armee geriet unter dem Einfluß <strong>der</strong> Russischen<br />
<strong>Revolution</strong> und des Mißerfolges <strong>der</strong> Offensive, von <strong>der</strong> man so viel erhofft hatte,<br />
ins Schwanken. Die Armee »wand sich unter den Händen« - nach den Worten des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 235
Marschalls Pétain. Um diesen bedrohlichen Prozeß aufzuhalten, benötigte die französische<br />
Regierung unbedingt eine russische Offensive, und bis dahin - mindestens das feste<br />
Versprechen <strong>der</strong> Offensive. Außer <strong>der</strong> materiellen Erleichterung, die auf diese Weise<br />
geschaffen werden sollte, mußte man so schnell wie möglich von <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />
die Friedensaureole herunterreißen, die Hoffnung aus den Herzen <strong>der</strong> französischen<br />
Soldaten tilgen, die <strong>Revolution</strong> durch Beteiligung an den Ententeverbrechen kompromittieren,<br />
das Banner des Aufstandes <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiter und Soldaten durch Blut und<br />
Schmutz <strong>der</strong> imperialistischen Schlächterei zerren.<br />
Um dieses hehre Ziel zu erreichen, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Nicht an<br />
letzter Stelle wirkten dabei die patriotischen Ententesozialisten mit. Die erprobtesten von<br />
ihnen kommandierte man in das revolutionäre Rußland ab. Sie trafen in <strong>der</strong> vollen<br />
Rüstung eines stabilen Gewissens und loser Zunge ein. »Die ausländischen Sozialpatrioten<br />
empfing man im Mariinski-Palais mit offenen Armen ...«, schreibt Suchanow.<br />
»Branting, Cachin, O'Grady, de Brouckère und an<strong>der</strong>e mehr fühlten sich dort in heimischer<br />
Atmosphäre und bildeten mit unseren Ministern eine Einheitsfront gegen den<br />
Sowjet.« Man muß gestehen, daß sogar dem Versöhnlersowjet mit diesen Herren nicht<br />
immer wohl zumute war.<br />
Die alliierten <strong>Sozialisten</strong> bereisten die Fronten. »General Alexejew«, schrieb Van<strong>der</strong>velde,<br />
»tat alles, um unsere Bemühungen jenen hinzuzufügen, die etwas früher von<br />
Delegierten <strong>der</strong> Schwarzmeerfiotte, von Kerenski, Albert Thomas aufgewandt worden<br />
waren, um zu vollenden, was er moralische Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive nannte.« Der<br />
Vorsitzende <strong>der</strong> Zweiten <strong>Internationale</strong> und <strong>der</strong> ehemalige Generalstabschef Nikolaus II.<br />
fanden auf diese Weise eine gemeinsame Sprache im Kampfe um die erhabenen Ideale<br />
<strong>der</strong> Demokratie. Renaudel, einer <strong>der</strong> Führer des französischen Sozialismus, konnte<br />
erleichtert ausrufen: »Jetzt können wir, ohne zu erröten, vom Kriege ums Recht<br />
sprechen.« Mit dreijähriger Verspätung erführ die Menschheit, daß diese Herren irgendeinen<br />
Grund gehabt hatten, zu erröten.<br />
Am 1. Mai beschloß endlich das Exekutivkomitee, nachdem es alle nur denkbaren<br />
Stadien <strong>der</strong> Schwankung durchgemacht hatte, mit 41 gegen 18 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen,<br />
die Teilnahme an <strong>der</strong> Koalitionsregierung. Dagegen stimmten nur die<br />
Bolschewiki und ein Häuflein Menschewiki-Internationalisten.<br />
Es ist nicht uninteressant, daß <strong>der</strong> anerkannte Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie, Miljukow, als<br />
Opfer des engeren Anschlusses <strong>der</strong> Demokratie an das Bürgertum fiel. »Ich bin nicht<br />
gegangen, ich bin gegangen worden«, sagte er später. Gutschkow hatte sich schon am<br />
30. April entfernt, nachdem er es abgelehnt hatte, die »Deklaration <strong>der</strong> Rechte des Soldaten«<br />
zu unterzeichnen. Wie düster es schon damals in den Herzen <strong>der</strong> Liberalen ausgesehen<br />
haben mag, läßt sich daraus folgern, daß das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei zur<br />
Rettung <strong>der</strong> Koalition den Beschluß gefaßt hatte, nicht auf Miljukows Verbleiben in <strong>der</strong><br />
Regierung zu bestehen. »Die Partei hat ihren Führer verraten«, schreibt <strong>der</strong> rechte<br />
Kadett Isgojew. Es war ihr allerdings keine große Wahl geblieben. Derselbe Isgojew<br />
erklärt vollkommen richtig: »Ende April war die Partei <strong>der</strong> Kadetten aufs Haupt getroffen.<br />
Sie erhielt einen moralischen Schlag, von dem sie sich nie mehr erholen konnte.«<br />
Aber auch über das Schicksal Miljukows gebührte das letzte Wort <strong>der</strong> Entente.<br />
England war mit <strong>der</strong> Ablösung des Dardanellenpatrioten durch einen disziplinierteren<br />
"Demokraten" völlig einverstanden. Hen<strong>der</strong>son, <strong>der</strong> nach Petrograd mit Volimachten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 236
gekommen war, nötigenfalls Buchanan auf dem Gesandtenposten abzulösen, betrachtete<br />
einen solchen Wechsel, nachdem er sich über die Lage orientiert hatte, für überflüssig.<br />
Tatsächlich war gerade Buchanan am rechten Platze, denn er erwies sich als ein entschiedener<br />
Gegner von Annexionen, sofern diese mit dem Appetit Großbritanniens nicht<br />
übereinstimmten: »Wenn Russland Konstantinopel nicht braucht«, flüsterte er<br />
Tereschtschenko zart ein, »dann um so besser, je schneller es dies verkündet.« Frankreich<br />
unterstützte anfangs Miljukow. Doch war hier die Rolle Albert Thomas' von<br />
Bedeutung, <strong>der</strong> nach Buchanan und den Führern des Sowjets sich gleichfalls gegen<br />
Miljukow aussprach. So wurde <strong>der</strong> den Massen verhaßte Politiker von den Alliierten,<br />
Demokraten und schließlich von <strong>der</strong> eigenen Partei verlassen.<br />
Miljukow hatte im Grunde genommen eine so grausame Hinrichtung nicht verdient,<br />
mindestens nicht von diesen Händen. Die Koalition aber for<strong>der</strong>te ein läuterndes Opier.<br />
Miljukow wurde den Massen als <strong>der</strong> böse Geist hingestellt, <strong>der</strong> den allgemeinen<br />
Triumphzug zum demokratischen Frieden getrübt hatte. Indem sie Miljukow opferte,<br />
läuterte sich die Koalition mit einem Schlage von den Sünden des Imperialismus.<br />
Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet bestätigte am 5. Mai die Zusammensetzung <strong>der</strong> Koalitionsregierung<br />
und <strong>der</strong>en Programm. Die Bolschewiki brachten gegen die Koalition im ganzen<br />
100 Stimmen auf »Die Versammlung begrüßte stürmisch die Ministerreden ...«, berichtet<br />
Miljukow ironisch. »Mit den gleichen stürmischen Ovationen war jedoch erst am<br />
Vorabend <strong>der</strong> aus Amerika eingetroffene Trotzki, "<strong>der</strong> alte Führer <strong>der</strong> ersten<br />
<strong>Revolution</strong>", empfangen worden, <strong>der</strong> den Eintritt <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in das Ministerium in<br />
scharfen Worten verurteilt und behauptet hatte, die "Doppelherrschaft" sei nicht aufgehoben,<br />
son<strong>der</strong>n nunmehr "lediglich ins Ministerium verlegt" und die wahre Einzelherrschaft,<br />
die Rußland "retten" solle, werde erst dann eintreten, wenn <strong>der</strong> "nächste Schritt -<br />
die Übergabe <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten", getan sein<br />
würde. Dann werde eine "neue Epoche anbrechen - eine Epoche von Blut und Eisen,<br />
doch nicht mehr als Kampf <strong>der</strong> Nationen gegen Nationen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> leidenden, unterdrückten<br />
Klasse gegen die herrschenden Klassen".« So die Darstellung Miljukows. Zum<br />
Schluß seiner Rede formulierte Trotzki drei Regeln für die Politik <strong>der</strong> Massen: »Drei<br />
revolutionäre Gebote: <strong>der</strong> Bourgeoisie mißtrauen; die Führer kontrollieren; nur auf die<br />
eigene Kraft bauen.« Über dieses Auftreten bemerkt Suchanow: »Auf Zustimmung zu<br />
seiner Rede hatte er von vornherein nicht rechnen können.« Und tatsächlich, <strong>der</strong> Redner<br />
wurde am Schluß seiner Ansprache viel kühler behandelt als zu Beginn. Suchanow,<br />
überaus feinfühlig für intellektuelle Couleurs, fügt hinzu: »Es kursierten über ihn, <strong>der</strong><br />
sich <strong>der</strong> bolschewistischen Partei noch nicht angeschlossen hatte, bereits Gerüchte, er<br />
sei 2noch schlimmer als Lenin".«<br />
Die <strong>Sozialisten</strong> nahmen sich von fünfzehn Ministerportefeuilles sechs. Sie wollten in<br />
<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit sein. Selbst nachdem sie sich entschlossen hatten, offen <strong>der</strong> Regierung<br />
anzugehören, setzten sie das Schlagdamespiel fort. Fürst Lwow blieb Premier, Kerenski<br />
wurde Kriegs- und Marineminister, Tschernow Ackerbauminister. Miljukows Posten als<br />
Außenminister besetzte <strong>der</strong> Kenner des Balletts, Tereschtschenko, <strong>der</strong> gleichzeitig<br />
Kerenskis und Buchanans Vertrauensperson wurde. Alle drei einigten sich dahingehend,<br />
Rußland könne auch ohne Konstantinopel vorzüglich auskommen. An die Spitze des<br />
Justizministeriums geriet <strong>der</strong> unbedeutende Advokat Perewersew, <strong>der</strong> später im Zusammenhang<br />
mit dem Juliprozeß gegen die Bolschewiki zu vorübergehen<strong>der</strong> Berühmtheit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 237
gelangte. Zeretelli begnügte sich, um seine Zeit dem Exekutivkomitee nicht zu entziehen,<br />
mit dem Ministerium für Post- und Telegraphenwesen, Skobeljew, <strong>der</strong> Arbeitsminister<br />
wurde, versprach im ersten Überschwang, die Gewinne <strong>der</strong> Kapitalisten um sämtliche<br />
hun<strong>der</strong>t Prozent einzuschränken was bald zu einem geflügelten Wort wurde. Der<br />
Symmetrie halber ernannte man den Moskauer Großunternehmer Konowalow zum<br />
Minister für Handel und Industrie. Er führte einige Gestalten <strong>der</strong> Moskauer Börse ein,<br />
denen man wichtige Staatsposten anvertraute. Konowalow nahm allerdings bereits nach<br />
zwei Wochen seine Entlassung, um damit seinen Protest gegen die "Anarchie" in <strong>der</strong><br />
Wirtschaft auszudrücken, während Skobeljew schon vorher seinen Attentatsplan auf den<br />
Gewinn aufgegeben und sich dem Kampfe gegen die Anarchie gewidmet hatte: er würgte<br />
Streiks ab und rief die Arbeiter zur Selbsteinschränkung auf.<br />
Die Regierungsdeklaration bestand, wie es sich für eine Koalition geziemt, aus<br />
Gememplätzen. Sie sprach von aktiver Außenpolitik zugunsten des Friedens, Lösung <strong>der</strong><br />
Ernährungsfrage und Vorbereitung <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Bodenbesitzfrage. Das waren durchweg<br />
aufgeblasene Phrasen. Der einzige wenigstens den Absichten nach ernsthafte Punkt<br />
sprach von <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Armee »für defensive und offene Aktionen zur Abwendung<br />
einer etwaigen Nie<strong>der</strong>lage Rußlands und seiner Verbündeten«. In dieser Aufgabe<br />
bestand im wesentlichen <strong>der</strong> tiefere Sinn <strong>der</strong> Koalition, die als letzter Einsatz <strong>der</strong> Entente<br />
in Rußland zustande gekommen war.<br />
»Die Koalitionsregierung«, schrieb Buchanan, »ist unsere letzte und fast einzige<br />
Hoffnung auf Rettung <strong>der</strong> Kriegslage an dieser Front.« So stand hinter den Grundsätzen,<br />
Reden, Abkommen und Abstimmungen <strong>der</strong> liberalen und demokratischen Führer <strong>der</strong><br />
Februarrevolution <strong>der</strong> imperialistische Regisseur in Gestalt <strong>der</strong> Entente. Gezwungen, im<br />
Interesse <strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kindlichen Ententefront eiligst in die Regierung einzutreten,<br />
nahmen die <strong>Sozialisten</strong> etwa ein Drittel <strong>der</strong> Macht und den ganzen Krieg auf sich.<br />
Der neue Außenminister mußte zwei Wochen lang die Veröffentlichung <strong>der</strong> Antworten<br />
<strong>der</strong> allüerten Regierungen auf die Deklaration vom 27. März zurückhalten, um solche<br />
stilistische Än<strong>der</strong>ungen zu erwirken, die die Polemik gegen die Deklaration des Koalitionskabinetts<br />
genügend verschleierten. Die »aktive Außenpolitik zugunsten des Friedens«<br />
bestand nunmehr darin, daß Tereschtschenko eifrigst die Texte <strong>der</strong> diplomatischen<br />
Telegramme, die die alten Kanzleien für ihn aufsetzten, redigierte, »Ansprüche«<br />
ausstrich, »For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gerechtigkeit« darüber schrieb o<strong>der</strong> für »Sicherung <strong>der</strong><br />
Interessen«, »Wohl <strong>der</strong> Völker« setzte. Mit leisem Zähneknirschen sagt Miljukow von<br />
seinem Nachfolger: »Die alliierten Diplomaten wußten, daß die "demokratische" Terminologie<br />
seiner Depeschen eine unfreiwillige Konzession an die For<strong>der</strong>ungen des Augenblicks<br />
war, und übten Nachsicht mit ihr.«<br />
Thomas und <strong>der</strong> kurz vorher eingetroffene Van<strong>der</strong>velde legten unterdes die Hände<br />
nicht in den Schoß: eifrigst waren sie damit beschäftigt, dem »Wohl <strong>der</strong> Völker« eine den<br />
Bedürfnissen <strong>der</strong> Entente angepaßte Deutung zu gehen und die Einfaltspinsel aus dem<br />
Exekutivkomitee erfolgreich zu bearbeiten. »Skobeljew und Tschernow«, meldete<br />
Van<strong>der</strong>velde, »protestierten energisch gegen jeden Gedanken an einen vorzeitigen<br />
[prématurée] Frieden.« Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, wenn Ribot, auf solche Helfershelfer<br />
gestützt, schon am 9. Mai dem französischen Parlament erklären konnte, er beabsichtige,<br />
»ohne auf irgend etwas zu verzichten«, Tereschtschenko eine befriedigende Antwort zu<br />
erteilen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 238
Ja, die wahren Herren <strong>der</strong> Lage hatten nicht die Absicht, auf irgend etwas zu verzichten,<br />
was man erwischen konnte. Gerade in jenen Tagen hatte Italien die Unabhängigkeit<br />
Albaniens proklamiert und - es sogleich unter italienisches Protektorat gestellt. Das war<br />
kein schlechter Anschauungsunterricht. Die Provisorische Regierung plante einen<br />
Protest, weniger im Namen <strong>der</strong> Demokratie, als wegen des verletzten »Gleichgewichts«<br />
auf dem Balkan, doch zwang ihre Ohnmacht sie rechtzeitig, sich auf die Zunge zu<br />
beißen.<br />
Neu an <strong>der</strong> Außenpolitik <strong>der</strong> Koalition war nur die hastige Annäherung an Amerika.<br />
Diese frische Freundschaft bot drei nicht unwichtige Bequemlichkeiten: die Vereinigten<br />
Staaten waren weniger durch militärische Nie<strong>der</strong>trächtigkeiten kompromittiert als Frankreich<br />
und England; die transatlantische Republik eröffnete vor Rußland weite Perspektiven<br />
in bezug auf Anleihen und militärische Ausrüstung; endlich kam Wilsons Diplomatie<br />
- eine Mischung von demokratischer Bigotterie und Gaunerei - den stilistischen Bedürfnissen<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung sehr gelegen. Wilson schickte die Mission des<br />
Senators Root nach Russland und richtete eine seiner Pastorbotschaften an die Provisorische<br />
Regierung, wobei er erklärte: »Es darf kein Volk gewaltsam einer Herrschaft unterworfen<br />
werden, unter <strong>der</strong> es nicht leben will.« Das Kriegsziel selbst bezeichnete <strong>der</strong><br />
amerikanische Präsident zwar nicht sehr bestimmt, aber verlockend: »Der Welt dauerhaften<br />
Frieden und den Völkern künftigen Wohlstand und Glück zu sichern.« Was konnte es<br />
Besseres geben? Gerade das hatten Tereschtschenko und Zeretelli nötig: frische Kredite<br />
und pazifistische Gemeinplätze. Mit Hilfe <strong>der</strong> ersteren und unter dem Schleier <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en konnte man an die Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive gehen, die <strong>der</strong> Shylock an <strong>der</strong><br />
Seine, wie besessen mit allen seinen Wechseln fuchtelnd, for<strong>der</strong>te.<br />
Schon am 11. Mai reiste Kerenski an die Front ab und begann die Agitationskampagne<br />
für die Offensive. »Die Welle des Enthusiasmus in <strong>der</strong> Armee wächst und verbreitert<br />
sich«, berichtete <strong>der</strong> neue Kriegsminister <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, sich vor Enthusiasmus<br />
über die eigenen Reden verschluckend. Am 14. Mai erläßt Kerenski einen<br />
Armeebefehl : »Ihr werdet gehen, wohin eure Führer euch leiten werden«, und um diese<br />
dem Soldaten gut bekannte und wenig verlockende Perspektive auszuschmücken, fügt er<br />
hinzu: »Ihr werdet auf den Spitzen eurer Bajonette den Frieden tragen.« Am 22. Mai<br />
wurde <strong>der</strong> vorsichtige, übrigens reichlich unbegabte General Alexejew seiner Eigenschaft<br />
als Oberkommandieren<strong>der</strong> enthoben und durch den elastischeren und unternehmungslustigeren<br />
General Brussilow ersetzt. Die Demokraten bereiteten mit aller Kraft<br />
die Offensive, das heißt die große Katastrophe <strong>der</strong> Februarrevolution vor<br />
Der Sowjet war das Organ <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, das heißt Bauern. Die Provisorische<br />
Regierung war das Organ <strong>der</strong> Bourgeoisie. Die Kontaktkommission war das Organ<br />
<strong>der</strong> Versöhnung. Die Koalition vereinfachte die Mechanik, indem sie die Provisorische<br />
Regierung selbst in eine Kontaktkommission verwandelte. Die Doppelherrschaft war<br />
damit aber keinesfalls beseitigt. Ob Zeretelli Mitglied <strong>der</strong> Kontaktommission o<strong>der</strong><br />
Postminister war - nicht diese Frage entschied. Im Lande existierten zwei nicht zu vereinbarende<br />
Staatsorganisanonen: die Hierarchie <strong>der</strong> von oben herab ernannten alten und<br />
neuen Beamten, gekrönt durch die Provisorische Regierung, und das System <strong>der</strong> gewählten<br />
Sowjets, die bis zur ferusten Kompanie an <strong>der</strong> Front hinabreichten. Diese zwei Regierungssysteme<br />
stützten sich auf verchiedene Klassen, die sich erst anschickten, ihre<br />
historische Rechnung zu regeln. Indem sie auf die Koalition eingingen, wähnten die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 239
Versöhnler, das Rätesystem allmählich friedlich abschaffen zu können. Sie waren davon<br />
überzeugt, die Macht <strong>der</strong> in ihrer Person konzentrierten Sowjets werde nunmehr in die<br />
offizielle Regierung hinüberströmen. Kerenski versicherte Buchanan kategorisch, »die<br />
Sowjets werden eines natürlichen Todes sterben«. Diese Hoffnung wurde bald zur offiziellen<br />
Doktrin <strong>der</strong> Versöhnler. Ihr Gedanke war, das Schwergewicht des Lebens müsse<br />
sich überall von den Sowjets zu den neuen demokratischen Selbstverwaltungsorganen<br />
verschieben. Den Platz des Zentralexekutivkomitees sollte die Konstituierende<br />
Versammlung einnehmen. Die Koalitionsregierung schickte sich somit an, die Brücke<br />
zum Regime <strong>der</strong> bürgerlich parlamentarischen Republik zu bilden.<br />
Die <strong>Revolution</strong> aber wollte und konnte diesen Weg nicht gehen. Das Schicksal <strong>der</strong><br />
neuen Stadtdumas war in diesem Sinne eine unzweideutige Voraussage. Die Dumas<br />
waren auf <strong>der</strong> Basis des weitestgehenden Wahlrechtes entstanden. Soldaten hatten<br />
gleiches Wahlrecht wie Zivilbevölkerung, Frauen wie Männer. Am Kampfe nahmen vier<br />
Parteien teil. Die 'Nowoje Wremja' ('Neue Zeit'], das alte offizielle Organ <strong>der</strong> zaristischen<br />
Regierung, eine <strong>der</strong> ehrlosesten Zeitungen <strong>der</strong> Welt - und das will was besagen! -,<br />
for<strong>der</strong>te die Rechten, Nationalisten, Oktobristen auf, für die Kadetten zu stimmen. Als<br />
aber die politische Ohnmacht <strong>der</strong> besitzenden Klassen klar zutage trat, stellte die<br />
Mehrzahl <strong>der</strong> bürgerlichen Zeitungen die Losung auf: »Wählt, wen ihr wollt, nur keine<br />
Bolschewiki!« In allen Dumas und Semstwos bildeten die Kadetten den rechten Flügel,<br />
die Bolschewiki die wachsende linke Min<strong>der</strong>heit. Die Mehrheit, in <strong>der</strong> Regel eine<br />
überwiegende, gehörte den Sozialrevolutionären und Menschewiki.<br />
Es könnte scheinen, die neuen Dumas, die sich von den Sowjets durch größere<br />
Vollständigkeit <strong>der</strong> Vertretung unterschieden, hätten die größere Autorität genießen<br />
müssen. Als öffentlich-rechtliche Institutionen besaßen die Dumas außerdem den gewaltigen<br />
Vorteil offizieller staatlicher Unterstützung. Miliz, Verpflegung, städtischer Transport,<br />
Volksbildung unterstanden offiziell den Dumas. Die Sowjets besaßen als<br />
"Privat"-Institutionen we<strong>der</strong> Budget noch Rechte. Und trotzdem blieb die Macht in den<br />
Händen <strong>der</strong> Sowjets. Die Dumas waren im wesentlichen nur Munizipalkommissionen <strong>der</strong><br />
Sowjets. Der Wettstreit zwischen Sowjetsystem und formaler Demokratie war m seinem<br />
En<strong>der</strong>gebnis um so verblüffen<strong>der</strong>, als er sich unter Leitung <strong>der</strong> gleichen Parteien,<br />
Sowjetrevolutionären und Menschewiki, vollzog, die, in Dumas wie Sowjets vorherrschend,<br />
tief davon überzeugt waren, daß die Sowjets den Dumas Platz zu machen hätten,<br />
und in dieser Richtung zu tun suchten, was sie nur konnten.<br />
Die Erklärung für diese bemerkenswerte Erscheinung, über die man im Strudel <strong>der</strong><br />
Ereignisse im allgemeinen wenig nachdachte, ist einfach: Munizipalitäten, wie jegliche<br />
Einrichtungen <strong>der</strong> Demokratie überhaupt, können ihre Tätigkeit nur auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
stabiler gesellschaftlicher Beziehungen, das heißt eines bestimmten Eigentumssystems<br />
ausüben. Das Wesen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht aber darin, daß sie eben diese Grundlage<br />
aller Grundlagen in Frage stellt, die zu beantworten lediglich die offene revolutionäre<br />
Nachprüfung des Verhältnisses <strong>der</strong> Klassenkräfte imstande ist. Die Sowjets waren,<br />
entgegen <strong>der</strong> Politik ihrer Leiter, Kampforganisationen <strong>der</strong> unterdrückten Klassen, die<br />
sich teils bewußt, teils halbbewußt zusammenschlossen, um die Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaftsordnung<br />
zu än<strong>der</strong>n. Die Munizipalitäten dagegen gaben allen Bevölkerungsklassen,<br />
auf die Abstraktion Bürger gebracht, gleichmäßige Vertretung und ähnelten unter<br />
den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sehr einer diplomatischen Konferenz, die sich in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 240
konventioneller, heuchlerischer Sprache zu verständigen sucht, indes die in ihr vertretenen<br />
feindlichen Lager sich fieberhaft auf den Kampf vorbereiten. Im Alltagstrott <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> konnten die Munizipalitäten noch ihr Scheindasein fristen. Jedoch an Wendepunkten,<br />
wo das Eingreifen <strong>der</strong> Massen die weitere Richtung <strong>der</strong> Ereignisse bestimmte,<br />
mußten die Muntzipalitäten auffliegen und ihre Bestandteile auf vcrschiedenen Seiten <strong>der</strong><br />
Barrikade stehen. Es genügte, die parallelen Rollen <strong>der</strong> Sowjets und Munizipalitäten in<br />
<strong>der</strong> Zeit von Mai bis Oktober gegenüberzustellen, um das Schicksal <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung beizeiten vorauszusehen.<br />
Mit <strong>der</strong> Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung übereilte sich die Koalitionsregierung<br />
nicht. Die Liberalen, die, entgegen <strong>der</strong> demokratischen Arithmetik, in <strong>der</strong><br />
Regierung in <strong>der</strong> Mehrzahl waren, hatten es gar nicht eilig, in <strong>der</strong> späteren Konstituierenden<br />
Versammlung, wie jetzt in den neuen Dumas, den ohnmächtigen rechten Flügel zu<br />
bilden. Die "Son<strong>der</strong>beratung über die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung"<br />
begann erst Ende Mai, drei Monate nach <strong>der</strong> Umwälzung, ihre Tätigkeit. Die liberalen<br />
Juristen spalteten jedes Haar in sechzehn Teile, rührten und schüttelten in Kolben den<br />
ganzen demokratischen Bodensatz, stritten endlos über das Wahlrecht <strong>der</strong> Armee, und<br />
darüber, ob Deserteure, die nach Millionen zählten und Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> früheren Zarenfamihe,<br />
die einige Dutzend ausmachten, Stimmrecht zu bekommen hätten o<strong>der</strong> nicht. Uber<br />
den Termin <strong>der</strong> Einberufung wurde nach Möglichkeit geschwiegen. Diese Frage in <strong>der</strong><br />
Beratungskommission aufzuwerfen, galt überhaupt als Taktlosigkeit, <strong>der</strong>en nur die<br />
Bolschewiki fähig waren.<br />
Wochen vergingen, aber entgegen den Hoffnungen und Voraussagen <strong>der</strong> Versöhnler<br />
starben die Sowjets nicht ab. Durch ihre Führer eingeschläfert und verwirrt, verfielen<br />
allerdings auch sie zeitweilig hochgradiger Erschöpfung, doch das erste Gefahrensignal<br />
stellte sie wie<strong>der</strong> auf die Beine und erwies damit für alle unbestreitbar die Sowjets als die<br />
Herren <strong>der</strong> Lage. Obgleich sie dauernd versuchten, die Sowjets zu sabotieren, waren die<br />
Sozialrevolutionäre und Menschewiki in allen wichtigen Fällen doch gezwungen, <strong>der</strong>en<br />
Priorität anzuerkennen. Das fand seinen Ausdruck unter an<strong>der</strong>em darin, daß die besten<br />
Kräfte bei<strong>der</strong> Parteien in den Sowjets konzentriert waren. Die Munizipalitäten und<br />
Semstwos überließen sie zweitrangigen Männern, Technikern, Administratoren. Das<br />
gleiche konnte man auch bei den Bolschewiki beobachten. Nur die Kadetten, die zu den<br />
Sowjets keinen Zutritt hatten, konzentrierten ihre besten Kräfte in den Organen <strong>der</strong><br />
Selbstverwaltung. Aber die hoffnungslose bürgerliche Min<strong>der</strong>heit vermochte nicht, sie zu<br />
ihrem Stützpunkt zu machen.<br />
Die Munizipalitäten betrachtete somit niemand als sein Organ. Über den wachsenden<br />
Antagonismus zwischen Arbeitern und Fabrikanten, Soldaten und Offizieren, Bauern und<br />
Gutsbesitzern konnte in den Munizipalitäten und Semstwos nicht so offen diskutiert<br />
werden wie im eigenen Kreise, im Sowjet einerseits und in den Privatsitzungen <strong>der</strong><br />
Reichsduma und sonstigen Beratungen <strong>der</strong> bürgerlichen Politiker an<strong>der</strong>erseits. Man kann<br />
sich mit dem Gegner wohl über Kleinigkeiten, nicht aber über Leben und Tod verständigen.<br />
Nimmt man die Marxsche Formel, daß die Regierung das Komitee <strong>der</strong> herrschenden<br />
Klasse ist, so muß man sagen, die wahren "Komitees" <strong>der</strong> um die Macht ringenden<br />
Klassen befanden sich außerhalb <strong>der</strong> Koalitionsregierung. In bezug auf den Sowjet, <strong>der</strong><br />
in <strong>der</strong> Regierung als Min<strong>der</strong>heit vertreten war, wurde das beson<strong>der</strong>s offensichtlich. Doch<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 241
traf das nicht weniger auf die bürgerliche Mehrheit zu. Die Liberalen hatten keine<br />
Möglichkeit, in Gegenwart <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> ernst und sachlich jene Fragen zu besprechen,<br />
die die Bourgeoisie am meisten berührten. Die Verdrängung Miljukows, des anerkannten<br />
und unbestrittenen Führers <strong>der</strong> Bourgeoisie, um den sich <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> Besitzenden scharte,<br />
hatte symbolischen Charakter, indem sie vollends offenbarte, daß die Regierung<br />
exzentrisch in jedem Sinne dieses Wortes war. Das Leben drehte sich um zwei Brennpunkte,<br />
von denen <strong>der</strong> eine rechts, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e links vom Mariinski-Palais lag.<br />
Ohne zu wagen, innerhalb <strong>der</strong> Regierung auszusprechen, was sie dachten, lebten die<br />
Minister in einer Atmosphäre selbstgeschaffener Konventionen. Die durch die Koalition<br />
verhüllte Doppelherrschaft wurde zur Schule für Doppelsinn, Doppelmoral und jegliche<br />
Zweideutigkeit überhaupt. Die Koalitionsregierung machte in den nächsten sechs<br />
Monaten eine Reihe von Krisen, Umgestaltungen und Umschichtungen durch, doch ihre<br />
Wesenszüge <strong>der</strong> Ohnmacht und Falschheit bewahrte sie bis zu ihrem Todestage.<br />
Die Offensive<br />
In <strong>der</strong> Armee wie im Lande vollzog sich eine ununterbrochene Umgruppierung <strong>der</strong><br />
Kräfte: die unteren Schichten verschoben sich nach links, die oberen nach rechts. In dem<br />
Maße, wie das Exekutivkomitee ein Werkzeug <strong>der</strong> Entente zur Zähmung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
wurde, verwandelten sich die Armeekomitees, geschaffen als Vertretung <strong>der</strong> Soldaten<br />
gegen den Kommandebestand, in Helfershelfer des Kommandobestandes gegen die<br />
Sofldaten.<br />
Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Komitees war sehr bunt. Es gab da nicht wenig patriotische<br />
Elemente, die aufrichtig den Krieg mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> identifizierten, mutig in die ihnen<br />
von oben aufgedrängte Offensive gingen und ihr Leben für eine fremde Sache ließen. In<br />
einer Reihe mit ihnen standen die Phrasenhelden, die Divisions- und Regiments-Kerenskis.<br />
Schließlich gab es auch nicht wenig Schlaumeier und Kriecher, die, nach Privilegien<br />
haschend, sich in die Komitees vor dem Schützengraben retteten. Jede<br />
Massenbewegung trägt, beson<strong>der</strong>s in ihrem ersten Stadium, all diese menschlichen Spielarten<br />
an die Oberfläche. Nur war die Versöhnlerperiode an Schwätzern und Chamäleons<br />
beson<strong>der</strong>s reich. Wenn Menschen das Programm formen, so formt das Programm auch<br />
die Menschen. Die Schule des Kontaktes wird in einer <strong>Revolution</strong> die Schule <strong>der</strong> Kniffe<br />
und Intrigen.<br />
Das Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft schloß die Möglichkeit <strong>der</strong> Schaffung einer Militärmacht<br />
aus. Die Kadetten hatten sich den Haß <strong>der</strong> Volksmassen zugezogen und waren<br />
gezwungen, sich in <strong>der</strong> Armee als Sozialrevolutionäre auszugeben. Die Demokratie<br />
dagegen konnte die Armee aus dem gleichen Grunde nicht erneuern, aus dem sie die<br />
Macht nicht zu übernehmen vermochte: das eine ist vom an<strong>der</strong>en untrennbar. Als Kuriosität,<br />
die jedoch die Lage grell beleuchtet, vermerkt Suchanow, daß die Provisorische<br />
Regierung in Petrograd nicht eine Truppenparade abgehalten hat: die Liberalen und die<br />
Generale wollten die Beteiligung des, Sowjets an einer Parade nicht, waren sich aber<br />
dessen bewußt, daß ohne den Sowjet eine Parade undenkbar war.<br />
Die höheren Offiziere schlossen sich immer enger den Kadetten an - und warteten, bis<br />
wie<strong>der</strong> reaktionärere Parteien das Haupt erheben würden. Die kleinbürgerliche Intelligenz<br />
vermochte in bedeuten<strong>der</strong> Zahl den unteren Offiziersbestand <strong>der</strong> Armee zu stellen,<br />
wie früher unter dem Zarismus. Aber sie war unfähig, ein Kommandokorps nach ihrem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 242
Ebenbilde zu schaffen, denn sie besaß kein eigenes Gesicht. Wie <strong>der</strong> ganze weitere<br />
Verlauf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gezeigt hat, konnte man das Kommandokorps entwe<strong>der</strong> fertig<br />
von Adel und Bourgeoisie übernehmen, wie das die Weißen taten, o<strong>der</strong> aber es auf <strong>der</strong><br />
Grundlage proletarischer Auslese schaffen und erziehen, wie es später die Bolschewiki<br />
vollbrachten. Den kleinbürgerlichen Demokraten war die eine wie die an<strong>der</strong>e Möglichkeit<br />
versagt. Sie waren gezwungen, alle zu überreden, anzuflehen, zu betrügen, und als<br />
dabei nichts herauskam, übergaben sie verzweifelt die Macht den reaktionären<br />
Offizieren, damit diese dem Volk die richtigen revolutionären Ideen einflößen sollten.<br />
Die Wunden <strong>der</strong> alten Gesellschaft brachen eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf und zerstörten<br />
den Organismus <strong>der</strong> Armee. Die nationale Frage in all ihren Variationen - und Rußland<br />
war an ihnen reich - erfaßte immer tiefer die Soldatenmasse, die mehr als zur Hälfte aus<br />
Nichtgroßrussen bestand. Auf verschiedenen Linien verflochten und kreuzten sich die<br />
nationalen Gegensätze mit den Klassen-Antagonismen. Die Regierungspolitik war auf<br />
dem nationalen Gebiet wie auf allen an<strong>der</strong>en schwankend und wirr und wirkte deshalb<br />
doppelt verräterisch. Einzelne Generalc spielten mit nationalen Formationen in <strong>der</strong> Art<br />
des »muselmännischen Korps mit französischer Disziplin« an <strong>der</strong> rumänischen Front.<br />
Und tatsächlich bewiesen die neuen nationalen Truppenteile in <strong>der</strong> Regel größere Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />
als die dcr alten Armee, denn sie wurden um eine neue Idee und uni ein<br />
neues Banner formiert. Diese nationale Lötung hielt jedoch nicht lange: sie wurde bald<br />
durch die Entwicklung des Klassenkampfcs gesprengt. Schon <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> nationalen<br />
Formierungen, <strong>der</strong> die Hälfte <strong>der</strong> Armee zu erfassen drohte, brachte diese in einen flüssigen<br />
Zustand, zersetzte ihre alten Teile, noch bevor die neuen sich heranbilden konnten.<br />
So kam das Unheil von allen Seiten.<br />
Miljukow schreibt in seiner <strong>Geschichte</strong>, die Armee sei durch den »Ideenkonflikt<br />
zwischen "revolutionärer" und normal-militärischer Disziplin, zwischen "Demokratisierung"<br />
<strong>der</strong> Armee und Erhaltung ihrer Kampffähigkeit« zerstört worden, wobei unter<br />
"normaler" Disziplin jene zu verstehen ist, die unter dem Zarismus bestand. Man sollte<br />
meinen, ein Historiker müßte es wissen, daß noch jede große <strong>Revolution</strong> die Vernichtung<br />
<strong>der</strong> alten Armee mit sich brachte, nicht als Folge des Zusammenpralls abstrakter Prinzipien<br />
<strong>der</strong> Disziplin, son<strong>der</strong>n lebcndiger Klassen. Die <strong>Revolution</strong> läßt nicht nur strenge<br />
Disziplin in <strong>der</strong> Armee zu, sie schafft sie auch. Aber diese Disziplin können nicht Vertreter<br />
<strong>der</strong> Klasse herstellen, die durch die <strong>Revolution</strong> gestürzt wurde.<br />
»Es ist eine evidente Tatsache«, schrieb am 26. September 1851 ein klugcr Deutscher<br />
dem an<strong>der</strong>en, »daß die Desorganisierung <strong>der</strong> Armeen und die gänzliche Lösung <strong>der</strong><br />
Disziplin sowohl Bedingung wie Resultat je<strong>der</strong> bisher siegreichen <strong>Revolution</strong> war.« Die<br />
gesamte <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschheit hat dieses einfache und unbestreitbare Gesetz fcstgestellt.<br />
Aber mit den Liberalen haben dies auch die <strong>russischen</strong> <strong>Sozialisten</strong>, die das Jahr<br />
1905 im Rücken hatten, nicht begriffen, obwohl sie wie<strong>der</strong>holt als ihre Lehrer jene<br />
beiden Deutschen nannten, von denen <strong>der</strong> eine Friedrich Engels hieß, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Karl<br />
Marx. Die Menschewiki glaubten allen Ernstes, daß die Armee, die eine Umwälzung<br />
vollbracht hatte, den alten Krieg unter dem alten Kommando fortsetzen werde. Und diese<br />
Menschen verschrien die Bolschewiki als Utopisten.<br />
General Brussilow hatte Anfang Mai in einer Konferenz des Hauptquartiers den<br />
Zustand des Kommandobestandes sehr genau charakterisiert: 15-20 Prozent paßten sich<br />
<strong>der</strong> neuen Ordnung aus Überzeugung an; ein Teil <strong>der</strong> Offiziere begann, mit den Soldaten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 243
zu liebäugeln und hetzte sie gegen den Kommandobestand auf, die Mehrzahl dagegen,<br />
etwa 75 Prozent, vermochte sich nicht anzupassen, fühlte sich beleidigt, hatte sich in ihrc<br />
Schale verkrochen und wußtc nicht, was zu beginnen. Die erdrückende Mehrheit <strong>der</strong><br />
Offiziere war überdies auch vom rein militärischen Standpunkt aus gesehen vollständig<br />
unfähig.<br />
Bei <strong>der</strong> Beratung mit den Generalen entschuldigten sich Kerenski und Skobeljew aus<br />
allen Kräften, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wegen, die - ach - "fortdauert" und <strong>der</strong> man Rechnung<br />
tragen müsse. Darauf erwidcrt <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>tgeneral Gurko, die Minister Moral<br />
lehrend: »Ihr sagt, die <strong>Revolution</strong> "dauert fort". Hört auf uns ... Stellt die <strong>Revolution</strong> ein<br />
und laßt uns, Militärs, unsere Pflicht bis ans Ende erfüllen.« Kerenski war mit allem<br />
Eifer bemüht, den Generalen entgegenzukommen, - bis einer von ihnen, <strong>der</strong> wackere<br />
Kornilow, ihn mit seinen Umarmungcn beinahe erdrückte.<br />
Während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bedeutet das Versöhnlertum die Politik fieberhaften Pendelns<br />
zwischen den Klassen. Kerenski war das verkörperte Pendeln. An die Spitze dcr Armee<br />
gestellt, die ohne klares und eindeutiges Regime überhaupt undenkbar ist, wurde<br />
Kerenski zum unmittclbaren Werkzeug ihrer Zersetzung. Denikin führt eine interessante<br />
Liste von Personen des höheren Kommandobestandes an, <strong>der</strong>en Absetzung das Ziel<br />
verfehlt hätte, obwohl eigentlich niemand und am wenigsten Kerenski wußte, wo dieses<br />
Ziel sich befand. Alexejew entließ den Hauptkommandierenden <strong>der</strong> Front, Russki, und<br />
den Armeekommandeur Radko-Dmitrjew wegen Schwäche und Nachgiebigkeit den<br />
Komitees gegenüber. Brussilow entfernte aus dem gleichen Grunde den verängstigten<br />
Judenitsch. Kerenski entließ Alexejew selbst und die Hauptkommandierenden <strong>der</strong><br />
Fronten, Gurko und Dragomirow, wegcn Wi<strong>der</strong>stand gegen die Demokratisierung <strong>der</strong><br />
Armee. Aus dem gleichen Grunde entfernte Brussilow General Kaledin und wurde in <strong>der</strong><br />
Folge selbst wegen übermäßiger Nachsicht mit den Komitees abgesetzt. Kornilow legte<br />
wegen seiner Unfähigkeit, sich nut <strong>der</strong> Demokratie zu vertragen, das Kommando des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Militärkreises nie<strong>der</strong>. Das verhin<strong>der</strong>te nicht seine Ernennung zum Kommandierenden<br />
<strong>der</strong> Front und später zum Höchstkommandierenden. Denikin wurde seines<br />
Postens als Chef beim Stabe Alexejews wegen offener Leibeigenschaftstendenzen enthoben,<br />
bald darauf aber zum Oberkommandierenden <strong>der</strong> Westfront ernannt. Dieses<br />
Bockspringen, das bewies, daß man oben nicht wußte, was man wollte, ging stufenweise<br />
abwärts bis zur Kompanie und beschleunigte den Zerfall <strong>der</strong> Armee.<br />
Während dic Kommissare von den Soldaten Gehorsam für die Offiziere for<strong>der</strong>ten,<br />
mißtrauten sie diesen selbst. Auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Offensive erklärte in <strong>der</strong> Sowjetsitzung in<br />
Mohilew, <strong>der</strong> Hauptstadt des Hauptquartiers, in Gegenwart Kerenskis und Brussilows ein<br />
Mitglied des Sowjets: »88 Prozent <strong>der</strong> Offiziere des Hauptquartiers schaffen durch ihre<br />
Handlungen die Gefahr konterrevolutionärer Vorgänge.« Für die Soldaten war das kein<br />
Geheimnis. Sie hatten vor <strong>der</strong> Umwälzung Zeit genug gehabt, ihre Offiziere kennenzulernen.<br />
Im Laufe des ganzen Mai variierten die Berichte <strong>der</strong> oberen wie <strong>der</strong> unteren<br />
Kommandobestandes den gleichen Gedanken: »Das Verhalten zur Offensive ist im allgemeinen<br />
ablehnend, beson<strong>der</strong>s bei <strong>der</strong> Infanterie.« Manchmal wird hinzugefügt: »etwas<br />
besser bei <strong>der</strong> Kavallerie und recht lebhaft bei <strong>der</strong> Artillerie.«<br />
Ende Mai, als die Truppen sich bereits zur Offensive aufstellten, telegraphierte <strong>der</strong><br />
Kommissar <strong>der</strong> 7. Armee an Kerenski »Bei <strong>der</strong> 12. Division sind das 48. Regiment in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 244
ganzer, das 45. und 46. Regiment in halber Frontstärke ausgerückt, das 47. Regiment<br />
weigert sich, auszurücken. Von den Regimentern <strong>der</strong> 13. Division ist das 50. Regiment<br />
annähernd in voller Stärke ausgerückt. Das 51. Regiment verspricht, morgen auszurükken,<br />
das 49. ist nicht vorschriftsmäßig ausgerückt, das 52. weigert sich, auszurücken und<br />
hat alle seine Offiziere verhaftet.« Ein solches Bild war fast überall zu beobachten. Auf<br />
die Meldung des Kommissars hin erfolgte die Antwort <strong>der</strong> Regierung: »Das 45., 46., 47.<br />
und 52. Regiment auflösen. Offiziere und Soldaten, die zum Ungehorsam aufreizten, vor<br />
Gericht stellen.« Das klang bedrohlich, schreckte aber nicht. Die Soldaten, die nicht<br />
mehr Krieg führen wollten, hatten we<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Auflösung noch vor dem Gericht<br />
Furcht. Bei <strong>der</strong> Aufstellung <strong>der</strong> Truppen war man nicht selten gezwungen, einen Tru~<br />
penteil gegen den an<strong>der</strong>en zu verwenden. Als Werkzeug <strong>der</strong> Re-pression dienten am<br />
häufigsten, wie unter dem Zaren, die Kosaken, jetzt aber wurden sie von <strong>Sozialisten</strong><br />
geleitet: ging es doch um die Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Am 4. Juni, weniger als vierzehn Tage vor Beginn <strong>der</strong> Offensive, meldete <strong>der</strong> Stabschef<br />
des Hauptquartiers: »Die Nordfront befindet sich noch immer im Zustand <strong>der</strong><br />
Gärung, die Verbrü<strong>der</strong>ung geht weiter, das Verhalten <strong>der</strong> Infanterie zur Offensive ist<br />
ablehnend... An <strong>der</strong> Westfront ist die Lage ungewiß. An <strong>der</strong> Südwestfront ist eine gewisse<br />
Besserung dcr Stimmung zu verzeichnen... Von <strong>der</strong> rumänischen Front ist keine beson<strong>der</strong>e<br />
Besserung zu melden, die Infanterie will nicht angreifen ...«<br />
Am 11. Juni 1917 schreibt <strong>der</strong> Kommandeur des 61. Regiments: »Mir und den Offizieren<br />
bleibt nur noch übrig, uns zu retten, da aus Petrograd ein Soldat <strong>der</strong> 5. Kompanie<br />
angekommen ist, ein Leninist ... Viele <strong>der</strong> besten Soldaten und Offiziere sind bereits<br />
davongelaufen.« Das Erscheinen eines einzigen Leninisten im Regiment genügte, die<br />
Offiziere zum Davonlaufen zu bringcn. Es ist klar, daß <strong>der</strong> betreffende Soldat die Rolle<br />
des ersten Kristalls in gesättigter Lösung spielte. Man braucht übrigens nicht zu glauben,<br />
daß es sich unbedingt um einen Bolschewiken handelte. Zu jener Zeit nannte <strong>der</strong><br />
Kommandobestand jeden Soldaten, <strong>der</strong> kühner als die an<strong>der</strong>en die Stimme gegen die<br />
Offensive erhob, einen Leninisten. Viele dieser "Leninisten" glaubten noch aufrichtig,<br />
Lenin sei von Wilhelm geschickt worden. Der Kommandeur des 61. Regiments versuchte,<br />
seine Soldaten mit Strafen seitens <strong>der</strong> Regierung zu schrecken. Ein Soldat gab ihm zur<br />
Antwort: »Wir haben die alte Regierung gestürzt, wir werden auch Kerenski hinausstochern.«<br />
Das waren neue Töne. Sie nährten sich von <strong>der</strong> Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki, liefen<br />
ihr aber weit voraus.<br />
Von <strong>der</strong> Schwarzmeerflotte, die unter Leitung <strong>der</strong> Sozialrolutionäre stand und, im<br />
Gegensatz zu den Kronstädtern, als Stütze des Patriotismus galt, wurde bereits Ende<br />
April eine Delegation von 300 Mann, mit dem flinken Studenten Batkin an <strong>der</strong> Spitze,<br />
<strong>der</strong> sich als Matrose verkleidet hatte, ins Land geschickt. An dieser Delegation roch<br />
vieles nach Maskerade; doch gab es auch aufrichtige Begeisterung. Die Delegation trug<br />
die Idee des Krieges bis zum Siege ins Land, doch benahmen sich die Zuhörer von<br />
Woche zu Woche feindseliger. Während die Schwarzmeerler den Ton ihrer Offensive-<br />
Predigt immer leiser stimmten, kam eine baltische Delegation nach Sewastopol, den<br />
Frieden zu propagieren. Die Nordlän<strong>der</strong> hatten im Süden einen größeren Erfolg als die<br />
Südlän<strong>der</strong> im Norden. Unter dem Einfluß <strong>der</strong> Kronstädter entwaffneten die Sewastopoler<br />
Matrosen am 8. Juni den Kom-mandobestand und verhafteten die verhaßtesten Offiziere.<br />
In <strong>der</strong> Sitzung des Rätekongresses vom 9. Juni fragte Trotzki, wie es geschehen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 245
konnte, daß »in dieser mustergültigen Schwarzmeerflotte, die über das ganze Land<br />
patriotische Deputationen geschickt hat, in diesem Nest des organisierten Patriotismus<br />
zu einem so kritischen Moment ein <strong>der</strong>artiger Ausbruch erfolgen konnte? Was beweist<br />
das?«. Eine Antwort wurdc ihm nicht zuteil.<br />
Unordnung und Kopflosigkeit in <strong>der</strong> Armee rieben alle auf, Mannschaft, Kommandeure<br />
und Komiteevertreter. Alle brauchten unverzüglich irgendeinen Ausweg. Die<br />
Spitzen wähnten, die Offensive würde die Unordnung überwinden und Klarheit schaffen.<br />
In gewissem Sinne war diese Annahme berechtigt. Wenn Zeretelli und Tschernow in<br />
Petrograd, unter Verwendung aller Modulationen dcr demokratischen Rhetorik, für die<br />
Offensive plädierten, so mußten die Komitees an <strong>der</strong> Front Hand in Hand mit den<br />
Offizieren den Kampf gegen das neue Regime in <strong>der</strong> Armee aufnehmen, ohne das die<br />
<strong>Revolution</strong> zwar undenkbar, das abcr mit dem Krieg nicht zu vereinbaren war. Die<br />
Folgen <strong>der</strong> Wendung stellten sich bald ein. »Mit jedem Tage wurden die Komitees immer<br />
rechter«, berichtet ein Seeoffizicr, »gleichzeitig jedoch machte sich das Sinken ihrer<br />
Autorität unter den Soldaten und Matrosen immer mehr bemerkbar.« Für den Krieg aber<br />
waren gerade Soldaten und Matrosen notwendig.<br />
Mit Zustimmung Kerenskis ging Brnssilow daran, Stoßbataillone aus Freiwilligen zu<br />
bilden, womit er die Kampfunfähigkeit <strong>der</strong> Armee offen eingestand. Diesem Werk<br />
schlossen sich unverzüglich die verschiedensten, meist recht abenteuerlichen Elemente<br />
an, wie Kapitän Murawjew, <strong>der</strong> später, nach dem Oktoberumsturz, zu den linken Sozialrevolutionären<br />
überlief, um dann, nach stürmischen und in ihrer Art glänzenden Taten,<br />
die Sowjetmacht zu verraten und von bolschewistischer o<strong>der</strong> eigener Kugel zu fallen. Es<br />
ist überflüssig zu sagen, daß die konterrevolutionären Offiziere gierig zu den Stoßbataillonen,<br />
als <strong>der</strong> legalen Form zur Sammlung ihrer Kräfte, Zuflucht nahmen. Die Idee fand<br />
jedoch bei <strong>der</strong> Soldatenmasse fast keinen Wi<strong>der</strong>hall. Abenteuerlustige Mädchen schufen<br />
Frauenbataillone, "schwarze Todeshusaren". Eines dieser Bataillone bildete im Oktober<br />
Kerenskis letzte bewaffnete Stütze bei <strong>der</strong> Verteidigung des Winterpalais. Doch all dies<br />
konnte <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> Vernichtung des deutschen Militarismus wenig dienen.<br />
Die Offensive, die das Hauptquartier den Alliierten für die ersten Frühlingstage<br />
versprochen hatte, wurde von Woche zu Woche verschoben. Nun aber lehnte die Entente<br />
weitere Vertagungen energisch ab. Die Alliierten waren in den Mitteln, den sofortigen<br />
Angriff zu erpressen, nicht wählerisch. Neben den pathetischen Beschwörungen Van<strong>der</strong>veldes<br />
wurden auch Drohungen, die Lieferung von Munition einzustellen, angewandt.<br />
Der italienische Generalkonsul in Moskau erklärte, und zwar nicht in <strong>der</strong> italienischen,<br />
son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Presse, die Alliierten würden im Falle eines Separatfriedens<br />
seitens Rußlands Japan volle Aktionsfreiheit in Sibirien gewähren. In patriotischer<br />
Begeisterung druckten liberale Zeitungen, nicht etwa in Rom, son<strong>der</strong>n in Moskau, diese<br />
frechen Drohungen ab, wobei sie den Schwerpunkt <strong>der</strong> Frage vom Separatfrieden auf die<br />
Verzögerung <strong>der</strong> Offensive verschoben. Die Alliierten legten sich auch in an<strong>der</strong>er<br />
Hinsicht keinen Zwang auf; so sandten sie zum Beispiel <strong>der</strong> Artillerie bewußt Ausschußmaterial:<br />
35% <strong>der</strong> Geschütze, die das Ausland geliefert hatte, waren nach einem zweiwöchigen,<br />
mäßigen Schießen unbrauchbar. England machte Schwierigkeiten mit den<br />
Anleihen. Dagegen eröffnete <strong>der</strong> neue Gönner, Amerika, ohne Wissen Englands, <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung für die kommende Offensive einen Kredit von 75 Millionen<br />
Dollar.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 246
Während die russische Bourgeoisie die Erpressungen <strong>der</strong> Alliierten unterstützte und<br />
eine wilde Agitation für die Offensive führte, schenkte sie selbst dieser Offensive kein<br />
Vertrauen; sie zeichnete nicht einmal die Freiheitsanleihe. Die gestürzte Monarchie<br />
benutzte inzwischen die Gelegenheit, um sich in Erinnerung zu bringen: in einer Erklärung<br />
an die Provisorische Regierung äußerten die Romanows den Wunsch, die Anleihe<br />
zu zeichnen, wobei sie hinzufügten: »Die Höhe <strong>der</strong> Zeichnung wird davon abhängen, ob<br />
die Staatskasse den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Zarenfamilie Unterhaltungsgel<strong>der</strong> geben wird.« All<br />
das las die Armee, <strong>der</strong> bekannt war, daß die Mehrheit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung wie<br />
auch die Mehrheit des höheren Offiziersstandes wie bisher auf die Wie<strong>der</strong>errichtung <strong>der</strong><br />
Monarchie hoffte.<br />
Die Gerechtigkeit erfor<strong>der</strong>t, zu verzeichnen, daß nicht alle im Lager <strong>der</strong> Alliierten mit<br />
den Van<strong>der</strong>velde, Thomas und Cachin, die die russische Armee in den Abgrund stießen,<br />
einverstanden waren. Es gab auch wamende Stimmen. »Die russische Armee ist nur eine<br />
Fassade«, sagte General Pétain, »sie wird zerfallen, sobald sie sich vom Platz rührt.« Im<br />
gleichen Sinne äußerte sich ferncr die amerikanische Mission. Es siegten jedoch an<strong>der</strong>e<br />
Erwägungen. Man mußte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Seele herausprügeln. »Die deutsch-russische<br />
Verbrü<strong>der</strong>ung«, erklärte später Painlevé, »schuf solche Verwüstungen (faisait de tels<br />
ravages), daß es das Risiko ihrer schnellsten Auflösung bedeutete, wollte man die russische<br />
Armee ohne Bewegung lassen.«<br />
Die Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive auf <strong>der</strong> politischen Linie führten Kerenski und Zeretelli,<br />
anfangs in Heimlichkeit sogar vor den nächsten Gesinnungsgenossen. Während die<br />
halb eingeweihten Führer noch weiterhin von <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> faselten,<br />
betonte Zeretelli immer entschiedener die Notwendigkeit, die Armee für aktive Handlungen<br />
bereitzuhalten. Länger als dic an<strong>der</strong>en wi<strong>der</strong>setzte sich, das heißt kokettierte Tschernow.<br />
In <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung vom 17. Mai unterwarf man den<br />
"Bauernminister", wie er sich nannte, einem hochnotpeinlichen Verhör, ob es wahr sei,<br />
daß er in einer Versammlung von <strong>der</strong> Offensive ohne die nötige Sympathie gesprochen<br />
habe. Es ergab sich, daß Tschernow sich so ausgedrückt hatte: Die Offensive gehe ihn,<br />
den Politiker, nichts an, das sei Sache <strong>der</strong> Strategen an <strong>der</strong> Front. Diese Menschen spielten<br />
Versteck sowohl mit dem Krieg wie mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Allerdings nur bis zu einem<br />
bestimmten Zeitpunkt.<br />
Die Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive war selbstverständlich vom gesteigerten Kampf gegen<br />
die Bolschewiki begleitet. Immer häufiger wurdcn diese <strong>der</strong> Bestrebungen für Separatfrieden<br />
beschuldigt. Die Erkenntnis, daß <strong>der</strong> Separatfrieden <strong>der</strong> Ausweg sein werde, war<br />
in <strong>der</strong> Situation von selbst gegeben, das heißt in <strong>der</strong> Schwäche und Erschöpfung<br />
Rußlands im Vergleich mit den übrigen kriegführenden Län<strong>der</strong>n. Doch hatte noch<br />
niemand die Kraft des neuen Faktors, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, zu ermessen vermocht. Die<br />
Bolschewiki meinten, daß man <strong>der</strong> Perspektive des Separatfriedens nur dann ausweichen<br />
könne, wenn man mutig und restlos die Kraft und Autorität <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> dem Kriege<br />
entgegenstelle. Dazu war vor allem notwendig, das Bündnis mit <strong>der</strong> eigenen Bourgeoisie<br />
zu zerreißen. Am 9. Juni erklärte Lenin auf dem Rätekongreß: »Wenn man behauptet,<br />
daß wir den Separatfrieden anstreben, so ist das unwahr. Wir sagen: keinen Separatfrieden,<br />
mit keinen Kapitalisten, vor allem nicht mit den <strong>russischen</strong>. In dcr Provisorischen<br />
Regierung dagegen herrscht Separatfrieden mit den <strong>russischen</strong> Kapitalisten. Nie<strong>der</strong> nüt<br />
diesem Separatfrieden!.« »Beifall«, vermerkt das Protokoll. Das war <strong>der</strong> Beifall einer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 247
kleinen Kongreßmin<strong>der</strong>heit, und gerade deshalb ein beson<strong>der</strong>s heißer.<br />
Im Exekutivkomitee fehlte den einen noch die Entschlossenheit, die an<strong>der</strong>en wollten<br />
sich zuvor mit einem autoritativsten Organ decken. Im letzten Moment wurde beschlossen,<br />
Kerenski zur Kenntnis zu bringen, daß es unerwünscht sei, den Befehl zur Offensive<br />
zu erteilen, bevor <strong>der</strong> Rätekongrcß die Frage gelöst hätte. Die von <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong><br />
Bolschewiki in <strong>der</strong> ersten Sitzung des Kongresses eingebrachte Erklärung lautete, »die<br />
Offensive kann die Armee nur endgültig desorganisieren, da sie ihre Teile gegeneinan<strong>der</strong><br />
stellen wird«, <strong>der</strong> »Kongreß muß dem gegenrevolutionären Druck Wi<strong>der</strong>stand leisten,<br />
o<strong>der</strong> aber die Verantwortung für diese Politik offen und restlos übernehmen«.<br />
Der Beschluß des Rätekongresses zugunsten <strong>der</strong> Offensive war nur eine demokratische<br />
Formalität. Alles war schon bereit. Die Artilleristen hielten die feindlichen Positionen<br />
längst unter Visier. In dem Befehl an Armee und Flotte vom 16. Juni setzte Kerenski<br />
unter Berufung auf den höchstkommandierenden, »von Siegen umwobenen Führer« die<br />
Notwendigkeit eines »sofortigen und entschlossenen Hiebes« auseinan<strong>der</strong> und endete mit<br />
den Worten: »Ich befehle euch - vorwärts!«<br />
In dem am Vorabend <strong>der</strong> Offensive geschriebenen und die Erklärung <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Fraktion auf dem Rätekongreß kommentierenden Artikel schrieb Trotzki: »Die<br />
Regierungspolitik untergräbt die Möglichkeit erfolgreicher militärischer Aktionen in <strong>der</strong><br />
Wurzel... Die materiellen Voraussetzungen <strong>der</strong> Offensive sind äußerst ungünstig. Die<br />
Ernährungsorganisation <strong>der</strong> Armee spiegelt den allgemeinen Wirtschafiszerfall wi<strong>der</strong>,<br />
gegen den auch nur eine radikalc Maßnahme zu treffen die Regierung in ihrer heutigen<br />
Zusammensetzung außerstande ist. Die geistigen Voraussetzungcn <strong>der</strong> Offensive sind in<br />
noch höherem Maße ungünstig ... Die Regierung ... hat ihre Unfähigkeit, Rußlands<br />
Politik unabhängig von den imperialistischen Alliierten zu bestimmen, ... vor <strong>der</strong> Armee<br />
entblößt. Die Massendesertion ... hört unter den heutigen Bedingungen auf, einfach das<br />
Resultat bösen Einzelwillens zu sein, und wird <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> völligen Unfähigkeit <strong>der</strong><br />
Regicning, die revolutionäre Armee durch innere Einheitlichkeit <strong>der</strong> Ziele zusammenzuschweißen...«<br />
Indem er weiter darauf verwies, daß die Regierung die »sofortige Abschaffung<br />
des gutsherrlichen Bodenbesitzes, das heißt die einzige Maßnahme, die den<br />
rückständigsten Bauern überzeugen könnte, daß diese <strong>Revolution</strong> seine <strong>Revolution</strong>« ist,<br />
nicht zu beschließen wage, endet <strong>der</strong> Artikel rait den Worten: »Unter solchen materiellen<br />
und geistigen Bedingungen muß die Offensive unvermeidlich den Charakter eines<br />
Abenteuers erhalten.«<br />
Der Kommandobestand glaubte fast durchweg, daß die in militärischer Hinsicht<br />
hoffnungslose Offensive ausschließlich aus politischen Erwägungen erfor<strong>der</strong>lich sei.<br />
Nachdem Denikin seine Front bereits hatte, meldete er Brussilow: »Ich glaube an keinen<br />
Erfolg <strong>der</strong> Offensive.« Das letzte Element <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit brachte die Untauglichkeit<br />
des Kommandobestandes selbst hinein. Der Offizier und Patriot Stankewitsch<br />
bezeugt, daß ein Sieg vom Standpunkt <strong>der</strong> technischen Vorbereitung ausgeschlossen war,<br />
unabhängig von <strong>der</strong> moralischen Verfassung <strong>der</strong> Truppen: »Die Offensive war unter aller<br />
Kritik organisiert.« Eine Offiziersdelegation mit dem Vorsitzenden des Offiziersverbandes,<br />
dem Kadetten Nowosilzew, an <strong>der</strong> Spitze, suchte die Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei auf<br />
und warnte sie, die Offensive werde zu einem Mißerfolg verurteilt sein und zur Vernichtung<br />
<strong>der</strong> besten Tmppenteile führen. Die höheren Stellen entledigten sich <strong>der</strong> Warnungen<br />
mit allgemeinen Phrasen: »Es glimmte die Hoffnung«, sagte <strong>der</strong> Stabschef des Haupt-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 248
quartiers, <strong>der</strong> reaktionäre General Lukomski, »daß <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> erfolgreichen Kämpfe<br />
die Massenpsychologie vielleicht verän<strong>der</strong>n und den Vorgesetzten die Möglichkeit geben<br />
werde, die ihren Händen entfallenen Zügel wie<strong>der</strong> straffzuziehen« Darin eben bestand<br />
das eigentliche Ziel: die Zügel straffzuziehen.<br />
Entsprechend einem längst ausgearbeiteten Plane bestand ursprünglich die Absicht, mit<br />
den Kräften <strong>der</strong> Südwestfront den Hauptschlag in <strong>der</strong> Richtung auf Lemberg zu führen;<br />
<strong>der</strong> Nord- und Westfront waren Hilfsaufgaben zugedacht. Der Angriff sollte gleichzeitig<br />
an allen Fronten beginnen. Bald aber wurde offenbar, daß dieser Plan die Kräfte des<br />
Kommandos weit überstieg. Es wurde deshalb beschlossen, an den einzelnen Fronten,<br />
beginnend mit den weniger wichtigen, <strong>der</strong> Reihe nach loszuschlagen. Aber auch dies<br />
erwies sich als undurchführbar. »Nunmehr beschloß das Oberste Kommando«, sagte<br />
Denikin, »auf jede strategische Planmäßigkeit zu verzichten und gezwungenermaßen den<br />
Fronten zu überlassen, die Operationen nach Maßgabe ihrer Bereitschaft zu beginnen.«<br />
Alles wurde <strong>der</strong> Vorsehung anheimgestellt. Es fehlten nur noch die Heiligenbil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Zarin. Man venuchte sie durch die Heiligenbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Demokratie zu ersetzen. Kerenski<br />
reiste umher, beschwor, segnete. Die Offensive begann: am 16. Juni an <strong>der</strong> Südwestfront;<br />
am 7. Juli an <strong>der</strong> Westfront; am 8. an <strong>der</strong> Nordfront, am 9. an <strong>der</strong> rumänischen Front.<br />
Das Losschlagen <strong>der</strong> letzten drei Fronten, im Wesen fiktiv, traf bereits zusammen mit<br />
dem Beginn des Zusammenbruches <strong>der</strong> wichtigsten, das heißt <strong>der</strong> Südwestfront.<br />
Kerenski meldete <strong>der</strong> Provisorischen Regierung: »Heute ist das große Fest <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Am 18. Juni ist die russische revolutionäre Armee mit höchster Begeisterung zum<br />
Angriff übergegangen.« »Das langersehnte Ereignis ist eingetreten«, schrieb die<br />
'Rjetsch', das Blatt <strong>der</strong> Kadetten, »das die guten Tage <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> mit<br />
einem Schlage zurückbrachte.« Am 19. Juni deklamierte <strong>der</strong> Greis Plechanow bei einer<br />
patriotischen Kundgebung: »Bürger! Wenn ich euch frage, welcher Tag heute ist, werdet<br />
ihr mir sagen: Montag. Aber das ist ein Irrtum: heute ist Sonntag, ein Sonntag für unser<br />
Land und für die Demokratie <strong>der</strong> ganzen Welt. Rußland, das das Joch des Zarismus<br />
abgeschüttelt hat, hat beschlossen, auch das Joch des Feindes abzuschütteln.« Zeretelli<br />
erklärte am selben Tage auf dem Rätekongreß: »Es beginnt eine neue Seite in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> großen Russischen Re-volution ...« »Nicht allein die russische Demokratie<br />
muß die Erfolge unserer revolutionären Armee begrüßen, son<strong>der</strong>n auch ... alle jene,<br />
die einen Kampf gegen den Imperialismus wirklich anstreben.« Die patriotische<br />
Demokratie hatte alle ihre Schleusen geöffnet.<br />
Die Zeitungen brachten inzwischen die freudige Nachricht: »Die Pariser Börse<br />
begrüßt die russische Offensive mit dem Steigen aller <strong>russischen</strong> Wertpapiere.« Die<br />
<strong>Sozialisten</strong> versuchten, die Festigkeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> am Kurszettel zu prüfen. Die<br />
<strong>Geschichte</strong> aber lehrt, daß die Börse sich um so besser fühlt, je schlechter es <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
geht.<br />
Die Arbeiter und die Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt waren keinen Augenblick von <strong>der</strong> Welle<br />
des künstlich aufgewärmten Patriotismus erfaßt. Sein Schauplatz blieb <strong>der</strong> Newskij-Prospekt<br />
»Wir gingen auf den Newsktj«, erzählt <strong>der</strong> Soldat Tschinenow in seinen Erinnerungen,<br />
»und versuchten gegen die Offensive zu agitieren. Da stürzten sich die Bourgeois<br />
mit Schirmen auf uns ... Wir ergriffen die Bourgeois, schleppten sie in die Kasernen...<br />
und sagten ihnen, sie würden morgen an die Front geschickt werden.« Das waren schon<br />
Zeichen des heranziehenden Ausbruches des Bürgerkrieges: es nahten die Julitage.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 249
Am 21. Juni beschloß das Maschinengewehrregiment in Petrograd in allgemeiner<br />
Versammlung: »Wir werden in <strong>der</strong> Zukunft nur dann Kommandos an die Front schicken,<br />
wenn <strong>der</strong> Krieg einen revolutionären Charakter tragen wird« ... Auf die Drohung mit<br />
Auflösung antwortete das Regiment, es werde vor <strong>der</strong> Auflösung »<strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung und <strong>der</strong> sie unterstützenden Organisationen« nicht haltmachen. Wir vernehmen<br />
hier wie<strong>der</strong>um eine Note <strong>der</strong> Drohung, die <strong>der</strong> Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki weit<br />
vorauslief.<br />
Die Chronik <strong>der</strong> Ereignisse vermerkt unter dem 23. Juni: »Teile <strong>der</strong> II. Armee erobern<br />
die erste und die zweite Schützengrabenlinie des Feindes« ... Und gleich danach: »In <strong>der</strong><br />
Fabrik von Baranowski (6.000 Arbeiter) sind Neuwahlen für den Petrogra<strong>der</strong> Sowjet<br />
vorgenommen worden. An Stelle <strong>der</strong> drei Sozialrevolutionäre wurden drei Bolschewiki<br />
gewählt.«<br />
Gegen Ende des Monats war die Physiognomie des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets bereits bedeutend<br />
verän<strong>der</strong>t. Allerdings nahm er am 20. Juni noch eine Begrüßungsdelegation für die<br />
im Vormarsch begriffene Armee an. Aber mit welcher Mehrheit? 472 gegen 271<br />
Stimmen bei 39 Stimmenthaltungen. Das ist ein völlig neues Kräfteverhältnis, dem wir<br />
bisher nicht begegneten. Zusammen mit den linken Grüppchen <strong>der</strong> Menschewiki und<br />
Sozialrevolutionäre bilden die Bolschewiki bereits zwei Fünftel des Sowjets. Das bedeutet,<br />
in Betrieben und Kasernen sind die Gegner <strong>der</strong> Offensive eine unbestrittene<br />
Mehrheit.<br />
Der Wyborger Bezirkssowjet nahm am 24. Juni eine Resolution an, in <strong>der</strong> jedes Wort<br />
ein Hammerschlag ist: »Wir .. . protesticren gegen die Abenteuer <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung, die für alte Raubverträge die Offensive führt ... und wir schieben <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung und den sie unterstützenden Parteien <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
die ganze Verantwortung für diese Politik <strong>der</strong> Offensive zu.« Der nach <strong>der</strong><br />
Februarumwälzung zurückgedrängte Wyborger Bezirk rückte jetzt zuversichtlich auf den<br />
ersten Platz vor. Im Wyborger Sowjet herrschten die Bolschewiki bereits völlig.<br />
Jetzt hing alles vom Schicksal <strong>der</strong> Offensive ab, das heißt von den Schützengrabensoldaten.<br />
Welche Verän<strong>der</strong>ungen rief die Offensive im Bewußtsein jener hervor, die sie zu<br />
vollziehen hatten? Unbewußt strebten sie nach Frieden. Doch gelang es den<br />
Regierenden, gerade dieses Streben bis zu einem gewissen Grade, mindestens bei einem<br />
Teil <strong>der</strong> Soldaten und für ganz kurze Zeit, in die Bereitschaft zum Angriff umzuwandeln.<br />
Die Soldaten hatten nach <strong>der</strong> Umwälzung von <strong>der</strong> neuen Macht den baldigen Friedensschluß<br />
erwartet und bis dahin sich bereit gefunden, die Front zu halten. Der Frieden<br />
jedoch kam nicht. Teils unter dem Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki, hauptsächlich aber auf <strong>der</strong><br />
Suche nach eigenen Wegen zum Frieden, begannen die Soldaten Verbrü<strong>der</strong>ungsversuche<br />
mit den Deutschen und Österreichern. Nun setzte jedoch gegen die Verbrü<strong>der</strong>ung eine<br />
Hetze von allen Seiten ein. Außerdem ergab sich, daß die deutschen Soldaten ihren<br />
Offizieren noch lange nicht den Gehorsam verweigerten. So wurde die Verbrü<strong>der</strong>ung,<br />
die zu keinem Frieden geführt hatte, stark eingedämmt.<br />
An <strong>der</strong> Front herrschte inzwischen faktisch Waffenstillstand, den die Deutschen zu<br />
riesigen Truppenverschiebungen an die Westfront benutzten. Die <strong>russischen</strong> Soldaten<br />
beobachtcten, wie die feindlichen Schützengräben sich leerten, die Maschinengewehre<br />
entfernt, die Kanonen abtransportiert wurden. Darauf eben baute man den Plan <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 250
moralischen Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive auf. Man flößte den Soldaten systematisch den<br />
Gedanken ein, <strong>der</strong> Feind sei völlig geschwächt, seine Kraft reiche nicht mehr aus, im<br />
Westen werde er von Amerika bedrängt, und es genüge unsererseits ein leichter Stoß,<br />
damit die feindliche Front auseinan<strong>der</strong>falle und wir Frieden bekämen. Die Regierenden<br />
glaubten daran nicht eine einzige Stunde. Aber sie verließen sich darauf, daß die Armee,<br />
die Hand erst einmal in die Kriegsmaschine hineingesteckt, nicht mehr imstande sein<br />
würde, sie zurückzuziehen.<br />
Da we<strong>der</strong> die Diplomatie <strong>der</strong> Provisorischen Regierung noch die Verbrü<strong>der</strong>ung zum<br />
Ziele geführt hatten, neigte ein Teil <strong>der</strong> Soldaten zweifellos zum dritten Weg: den Stoß<br />
zu geben, durch den <strong>der</strong> Krieg in Asche zerfallen müsse. Auf dem Rätekongreß gab ein<br />
Frontdelegierter die Stimmung <strong>der</strong> Soldaten gerade so wie<strong>der</strong>: »Vor uns liegt die jetzt<br />
stark gelichtete deutsche Front, vor uns stehen jetzt keine Kanonen; gehen wir los und<br />
werfen den Feind um, dann sind wir dem ersehnten Frieden nähergekommen.«<br />
Der Feind erwies sich anfangs tatsächlich als sehr schwach und zog sich zurück, ohne<br />
den Kampf anzunehmen, den zu liefern die Angreifer allerdings auch nicht imstande<br />
gewesen wären. Der Feind zerfiel aber durchaus nicht, son<strong>der</strong>n gruppierte sich um und<br />
zog seine Kräfte zusammen. Nachdem sie 20-30 Kilometer vorgegangen waren, eröffnete<br />
sich den <strong>russischen</strong> Soldaten ein Bild, das ihnen aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> vergangenen<br />
Jahre nur zu gut bekannt war: <strong>der</strong> Feind erwartete sie auf neuen, befestigten Positionen.<br />
Und da offenbarte sich auch, daß, wenn die Soldaten auch noch einverstanden gewesen<br />
waren, einen Stoß zugunsten des Friedens zu führen, sie keinesfalls den Krieg wollten.<br />
Durch Gewalt, moralischen Druck und hauptsächlich Täuschung in diesen<br />
hineingezogen, machten sie um so entrüsteter kehrt.<br />
»Nach einer artilleristischen Vorbereitung, wie man sie ihrer Stärke und Größe nach<br />
russischerseits noch nie gesehen hatte«, schreibt <strong>der</strong> russische Geschichtsschreiber des<br />
Weltkrieges, General Sajontschkowski, »besetzten die Truppen fast ohne Verluste die<br />
feindlichen Positionen und wollten nicht weiter vorgehen. Es begann eine Massendesertion,<br />
ganze Truppenteile verließen die Stellungen.«<br />
Der ukrainische Politiker Doroschenko, ehemaliger Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung in Galizien, erzählt, nach <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Städte Galitsch und Kalusch<br />
»erfolgte in Kalusch sofort ein furchtbarer Pogrom gegen die Bevölkerung, ausschließlich<br />
Ukrainer und Juden, - die Polen tastete man nicht an. Den Pogrom leitete irgendeine<br />
erfahrene Hand, die beson<strong>der</strong>s auf die ukrainischen kulturell aufklärenden<br />
Institutionen in <strong>der</strong> Stadt hinwies.« Am Pogrom beteiligten sich »die besten, durch die<br />
<strong>Revolution</strong> am wenigsten demoralisierten« Truppenteile, die für die Offensive sorgfältigst<br />
ausgesucht worden waren. Aber noch offener enthüllten dabei ihr Antlitz die Führer<br />
<strong>der</strong> Offensive, die alten zaristischen Kommandeure, erprobte Pogromorganisatoren.<br />
Am 9. Juli telegraphienen Komitees und Kommissare <strong>der</strong> II. Armee an die Regierung:<br />
»Die am 6. Juli an <strong>der</strong> Front <strong>der</strong> II. Armee begonnene deutsche Offensive wächst sich zu<br />
einem unermeßlichen Unglück aus ... In <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Truppenteile, die vor kurzem<br />
mit heroischer Anstrengung <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit in Bewegung gebracht wurden, vollzieht sich<br />
ein schroffer und katastrophaler Umschwung. Der Angriffselan hat sich schnell<br />
erschöpft. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Truppenteile befindet sich im Zustande stetig wachsen<strong>der</strong><br />
Auflösung. Von Vorgesetzten und Gehorsam kann nicht mehr die Rede sein, Überredungen<br />
und Ermahnungen haben ihre Kraft verloren, - sie werden mit Bedrohungen o<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 251
auch mit Erschießung beantwortet.«<br />
Der Oberkommandierende <strong>der</strong> Südwestfront erließ mit Zustimmung <strong>der</strong> Kommissare<br />
und Komitees einen Befehl, auf Fliehende zu schießen.<br />
Am 12. Juli kehrte <strong>der</strong> Oberkommandierende <strong>der</strong> Westfront, Denikin, zu seinem Stab<br />
zurück »mit Verzweiflung im Herzen und mit dem klaren Bewußtsein des völligen Zusammenbruchs<br />
<strong>der</strong> letzten noch glimmenden Hoffnung auf ... ein Wun<strong>der</strong>«.<br />
Die Soldaten wollten nicht kämpfen. Die Truppen in <strong>der</strong> Etappe, an die sich die<br />
geschwächten Truppenteile nach Besetzung <strong>der</strong> feindlichen Schützengräben um Ersatz<br />
wandten, antworteten: »Weshalb seid ihr zum Angriff übergegangen? Wer hat es euch<br />
befohlen? Beenden soll man den Krieg, aber nicht angreifen.« Der Kommandeur des 1.<br />
Sibirischen Korps, das als eines <strong>der</strong> besten galt, meldete, daß die Soldaten mit Einbruch<br />
<strong>der</strong> Nacht in Scharen, kompanieweise, die nicht attackierte erste Linie zu verlassen<br />
begannen. »Ich begrift daß wir Vorgesetzten ohnmächtig waren, die elementare Psychologie<br />
<strong>der</strong> Soldatenmasse zu än<strong>der</strong>n1 - und habe bitter, bitter und lange geweint.e<br />
Eine Kompanie weigerte sich sogar, dem Gegner ein Flugblatt über die Einnahme<br />
Galitschs zuzuwerfen, solange nicht ein Soldat da sei, <strong>der</strong> zuvor den deutschen Text ins<br />
Russische übersetzen könnte. Diese Tatsache zeigt den ganzen Umfang des Mißtrauens<br />
<strong>der</strong> Soldatenmasse zur Führung, sei es jetzt die alte, sei es die neue vom Februar. Die<br />
jahrhun<strong>der</strong>telang erduldeten Verhöhnungen und Mißhandlungen drangen vulkanisch<br />
nach außen. Dic Soldaten fühlten sich wie<strong>der</strong>um betrogen. Die Offensive führte nicht<br />
zum Frieden, son<strong>der</strong>n zum Krieg. Die Soldaten aber wollten keinen Krieg. Und sie hatten<br />
recht. Die im Hinterlande verkrochenen Patrioten hetzten und brandmarkten die Soldaten<br />
als Drückeberger. Doch die Soldaten hatten recht. Es leitete sie ein richtiger nationaler<br />
Instinkt, hervorgebrochen aus dem Bewußtsein unterjochter, betrogener, geschundener,<br />
von revolutionärer Hoffnung aufgerichteter und wie<strong>der</strong> in den blutigen Trog hinabgestürzter<br />
Menschen. Die Soldaten hatten recht. Die Fortsetzung des Krieges konnte deni<br />
<strong>russischen</strong> Volke nichts bringen als neue Opfer, Erniedrigungen, Nöte, nichts als<br />
Verschärfung <strong>der</strong> inneren und äußeren Knechtschaft.<br />
Die patriotische Presse, nicht nur die kadettische, son<strong>der</strong>n auch die sozialistische, war<br />
im Jahre 1917 darin unermüdlich, den <strong>russischen</strong> Soldaten, den Deserteuren und Feiglingen<br />
die heroischen Bataillone <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong> gegenüberzustellen.<br />
Diese Gegenüberstellungen verraten nicht nur Unverständnis für die Dialektik des<br />
revolutionären Prozesses, son<strong>der</strong>n auch völlige historische Unbildung.<br />
Die hervorragenden Feldherren <strong>der</strong> Französischen <strong>Revolution</strong> und des Imperiums<br />
begannen stets als Disziplinbrecher und Desorganisatoren; Miljukow würde sagen, als<br />
Bolschewiki. Der spätere Marschall Davoust zersetzte als Leutnant D'Avoust in den<br />
Jahren 1789-1790 monatelang die "normale" Disziplin in <strong>der</strong> Garnison Aisdenne, indem<br />
er die Vorgesetzten verjagte. In ganz Frankreich vollzog sich bis Mitte des Jahres 1790<br />
<strong>der</strong> Prozeß des völligen Verfalls <strong>der</strong> alten Armee. Die Soldaten des Vincenner Regiments<br />
zwangen die Offiziere, gemeinsam mit ihnen zu speisen. Die Flotte jagte ihre Offiziere<br />
davon. In 20 Regimentern wurden Gewaltakte gegen den Kommandobestand verübt. In<br />
Nancy sperrten drei Regimenter ihre Offiziere ins Gefängnis. Seit 1790 wurden die<br />
Führer <strong>der</strong> Französischen <strong>Revolution</strong> nicht müde, anläßlich <strong>der</strong> militärischen Exzesse zu<br />
wie<strong>der</strong>holen: »Die Exeku-tivmacht trägt die Schuld, da sie die Offiziere, die <strong>der</strong> Revolu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 252
tion feindlich sind, nicht absetzt.« Es ist bemerkenswert, daß für die Auflösung des alten<br />
Offizierskorps sowohl Mirabeau wie Robespierre plädierten. Der eine beabsichtigte, so<br />
schnell wie möglich die feste Disziplin aufzurichten. Der an<strong>der</strong>e wollte die Konterrevolution<br />
entwaffnen. Beide aber hatten begriffen: das Leben <strong>der</strong> alten Armee war zu Ende.<br />
Allerdings vollzog sich die Russische <strong>Revolution</strong> zum Unterschiede von <strong>der</strong> Französischen<br />
während des Krieges. Daraus aber ergibt sich keineswegs eine Ausnahme für das<br />
von Engels abgeleitete historische Gesetz. Im Gegenteil, die Bedingungen des langwierigen<br />
und unglücklichen Krieges vermochten den Prozeß <strong>der</strong> revolutionären Auflösung <strong>der</strong><br />
Armee nur zu beschleunigen und zu verschärfen. Die mißglückte und verbrecherische<br />
Offensive <strong>der</strong> Demokratie tat das übrige. Jetzt sagten die Soldaten bereits allgemein:<br />
»Genug des Blutvergießens! Wozu Freiheit und Boden, wenn wir nicht da sein werden?«<br />
Wenn die erleuchteten Pazifisten den Versuch unternehmen, den Krieg mittels rationalistischer<br />
Argumente abzuschaffen, wirken sie einfach lächerlich. Wenn aber die bewaffneten<br />
Massen beginnen, Argumente <strong>der</strong> Vernunft gegen den Krieg anzuführen, dann<br />
bedeutet dies das Ende des Krieges.<br />
Die Bauernschaft<br />
Das Fundament <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bildete die Agrarfrage. In den archaischen Rechtsverhältnissen<br />
auf dem Lande, die unmittelbar aus <strong>der</strong> Leibeigenschaft hervorgegangen<br />
waren, in <strong>der</strong> traditionellen Gewalt des Gutsbesitzers, in den engen Banden zwischen<br />
Gutsbesitzer, Lokaladministration und ständischer Landesverwaltung wurzelten die<br />
barbarischsten Erscheinungen des <strong>russischen</strong> Lebens, gekrönt durch die Rasputinsche<br />
Monarchie. Der Muschik, <strong>der</strong> die Stütze des jahrhun<strong>der</strong>tealten Asiatentums darstellte,<br />
war gleichzeitig eines seiner ersten Opfer.<br />
In den ersten Wochen nach <strong>der</strong> Februarumwälzung blieb das Dorf fast völlig reglos.<br />
Die aktivsten Jahrgänge befanden sich an <strong>der</strong> Front. Die älteren Generationen, die zu<br />
Hause geblieben waren, erinnerten sich nur zu gut an die Strafexpeditionen als das Ende<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Das Dorf schwieg, deshalb schwieg auch die Stadt über das Dorf. Doch<br />
das Gespenst des Bauernkrieges schwebte schon von den Märztagen an über den Gutsnestern.<br />
Aus den überwiegend adligen, das heißt rückständigsten und reaktionärsten<br />
Gouvernements erscholl <strong>der</strong> Hilferuf, bevor noch die wirkliche Gefahr sich offenbart<br />
hatte. Die Liberalen spiegelten trefflich die Ängste <strong>der</strong> Gutsbesitzer wi<strong>der</strong>. Die Versöhnler<br />
die Stimmung <strong>der</strong> Liberalen. »Das Agrarproblem in den nächsten Wochen zu forcieren«,<br />
räsonierte <strong>der</strong> "linke" Suchanow nach <strong>der</strong> Umwälzung, »ist schädlich, und es<br />
besteht nicht die geringste Notwendigkeit dafür.« Genauso wähnte Suchanow, wie wir<br />
wissen, daß es schädlich wäre, die Friedensfrage und den Achtstundentag zu forcieren.<br />
Sich vor Schwierigkeiten verkriechen war einfacher. Überdies schreckten die Gutsbesitzer<br />
noch damit, daß eine Erschütterung <strong>der</strong> Rechtszustände auf dem Lande sich auf<br />
Aussaat und Versorgung <strong>der</strong> Städte schädlich auswirken würde. Das Exekutivkomitee<br />
schickte warnende Telegramme ins Land, man möge sich »nicht zu Agrarakten zuungunsten<br />
<strong>der</strong> Städteversorgung hinreißen lassen«.<br />
An vielen Orten hielten die Gutsbesitzer, durch die <strong>Revolution</strong> erschrocken, mit <strong>der</strong><br />
Frühjahrsaussaat zurück. Bei <strong>der</strong> schwierigen Ernährungslage des Landes schrie <strong>der</strong><br />
unbestellte Boden gleichsam nach einem neuen Herrn. Die Bauernschaft rührte sich<br />
dumpf. Da sie <strong>der</strong> neuen Macht nicht vertrauten, schritten die Gutsbesitzer an die schleu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 253
nige Liquidierung ihrer Besitztümer. In <strong>der</strong> Berechnung, daß die Zwangsexpropriationen<br />
sich auf sie, als Bauern, nicht erstrecken würden, kauften die Kulaken in großem Maße<br />
Gutslän<strong>der</strong>eien auf. Zahlreiche Bodenverkäufe trugen vorsätzlich fiktiven Charakter.<br />
Man ging davon aus, daß <strong>der</strong> Privatbesitz unter einer bestimmten Norm verschont<br />
bleiben würde; in Anbetracht dessen teilten die Gutsbesitzer ihre Län<strong>der</strong>eien in kleine<br />
Reviere ein, die sie auf vorgeschobene Besitzer übertrugen. Nicht selten wurde <strong>der</strong><br />
Boden auf Auslän<strong>der</strong>, Bürger <strong>der</strong> alliierten o<strong>der</strong> neutralen Län<strong>der</strong>, überschrieben. Die<br />
Spekulationen <strong>der</strong> Kulaken und die Machenschaften <strong>der</strong> Gutsbesitzer drohten, vom<br />
Bodenfonds bis zur Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung nichts übrigzulassen.<br />
Das Dorf sah diese Manöver. Daher die For<strong>der</strong>ung: durch ein Dekret jeglichen Bodentransaktionen<br />
Einhalt zu gebieten. Von überall strömten Fürsprecher <strong>der</strong> Bauern in die<br />
Stadt, zu <strong>der</strong> neuen Behörde, Land und Wahrheit zu suchen. Nach erhabenen Disputen<br />
o<strong>der</strong> Ovationen stießen die Minister nicht selten beim Ausgang auf die grauen Gestalten<br />
<strong>der</strong> Bauerndeputierten. Suchanow erzählt, wie ein Bauernfürsprecher mit Tränen in den<br />
Augen die Bürger-Minister anflehte, ein Gesetz zu erlassen, das den Bodenfonds gegen<br />
Ausverkäufe schützen sollte. »Ungeduldig unterbrach ihn <strong>der</strong> erregte und blasse<br />
Kerenski: Ich habe gesagt, es wird gemacht, folglich wird es gemacht ... Und es ist nicht<br />
nötig, mich mit mißtrauischen Augen anzuschauen.« Suchanow, <strong>der</strong> dieser Szene<br />
beiwohnte, fügt hinzu: »Ich zitiere wörtlich, - und Kerenski hatte recht: mit mißtrauischen<br />
Augen blickten die Muschiks auf den berühmten Volksminister und Führer.« In<br />
diesem kurzen Dialog zwischen dem Bauern, <strong>der</strong> noch bittet, aber nicht mehr vertraut,<br />
und dem radikalen Minister, <strong>der</strong> das Mißtrauen des Bauern abwehrt, liegt die Unvermeidlichkeit<br />
des Zusammenbruchs des Februarregimes.<br />
Die Bestimmungen über die Landkomitees, als Vorbereitungsorgane für die Agrarreform,<br />
waren vom ersten Ackerbauminister, dem Kadetten Schingarow, erlassen worden.<br />
Das oberste Landkomitee, mit dem liberal-bürokratischen Professor Postnikow an <strong>der</strong><br />
Spitze, bestand hauptsächlich aus Narodniki, die sich beson<strong>der</strong>s davor fürchteten,<br />
weniger gemäßigt zu erscheinen als ihr Vorsitzen<strong>der</strong>. Die lokalen Landkomitees wurden<br />
in den Gouvernements, Kreisen und Bezirken errichtet. Galten die Sowjets, die sich im<br />
Dorfe nur schwer durchsetzten, als Privatorgane, so hatten die Landkomitees Regierungseharakter.<br />
Je unbestimmter <strong>der</strong> Lage nach ihre Funktionen waren, um so schwerer<br />
konnten sie dem Druck <strong>der</strong> Bauernschaft Wi<strong>der</strong>stand leisten. Je niedriger auf <strong>der</strong> hierarchischen<br />
Leiter ein Komitee stand, je näher es dem Lande war, um so eher wurde es zum<br />
Werkzeug <strong>der</strong> Bauernbewegung.<br />
Ende März tauchten in <strong>der</strong> Hauptstadt die ersten beunruhigenden Nachrichten auf über<br />
das Erscheinen von Bauern auf dem Schauplatz. Der Nowgoro<strong>der</strong> Kommissar gibt<br />
telegraphisch Nachricht über Unruhen, die ein Fähnrich Panasjuk stifte, über »unbegründete<br />
Verhaftungen von Gutsbesitzern« usw. Im Tambower Gouvernement wird von einer<br />
Bauernmenge mit einigen entlassenen Soldaten an <strong>der</strong> Spitze ein Gutshof geplün<strong>der</strong>t. Die<br />
ersten Meldungen sind zweifellos übertrieben, die Gutsbesitzer bauschen in ihren<br />
Beschwerden offensichtlich die Zusammenstöße auf und greifen den Ereignissen vor.<br />
Was aber keinem Zweifel unterliegt, ist die führende Teilnahme von Soldaten an <strong>der</strong><br />
Bauernbewegung, die von <strong>der</strong> Front und den Stadtgarnisonen Initiativgeist mitbringen.<br />
Ein Bezirkskomitee im Gouvernement Charkow beschließt am 5. April, bei den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 254
Bodenbesitzern Haussuchungen nach Waffen vorzunehmen. Dies ist bereits eine deutliche<br />
Vorahnung des Bürgerkrieges. Die Entstehung von Unruhen im Skopinski-Kreis,<br />
Gouvernement Rjasan, erklärt <strong>der</strong> Kommissar damit, daß das Exekutivkomitee des<br />
Nachbarkreises die Zwangsverpachtung des gutsherrlichen Bodens an die Bauern verfügte.<br />
»Die Agitation <strong>der</strong> Studenten für die Wahrung <strong>der</strong> Ruhe bis zur Einberufung <strong>der</strong><br />
Konstituierenden Versammlung hat keinen Erfolg.« So erfahren wir, daß "Studenten", die<br />
in <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> zum Agrarterror aufgerufen hatten - das war zu jener Zeit die<br />
Taktik <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre -, im Jahre 1917 dagegen Ruhe und Gesetzlichkeit, allerdings<br />
erfolglos predigten.<br />
Der Kommissar des Gouvernements Simbirsk zeichnet ein Bild <strong>der</strong> anschwellenden<br />
Bauernbewegung: die Bezirks- und Dorfkomitees - von ihnen wird noch im weiteren die<br />
Rede sein - verhaften Gutsbesitzer, weisen sie aus dem Gouvernement aus, entfernen die<br />
Arbeiter von den gutsherrlichen Fel<strong>der</strong>n, beschlagnahmen den Boden und bestimmen<br />
eigenmächtig den Pachtzins. »Die vom Exekutivkomitee entsandten Delegierten gehen<br />
auf die Seite <strong>der</strong> Bauern über.« Gleichzeitig setzt die Bewegung <strong>der</strong> Gemeindemitglie<strong>der</strong><br />
gegen die Siedler ein, das heißt gegen die Großbauern, die auf Grund des Stolypinschen<br />
Gesetzes vom 9. November 1906 sich mit selbständigen Landstücken ausgeson<strong>der</strong>t<br />
hatten. »Die Lage im Gouvernement gefährdet die Feldbestellung.« Der Simbirsker<br />
Gouvernementskommissar sieht bereits im April keinen an<strong>der</strong>en Ausweg, als die unverzügliche<br />
Proklamierung des Bodens zum Nationaleigentum mit <strong>der</strong> Bestimmung, daß die<br />
Art <strong>der</strong> Landbenutzung später von <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung festgelegt werden<br />
solle.<br />
Aus dem Kreise Kaschirski, dicht bei Moskau, kommen Klagen, das Exekutivkomitee<br />
verleite die Bevölkerung zur Aneignung kirchlicher, klösterlicher und gutsherrlicher<br />
Län<strong>der</strong>eien. Im Gouvernement Kursk holen die Bauern die Kriegsgefangenen von <strong>der</strong><br />
Arbeit auf den Gütern heraus und setzen sie sogar im Ortsgefängnis fest. Nach den<br />
Bauernkongressen beginnen die Bauern des Gouvernements Pensa - geneigt, die Resolutionen<br />
<strong>der</strong> Sozialrevolutionäre über Land und Freiheit wörtlich zu nehmen - die kürzlich<br />
mit den Bodenbesitzern abgeschlossenen Verträge zu verletzen. Gleichzeitig eröffnen sie<br />
einen Feldzug gegen die neuen Regierungsorgane. »Bei <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Bezirks- und<br />
Kreisexekutivkomitees im Monat März wurden in <strong>der</strong> Mehrzahl Vertreter <strong>der</strong> Intelligenz<br />
gewählt; später jedoch«, berichtet <strong>der</strong> Pensaer Kommissar, »wurden Stimmen gegen sie<br />
laut, und schon Mitte April bestanden die Komitees überall ausschließlich aus Bauern,<br />
die in <strong>der</strong> Bodenfrage offen ungesetzliche Tendenzen vertraten.«<br />
Eine Gruppe des benachbarten Kasaner Gouvernements erhob bei <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung Beschwerde über die Unmöglichkeit, die Wirtschaft fortzuführen, da die<br />
Bauern die Feldarbeiter verjagen, die Saat wegnehmen, an vielen Orten die ganze Habe<br />
von den Gehöften wegtragen, den Gutsbesitzer hin<strong>der</strong>n, in seinem Walde Holz zu fällen,<br />
mit Gewalt und Tod drohen. »Es gibt kein Recht, alle tun, was sie wollen, <strong>der</strong> vernünftige<br />
Teil wird terrorisiert.« Die Kasaner Gutsbesitzer wissen bereits, wer die Schuld an <strong>der</strong><br />
Anarchie hat: »Die Verfügungen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung sind im Dorfe unbekannt,<br />
dafür aber sind die Flugblätter <strong>der</strong> Bolschewiki sehr verbreitet.«<br />
Indes herrschte an Verfügungen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung kein Mangel. Durch ein<br />
Telegramm vom 20. März stellte Fürst Lwow den Kommissaren anheim, Bezirkskomitees<br />
als Organe <strong>der</strong> Ortsbehörde zu schaffen, und empfahl ihnen, zur Arbeit »die örtli-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 255
chen Bodenbesitzer und alle intellektuellen Kräfte des Dorfes hiazuzuziehen«. Es war<br />
beabsichtigt, das gesamte Staatsregime nach dem System <strong>der</strong> Friedenskammern zu<br />
organisieren. Die Kommissare jedoch waren bald gezwungen, über die Verdrängung <strong>der</strong><br />
»intellektuellen Kräfte« zu klagen, <strong>der</strong> Muschik miiltraute offensichtlich den Krei- und<br />
Dorfkerenskis.<br />
Am 3. April dekretiert Fürst Lwows Stellvertreter, Fürst Urussow - das Innenministerium<br />
war, wie wir sehen, mit hohen Titeln ausgestattet -, keine Willkür zu dulden und<br />
insbeson<strong>der</strong>e »die Freiheit jedes Bodenbesitzers, über sein Land unbeschränkt zu verfügen«,<br />
das heißt, die süßeste aller Freiheiten, zu schützen. Nach zehn Tagen hält es Fürst<br />
Lwow für nötig, sich selbst zu mühen und den Kommissaren anzuordnen, »mit <strong>der</strong><br />
ganzen Kraft des Gesetzes jegliche Äußerung von Gewalt und Plün<strong>der</strong>ung zu unterdrükken«.<br />
Nach weiteren zwei Tagen befiehlt Fürst Urussow einem Gouvernementskommissar,<br />
»Maßnahmen zu treffen zum Schutze <strong>der</strong> Gestüte gegen Willkürakte, indem man den<br />
Bauern auseinan<strong>der</strong>setzt« ... und so weiter. Am 18. April ist Fürst Urussow darüber<br />
besorgt, daß die Kriegsgefangenen, die auf den Gütern arbeiten, maßlose For<strong>der</strong>ungen zu<br />
stellen beginnen, und er schreibt den Kommissaren vor, die Vermessenen auf Grund <strong>der</strong><br />
Vollmachten, über die früher die zaristischen Gouverneure verfügten, zu bestrafen.<br />
Zirkulare, Verfügungen, telegraphische Anordnungen rinnen in ununterbrochenem<br />
Regen von oben nach unten. Am 12. Mai zählt Fürst Lwow in einem neuen Telegramm<br />
die Ausschreitungen auf, die »im ganzen Lande nicht aufhören wollen: willkürliche<br />
Verhaftungen, Haussuchungen, Entsetzung aus Ämtern, Besitzverwaltungen, Fabrikleitungen;<br />
Plün<strong>der</strong>ungen, Räubereien, Freibeutertum; Gewaltakte an Amtspersonen;<br />
Belegung <strong>der</strong> Bevölkerung mit Steuern; Aufhetzung eines Teiles <strong>der</strong> Bevölkerung gegen<br />
den an<strong>der</strong>en,« usw. usw. »Alle Akte solcher Art haben als offen rechtswidrig, in gewissen<br />
Fällen sogar als anarchistisch zu gelten« ... Die Qualifizierung ist nicht sehr klar, wohl<br />
aber die Schlußfolgerung: »die energischsten Maßnahmen zu treffen«. Die Gouvemementskommissare<br />
leiteten die Zirkulare energisch weiter an die Kreise, die Kreiskommissare<br />
drückten auf die Bezirkskomitees, und alle gemeinsam offenbarten sie ihre<br />
Ohnmacht vor dem Muschik.<br />
Fast überall greifen die in <strong>der</strong> Nähe liegenden Truppenteile ein. Sehr häufig machen sie<br />
den Anfang. Die Bewegung nimmt äußerst mannigfaltige Formen an, je nach den lokalen<br />
Verhältnissen und dem Grade <strong>der</strong> Kampfverschärfung. In Sibirien, wo es keine Gutsbesitzer<br />
gibt, eignen sich die Bauern Kirchen- und Klostergüter an. Übrigens ist die Geistlichkeit<br />
auch in an<strong>der</strong>en Landesteilen übel dran. Im frommen Gouvernement Smolensk<br />
setzt man, unter dem Einfluß von <strong>der</strong> Front zurückgekehrter Soldaten, die Popen und<br />
Mönche gefangen. Die örtlichen Organe sehen sich oft gezwungen, weiterzugehen, als<br />
sie es möchten, um <strong>der</strong> Anwendung radikalerer Maßnahmen seitens <strong>der</strong> Bauern vorzubeugen.<br />
Ein Kreisexekutivkomitee des Gouvernements Samara bestimmte Anfang Mai<br />
die öffentliche Vormundschaft über das Gut des Grafen Orlow-Dawydow, um diesen so<br />
gegen die Bauern zu schützen. Da das von Kerenski versprochene Dekret über das<br />
Verbot von Landverkäufen doch nicht herauskam, begannen die Bauern den Ausverkauf<br />
<strong>der</strong> Besitzungen auf eigene Faust zu verhin<strong>der</strong>n, indem sie Landvermessungen nicht<br />
zuließen. Die Beschlagnahme von Waffen, sogar Jagdgewehren, bei den Gutsbesitzern<br />
greift immer mehr um sich. Die Bauern des Gouvernements Minsk, klagt <strong>der</strong> Kommissar,<br />
»betrachten die Resolutionen des Bauernkongresses als Gesetz«. Wie konnte man sie<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 256
auch an<strong>der</strong>s verstehen? Waren doch diese Kongresse die einzige reale Macht auf dem<br />
Lande. So enthüllt sich das große Mißverständnis zwischen <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />
Intelligenz, die sich an Worten verschluckt, und <strong>der</strong> Bauernschaft, die Taten for<strong>der</strong>t.<br />
Ende Mai geriet die große asiatische Steppe in Bewegung. Die Kirgisen, denen die<br />
Zaren zugunsten ihrer Lakaien die besten Län<strong>der</strong>eien weggenommen hatten, erheben sich<br />
jetzt gegen die Gutsbesitzer, indem sie sie auffor<strong>der</strong>n, ihre Diebesgüter schnellstens zu<br />
liquidieren. »Diese Ansicht festigt sich in <strong>der</strong> Steppe«, meldet <strong>der</strong> Kommissar von<br />
Akmolinsk.<br />
Am an<strong>der</strong>en Ende des Landes, im Gouvernement Livland, entsandte das Kreis-Exekutivkomitee<br />
eine Untersuchungskommission in Sachen <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ung auf dem Gute des<br />
Barons Stahl von Holstein. Die Kommission fand die Unruhen unbedeutend, die<br />
Anwesenheit des Barons im Kreise die Ruhe gefährdend und verfügte: ihn mitsamt <strong>der</strong><br />
Baronin zur Verfügung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung nach Petrograd zu schaffen. So<br />
entstand einer <strong>der</strong> zahllosen Konflikte zwischen Ortsbehörde und Zentralmacht,<br />
zwischen Sozialrevolutionären unten und Sozialrevolurionären oben.<br />
Der Bericht vom 27. Mai aus dem Pawlogra<strong>der</strong> Kreise im Gouvernement Jekaterinoslaw<br />
schil<strong>der</strong>t fast idyllische Zustände: die Mitglie<strong>der</strong> des Landkomitees klären die<br />
Bevölkerung über alle Mißverständnisse auf, womit sie »jeglichen Exzessen vorbeugen«.<br />
Aber ach, dieses Idyll wird nur kurze Wochen währen.<br />
Der Vorsteher eines <strong>der</strong> Klöster in Kostroma beschwert sich Ende Mai bei <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung bitter über die Requisition eines Drittels des klösterlichen Hornviehs<br />
durch die Bauern. Der ehrwürdige Mönch sollte bescheidener sein: bald wird er auch von<br />
den übrigen zwei Dritteln Abschied nehmen müssen.<br />
Im Gouvernement Kursk beginnen Verfolgungen gegen die Siedler, die sich weigerten,<br />
in die Dorfgemeinschaft zurückzukehren. Die Bauernschaft will vor <strong>der</strong> großen<br />
Agrarumwälzung, vor <strong>der</strong> schwarzen Neuverteilung als ein Ganzes auftreten. Innere<br />
Scheidungen könnten ein Hin<strong>der</strong>nis werden. Der Mir 5 muß wie ein Mann auftreten. Der<br />
Kampf um das gutsherrliche Land wird deshalb von Gewaltakten gegen die Siedler, das<br />
heißt die Bodenindividualisten, begleitet.<br />
Am letzten Maitag wird im Gouvernement Perm <strong>der</strong> Soldat Samojlow verhaftet, <strong>der</strong><br />
zur Steuerverweigerung aufgefor<strong>der</strong>t hatte. Bald wird <strong>der</strong> Soldat Samojiow an<strong>der</strong>e<br />
verhaften. Bei <strong>der</strong> Kirchenprozession in einem Dorfe des Charkower Gouvernements<br />
zerhackte <strong>der</strong> Bauer Grizenko vor den Augen des ganzen Dorfes mit einem Beil das<br />
geweihte Bild des heiligen Nikolaus. So entstehen die verschiedenartigsten Formen des<br />
Protestes und verwandeln sich in Taten.<br />
Ein Seeofflzier und Gutsbesitzer gibt in den anonymen "Aufzeichnungen eines<br />
Weißgardisten" ein interessantes Bild <strong>der</strong> Evolution des Dorfes während <strong>der</strong> ersten<br />
Monate nach <strong>der</strong> Umwälzung. Auf alle Posten »wurden fast überall Menschen aus<br />
bürgerlichen Schichten gewählt. Alle waren nur um das eine bemüht, - die Ordnung<br />
aufrechtzuerhalten«. Zwar erhoben die Bauern die For<strong>der</strong>ung nach Land, aber in den<br />
ersten zwei, drei Monaten ohne Gewaltanwendung. Im Gegenteil, man konnte immer<br />
Worte hören wie »wir wollen nicht plün<strong>der</strong>n, wir wünschen im Einvernehmen zu bekom-<br />
5 "<br />
die "Dorfgemeinschaft" wie die "Welt".<br />
Mir" bedeutet Russisch sowohl<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 257
men« usw. In diesen beruhigen-den Versicherungen vernahm jedoch das Ohr des<br />
Leumants eine »versteckte Drohung«. In <strong>der</strong> Tat, wenn auch die Bauernschaft in <strong>der</strong><br />
ersten Periode nicht zur Gewalt grift so begann sie doch, den Kräften <strong>der</strong> sogenannten<br />
Intelligenz »mit einem Male ihre Mißachtung zu bezeigen«. Die halbabwartende<br />
Stimmung dauerte, nach den Worten des Weißgardisten, bis Mai/Juni, »wonach sich bald<br />
eine schroffe Wendung bemerkbar machte, die Tendenz auftauchte, den Gouvernementsbestimmungen<br />
zu wi<strong>der</strong>sprechen, die Angelegenheiten nach eigenem Ermessen zu erledigen«<br />
... Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Bauernschaft ließ <strong>der</strong> Februarrevolution eine Frist von<br />
ungefähr drei Monaten zur Begleichung <strong>der</strong> sozialrevolutionären Wechsel, um dann<br />
selbständig zur Eintreibung überzugehen.<br />
Der Soldat Tschinenow, <strong>der</strong> sich den Bolschewiki angeschlossen hatte, reiste nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung zweimal von Moskau nach seinem Heimatort im Gouvernement Orel. Im<br />
Mai herrschten im Bezirk die Sozialrevolutionäre. An vielen Orten zahlten die Muschiks<br />
den Gutsbesitzern noch die Pacht. Tschinenow organisierte eine bolschewistische Zelle<br />
aus Soldaten, Landarbeitern und Landarmen. Die Zelle predigte Einstellung <strong>der</strong> Steuerzahlungen<br />
und Zuteilung von Boden an Landlose. Man machte sofort eine Aufstellung<br />
<strong>der</strong> gutsherrlichen Wiesen, verteilte sie unter den Dörfern und mähte sie ab. »Die Sozialrevolutionäre,<br />
die im Bezirkskomitee saßen, schrien über die Ungesetzlichkeit unserer<br />
Handlungen, verzichteten aber nicht auf ihren Teil Heu.« Da die Bezirksvertreter aus<br />
Angst vor <strong>der</strong> Verantwortung ihre Vollmachten rie<strong>der</strong>legten, wählten die Bauern an<strong>der</strong>e,<br />
entschlossenere. Das waren bei weitern nicht immer Bolschewiki. Durch ihren unmittelbaren<br />
Druck spalteten die Bauern die sozialrevolutionäre Partei, indem sie die revolutionären<br />
Elemente von den Bürokraten und Karrieremachern trennten. Nachdem sie das<br />
Gras <strong>der</strong> Gutsherren abgemäht hatten, machten sich die Muschiks an die Brachlel<strong>der</strong> und<br />
verteilten den Boden für die Wintersaat. Die bolschewistische Zelle faßte den Beschluß,<br />
die Speicher <strong>der</strong> Gutsbesitzer zu untersuchen und die Brotvorräte in das hungernde<br />
Zentrum zu senden. Die Verfügungen <strong>der</strong> Zelle wurden ausgeführt, da sie den Stimmungen<br />
<strong>der</strong> Bauern entsprachen. Tschinenow brachte bolschewistische Literatur nach Hause,<br />
von <strong>der</strong> dort bisher niemand eine Ahnung gehabt hatte. »Die Ortsintelligenz und die<br />
Sozialrevolutionäre verbreiteten das Gerücht, ich brächte viel deutsches Gold mit und<br />
besteche die Bauern.« In verschiedenen Maßstäben entwickeln sich überall die gleichen<br />
Prozesse. Je<strong>der</strong> Bezirk hatte seine Miljukows, seine Kerenskis und - seine Lenins.<br />
Im Gouvernement Smolensk verstärkte sich <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre nach<br />
dem Gouvemementskongreß <strong>der</strong> Bauerndeputierten, <strong>der</strong> sich, wie üblich, für den<br />
Übergang des Bodens in die Hände des Volkes ausgesprochen hatte. Die Bauern nahmen<br />
diesen Beschluß restlos an, aber, zum Unterschiede von den Führern, ernsthaft. Nunmehr<br />
wächst die Zahl <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre im Dorfe ununterbrochen. »Wer bei irgendeinem<br />
Kongreß in <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre gewesen war«, berichtet ein Politiker<br />
jener Gegend, »hielt sich für einen Sozialrevolutionär o<strong>der</strong> ähnliches« ... In <strong>der</strong> Kreisstadt<br />
standen zwei Regimenter, die sich gleichfalls unter dem Einfluß <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
befanden. Die Bezirkskomitees begannen, den guts-herrlichen Acker zu bestellen<br />
und die Wiesen abzumähen. Der Gouvernementskommissar, <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />
Jefimow, schickte Drohbefehle. Das Dorf stutzte: <strong>der</strong> gleiche Kommissar hatte doch auf<br />
dem Gouvernementskongreß gesagt, die Bauern seien jetzt selbst die Macht, und<br />
Nutznießer des Bodens dürfe nur <strong>der</strong> sein, <strong>der</strong> ihn bearbeite. Aber man mußte den Tatsa-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 258
chen Rechnung tragen. Auf Anordnung des sozialrevolutionären Kommissars Jefimow<br />
wurden in den nächsten Monaten allein im Jelninski-Kreis von 17 Bezirkskomitees 16<br />
wegen Aneignung gutsherrlicher Län<strong>der</strong> vor Gericht gestellt. Auf diese eigenartige<br />
Weise ging <strong>der</strong> Roman <strong>der</strong> Volkstümler-Intelligenz mit dem Volke seiner Lösung entgegen.<br />
Im ganzen Kreise gab es drei, vier Bolschewiki, nicht mehr. Ihr Einfluß war jedoch<br />
im schnellen Wachsen und verdrängte o<strong>der</strong> spaltete die Sozialrevolutionäre.<br />
Anfang Mai wurde ein allrussischer Bauernkongreß nach Petrograd einberufen. Die<br />
Vertretung trug einen repräsentativen und in vielen Fällen rein zufälligen Charakter.<br />
Blieben schon die Arbeiter- und Soldatenkongresse hinter den Ereignissen und <strong>der</strong> politischen<br />
Evolution <strong>der</strong> Massen ständig zurück, so braucht nicht erst gesagt zu werden, wie<br />
weit die Vertretung <strong>der</strong> zersplitterten Bauernschaft hinter den wirklichen Stimmungen<br />
<strong>der</strong> Dörfer zurück war. Als Delegierte fungierten einerseits Narodniki-Intelligenzler<br />
rechtester Spielart, Menschen, die mit <strong>der</strong> Bauernschaft hauptsächlich durch Handelskooperation<br />
o<strong>der</strong> Jugen<strong>der</strong>innerungen verbunden waren. Das echte "Volk" war durch die<br />
wohlhaben<strong>der</strong>en Spitzen des Dorfes, Kulaken, Krämer, Bauerngenossenschaftler, vertreten.<br />
Die Sozialrevolutionäre herrschten auf diesem Kongreß uneingeschränkt, und zwar<br />
in Gestalt ihres rechtesten Flügels. Mitunter jedoch hielten auch sie inne, erschreckt<br />
durch die verblüffende Mischung von Landgier und politischem Schwarzhun<strong>der</strong>ttum <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Deputierten. In bezug auf den gutsherrlichen Landbesitz war die allgemeine<br />
Position des Kongresses sehr radikal: Ȇbergang des gesamten Bodens in den Besitz des<br />
Volkes zur ausgleichenden werktätigen Benutzung ohne jegliche Ablösung.« Natürlich<br />
verstanden die Kulaken unter Ausgleichung nur ihre Gleichstellung mit den Gutsbesitzern,<br />
keinesfalls aber mit den Landarbeitern. Dieses kleine Mißverständnis zwischen dem<br />
fiktiven Narodniki-Sozialismus <strong>der</strong> Narodniki und dem agrarischen Muschik-Demokratismus<br />
aufzudecken, war <strong>der</strong> Znkunft vorbehalten.<br />
Ackerbauminister Tschernow, <strong>der</strong> vor Verlangen brannte, dem Bauernkongreß ein<br />
Osterei zu schenken, trug sich vergeblich mit einem Dekretentwurf über das Verbot von<br />
Landverkäufen. Der Justizminister Perewersew, <strong>der</strong> ebenfalls für eine Art Sozialrevolutionär<br />
galt, hatte gerade in den Tagen des Kongresses verfügt, daß die Ortsbehörden den<br />
Landverkäufen keine Hin<strong>der</strong>nisse in den Weg legen dürften. Die Bauerndeputierten<br />
brummten deshalb ein wenig darüber. Die Sache kam aber keinen Schritt vorwärts. Die<br />
Provisorische Regierung des Fürsten Lwow war nicht gewillt, auf die gutsherrlichen<br />
Län<strong>der</strong> Hand zu legen. Die <strong>Sozialisten</strong> wollten nicht auf die Provisorische Regierung<br />
Hand legen Die Zusammensetzung des Kongresses war indes am allerwenigsten fähig,<br />
aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen zwischen ihrem Appetit auf Land und ihrem Reaktionarismus<br />
einen Ausweg zu finden.<br />
Am 20. Mai sprach auf dem Bauernkongreß Lenin. Es konnte scheinen, sagt<br />
Suchanow, daß Lenin in ein Lager von Krokodilen geraten sei. »Aber die Muschiks<br />
hörten aufmerksam und wohl nicht ohne Sympathie zu. Nur wagten sie sie nicht zu<br />
zeigen.« Das gleiche wie<strong>der</strong>holte sich in <strong>der</strong> den Bolschewiki äußerst feindlichen Soldatensektion.<br />
Nach den Sozialrevolutionären und Menschewiki versucht auch Suchanow,<br />
<strong>der</strong> Leninschen Taktik in <strong>der</strong> Agrarfrage eine anarchistische Färbung zu geben. Das ist<br />
gar nicht so fern vom Fürsten Lwow, <strong>der</strong> geneigt war, die Attentate auf die gutsherrlichen<br />
Rechte als anarchistische Handlungen anzusehen. Nach dieser Logik ist die <strong>Revolution</strong><br />
in ihrer Gesamtheit gleichbedeutend mit Anarchie. In Wirklichkeit war die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 259
Leninsche Fragestellung viel tiefer, als sie seinen Kritikern erschien. Organe <strong>der</strong> Agrarrevolution,<br />
in erster Linie zur Liquidierung des gutsherrlichen Bodenbesitzes, sollten die<br />
Sowjets <strong>der</strong> Bauerndeputierte mit den ihnen unterstellten Landkomitees werden. Lenin<br />
erblickte in den Sowjets Organe <strong>der</strong> morgigen Staatsmacht, und zwar <strong>der</strong> allerkonzentriertesten,<br />
nämlich <strong>der</strong> revolutionären Diktatur. Das ist jedenfalls von Anarchismus, das<br />
heißt von Theorie und Praxis <strong>der</strong> Herrschaftslosigkeit, weit entfernt. »Wir sind«, sagte<br />
Lenin am 23. April, »für die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern bei maximalster<br />
Organisiertheit. Wir sind absolut gegen anarchische Aneignungen.« Weshalb wir<br />
nicht auf die Konstituante warten wollen? »Für uns ist die revolutionäre Initiative<br />
wichtig, das Gesetz aber muß <strong>der</strong>en Resultat sein. Wen ihr warten werdet, bis das Gesetz<br />
geschrieben wird, selbst aber keine revolutionäre Energie entfaltet, werdet ihr we<strong>der</strong><br />
Gesetz noch Boden haben.« Ist in diesen einfachen Worten nicht die Stimme aller<br />
<strong>Revolution</strong>en?<br />
Nach einem Monat Verhandlungen wählte <strong>der</strong> Bauernkongress ein Exekutivkomitee<br />
als ständige Institution, bestehend aus zweihun<strong>der</strong>t robusten dörfischen Kleinbourgeois<br />
und Narodniki vom Professoren- o<strong>der</strong> Krämertyp und stellte vor diese Gesellschaft die<br />
dekorativen Gestalten <strong>der</strong> Breschkowskaja, Tschajkowski, Wera Figner und Kerenski.<br />
Zum Vorsitzenden wurde Awksentjew gewählt, geschaffen für Gouvernementsbankette,<br />
aber nicht für den Bauernkrieg.<br />
Von nun an wurden die wichtigsten Fragen in gemeinsamen Sitzungen zweier Exekutiven:<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauern behandelt. Diese Verbindung<br />
bedeutete eine außerordentliche Stärkung des rechten Flügels, <strong>der</strong> sich unmittelbar an die<br />
Kadetten anlehnte. In allen Fällen, wo man einen Druck auf die Arbeiter ausüben, über<br />
die Bolschewiki herfallen, <strong>der</strong> "unabhängigen Kronstädter Republik" mit Peitschen und<br />
Skorpionen drohen wollte, erhoben sich wie eine Mauer die zweihun<strong>der</strong>t Hände o<strong>der</strong><br />
richtiger Fäuste <strong>der</strong> Bauernexekutive. Diese Menschen stimmten mit Miljukow darin<br />
völlig überein, daß man mit den Bolschewiki »Schluß machen« müsse. Aber in Beziehung<br />
auf das gutsherrliche Land hatten sie Muschikansichten und nicht liberale Theorien,<br />
und dies brachte sie in einen Gegensatz zur Bourgeoisie und zur Provisorischen Regierung.<br />
Kaum hatte <strong>der</strong> Bauernkongreß Zeit gehabt auseinan<strong>der</strong>zugehen, als auch schon<br />
Beschwerden zu hageln begannen, man nehme auf dem Lande seine Resolutionen ernst,<br />
was zur Wegnahme von Boden und Inventar bei den Gutsbesitzern führe. Es war absolut<br />
unmöglich, den starrsinnigen Muschikschädeln den Unterschied zwischen Wort und Tat<br />
einzuhämmern.<br />
Die Sozialrevolutionäre gaben erschrocken Rückzugssignale. Auf ihrem Kongreß<br />
Anfang Mai in Moskau verurteilten sie feierlichst jede eigenmächtige Landaneignung:<br />
man müsse auf die Konstituierende Versammlung warten. Doch war diese Resolution<br />
außerstande, die Agrarbewegung aufzuhalten o<strong>der</strong> auch nur abzuschwächen. Die Sache<br />
wurde noch dadurch außerordentlich verzwickt, daß es in <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei<br />
nicht wenig Elemente gab, die tatsächlich bereit waren, bis zu Ende mit dem Muschik<br />
gegen den Gutsbesitzer zu gehen, wobei diese linken Sozialrevolutionäre, die sich noch<br />
nicht entschließen konnten, offiziell mit <strong>der</strong> Partei zu brechen, den Muschiks halfen, die<br />
Gesetze zu umgehen o<strong>der</strong> auf eigene Art zu deuten.<br />
Im Gouvernement Kasan, wo die Bauernbewegung einen beson<strong>der</strong>s stürmischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 260
Schwung erhielt, machten sich die linken Sozialrevolutionäre früher als an<strong>der</strong>swo<br />
unabhängig. An ihrer Spitze stand Kalegajew, <strong>der</strong> spätere Volkskommissar für Ackerbau<br />
in <strong>der</strong> Sowjetregierung während <strong>der</strong> Periode des Blockes <strong>der</strong> Bolschewiki mit den linken<br />
Sozialrevolutionären. Seit Mitte Mai beginnt im Gouvernement Kasan die systematische<br />
Übergabe des Bodens an die Bezirkskomitees. Am kühnsten wurde diese Maßnahme im<br />
Kreise Spassk durchgeführt, wo an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Bauernorganisationen ein Bolschewik<br />
stand. Die Gouvernementsbehörden führen bei <strong>der</strong> Zentralbehörde Beschwerde über die<br />
Agraragitation, die von den aus Kronstadt zugereisten Bolschewiki betrieben werde,<br />
wobei diese die fromme Nonne Tamara angeblich »wegen Wi<strong>der</strong>rede« verhaftet hatten.<br />
Aus dem Gouvernement Woronesch meldete <strong>der</strong> Kommissar am 2. Juni: »Fälle von<br />
Rechtsbeugungen und ungesetzlichen Akten häufen sich im Gouvernement mit jedem<br />
Tage mehr, besonden auf dem Agrargebiete.« Landaneignungen im Gouvernement Pensa<br />
mehrten sich. Ein Dorfkomitee im Gouvernement Kaluga nahm einem Kloster die Hälfte<br />
<strong>der</strong> Heuernte; auf Beschwerde des Vorstehers hin entschied das Kreiskomitee: die ganze<br />
Heuernte sei wegzunehmen. Das ist kein Son<strong>der</strong>fall, daß die obere Instanz radikaler ist<br />
als die untere. Die Äbtissin Maria aus dem Gouvernement Pensa klagte über Enteignung<br />
klösterlichen Besitzes. »Die Lokalbehörden sind ohnmächtig.« Im Gouvernement Wjatka<br />
belegten die Bauern das Gut <strong>der</strong> Skoropadskis, <strong>der</strong> Familie des späteren ukrainischen<br />
Hetmans, mit Beschlag und verfügten, »bis zur Lösung <strong>der</strong> Frage über den<br />
Bodenbesitz«: den Wald nicht anzutasten und die Einkünfte aus dem Gut an die Staatskasse<br />
abzuführen. An vielen an<strong>der</strong>en Orten setzen die Landkomitees nicht nur den Pachtzins<br />
um das Fünf- bis Sechsfache herab, son<strong>der</strong>n verfügten außerdem, ihn nicht an die<br />
Gutsbesitzer, son<strong>der</strong>n bis zur Lösung <strong>der</strong> Frage durch die Konstituierende Versammlung<br />
an die Komitees abzuführen. Das war keine Advokaten-, son<strong>der</strong>n eine Muschik-, das<br />
heißt ernste Antwort zur Frage des Nichtvorgreifens <strong>der</strong> Bodenreform bis zur Konstituierenden<br />
Versammlung. Im Gouvernement Saratow begannen die Bauern, die noch gestern<br />
den Gutsbesitzern Wald zu fällen verboten hatten, ihn selbst abzuholzen. Immer häufiger<br />
eignen sich die Bauern dort, wo es wenig gutsherrlichen Boden gibt, kirchliche und<br />
klösterliche Län<strong>der</strong>eien an. Gemeinsam mit den Soldaten des lettischen Bataillons griffen<br />
die lettischen Landarbeiter in Livland zur planmäßigen Aneignung <strong>der</strong> Güter <strong>der</strong> Barone.<br />
Im Gouvernement Witebsk jammem die Waldhändler, daß die Maßnahmen <strong>der</strong><br />
Landkomitees den Waldhandel ruinieren und die Versorgung <strong>der</strong> Front gefährden. Nicht<br />
min<strong>der</strong> uneigennützige Patrioten, die Gutsbesitzer des Gouvernements Poltawa, trauern,<br />
daß die Agrarunruhen sie hin<strong>der</strong>n, die Armee mit Proviant zu beliefern. Schließlich warnt<br />
<strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Pferdezüchter in Moskau, daß die Aneignungen <strong>der</strong> Bauern die vaterländische<br />
Pferdezüchterei unheilvoll bedrohen. Gleichzeitig beschwert sich <strong>der</strong> Oberprokureur<br />
des Synods, <strong>der</strong> nämliche, <strong>der</strong> die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> heiligen Institution als »Idioten<br />
und Schufte« bezeichnet hatte, bei <strong>der</strong> Regierung darüber, daß im Gouvernement Kasan<br />
die Bauern den Mönchen nicht nur Land und Vieh wegnehmen, son<strong>der</strong>n auch das für die<br />
Hostie nötige Mehl. Im Petrogra<strong>der</strong> Gouvernement, zwei Schritt von <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
entfernt, verjagten die Bauern den Pächter von einem Gut und übernahmen die Bewirtschaftung<br />
selbst. Der wachsame Fürst Urussow telegraphiert am 2. Juni wie<strong>der</strong> an alle<br />
Enden des Landes: »Trotz meinen For<strong>der</strong>ungen ...« usw., usw. »Ich ersuche erneut,<br />
entschiedenste Maßnahmen zu treffen.« Der Fürst vergaß nur anzugeben, welche.<br />
Während sich im ganzen Lande die gigantische Arbeit <strong>der</strong> Ausrodung <strong>der</strong> tiefsten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 261
Wurzeln von Mittelalter und Leibeigenschaft vollzog, sammelte Ackerbauminister<br />
Tschernow in seinen Kanzleien Material für die Konstituierende Versammlung. Er hatte<br />
sich vorgenommen, die Reform nicht an<strong>der</strong>s als auf Grund genauester Angaben über die<br />
Bodenverhältnisse und allerhand an<strong>der</strong>er Statistiken durchzuführen, und redete deshalb<br />
den Bauern mit süßester Stimme zu, das Ende seiner Exerzitien abzuwarten. Das hin<strong>der</strong>te<br />
übrigens die Gutsbesitzer nicht, den Bauernminister von seinem Posten zu stürzen, lange<br />
bevor er mit seinen sakramentalen Tabellen fertig war.<br />
Auf Grund <strong>der</strong> Archive <strong>der</strong> Provisorischen Regierung haben junge Forscher berechnet,<br />
daß die Agrarbewegung, die im Monat März mit größerer o<strong>der</strong> geringerer Heftigkeit nur<br />
in 34 Kreisen einsetzte, im April bereits 174, im Mai 236. im Juni 280, im Juli 325<br />
Kreise erfaßt hatte. Diese Zahlen geben jedoch kein vollständiges Bild von dem wirklichen<br />
Wachsen <strong>der</strong> Bewegung, da <strong>der</strong> Kampf in jedem Kreise von Monat zu Monat einen<br />
breiteren und hartnäckigeren Massencharakter annimmt.<br />
In dieser ersten Periode, von März bis Juli, enthalten sich die Bauern in ihrer überwiegenden<br />
Mehrheit noch <strong>der</strong> Gewaltanwendung gegen die Gutsbesitzer und offener<br />
Landaneignungen. Jakowlew, <strong>der</strong> die erwähnten Forschungen leitete, erklärt die verhältnismäßig<br />
friedliche Taktik <strong>der</strong> Bauern mit ihrer Vertrauensseligkeit zur Bourgeoisie.<br />
Diese Erklärung muß man als unzulänglich bezeichnen. Die Regierung Fürst Lwows<br />
konnte aber den Bauern keinesfalls Vertrauen einflößen, selbst wenn man von dem<br />
ständigen Argwohn <strong>der</strong> Muschiks gegen Stadt, Behörde, gebildete Gesellschaft absieht.<br />
Daß die Bauern in <strong>der</strong> ersten Periode noch keine Zuflucht in offenen Gewaltmaßnahmen<br />
suchen, son<strong>der</strong>n bestrebt sind, ihren Handlungen die Form des legalen o<strong>der</strong> fast legalen<br />
Druckes zu geben, läßt sich eben mit dem Mißtrauen gegen die Regierung bei mangelndem<br />
Vertrauen auf die eigenen Kräfte erklären. Die Bauern beginnen erst sich zu rühren,<br />
tasten den Boden ab, messen den Wi<strong>der</strong>stand des Feindes, und während sie den Gutsbesitzer<br />
auf <strong>der</strong> ganzen Linie bedrängen, sagen sie: »Wir wollen nicht plün<strong>der</strong>n, wir wollen<br />
alles gütlich ordnen.« Sie eignen sich die Wiesen nicht an, sie mähen nur ab. Sie nehmen<br />
den Boden zwangsweise in Pacht, bestimmen selbst den Pachtzins, o<strong>der</strong> "kaufen" ebenso<br />
zwangsweise, Boden zu gleichfalls von ihnen festgesetzten Preisen. Alle diese legalen<br />
Verschleierungen sind für den Gutsbesitzer wie für den liberalen Juristen wenig überzeugend<br />
und in Wirklichkeit von tiefem aber verstecktem Mißtrauen gegen die Regierung<br />
diktiert: im Guten erhältst du es nicht, denkt sich <strong>der</strong> Muschik, mit Gewalt ist es gefährlich,<br />
also muß man es mit List versuchen. Er hätte vorgezogen, den Gutsbesitzer mit<br />
dessen Zustimmung zu expropriieren.<br />
»In allen diesen Monaten«, schlußfolgerte Jakowlew, »überwogen ganz eigenartige, in<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> nicht dagewesene Mittel des "friedlichen" Kampfes gegen den Gutsbesitzer,<br />
die sich aus dem bäuerlichen Vertrauen zur Bourgeoisie und zur Regierung <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie ergaben.« Die Mittel, die hier als in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> noch nicht dagewesen<br />
proklamiert werden, sind in Wirklichkeit ganz typisch, unvermeidlich und geschichtlich<br />
allgemein gültig für das Anfangsstadium des Bauernkrieges unter allen Breitengraden.<br />
Das Bestreben, die ersten aufrührerischen Schritte durch Gesetzlichkeit, kirchliche o<strong>der</strong><br />
weltliche, zu decken, charakterisiert seit alters her den Kampf je<strong>der</strong> revolutionären<br />
Klasse, bevor sie genügend Kraft und Zuversicht gesammelt hat, um die Nabelschnur,<br />
die sie mit <strong>der</strong> alten Gesellschaft verbindet, zu zerreißen. Das bezieht sich auf die<br />
Bauernschaft in noch höherem Maße als auf jede an<strong>der</strong>e Klasse, denn selbst in ihren<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 262
esten Perioden bewegt sie sich im Halbdunkel vorwärts und betrachtet ihre städtischen<br />
Freunde mit mißtrauischen Augen. Sie hat dafür Gründe genug. Bei den ersten Schritten<br />
<strong>der</strong> Agrarbewegung sind <strong>der</strong>en Freunde Agenten <strong>der</strong> liberalen und radikalen<br />
Bourgeoisie. Während sie Teile <strong>der</strong> Bauernansprüche för<strong>der</strong>n, sind diese Freunde jedoch<br />
uni das Schicksal des bürgerlichen Besitztums besorgt und deshalb aus allen Kräften<br />
bemüht, den Bauernaufstand in das Bett bürgerlicher Legalität zu lenken.<br />
In gleicher Richtung wirkten lange vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> noch an<strong>der</strong>e Faktoren. Aus <strong>der</strong><br />
Mitte des Adels selbst erstehen Prediger <strong>der</strong> Versöhnung. Leo Tolstoi hat tiefer als sonst<br />
einer in die Seele des Muschiks geblickt. Seine Philosophie des dem Übel Nichtwi<strong>der</strong>strebens<br />
war die Verallgemeinerung <strong>der</strong> ersten Etappe <strong>der</strong> Muschik-<strong>Revolution</strong>. Tolstoi<br />
träumte davon, daß alles »ohne Raub, in bei<strong>der</strong>seitigem Einvernehmen« geschehen<br />
möge. Diese Taktik unterbaute er mit einem religiösen Fundament, in <strong>der</strong> Form eines<br />
geläuterten Christentums. Mahatma Ghandi erfüllte in Indien die gleiche Mission, nur in<br />
einer praktischeren Form. Gehen wir weit in die Vergangenheit zurück, dann finden wir<br />
mühelos eben diese angeblich in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> »nie dagewesenen« Erscheinungen unter<br />
den verschiedensten religiösen, nationalen, philosophischen und politischen Hüllen,<br />
angefangen mit <strong>der</strong> biblischen Zeit und vor ihr.<br />
Die Eigenart des Bauernaufstandes von 1917 bestand höchstens darin, daß als Agenten<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Gesetzlichkeit Menschen auftraten, die sich <strong>Sozialisten</strong>, ja sogar<br />
<strong>Revolution</strong>äre nannten.<br />
Doch nicht sie bestimmten den Charakter <strong>der</strong> Bauernbewegung und ihren Rhythmus.<br />
Die Bauern gingen mit den Soziafrevolutionären nur insofern, als sie von diesen fertige<br />
Formeln für die Abrechnung mit dem Gutsbesitzer entlehnten. Gleichzeitig dienten ihnen<br />
die Sozialrevolutionäre als juristische Deckung. War es doch die Partei Kerenskis, des<br />
Justiz- und dann Kriegsministers, und Tschernows, des Ackerbauministers. Die Verzögerung<br />
des Erlasses notwendiger Dekrete erklärten die Sozialrevolutionäre <strong>der</strong> Bezirksund<br />
Kreiskomitees mit dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Gutsbesitzer und Liberalen und versicherten<br />
den Bauern, daß "Unsere" in <strong>der</strong> Regierung sich alle Mühe gäben. Dagegen vermochte<br />
<strong>der</strong> Muschik natürlich nichts einzuwenden. Da er aber keinesfalls an rühren<strong>der</strong> Vertrauensseligkeit<br />
litt, hielt er es für nötig, den "Unseren" von unten nachzuhelfen, und er tat<br />
das so gründlich, daß "Unseren" oben bald alle Gelenke krachten.<br />
Die Schwäche <strong>der</strong> Bolschewiki in Beziehung zur Bauernschaft war vorübergehend und<br />
dadurch hervorgerufen, daß sie die Illusionen <strong>der</strong> Bauern nicht teilten. Das Dorf konnte<br />
nur durch Erfahrung und Enttäuschungen zum Bolschewismus kommen. Die Stärke <strong>der</strong><br />
Bolschewiki bestand darin, daß bei ihnen in <strong>der</strong> Agrarfrage, wie auch in den an<strong>der</strong>en,<br />
kein Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Wort und Tat herrschte.<br />
Allgemeine soziologische Erwägungen erlaubten nicht, a priori zu entscheiden, ob die<br />
Bauernschaft als Ganzes fähig sei, sich gegen die Gutsbesitzer zu erheben. Das Anwachsen<br />
<strong>der</strong> kapitalistischen Tendenzen in <strong>der</strong> Landwirtschaft in <strong>der</strong> Periode zwischen den<br />
zwei <strong>Revolution</strong>en; die Ausson<strong>der</strong>ung einer festen Farmerschicht aus <strong>der</strong> Urgemeinschaft;<br />
die außerordentliche Zunahme <strong>der</strong> von wohlhabenden und reichen Bauern geleiteten<br />
Dorfkooperationen, all das erlaubte nicht, von vornherein mit Bestimmtheit zu sagen,<br />
welche <strong>der</strong> zwei Tendenzen in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> überwiegen werde: <strong>der</strong> ständisch-ländliche<br />
Antagonismus zwischen Bauernschaft und Adel o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klassenantagonismus innerhalb<br />
<strong>der</strong> Bauernschaft selbst.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 263
Lenin nahm nach seiner Ankunft eine äußerst vorsichtige Position in dieser Frage ein.<br />
»Die Agrarbewegung«, sagte er am 14. April, »ist nur Prognose, aber keine Tatsache ...<br />
Man muß aber mit <strong>der</strong> Möglichkeit rechnen, daß die Bauernschaft sich mit <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
verbündet.« Das ist kein zufällig hingeworfener Gedanke. Im Gegenteil, Lenin<br />
wie<strong>der</strong>holt ihn beharrlich, bei verschiedenen Anlässen: auf <strong>der</strong> Parteikonferenz äußert er<br />
sich am 24. April in seiner Rede gegen die »alten Bolschewiki«, die ihn <strong>der</strong> Unterschätzung<br />
<strong>der</strong> Bauernschaft beschuldigten: »Es ist einer proletarischen Partei nicht erlaubt,<br />
jetzt Hoffnungen auf die Gemeinsamkeit <strong>der</strong> Interessen mit <strong>der</strong> Bauernschaft zu setzen.<br />
Wir kämpfen dafür, daß die Bauernschaft auf unsere Seite trete, sie steht aber, bis zu<br />
einem gewissen Grade bewußt, auf seiten <strong>der</strong> Kapitalisten.« Das zeigt übrigens, wie weit<br />
Lenin entfernt war von <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> ewigen Interessenharmonie zwischen Proletariat<br />
und Bauernschaft, die die Epigonen ihm später zuschrieben. Indem er mit <strong>der</strong> Möglichkeit<br />
rechnete, daß die Bauernschaft "als Stand" noch als revolutionärer Faktor auftreten<br />
werde, bereitete sich Lenin jedoch im April auf die schlimmere Variante, den stabilen<br />
Block <strong>der</strong> Gutsbesitzer, Bourgeoisie und breiten Bauernschichten vor. »Den Muschik<br />
jetzt gewinnen wollen«, sagte er, »heißt, sich <strong>der</strong> Gnade Miljukows ausliefern.« Daraus<br />
die Schlußfolgerung: »Das Schwergewicht auf die Sowjets <strong>der</strong> Landarbeiterdeputierten<br />
verlegen.«<br />
Doch es hat sich die bessere Variante verwirklicht. Die Agrarbewegung wurde aus<br />
einer Prognose Tatsache und zeigte für einen kurzen Augenblick, dafür aber mit außerordentlicher<br />
Schärfe, das Übergewicht <strong>der</strong> ständisch-bäuerlichen Beziehungen über den<br />
kapitalistischen Antagonismus. Die Sowjets <strong>der</strong> Landarbeiterdeputierten gewannen nur<br />
an wenigen Orten Bedeutung, hauptsächlich in den baltischen Provinzen. Dagegen<br />
wurden die Landkomitees zu Organen <strong>der</strong> gesamten Bauernschaft, die sie durch den<br />
Druck ihres Schwergewichts aus Friedenskammern in Werkzeuge <strong>der</strong> Agrarrevolution<br />
umwandelten.<br />
Die Tatsache, daß die Bauernschaft in ihrer Gesamtheit noch einmal, zum letztenmal in<br />
ihrer <strong>Geschichte</strong>, die Möglichkeit erhielt, als revolutionärer Faktor aufzutreten, beweist<br />
gleichzeitig sowohl die Schwäche <strong>der</strong> kapitalistischen Beziehungen im Dorfe, wie auch<br />
<strong>der</strong>en Stärke. Die bürgerliche Ökonomik hatte bei weitem noch nicht Zeit gefunden, die<br />
mittelalterlich-knechtischen Bodenbeziehungen aufzusaugen. Gleichzeitig aber schritt die<br />
kapitalistische Entwicklung so weit vorwärts, daß sie die alten Formen des Bodenbesitzes<br />
für alle Schichten des Dorfes gleichermaßen unerträglich gestaltete. Die Verflechtung <strong>der</strong><br />
gutsherrlichen Besitztümer mit den bäuerlichen, nicht selten mit Vorbedacht so konstruiert,<br />
daß die gutsherrlichen Rechte zu einer Falle für die ganze Gemeinde wurden, die<br />
erschreckende Zerrissenheit des Ackerlandes, schließlich <strong>der</strong> neue Antagonismus<br />
zwischen Bodengemeinschaft und Individualsiedlern, das alles zusammen schuf den<br />
unerträglichen Wirrwarr <strong>der</strong> Bodenbeziehungen, aus dem es auf dem Wege gesetzlicher<br />
Teilmaßnahmen kein Entrinnen gab. Die Bauern fühlten das besser als alle Agrartheoretiker.<br />
Die Lebenserfahrung, sich wandelnd in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Generationen, führte sie alle<br />
zum gleichen Schluß: man muß die ererbten und erworbenen Rechte auf Land austilgen,<br />
alle Marksteine umwerfen und diesen von historischen Uberlieferungen gereinigten<br />
Boden jenen übergeben, die ihn bearbeiten. Dies war <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> Muschik-Aphorismen:<br />
das Land gehört niemand, das Land ist Gott, - und im gleichen Sinne deutete die Bauernschaft<br />
das sozial-revolutionäre Programm <strong>der</strong> Sozialisierung des Bodens. Den Theorien<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 264
<strong>der</strong> Narodniki zuwi<strong>der</strong> gab es hier keine Spur von Sozialismus. Die kühnste Agrarrevolution<br />
ging an und für sich über den Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht<br />
hinaus. Die Sozialisierung, die angeblich jedem Werktätigen "Recht auf Land" sichern<br />
sollte, bildete bei Aufrechterhaltung uneingeschränkter Marktbeziehungen eine offensichtliche<br />
Utopie. Der Menschewismus kritisierte diese Utopie unter bürgerlich-liberalem<br />
Gesichtswinkel. Der Bolschewismus dagegen deckte jene progressiv-demokratische<br />
Tendenz auf, die in <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre einen utopischen Ausdruck fand.<br />
Die Aufdeckung des wahren historischen Sinnes des <strong>russischen</strong> Agrarpjoblerns bildet<br />
eines <strong>der</strong> größten Verdienste Lenins.<br />
Miljukow schrieb, daß für ihn, als »Soziologen und Forscher <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> historischen<br />
Evolution«, das heißt als Menschen, <strong>der</strong> die Geschehnisse von großen Höhen herab<br />
betrachtet, »Lenin und Trotzki eine Bewegung verkörpern, die Pugatschew, Rasin und<br />
Bolotnikow - dem 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t unserer <strong>Geschichte</strong> - viel näher steht als den<br />
letzten Worten des europäischen Anarchosyndikalismus«. Jenes Körnchen Wahrheit, das<br />
in dieser Behauptung des liberalen Soziologen enthalten ist - läßt man den unbekannt<br />
wozu herangezogenen "Anarchosyndikalismus" beiseite -, richtet sich nicht gegen die<br />
Bolschewiki, son<strong>der</strong>n eher schon gegen die russische Bourgeoisie, ihr Zuspätkommen,<br />
ihre politische Bedeutungslosigkeit. Es ist nicht Schuld <strong>der</strong> Bolschewiki, daß die<br />
grandiosen Bauernbewegungen <strong>der</strong> vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>te nicht zur Demokratisierung<br />
<strong>der</strong> sozialen Verhältnisse in Rußland geführt hatten - ohne die Führung <strong>der</strong> Städte<br />
konnte dies nicht verwirklicht werden! -, wie es nicht Schuld <strong>der</strong> Bolschewiki ist, daß die<br />
sogenannte Bauernbefreiung im Jahre 1861 durch Diebstahl von Gemeindeboden,<br />
Versklavung <strong>der</strong> Bauern an den Staat und völlige Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Ständeordnung<br />
vollzogen wurde. Eines ist richtig: die Bolschewiki waren gezwungen, im ersten Viertel<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts das zu. Ende zu führen, was im 17., 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht<br />
zu Ende geführt o<strong>der</strong> überhaupt nicht unternommen worden war. Bevor die Bolschewiki<br />
an ihre eigene große Aufgabe herangehen konnten, mußten sie den Boden vom historischen<br />
Schutt <strong>der</strong> alten herrschenden Klassen und alten Jahrhun<strong>der</strong>te säubern, wobei sie<br />
sich dieser dringenden Aufgabe jedenfalls sehr gewissenhaft entledigten. Dies wird wohl<br />
auch Miljukow jetzt kaum zu bestreiten wagen.<br />
Verschiebungen in den Massen<br />
Im vierten Monat seines Bestehens würgte das Februarregime bereits an seinen eigenen<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchen. Der Juni begann mit dem All<strong>russischen</strong> Rätekongreß, <strong>der</strong> die Aufgabe<br />
hatte, politische Deckung für die Offensive an <strong>der</strong> Front zu schaffen. In Petrograd fiel <strong>der</strong><br />
Beginn <strong>der</strong> Offensive mit einer grandiosen Demonstration <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
zusammen, die von den Versöhnlern gegen die Bolschewiki organisiert worden war, aber<br />
in eine bolschewistische Demonstration gegen die Versöhnler umschlug. Die wachsende<br />
Empörung <strong>der</strong> Massen rief zwei Wochen später eine neue Demonstration hervor, die,<br />
ohne Auffor<strong>der</strong>ung von oben ausgebrochen, zu blutigen Zusammenstößen führte und<br />
unter dem Namen "Julitage" in die <strong>Geschichte</strong> eingegangen ist. Der halbe Aufstand vom<br />
Juli, <strong>der</strong> genau in <strong>der</strong> Mitte zwischen Februar- und Oktoberrevolution liegt, schließt die<br />
erstere ab und ist gewissermaßen die Generalprobe zur zweiten. An <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong><br />
"Julitage" beenden wir diesen Band. bevor wir aber zu den Ereignissen übergehen, <strong>der</strong>en<br />
Schauplatz Petrograd im Juni war, ist es notwendig, die Prozesse, die sich in den Massen<br />
vollzogen, zu untersuchen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 265
Einem Liberalen, <strong>der</strong> Anfang Mai behauptet hatte, daß je linker die Regierung, um so<br />
rechter das Land werde - unter Land verstand <strong>der</strong> Liberale selbstredend die besitzenden<br />
Klassen -, erwi<strong>der</strong>te Lenin: »Ich versichere Ihnen, Bürger, das "Land" <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
armen Bauern ist an die tausend Mai linker als die Tschernow und Zeretelli und an die<br />
hun<strong>der</strong>t Mal linker als wir. Wenn Sie leben werden, werden Sie es sehen.« Lenin war <strong>der</strong><br />
Meinung, daß die Arbeiter und Bauern »an die hun<strong>der</strong>t Mal« linker waren als die<br />
Bolschewiki. Das konnte zumindest unbegründet erscheinen: die Arbeiter und Soldaten<br />
unterstützten doch noch die Versöhnler und hielten sich in ihrer Mehrheit von den<br />
Bolschewiki zurück. Lenin aber schürfte tiefer. Die sozialen Interessen <strong>der</strong> Massen, ihr<br />
Haß und ihre Hoffnungen suchten erst einen Ausdruck. Das Versöhnlertum war für sie<br />
die erste Etappe. Die Massen waren unermeßlich linker als die Tschernow und Zeretelli,<br />
aber ihres Radikalismus' noch selbst nicht bewußt. Lenin hatte auch darin recht, daß die<br />
Massen linker waren als die Bolschewiki, denn in ihrer überwiegenden Mehrheit legte<br />
die Partei sich nicht Rechnung über die Wucht <strong>der</strong> revolutionären Leidenschaften ab, die<br />
in den Tiefen des erwachten Volkes brodelten. Die Empörung <strong>der</strong> Massen wurde durch<br />
die Verschleppung des Krieges, den Wirtschaftsverfall und die böswillige Untätigkeit <strong>der</strong><br />
Regierung genährt.<br />
Die unendliche europäisch-asiatische Ebene war nur dank den Eisenbahnen zu einem<br />
Lande geworden. Der Krieg hatte am aller-schwersten diese getroffen. Der Transport<br />
verfiel immer mehr. Die Zahl <strong>der</strong> kranken Lokomotiven erreichte auf gewissen Strecken<br />
50%. Im Hauptquartier wurden von gelehrten Ingenieuren Referate darüber gehalten, daß<br />
<strong>der</strong> Eisenbalintransport in spätestens einem halben Jahre den Zustand völliger Paralyse<br />
erreicht haben werde. Diese Berechnungen enthielten zu nicht geringem Teil die vorsätzliche<br />
Absicht, Panik zu säen. Immerhin hatte <strong>der</strong> Zerfall des Transportes bedrohliche<br />
Dimensionen erreicht, versperrte die Strecken, desorganisierte den Warenverkehr und<br />
schürte die Teuerung.<br />
Immer schwieriger gestaltete sich die Verpflegung <strong>der</strong> Städte Die Agrarbewegung<br />
hatte bereits 43 Gouvernements erfaßt. Der Brotzustrom für Armee und Stadt verringerte<br />
sich katastrophal. In den fruchtbarsten Landgebieten gab es allerdings noch Dutzende<br />
und Hun<strong>der</strong>te Millionen Pud überflüssigen Getreides. Doch die Einkaufsoperationen zu<br />
festen Preisen ergaben äußerst unzureichende Resultate; selbst das bereitgestellte<br />
Getreide war infolge <strong>der</strong> Transportzerrüttung schwer in die Zentren zu schaffen. Seit<br />
Herbst 1916 erhielt die Front durchschnittlich nur die Hälfte <strong>der</strong> festgelegten Proviantfrachten.<br />
Auf Petrograd, Moskau und an<strong>der</strong>e Industriezentren entfielen nicht mehr als<br />
10% des Notwendigen. Vorräte gab es fast nicht. Das Lebensniveau <strong>der</strong> städtischen<br />
Massen schwankte zwischen Unterernährung und Hunger. Der Antritt <strong>der</strong> Koalitionsregierung<br />
tat sich durch das demokratische Verbot kund, Weißbrot zu backen. Mehrere<br />
Jahre werden nun vergehen, bis das "französische Brot" wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
auftaucht. Es fehlte Butter. Im Juni wurde <strong>der</strong> Zuckerverbrauch durch Rationierung im<br />
ganzen Lande eingeschränkt.<br />
Der durch den Krieg zerschlagene Marktmechanismus war nicht durch jene staatliche<br />
Regulierung ersetzt worden, zu <strong>der</strong> die fortgeschrittensten kapitalistischen Staaten hatten<br />
Zuflucht nehmen müssen und die es allein Deutschland ermöglichte, die vier Kriegsjahre<br />
durchzuhalten.<br />
Katastrophale Symptome des Wirtschaftszerfalls zeigten sich bei jedem Schritt. Das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 266
Sinken <strong>der</strong> Prodnktivität <strong>der</strong> Betriebe wurde hervorgerufen, abgesehen von <strong>der</strong> Transportzerrüttung,<br />
durch Abnutzung <strong>der</strong> Maschinen, Mangel an Rohstoffen und Hilfsmaterial,<br />
Fluktuation des Menschenbestandes, unregelmäßige Finanzierung und schließlich<br />
durch allgemeine Unsicherheit. In alter Weise arbeiteten die wesentlichsten Betriebe für<br />
den Krieg. Die Aufträge. waren für zwei, drei Jahre im voraus verteilt worden. Die<br />
Arbeiter indes wollten nicht an eine Fortdauer des Krieges glauben. Zeitungen brachten<br />
schwindelerregende Zahlen über Kriegsgewinnc. Das Lehen verteuerte sich. Die Arbeiter<br />
erwarteten Än<strong>der</strong>ungen. Das technische und administrative Betriebspersonal schloß sich<br />
in Verbänden zusammen und stellte seine For<strong>der</strong>ungen auf; in diesen Kreisen herrschten<br />
die Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Die Ordnung in den Betrieben ging in die<br />
Brüche. Alle Bande erschlafften. Die Penpektiven des Krieges und <strong>der</strong> Wirtschaft<br />
wurden nebelhaft, die Eigentumsrechte unsicher, die Gewinne sanken, die Gefahren<br />
stiegen, die Unternehmer verloren unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Lust zur<br />
Produktion. In ihrer Gesamtheit beschritt die Bourgeoisie den Weg des ökonomischen<br />
Defätismus. Sie betrachtete die vorübergehenden Verluste und Nachteile durch die<br />
Wirtschaftsparalyse als Unkosten des Kampfes mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die die Grundlagen<br />
<strong>der</strong> "Kultur" bedrohte. Gleichzeitig beschuldigte die wohlgesinnte Presse die Arbeiter<br />
tagein tagaus, sie sabotierten böswillig die Industrie, plün<strong>der</strong>ten das Material, vergeudeten<br />
sinnlos den Heizstoff, um Stillegungen herbeizuführen. Die Lügenhaftigkeit <strong>der</strong><br />
Beschuldigungen überstieg alle Grenzen. Und da es die Presse <strong>der</strong> Partei war, die<br />
faktisch an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Koalitionsregierung stand, übertrug sich die Empörung <strong>der</strong><br />
Arbeiter natürlich auf die Provisorische Regierung.<br />
Die Industriellen hatten die Erfahrung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905 nicht vergessen, wo<br />
die richtig organisierte Aussperrung bei aktiver Unterstützung <strong>der</strong> Regierung nicht nur<br />
den Kampf <strong>der</strong> Arbeiter um den Achtstundentag zum Scheitern gebracht, son<strong>der</strong>n auch<br />
<strong>der</strong> Monarchie bei <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> unschätzbare Dienste geleistet<br />
hatte. Die Frage <strong>der</strong> Aussperrung wurde auch diesmal im Rat <strong>der</strong> Tagungen von Handel<br />
und Industrie - diesen harmlosen Namen trug das Kampforgan des Trust- und Syndikatkapitals<br />
- zur Diskussion gestellt. Einer <strong>der</strong> Industrieführer, Ingenieur Auerbach, erklärte<br />
später in seinen Memoiren, weshalb <strong>der</strong> Aussperrungsgedanke abgelehnt worden war:<br />
»Das hätte den Schein eines Dolchstoßes in den Rücken <strong>der</strong> Armee gehabt ... Die meisten<br />
sahen die Folgen eines solchen Schrittes bei fehlen<strong>der</strong> Unterstützung seitens <strong>der</strong> Regierung<br />
in recht düsteren Farben.« Das ganze Unglück bestand im Fehlen einer "richtigen"<br />
Macht. Die Provisorische Regierung war durch die Sowjets, die vernünftigen Sowjetführer<br />
durch die Massen paralysiert; die Arbeiter in den Betrieben waren bewaffnet; außerdem<br />
hatte fast jede Fabrik in <strong>der</strong> Nachbarschaft ein befreundetes Regiment o<strong>der</strong><br />
Bataillon. Unter solchen Bedingungen schien den Herren Industriellen die Aussperrung<br />
in »nationaler Beziehung odiös«. Doch verzichteten sie keinesfalls auf den Angritff,<br />
son<strong>der</strong>n paßten ihn nur den Umständen an, indem sie ihm nicht einen zeitlich-einheitlichen,<br />
son<strong>der</strong>n einen schleichenden Charakter verliehen. Nach Auerbachs diplomatischem<br />
Ausdruck kamen die Industriellen »schließlich zu dem Ergebnis, daß <strong>der</strong> Anschauungsunterricht<br />
vom Leben selber erteilt werden wird: durch die unvermeidliche, sukzessive<br />
Schließung <strong>der</strong> Fabriken, sozusagen nacheinan<strong>der</strong> - was man tatsächlich bald beobachten<br />
konnte«. Mit an<strong>der</strong>en Worten, indem <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> vereinigten Industriellen die<br />
Aussperrung, weil »mit riesiger Verantwortung« verbunden, ablehnte, empfahl er seinen<br />
Mitglie<strong>der</strong>n, die Betriebe unter passenden Vorwänden einzeln zu schließen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 267
Der Plan <strong>der</strong> schleichenden Aussperrung wurde mit bemerkenswerter Systematik<br />
durchgeführt. Die Vertreter des Kapitals, wie <strong>der</strong> Kadett Kutler, ehemals Minister im<br />
Kabinett Witte, hielten eindrucksvolle Referate über die Vernichtung <strong>der</strong> Industrie,<br />
wobei sie die Schuld nicht den drei Kriegsjahren, son<strong>der</strong>n den drei <strong>Revolution</strong>smonaten<br />
zuschoben. »Es werden zwei, drei Wochen vergehen«, prophezeite <strong>der</strong> ungeduldige<br />
'Rjetsch', »und die Fabriken und Werkstätten werden eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu schließen<br />
beginnen.« Hier war eine Drohung in die Form <strong>der</strong> Prophezeiung gehüllt Ingenieure,<br />
Professoren und Journalisten eröffneten in <strong>der</strong> allgemeinen Presse wie in den Fachorganen<br />
eine Kampagne, bei <strong>der</strong> die Zügelung <strong>der</strong> Arbeiter als Vorbedingung <strong>der</strong> Rettung<br />
dargestellt wurde. Der Minister Konowalow, Industrieller, erklärte am 17. Mai, dem<br />
Vorabend seines demonstrativen Austritts aus <strong>der</strong> Regierung: »Wenn in <strong>der</strong> allernächsten<br />
Zeit nicht eine Ernüchterung <strong>der</strong> benebelten Köpfe stattfinden wird, werden wir<br />
Zeugen dutzen<strong>der</strong> und hun<strong>der</strong>ter Betriebsschließungen sein.«<br />
Mitte Juni for<strong>der</strong>t die Tagung für Handel und Industrie von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
»radikalen Bruch mit dem System <strong>der</strong> Weitertreibung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Wir haben<br />
die For<strong>der</strong>ung schon seitens <strong>der</strong> Generale gehört: »Stellt die <strong>Revolution</strong> ein.« Die<br />
Industriellen aber präzisieren die Frage: »Die Wurzel des Übels liegt nicht nur bei den<br />
Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch bei den sozialistischen Parteien. Nur eine feste, eiserne Hand<br />
kann Rußland retten.«<br />
Nachdem sie die politische Situation vorbereitet hatten, gingen die Industriellen vom<br />
Wort zur Tat über. Im März und April wurden 129 kleinere Unternehmen mit 9.000<br />
Arbeitern geschlossen; im Mai 108 Unternehmen mit <strong>der</strong> gleichen Arbeiterzahl; im Juni<br />
bereits 125 Unternehmen mit 38.000 Arbeitern; im Juli werfen 206 Unternehmen 48.000<br />
Arbeiter auf die Straße. Die Aussperrung entwickelt sich in geometrischer Progression.<br />
Aber das war erst <strong>der</strong> Anfang. Das Textilmoskau folgte Petrograd; die Provinz Moskau.<br />
Die Unternehmer beriefen sich auf den Mangel an Brennstoff, Rohmaterial und Krediten.<br />
Die Betriebskomitees griffen ein und stellten in vielen Fällen böswillige Desorganisierung<br />
<strong>der</strong> Produktion zum Zwecke eines Druckes auf die Arbeiter o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Erpressung<br />
von Staatssubsidien unbestritten fest. Beson<strong>der</strong>s unverschämt benahmen sich die ausländischen<br />
Kapitalisten, die durch Vermittlung ihrer Gesandtschaften vorgingen. In einigen<br />
Fällen war die Sabotage so offensichtlich, daß die Industriellen infolge <strong>der</strong> Enthüllungen<br />
<strong>der</strong> Betriebskomitees gezwungen wurden, die Fabriken wie<strong>der</strong> zu öffnen. So gelangte die<br />
<strong>Revolution</strong>, indem sie einen sozialen Wi<strong>der</strong>spruch nach dem an<strong>der</strong>en aufdeckte, bald zu<br />
dem wichtigsten: dem zwischen Gesellschaftscharakter <strong>der</strong> Produktion und Privatbesitz<br />
an den Produktionsmitteln. Im Interesse des Sieges über die Arbeiter schließt <strong>der</strong> Unternehmer<br />
die Fabrik, als handele es sich um seine Tabaksdose, nicht aber um ein für das<br />
Leben <strong>der</strong> gesamten Nation notwendiges Unternehmen. Die Banken, die erfolgreich die<br />
Freiheitsanleihe boykottierten, stellten sich in Kampfposition gegen die Attentate des<br />
Fiskus auf das Großkapital. In einem an den Finanzminister gerichteten Brief »prophezeiten«<br />
die Bankiers für den Fall radikaler Finanzreformen den Kapitalabfluß ins<br />
Ausland und die Abwan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Devisen in die Safes. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die<br />
Bankpatrioten drohten mit finanzieller Aussperrung als Ergänzung zur industriellen. Die<br />
Regierung zog sich eiligst aus dem Spiel: waren doch die Organisatoren <strong>der</strong> Sabotage<br />
solide Männer, die wegen Krieg und <strong>Revolution</strong> Kapital riskieren mußten, nicht aber<br />
irgendwelche Kronstädter Matrosen, die außer ihren eigenen Köpfen nichts zu riskieren<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 268
hatten.<br />
Das Exekutivkomitee mußte einsehen, daß die Verantwortung für die ökonomischen<br />
Geschicke des Landes, beson<strong>der</strong>s nach dem offenen Anschluß <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> an die<br />
Macht, in den Augen <strong>der</strong> Massen auf <strong>der</strong> regierenden Sowjetmacht ruhte. Die<br />
Wirtschaftsabteilung des Exekutivkomitees arbeitete ein weitgehendes Programm <strong>der</strong><br />
staatlichen Regulierung des Wirtschaftslebens aus. Unter dem Druck <strong>der</strong> bedrohlichen<br />
Lage erwiesen sich die Vorschläge <strong>der</strong> sehr gemäßigten Ökonomisten weit radikaler als<br />
ihre Autoren. »Für gewisse Industriezweige«, lautete das Programm »ist die Zeit für ein<br />
staatliches Handelsrnonopol (Brot, Fleisch, Salz, Le<strong>der</strong>) reif; die an<strong>der</strong>en sind reif für<br />
die Bildung staatlich regulierter Trusts (Kohle, Petroleum, Metall, Zucker, Papier), und<br />
schließlich erfor<strong>der</strong>n unter den heutigen Verhältnissen fast sämtliche Industriezweige die<br />
regulierende Beteiligung des Staates an <strong>der</strong> Verteilung des Rohstoffes und <strong>der</strong> zu<br />
bearbeitenden Produkte wie auch an <strong>der</strong> Preisfixierung ... Gleichzeitig ist erfor<strong>der</strong>lich,<br />
alle Kreditinstitutionen unter Kontrolle zu stellen.«<br />
Bei <strong>der</strong> Kopflosigkeit <strong>der</strong> politischen Führer nahm das Exekutivkomitee am i6. Mai die<br />
Vorschläge seiner Ökonomisten fast ohne Diskussion an und bekräftigte sie durch eine<br />
eigenartige Warnung an die Adresse <strong>der</strong> Regierung: sie müsse »die Aufgabe <strong>der</strong> planmäßigen<br />
Organisierung <strong>der</strong> Volkswirtschaft und <strong>der</strong> Arbeit« übernehmen, in Erinnerung<br />
daran, daß infolge <strong>der</strong> Nichterfüllung dieser Aufgabe »das alte Regime fallen und die<br />
Provisorische Regierung umgebildet werden mußte«. Um sich Mut zu machen, machten<br />
die Versöhnler sich Angst.<br />
»Das Programm ist großartig«, schrieb Lenin, »sowohl Kontrolle wie Verstaatlichung<br />
<strong>der</strong> Trusts, wie Bekämpfüng <strong>der</strong> Spekulation, wie Arbeitspflicht ... Man ist gezwungen,<br />
sich zum Programm des "schrecklichen" Bolschewismus zu bekennen, denn es kann kein<br />
an<strong>der</strong>es Programm, keinen Ausweg aus <strong>der</strong> tatsächlich drohenden schrecklichen<br />
Katastrophe geben ...« Die Frage war nur, wer dies großartige Programm verwirklichen<br />
sollte? Vielleicht die Koalition? Die Antwort erfolgte unverzüglich. Am Tage nach <strong>der</strong><br />
Annahme des ökonomischen Programms durch das Exekutivkomitee demissionierte, die<br />
Türe laut hinter sich zuschlagend, <strong>der</strong> Minister für Handel und Industrie, Konowalow.<br />
Ihn ersetzte vorübergehend <strong>der</strong> Ingenieur Paltschinski, ein nicht weniger getreuer, doch<br />
energischerer Vertreter des Großkapitals. Die Ministersozialisten wagten nicht einmal,<br />
ihren liberalen Kollegen das Programm des Exekutivkomitees ernstlich vorzuschlagen.<br />
Hatte doch Tschernow vergeblich versucht, das Verbot von Landverkäufen bei <strong>der</strong><br />
Regierung durchzusetzen!<br />
In Beantwortung <strong>der</strong> wachsenden Schwierigkeiten stellte die Regierung ihrerseits ein<br />
Programm zur Entlastung Petrograds auf, das heißt, Fabriken und Werkstätten ins Innere<br />
des Landes zu verlegen. Das Programm wurde sowohl mit militärischen Erwägungen -<br />
<strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Besetzung <strong>der</strong> Hauptstadt durch die Deutsthen - wie mit ökonomischen -<br />
<strong>der</strong> großen Entfernung Petrograds von den Brenn- und Rohstoffquellen - begründet. Die<br />
Entlastung hätte die Liquidierung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Industrie für eine Reihe von Monaten<br />
und Jahren bedeutet. Der politische Zweck bestand darin, die Avantgarde <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />
über das ganze Land zu zerstreuen. Parallel damit erfand die Militärbehörde<br />
Vorwand auf Vorwand für die Entfernung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile aus Petrograd.<br />
Paltschinski bemühte sich aus allen Kräften, die Arbeitersektion des Sowjets von den<br />
Vorzügen <strong>der</strong> Entlastung zu überzeugen. Diese Aufgabe ohne o<strong>der</strong> gegen die Arbeiter zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 269
verwirklichen, war unmöglich; die Arbeiter aber willigten nicht ein. Die Entlastung kam<br />
ebensowenig vorwärts wie die Regulierung <strong>der</strong> Industrie. Der Zerfall vertiefte sich, die<br />
Preise stiegen, die stille Aussperrung verbreiterte sich und gleichzeitig damit die Arbeitslosigkeit.<br />
Die Regierung kam nicht vom Fleck. Miljukow schrieb später: »Das Ministerium<br />
schwamm einfach mit dem Strom, <strong>der</strong> Strom aber führte in das bolschewistische<br />
Bett.« Ja, <strong>der</strong> Strom führte in das bolschewistische Bett.<br />
Das Proletariat war die hauptsächliche Triebkraft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Gleichzeitig formte<br />
die <strong>Revolution</strong> das Proletariat. Das aber brauchte es sehr notwendig.<br />
Vor uns hat sich die entscheidende Rolle <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter in den Februartagen<br />
abgespielt. Die stärksten Kampfpositionen nahmen die Bolschewikl ein. Nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung jedoch rücken sie plötzlich irgendwohin in den Hintergrund. Die politische<br />
Rampe besetzen die Versöhnlerparteien. Sie übergeben die Macht <strong>der</strong> liberalen<br />
Bourgeoisic. Das Banner des Blocks ist <strong>der</strong> Patriotismus. Sein Druck ist so stark, daß die<br />
Führung <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, mindestens zur Hälfte, vor ihm kapituliert Mit <strong>der</strong><br />
Ankunft Lenins än<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong> Kurs <strong>der</strong> Partei schroff, und gleichzeitig wächst ihr<br />
Einfluß schnell. In <strong>der</strong> bewaffneten Aprildemonstration versuchen bereits die fortgeschrittenen<br />
Abteilungen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten, die Ketten des Versöhnlertums zu<br />
sprengen. Doch nach <strong>der</strong> ersten Anstrengung ziehen sie sich zurück. Die Versöhnler<br />
bleiben am Steuer.<br />
Später, nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, wurde nicht wenig über das Thema geschrieben,<br />
die Bolschewiki verdankten ihren Sieg <strong>der</strong> kriegsmüden Bauernarmee. Das ist eine sehr<br />
oberflächliche Erklärung. Die entgegengesetzte Behauptung käme <strong>der</strong> Wahrheit näher:<br />
wenn die Versöhnler in <strong>der</strong> Februarrevolution den vorherrschenden Platz einzunehmen<br />
vermochten, so vor allem dank <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Stellung, die die Bauernarmee im Leben<br />
des Landes innehatte. Würde sich die <strong>Revolution</strong> in Friedenszeiten entwickelt haben, die<br />
führende Rolle des Proletariats hätte von Anfang an einen krasser ausgesprochenen<br />
Charakter erhalten. Ohne Krieg wäre <strong>der</strong> revolutionäre Sieg später gekommen und, sieht<br />
man von den Kriegsopfern ab, teurer erkauft worden. Doch für die Überschwemmung<br />
mit Versöhnler- und Patriotenstimmungen hätte er keinen Platz übriggelassen. Die <strong>russischen</strong><br />
Marxisten, die die Eroberung <strong>der</strong> Macht durch das Proletariat im Verlaufe <strong>der</strong><br />
bürgerlichen <strong>Revolution</strong> lange vor den Ereignissen vorausgesagt hatten, waren jedenfalls<br />
nicht von vorübergehenden Stimmungen <strong>der</strong> Bauernarmee, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> Klassenstruktur<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Gesellschaft ausgegangen. Diese Prognose hatte sich restlos<br />
bestätigt. Nur erlitt das grundlegende Klassenverhälmis eine Brechung durch den Krieg<br />
und verschob sich vorübergehend unter dem Druck <strong>der</strong> Armee, das heißt, <strong>der</strong> Organisation<br />
deklassierter und bewaffneter Bauern. Gerade diese künstliche soziale Formation<br />
hatte die Positionen des kleinbürgerlichen Versöhnlertums außerordentlich gefestigt und<br />
ihm die Möglichkeit zu acht Monate währenden Experimenten geschaffen, die Land und<br />
<strong>Revolution</strong> schwächten.<br />
Die Frage nach den Wurzeln des Versöhnlertums ist jedoch nicht mit dem Hinweis auf<br />
die Bauernarmee erschöpfend beantwortet. Im Proletariat selbst, in seiner Zusammensetzung,<br />
seinem politischen Niveau, muß man die ergänzenden Ursachen <strong>der</strong> vorübergehenden<br />
Übermacht <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre suchen. Der Krieg hatte<br />
ungeheure Verän<strong>der</strong>ungen in die Zusammensetzung und Stimmung <strong>der</strong> Arbeiterklasse<br />
hineingebracht. Waren die vorangegangenen Jahre eine Zeit steigen<strong>der</strong> revolutionärer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 270
Brandung, so hatte <strong>der</strong> Krieg diesen Prozeß jäh unterbrochen. Die Mobilisierung war<br />
nicht nur unter militärischem, son<strong>der</strong>n in erster Linie polizeilichem Gesichtspunkte<br />
ausgedacht und durchgeführt worden. Die Regierung hatte sich beeilt, die industriellen<br />
Bezirke von <strong>der</strong> aktivsten und unruhigsten Arbeiterschicht zu säubern. Man kann als<br />
feststehend betrachten, daß die Mobilisierung in den ersten Kriegsmonaten bis zu 40%<br />
hauptsächlich qualifizierter Arbeiter <strong>der</strong> Industrie entriß. Ihr Fehlen beeinflußte den<br />
Gang <strong>der</strong> Produktion sehr stark und rief um so leidenschaftlichere Proteste bei den<br />
Industriellen hervor, je höhere Gewinne die Kriegsindustrie eintrug. Der weiteren<br />
Vernichtung <strong>der</strong> Arbeiterka<strong>der</strong> wurde Einhalt getan. Von <strong>der</strong> Industrie benötigte Arbeiter<br />
stellte man als Kriegsdienstpfüchtige zurück. Die durch die Mobilisierung entstandene<br />
Bresche ersetzte man durch Zugewan<strong>der</strong>te aus dem Dorfe, städtisches Kleinvolk, wenig<br />
qualifizierte Arbeiter, Frauen, Halbwüchsige. Der Prozentsatz <strong>der</strong> Frauen in <strong>der</strong> Industrie<br />
stieg von 32 auf 40.<br />
Der Erneuerungs- und Verdünnungsprozeß des Proletariats vollzog sich gerade in <strong>der</strong><br />
Hauptstadt in beson<strong>der</strong>em Ausmaße. In den Kriegsjahren von 1914-1917 stieg die Zahl<br />
<strong>der</strong> Großbetriebe mit über 500 Arbeitern im Petrogra<strong>der</strong> Gouvernement fast um das<br />
Doppelte. Infolge <strong>der</strong> Liquidierung <strong>der</strong> Fabriken und Werkstätten in Polen und beson<strong>der</strong>s<br />
im Baltikum, hauptsächlich jedoch infolge <strong>der</strong> allgemeinen Zunahme <strong>der</strong> Kriegsindustrie,<br />
waren in Petrograd um 1917 in den Fabriken etwa 400.000 Arbeiter konzentriert. Davon<br />
entfielen 335.000 auf 140 Großbetriebe. Die kampffähigsten Elemente des Petrogra<strong>der</strong><br />
Proletariats haben an <strong>der</strong> Front bei Herausbildung <strong>der</strong> revolutionären Stimmung in <strong>der</strong><br />
Armee keine geringe Rolle gespielt. Doch die sie ersetzenden gestrigen Dörfler, häufig<br />
wohlhabende Bauern und Krämer, die sich in <strong>der</strong> Fabrik vor <strong>der</strong> Front drückten, ferner<br />
die Frauen und Jugendlichen waren viel zahmer als die Ka<strong>der</strong>arbeiter. Es muß noch<br />
hinzugefügt werden, daß die qualifizierten Arbeiter, in die Lage von Kriegsdienstpflichtigen<br />
geraten - und solcher gab es Hun<strong>der</strong>ttausende -, wegen <strong>der</strong> Gefahr, an die Front<br />
geworfen zu werden, äußerste Vorsicht übten. Dies ist die soziale Basis <strong>der</strong> patriotischen<br />
Stimmungen, die einen Teil <strong>der</strong> Arbeiter noch unter dem Zaren erfaßt hatte.<br />
Doch war dieser Patriotismus ohne Beständigkeit. Erbarmungsloser militärisch-polizeilicher<br />
Druck, verdoppelte Ausbeutung, Nie<strong>der</strong>lagen an <strong>der</strong> Front und Zerrüttung <strong>der</strong><br />
Wirtschaft stießen die Arbeiter in den Kampf. Aber während des Krieges trugen die<br />
Streiks hauptsächlich ökonomischen Charakter und zeichneten sich durch größere<br />
Mäßigkeit als vor dem Kriege aus. Die Schwächung <strong>der</strong> Klasse verschlimmerte sich noch<br />
durch die Schwächung ihrer Partei. Nach <strong>der</strong> Verhaftung und Verbannung <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Deputierten wurde mit Hilfe einer im voraus vorbereiteten Provokateurhierarchie<br />
die Zerstörung <strong>der</strong> bolschewistischen Organisationen vorgenommen, von <strong>der</strong> die<br />
Partei sich bis zur Februarumwälzung nicht zu erholen vermochte. Während <strong>der</strong> Jahre<br />
1915 und 1916 mußte die verdünnte Arbeiterklasse die Elementarschule des Kampfes<br />
durchmachen, bevor die ökonomsehen Teilstreiks und Demonstrationen hungern<strong>der</strong><br />
Frauen im Februar 1917 in einen Generalstreik münden und die Armee in den Aufstand<br />
hineinziehen konnten.<br />
Auf diese Weise ging das Petrogra<strong>der</strong> Proletariat in die Februar-revolution nicht nur in<br />
einer äußerst verschiedenartigen, noch nicht amalgamierten Zusammensetzung hinein,<br />
son<strong>der</strong>n auch mit einem herabgemin<strong>der</strong>ten politischen Niveau, sogar seiner fortgeschrittensten<br />
Schichten. In <strong>der</strong> Provinz stand die Sache noch schlimmer. Nur dieser durch den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 271
Krieg verursachte Rückfall in politischen Analphabetismus und Halbanalphabetisrnus<br />
des Proletariats schuf die zweite Bedingung für die vorübergehende Herrschaft <strong>der</strong><br />
Versöhnlerparteien.<br />
Eine <strong>Revolution</strong> lehrt, und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte<br />
den Massen etwas Neues. Je<strong>der</strong> zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar - <strong>der</strong><br />
Aufstand. Ende April - Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd!<br />
Anfang Juli - ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren<br />
Parolen. Ende August - <strong>der</strong> Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen.<br />
Ende Oktober - Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch<br />
die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe,<br />
molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile <strong>der</strong> Arbeiterklasse in ein politisches<br />
Ganzes verschmolzen. Die entscheidende Rolle spielte dabei wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Streik.<br />
Eingeschüchtert vom Donner <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> mitten in das Bacchanal von Kriegsgewinnen<br />
eingeschlagen hatte, ließen sich die Industriellen in den ersten Wochen auf<br />
Zugeständnisse an die Arbeiter ein. Die Petrogra<strong>der</strong> Fabrikbesitzer erklärten sich sogar<br />
unter Vorbehalten und Einschränkungen mit dem Achtstundentag einverstanden. Doch<br />
brachte das keine Beruhigung, da das Lebensniveau unablässig sank. Im Mai war das<br />
Exekutivkomitee gezwungen, festzustellen, daß die Lage <strong>der</strong> Arbeiter bei <strong>der</strong> wachsenden<br />
Teuerung »für viele Kategorien an chronischen Hunger grenzt«. In den Arbeitervierteln<br />
wurde die Stimmung nervöser und gespannter. Am meisten bedrückte das Fehlen<br />
einer Perspektive. Die Massen sind schwerste Entbehrungen zu tragen imstande, wenn<br />
sie wissen, wofür. Das neue Regime enthüllte sich ihnen aber immer mehr als<br />
Verschleierung <strong>der</strong> alten Verhältnisse, gegen die sie sich im Februar erhoben hatten. Dies<br />
wollten sie nicht dulden.<br />
Beson<strong>der</strong>s stürmischen Charakter nehmen die Streiks unter den rückständigsten und<br />
ausgebeutetsten Arbeiterschichten an. Waschfrauen, Anstreicher, Böttcher, Handelsangestellte,<br />
Bauarbeiter, Sattler, Maler, Tagelöhner, Schuhmacher, Papparbeiter, Wurstmacher,<br />
Schreiner streiken Schlag aufSchlag während des ganzen Juni. Die Metallarbeiter<br />
dagegen beginnen, eine bremsende Haltung einzunehmen. Die fortgeschrittenen Arbeiter<br />
kamen immer mehr zu <strong>der</strong> Einsicht, daß ökonomische Teilstreiks unter den Bedingungen<br />
von Krieg, Wirtschaftszerfall und Inflation keine ernstliche Besserung bringen können,<br />
daß irgendwelche Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Grundlagen selbst notwendig sind. Die Aussperrung<br />
machte die Arbeiter nicht nur für die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kontrolle über die Industrie<br />
empfänglich, son<strong>der</strong>n brachte sie auch auf den Gedanken von <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Übernahme <strong>der</strong> Fabriken in Staatshände. Diese Schlußfolgerung erschien um so natürlicher,<br />
als die Mehrzahl <strong>der</strong> Privatbetriebe für den Krieg arbeitete und daneben bereits<br />
Staatsunternehmen solcher Art existierten. Schon im Sommer 1917 kommen aus allen<br />
Enden Rußlands Arbeiter-und Angestelltendelegationen in die Hauptstadt mit Gesuchen<br />
um Übernahme von Betrieben durch den Fiskus, da die Aktionäre die Zahlungen eingestellt<br />
hatten. Die Regierung wollte jedoch nichts davon hören. Folglich mußte man die<br />
Regierung auswechseln. Die Versöhnler wirkten dem entgegen. Die Arbeiter machten<br />
Front gegen die Versöhnler.<br />
Das Putilow-Werk mit seinen 40.000 Arbeitern schien in den ersten <strong>Revolution</strong>smonaten<br />
die Feste <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre zu sein. Doch hielt seine Garnison den Bolschewiki<br />
nicht lange stand. An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Angreifer konnte man am häufigsten Wolodarski<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 272
sehen. Früher Schnei<strong>der</strong>, Jude, <strong>der</strong> viele Jahre in Amerika verbracht und die englische<br />
Sprache gut erlernt hatte, war Wolodarski ein glänzen<strong>der</strong> Massenredner, logisch, schlagfertig<br />
und kühn. Die amerikanische Betonung machte seine klangvolle Stimme, die in<br />
vieltausendköpfigen Versammlungen klar ertönte, eigenartig ausdrucksvoll. »Mit seinem<br />
Erscheinen im Narwski-Bezirk«, erzählt <strong>der</strong> Arbeiter Minitschew, »begann im Putilow-<br />
Werk <strong>der</strong> Boden unter den Füßen <strong>der</strong> Herren Sozial-revolutionäre zu schwanken, und<br />
nach kaum zwei Monaten gingen die Putilow-Arbeiter mit den Bolschewiki.«<br />
Das Anwachsen <strong>der</strong> Streiks und des Klassenkampfes überhaupt steigerte fast automatisch<br />
den Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki. In allen Fällen, wo es sieh um Lebensinteressen<br />
handelte, mußten sich die Arbeiter überzeugen, daß die Bolschewiki keine Hintergedanken<br />
hatten, nichts verheimlichten und daß man sich auf sie verlassen konnte. In Stunden<br />
<strong>der</strong> Konflikte strebten alle Arbeiter, Parteilose, Sozialrevolutionäre, Menschewiki, den<br />
Bolschewiki zu. Dies erklärt jene Tatsache, daß die Betriebskomitees, die den Kampf für<br />
die Existenz ihrer Betriebe gegen die Sabotage <strong>der</strong> Administration und <strong>der</strong> Besitzer<br />
führten, lange vor dem Sowjet zu den Bolschewiki übergegangen waren. Auf <strong>der</strong> Konferenz<br />
<strong>der</strong> Betriebskomitees von Petrograd und Umgebung stimmten Anfang Juni von 421<br />
Delegierten 335 für die bolschewistische Resolution. Diese Tatsache blieb von <strong>der</strong><br />
großen Presse ganz unbemerkt. Indes bedeutete sie, daß das Petrogra<strong>der</strong> Proletariat,<br />
bevor es noch mit den Venöhnlern gebrochen hatte, in allen Kernfragen des ökonomischen<br />
Lebens faktisch auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki übergegangen war.<br />
Auf <strong>der</strong> Junikonferenz <strong>der</strong> Gewerkschaften wurde festgestellt, daß es in Petrograd über<br />
fünfzig Gewerkschaftsverbände mit einer Gesamtzahl von mindestens 250.000 Mitglie<strong>der</strong>n<br />
gab. Der Metallarbeiterverband zählte annähernd 100.000 Arbeiter. Im Laufe des<br />
einen Monats Mai hatte sich seine Mitglie<strong>der</strong>zahl verdoppelt. Noch schneller wuchs <strong>der</strong><br />
Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki in den Gewerkschaften.<br />
Alle partiellen Neuwahlen in die Sowjets brachten den Bolschewiki Siege. Am 1. Juni<br />
waren im Moskauer Sowjet bereits 206 Bolschewiki gegen 172 Menschewiki und 110<br />
Sozialrevolutionäre. Die gleichen Verschiebungen, wenn auch langsamer, vollzogen sich<br />
in <strong>der</strong> Provinz. Die Zahl <strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong> stieg ununterbrochen. Ende April zählte die<br />
Petrogra<strong>der</strong> Organisation etwa 15.000 Mitglie<strong>der</strong>, Ende Juni über 32.000.<br />
Die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjet besaß zu dieser Zeit bereits eine bolschewistische<br />
Mehrheit. Jedoch bei den vereinigten Sitzungen bei<strong>der</strong> Sektionen erdrückten<br />
die Soldatendeputierten die Bolschewiki. Die 'Prawda' for<strong>der</strong>te immer dringlicher allgemeine<br />
Neuwahlen: »500.000 Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter haben im Sowjet nur ein Viertel soviel<br />
Vertreter wie 150.000 Soldaten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison.«<br />
Auf dem Rätekongreß im Juni for<strong>der</strong>te Lenin ernste Maßnahmen gegen die Aussperrung,<br />
Ausplün<strong>der</strong>ung und die planmäßige Zersetzung des Wirtschaftslebens seitens <strong>der</strong><br />
Industriellen und Bankiers. »Veröffentlicht die Gewinne <strong>der</strong> Herren Kapitalisten, verhaftet<br />
fünfzig o<strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> reichsten Millionäre. Es genügt, sie einige Wochen in Haft<br />
zu halten - und sei es auch unter ebensolchen Vergünstigungen, wie sie Nikolai<br />
Romanow genießt -, mit dem einfachen Zwecke, sie zu zwingen, die Fäden, die<br />
Betrugsrnanöver, den Schmutz und Eigennutz aufzudecken, die auch unter <strong>der</strong> neuen<br />
Regierung unser Land Millionen kosten.« Lenins Vorschlag erschien den Sowjetiührern<br />
ungeheuerlich. »Ist es denn möglich, mit Hilfe von Gewalt an einzelnen Kapitalisten die<br />
Gesetze des ökonomischen Lebens zu än<strong>der</strong>n?« Der Umstand, daß die Industriellen mit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 273
Hilfe einer Verschwörung gegen die Nation ihre Gesetze diktierten, schien sie nicht zu<br />
stören. Kerenski, <strong>der</strong> Lenin mit poltern<strong>der</strong> Empörung überfiel, hatte vor einem Monat<br />
nicht davor zurückgescheut, viele Tausende Arbeiter zu verhaften, die über die »Gesetze<br />
des ökonomischen Lebens« an<strong>der</strong>er Meinung waren als die Industriellen.<br />
Die Verbindung zwischen Ökonomik und Politik kam immer stärker zum Vorschein.<br />
Der Staat, <strong>der</strong> als mystisches Prinzip aufzutreten gewohnt war, wirkte jetzt immer häufiger<br />
in seiner primitivsten Form, das heißt in Gestalt von Abteilungen bewaffneter<br />
Menschen. Unternehmer, die sich weigerten, Zugeständnisse zu machen o<strong>der</strong> auch nur in<br />
Verhandlungen einzutreten, wurden von den Arbeitern an verschiedenen Orten des<br />
Landes bald gewaltsamer Vorführung vor den Sowjet, bald dem Hausarrest unterworfen.<br />
Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß die Arbeitermiliz zum Gegenstand beson<strong>der</strong>en Hasses <strong>der</strong><br />
besitzenden Klassen wurde.<br />
Der ursprüngliche Beschluß des Exekutivkomitees über die Bewaffnung von zehn<br />
Prozent <strong>der</strong> Arbeiter war nicht erfüllt worden. Aber es gelang den Arbeitern dennoch,<br />
sich teilweise zu bewaffnen, wobei die aktivsten Elemente die Reihen <strong>der</strong> Miliz füllten.<br />
Die Leitung <strong>der</strong> Arbeiterrmiliz konzentrierte sich in den Händen <strong>der</strong> Betriebskomitees,<br />
und die Leitung <strong>der</strong> Betriebkomitees ging immer mehr in die Hände <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
über. Ein Arbeiter <strong>der</strong> Moskauer Fabrik "Postawschtschik" erzählt: »Am 1. Juni, gleich<br />
nachdem das neue Betriebskomitee, in <strong>der</strong> Mehrzahl aus Bolschewiki bestehend, gewählt<br />
war, wurde eine Abteilung von 80 Mann formiert, die unter Leitung eines alten Soldaten,<br />
des Genossen Lewakow, mangels Waffen mit Stöcken ausgebildet wurde.«<br />
Die Presse beschuldigte die Miliz <strong>der</strong> Gewaltakte, Requisitionen und ungesetzlicher<br />
Verhaftungen. Zweifellos wandte die Miliz Gewalt an: gerade dazu war sie ja gebildet<br />
worden. Ihr Verbrechen jedoch bestand darin, daß sie Gewalt gegen Vertreter jener<br />
Klasse anwandte, die nicht gewohnt war und sich nicht gewöhnen wollte, Objekt <strong>der</strong><br />
Gewalt zu sein.<br />
Auf dem Putilow-Werk, das im Kampfe um die Erhöhung des Arbeitslohnes die<br />
Führerrolle spielte, versammelte sich am 23. Juni eine Konferenz unter Beteiligung von<br />
Vertretern des Zentralsowjets <strong>der</strong> Betriebskomitees, des Zentralbüros <strong>der</strong> Gewerkschaften<br />
und 73 Fabriken. Unter dem Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki nahm die Konferenz eine<br />
Resolution an, wonach <strong>der</strong> Streik des Betriebes unter den gegebenen Verhältnissen zu<br />
einem »unorganisietten politischen Kampf <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter« führen könne, und<br />
schlug deshalb den Putilow-Arbeitern vor, »ihre berechtigte Empörung zurückzuhalten«<br />
und sich auf ein allgemeines Hervortreten vorzubereiten.<br />
Am Vorabend dieser wichtigen Konferenz warnte die bolschewistische Fraktion das<br />
Exekutivkomitee: »Eine vierzigtausendköpfige Masse ... kann jeden Tag in den Streik<br />
treten und auf die Straße gehen. Sie wäre bereits auf die Straße gegangen, wenn unsere<br />
Partei sie nicht davon zurückgehalten hätte, wobei keine Garantie besteht, daß es auch<br />
fernerhin gelingen wird, sie zurückzuhalten. Das Hervortreten <strong>der</strong> Putilow-Arbeiter<br />
würde unvameidlich - daran kann kein Zweifel bestehen - ,das Hervortreten <strong>der</strong> Mehrheit<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten zur Folge haben.«<br />
Die Führer des Exekutivkomitees betrachteten solche Warnungen als Demagogie o<strong>der</strong><br />
überhörten sie eintach; sie wollten in ihrer Ruhe nicht gestört werden. Sie selbst hatten<br />
fast völlig aufgehört, Fabriken und Kasernen zu besuchen, da die Arbeiter und Soldaten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 274
in ihnen nur noch feindselige Gestalten erblickten. Nur die Bolschewiki genossen jene<br />
Autorität, die ihnen gestattete, die Arbeiter und Soldaten von zersplitterten Aktionen<br />
zurückzuhalten. Doch die Ungeduld <strong>der</strong> Massen wandte sich manchmal auch schon<br />
gegen die Bolschewiki.<br />
In den Fabriken und in <strong>der</strong> Flotte tauchten Anarchisten auf. Wie immer angesichts<br />
großer Ereignisse und großer Massen, enthüllten sie ihre organische Unzulänglichkeit.<br />
Sie konnten um so leichter die Staatsmacht verneinen, da sie die Bedeutung <strong>der</strong> Sowjets<br />
als Organe des neuen Staates ganz und gar nicht begriffen. Übrigens schwiegen sie sich,<br />
von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> betäubt, zumeist über die Staatsfrage einfach aus. Ihre Selbständigkeit<br />
offenbarten sie hauptsächlich auf dem Gebiet kleiner Raketenschüsse. Die ökonomische<br />
Sackgasse und die wachsende Erbitterung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter verschafften den<br />
Anarchisten einige Stützpunkte. Unfähig, ernsthaft das Kräfteverhältnis im Staatsmaßstabe<br />
einzuschätzen, bereit, jeden Stoß von unten als den letzten rettenden Schlag zu<br />
betrachten, beschuldigten sie häufig die Bolschewiki <strong>der</strong> Zaghaftigkeit und sogar des<br />
Versöhnlertums. Doch über Murren gingen sie gewöhnlich nicht hinaus. Der Wi<strong>der</strong>hall<br />
<strong>der</strong> Massen auf die anarchistischen Aktionen diente den Bolschewiki mitunter als<br />
Gradmesser des Kräftedrucks des revolutionären Dampfes.<br />
Die Matrosen, die Lenin auf dem Finnländischen Bahnhof einen Empfang bereitet<br />
hatten, erklärten zwei Wochen später unter dem patriotischen Ansturm, <strong>der</strong> von allen<br />
Seiten auf sie eindrang: »Hätten wir gewußt ... auf welchem Wege er zu uns gelangt ist,<br />
es wären anstatt begeisterter "Hurra"-Schreie unsere empörten Rufe ertönt: "Nie<strong>der</strong>!<br />
Zurück in das Land, durch das du zu uns gekommen bist" ...« Die Soldatensowjets in <strong>der</strong><br />
Krim drohten einer nach dem an<strong>der</strong>en, das Eindringen Lenins auf die patriotische<br />
Halbinsel, wohin zu reisen er gar nicht beabsichtigte, mit bewaffneter Hand zu verhin<strong>der</strong>n.<br />
Das Wolynski-Regiment, <strong>der</strong> Koryphäe des 27. Februar, beschloß sogar in <strong>der</strong><br />
Erregung, Lenin zu verhaften, so daß das Exekutivkomitee sich veranlaßt fühlte,<br />
Maßnahmen dagegen zu treffen. Stimmungen dieser Art hatten sich bis zur Junioffensive<br />
nicht restlos verloren, und ihre Rückfälle flammten nach den Julitagen grell auf Gleichzeitig<br />
redeten die Soldaten <strong>der</strong> entlegensten Garnisonen und <strong>der</strong> fernsten Frontabschnitte<br />
immer kühner in <strong>der</strong> Sprache des Bolschewismus; zumeist, ohne es zu ahnen. Es gab bei<br />
den Regimentern nur vereinzelte Bolschewiki, doch die bolschewistischen Losungen<br />
drangen immer tiefer ein. Gleichsam von selbst erstanden sie in allen Teilen des Landes.<br />
Die liberalen Beobachter sahen darin nichts als Unbildung und Chaos. Die 'Rjetsch'<br />
schrieb: »Unsere Heimat verwandelt sich buchstäblich in irgendein Irrenhaus, wo Besessene<br />
das Heft und das Kommando in <strong>der</strong> Hand halten, Menschen aber, die den Verstand<br />
nicht verloren haben, treten erschrocken beiseite und drücken sich an die Wände.« Mit<br />
genau den gleichen Worten haben die "Gemäßigten" aller <strong>Revolution</strong>en ihre Seele<br />
erleichtert. Die Versöhnlerpresse tröstete sich damit, daß die Soldaten, trotz aller Mißverständnisse,<br />
von den Bolschewiki nichts wissen wollten. Indes bildete <strong>der</strong> unbewußte<br />
Bolschewismus <strong>der</strong> Massen, die Logik <strong>der</strong> Entwicklung wi<strong>der</strong>spiegelnd, die unverbrüchliche<br />
Kraft <strong>der</strong> Leninschen Partei.<br />
Der Soldat Pirejko erzählt, bei den Wahlen an <strong>der</strong> Front seien nach dreitägigen Diskussionen<br />
nur Sozialrevolutionäre zum Rätekongreß durchgekommen, die Soldatendeputierten<br />
hätten aber trotz <strong>der</strong> Proteste <strong>der</strong> Führer gleichzeitig eine Resolution angenommen<br />
über die Notwendigkeit, den gutsherrlichen Boden zu enteignen, ohne die Konstituie-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 275
ende Versammlung abzuwarten. Ȇberhaupt waren die Soldaten in Fragen, die sie<br />
begreifen konnten, linker gestimmt als die radikalsten <strong>der</strong> radikalen Bolschewiki.«<br />
Dasselbe meinte auch Lenin, als er sagte, die Massen seien »an die hun<strong>der</strong>t Mal linker<br />
als wir«.<br />
Der Schreiber einer Motorradwerkstatt irgendwo im Taurisehen Gouvernement erzählt,<br />
daß die Soldaten häufig nach <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> bürgerlichen Zeitungen auf die unbekannten<br />
Bolschewiki schimpften und gleich danach zu Diskussionen über die Notwendigkeit<br />
des Kriegsabbruchs und die Wegnahme des gutsherrliehen Bodens übergingen. Das<br />
waren die gleichen Patrioten, die geschworen hatten, Lenin nicht in die Krim zu lassen.<br />
Die Soldaten <strong>der</strong> riesigen Hinterlandgarnisonen waren ruhelos. Die große Anhäufung<br />
feiern<strong>der</strong>, ungeduldig die Än<strong>der</strong>ung ihres Schicksals erwarten<strong>der</strong> Menschen erzeugte<br />
eine Nervosität, die sich in <strong>der</strong> ständigen Bereitschaft, ihre Unzufriedenheit auf die<br />
Straße zu tragen, in massenweisem Herumfahren in den Straßenbahnen und in epidemischem<br />
Knabbern von Sonnenblumenkernen äußerte. Der Soldat mit umgehängtem<br />
Mantel und den Schalen von Sonnenblumenkernen auf den Lippen wurde zur verhaßtesten<br />
Gestalt <strong>der</strong> bürgerlichen Presse. Er, den man während des Krieges so grob<br />
umschmeichelt und immer nur Held genannt hatte - was nicht hin<strong>der</strong>te, an <strong>der</strong> Front den<br />
Helden auszupeitsehen -, er, den man nach <strong>der</strong> Februarumwälzung als Befreier verherrlichte,<br />
war plötzlich Drückeberger, Verräter, Gewalttäter und deutscher Mietling. Es gab<br />
tatsächlich keine Gemeinheit, die die patriotisehe Presse den <strong>russischen</strong> Soldaten und<br />
Matrosen nicht zugeschrieben hätte.<br />
Das Exekutivkomitee tat nichts an<strong>der</strong>es als sich rechtfertigen, gegen Anarchie<br />
kämpfen, Exzesse löschen, verängstigte Anfragen und Moralpredigten verschicken. Der<br />
Sowjetvorsitzende in Zarizyn - diese Stadt galt als das Nest des<br />
"Anarchobolschewismus" - beantwortete die Frage des Zentrums über die Lage mit dem<br />
lapidaren Satz: »Je linker die Garnison wird, um so rechter wird <strong>der</strong> Bürger.« Die<br />
Zarizyner Formel ließ sich auf das ganze Land anwenden. Der Soldat wird linker, <strong>der</strong><br />
Bourgeois rechter.<br />
Jeden Soldaten, <strong>der</strong> mutiger als die an<strong>der</strong>en äußerte, was alle fühlten, schalt man so<br />
lange von oben Bolschewik, bis er es schließlich selbst glauben mußte. Von Frieden und<br />
Land wandte sich <strong>der</strong> Gedanke des Soldaten <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Macht zu. Der Wi<strong>der</strong>hall auf<br />
verschiedene Losungen des Bolschewismus verwandelte sich in bewußte Sympathie für<br />
die bolschewistische Partei. Im Wolynski-Regiment, das sich im April angeschickt hatte,<br />
Lenin zu verhaften, schlug die Stimmung zwei Monate später zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
um. Desgleichen in dem Jäger- und dem Litauer-Regiment. Die lettischen Schützen<br />
waren vom Selbstherrschertum ins Leben gerufen worden, um den Haß <strong>der</strong> Parzellenbauern<br />
und Landarbeiter gegen die livländischen Barone auszunutzen. Die Regimenter<br />
schlugen sich ausgezeichnet. Aber <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Klassenfeindichaft, auf den sich die<br />
Monarchie stützen wollte, bahnte sich eigene Wege. Die lettischen Schützen waren unter<br />
den ersten, die mit <strong>der</strong> Monarchie gebrochen hatten und später mit den Versöhnlern.<br />
Schon am 17. Mai schlossen sich die Venreter acht lettischer Regimenter <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Losung "Alle Macht den Sowjets" an. Im weiteren Verlauf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
werden sie noch eine große Rolle spielen.<br />
Ein unbekannter Soldat schreibt von <strong>der</strong> Front: »Heute, am 13. Juni, hielt unser<br />
Kommando eine kleine Versammlung ab, und man sprach über Lenin und Kerenski: die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 276
Soldaten sind meistens für Lenin, aber die Offiziere sagen, daß Lenin selbst ein<br />
Bourgeois ist.« Nach <strong>der</strong> Katastrophe <strong>der</strong> Offensive wurde Kerenskis Name in <strong>der</strong><br />
Armee völlig verhaßt.<br />
Am 21. Juni marschierten durch die Straßen Peterhofs Junker mit Bannern und Plakaten:<br />
»Nie<strong>der</strong> mit den Spionen«, »Hoch Kerenski und Brussilow.« Die Junker waren<br />
selbstredend für Brussilow. Die Soldaten des 4. Bataillons überfielen die Junker, verprügelten<br />
sie und zerstreuten die Demonstration. Den stärksten Haß rief das Plakat zu Ehren<br />
Kerenskis hervor.<br />
Die Junioffensive hatte die politische Evolution <strong>der</strong> Armee außerordentlich beschleunigt.<br />
Die Popularität <strong>der</strong> Bolschewiki, <strong>der</strong> einzigen Partei, die im voraus die Stimme<br />
gegen die Offensive erhoben hatte, war in rapidem Steigen begriffen. Allerdings fanden<br />
die bolschewistischen Zeitungen nur unter großen Schwierigkeiten Eingang bei <strong>der</strong><br />
Armee. Ihre Auflage war sehr gering im Vergleich mit den Auflagen <strong>der</strong> liberalen und<br />
überhaupt <strong>der</strong> patriotischen Presse. »...Nirgendwo ist auch nur eine eurer Zeitungen zu<br />
sehen«, schreibt eine rauhe Soldatenhand nach Moskau, »es kommen nur Gerüchte von<br />
eurer Zeitung zu uns. Wir werden hier kostenlos mit bürgerlichen Zeitungen<br />
überschüttet, man trägt sie an <strong>der</strong> Front paketweise herum.« Aber gerade die patriotisehe<br />
Presse schuf den Bolschewiki eine unvergleichliche Popularität. Alle Rufe <strong>der</strong> Unterdrückten<br />
nach Landaneignung, nach Abrechnung mit den verhaßten Offizieren schrieben<br />
die Zeitungen den Bolschewiki zu. Die Soldaten zogen die Schlußfolgerung: die<br />
Bolschewiki sind ein gerechtes Volk.<br />
Anfang Juli berichtete <strong>der</strong> Kommissar <strong>der</strong> 12. Armee an Kerenski über die Stimmung<br />
<strong>der</strong> Soldaten: »Als Endresultat wird alles auf die Bourgeois-Minister und den Sowjet, <strong>der</strong><br />
sich den Bourgeois verkauft habe, geschoben. Aber im allgemeinen herrscht in <strong>der</strong><br />
großen Masse undurchdringliche Finsternis; ich muß lei<strong>der</strong> feststellen, daß in <strong>der</strong> letzten<br />
Zeit sogar Zeitungen schwach gelesen werden, absolutes Mißtrauen zum gedruckten<br />
Wort: "süß schreiben sie", "um den Mund gehen sie" ...« In den ersten Monaten waren<br />
die Berichte <strong>der</strong> patriotischen Kommissare gewöhnlich Hymnen auf die revolutionäre<br />
Armee, ihre Aufgeklärtheit und Disziplin. Als aber nach vier Monaten fortdauem<strong>der</strong><br />
Enttäuschungen die Armee das Vertrauen zu den Regierungsrednern und Zcitungsschreibern<br />
verloren hatte, entdeckten die gleichen Kommissare in ihr undurchdringliche<br />
Finsternis.<br />
Je linker die Garnison wird, um so rechter wird <strong>der</strong> Bürger. Unter dem Anstoß <strong>der</strong><br />
Offensive entstanden in Petrograd konterrevolutionäre Verbände wie Pilze nach dem<br />
Regen. Sie wählten sich Namen, einen klangvoller als den an<strong>der</strong>en: Bund <strong>der</strong><br />
Heimatehre, Bund <strong>der</strong> Kriegspflicht, Freiheitsbataillon, Organisierung des Geistes, und<br />
so weiter. Diese großartigen Schil<strong>der</strong> deckten Ambitionen und Ansprüche des Adels, des<br />
Offiziersstandes, <strong>der</strong> Bürokratie, <strong>der</strong> Bourgeoisie. Einige dieser Organisationen, wie die<br />
Kriegsliga, <strong>der</strong> Bund <strong>der</strong> Kavaliere des Georgskreuzes o<strong>der</strong> die Freiwilligen-Division,<br />
bildeten fertige Zellen militärischer Verschwörung. Indem sie als glühende Patrioten<br />
auftraten, öffneten die Ritter <strong>der</strong> "Ehre" und des "Geistes" nicht nur mit Leichtigkeit die<br />
Türen <strong>der</strong> alliierten Missionen, son<strong>der</strong>n erhielten mitunter auch Regierungssubsidien, die<br />
seinerzeit dem Sowjet als einer "Privatorganisation" abgelehnt worden waren.<br />
Ein Sprößling <strong>der</strong> Familie des Zeitungsmagnaten Suworin ging inzwischen an die<br />
Herausgabe <strong>der</strong> 'Kleinen Zeitung', die als das Organ des "unabhängigen Sozialismus"<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 277
eiserne Diktatur predigte und als Kandidaten den Admiral Koltschak empfahl. Die<br />
soli<strong>der</strong>e Presse sorgte, ohne den letzten Punkt auf das I zu setzen, auf jede Weise für die<br />
Popularität Koltschaks. Das weitere Schicksal des Admirals beweist, daß es sich schon<br />
seit dem Frühsommer 1917 um einen großangelegten Plan in Verbindung mit seinem<br />
Namen handelte und daß hinter Suworin einflußreiche Kreise standen.<br />
Der einfachsten taktischen Berechnung gehorchend, gab sich die Reaktion, rechnet<br />
man vereinzelte Schnitzer ab, den Anschein, als richte sie ihre Schläge ausschließlich<br />
gegen die Leninisten. Das Wort "Bolschewik" wurde das Synonym für alles höllischen<br />
Ursprungs. Wie die zaristischen Kommandeure vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Verantwortung<br />
für alle Mißgeschicke, darunter auch für die eigene Dummheit, auf deutsche Spione und<br />
beson<strong>der</strong>s auf die Juden abwälzten, so wurde jetzt, nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong><br />
Junioffensive, die Schuld für alle Mißerfolge und Nie<strong>der</strong>lagen auf die Bolschewiki<br />
geschoben. Darin unterschieden sich die Demokraten vorn Typ Kerenskis und Zeretellis<br />
fast nicht von den Liberalen vom Typ Miljukows und den offenen Leibeigenschaftsanhängem<br />
von <strong>der</strong> Art des Generals Denikin.<br />
Wie immer, wenn die Wi<strong>der</strong>sprüche bis zum äußersten gespannt sind, <strong>der</strong> Moment <strong>der</strong><br />
Explosion jedoch noch nicht gekommen ist, zeigte sich die politische Kräftegruppierung<br />
unverhüllter und krasser nicht an grundlegenden, son<strong>der</strong>n an zufälligen und nebensächlichen<br />
Fragen. Als einer <strong>der</strong> Blitzableiter <strong>der</strong> politischen Leidenschaften diente in jenen<br />
Wochen Kronstadt. Die alte Festung, die <strong>der</strong> treueste Wachtposten am Seetore <strong>der</strong><br />
kaiserlichen Hauptstadt sein sollte, hatte in <strong>der</strong> Vergangenheit mehr als einmal das<br />
Banner des Aufstandes erhoben. Trotz <strong>der</strong> unbarmherzigen Strafen erlosch in Kronstadt<br />
die Flamme des Aufruhrs nie. Sie entbrannte bedrohlich nach <strong>der</strong> Umwälzung. Der Name<br />
<strong>der</strong> Seefestung wurde in den Spalten <strong>der</strong> patriotischen Presse bald das Synonym für die<br />
schlechtesten Seiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, das heißt für Bolschewismus. In Wirklichkeit war<br />
<strong>der</strong> Kronstädter Sowjet noch nicht bolsehewistisch: im Mai setzte er sich aus 107<br />
Bolschewiki, 112 Sozialrevolutionären, 30 Menschewiki und 97 Partei-losen zusammen.<br />
Allerdings waren es Kronstädter Sozialrevolutionäre und Kronstädter Parteilose, die<br />
unter hohem Druck lebten: in ihrer Mehrzahl gingen sie in wichtigen Fragen mit den<br />
Bolschewiki.<br />
Auf dem Gebiete <strong>der</strong> Politik neigten die Kronstädter Matrosen we<strong>der</strong> zu Manövern<br />
noch zu Diplomatie. Sie hatten eine eigene Regel: gesagt - getan. Es ist darum nicht<br />
verwun<strong>der</strong>lich, daß sie in bezug auf die gespensterhafte Regierung für vereinfachte<br />
Aktionsmethoden waren. Am 13. Mai bestimmte <strong>der</strong> Sowjet: »Die einzige Macht in<br />
Kronstadt bildet <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten.«<br />
Die Entfernung des Regierungskommissars, des Kadetten Pepelajew, <strong>der</strong> die Rolle<br />
einei fünften Rades am Wagen spielte, vollzog sich in <strong>der</strong> Festung vollkommen unbeachtet.<br />
Musterhafte Ordnung blieb bewahrt. In <strong>der</strong> Stadt wurde das Kartenspiel verboten, die<br />
Spelunken geschlossen o<strong>der</strong> ausgehoben. Unter Strafe <strong>der</strong> »Konfiszierung des Eigentums<br />
und <strong>der</strong> sofortigen Abschiebung zur Front« verbot <strong>der</strong> Sowjet, in betrunkenem Zustande<br />
auf <strong>der</strong> Straße zu erscheinen. Diese Strafe wurde mehrmals angewandt.<br />
Unter dem schrecklichen Regime <strong>der</strong> zaristischen Flotte und <strong>der</strong> Seefestung gestählt,<br />
an schwere Arbeit, an Opfer, aber auch an Exzesse gewöhnt, spannten die Matrosen jetzt,<br />
wo sich vor ihnen <strong>der</strong> Vorhang eines neuen Lebens geöffnet hatte, in dem sie sich als die<br />
zukünftigen Herren fühlten, alle ihre Kräfte an, um sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> würdig zu erwei-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 278
sen. Gierig stürzten sie sich in Petrograd auf Freunde und Gegner und schleppten sie fast<br />
gewaltsam nach Kronstadt, um ihnen zu zeigen, wie revolutionäre Seeleute in Wirklichkeit<br />
sind. Eine solche moralische Anspannung konnte selbstverständlich nicht ewig<br />
dauern, aber sie reichte für lange Zeit. Die Kronstädter Seeleute verwandelten sich in<br />
eine Art Kampforden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Aber welcher? Jedenfalls nicht jener, die Minister<br />
Zeretelli mit seinem Kommissar Pepelajew verkörperte. Kronstadt stand da wie ein<br />
Verkün<strong>der</strong> <strong>der</strong> heranrückenden zweiten <strong>Revolution</strong>. Deshalb wurde es von all jenen<br />
gehaßt, die übergenug an <strong>der</strong> ersten hatten.<br />
Die friedliche und unauffällige Absetzung Pepelajews schil<strong>der</strong>te die Ordnungspresse<br />
fast wie einen bewaffneten Aufstand gegen die Staatseinheit. Die Regierung beschwerte<br />
sich beim Sowjet. Der Sowjet entsandte sofort zur Beeinflussung <strong>der</strong> Matrosen eine<br />
Delegation. Knarrend kam die Maschine <strong>der</strong> Doppelhenschaft in Bewegung. Unter<br />
Teilnahme von Zeretelli und Skobeljew erklärte sich <strong>der</strong> Kronstädter Sowjet am 24. Mai<br />
auf Drängen <strong>der</strong> Bolschewiki bereit, anzuerkennen, daß er, den Kampf um die Sowjetmacht<br />
fortsetzend, praktisch verpflichtet sei, sich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu fügen,<br />
solange die Sowjetmacht nicht im ganzen Lande errichtet sei. Aber bereits am nächsten<br />
Tage erklärte <strong>der</strong> Sowjet unter dem Druck <strong>der</strong> über diese Nachgiebigkeit empörten<br />
Matrosen, daß den Ministern nur eine "Erläuterung" des Standpunktes Kronstadts, <strong>der</strong><br />
unabän<strong>der</strong>lich bleibe, gegeben worden sei. Das war ein offensichtlich taktischer Fehler,<br />
hinter dem sich jedoch nichts an<strong>der</strong>es als revolutionäre Ambition verbarg.<br />
Die Spitzen beschlossen, den Glücksfall auszunutzen, den Kronstädtern eine Lektion<br />
zu erteilen und sie gleichzeitig für die früheren Sünden büßen zu lassen. Als Ankläger<br />
trat selbstverständlich Zeretelli auf. Mit pathetischer Berufung auf seine eigenen Gefängnisse<br />
zeterte er beson<strong>der</strong>s deshalb gegen die Kronstädter, weil sie in den Festungskasematten<br />
80 Offiziere festhielten. Die ganze wohlgesinnte Presse stimmte ihm bei. Jedoch<br />
mußten auch die Versöhnler-, das heißt die Ministerzeitungen zugeben, daß es sich »um<br />
richtige Staatsschatzräuber« handle und um »Menschen, die das Faustrecht bis zum<br />
Entsetzen ausgeübt hatten« ... Selbst nach den 'Iswestja' ('Mitteilungen'), dem Offiziosus<br />
Zeretellis, machten als Zeugen vernommene Matrosen »Angaben über die Unterdrükkung<br />
des Aufstandes von 1906 (durch die verhafteten Offiziere), über Massenerschießungen,<br />
über mit Leichen Hingerichteter vollgepfropfte und ins Meer versenkte Schaluppen<br />
und über an<strong>der</strong>e Greuel ... sie berichteten das so einfach, als handelte es sich um die<br />
geläufigsten Dinge«.<br />
Die Kronstädter weigerten sich hartnäckig, die Verhafteten einer Regierung auszuliefern,<br />
<strong>der</strong> die Henker und Staatsschatzräuber von adligem Stande viel näher waren als die<br />
im Jahre 1906 und in an<strong>der</strong>en Jahren zu Tode gequälten Matrosen. Nicht zufällig befreite<br />
<strong>der</strong> Justizminister Perewersew, den Suchanow milde »eine <strong>der</strong> verdächtigsten Gestalten<br />
<strong>der</strong> Koalitionsregierung« nennt, systematisch die nie<strong>der</strong>trächtigsten Vertreter <strong>der</strong> zaristischen<br />
Gendarmerie aus <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung. Die demokratischen Parvenus waren<br />
hauptsächlich bemüht, von <strong>der</strong> reaktionären Bürokratie als edelmütig anerkannt zu<br />
werden.<br />
Die Anklagen Zeretellis beantworteten die Kronstädter in ihrem Aufruf: »Die in den<br />
Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von uns verhafteten Offiziere, Gendarmen und Polizisten haben<br />
den Regierungsvertretem selbst erklärt, daß sie sich über die Behandlung durch die<br />
Gefängnisaufsicht nicht zu beklagen haben. Allerdings sind die Gefängnisgebäude in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 279
Kronstadt schrecklich. Es sind aber die gleichen Gefängnisse, die <strong>der</strong> Zarismus für uns<br />
erbaut hat. An<strong>der</strong>e haben wir nicht. Und wenn wir die Feinde des Volkes in diesen<br />
Gefängnissen festhalten, so nicht aus Rache, son<strong>der</strong>n aus Erwägungen revolutionärer<br />
Selbsterhaltung.«<br />
Am 27. Mai saß <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet über die Kronstädter zu Gericht. In einer Rede<br />
zu ihrer Verteidigung wies Trotzki Zeretelli warnend daraufhin, daß im Falle <strong>der</strong> Gefahr,<br />
das heißt, »wenn ein konterrevolutionärer General versuchen wird, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die<br />
Schlinge um den Hals zu werfen, die Kadetten den Strick, einseifen, während die<br />
Kronstädter Matrosen zur Stelle sein werden, um gemeinsam mit uns zu kämpfen und zu<br />
sterben«. Diese warnende Voraussage sollte sich nach drei Monaten mit überraschen<strong>der</strong><br />
Genauigkeit verwirklichen: als General Kornilow den Aufstand entfesselte und Truppen<br />
gegen die Hauptstadt heranführte, riefen Kerenski, Zeretelli und Skobeljew zum Schutz<br />
des Winterpalais die Kronstädter Matrosen herbei. Doch was folgt daraus? Jm Juni<br />
verteidigten die Herren Demokraten die Ordnung gegen Anarchie; keine Argumente und<br />
Warnungen hatten da Macht über sie. Mit einer Mehrheit von 580 gegen 162 Stimmen,<br />
bei 74 Stimmenthaltungen, setzte Zeretelli im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet die Resolution durch,<br />
die den Abfall des »anarchistischen« Kronstadts von <strong>der</strong> revolutionären Demokratie<br />
verkündete. Sobald das ungeduldig wartende Mariinski-Palais von <strong>der</strong> Annahme <strong>der</strong><br />
Lossagungsbulle benachrichtigt worden war, unterbrach die Regierung unverzüglich die<br />
telephonische Verbindung zwischen Hauptstadt und Festung für den Privatverkehr, um<br />
dem bolschewistischen Zentrum die Beeinflussung <strong>der</strong> Kronstädter unmöglich zu<br />
machen, befahl gleichzeitig, sofort alle Lehrschiffe aus Kronstadt zu entfernen und<br />
verlangte vom Sowjet »unbedingten Gehorsam«. Der zur gleichen Zeit tagende Kongreß<br />
<strong>der</strong> Bauerndeputierten versuchte es mit <strong>der</strong> Drohung, »den Kronstädtern die Bedarfsprodukte<br />
zu verweigern«. Die hinter dem Rücken <strong>der</strong> Versöhnler lauernde Reaktion suchte<br />
eine entscheidende und nach Möglichkeit blutige Lösung.<br />
»Der übereilte Schritt des Kronstädter Sowjets«, schreibt ein junger Historiker, Jugow,<br />
»konnte unerwünschte Folgen heraufbeschwören. Man mußte aus <strong>der</strong> entstandenen Lage<br />
einen passenden Ausweg finden. Zu eben diesem Zwecke reiste Trotzki nach Kronstadt,<br />
wo er im Sowjet auftrat und eine Deklaration verfaßte, die vom Sowjet und später, von<br />
Trotzki eingebracht, vom Meeting auf dem Ankerplatz einstimmig angenommen wurde.«<br />
Die Kronstädter wahrten ihre prinzipielle Position und gaben in praktischen Fragen nach.<br />
Die friedliche Beilegung des Konfliktes brachte die bürgerliche Presse ganz außer<br />
Rand und Band: in <strong>der</strong> Festung herrsche Anarchie, die Kronstädter druckten eigenes<br />
Geld - phantastische Abbildungen wurden in den Zeitungen reproduziert ~ Staatsgut<br />
werde gestohlen, Frauen vergesellschaftet, Plün<strong>der</strong>ungen und Trinker-Orgien<br />
veranstaltet. Die Seeleute, auf ihre strenge Ordnung stolz, ballten die schwieligen Fäuste<br />
beim Lesen <strong>der</strong> Zeitungen, die in Millionen Exemplaren die Verleumdungen gegen sie<br />
über ganz Rußland verbreiteten.<br />
Perewersews Gerichtsorgane entließen die ihnen übergebenen Kronstädter Offiziere<br />
einen nach dem an<strong>der</strong>en. Es wäre sehr lehrreich, festzustellen, wer von den Freigelassenen<br />
später am Bürgerkrieg teilnahm und wie viele Matrosen, Soldaten, Arbeiter und<br />
Bauern von ihnen erschossen und aufgehängt wurden. Lei<strong>der</strong> sind wir nicht in <strong>der</strong> Lage,<br />
diese lehrreiche Statistik hier aufzustellen.<br />
Die Autorität <strong>der</strong> Regierung war gerettet. Doch erhielten die Matrosen bald Genugtu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 280
ung für die erlittenen Kränkungen. Von allen Enden des Landes trafen Begrüßungsresolutionen<br />
an das rote Kronstadt ein: von einzelnen linkeren Sowjets, von Betrieben,<br />
Regimentern, Meetings. Das erste Maschinengewehrregiment demonstrierte in den<br />
Straßen Petrograds in voller Stärke seine Achtung für die Kronstädter, »für ihre standhafte<br />
Position des Mißtrauens gegen die Provisorische Regierung«.<br />
Kronstadt aber bereitete sich auf ernsthaftere Revanche vor. Die Hetze <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Presse machte es zu einem Faktor von gesamtstaatlicher Bedeutung. »In Kronstadt<br />
sich verschanzend«, schreibt Miljukow, »warf <strong>der</strong> Bolschewismus mit Hilfe sachgemäß<br />
ausgebildeter Agitatoren seine Propagandahetze weit über Rußland aus. Kronstädter<br />
Emissäre wurden auch an die Front geschickt, wo sie die Disziplin untergruben, in die<br />
Etappe und auß Land, wo sie Pogrome gegen die Güter anzettelten. Der Kronstädter<br />
Sowjet versah die Emissäre mit beson<strong>der</strong>en Legitimationen: "N. N. wird in das ...<br />
Gouvernement geschickt, um an den Sitzungen <strong>der</strong> Kreis-, Bezirks- und Dorfkomitees mit<br />
beschließen<strong>der</strong> Stimme teilzunehmen, wie auch Meetings zu besuchen und solche an<br />
beliebigem Ort nach eigenem Ermessen einzuberufen", mit "dem Recht des Waffentragens<br />
und freier und unentgeltlicher Fahrt auf allen Eisenbahnen und Dampfern". Wobei<br />
die "Unantastbarkeit <strong>der</strong> Person des bezeichneten Agitators vom Sowjet <strong>der</strong> Stadt<br />
Kronstadt garantiert wird".«<br />
Indem er die Wühlarbeit <strong>der</strong> baltischen Seeleute entlarvt, vergißt Miljukow nur, zu<br />
erklären, wie und weshalb es kommen konnte, daß einzelne Matrosen, ausgerüstet mit<br />
dem seltsamen Mandat des Kronstädter Sowjets, trotz des Vorhandenseins allweiser<br />
Behörden, Institutionen und Zeitungen unbehelligt im ganzen Lande herumreisten, allerorts<br />
Tisch und Herd fanden, zu jeglichen Volksversammlungen zugelassen, überall<br />
aufmerksam angehört wurden und den historischen Ereignissen den Stempel <strong>der</strong> Matrosenhand<br />
aufdrückten. Der die liberale Politik bedienende Historiker stellt sich diese<br />
einfache Frage erst gar nicht. Indes war das Kronstädter Wun<strong>der</strong> nur deshalb denkbar,<br />
weil die Matrosen viel tiefer die Bedürfnisse <strong>der</strong> historischen Entwicklung ausdrückten<br />
als die sehr gescheiten Professoren. Das halbanalphabetische Mandat erwies sich, um mit<br />
Hegel zu sprechen, wirksam, weil es vernünftig war. Die subjektiv klügsten Pläne<br />
dagegen erwiesen sich als illusorisch, denn die Vernunft <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> hatte in ihnen<br />
auch nicht einmal übernachtet.<br />
Die Sowjets blieben hinter den Betriebskomitees zurück. Die Betriebskomitees hinter<br />
den Massen. Die Soldaten hinter den Arbeitern. In noch höherem Maße blieb die Provinz<br />
hinter <strong>der</strong> Hauptstadt zurück. Dies ist die unvermeidliche Dynamik des revolutionären<br />
Prozesses, die tausend Wi<strong>der</strong>sprüche erzeugt, um sie dann gleichsam zufällig, im Vorbeigehen,<br />
spielend zu überwinden und sogleich neue zu erzeugen. Hinter <strong>der</strong> revolutionären<br />
Dynamik blieb auch die Partei zurück, das heißt jene Organisation, die am allerwenigsten<br />
das Recht besitzt, zurückzubleiben, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. In Arbeiterzentren wie<br />
Jekaterinburg, Perm, Tula, Nishnij-Nowgorod, Sormowo, Kolomna, Jusowka hatten sich<br />
die Bolschewiki erst Ende Mai von den Menschewiki getrennt. In Odessa, Nikolajew,<br />
Jelissawetgrad, Poltawa und an an<strong>der</strong>en Punkten <strong>der</strong> Ukraine besaßen die Bolschewiki<br />
auch Mitte Juni noch keine selbständigen Organisationen. In Baku, Slatoust, Beschezk,<br />
Kostroma trennten sich die Bolschewiki erst Ende Juni endgültig von den Menschewiki.<br />
Diese Tatsachen müssen erstaunlich erscheinen, berücksichtigt man, daß den Bolschewiki<br />
bevorstand, schon nach vier Monaten die Macht zu ergreifen. Wie weit war die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 281
Partei während des Krieges hinter dem Molekularprozeß in den Massen zurückgeblieben,<br />
und wie weit die Märzleitung Kamenew-Stalin hinter den großen historischen Aufgaben!<br />
Die revolutionärste Partei, die die menschliche <strong>Geschichte</strong> bis jetzt überhaupt gekannt<br />
hat, wurde dennoch von den <strong>Revolution</strong>sereignissen überrascht. Sie baute sich im Feuer<br />
um und ordnete ihre Reihen unter dem Ansturm <strong>der</strong> Ereignisse. Die Massen erwiesen<br />
sich im Augenblick <strong>der</strong> Wendung »an die hun<strong>der</strong>t Mal« linker als die linkste Partei.<br />
Das Steigen des Einflusses <strong>der</strong> Bolschewiki, das mit <strong>der</strong> Gewalt eines naturnotwendigen<br />
Prozesses vor sich ging, zeigt bei näherer Betrachtung seine Wi<strong>der</strong>sprüche und<br />
Zickzacks, seine Ebben und Fluten. Die Massen sind nicht homogen, und überdies lernen<br />
sie nicht an<strong>der</strong>s mit dem Feuer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> umzugehen, als daß sie sich die Hände<br />
daran verbrennen und zurückprallen. Die Bolschewiki vermochten nur den Lehrprozeß<br />
<strong>der</strong> Massen zu beschleunigen. Sie klärten geduldig auf. Im übrigen hat die <strong>Geschichte</strong><br />
diesmal ihre Geduld nicht lange mißbraucht.<br />
Während die Bolschewiki unaufhaltsam Werkstätten, Fabriken und Regimenter eroberten,<br />
ergaben die Wahlen zur demokratischen Duma ein großes und scheinbar wachsendes<br />
Übergewicht <strong>der</strong> Versöhnler. Das war einer <strong>der</strong> schärfsten und rätselhaftesten Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Allerdings war die Duma des rein proletarischen Wyborger<br />
Bezirks auf ihre bolschewistische Mehrheit stolz. Doch das war eine Ausnahme. Bei den<br />
Stadtwahlen in Moskau konnten die Sozialrevolutionäre im Juni noch über 60% <strong>der</strong><br />
Stimmen auf sich vereinigen. Diese Zahl verblüffte sie selbst es konnte ihnen nicht<br />
verborgen bleiben, daß ihr Einfluß im raschen Sinken war. Für das Verständnis des<br />
Verhälmisses zwischen <strong>der</strong> realen Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und ihrem Abbild im<br />
Spiegel <strong>der</strong> Demokratie sind die Moskauer Wahlen von höchstem Interesse. Die fortgeschrittenen<br />
Schichten <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten schüttelten bereits eilig die versöhnlerischen<br />
Illusionen von sich, während die breitesten Massen des städtischen Kleinvolkes<br />
erst begannen, sich in Bewegung zu setzen. Für diese zerstäubte Masse waren die<br />
demokratischen Wahlen vielleicht die erste, jedenfalls eine seltene Möglichkeit, sich<br />
politisch zu äußern. Während <strong>der</strong> Arbeiter, <strong>der</strong> gestrige Menschewik o<strong>der</strong> Sozialrevolutionär,<br />
seine Stimme <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong> Bolschewiki gab und den Soldaten mitriß, traten <strong>der</strong><br />
Droschkenkutscher, <strong>der</strong> Briefträger, <strong>der</strong> Portier, die Händlerin, <strong>der</strong> Krämer, dessen<br />
Kommis und <strong>der</strong> Lehrer durch einen so heroischen Akt wie die Stimmabgabe für den<br />
Sozialrevolutionär zum ersten Male aus ihrem politischen Nichtsein hervor. Mit Verspätung<br />
stimmten die kleinbürgerlichen Schichten für Kerenski, weil dieser in ihren Augen<br />
die Februarrevolution, die sie erst heute erreicht harte, verkörperte. Mit ihren 60 Prozent<br />
sozialrevolutionärer Mehrheit leuchtete die Moskauer Duma in dem letzten Lichte eines<br />
erlöschenden Gestirns. Ebenso verhielt es sich mit den an<strong>der</strong>en Organen <strong>der</strong> demokratischen<br />
Selbstverwaltung. Kaum entstanden, wurden sie von <strong>der</strong> Ohnmacht des Zuspätgekommenseins<br />
ereilt. Das bedeutet, daß <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von den Arbeitern und<br />
Soldaten abhing, nicht aber von dem menschlichen Staub, den die Stürme <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
erhoben und aufwirbelten.<br />
Das ist die tiefe und zugleich einfache Dialektik des revolutionären Erwachens <strong>der</strong><br />
unterdrückten Klassen. Die gefährlichste unter den Aberrationen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> besteht<br />
darin, daß <strong>der</strong> mechanische Zähler <strong>der</strong> Demokratie den gestrigen, heutigen und morgigen<br />
Tag summiert und damit formelle Demokraten darauf stößt, den Kopf <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
dort zu suchen, wo sich in Wirklichkeit ihr gewichtiger Schwanz befindet. Lenin lehrte<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 282
seine Partei, zwischen Kopf und Schwanz zu unterscheiden.<br />
Sowjetkongreß und Junidemonstration<br />
Der erste Sowjetkongreß, <strong>der</strong> Kerenski die Sanktion zur Offensive erteilte, versammelte<br />
sich am 3. Juni im Gebäude des Kadettenkorps zu Petrograd. Insgesamt gab es auf<br />
dem Kongreß 820 Delegierte mit beschlieflen<strong>der</strong> und 268 mit beraten<strong>der</strong> Stimme. Sie<br />
vertraten 305 Ortssowjets, 53 Bezirks- und Distriktssowjets, ferner Frontorganisationen,<br />
Armeeinstitutionen des Hinterlandes und einige Bauernorganisationen. Beschließende<br />
Stimme hatten Sowjets, die mindestens 25.000 Menschen vertraten. Sowjets, die<br />
10-000-25.000 vereinigten, hatten beratende Stimme. Auf Grund dieser Normen, die<br />
übrigens wohl kaum sehr streng gewahrt wurden, darf man folgern, daß hinter dem<br />
Kongreß über zwanzig Millionen Menschen standen. Von 777 Delegierten, die über ihre<br />
Parteizugehörigkeit Auskunft gaben, waren 285 Sozialrevolutionäre, 248 Menschewiki,<br />
l05 Bolschewiki; weiter folgten kleinere Gruppen. Der linke Flügel, das heißt Bolschewiki<br />
zusammen mit den ihnen eng angeschlossenen Internationalisten, bildete weniger<br />
als ein Fünftel <strong>der</strong> Delegierten. Der Kongreß bestand in seiner Mehrheit aus Personen,<br />
die sich im März als <strong>Sozialisten</strong> eingeschrieben hatten und im Juni bereits <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
müde waren. Petrograd mußte ihnen als eine Stadt von Besessenen erscheinen.<br />
Der Kongreß begann mit <strong>der</strong> Billigung dcr Ausweisung Grimms, des klüglichen<br />
Schweizer <strong>Sozialisten</strong>, <strong>der</strong> versucht hatte, durch Kulissenverhandlungen mit <strong>der</strong> Hohenzollerndiplomatie<br />
die Russische <strong>Revolution</strong> und die deutsche Sozialdemokratie zu retten.<br />
Die For<strong>der</strong>ung des linken Flügels, unverzüglich die Frage <strong>der</strong> sich vorbereitenden Offensive<br />
zur Diskussion zu stellen, wurde mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit abgelehnt. Die Bolschewiki<br />
sahen wie ein kleines Häuflein aus. Aber am gleichen Tage und vielleicht zur<br />
gleichen Stunde nahm die Konferenz <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Betriebskomitees, ebenfalls mit<br />
erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit, eine Resolution an, wonach nur die Sowjetmacht das Land retten<br />
könne.<br />
So kurzsichtig die Versöhnler auch waren, es konnte ihnen nicht verborgen bleiben,<br />
was sich täglich ringsherum abspielte. Der Bolschewikenhasser Liber brandmarkte,<br />
offenbar unter dem Einfluß <strong>der</strong> Provinzler, in <strong>der</strong> Sitzung vom 4. Juni die untauglichen<br />
Regierungskommissare, denen man im Lande die Macht nicht zugestehen wollte. »Eine<br />
Reihe von Funktionen <strong>der</strong> Regierungsorgane ging infolgedessen in die Hände <strong>der</strong><br />
Sowjets über, auch dann, wenn diese es nicht verlangten.« Die Versöhnler führten<br />
Beschwerde gegen sich selbst.<br />
Einer <strong>der</strong> Delegierten, ein Pädagoge, erzählte auf dem Kongreß, daß auf dem Gebiete<br />
<strong>der</strong> Volksbildung in den vier <strong>Revolution</strong>smonaten nicht die geringsten Än<strong>der</strong>ungen<br />
eingetreten seien. Alle alten Lehrer, Inspektoren, Direktoren, Kreisschulräte, nicht selten<br />
frühere Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>torganisationen, alle alten Schulpläne, reaktionären<br />
Lehrbücher, sogar die alten Ministergehilfen wären unbehelligt auf ihren Plätzen verblieben.<br />
Nur die Zarenporträts wären auf den Boden geschafft worden, könnten aber jeden<br />
Augenblick auf ihren früheren Platz zurückgebracht werden.<br />
Der Kongreß konnte sich nicht entschließen, die Hand gegen Reichsduma und Staatsrat<br />
zu erheben. Seine Schüchternheit vor <strong>der</strong> Reaktion verhüllte <strong>der</strong> menschewistische<br />
Redner Bogdanow damit, daß Duma und Staatsrat »ohnehin tote, nicht existierende Institutionen<br />
sind«. Mit dem ihm eigenen polemischen Witz antwortete darauf Martow:<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 283
»Bogdanow schlägt vor, die Duma als nicht existierend zu betrachten, aber ihre Existenz<br />
nicht anzutasten.«<br />
Trotz <strong>der</strong> so kompakten Regierungsmehrheit verlief <strong>der</strong> Kongreß in einer Atmosphäre<br />
von Unruhe und Unsicherheit. Das patriotische Stroh war feucht geworden und flackerte<br />
nur träge auf. Es war klar, daß die Massen unzufrieden und die Bolsehewiki im Lande,<br />
vor allem in <strong>der</strong> Hauptstadt, unermeßlich stärker waren als auf dem Kongreß. Auf seinen<br />
Ursprung zurückgeführt, drehte sich <strong>der</strong> Streit zwischen Bolschewiki und Versöhnlern<br />
unverän<strong>der</strong>t um die Frage: mit wem hat die Demokratie zu gehen, mit den Imperialisten<br />
o<strong>der</strong> mit den Arbeitern? Der Schatten <strong>der</strong> Entente schwebte über dem Kongreß. Die<br />
Entscheidung über die Offensive war bereits vorausbestimmt, <strong>der</strong> Demokratie blieb nur<br />
übrig, sich zu beugen.<br />
»In diesem kritischen Moment«, belehrte Zeretelli, »darf nicht eine einzige öffentliche<br />
Kraft, solange sie von <strong>der</strong> Volkssache auszunutzen ist, von <strong>der</strong> Waage hinuntergeworfen<br />
werden.« Dies war die Begründung <strong>der</strong> Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie. Da Proletariat,<br />
Armee und Bauernschaft mit jedem Schritt die Pläne <strong>der</strong> Demokraten störten, sah man<br />
sich gezwungen, unter dem Schein des Krieges gegen die Bolschewiki einen Krieg gegen<br />
das Volk zu eröffnen. So verhängte Zeretelli den Bann über die Kronstädter Matrosen,<br />
um von seiner Waage nicht den Kadetten Pepelajew hinunterwerfen zu müssen. Die<br />
Koalition wurde mit einer Mehrheit von 543 gegen 126 Stimmen bei 52 Enthaltungen<br />
gutgeheißen.<br />
Die Arbeit <strong>der</strong> großen und zähen Versammlung im Kadettenkorps-Gebäude war voller<br />
Schwung, was Deklarationen anbelangt, von konservativer Kargheit in Beziehung auf die<br />
praktischen Aufgaben. Das drückte allen Beschlüssen den Stempel <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit<br />
und Heuchelei auf. Der Kongreß erkannte allen Nationen Rußlands das Selbstbestimmungsrecht<br />
zu, den Schlüssel zu diesem problematischen Recht händigte er jedoch<br />
nicht den unterdrückten Nationen selbst, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> künftigen Konstituierenden<br />
Versammlung aus, in <strong>der</strong> die Versöhnler in <strong>der</strong> Mehrheit zu sein hofften und vor den<br />
Imperialisten genauso zu kapitulieren vorhatten, wie sie es jetzt in <strong>der</strong> Regierung taten.<br />
Der Kongreß lehnte es ab, das Dekret über den Achtstundentag anzunehmen. Das<br />
Herumstampfen <strong>der</strong> Koalition auf einer Stelle erklärte Zeretelli mit <strong>der</strong> Schwierigkeit, die<br />
Interessen <strong>der</strong> verschiedenen Bevölkerungsschichten in Einklang zu bringen. Als sei<br />
auch nur eine einzige große Sache in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> durch »das in Einklangliringen <strong>der</strong><br />
Interessen« und nicht durch den Sieg <strong>der</strong> fortschrittlichen Interessen über die reaktionären<br />
geschehen!<br />
Der Sowjetwirtschaftler Gromann brachte am Schluß seine unvermeidliche Resolution<br />
ein: über die heranrückende Wirt-schaftskatastrophe und die Notwendigkeit staatlicher<br />
Regulierung. Der Kongreß nahm diese Ritualresolution an, jedoch nur zu dem Zwecke,<br />
um alles beim alten zu belassen.<br />
»Grimm ist ausgewiesen worden«, schrieb Trotzki am 7. Juni, »<strong>der</strong> Kongreß ging zur<br />
Tagesordnung über. Der kapitalistische Profit aber bleibt für Skobeliew und dessen<br />
Kollegen in alter Weise unantastbar. Die Ernährungskrise verschärft sich mit je<strong>der</strong><br />
Stunde. Auf dem diplomatischen Gebiet erhält die Regierung einen Schlag nach dem<br />
an<strong>der</strong>en. Schließlich droht die so hysterisch verkündete Offensive allem Anschein nach<br />
bald als ungeheuerliches Abenteuer über das Volk zusammenzustürzen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 284
Wir sind geduldig und wären bereit, die sichtbare Tätigkeit des Ministeriums Lwow-<br />
Tereschtschenko-Zeretelli noch eine Reihevon Monaten ruhig weiter zu beobachten.<br />
Wir brauchen Zeit für unsere Vorbereitung. Doch <strong>der</strong> unterirdische Maulwurf wühlt<br />
gar schnell. Und unter Beihilfe <strong>der</strong> "sozialistischen" Minister kann das Problem <strong>der</strong><br />
Macht viel schneller über die Teilnehmer dieses Kongresses hereinbrechen, als wir<br />
alle es ahnen.«<br />
Bestrebt, sich vor den Massen mit einer höheren Autorität zu decken, zogen die Führer<br />
den Kongreß in alle schwebenden Konflikte hinein, wodurch sie ihn vor den Augen <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten schonungslos kompromittierten. Eine <strong>der</strong> lärmendsten<br />
Episoden dieser Art war die <strong>Geschichte</strong> mit <strong>der</strong> Villa Dumowos, eines alten zaristischen<br />
Würdenträgers, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Innenministers durch die Nie<strong>der</strong>schlagung<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905 berühmt geworden war. Die leerstehende Villa des verhaßten<br />
Bürokraten, dessen Hände obendrein nicht ganz sauber waren, hatten Arbeiterorganisationen<br />
des Wyborger Bezirkes besetzt, hauptsächlich des großen Gartens wegen, <strong>der</strong> ein<br />
beliebter Spielplatz <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> wurde. Die bürgerliche Presse schil<strong>der</strong>te die Villa als<br />
einen Schlupfwinkel von Pogromisten und Banditen, als ein Kronstadt des Wyborger<br />
Bezirks. Niemand unterzog sich <strong>der</strong> Mühe, nachzuprüfen, wie sich die Sache in<br />
Wirklichkeit verhielt. Die Regierung, die allen großen Fragen sorgsamst auswich, stürzte<br />
sich mit unverbrauchter Leidenschaft auf die Rettung <strong>der</strong> Villa. Vom Exekutivkomitee<br />
wurde eine Sanktion <strong>der</strong> heroischen Maßnahmen verlangt, die Zeretelli selbstverständlich<br />
nicht verweigerte. Der Staatsanwalt erließ einen Befehl, in 24 Stunden die Gruppe <strong>der</strong><br />
Anarchisten aus <strong>der</strong> Villa hinauszusetzen. Die Arbeiter, die von den bevorstehenden<br />
Kriegsoperationen erfuhren, schlugen Alarm. Die Anarchisten ihrerseits drohten mit<br />
bewaffnetem Wi<strong>der</strong>stand. 28 Werkstätten proklamierten einen Proteststreik. Das Exekutivkomitee<br />
erließ einen Aufruf, in dem es die Wyborger Arbeiter als Helfershelfer <strong>der</strong><br />
Konterrevolution brandmarkte. Nach dieser Vorbereitung drangen die Vertreter von<br />
Justiz und Miliz in die Löwenhöhle ein. Es zeigte sich jedoch, daß in <strong>der</strong> Villa, die eine<br />
Reihe kultureller Arbeiterorganisationen beherbergte, völlige Ordnung herrschte. Man<br />
mußte, und zwar nicht ohne Schmach, den Rückzug antreten. Diese <strong>Geschichte</strong> hatte<br />
aber noch eine weitere Entwicklung.<br />
Am 9. Juni platzte auf dem Kongreß eine Bombe: die Morgenausgabe <strong>der</strong> 'Prawda'<br />
hatte einen Aufruf zur Demonstration für den nächsten Tag gebracht. Tschcheidse, <strong>der</strong><br />
leicht zu erschrecken pflegte und deshalb an<strong>der</strong>e zu erschrecken geneigt war, verkündete<br />
mit Grabesstimme: »Wenn <strong>der</strong> Kongreß keine Maßnahmen ergreift, wird <strong>der</strong> morgige<br />
Tag verhängnisvoll werden.« Die Delegierten horchten unruhig auf<br />
Der Gedanke, die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten mit dem Kongreß zu konfrontieren,<br />
hatte sich durch die ganze Situation von selbst aufgedrängt. Die Massen bestürmten<br />
die Bolschewiki. Beson<strong>der</strong>s brodelte die Garnison, die befürchtete, man würde sie im<br />
Zusammenhang mit <strong>der</strong> Offensive zerstückeln und an die Fronten verstreuen. Dazu kam<br />
die starke Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> "Deklaration <strong>der</strong> Rechte des Soldaten", die im<br />
Vergleich mit dem Befehl Nr. i und dem Regime, das sich in <strong>der</strong> Armee faktisch durchgesetzt<br />
hatte, einen großen Schritt rückwärts bedeutete. Die Initiative zur Demonstration<br />
ging von <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki aus. Ihre Leiter behaupteten,<br />
und wie die Ereignisse zeigen werden, durchaus mit Recht, daß die Soldaten von sich aus<br />
auf die Straße gehen würden, falls die Partei die Leitung nicht übernehme. Der schroffe<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 285
Umschwung <strong>der</strong> Massenstimmungen war jedoch nicht ohne weiteres zu berechnen, und<br />
dies erzeugte ein gewisses Schwanken bei den Bolschewiki selbst. Wolodarski war nicht<br />
überzeugt, daß die Arbeiter auf die Straße gehen würden. Es herrschten auch Befürchtungen<br />
über den Charakter, den die Demonstration annehmen könnte. Die Vertreter <strong>der</strong><br />
militärischen Organisation erklärten, daß die Soldaten, einen Überfall und eine Abrechnung<br />
befürchtend, nicht unbewaffnet auf die Straße gehen wollten. »Welche Formen<br />
wird die Demonstration annehmen?« fragte <strong>der</strong> vorsichtige Tomski und verlangte eine<br />
ergänzende Besprechung. Stalin meinte: »Die Gärung unter den Soldaten ist Tatsache;<br />
bei den Arbeitern aber herrscht eine so klar ausgesprochene Stimmung nicht«, dennoch<br />
fand er, daß es notwendig sei, <strong>der</strong> Regierung Wi<strong>der</strong>stand zu leisten. Der stets eher zum<br />
Ausweichen als zum Kampfe neigende Kalinin sprach sich entschieden gegen die<br />
Demonstration aus, wobei er sich auf das Fehlen eines zwingenden Vorwandes, beson<strong>der</strong>s<br />
bei den Arbeitern, berief: »Die Demonstration wird nur eine erklügelte Sache sein.«<br />
In <strong>der</strong> Beratung mit Vertretern <strong>der</strong> Bezirke erhoben sich am 8. Juni nach einer Reihe<br />
vorangegangener Abstimmungen schließlich 131 Hände für die Denionstration, 6<br />
dagegen, 22 enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung. Die Demonstration wurde auf Sonntag, den<br />
10. Juni, festgesetzt.<br />
Die Vorbereitungsarbeit war bis zum letzten Moment geheim geführt worden, um den<br />
Soziatrevolutionären und Menschewiki nicht die Möglichkeit zu verschaffen, eine<br />
Gegenagitation zu entfalten. Diese berechtigte Vorsichtsmaßnahme wurde später als<br />
Beweis für eine militärische Verschwörung gedeutet. Der Zentralsowjet <strong>der</strong> Betricbskomitees<br />
stimmte dem Beschluß, die Demonstration zu organisieren, zu. »Unter dem Druck<br />
Trotzkis und gegen den opponierenden Lunatscharski«, schreibt Jugow, »beschloß das<br />
Komitee <strong>der</strong> "Interrayonisten" ("Meschrayonzy" 6 ), an <strong>der</strong> Demonstration teilzunehmen.«<br />
Die Vorbereitung wurde mit glühendem Eifer durchgeführt.<br />
Die Kundgebung sollte das Banner <strong>der</strong> Sowjetmacht erheben. Die Kampflosung<br />
lautete: "Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten." Das war <strong>der</strong> einfachste Ausdruck<br />
für die For<strong>der</strong>ung des Bruches <strong>der</strong> Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie. Der Zug sollte zum<br />
Kadettenkorps, wo <strong>der</strong> Kongreß tagte, marschieren. Damit wollte man unterstreichen,<br />
daß es nicht um den Sturz <strong>der</strong> Regierung, son<strong>der</strong>n um einen Druck auf die Sowjetführer<br />
gehe.<br />
Freilich wurden bei den Vorberatungen <strong>der</strong> Bolschewiki auch an<strong>der</strong>e Stimmen laut. So<br />
beantragte Smilga, damals ein junges Mitglied des Zentralkomitees, »auf die Besetzung<br />
von Post, Telegraphenamt und Waffenlager nicht zu verzichten, falls sich die Ereignisse<br />
zu einem Zusammenstoß entwickeln«. Ein andaer Teilnehmer <strong>der</strong> Beratung, Lazis,<br />
Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees, trug über die Ablehnung des Antrages Smilga in sein<br />
Tagebuch ein »Ich kann mich nicht damit abfinden ... werde mich mit den Genossen<br />
Semaschko und Rachja verständigen, um nötigenfalls, gestützt auf das Maschinengewelrrregiment,<br />
gerüstet zu sein, Bahnhöfe, Waffenlager, Banken, Post- und Telegraphenamt<br />
zu besetzen.« Semaschko war Offizier des Maschinengewehrregirnents, Rachja ein<br />
Arbeiter und wahrer bolschewistischer Kämpfer.<br />
Daß solche Stimmungen vorhanden waren, ist selbstverständlich. Der gesamte Parteikurs<br />
ging auf die Machteroberung, die Frage bestand nur in <strong>der</strong> Einschätzung <strong>der</strong> Situation.<br />
In Petrograd vollzog sich ein offensichtlicher Umschwung zugunsten <strong>der</strong><br />
6 Siehe Fußnote vorne<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 286
Bolschewiki; in <strong>der</strong> Provinz entwickelte sich <strong>der</strong> gleiche Prozeß, nur langsamer; schließlich<br />
brauchte die Front noch die Lehre <strong>der</strong> Offensive, um das Mißtrauen gegen die<br />
Bolschewiki abzuschütteln. Lenin beharrte deshalb auf seiner Aprilposition: »Geduldig<br />
aufklären.«<br />
In seinen Aufzeichnungen schil<strong>der</strong>t Suchanow den Demonstrationspian vom 10. Juni<br />
als direkte Absicht Lenins, »unter günstigen Umständen« die Macht zu ergreifen. In<br />
Wirklichkeit hatten nur einzelne Bolschewiki, die, nach <strong>der</strong> ironischen Bemerkung<br />
Lenins, »ein bißchen linker« als notwendig steuerten, die Frage so zu stellen vepsucht.<br />
Merkwürdigerweise bemüht Suchanow sich nicht einmal, seine willkürlichen Vermutungen<br />
mit <strong>der</strong> politischen Linie Lenins, die in zahlreichen Reden und Artikeln festgelegt<br />
war, zu vergieichen. 7<br />
Das Büro des Exekutivkomitees verlangte sofort von den Bolschewiki, die Demonstration<br />
abzusagen. Mit welchem Recht? Formell konnte die Demonstration offenbar nur<br />
durch die Staatsmacht verboten werden. Die aber wagte nicht, auch nur daran zu denken.<br />
Wie aber konnte <strong>der</strong> Sowjet, eine vom Block zweier politischer Parteien geleitete "Privatorganisation",<br />
die Demonstration einer dritten Partei verbieten? Das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />
Bolschewiki weigerte sich, das Verlangen zu erfüllen, beschloß aber, den friedlichen<br />
Charakter <strong>der</strong> Demonstration noch schärfer zu betonen. Am 9. Juni wurde in den Arbeitervierteln<br />
eine Proklamation <strong>der</strong> Bolsehewiki angeschlagen: »Wir sind freie Bürger, wir<br />
haben das Recht zu protestieren, und wir müssen dieses Recht ausnutzen, solange es<br />
nicht zu spät ist. Das Recht <strong>der</strong> friedlichen Demonstration bleibt uns erhalten.«<br />
Die Versöhnler brachten die Frage vor den Kongreß. In diesem Augenblick sprach<br />
Tschcheidse die Worte vom verhängnisvollen Ausgang und betonte, daß es nötig sein<br />
werde1 die ganze Nacht zu tagen. Das Präsidiumsmitglied Gegetschkori, ebenfalls ein<br />
Sohn <strong>der</strong> Gironde, schloß seine Rede gegen die Bolschewiki mit dem plumpen Schrei;<br />
»Fort mit euren schmutzigen Händen von <strong>der</strong> großen Sache!« Trotz ihres Verlangens<br />
ließ man den Bolschewiki keine Zeit, in dieser Frage eine fraktionelle Beratung abzuhalten.<br />
Der Kongreß nahm einen Beschluß an, wonach für die Dauer von drei Tagen jegliche<br />
Demonstration verboten sei. Dieser Gewaltakt gegen die Bolschewiki war<br />
gleichzeitig ein Usurpationsakt gegen die Regierung: die Sowjets fuhren fort, sich selbst<br />
die Macht unter dem Kissen hervorzustehlen.<br />
In den gleichen Stunden sprach Miljukow auf dem Kosakenkongreß und nannte die<br />
Bolschewiki »Hauptfeinde <strong>der</strong> Russischen <strong>Revolution</strong>«. Ihr Hauptfreund wurde nach <strong>der</strong><br />
Logik <strong>der</strong> Dinge Miljukow selbst; <strong>der</strong> am Vorabend <strong>der</strong> Februarrevolution bereit<br />
gewesen war, eher eine Nie<strong>der</strong>lage von den Deutschen als die <strong>Revolution</strong> vom <strong>russischen</strong><br />
Volke hinzunehmen. Auf die Frage <strong>der</strong> Kosaken, wie man sich den Leninisten gegenüber<br />
zu verhalten habe, antwortete Miljukow: »Es ist Zeit, mit diesen Herren Schluß zu<br />
machen.« Der Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie hatte es sehr eilig. Allerdings blieb ihm tatsächlich<br />
nicht viel Zeit zu verlieren.<br />
Unterdes fanden in den Fabriken und bei den Regimentern Meetings statt, auf denen<br />
beschlossen wurde, morgen unter <strong>der</strong> Losung "Alle Macht den Sowjets" auf die Straße<br />
zu gehen. Im Lärm des Sowjet- und des Kosakenkongresses blieb die Tatsache unbeachtet,<br />
daß in die Wyborger Bezirksduma von den Bolschewiki 37, vom Block <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki 22 und von den Kadetten 4 Vertreter gewählt worden<br />
7 Ausführlicheres über diese Frage im Anhang Nr.3.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 287
waren.<br />
Vor den kategorischen Beschluß des Kongresses gestellt und noch dazu mit dem<br />
geheimnisvollen Hinweis auf den drohenden Schlag von rechts, beschlossen die Bolschewiki,<br />
die Frage erneut zu prüfen. Sie hatten eine friedliche Demonstration, nicht aber<br />
einen Aufstand beabsichtigt und keine Veranlassung, die verbotene Demonstration in<br />
einen halben Aufstand zu verwandeln. Das Kongreßpräsidium seinerseits entschied,<br />
Vorkehrungen zu treffen. Einige hun<strong>der</strong>t Delegierte wurden in Zehnergruppen verteilt<br />
und in die Arbeiterviertel und Kasernen geschickt, um die Demonstration abzuwenden;<br />
gegen Morgen hatten sie im Taurischen Palais zu erscheinen und das Ergebnis zu prüfen.<br />
Dieser Expedition schloß sich das Exekutivkomitee <strong>der</strong> Bauerndeputierten an und stellte<br />
seinerseits 70 Mann.<br />
Wenn auch auf unerwartete Weise, so hatten die Bolschewiki doch das, was sie<br />
wollten, erreicht: die Kongreßdelegierten waren gezwungen, mit den Arbeitern und<br />
Soldaten <strong>der</strong> Hauptstadt Bekanntschaft zu machen. Man ließ den Berg nicht zu den<br />
Propheten kommen, also mußten die Propheten zum Berge gehen. Die Begegnung erwies<br />
sich als höchst lehrreich. In <strong>der</strong> 'Iswestja', <strong>der</strong> Zeitung des Moskauer Sowjets, gibt ein<br />
menschewikischer Korrespondent folgendes Bild: »Die Mehrheit des Kongresses, über<br />
500 seiner Mitglie<strong>der</strong>, hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, in Zehnergruppen<br />
zerschlagen besuchte sie die Petrogra<strong>der</strong> Fabriken und Truppenteile mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung,<br />
von <strong>der</strong> Demonstration abzusehen. Der Kongreß besitzt in einem großen Teil <strong>der</strong><br />
Fabriken und Werkstätten und auch bei gewissen Teilen <strong>der</strong> Garnison keine Autorität...<br />
Die Kongreßmitglie<strong>der</strong> wurden durchaus nicht immer freundlich, mitunter sogar feindselig<br />
empfangen und nicht selten im bösen verabschiedet.« Das offizielle Sowjetorgan<br />
übertreibt keinesfalls; im Gegenteil, es gibt ein sehr gemil<strong>der</strong>tes Bild <strong>der</strong> nächtlichen<br />
Begegnung zweier Welten.<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Massen ließen jedenfalls die Delegierten nicht im Zweifel darüber,<br />
wer von nun an Demonstrationen ansetzen und absagen konnte. Die Arbeiter des<br />
Putilow-Werkes erklärten sich erst dann bereit, den Aufruf des Kongresses gegen die<br />
Demonstration anzuschlagen, nachdem sie sich aus <strong>der</strong> 'Prawda' überzeugt haben<br />
würden, daß er dem Beschluß <strong>der</strong> Bolschewiki nicht wi<strong>der</strong>sprach. Das 1. Maschinengewehrregiment<br />
das, wie das Putilow-Werk bei den Arbeitern, in <strong>der</strong> Garnison die erste<br />
Geige spielte, nahm nach den Referaten Tschcheidses und Awksentjews, <strong>der</strong> Vorsitzenden<br />
zweier Exekutivkomitees, folgende Resolution an: »Im Einverständnis mit dem<br />
Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki und <strong>der</strong> Militärischen Organisation vertagt das<br />
Regiment sein Hervortreten ...«<br />
Die Zähmungsbrigaden kamen nach einer schlaflosen Nacht im Zustande völliger<br />
Demoralisierung im Taurischen Palais an. Sie hatten damit gerechnet, daß die Autorität<br />
des Kongresses unbestreitbar sei, waren aber auf eine Mauer von Mißtrauen und Feindseligkeit<br />
gestoßen. »Die Massen sind in <strong>der</strong> Gewalt <strong>der</strong> Bolschewiki.« »Gegen Menschewiki<br />
und Sozialrevolutionäre verhält man sich feindselig.« »Man glaubt nur <strong>der</strong><br />
'Prawda'.« Irgendwo hatte man gerufen: »Wir sind für euch keine Genossen.« So berichteten<br />
die Delegierten einer nach dem an<strong>der</strong>n, wie sie, obwohl die Schlacht abgesagt<br />
worden war, die schwerste Nie<strong>der</strong>lage erlitten hatten.<br />
Die Massen unterwarfen sich dem Beschluß <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch vollzog sich die<br />
Unterwerfug keinesfalls ohne Proteste und sogar Empörung. In einigen Betrieben<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 288
wurden Resolutionen angenommen, die dem Zentralkomitee eine Mißbilligung aussprachen.<br />
Die hitzigsten Parteimitglie<strong>der</strong> in den Bezirken zerrissen ihre Mitgliedskarten. Das<br />
war eine ernste Warnung.<br />
Die Versöhnler hatten das dreitägige Demonstrationsverbot mit dem Hinweis auf eine<br />
monarchistische Verschwörung motiviert, die an die Kundgebung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
anzuhaken beabsichtigte; man sprach davon, daß ein Teil des Kosakenkongresses in die<br />
Sache verwickelt sei und daß konterrevolutionäre Truppen sich Petrograd näherten. Es ist<br />
nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß die Bolschewiki nach <strong>der</strong> Absage <strong>der</strong> Demonstration<br />
Aufklärungen über die Verschwörung verlangten. Statt einer Antwort beschuldigten die<br />
Kongreßführer die Bolschewiki selbst <strong>der</strong> Verschwörung. So fand man einen glücklichen<br />
Ausweg aus <strong>der</strong> Lage.<br />
Es sei zugegeben, daß in <strong>der</strong> Nacht zum 10. Juni die Versöhnler tatsächlich eine<br />
Verschwörung entdeckt hatten, die sie stark erschütterte: die Verschwörung <strong>der</strong> Massen<br />
mit den Bolschewiki gegen die Versöhnler. Jedoch die Unterwerfung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
unter den Kongreßbeschluß ermutigte die Versöhnler und erlaubte ihnen, ihre Panik in<br />
Raserei umzuwandeln. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre beschlossen nun,<br />
eiserne Energie zu entfalten. Am 10. Juni schrieb die menschewistische Zeitung: »Es ist<br />
Zeit, die Leninisten als Abtrünnige und Verräter <strong>der</strong> Revoludon zu brandmarken.« Ein<br />
Vertreter des Exekutivkomitees trat auf dem Kosakenkongreß auf und bat die Kosaken,<br />
den Sowjet gegen die Bolschewiki zu unterstützen. Der Vorsitzende, <strong>der</strong> Uraler Ataman<br />
Dutow, antwortete ihm: »Wir Kosaken werden niemals gegen den Sowjet gehen.« Die<br />
Reaktionäre waren bereit, gegen die Bolschewiki sogar mit dem Sowjet zusammenzugehen,<br />
um ihn später um so sicherer erdrosseln zu können.<br />
Am 11. Juni versammelt sich ein dräuendes Tribunal: das Exekutivkomitee, die<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Kongreßpräsidiums, die Fraktionsführer, insgesamt etwa 100 Mann. Als<br />
Staatsanwalt tritt wie stets Zeretelli auf. Keuchend vor Wut for<strong>der</strong>t er strenges Gericht<br />
und wehrt Dan verächtlich ab, <strong>der</strong>, zur Hetze gegen die Bolschewiki stets bereit, sich<br />
noch nicht entschließen kann, gegen sie loszuschlagen. »Was die Bolschewiki jetzt<br />
treiben, ist nicht geistige Propaganda, son<strong>der</strong>n Verschwörung ... Die Bolschewiki mögen<br />
es uns nicht verübeln. Jetzt werden wir zu an<strong>der</strong>en Kampfmethoden greifen ... Man muß<br />
die Bolschewiki entwaffnen. Man darf jene großen technischen Mittel, über die sie bis<br />
jetzt verfügten, nicht länger in ihren Händen belassen. Man darf Maschinengewehre und<br />
Waffen nicht mehr in ihren Händen belassen. Wir werden Verschwörungen nicht<br />
dulden.« Das sind neue Töne. Was bedeutet das eigentlich, die Bolschewiki entwaffiien?<br />
Suchanow schreibt darüber: »Die Bolschewiki besitzen ja keine beson<strong>der</strong>en Waffenlager.<br />
Die gesamten Waffen sind ja bei den Soldaten und Arbeitern, die in ungeheurer Zahl mit<br />
den Bolschewiki gehen. Entwaffnung <strong>der</strong> Bolschewiki kann nur Entwaffnung des Proletariats<br />
bedeuten. Mehr noch - das ist die Entwaffnung <strong>der</strong> Truppen.«<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten, es rückte jener klassische Moment <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> heran, wo die<br />
bürgerliche Demokratie auf Geheiß <strong>der</strong> Reaktion die Arbeiter entwaffnen möchte, die<br />
den Sieg <strong>der</strong> Umwälzung gesichert hatten. Stets sind die Sympathien <strong>der</strong> Herren<br />
Demokraten, unter denen es auch belesene Leute gibt, mit den Entwaffneten und nicht<br />
mit den Entwaffnern, - sofern die Sache in alten Büchern spielt. Wenn aber die gleiche<br />
Frage in <strong>der</strong> Wirklichkeit vor ihnen steht, erkennensie sie nicht wie<strong>der</strong>. Doch schon die<br />
bloße Tatsache, daß Zeretelli, ein <strong>Revolution</strong>är, <strong>der</strong> viele Jahre in <strong>der</strong> Katorga verbracht<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 289
hatte, ein gestriger Zimmerwal<strong>der</strong>, sich anschickte, die Arbeiter zu entwaffnen, wollte<br />
nicht so ohne weiteres in die Köpfe hinein. Der Saal erstarrte. Die Provinzdelegierten<br />
überkam wohl doch die Ahnung, daß man sie in einen Abgrund stürzte. Ein Offizier<br />
bekam einen hysterischen Anfall.<br />
Nicht weniger bleich als Zeretelli, erhebt sich Kamenew von seinem Platz und ruft voll<br />
Würde, <strong>der</strong>en Kraft das ganze Auditorium fühlt: »Herr Minister, wenn Sie Ihre Worte<br />
nicht in den Wind streuen, haben Sie nicht das Recht, sich auf eine Rede zu beschränken.<br />
Verhaften Sie mich und lassen Sie mich aburteilen wegen Verschwörung gegen die<br />
<strong>Revolution</strong>.« Unter Protest verlassen die Bolschewiki die Sitzung und weigern sich, an<br />
<strong>der</strong> Verhöhnung ihrer eigenen Partei teilzunehmen. Die Spannung im Saal wird unerträglich.<br />
Liber eilt Zeretelli zu Hilfe. Die verhaltene Wut wird auf <strong>der</strong> Tribüne von hysterischer<br />
Raserei abgelöst. Liber for<strong>der</strong>t erbarmungslose Maßnahmen. »Wollt ihr die Masse<br />
bekommen, die zu den Bolschewiki geht, dann brecht mit dem Bolschewismus.« Doch<br />
man hört ihn ohne Sympathie an, sogar halb feindselig.<br />
Der wie immer empfindsame Lunatscharski versucht sofort mit <strong>der</strong> Mehrheit eine<br />
gemeinsame Sprache zu finden: obwohl die Bolschewiki ihm versichert hätten, nur eine<br />
friedliche Demonstration geplant zu haben, habe ihn die eigene Erfahrung überzeugt, daß<br />
es »ein Fehler war, die Demonstration zu veranstalten«. Man dürfe jedoch die Konflikte<br />
nicht überspitzen. Ohne die Gegner zu beruhigen, reizt Lunatscharski die Freunde.<br />
»Wir kämpfen nicht gegen die linke Strömung«, versichert jesuitisch Dan, <strong>der</strong> erfahrenste,<br />
aber auch unfruchtbarste Führer des Sumpfes, »wir kämpfen gegen die Konterrevolution.<br />
Es ist nicht unsere Schuld, wenn hinter eurem Rücken die Handlanger Deutschlands<br />
stehen.« Der Hinweis auf die Deutschen löste einfach jegliche Argumentation ab. Diese<br />
Herren konnten selbstverständlich keine Handlanger Deutschlands aufzeigen.<br />
Zeretellis Absicht war, einen Hieb zu versetzen. Dan riet, nur zum Schlage auszuholen.<br />
Das Exekutivkomitee in seiner Hilflosigkeit schloß sich Dan an. Die Resolution, die am<br />
nächsten Tag auf dem Kongreß eingebracht wurde, trug den Charakter eines Ausnahmegesetzes<br />
gegen die Bolschewiki, jedoch ohne unmittelbare praktische Folgerungen.<br />
»Nach dem Besuch <strong>der</strong> Fabriken und Regimenter durch eure Delegierten«, lautete die<br />
schriftliche Erklärung <strong>der</strong> Bolschewiki an den Kongreß, »könnt ihr darüber nicht im<br />
Zweifel sein, daß, wenn die Demonstration unterblieb, so nicht infolge eures Verbotes,<br />
son<strong>der</strong>n weil unsere Partei sie abgesagt hat ... Die Fiktion einer militärischen<br />
Verschwörung ist von dem Mitglied <strong>der</strong> Provisorischen Regierung nur vorgeschoben<br />
worden, um die Entwaffnung des Petrogra<strong>der</strong> Proletariats und die Auflösung <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Garnison durchzuführen ... Auch wenn die Staatsmacht bereits restlos in<br />
die Hände des Sowjets übergegangen wäre - was wir anstreben - und <strong>der</strong> Sowjet versuchen<br />
würde, unserer Agitation Ketten anzulegen, so könnte das uns nicht zu passiver<br />
Unterwerfung zwingen, son<strong>der</strong>n dazu, Gefängnis und an-<strong>der</strong>en Strafen entgegenzugehen<br />
im Namen <strong>der</strong> Ideen des internationalen Sozialismus, die uns von euch trennen.«<br />
Sowjetmehrheit und Sowjetmin<strong>der</strong>heit standen in diesen Tagen Brust an Brust, wie<br />
zum entscheidenden Kampfe. Aber beide Parteien machten im letzten Moment einen<br />
Schritt zurück. Die Bolschewiki verzichteten auf die Demonstration; die Versöhnler auf<br />
die Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 290
Zeretelli blieb unter den Seinen in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Indes hatte er auf seine Art recht.<br />
Die Bündnispolitik mit <strong>der</strong> Bourgeoisie hatte sich jenem Punkt genähert, wo es notwendig<br />
wurde, die Massen, die sich mit <strong>der</strong> Koalition nicht abfinden wollten, zu entkräften.<br />
Die Versöhnlerpolitik zum glücklichen Ende, das heißt zur Errichtung <strong>der</strong> parlamentarischen<br />
Herrschaft <strong>der</strong> Bourgeoisie zu führen, war nicht an<strong>der</strong>s möglich als durch Entwaffnung<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Zeretelli hatte also recht. Darüber hinaus war er<br />
machtlos. We<strong>der</strong> die Arbeiter noch die Soldaten hätten die Waffen abgegeben. Folglich<br />
hätte man Gewalt gegen sie anwenden müssen. Zeretelli besaß jedoch keine Macht mehr.<br />
Er konnte sie, wenn überhaupt, nur aus den Händen <strong>der</strong> Reaktion erhalten, die im Falle<br />
einer erfolgreichen Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki unverzüglich zur Nie<strong>der</strong>schlagung<br />
<strong>der</strong> Versöhnlersowjets geschritten wäre und nicht versäumt hätte, Zeretelli daran zu<br />
erinnern, daß er nur ein ehemaliger Zuchtbäusler sei und nichts mehr. Der weitere<br />
Verlauf <strong>der</strong> Dinge wird jedoch zeigen, daß auch die Reaktion eine solche Macht nicht<br />
besaß.<br />
Die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bolschewiki begründete Zeretelli politisch<br />
damit, daß sie das Proletariat von <strong>der</strong> Bauernschaft trennten. Martow erwi<strong>der</strong>te ihm:<br />
»Nicht aus den Tiefen <strong>der</strong> Bauernschaft« schöpfte Zeretelli seine Leitgedanken, »die<br />
Gruppe rechter Kadetten, die Kapitalistengruppe, die Gutsbesitzergruppe, die Gruppe<br />
<strong>der</strong> Imperialisten, die Bourgeoisie des Westens«, sie sind es, die die Entwaffnung <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldaten for<strong>der</strong>n. Martow hatte recht: die besitzenden Klassen hatten mehr<br />
als einmal in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> ihre Ansprüche hinter dem Rücken <strong>der</strong> Bauernschaft verborgen.<br />
Seit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Aprilthesen Lenins wurde die Berufung auf die Gefahr<br />
<strong>der</strong> Isolierung des Proletariats von <strong>der</strong> Bauernschaft das Hauptargument aller jener, die<br />
die <strong>Revolution</strong> zurückzerren wollten. Nicht zufällig hatte Lenin Zeretelli mit den "alten<br />
Bolschewiki" auf eine Stufe gestellt.<br />
In einer im Jahre 1917 veröffentlichten Arbeit schrieb Trotzki zu diesem Thema: »Die<br />
Isolierung unserer Partei von den Sozial-revolutionären und Menschewiki, selbst die<br />
äußerste, selbst auf dem Wege über Einzelzellen, bedeutet noch keinesfalls die Isolierung<br />
des Proletariats von den unterdrückten Bauern- und Stadtmassen. Im Gegenteil,<br />
nur die scharfe Gegenüberstellung <strong>der</strong> Politik des revolutionären Proletariats und <strong>der</strong><br />
treubrüchigen Abtrünnigkeit <strong>der</strong> heutigen Sowjetfülirer ist imstande, die rettende<br />
politische Differenzierung in die Bauernmillionen hineinzutragen, die Dorfarmut <strong>der</strong><br />
verräterischen Leitung <strong>der</strong> gesicherten sozialrevolutionären Bäuerlein zu entreißen<br />
und das sozialistische Proletariat in den wahren Führer <strong>der</strong> plebejischen, <strong>der</strong> Volksrevolution<br />
zu verwandeln.«<br />
Aber das durch und durch falsche Argument Zeretellis hatte ein zähes Leben. Es<br />
erstand am Vorabend <strong>der</strong> Oktoberrevolution mit verdoppelter Kraft wie<strong>der</strong> als Argument<br />
vieler "alter Bolschewiki" gegen die Umwälzung. Einige Jahre später, als die geistige<br />
Reaktion gegen den Oktober einsetzte, wurde Zeretellis Formel zur wichtigsten theoretischen<br />
Waffe <strong>der</strong> Epigonenschule.<br />
In <strong>der</strong> gleichen Kongreßsitzung, die über die Bolschewiki in <strong>der</strong>en Abwesenheit<br />
Gericht hielt, beantragte <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Menschewiki völlig überraschend, am nächsten<br />
Sonntag, dem 18. Juni, in Petrograd und den wichtigsten Städten eine Kundgebung <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldaten zu veranstalten, um den Feinden die Einheit und Macht <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 291
Demokratie zu zeigen. Der Antrag wurde, wenn auch nicht ohne Staunen, angenommen.<br />
Nach mehr als einem Monat erklärte Miljukow ziemlich eingehend die unerwartete<br />
Wendung <strong>der</strong> Versöhnler: »Während sie auf dem Sowjetkongreß kadettische Reden<br />
hielten und die bewaffnete Demonstration am 10. Juni zum Scheitern brachte ... fühlten<br />
die Minister-<strong>Sozialisten</strong>, daß sie in <strong>der</strong> Annäherung an uns zu weit gegangen waren und<br />
daß <strong>der</strong> Boden unter ihren Füßen zu schwinden begann. Sie bekamen Angst und machten<br />
schroff kehrt in die Richtung <strong>der</strong> Bolschewiki.« Der Beschluß zur Demonstration vom 18.<br />
Juni war selbstverständlich keine Wendung zu den Bolschewiki hin, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Versuch<br />
einer Wendung zu den Aufrüttelung <strong>der</strong> Sowjetspitzen geführt: so wurde, im Gegensatz<br />
zu dem, was beim Beginn des Kongresses geplant war, im Namen <strong>der</strong> Regierung eiligst<br />
eine Verfügung über die Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma und die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung für den 30. September erlassen. Die Parolen für die Demonstration<br />
wurden mit <strong>der</strong> Berechnung gewählt, die Massen nicht zu reizen: "Allgemeiner Friede",<br />
"Schnellste Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung", "Demokratische<br />
Republik". Sowohl über Offensive wie Koalition kein Wort. In <strong>der</strong> 'Prawda' fragte Lenin:<br />
»Und wo bleibt das volle Vertrauen zur Provisorischen Regierung, ihr Herren? ...<br />
Weshalb bleibt euch die Zunge am Gaumen kleben?« Diese Ironie traf das Ziel: die<br />
Versölinler hatten es nicht gewagt, von den Massen Vertrauen für jene Regierung zu<br />
for<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> sie angehörten.<br />
Sowjetdelegierte, die zum zweitenmal die Arbeiterviertel und Kasernen besuchten,<br />
erstatteten dem Exekutivkomitee am Vorabend <strong>der</strong> Demonstration zuversichtliche<br />
Berichte. Zeretelli, dem diese Berichte das Gleichgewicht und die Vorliebe für selbstzufriedene<br />
Belehrungen wie<strong>der</strong>gegeben hatten, wandte sich an die Bolschewiki: »Nunmehr<br />
stehen wir vor <strong>der</strong> offenen und ehrlichen Heeresschau <strong>der</strong> revolutionären Kräfte ... Jetzt<br />
werden wir alle sehen, mit wem die Mehrheit geht, mit uns o<strong>der</strong> mit euch.« Die Bolschewiki<br />
hatten die Herausfor<strong>der</strong>ung angenommen, noch ehe sie so unvorsichtig formuliert<br />
worden war. »Wir werden am 18. zur Demonstration gehen«, schrieb die 'Prawda', »um<br />
für die gleichen Ziele zu kämpfen, für die wir am 10. demonstrieren wollten.«<br />
Offenbar in Erinnerung an die Beerdigungsprozession vom März, die wenigstens<br />
äußerlich die größte Kundgebung für die Einheit <strong>der</strong> Demokratie gewesen war, führte die<br />
Marschroute auch diesmal zum Marsfeld, zu den Gräbern <strong>der</strong> Februaropfer. Außer <strong>der</strong><br />
Marschroute erinnerte aber nichts mehr an die fernen Märztage. Am Zuge beteiligten sich<br />
etwa 400.000 Menschen, das heißt bedeutend weniger als an <strong>der</strong> Beerdigung: bei dieser<br />
Sowjetdemonstration fehlte nicht nur die Bourgeoisie, mit <strong>der</strong> die Sowjets in einer Koalition<br />
waren, son<strong>der</strong>n auch die radikale Intelligenz, die an den früheren Paraden <strong>der</strong><br />
Demokratie so hervorragend beteiligt gewesen war. Es marschierten fast ausschließlich<br />
Betriebe und Kasernen.<br />
Die auf dem Marsfeld versammelten Sowjetdelegierten lasen und zählten die Plakate.<br />
Die ersten bolschewistischen Parolen wurden halb ironisch aufgenommen. Hatte doch<br />
Zeretelli am Vorabend seine Herausfor<strong>der</strong>ung so zuversichtlich hingeworlen. Doch die<br />
gleichen Parolen wie<strong>der</strong>holten sich fortwährend. "Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten",<br />
"Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Offensive", "Alle Macht den Sowjets", das ironische Lächeln<br />
erstarrte auf den Gesichtern, um später völlig zu verschwinden. Die bolschewistischen<br />
Banner nahmen kein Ende. Die Delegierten gaben das undankbare Zählen auf Der Sieg<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki war zu offensichtlich. »Ab und zu«, schreibt Suchanow, »wurde die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 292
Kette <strong>der</strong> bolschewistischen Banner und Kolonnen durch spezifisch sozial-revolutionäre<br />
o<strong>der</strong> offizielle Sowjetparolen unterbrochen. Sie gingen aber in <strong>der</strong> Masse unter.« Der<br />
Sowjetoffiziosus berichtete am nächsten Tag, mit welcher »Wut man hie und da Banner<br />
mit den Parolen des Vertrauens für die Provisorische Regierung in Stücke zerriß«. Diese<br />
Worte enthalten ein unverkennbares Element <strong>der</strong> Übertreibung. Plakate zu Ehren <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung wurden nur von drei kleineren Gruppen getragen: dem Kreis<br />
Plechanows, einer Kosakenabteilung und einem Häuflein jüdischer Intelligenz, das zum<br />
"Bund" gehörte. Dieses kombinierte Trio, das durch seine Zusammensetzung den<br />
Eindruck einer politischen Kuriosität machte, stellte sich gleichsam die Aufgabe, die<br />
Ohnmacht des Regimes zur Schau zu stellen. Die Plechanow-Leute und <strong>der</strong> "Bund"<br />
waren unter den feindlichen Rufen <strong>der</strong> Menge gezwungen, ihre Banner einzurollen. Den<br />
standhaft gebliebenen Kosaken hatten die Demonstranten das Banner tatsächlich entrissen<br />
und es vernichtet.<br />
»Der dahingleitende Fluß«, so schil<strong>der</strong>t es die 'Iswestja', »verwandelte sich in einen<br />
schwellenden, breiten Strom, <strong>der</strong> aus seinen Ufern zu treten drohte.« Das war <strong>der</strong><br />
Wyborger Bezirk - ganz unter bolschewistischen Bannern: "Nie<strong>der</strong> mit den zehn<br />
Minister-Kapitalisten." Ein Betrieb trug das Plakat: "Das Recht auf Leben steht über dem<br />
Recht auf Privatbesitz." Diese Losung war von keiner Partei diktiert worden.<br />
Die Augen <strong>der</strong> verängstigten Provinzler suchten die Führer. Diese hielten ihre Blicke<br />
gesenkt o<strong>der</strong> versteckten sich. Die Bolschewiki bedrängten die Provinzler. Ist denn das<br />
einem Häuflein Verschwörer ähnlich? Die Delegierten mußten zugeben: Nein, es sei<br />
nicht ähnlich. »In Petrograd seid ihr die Macht«, gestanden sie in einem von den offiziellen<br />
Sitzungen ganz verschiedenen Ton, »aber nicht in <strong>der</strong> Provinz und nicht an <strong>der</strong><br />
Front. Petrograd kann nicht gegen das ganze Land gehen.« »Wartet ab«, antworteten<br />
ihnen die Bolschewiki, »bald kommt auch ihr an die Reihe, auch bei euch wird man die<br />
gleichen Plakate hochheben.«<br />
»Während dieser Demonstration«, schrieb <strong>der</strong> Greis Plechanow, »stand ich neben<br />
Tschcheidse auf dem Marsfeld. Ich las auf seinem Gesicht, daß er sich über die Bedeutung<br />
<strong>der</strong> verblüffend großen Zahl <strong>der</strong> Plakate, die die Absetzung <strong>der</strong> kapitalistischen<br />
Minister for<strong>der</strong>ten, keinen Illusionen hingab. Der befehishaberische Ton, in dem sich<br />
einige Vertreter <strong>der</strong> Leninisten, wie wahrhafte Geburtstagskin<strong>der</strong> vorbeigehend, an ihn<br />
wandten, unterstrich diese Bedeutung.«<br />
Die Bolschewiki hatten jedenfalls Grund für solch ein Selbstbewußtsein. »Nach den<br />
Plakaten und Parolen <strong>der</strong> Kundgebung zu urteilen«, schrieb Gorkis Zeitung, »erwies die<br />
Sonntagsdemonstration den völligen Triumph des Bolschewismus beim Petrogra<strong>der</strong><br />
Proletariat.« Das war ein großer Sieg, und dabei in jener Arena und mit jenen Waffen<br />
errungen, die vom Gegner gewfliit worden waren. Nachdem er die Offensive gutgeheißen,<br />
die Koalition anerkannt und die Bolschewiki verurteilt hatte, berief <strong>der</strong> Sowjetkongreß<br />
die Massen auf die Straße. Sie erklärten ihm: Wir wollen we<strong>der</strong> die Offensive noch<br />
die Koalition, wir sind für die Bolschewiki. Das war das politische Ergebnis <strong>der</strong> Demonstration.<br />
Ist es da verwun<strong>der</strong>lich, wenn die Zeitung <strong>der</strong> Menschewiki, <strong>der</strong> Initiatoren <strong>der</strong><br />
Demonstration, am nächsten Tag melancholisch fragte: wem ist dieser unglückselige<br />
Gedanke in den Sinn gekommen?<br />
Gewiß hatten nicht alle Arbeiter und Soldaten <strong>der</strong> Hauptstadt an <strong>der</strong> Demonstration<br />
teilgenommen, und nicht alle Demonstranten waren Bolschewiki. Aber schon wollte<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 293
keiner von ihnen die Koalition. Jene Arbeiter, die dem Bolschewismus noch feindlich<br />
gegenüberstanden, wußten ihm nichts entgegenzustellen. Das allein verwandelte ihre<br />
Feindseligkeit in abwartende Neutralität. Unter bolschewistischen Parolen marschierten<br />
nicht wenige Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die mit ihren Parteien noch nicht<br />
gebrochen, aber den Glauben an <strong>der</strong>en Parolen bereits verloren hatten.<br />
Die Demonstration vom 18. Juni übte einen gewaltigen Eindruck auf ihre Teilnehmer<br />
aus. Die Massen erkannten, daß <strong>der</strong> Bolschewismus eine Macht geworden war, und die<br />
Schwankenden fühlten sich von ihm angezogen. In Moskau, Kiew, Charkow, Jekaterinoslaw<br />
und vielen an<strong>der</strong>en Provinzstädten enthüllten die Demonstrationen das ungeheure<br />
Anwachsen des Einflusses <strong>der</strong> Bolschewiki. Überall wurden die gleichen Losungen<br />
aufgestellt, und sie trafen das Februarregime mitten ins Herz. Man mußte Schlußfolgerungen<br />
ziehen. Es schien, daß die Versöhnler keinen Ausweg hatten. Aber im letzten<br />
Augenblick half die Offensive.<br />
Am 19. Juni fand auf dem Newskij-Prospekt unter Leitung von Kadetten und mit<br />
Bil<strong>der</strong>n von Kerenski eine patriotische Kundgebung statt. Nach Miljukows Worten »sah<br />
das dem, was auf den gleichen Straßen am Tage zuvor geschehen war, so unähnlich, daß<br />
sich unwillkürlich dem Gefühl des Triumphes ein Gefühl des Mißtrauens zugesellte«. Ein<br />
berechtigtes Gefühl! Die Versöhiler aber atmeten erleichtert auf. Ihr Gedanke erhob sich<br />
sogleich als demokratische Synthese über beide Demonstrationen. Diese Menschen<br />
waren verurteilt, den Kelch <strong>der</strong> Illusionen und Erniedrigungen bis zur Neige zu leeren.<br />
Im April waren zwei Demonstrationen, die revolutionäre und die patriotische, einan<strong>der</strong><br />
entgegengegangen, und ihr Zusammenstoß hatte an Ort und Stelle zu Opiem geführt. Die<br />
feindlichen Demonstrationen vom 18. und 19. Juni lösten einan<strong>der</strong> ab. Zum unmittelbaren<br />
Zusammenstoß kam es diesmal nicht. Doch war es bereits nicht mehr möglich, ihn zu<br />
vermeiden. Er wurde um zwei Wochen verschoben.<br />
Die Anarchisten, die nicht wußten, wie sie ihre Selbständigkeit beweisen sollten,<br />
benutzten die Demonstration vom 18. Juni zu einem Überfall auf das Wyborger Gefängnis.<br />
Die Sträflinge, in <strong>der</strong> Mehrzahl Kriminelle, wurden ohne Kampf und Opfer, und<br />
zwar gleichzeitig aus mehreren Gefängnissen, befreit. Offenbar hatte <strong>der</strong> Überfall die<br />
Administration nicht überrascht, denn sie zeigte sich den wirklichen und angeblichen<br />
Anarchisten gleich willig. Diese ganze rätselhafte Episode hatte zur Demonstration nicht<br />
die geringste Beziehung. Die patriotische Presse jedoch verband beides miteinan<strong>der</strong>. Die<br />
Bolschewiki beantragten auf dem Sowjetkongreß strenge Untersuchung, auf welche<br />
Weise die 460 Kriminellen aus den verschiedenen Gefängnissen entlassen worden waren.<br />
Doch die Versöhnler konnten sich einen solchen Luxus nicht leisten, denn sie mußten<br />
befürchten, auf Vertreter <strong>der</strong> höheren Administration o<strong>der</strong> ihrer Blockverbündeten zu<br />
stoßen. Überdies verspürten sie nicht den geringsten Wunsch, die von ihnen veranstaltete<br />
Demonstration gegen böswillige Verleumdungen zu schützen.<br />
Justizminister Perewersew, <strong>der</strong> sich einige Tage zuvor die Blamage mit <strong>der</strong> Villa<br />
Durnowos zugezogen hatte, beschloß, Rache zu nehmen und machte unter dem<br />
Vorwand, nach flüchtigen Sträflingen zu fahnden, einen neuen Überfall auf die Villa. Die<br />
Anarchisten leisteten Wi<strong>der</strong>stand; im Feuergeplänkel wurde einer von ihnen getötet, die<br />
Villa demoliert. Die Arbeiter des Wyborger Bezirkes, die die Villa als ihr Eigentum<br />
betrachteten, wurden unruhig. Einige Betriebe stellten die Arbeit ein. Die Unruhe<br />
übertrug sich auf an<strong>der</strong>e Bezirke und auch auf die Kasernen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 294
Die letzten Junitage verlaufen in ununterbrochener Siedestimmung. Das Maschinengewehrregiment<br />
steht zum sofortigen Angriff auf die Provisorische Regierung bereit. Die<br />
Arbeiter <strong>der</strong> streikenden Betriebe besuchen die Regimenter mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, auf die<br />
Straße zu gehen. Bärtige, darunter viele schon ergraute Bauern in Soldatenuniformen<br />
durchziehen in protestierenden Prozessionen die Straßen: die 4ojährigen for<strong>der</strong>n ihre<br />
Entlassung zur Feldarbeit. Die Bolschewiki agitieren gegen das Hervortreten: die<br />
Demonstration vom 18. Juni hat alles gesagt, was zu sagen möglich war, um Än<strong>der</strong>ungen<br />
zu erreichen, genügt eine Demonstration nicht mehr, und die Stunde des Umsturzes hat<br />
noch nicht geschlagen. Am 22. Juni wenden sich die Bolschewiki schriftlich an die<br />
Garnison: »Folgt keinen Auffor<strong>der</strong>ungen, die euch im Namen <strong>der</strong> militärischen Organisation<br />
auf die Straße rufen.« Von <strong>der</strong> Front treffen Delegierte mit Beschwerden über<br />
Gewaltakte und Strafen ein. Die Drohungen, ungehorsame Truppenteile aufzulösen,<br />
gießen Öl ins Feuer. »In vielen Regimentern schlafen die Soldaten mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong><br />
Hand«, lautet die Erklärung <strong>der</strong> Bolschewiki an das Exekutivkomitee. Patriotische<br />
Kundgebungen, häufig bewaffnete, führen zu Straßenzusammenstößen. Das sind kleine<br />
Entladungen <strong>der</strong> angehäuften Elektrizität. Keine <strong>der</strong> Parteien plant offen anzugreifen: die<br />
Reaktion ist zu schwach; die <strong>Revolution</strong> ihrer Kräfte noch nicht ganz sicher Doch die<br />
Straßen <strong>der</strong> Stadt scheinen mit Sprengstoff gepflastert zu sein. Der Zusammenstoß hängt<br />
in <strong>der</strong> Luft. Die bolschewistische Presse klärt auf und bremst. Die patriotische Presse<br />
verrät ihre Unruhe in ungezähmter Bolschewikenhetze. Am 25. Juni schreibt Lenin:<br />
»Das allgemeine wilde Geheul <strong>der</strong> Wut und Raserei gegen die Bolschewiki ist die<br />
gemeinsame Klage <strong>der</strong> Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki über die eigene<br />
Zerfahrenheit. Sie sind die Mehrheit. Sie sind an <strong>der</strong> Macht. Sie bilden alle miteinan<strong>der</strong><br />
einen Block. Und sie sehen, daß nichts dabei herauskommt!! Wie soll man da nicht gegen<br />
die Bolschewiki wüten?«<br />
Schlußbetrachtung<br />
Auf den ersten Seiten dieser Arbeit haben wir uns bemüht zu zeigen, wie tief die<br />
Oktoberrevolution in den sozialen Verhältnissen Rußlands begründet war. Keinesfalls<br />
den vollzogenen Ereignissen nachträglich angepaßt, war unsere Analyse schon vor <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> und sogar schon vor ihrem Prolog im Jahre 1905 gegeben.<br />
Auf den weiteren Seiten waren wir bestrebt nachzuweisen, wie sich die sozialen Kräfte<br />
Rußlands in den <strong>Revolution</strong>sereignissen ausgewirkt haben. Wir registrierten die Tätigkeit<br />
<strong>der</strong> politischen Parteien in <strong>der</strong>en Verhältnis zu den Klassen. Die Sympathien und Antipathien<br />
des Autors können beiseite gelassen werden. Eine historische Darstellung hat das<br />
Recht, Anspruch auf Zuerkennung <strong>der</strong> Objektivität zu erheben, wenn sie, gestützt auf<br />
präzis festgestellte Tatsachen, <strong>der</strong>en inneren Zusammenhang auf Grundlage <strong>der</strong> realen<br />
Entwicklung <strong>der</strong> sozialen Beziehungen aufzeigt. Die innere Gesetzmäßigkeit des Prozesses,<br />
die dabei zum Vorschein kommt, ist an sich die beste Nachprüfung <strong>der</strong> Objektivität<br />
<strong>der</strong> Darstellung.<br />
Die an dem Leser vorübergezogenen Ereignisse <strong>der</strong> Februar-revolution bestätigten die<br />
theoretische Prognose, vorläufig wenigstens zur Hälfte, durch die Methode aufeinan<strong>der</strong>folgen<strong>der</strong><br />
Streichungen: noch bevor das Proletariat zur Macht kam, wurden alle an<strong>der</strong>en<br />
Varianten <strong>der</strong> politischen Entwicklung vom Leben nachgeprüft und als untauglich<br />
verworfen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 295
Die Regierung <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie mit <strong>der</strong> demokratischen Geisel Kerenski<br />
erweist sich als ein vollständiges Fiasko. Die "Apriltage" sind die erste offene Warnung<br />
seitens <strong>der</strong> Oktoberrevolution an die Adresse des Februar. Die bürgerliche Provisorische<br />
Regierung wird hierauf von <strong>der</strong> Koalition abgelöst, <strong>der</strong>en Fruchtlosigkeit sich mit jedem<br />
Tag ihres Bestehens neu enthüllt. In <strong>der</strong> vom Exekutivkomitee aus eigener Initiative,<br />
wenn auch nicht ganz freiwillig, anberaumten Junidemonstration, versucht die Februarrevolution<br />
mit <strong>der</strong> des Oktober ihre Kräfte zu messen und erleidet eine grausame Nie<strong>der</strong>lage.<br />
Diese war um so fataler, als sie sich in <strong>der</strong> Arena von Petrograd abspielte und von<br />
den gleichen Arbeitern und Soldaten bereitet wurde, die die Februarumwälzung<br />
vollbracht hatten, die dann vom übrigen Lande übernommen worden war. Die Junidemonstration<br />
hatte gezeigt, daß die Arbeiter und Soldaten Petrograds einer zweiten<br />
<strong>Revolution</strong> entgegengingen, <strong>der</strong>en Ziele auf ihren Bannern geschrieben waren. Untrügbare<br />
Anzeichen bewiesen, daß sich das ganze übrige Land, wenn auch mit unvermeidlicher<br />
Verspätung, Petrograd anpaßte. Somit hatte sich die Februarrevolution am Ende des<br />
vierten Monats politisch erschöpft. Die Versöhnler verloren das Vertrauen <strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten. Ein Zusammenstoß <strong>der</strong> führenden Sowjetparteien mit den Sowjetmassen<br />
wird von nun an unvermeidlich. Nach <strong>der</strong> Demonstration vom 18. Juni, die eine friedliche<br />
Nachprüfung des Kräfteverhältuisses zweier <strong>Revolution</strong>en war, mußte <strong>der</strong> Gegensatz<br />
unvermeidlich offenen und gewaltsamen Charakter annehmen.<br />
So erwuchsen die "Julitage". Zwei Wochen nach <strong>der</strong> von oben organisierten Demonstration<br />
gingen die gleichen Arbeiter und Soldaten, nun aus eigener initiative, auf die<br />
Straße und verlangten vom Zentral-Exekutivkomitee, daß es die Macht übernehme. Die<br />
Versöhnler lehnten rundweg ab. Die Julitage führten zu Straßenzusammenstößen und<br />
Opfern und endeten mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, die man für den Bankrott<br />
des Februarregimes verantwortlich erklärte. Der Antrag, die Bolschewiki außer Gesetz zu<br />
stellen und zu entwaffnen, den Zeretelli am 11. Juli eingebracht hatte und <strong>der</strong> damals<br />
abgelehnt worden war, wurde Anfang Juli restlos verwirklicht. Die bolschewistischen<br />
Zeitungen wurden verboten. Die bolschewistischen Truppenteile aufgelöst. Man nahm<br />
den Arbeitern die Waffen weg. Die Parteiführer wurden für Mietlinge des deutschen<br />
Generalstabs erklärt. Die einen mußten sich verbergen, die an<strong>der</strong>en saßen in Gefängnissen.<br />
Aber gerade <strong>der</strong> "Juli"-Sieg <strong>der</strong> Versöhnler über die Bolschewiki enthüllte restlos die<br />
Ohnmacht <strong>der</strong> Demokratie. Die Demokraten mußten gegen Arbeiter und Soldaten offen<br />
konterrevolutionäre, nicht nur den Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch den Sowjets feindliche<br />
Truppen werfen: über eigene Truppen verfügte das Exekutivkomitee bereits nicht mehr.<br />
Die Liberalen zogen daraus die richtige Schlußfolgerung, die Miljukow in <strong>der</strong> Alternative<br />
formulierte: Kornilow o<strong>der</strong> Lenin! Tatsächlich ließ die <strong>Revolution</strong> für die goldene<br />
Mitte keinen Platz mehr. Die Konterrevolution sagte sich: jetzt o<strong>der</strong> nie. Unter dem<br />
Vorwand eines Feldzuges gegen die Bolschewiki entfesselte <strong>der</strong> Oberkommandierende<br />
Kornilow die Rebellion gegen die <strong>Revolution</strong>. Wie vor <strong>der</strong> Umwälzung jede Form von<br />
legaler Opposition sich mit Patriotismus umhüllte, das heißt mit den Erfor<strong>der</strong>nissen des<br />
Kampfes gegen die Deutschen, so deckte sich nach <strong>der</strong> Umwälzung jede Form von<br />
legaler Konterrevolution mit Erfor<strong>der</strong>nissen des Kampfes gegen die Bolschewiki. Kornilow<br />
genoß die Unterstützung <strong>der</strong> besitzenden Klassen und <strong>der</strong>en Partei, <strong>der</strong> Kadetten.<br />
Dies hat nicht nur nicht verhin<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n im Gegenteil dazu beigetragen, daß die von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 296
Kornilow gegen Petrograd gesandten Truppen ohne Kampf besiegt wurden, ohne Zusammenstoß<br />
kapitulierten, verdampften wie ein Wassertropfen auf einem glühenden Herd.<br />
Auf diese Weise wurde auch <strong>der</strong> Versuch einer Umwälzung von rechts ausprobiert, und<br />
zwar von einer Person, die an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Armee stand; das Kräfteverhälmis zwischen<br />
den besitzenden Klassen und dem Volke wurde durch die Aktion nachgeprüft, und bei<br />
<strong>der</strong> Alternative »Kornilow o<strong>der</strong> Lenin« fiel Kornilow wie eine faule Frucht ab, obwohl<br />
Lenin zu jener Zeit noch gezwungen war, sich in tiefstem Unterschlupf zu verbergen.<br />
Welche Variante blieb danach noch unausgenutzt, unerprobt, unversucht? Die Variante<br />
des Bolschewismus. Und in <strong>der</strong> Tat, nach dem Kornilowschen Versuch und dessen<br />
ruhmlosem Zusammenbruch wenden sich die Massen stürmisch und endgültig den<br />
Bolschewiki zu. Die Oktoberrevolution naht mit physischer Notwendigkeit. Zum Unterschiede<br />
von <strong>der</strong> Februarumwälzung, die man unblutig genannt hat, obwohl sie in Petrograd<br />
viele Opfer kostete, vollzieht sich die Oktoberumwälzung in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
tatsächlich unblutig. Haben wir da nicht das Recht zu fragen: welche Beweise für die<br />
tiefe Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Oktoberrevolution sind noch zu erbringen notwendig? Und ist<br />
es nicht klar, daß sie nur jenen als Frucht von Abenteuer o<strong>der</strong> Demogogie erscheinen<br />
konnte, die sie an <strong>der</strong> empfindlichsten Stelle traf: am Geldbeutel. Der blutige Kampf<br />
begann erst nach <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Macht durch die bolschewistischen Sowjets, als die<br />
gestürzten Klassen mit materieller Unterstützung <strong>der</strong> Ententeregierung verzweifelte<br />
Anstrengungen machten, das Verlorene zurückzugewinnen. Es beginnen die Jahre des<br />
Bürgerkrieges. Die Rote Armee wird aufgebaut. Das hungernde Land wird auf das<br />
Regime des Kriegskommunismus übergeleitet und in ein spartanisches Lager verwandelt.<br />
Schritt für Schritt bahnt sich die Oktoberrevolution den Weg, schlägt alle Feinde zurück,<br />
geht zur Lösung ihrer Wirtschaftsaufgaben über, heilt die schwersten Wunden des<br />
imperialistischen und des Bürgerkrieges, erringt größte Erfolge auf dem Gebiete <strong>der</strong><br />
Industrieentwicklung. Vor ihr erstehen jedoch neue Schwierigkeiten, die sich aus ihrer<br />
isolierten Lage in <strong>der</strong> Umkreisung mächtiger kapitalistischer Län<strong>der</strong> ergeben. Die<br />
verspätete Entwicklung, die das russische Proletariat an die Macht brachte, hat diese<br />
Macht vor Aufgaben gestellt, die ihrem Wesen nach im Rahmen eines isolierten Staates<br />
nicht restlos gelöst werden können. Das Schicksal dieses Staates ist folglich ganz und gar<br />
mit dem weiteren Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte verbunden.<br />
Dieser erste, <strong>der</strong> Februarrevolution gewidmete Band beweist, wie und weshalb sie in<br />
nichts verrinnen mußte. Der zweite Band wird zeigen, wie die Oktoberrevolution siegte.<br />
ENDE<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 297
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 298
2. Teil: Oktoberrevolution<br />
Inhalt:<br />
Vorwort<br />
"Julitage": Vorbereitung und Beginn<br />
"Julitage": Kulminationspunkt und Zertrümmerung<br />
Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?<br />
Ein Monat <strong>der</strong> großen Verleumdung<br />
Die Konterrevolution erhebt das Haupt<br />
Kerenski und Kornilow<br />
Die Staatsberatung in Moskau<br />
Kerenskis Verschwörung<br />
Kornilows Aufstand<br />
Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit <strong>der</strong> Demokratie<br />
Die Massen unter den Schlägen<br />
Die Brandung<br />
Die Bolschewiki und die Sowjets<br />
Letzte Koalition<br />
Die Bauernschaft vor dem Oktober<br />
Die nationale Frage<br />
Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß<br />
Das militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
Lenin ruft zum Aufstand<br />
Die Kunst des Aufstandes<br />
Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
Einnahme des Winterpalais<br />
Oktoberaufstand<br />
Der Kongreß <strong>der</strong> Sowjetdiktatur<br />
Nachwort<br />
Anhänge<br />
Teil 1 und 2<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 299
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 300
Vorwort<br />
Rußland hat seine bürgerliche <strong>Revolution</strong> so spät vollzogen, daß es gezwungen war,<br />
sie in die proletarische umzuwandeln. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Rußland war hinter den<br />
übrigen Län<strong>der</strong>n so weit zurückgeblieben, daß es, wenigstens auf gewissen Gebieten,<br />
diese überholen mußte. Das mag wi<strong>der</strong>sinnig erscheinen. Indes ist die <strong>Geschichte</strong> voll<br />
von solchen Paradoxen. Das kapitalistische England hatte an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong> so weit<br />
überholt, daß es gezwungen war, hinter diesen zurückzubleiben. Pedanten glauben, die<br />
Dialektik sei müßiges Gedankenspiel. In Wirklichkeit reproduziert sie nur den Entwicklungsprozeß,<br />
<strong>der</strong> in Wi<strong>der</strong>sprüchen lebt und sich bewegt.<br />
Der erste Band dieser Arbeit sollte klarmachen, weshalb das historisch verspätete<br />
demokratische Regime, das den Zarismus abgelöst hat, sich als völlig lebensunfähig<br />
erwies. Der vorliegende Band behandelt die Machteroberung durch die Bolschewiki.<br />
Grundlage <strong>der</strong> Darstellung ist auch hier die Erzählung. Der Leser soll in den Tatsachen<br />
selbst einen ausreichenden Stützpunkt für Schlußfolgerungen finden.<br />
Der Autor will damit nicht sagen, daß er soziologische Verallgemeinerungen<br />
vermeidet. Die <strong>Geschichte</strong> hätte keinen Wert, wenn sie uns nichts lehren würde. Die<br />
machtvolle Planmäßigkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>, die Kontinuierlichkeit ihrer<br />
Etappen, die Unüberwindlichkeit des Massenvorstoßes, die Vollendung <strong>der</strong> politischen<br />
Gruppierungen, die Prägnanz <strong>der</strong> Parolen, all das erleichtert aufs äußerste das Verständnis<br />
für die <strong>Revolution</strong> im allgemeinen und damit auch für die menschliche Gesellschaft.<br />
Denn man darf durch den gesamten Verlauf <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> als erwiesen betrachten, daß<br />
eine von inneren Wi<strong>der</strong>sprüchen zerrissene Gesellschaft nicht nur ihre Anatomie,<br />
son<strong>der</strong>n auch ihre "Seele" gerade in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> restlos enthüllt.<br />
In einem unmittelbaren Sinne soll die vorliegende Arbeit beitragen zum Verständnis<br />
für den Charakter <strong>der</strong> Sowjetunion. Die Aktualität unseres Themas besteht nicht darin,<br />
daß die Oktoberumwälzung sich vor den Augen <strong>der</strong> heute noch lebenden Generation<br />
vollzogen hat - gewiß ist auch dies von nicht geringer Bedeutung -, son<strong>der</strong>n darin, daß<br />
das aus <strong>der</strong> Umwälzung hervorgegangene Regime lebt, sich weiter entwickelt und vor<br />
die Menschheit immer neue und neue Rätsel stellt. In <strong>der</strong> ganzen Welt verschwindet die<br />
Diskussion über das Land <strong>der</strong> Sowjets nicht von <strong>der</strong> Tagesordnung. Indes läßt sich das,<br />
was ist, nicht begreifen, bevor man sich nicht darüber klar wird, wie das Bestehende<br />
entstand. Für große politische Einschätzungen braucht man die historische Perspektive.<br />
Die acht <strong>Revolution</strong>smonate, vom Februar bis Oktober 1917, haben zwei starke Bände<br />
erfor<strong>der</strong>t. Die Kritik hat gegen uns im allgemeinen den Vorwurf <strong>der</strong> Weitschweifigkeit<br />
nicht erhoben. Der Maßstab <strong>der</strong> Arbeit läßt sich eher mit <strong>der</strong> Einstellung zum Material<br />
erklären. Man kann die photographische Aufnahme einer Hand geben: das füllt eine<br />
Seite. Um aber die Resultate einer mikroskopischen Untersuchung <strong>der</strong> Gewebe einer<br />
Hand darzustellen, braucht man einen ganzen Band. Der Autor macht sich keine Illusionen<br />
in bezug auf Fülle und Abgeschlossenheit <strong>der</strong> von ihm angestellten Untersuchung.<br />
Aber dennoch hatte er in vielen Fällen Methoden anzuwenden, die dem Mikroskop näher<br />
sind als dem photographischen Apparat.<br />
In jenen Augenblicken, wo uns schien, daß wir die Langmut des Lesers mißbrauchten,<br />
haben wir großzügig Zeugenangaben, Geständnisse von Teilnehmern, nebensächliche<br />
Episoden gestrichen; aber danach nicht selten vieles von dem Gestrichenen wie<strong>der</strong>-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 301
hergestellt. In diesem Ringen um Details leitete uns das Bestreben, so konkret wie<br />
möglich den Prozeß <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> selbst zu zeigen. Undenkbar war es im beson<strong>der</strong>en,<br />
nicht zu versuchen, den Vorzug restlos auszunutzen, daß diese <strong>Geschichte</strong> nach <strong>der</strong><br />
lebendigen Natur geschrieben wurde.<br />
Tausende und Abertausende von Büchern werden jährlich auf den Markt geworfen, um<br />
die neue Variante einer persönlichen Liebesgeschichte darzustellen, die Schwankungen<br />
eines Melancholikers o<strong>der</strong> die Karriere eines Ehrgeizigen zu schil<strong>der</strong>n. Prousts Heldin<br />
braucht mehrere auserlesene Seiten, um zu fühlen, daß sie nichts fühlt. Man sollte<br />
meinen, mindestens mit gleichem Recht Beachtung for<strong>der</strong>n zu dürfen für kollektive<br />
historische Dramen, die hun<strong>der</strong>te Millionen menschlicher Wesen aus dem Nichtsein<br />
emporheben, den Charakter von Nationen verän<strong>der</strong>n und für immer in das Leben <strong>der</strong><br />
Menschheit eindringen.<br />
Die Genauigkeit <strong>der</strong> Belege und Zitate des ersten Bandes wurde bisher von niemand<br />
bestritten: das wäre auch nicht leicht gewesen. Die Gegner beschränken sich zumeist auf<br />
Erwägungen über das Thema, persönliche Voreingenommenheit könne sich in künstlicher<br />
und einseitiger Auswahl <strong>der</strong> Tatsachen und Texte äußern. Unbestreitbar an sich,<br />
sagt diese Erwägung nichts aus über das gegebene Werk und noch weniger über dessen<br />
wissenschaftliche Methoden. Indes erlauben wir uns entschieden zu behaupten, daß <strong>der</strong><br />
Koeffizient des Subjektivismus bestimmt, beschränkt und kontrolliert wird weniger vom<br />
Temperament des Historikers als vom Charakter seiner Methode.<br />
Die rein psychologische Schule, die das Gewebe <strong>der</strong> Ereignisse als ein Geflecht freier<br />
Tätigkeit von einzelnen Personen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Gruppierungen betrachtet, läßt den größten<br />
Raum für Willkür, sogar bei den allerbesten Absichten des Forschers. Die materialistische<br />
Methode diszipliniert, indem sie verpflichtet, von den schwerwiegenden Tatsachen<br />
<strong>der</strong> sozialen Struktur auszugehen. Grundlegende Kräfte des historischen Prozesses bilden<br />
für uns die Klassen; auf sie stützen sich politische Parteien; Ideen und Parolen treten<br />
hervor als Umgangsmünze <strong>der</strong> objektiven Interessen. Der gesamte Weg <strong>der</strong> Untersuchung<br />
führt vom Objekti-ven zum Subjektiven, vom Sozialen zum Individuellen, vom<br />
Kapitalen zum Konjunkturmäßigen. Der Autorwillkür sind hier harte Grenzen gesetzt.<br />
Wenn ein Bergbauingenieur in unerforschtem Gebiet mittels Bohren Magneteisenerz<br />
entdeckt, darf man immer einen glücklichen Zufall annehmen: es empfiehlt sich noch<br />
nicht, ein Bergwerk zu bauen. Wenn aber <strong>der</strong> gleiche Ingenieur auf Grund, sagen wir,<br />
von Abweichungen <strong>der</strong> Magnetnadel zur Schlußfolgerung kommt, in <strong>der</strong> Erde müßten<br />
Erzlager verborgen sein, und dann tatsächlich an verschiedenen Stellen des Gebietes auf<br />
Eisenerz stößt, so wird auch <strong>der</strong> nörgelndste Skeptiker nicht wagen dürfen, dies Zufall zu<br />
nennen. Es überzeugt das System, welches das Allgemeine mit dem Einzelfall in<br />
Einklang bringt.<br />
Die Beweise für den wissenschaftlichen Objektivismus sind nicht in den Augen des<br />
Historikers zu suchen und nicht in dem Klang seiner Stimme, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> inneren<br />
Logik <strong>der</strong> Erzählung selbst: wenn Episoden, Zeugnisse, Ziffern, Zitate mit den allgemeinen<br />
Angaben <strong>der</strong> Magnetnadel <strong>der</strong> sozialen Analyse übereinstimmen, dann hat <strong>der</strong> Leser<br />
die ernsthafteste Garantie für die wissenschaftliche Fundierung <strong>der</strong> Schlußfolgerungen.<br />
Konkreter: <strong>der</strong> Autor ist in dem Maße dem Objektivismus treu, wie das vorliegende Buch<br />
die Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Oktoberumwälzung und die Ursachen ihres Sieges tatsächlich<br />
aufzeigt.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 302
Der Leser weiß, daß wir in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vor allem die unmittelbare Einmischung <strong>der</strong><br />
Massen in die Geschicke <strong>der</strong> Gesellschaft suchen. Hinter den Ereignissen sind wir<br />
Verän<strong>der</strong>ungen des Kollektivbewußtseins zu entdecken bestrebt. Wir lehnen summarische<br />
Hinweise auf das "Elementare" <strong>der</strong> Bewegung ab, die in den meisten Fällen nichts<br />
erklären und nichts lehren. <strong>Revolution</strong>en vollziehen sich nach bestimmten Gesetzen. Das<br />
heißt nicht, daß die handelnden Massen sich über die Gesetze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> klar<br />
Rechenschaft ablegen; aber es heißt, daß die Verän<strong>der</strong>ungen des Massenbewußtseins<br />
nicht zufällig sind, son<strong>der</strong>n einer objektiven Notwendigkeit untergeordnet, die sich<br />
theoretisch bestimmen läßt und damit eine Basis für Voraussicht und Führung schafft.<br />
Einige offizielle Sowjethistoriker haben versucht, so sehr das überraschen mag, unsere<br />
Konzeption als idealistisch zu kritisieren. Professor Pokrowski beispielsweise<br />
behauptete, daß wir die objektiven Faktoren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> unterschätzten: »Zwischen<br />
dem Februar und dem Oktober ging ein kolossaler ökonomischer Zerfall vor sich ... ;<br />
während dieser Zeit erhob sich die Bauernschaft ... gegen die Provisorische Regierung«;<br />
gerade in diesen »objektiven Verschiebungen« und nicht in den verän<strong>der</strong>lichen psychischen<br />
Prozessen sei die bewegende Kraft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu sehen. Dank einer lobenswerten<br />
Schroffheit <strong>der</strong> Fragestellungen enthüllt Pokrowski am besten die<br />
Unzulänglichkeit <strong>der</strong> vulgär-ökonomischen Erklärung <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, die nicht selten als<br />
Marxismus ausgegeben wird.<br />
Die im Verlauf einer <strong>Revolution</strong> stattfindenden radikalen Umwälzungen werden in<br />
Wirklichkeit hervorgerufen nicht durch jene episodischen Erschütterungen <strong>der</strong><br />
Wirtschaft, die während <strong>der</strong> Ereignisse selbst erfolgen, son<strong>der</strong>n durch jene kapitalen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen, die sich in den Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaft während <strong>der</strong> ganzen vorangegangenen<br />
Epoche angehäuft haben. Daß am Vorabend des Sturzes <strong>der</strong> Monarchie, wie<br />
auch zwischen dem Februar und dem Oktober, <strong>der</strong> ökonomische Zerfall sich beständig<br />
vertiefte und dadurch die Massenunzufriedenheit nährte und aufreizte, ist unbestreitbar<br />
und wurde von uns niemals außer acht gelassen. Doch wäre es <strong>der</strong> gröbste Fehler, zu<br />
glauben, die zweite <strong>Revolution</strong> habe acht Monate nach <strong>der</strong> ersten stattgefunden infolge<br />
des Umstandes, daß die Brotration in dieser Zeit von an<strong>der</strong>thalb auf dreiviertel Pfund<br />
gesunken war. In den auf die Oktoberumwälzung folgenden Jahren verschlechterte sich<br />
die Ernährungslage <strong>der</strong> Massen dauernd. Dennoch brachen die Hoffnungen <strong>der</strong> konterrevolutionären<br />
Politiker auf eine neue Umwälzung immer wie<strong>der</strong> zusammen. Rätselhaft<br />
kann diese Tatsache nur dem erscheinen, <strong>der</strong> einen Aufstand <strong>der</strong> Massen als »elementar«<br />
ansieht, das heißt als eine von Anführern geschickt ausgenutzte Herdenrebellion. In<br />
Wirklichkeit genügt allein das Vorhandensein von Entbehrungen für einen Aufstand<br />
nicht - an<strong>der</strong>nfalls könnten die Massen je<strong>der</strong>zeit in Aufstand treten -; es ist notwendig,<br />
daß die endgültig bloßgelegte Unzulänglichkeit des gesellschaftlichen Regimes diese<br />
Entbehrungeu unerträglich gestaltet und daß neue Bedingungen und neue Ideen die<br />
Perspektive eines revolutionären Ausweges eröffnen. Im Namen des großen Zieles,<br />
dessen sie sich bewußt geworden, erweisen sich dann die gleichen Massen fähig,<br />
doppelte und dreifache Entbehr-ungen zu ertragen.<br />
Der Hinweis auf den Bauernaufstand als den zweiten »objektiven Faktor« stellt noch<br />
ein augenfälligeres Mißverständnis dar. Für das Proletariat war <strong>der</strong> Bauernkrieg selbstverständlich<br />
ein objektiver Umstand, insofern überhaupt die Handlungen einer Klasse zu<br />
äußeren Antrieben für das Bewußtsein <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Klasse werden. Doch unmittelbare<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 303
Ursache des Bauernaufstandes selbst waren die Verän<strong>der</strong>ungen im Bewußtsein des<br />
Dorfes; die Aufdeckung ihres Charakters bildet den Inhalt eines Kapitels dieses Buches.<br />
Vergessen wir nicht, daß <strong>Revolution</strong>en vollbracht werden von Menschen, wenn auch von<br />
namenlosen. DerMateriahsmus ignoriert nicht den fühlenden, denkenden und handelnden<br />
Menschen, son<strong>der</strong>n erklärt ihn. Worin sonst besteht die Aufgabe des Historikers? 8<br />
Einige Kritiker aus dem demokratischen Lager, geneigt, mit indirekten Indizien zu<br />
arbeiten, erblickten im »ironischen« Verhalten des Autors zu den Versöhnlerführern den<br />
Ausdruck unzulässigen Subjektivismus', <strong>der</strong> die Wissenschaftlichkeit <strong>der</strong> Darstellung<br />
entehre. Wir gestatten uns, dieses Kriterium nicht als überzeugend zu betrachten. Das<br />
Spinozasche Prinzip: »Nicht weinen, nicht lachen, son<strong>der</strong>n verstehen«, warnt nur vor<br />
deplaciertem Lachen und unangebrachten Tränen; doch beraubt es den Menschen, sogar<br />
den Historiker, nicht des Rechts auf seinen Teil Tränen und Lachen, wenn sie durch das<br />
richtige Verständnis für die Materie selbst gerechtfertigt sind. Die rein individualistische<br />
Ironie, die sich wie ein Hauch <strong>der</strong> Gleichgültigkeit über alle Handhabungen und Gedanken<br />
<strong>der</strong> Menschheit ausbreitet, ist die schlimmste Art Snobismus: sie ist gleichermaßen<br />
unecht im künstlerischen Werk wie in <strong>der</strong> historischen Arbeit. Doch gibt es eine Ironie,<br />
die in den Lebensbeziehungen selbst enthalten ist. Die Pflicht des Historikers wie des<br />
Künstlers bleibt, sie nach außen zu kehren.<br />
Die Störung des Verhältnisses zwischen Subjektivem und Objektivem bildet, allgemein<br />
gesprochen, die Grundquelle des Komischen wie des Tragischen, im Leben wie in <strong>der</strong><br />
Kunst. Das Gebiet <strong>der</strong> Politik ist am allerwenigsten von <strong>der</strong> Wirkung dieses Gesetzes<br />
ausgenommen. Menschen und Parteien sind heroisch o<strong>der</strong> lächerlich nicht an und für<br />
sich, son<strong>der</strong>n in ihrem Verhältnis zu den Umständen. Als die Französische <strong>Revolution</strong> in<br />
das entscheidende Stadium eingetreten war, erwies sich <strong>der</strong> hervorragendste Girondist als<br />
kläglich und lächerlich neben dem einfachen Jakobiner Jean Marie Roland, eine ehrwürdige<br />
Figur als Lyoner Fabrikinspektor, sieht wie eine lebendige Karikatur aus auf dem<br />
Hintergrunde des Jahres 1792. Dagegen sind die Jakobiner den Ereignissen gewachsen.<br />
Sie mögen Feindschaft, Haß, Entsetzen hervorrufen, nicht aber Ironie.<br />
Jene Heldin bei Dickens, die versucht, mit einem Besen die Meeresflut aufzuhalten, ist<br />
wegen des fatalen Mißverhältnisses zwischen Mittel und Ziel eine unverkennbar<br />
komische Gestalt. Wollten wir sagen, daß diese Person die Politik <strong>der</strong> Versöhnlerparteien<br />
in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> symbolisiert, es würde als Übertreibung erscheinen. Und dennoch<br />
gestand Zeretelli, <strong>der</strong> tatsächliche Inspirator des Doppelherrschaftsregimes, nach <strong>der</strong><br />
Oktoberumwälzung Nabokow, einem <strong>der</strong> liberalen Führer: »Alles, was wir damals unternahmen,<br />
war <strong>der</strong> vergebliche Versuch, mit lächerlichen Holzspänchen einen vernichtenden<br />
Elementarstrom aufzuhalten.« Diese Worte klingen wie bittere Satire; indes sind es<br />
die wahrsten Worte, die die Versöhnler über sich selbst gesagt haben. Auf Ironie verzichten<br />
bei <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung von »<strong>Revolution</strong>ären«, die mit Holzspänchen eine <strong>Revolution</strong><br />
aufzuhalten versuchen, würde heißen, Pedanten zu Gefallen die Wirklichkeit bestehlen<br />
und den Objektivisnius verraten.<br />
8 Die Nachricht vom Tode M.N. Pokrowskis, mit dem wir auf den Seiten bei<strong>der</strong> Bände mehr als einmal zu<br />
polemisieren gezwungen waren, kam, als wir unsere Arbeit bereits abgeschlossen hatten. Zum Marxismus aus<br />
dem liberalen Lager schon als fertiger Gelehrter gekommen, bereicherte Pokrowski die neueste historische<br />
Literatur durch wertvolle Arbeiten und Unternehmen; doch die Methode des dialektischen Materialismus hat<br />
er sich nie restlos angeeignet. Es ist Sache einfachster Gerechtigkeit, hinzuzufügen, daß Pokrowski nicht nur<br />
ein Mensch von außerordentlichem Wissen und hoher Begabung war, son<strong>der</strong>n auch von tiefer Ergebenheit<br />
für die Sache, <strong>der</strong> er diente.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 304
Peter Struve, ein Monarchist aus <strong>der</strong> Mitte gewesener Marxisten, schrieb in <strong>der</strong><br />
Emigration: »Logisch in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und ihrem Wesen treu war nur <strong>der</strong> Bolschewismus,<br />
und deshalb hat er in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gesiegt.« Ähnlich urteilt über die Bolschewiki<br />
auch Mi1jukow, <strong>der</strong> Führer des Liberalismus: »Sie wußten, wohin sie gingen, und sie<br />
gingen die einmal eingeschlagene Richtung, auf ein Ziel los, das mit jedem neuen<br />
mißlungenen Experiment <strong>der</strong> Versöhnler imnier näher rückte.« Schließlich äußert sich<br />
einer von den weniger bekannten weißen Emigranten, <strong>der</strong> versuchte, auf seine Weise die<br />
<strong>Revolution</strong> zu begreifen, folgen<strong>der</strong>maßen: »Diesen Weg einschlagen konnten nur eiserne<br />
Menschen ... aus ihrem "Beruf" heraus <strong>Revolution</strong>äre, die keine Furcht hatten, den alles<br />
verzehrenden Rebellengeist ins Leben zu rufen.« Von den Bolschewiki kann man mit<br />
noch größerem Recht behaupten, was oben von den Jakobinern gesagt wurde: sie sind<br />
<strong>der</strong> Epoche und ihren Aufgaben adäquat: geflucht wurde an ihre Adresse genügend,<br />
Ironie aber traf sie nicht: sie konnte nirgendwo einhaken.<br />
Im Vorwort zum ersten Band ist erklärt, weshalb <strong>der</strong> Autor es für angebrachter hielt,<br />
von sich, als Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse, in dritter Person zu sprechen und nicht in erster:<br />
diese literarische Form, die auch im zweiten Band beibehalten ist, schützt an sich selbstverständlich<br />
vor Subjektivismus nicht; doch zwingt sie mindestens nicht dazu. Mehr<br />
noch, sie mahnt an die Notwendigkeit, ihn zu meiden.<br />
In vielen Fällen blieben wir zweifelnd davor stehen, ob das eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Urteil<br />
eines Zeitgenossen, das die Rolle des Autors dieses Buches im Gang <strong>der</strong> Ereignisse<br />
charakterisiert, anzuführen sei o<strong>der</strong> nicht. Man hätte mühelos auf manche Zitate verzichten<br />
können, ginge es nicht um etwas Größeres als um die konventionellen Regeln des<br />
guten Tones. Der Autor dieses Buches war Vorsitzen<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets,<br />
nachdem die Bolschewiki darin die Mehrheit erobert hatten; dann Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, das die Oktoberumwälzung organisierte. Diese<br />
Tatsachen kann und will er aus <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> nicht streichen. Die heute in <strong>der</strong> USSR<br />
regierende Fraktion hat in den letzten Jahren zahllose Artikel und nicht wenig Bücher<br />
dem Autor <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit gewidmet, wobei sie sich die Aufgabe stellte,<br />
nachzuweisen, daß seine Tätigkeit stets gegen die Interessen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gerichtet<br />
war: die Frage, weshalb die bolschewistische Partei einen so hartnäckigen »Gegner« in<br />
den kritischsten Jahren auf die verantwortlichsten Posten stellte, bleibt dabei offen. Die<br />
retrospektiven Streitigkeiten völlig zu verschweigen, hätte gewissermaßen bedeutet, auf<br />
die Wie<strong>der</strong>herstellung des tatsächlichen Verlaufs <strong>der</strong> Ereignisse zu verzichten. Zu<br />
welchem Zwecke? Die Vorspiegelung <strong>der</strong> Uninteressiertheit benötigt nur, wer sich zum<br />
Ziele stellt, dem Leser verstohlen Schlußfolgerungen zu suggerieren, die sich nicht aus<br />
Tatsachen ergeben. Wir ziehen es vor, die Dinge bei ihrem vollen Namen zu nennen, im<br />
Einklang mit dem Wörterbuch.<br />
Wir wollen nicht verheimlichen, daß es für uns dabei nicht nur um die Vergangenheit<br />
geht. Wie die Gegner, indem sie die Person angreifen, das Programm treffen wollen, so<br />
verpflichtet <strong>der</strong> Kampf um ein bestimmtes Programm die Person, ihren tatsächlichen<br />
Platz in den Ereignissen wie<strong>der</strong>herzustellen. Wer in dem Kampf um große Aufgaben und<br />
um den eigenen Platz unter dem Banner nichts zu sehen fähig ist als persönliche<br />
Eitelkeit, den können wir nur bedauern, ihn zu überzeugen versuchen wir nicht. Jedenfalls<br />
sind von uns alle Maßnahmen getroffen worden, damit »persönliche« Fragen in<br />
diesem Buche nicht mehr Raum einnehmen, als ihnen von Rechts wegen zukommt.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 305
Manche Freunde <strong>der</strong> Sowjetunion - nicht selten sind es nur Freunde <strong>der</strong> heutigen<br />
Sowjetbehörden und nur so lange, wie diese an <strong>der</strong> Macht bleiben - legten dem Autor<br />
seine kritische Stellung zur bolschewistischen Partei o<strong>der</strong> zu <strong>der</strong>en einzelnen Führern zur<br />
Last. Keiner jedoch hat auch nur den Versuch unternommen, das von uns gegebene Bild<br />
vom Zustand <strong>der</strong> Partei während <strong>der</strong> Ereignisse zu wi<strong>der</strong>legen o<strong>der</strong> zu korrigieren. Jene<br />
"Freunde", die sich berufen fühlen, die Rolle <strong>der</strong> Bolschewiki in <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
gegen uns zu verteidigen, seien gewarnt, daß unser Buch nicht lehrt, wie man eine<br />
siegreiche <strong>Revolution</strong> hinterher liebt in Gestalt <strong>der</strong> von ihr hervorgebrachten Bürokratie,<br />
son<strong>der</strong>n nur, wie eine <strong>Revolution</strong> vorbereitet wird, wie sie sich entwickelt und wie sie<br />
siegt. Die Partei ist für uns kein Apparat, dessen Unfehlbarkeit durch Staatsrepressalien<br />
geschützt wird, son<strong>der</strong>n ein komplizierter Organismus, <strong>der</strong>, wie alles Lebendige, sich in<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchen entwickelt. Die Aufdeckung dieser Wi<strong>der</strong>sprüche, darunter auch <strong>der</strong><br />
Schwankungen und Fehler des Stabes, verringert, unserer Ansicht nach, nicht im geringsten<br />
die Bedeutung jener gigantischen historischen Arbeit, die die bolschewistische<br />
Partei ais erste in <strong>der</strong> Weltgeschichte auf ihre Schultern geladen hat.<br />
Prinkipo L. Trotzki<br />
"Julitage": Vorbereitung und Beginn<br />
Im Jahre 1915 kostete Rußland <strong>der</strong> Krieg zehn Milliarden Rubel, im Jahre 1916<br />
neunzehn Mi1iarden, im ersten Halbjahr 1917 bereits zehneinhalb Milliarden. Die Staatsschuld<br />
wäre zu Beginn des Jahres 1918 auf sechzig Mil1iarden angewachsen, das heißt<br />
fast dem gesamten Nationalvermögen gleichgekommen, das man auf siebzig Milliarden<br />
schätzte. Das Zentral-Exekutivkomtee entwarf einen Aufruf zur Kriegsanleihe unter dem<br />
sirupsüßen Namen »Freiheitsanleihe«, während die Regier-ung zu <strong>der</strong> simplen Schlußfolgerung<br />
gelangte, sie würde ohne eine neue grandiose Außenanleihe nicht nur die ausländischen<br />
Bestellungen nicht bezahlen können, son<strong>der</strong>n auch außerstande wäre, den<br />
inneren Verpflichtungen nachzukommen. Das Passivum <strong>der</strong> Handelsbilanz wuchs<br />
dauernd. Die Entente ging offenbar daran, den Rubel endgültig seinem eigenen Schicksal<br />
zu überlassen. Am gleichen Tage, als <strong>der</strong> Aufruf zur Freiheitsanleihe die erste Seite des<br />
Sowjetorgans 'Iswestja' füllte, berichtete <strong>der</strong> 'Regierungsanzeiger' über einen scharfen<br />
Kurssturz des Rubels. Die Druckpresse konnte nicht mehr Schritt halten mit dem Inflationstempo.<br />
Von den alten soliden Geldzeichen, auf denen noch <strong>der</strong> Abglanz ihrer einstigen<br />
Kaufkraft weilte, schickte man sich an, zu den fuchsroten Flaschenetiketten<br />
überzugehen, die in <strong>der</strong> Umgangssprache bald den Namen »Kerenski« erhielten.<br />
Bourgeois wie Arbeiter legten, je<strong>der</strong> auf seine Art, in diesen Namen eine Note des<br />
Abscheus hinein.<br />
In Worten akzeptierte die Regierung das Programm <strong>der</strong> staatlichen Wirtschaftsregulierung<br />
und schuf sogar zu diesem Zweck Ende Juni schwerfällige Verwaltungsorgane.<br />
Doch Wort und Tat des Februarregimes standen, wie Geist und Fleisch des frommen<br />
Christen, in ständigem Kampfe miteinan<strong>der</strong>. Die entsprechend zusammengesetzten<br />
Regulierungsorgane waren mehr besorgt um den Schutz <strong>der</strong> Unternehmer vor den<br />
Launen <strong>der</strong> schwankenden und wankenden Staatsmacht als um die Zähmung privater<br />
Interessen. Das administrative und technische Industriepersonal fiel Schicht um Schicht<br />
auseinan<strong>der</strong>; die Spitzen, erschreckt über die Gleichmachungstendenzen <strong>der</strong> Arbeiter,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 306
gingen entschlossen auf die Seite <strong>der</strong> Unternehmer über. Die Arbeiter standen den<br />
Kriegslieferungen, mit denen die wackligen Betriebe noch für ein bis zwei Jahre im<br />
voraus gedeckt waren, voller Wi<strong>der</strong>willen gegenüber. Doch auch die Unternehmer verloren<br />
den Geschmack an <strong>der</strong> Produktion, die mehr Sorgen als Gewinne versprach. Vorsätzliche<br />
Betriebseinstellungen von oben, nahmen systematischen Charakter an. Die<br />
Eisenindustrie hatte sich um vierzig Prozent verringert, die Textilindustrie um zwanzig<br />
Prozent. An allem Lebensnotwendigem herrschte Mangel. Die Preise stiegen zusammen<br />
mit Inflation und Wirtschaftsverfall. Die Arbeiter kämpften um die Kontrolle über den<br />
vor ihnen verborgenen administrativ-kommerziellen Mechanismus, von dem ihr Schicksal<br />
abhing. Der Arbeitsminister Skobeljew predigte den Arbeitern in wortreichen Manifesten<br />
die Unzulässigkeit einer Einmischung in die Betriebsverwaltung. Am 24. Juni<br />
berichteten die 'Iswestja', es sei abermals die Schließung einer Reihe von Betrieben<br />
geplant. Gleiche Nachrichten kamen aus <strong>der</strong> Provinz. Der Eisenbahntransport war noch<br />
schwerer getroffen als die Industrie. Die Hälfte <strong>der</strong> Lokomotiven erfor<strong>der</strong>te kapitale<br />
Reparaturen, ein großer Teil des rollenden Materials befand sich an <strong>der</strong> Front, es fehlte<br />
an Brennstoff. Das Verkehrsministerium kam aus dem Kriegszustande mit den Eisenbahnarbeitern<br />
und Angestellten nicht heraus. Die Lebensmittelversorgung verschlimmerte<br />
sich dauernd. In Petrograd gab es Brotvorräte nur noch für zehn bis fünfzehn Tage,<br />
in an<strong>der</strong>en Zentren stand es nicht viel besser. Bei <strong>der</strong> halben Paralyse des rollenden<br />
Materials und dem drohenden Eisenbahnstreik bedeutete dies ständig Hungergefahr. In<br />
<strong>der</strong> Perspektive öffnete sich kein Lichtblick. Nicht dies hatten die Arbeiter von <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> erwartet.<br />
Wenn möglich noch schlimmer stand es in <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> Politik. Unentschlossenheit<br />
ist <strong>der</strong> schwierigste Zustand im Leben von Regierungen, Nationen, Klassen, wie auch des<br />
einzelnen Menschen. Die <strong>Revolution</strong> ist die erbarmungsloseste von allen Lösungsarten<br />
historischer Fragen. Ausweichen ist in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die verheerendste aller denkbaren<br />
Politik. Die Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> darf nicht schwanken, ebensowenig wie <strong>der</strong> Chirurg,<br />
<strong>der</strong> das Messer in den kranken Körper eingeführt hat. Indes war das aus <strong>der</strong> Februarumwälzung<br />
entstandene Doppelregime organisierte Unentschlossenheit. Alles kehrte sich<br />
gegen die Regierung. Bedingte Freunde wurden Gegner, Gegner Feinde, die Feinde<br />
bewaffneten sich. Die Konterrevolution, inspiriert vom Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei,<br />
dem politischen Stab all jener, die etwas zu verlieren hatten, mobilisierte ganz offen.<br />
Das leitende Komitee des Offiziersverbandes beim Hauptquartier in Mohilew, <strong>der</strong> etwa<br />
hun<strong>der</strong>ttausend unzufriedene Kommandeure repräsentierte, und <strong>der</strong> Sowjet des Verbandes<br />
<strong>der</strong> Kosakentruppen in Petrograd bildeten zwei militärische Hebel <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />
Die Reichsduma beschloß, trotz Verfügung des Junikongresses <strong>der</strong> Sowjets, ihre<br />
»Privatberatungen« fortzusetzen. Ihr provisorisches Komitee bot legale Deckung für<br />
konterrevolutionäre Arbeit, die von Banken und Gesandtschaften <strong>der</strong> Entente weitestgehend<br />
finanziert wurde. Gefahren drohten den Versöhnlern von rechts und links. Beunruhigt<br />
nach allen Richtungen spähend, beschloß die Regierung insgeheim, Mttel zur<br />
Organisierung einer gesellschaftlichen Konterspionage, das heißt einer politischen<br />
Geheimpohzei, zu bewilligen. Ungefähr um die gleiche Zeit, Mitte Juni, setzte die Regierung<br />
die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung auf den 17. September fest. Die<br />
liberale Presse führte trotz Teilnahme <strong>der</strong> Kadetten an <strong>der</strong> Regierung eine hartnäckige<br />
Kampagne gegen den offiziell festgesetzten Termin, an den niemand glaubte und den<br />
niemand ernsthaft verteidigte. Das Bild <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung, so grell in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 307
den ersten Märztagen, verblaßte und verschwamm. Alles kehrte sich gegen die Regierung,<br />
sogar ihre blutarmen guten Absichten. Erst am 30. Juni faßte sie Mut, die adligen<br />
Dorfvormün<strong>der</strong>, die Semskije Natschalniki (Landvögte), <strong>der</strong>en Name allein schon seit<br />
ihrer Einführung durch Alexan<strong>der</strong> III. dem Lande verhaßt war, abzuschaffen. Und diese<br />
erzwungene und verspätete Teilreform drückte <strong>der</strong> Provisorischen Regierung den<br />
Stempel schmachvoller Feigheit auf Währenddessen erholte sich <strong>der</strong> Adel von seiner<br />
Angst, die Bodenbesitzer schlossen sich zusammen und begannen vorzustoßen. Das<br />
provisorische Dumakomitee wandte sich Ende Juni an die Regierung mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung,<br />
entschiedene Maßnahnien zum Schutze <strong>der</strong> Gutsbesitzer gegen die Bauern zu treffen, die<br />
von »verbrecherischen Elementen« aufgewiegelt wären. Am 1. Juli wurde in Moskau <strong>der</strong><br />
Allrussische Kongreß <strong>der</strong> Bodenbesitzer eröffnet, in seiner überwiegenden Mehrheit<br />
adlig. Die Regierung wand sich, bemüht, bald die Muschiks, bald die Gutsbesitzer durch<br />
Phrasen zu hypnotisieren. Am schlimmsten aber stand es an <strong>der</strong> Front. Die Offensive, die<br />
<strong>der</strong> entscheidende Einsatz Kerenskis auch im inneren Kampfe geworden war, zuckte in<br />
Konvulsionen. Der Soldat wollte nicht Krieg führen. Die Diplomaten des Fürsten Lwow<br />
fürchteten sich, den Diplomaten <strong>der</strong> Entente in die Augen zu schauen. Eine Anleihe<br />
brauchte man um jeden Preis. Um feste Hand zu zeigen, untemahm die ohnmächtige und<br />
gezeichnete Regierung eine Offensive gegen Finnland, die sie, wie alle ihre schmutzigsten<br />
Gechäfte, durch die Hände <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> verwirklichte. Gleichzeitig wuchs <strong>der</strong><br />
Konflikt mit <strong>der</strong> Ukraine stärker an und führte zum offenen Bruch.<br />
Weit zurück lagen die Tage, wo Albert Thomas Hymnen sang auf die strahlende<br />
<strong>Revolution</strong> und auf Kerenski. Anfang Juli löste den französischen Gesandten Paléologue,<br />
<strong>der</strong> allzu stark nach dem Aroma Rasputinscher Salons duftete, <strong>der</strong> "radikale" Noulens ab.<br />
Der Joumalist Claude Anet hielt dem neuen Gesandten einen einführenden Vortrag über<br />
Petrograd. Gegenüber <strong>der</strong> französischen Gesandtschaft, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Newa,<br />
läge <strong>der</strong> Wyborger Bezirk. »Das ist <strong>der</strong> Bezirk <strong>der</strong> großen Fabriken, <strong>der</strong> restlos den<br />
Bolschewiki gehört. Lenin und Trotzki walten dort wie die Herren.« Im gleichen Bezirk<br />
befänden sich die Kasernen des Maschinengewehrregiments, das etwa zehntausend Mann<br />
und über tausend Maschinengewehre zähle: we<strong>der</strong> Sozialrevolutionäre noch Menschewiki<br />
hätten Zutritt zu den Kasemen des Regiments. Die übrigen Regimenter seien entwe<strong>der</strong><br />
bolschewistisch o<strong>der</strong> neutral. »Wollten Lenin und Trotzki Petrograd besetzen, wer<br />
würde sie daran hin<strong>der</strong>n?« Noulens hörte staunend zu. »Weshalb aber duldet die Regierung<br />
einen solchen Zustand?« - »Was bleibt ihr an<strong>der</strong>es zu tun übrig?« antwortete <strong>der</strong><br />
Journalist. »Man muß begreifen, daß die Regierung über keine an<strong>der</strong>e Macht als über<br />
die moralische verfügt, und auch die scheint mir sehr schwach zu sein ... «<br />
Keinen Ausweg findend, zersplitterte die erwachte Energie <strong>der</strong> Massen in eigenmächtigen<br />
Aktionen, Partisanenerhebungen, gelegentlichen Expropriationen. Arbeiter,<br />
Soldaten, Bauern versuchten stückweise zu lösen, was zu lösen die von ihnen selbst<br />
geschaffene Macht sich weigerte. Unentschlossenheit <strong>der</strong> Führung erschöpft die Massen<br />
am stärksten. Fruchtloses Warten bewegt sie zu immer eindringlicheren Schlägen gegen<br />
die Pforte, die man vor ihnen nicht öffnen will, o<strong>der</strong> zu direkten Verzweiflungsausbrüchen.<br />
Bereits in den Tagen des Sowjetkongresses, als die Provinzler nur mit Mühe die<br />
über Petrograd erhobene Hand ihrer Führer zurückhalten konnten, hatten die Arbeiter<br />
und Soldaten hinreichende Gelegenheit gehabt, sich über die Gefühle und Absichten <strong>der</strong><br />
Sowjetspitzen ihnen gegenüber zu unterrichten. Nach Kerenski wurde Zeretelli nicht nur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 308
eine fremde, son<strong>der</strong>n auch verhaßte Gestalt für die Mehrheit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten. An <strong>der</strong> Peripherie <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wuchs <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Anarchisten, die<br />
im selbstherrlichen <strong>Revolution</strong>skomitee in <strong>der</strong> Villa Durnowo die Hauptrolle spielten.<br />
Aber auch diszipliniertere Arbeiterschichten, sogar weite Kreise <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Partei begannen die Geduld zu verlieren o<strong>der</strong> jenen Gehör zu schenken, die sie schon<br />
verloren hatten. Die Demonstration vom 18. Juni enthüllte allen, daß die Regierung keine<br />
Stütze besaß. »Was schauen sie dort oben zu?« fragten Soldaten und Arbeiter und<br />
meinten jetzt nicht nur die Versöhnler-Führer, sondem auch die leitenden Institutionen<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Der Kampf um den Arbeitslohn bei den Inflationspreisen entnervte und erschöpfte die<br />
Arbeiter. Beson<strong>der</strong>s scharf spitzte sich diese Frage während des Juni im Putilow-Gigant<br />
zu, wo sechsunddreißigtausend Menschen arbeiteten. Am 21. Juni entbrannte in einigen<br />
Werkstätten <strong>der</strong> Fabrik ein Streik. Die Unfruchtbarkeit solcher vereinzelter Ausbrüche<br />
war <strong>der</strong> Partei nur zu klar. Am nächsten Tage erklärte die von den Bolschewiki geleitete<br />
Versammlung, in <strong>der</strong> die wichtigsten Arbeiterorganisationen und siebzig Betriebe vertreten<br />
waren, »die Sache <strong>der</strong> Putilow-Arbeiter als Angelegenheit des gesamten Petrogra<strong>der</strong><br />
Proletariats« und for<strong>der</strong>te die Putilower auf, »ihre gerechte Empörung zurückzuhalten«.<br />
Der Streik wurde vertagt. Doch die nächsten zwölf Tage brachten keinerlei Verän<strong>der</strong>ungen.<br />
Die Massen in den Fabriken waren in tiefer Gärung und suchten einen Ausweg.<br />
Jedes Unternehmen hatte seinen Konflikt, und alle diese Konflikte führten nach oben, zur<br />
Regierung. Ein Memorandum des Gewerkschaftsverbandes <strong>der</strong> Lokomotivbrigaden an<br />
den Verkehrsminister lautete: »Wir erklären zum letztenmal: die Geduld hat eine Grenze.<br />
Weiter in solcher Lage zu leben, fehlt uns die Kraft...« Das war eine Beschwerde nicht<br />
nur über Not und Hunger, son<strong>der</strong>n auch über Zweideutigkeit, Charakterlosigkeit, Betrug.<br />
Die Eingabe protestierte beson<strong>der</strong>s zornig gegen »die an uns gerichteten endlosen<br />
Ermahnungen zu Bürgerpflicht und Enthaltsamkeit bei hungrigem Magen.«<br />
Die Machtübergabe im März an die Provisorische Regierung durch das Exekutivkomitee<br />
war unter <strong>der</strong> Bedingung erfolgt, daß die revolutionären Truppen nicht aus <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
entfernt würden. Aber jene Tage lagen weit zurück. Die Garnison bewegte sich<br />
nach links, die regierenden Sowjetkreise nach rechts. Der Kampf gegen die Garnison<br />
verschwand nicht von <strong>der</strong> Tagesordnung. Wenn auch nicht geschlossene Truppenteile<br />
aus <strong>der</strong> Hauptstadt hinausgeführt wurden, so schwächte man die revolutionäreren Teile<br />
unter dem Vorwand strategischer Notwendigkeit systematisch durch Herauspumpen von<br />
Marschkompanien. Gerüchte über Auflösung immer neuer und neuer Truppenteile an <strong>der</strong><br />
Front wegen Ungehorsam und Weigerung, Kampfbefehle auszuführen, drangen ununterbrochen<br />
in die Hauptstadt. Zwei sibirische Divisionen - ist es lange her, daß die sibirischen<br />
Schützen als die sichersten galten? - wurden unter Anwendung von Waffengewalt<br />
aufgelöst. Wegen Massenauflehnung gegen Kampfbefehle wurden allein in <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Hauptstadt nächstgelegenen 5. Armee siebenundachtzig Offiziere und<br />
zwölftausendsiebenhun<strong>der</strong>tundfünfundzwanzig Soldaten zur Verantwortung gezogen.<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Garnison, Akkumulator <strong>der</strong> Unzufriedenheit von Front, Dorf, Arbeitervierteln<br />
und Kasernen, war dauernd in Wallung. Bärtige Vierziger for<strong>der</strong>ten mit hysterischer<br />
Beharrlichkeit Entlassung nach Hause, zu den Feldarbeiten. Die Regimenter, die<br />
auf <strong>der</strong> Wyborger Seite lagen: das I. Maschinengewehr-, das I. Grenadier-, das<br />
Moskauer, das 180. Infanterieregiment und an<strong>der</strong>e wurden dauernd von den heißen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 309
Sprudeln <strong>der</strong> proletarischen Vorstadt umspült. Tausende Arbeiter gingen an den Kasernen<br />
vorbei, unter ihnen nicht wenige unermüdliche Agitatoren des Bolschewismus. Vor<br />
den schniutzigen, verhaßten Mauern fanden fast ununterbrochen fliegende Meetings statt.<br />
Am 22. Juni, bevor noch die durch die Offensive hervorgerufenen patriotischen Manifestationen<br />
erloschen waren, tauchte auf dem Sampsonjewski-Prospekt unvorsichtigerweise<br />
ein Automobil des Exekutivkomitees mit Plakaten auf: »Vorwärts für Kerenski.«<br />
Das Moskauer Regiment nahm die Agitatoren fest, zerriß die Aufrufe und schickte das<br />
patriotische Automobil zum Maschinengewehrregiment.<br />
Die Soldaten waren überhaupt ungeduldiger als die Arbeiter: sowohl, weil ihnen<br />
unmittelbare Entsendung an die Front drohte, als auch, weil sie Erwägungen politischer<br />
Strategie viel schwerer zugänglich waren. Außerdem hatte je<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Hand eine Flinte,<br />
und nach dem Februar neigte <strong>der</strong> Soldat dazu, <strong>der</strong>en selbständige Macht zu überschätzen.<br />
Ein alter Arbeiterbolschewik, Lisdin, erzählte später, wie die Soldaten des 180. Reserveregiments<br />
ihm sagten: »Was schlafen die Unseren dort im Kschessinskaja-Palais, gehen<br />
wir doch, Kerenski verjagen...« In den Regimentsversammlungen wurden fortwährend<br />
Resolutionen angenommen über die Notwendigkeit, sich endlich gegen die Regierung zu<br />
erheben. Delegationen von einzelnen Betrieben kamen zu den Regimentern mit <strong>der</strong><br />
Anfrage, ob die Soldaten auf die Straße gehen würden. Die Maschinengewehrschützen<br />
schickten ihre Vertreter zu an<strong>der</strong>en Garnisonteilen mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, gegen die<br />
Kriegsverlängerung zu protestieren. Ungeduldigere Delegierte fügen hinzu: das Pawlower<br />
und das Moskauer Regiment und vierzigtausend Putilower werden »morgen«<br />
hervortreten. Die offiziellen Ermahnungen des Exekutivkomitees wirken nicht. Immer<br />
schärfer gestaltet sich die Gefahr, daß Petrograd, von Front und Provinz nicht unterstützt,<br />
stückweise zerschlagen wird. Am 21. Juni for<strong>der</strong>te Lenin in <strong>der</strong> 'Prawda' die Petrogra<strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldaten auf, auszuharren, bis die Ereignisse die schweren Reserven auf die<br />
Seite Petrograds stoßen würden. »Wir begreifen die Erbitterung, wir begreifen die<br />
Erregung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter. Aber wir sagen ihnen: Genossen, ein Hervortreten<br />
jetzt wäre unzweckmäßig.« Am nächsten Tag kam eine private Beratung führen<strong>der</strong><br />
Bolschewiki, offenbar "linker" als Lenin, zu dem Entschluß, daß man trotz <strong>der</strong> Stimmung<br />
<strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatenmassen den Kampf noch nicht annehmen dürfe: »Es ist besser<br />
abzuwarten, damit sich die regierenden Parteien durch die begonnene Offensive endgültig<br />
mit Schmach bedecken. Dann ist das Spiel unser.« So gibt <strong>der</strong> Bezirksorganisator<br />
Lazis, einer <strong>der</strong> Ungeduldigsten jener Tage, die Sache wie<strong>der</strong>. Das Komitee ist immer<br />
häufiger gezwungen, Agitatoren zu Truppenteilen und Betrieben auszusenden, um von<br />
vorzeitigen Aktionen zurückzuhalten. Verlegen die Köpfe schüttelnd, beklagen sich die<br />
Wyborger Bolschewiki im eigenen Kreise: »Wir müssen Feuerwehr spielen.« Die Rufe:<br />
auf die Straße! verstummten jedoch nicht einen Tag. Darunter gab es auch offen provokatorische.<br />
Die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki war gezwungen, sich an die<br />
Soldaten und Arbeiter mit eineni Aufruf zu wenden: »Keinen Auffor<strong>der</strong>ungen, im Namen<br />
<strong>der</strong> Militärischen Organisation auf die Straße zu gehen, vertrauen. Zu einem Hervortreten<br />
ruft die Militärische Organisation nicht auf.« Und dann noch dringlicher:<br />
»For<strong>der</strong>t von jedem Agitator o<strong>der</strong> Redner, <strong>der</strong> euch im Namen <strong>der</strong> Militärischen<br />
Organisation auf die Straße ruft, eine mit den Unterschriften des Vorsitzenden und des<br />
Sekretärs versehene Legitimation.«<br />
Auf dem berühmten Ankerplatz in Kronstadt, wo die Anarchisten immer sicherer die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 310
Stimme erheben, wird ein Ultimatum nach dem an<strong>der</strong>en ausgearbeitet. Am 23. Juni<br />
for<strong>der</strong>ten die Delegierten des Ankerplatzes, den Kronstädter Sowjet übergehend, vom<br />
Justizministerium die Freilassung einer Gruppe Petrogra<strong>der</strong> Anarchisten und drohten<br />
an<strong>der</strong>nfalls mit einem Überfall <strong>der</strong> Matrosen auf das Gefängnis. Am nächsten Tage<br />
erklärten Vertreter aus Oranienbaum dem Justizminister, daß ihre Garnison über die<br />
Verhaftungen in <strong>der</strong> Villa Durnowo ebenso erregt sei wie Kronstadt und daß man bei<br />
ihnen »schon die Maschinengewehre putzt«. Die bürgerliche Presse griff diese Drohungen<br />
flugs auf und fuchtelte damit dicht vor <strong>der</strong> Nase ihrer verbündeten Versöhnler. Am<br />
26. Juni trafen Delegierte des Gardegrenadierregiments von <strong>der</strong> Front bei ihrem Reservebataillon<br />
mit <strong>der</strong> Erklärung ein: das Regiment sei gegen die Provisorische Regierung und<br />
for<strong>der</strong>e den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets; lehne die von Kerenski begonnene<br />
Offensive ab und hege die Befürchtung, das Exekutivkomitee sei zusammen mit den<br />
Ministern-<strong>Sozialisten</strong> auf die Seite <strong>der</strong> Bourgeois übergegangen. Das Organ des Exekutivkomitees<br />
veröffentlichte über diesen Besuch einen vorwurfsvollen Bericht.<br />
Wie ein Kessel brodelte nicht allein Kronstadt, son<strong>der</strong>n die ganze Baltische Flotte,<br />
<strong>der</strong>en Basis hauptsächlich Helsingfors war. Die Hauptkraft <strong>der</strong> Bolschewiki in <strong>der</strong> Flotte<br />
war zweifellos Antonow-Owssejenko, schon als junger Offizier Teilnehmer am Sewastopoler<br />
Aufstand von 1905, Menschewik in den Jahren <strong>der</strong> Reaktion, Emigrant-Internationalist<br />
in den Kriegsjahren, Mitarbeiter Trotzkis bei <strong>der</strong> Herausgabe <strong>der</strong> Zeitung 'Nasche<br />
Slowo' in Paris, nach Rückkehr aus <strong>der</strong> Emigration übergetreten zu den Bolschewiki.<br />
Politisch schwankend, aber persönlich mutig, impulsiv und zerfahren, jedoch fähig zur<br />
Initiative und Improvisation, nahm Antonow-Owssejenko, in jenen Tagen noch wenig<br />
bekannt, bei den weiteren <strong>Revolution</strong>sereignissen nicht den letzten Platz ein. »Wir im<br />
Helsingforser Parteikomitee«, erzählt er in seinen Erinnerungen, »begriffen die Notwendigkeit<br />
von Ausdauer und ernstlicher Vorbereitung. Wir hatten auch entsprechende<br />
Anweisungen vom Zentralkomitee. Doch wir waren uns <strong>der</strong> ganzer Unvermeidlichkeit<br />
des Ausbruches bewußt und blickten besorgt in die Richtung auf Petrograd.« Und dort<br />
häuften sich die Elemente <strong>der</strong> Explosion von Tag zu Tag. Das 2. Maschinengewehrregiment,<br />
rückständiger als das 1., for<strong>der</strong>te in einer Resolution die Übergabe <strong>der</strong> Macht an<br />
die Sowjets. Das 3. Infanterieregiment verweigerte die Ausson<strong>der</strong>ung von vierzehn<br />
Marschkompanien. Die Versammlungen in den Kasemen bekamen immer drohen<strong>der</strong>en<br />
Charakter. Am 1. Juli war ein Meeting beim Grenadierregiment von Verhaftung des<br />
Komiteevorsitzenden und Obstruktion gegen die menschewistischen Redner begleitet.<br />
Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Offensive! Nie<strong>der</strong> mit Kerenski! Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Garrüson standen die<br />
Maschinengewehrschützen, die auch dem Julistrom die Schleusen öffneten.<br />
Dem Namen des 1. Maschinengewehrregiments sind wir bereits bei den Ereignissen<br />
<strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>smonate begegnet. Bald nach <strong>der</strong> Umwälzung aus eigener Initiative<br />
von Oranienbaum in Petrograd »zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>« eingetroffen, stieß das<br />
Regiment sogleich auf den Wi<strong>der</strong>stand des Exekutivkomitees, welches beschloß, dem<br />
Regiment zu danken und es nach Oranienbaum zurückzuschicken. Die Maschinengewehrschützen<br />
weigerten sich kategorisch, die Hauptstadt zu verlassen: »Die Konterrevolutionäre<br />
könnten den Sowjet überfallen und das alte Regime wie<strong>der</strong> aufrichten.« Das<br />
Exekutivkomitee gab nach, und einige tausend Maschinengewehrschützen blieben in<br />
Petrograd zusammen mit ihren Maschinengewehren. Im Volkshause untergebracht,<br />
wußten sie nicht, was weiter mit ihnen geschehen werde. Unter ihnen waren jedoch nicht<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 311
wenig Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter, und nicht zufällig übernahm deshalb die Sorge um die<br />
Maschinengewehrschützen das Komitee <strong>der</strong> Bolschewiki. Sein Beistand sicherte den<br />
Bezug von Lebensmitteln aus <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung. Die Freundschaft war angebahnt.<br />
Bald wurde sie unerschütterlich. Am 21. Juni faßten die Maschinengewehrschützen in<br />
einer allgemeinen Versammlung den Beschluß: »Fernerhin sind Kommandos zur Front<br />
nur dann zu entsenden, wenn <strong>der</strong> Krieg einen revolutionären Charakter tragen wird.«<br />
Am 2. Juli ve-ranstaltete das Regiment im Volkshause ein Abschiedsmeeting zu Ehren<br />
<strong>der</strong> an die Front abkommandierten »letzten« Marschkompanie. Es sprachen Lunatscharski<br />
und Trotzki: dieser zufälligen Tatsache versuchten die Behörden später außergewöhnliche<br />
Bedeutung beizumessen. Im Namen des Regiments antworteten <strong>der</strong> Soldat<br />
Schilin und ein alter Bolschewik, <strong>der</strong> Unteroffizier Laschewitsch. Die Stimmung war<br />
sehr gehoben, man brandmarkte Kerenski, schwor Treue <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, doch niemand<br />
machte praktische Vorschläge für die nächste Zukunft. Indessen wartete man während<br />
<strong>der</strong> letzten Tage in <strong>der</strong> Stadt beharrlich auf Ereignisse. Die "Julitage" warfen ihre Schatten<br />
voraus. »Überall, in allen Winkeln«, erinnert sich Suchanow, »im Sowjet, im<br />
Mariinski-Palais, in den Bürgerwohnungen, auf den Plätzen und Boulevards, in Kasernen<br />
und Fabriken, sprach man von irgendeinem, heute, morgen zu er-wartenden Hervortreten.<br />
Niemand wußte Bestimmtes über das Wer, Wie und Wo. Aber die Stadt fühlte sich<br />
wie am Vorabend einer Explosion.« Eine Aktion kam auch wirklich zum Durchbruch.<br />
Der Anstoß dazu folgte von oben, aus den regierenden Sphären.<br />
Am gleichen Tage, als Trotzki und Lunatscharski bei den Maschinengewehrschützen<br />
über die Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Koalition sprachen, traten vier Minister-Kadetten, die<br />
Koalition sprengend, aus <strong>der</strong> Regierung aus. Als Vorwand wählten sie das für ihre<br />
Großmachtansprüche unannehmbare Kompromiß, das ihre Versöhnlerkollegen mit <strong>der</strong><br />
Ukraine abgeschlossen hatten. Der wirklichliche Grund des demonstrativen Bruchs lag<br />
darin, daß die Versöhnler mit <strong>der</strong> Zähmung <strong>der</strong> Massen zögerten. Die Wahl des Moments<br />
war durch das vorläufig offiziell noch nicht zugegebene, jedoch für alle Eingeweihten<br />
außer Zweifel stehende Fiasko <strong>der</strong> Offensive diktiert. Die Liberalen erachteten es an <strong>der</strong><br />
Zeit, ihre linken Verbündeten Aug' in Aug' mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage und den Bolschewiki zu<br />
lassen. Das Gerücht vom Rücktritt <strong>der</strong> Kadetten verbreitete sich unverzüglich in <strong>der</strong><br />
Hauptstadt und verallgemeinerte politisch alle offenen Konflikte in <strong>der</strong> einen Parole,<br />
richtiger dem einen Schrei: Schluß mit dem Hin und Her <strong>der</strong> Koalition! Soldaten und<br />
Arbeiter glaubten, von <strong>der</strong> Entscheidung <strong>der</strong> Frage, wer weiter das Land regieren werde,<br />
die Bourgeoisie o<strong>der</strong> die eigenen Sowjets, hingen alle an<strong>der</strong>en Fragen ab: sowohl die des<br />
Arbeitslohns wie die des Brotpreises wie auch jene, ob man an <strong>der</strong> Front unbekannt<br />
wofür, umzukommen habe. In diesen Erwartungen war ein gewisses Element von Illusion,<br />
sofern die Massen hofften, durch den Regierungswechsel die sofortige Lösung aller<br />
schmerzlichen Fragen zu erreichen. Doch letzten Endes hatten sie recht: die Machtfrage<br />
entschied die Richtung <strong>der</strong> gesamten <strong>Revolution</strong>, das heißt, sie bestimmte auch das<br />
Schicksal jedes einzelnen. Anzunehmen, die Kadetten hätten jene Wirkung, die ihr Akt<br />
offener Sabotage gegen die Sowjets hervorrufen würde, nicht vorauszusehen vermocht,<br />
hieße Miljukow entschieden unterschätzen. Der Führer des Liberalismus war sichtlich<br />
bestrebt, die Versöhnler in eine zugespitzte Situation hineinzutreiben, aus <strong>der</strong> nur das<br />
Bajonett einen Ausweg schaffen könnte: in jenen Tagen glaubte er fest, ein kühner<br />
A<strong>der</strong>laß würde die Lage retten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 312
Am Morgen des 3. Juli wählten einige tausend Maschinengewehrschützen, nachdem<br />
sie die Versammlung <strong>der</strong> Kompanie- und Regimentskomitees ihres Regiments gesprengt<br />
hatten, einen eigenen Vorsitzenden und verlangten sofortige Beratung <strong>der</strong> Frage über ein<br />
bewaffnetes Auftreten. Das Meeting nahm sogleich einen stürmischen Lauf. Die Frontfrage<br />
wurde von <strong>der</strong> Regierungskrise durchkreuzt. Der Versammlungsvorsitzende<br />
Golowin, Bolschewik, versuchte zu bremsen, indem er vorschlug, sich vorher mit<br />
an<strong>der</strong>en Truppenteilen und <strong>der</strong> Militärischen Organisation zu verständigen. Doch jedes<br />
Anzeichen von Verschleppung brachte die Soldaten außer sich. In <strong>der</strong> Versammlung<br />
tauchte <strong>der</strong> Anarchist Bleichmann auf, eine kleine, aber farbige Gestalt auf dem Hintergrunde<br />
des Jahres 1917. Mit sehr bescheidenem Ideengepäck, aber einem gewissen<br />
Instinkt für die Masse, aufrichtig in seiner ewig entzündbaren Beschränktheit, mit<br />
entblößter Brust und wildem Lockenhaar, fand Bleichmann in Versammlungen nicht<br />
wenig halbironische Sympathien. Die Arbeiter zwar verhielten sich ihm gegenüber<br />
zurückhaltend, etwas ungeduldig, beson<strong>der</strong>s die Metallarbeiter. Die Soldatenjedoch<br />
lächelten lustig über seine Reden, stießen einan<strong>der</strong> mit den Ellenbogen an, ermunterten<br />
den Sprecher durch kernige Wörtchen: sie standen sichtlich wohlwollend zu seinem<br />
exzentrischen Aussehen, seiner unüberlegten Entschlossenheit, seinem wie Essig beißenden<br />
jüdisch-amerikanischen Akzent. Ende Juni plätscherte Bleichmann in allerhand<br />
improvisierten Meetings, wie ein Fisch im Wasser. Seinen Entschluß hatte er stets bereit:<br />
heraus mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand. Organisation? »Uns organisiert die Straße.«<br />
Aufgabe? »Die Provisorische Regierung stürzen, wie man es mit dem Zaren gemacht<br />
hat, obwohl auch damals keine Partei dazu auffor<strong>der</strong>te.« Solche Reden entsprachen in<br />
jenem Augenblick am allerbesten <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen, und<br />
nicht nur ihrer. Auch viele <strong>der</strong> Bolschewiki verbargen ihre Befriedigung nicht, wenn die<br />
unteren Schichten ihre offiziellen Ermahnungen übergingen. Die aufgeklärten Arbeiter<br />
erinnerten sich noch, daß im Februar die Führer just am Vorabend des Sieges daran<br />
gewesen waren, zum Rückzug zu blasen; daß im März <strong>der</strong> Achtstundentag auf Initiative<br />
von unten erobert ward; daß im April eigenmächtig auf die Straße hinausgegangene<br />
Regimenter Miljukow gestürzt hatten. Die Erinnerung an diese Tatsachen kam den<br />
gespannten und ungeduldigen Massenstimmungen sehr entgegen.<br />
Die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, die man unverzüglich davon benachrichtigte,<br />
daß in dem Meeting <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen Siedetemperatur herrsche,<br />
schickte einen Agitator nach dem an<strong>der</strong>en hin. Bald erschien auch Newski selbst, <strong>der</strong> von<br />
den Soldaten hochgeachtete Leiter <strong>der</strong> Militärischen Organisation. Er fand scheinbar<br />
Gehör. Doch die Stimmung <strong>der</strong> sich endlos ausdehnenden Versammlung wechselte, wie<br />
ihre Zusamniensetzung. »Für uns war es die größte Überraschung«, erzählt Podwojski,<br />
ein an<strong>der</strong>er Führer <strong>der</strong> Militärischen Organisation, »als um 7 Uhr abends ein Berittener<br />
herangesprengt kam mit <strong>der</strong> Nachricht, ... die Maschinengewehrschützen hätten erneut<br />
beschlossen, hervorzutreten.« An Stelle des alten Regimentskomitees wählten sie ein<br />
Provisorisches <strong>Revolution</strong>skomitee, je zwei Mann pro Kompanie, unter dem Vorsitz des<br />
Fähnrichs Semaschko. Speziell dafür bestimmte Delegierte besuchten bereits Regimenter<br />
und Betriebe, um Unterstützung werbend. Die Maschinengewehrschützen hatten selbstverständlich<br />
nicht vergessen, ihre Leute auch nach Kronstadt zu senden. So spannten<br />
sich, ein Stockwerk unter den offiziellen Organisationen, teilweise mit <strong>der</strong>en Deckung,<br />
zeitweilig neue Fäden zwischen den erregteren Truppenteilen und den Fabriken. Die<br />
Massen beabsichtigten nicht, mit dem Sowjet zu brechen, im Gegenteil, sie wollten, daß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 313
er die Macht übernähme. Noch weniger dachten sie daran, mit <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Partei zu brechen. Doch schien es ihnen, sie sei zu unentschlossen. Sie wollten mit <strong>der</strong><br />
Schulter nachdrücken, das Exekutivkomitee verwarnen, die Bolschewiki vorwärtsstoßen.<br />
Es entstehen improvisierte Vertretungen, neue Verbindungsknoten und Aktionszentren,<br />
nicht dauernde, son<strong>der</strong>n für den gegebenen Fall. Wechsel von Lage und Stimmung<br />
vollziehen sich so schnell und schroff, daß selbst die elastischste Organisation, wie die<br />
<strong>der</strong> Sowjets, unvermeidlich zurückbleibt und die Massen gezwungen sind, jedesmal<br />
Hilfsorgane für die For<strong>der</strong>ungen des Augenblicks zu schaffen. Bei solchen Improvisationen<br />
schlüpfen nicht selten zufällige und nicht immer zuverlässige Elemente durch. Öl ins<br />
Feuer gießen die Anarchisten, desgleichen manche von den neuen und ungeduldigen<br />
Bolschewiken. Es schmieren sich zweifellos auch Provokateure heran, vielleicht auch<br />
deutsche Agenten, doch am ehesten Agenten <strong>der</strong> echt<strong>russischen</strong> Konterspionage. Wie<br />
das komplizierte Gewebe <strong>der</strong> Massenbewegungen in einzelne Fäden zerlegen? Der<br />
Gesamtcharakter <strong>der</strong> Ereignisse tritt immerhin in aller Klarheit hervor. Petrograd fühlt<br />
seine Kraft, will vorstürmen, ohne sich nach Provinz o<strong>der</strong> Front umzusehen, und sogar<br />
die bolschewistische Partei ist bereits unfähig, es zurückzuhalten. Hier konnte nur Erfahrung<br />
helfen.<br />
Während sie Regimenter und Betriebe auf die Straße riefen, vergaßen die Delegierten<br />
<strong>der</strong> Maschinengewehrschützen nicht hinzuzufügen, daß das Hervortreten ein bewaffnetes<br />
sein müsse. Wie auch an<strong>der</strong>s? Doch nicht sich waffenlos den Schlägen <strong>der</strong> Feinde aussetzen?<br />
Außerdem, und was vielleicht das wichtigste war, mußte man seine Macht zeigen,<br />
ein Soldat ohne Waffe aber ist keine Macht. In diesem Punkte waren alle Regimenter und<br />
alle Fabriken gleicher Meinung: Wenn hervortreten, dann nicht an<strong>der</strong>s als mit einem<br />
Vorrat an Blei. Die Maschinengewehrschützen verloren keine Zeit: indem sie das große<br />
Spiel unternahmen, mußten sie es so schnell wie möglich zu Ende fahren. Das Material<br />
<strong>der</strong> Voruntersuchung charakterisierte später mit folgenden Worten die Handlungen des<br />
Fähnrichs Semaschko, eines <strong>der</strong> Hauptführer des Regiments: »... for<strong>der</strong>te von den Fabriken<br />
Automobile an, rüstete sie mit Maschinengewehren aus, entsandte sie zum Taurischen<br />
Palais und an an<strong>der</strong>e Stellen, gab die Marschrouten an, führte persönlich das<br />
Regiment aus <strong>der</strong> Kaserne in die Stadt, fuhr zum Reservebataillon des Moskauer<br />
Regiments, um es zum Hervortreten zu bewegen, was er auch erreichte, versprach den<br />
Soldaten des Maschinengewehrregiments Unterstützung seitens <strong>der</strong> Regimenter <strong>der</strong><br />
Militärischen Organisation, unterhielt dauernde Verbindung mit dieser Organisation,<br />
die sich im Hause Kschessinskaja befand, sowie mit deni Führer <strong>der</strong> Bolschewik, Lenin,<br />
entsandte Wachen zum Schutze <strong>der</strong> Militärischen Organisation«. Der Hinweis auf Lenin<br />
ist hier zur Vervollständigung des Bildes gemacht: Lenin war we<strong>der</strong> an diesem, noch an<br />
den vorangegangenen Tagen in Petrograd: seit dem 29. Juni hielt er sich krankheitshalber<br />
in einer Sommerfrische in Finnland auf. Doch im übrigen gibt die gedrängte Sprache des<br />
Kriegsgerichtsbeamten gar nicht übel das Vorbereitungsfieber <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />
wie<strong>der</strong>. Im Kasernenhof ging eine nicht min<strong>der</strong> heiße Arbeit. Waffenlose<br />
Soldaten versorgte man mit Gewehren, manche mit Bomben, auf jedes Lastauto, das von<br />
den Betrieben geliefert wurde, stellte man drei Maschinengewehre mit Bedienung. Das<br />
Regiment sollte auf <strong>der</strong> Straße in Kampfordnung erscheinen.<br />
In den Betrieben spielte sich überall ungefähr das gleiche ab: es kamen Delegierte von<br />
den Maschinengewehrschützen o<strong>der</strong> den Nachbarbetrieben und riefen auf die Straße. Als<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 314
hätte man sie längst erwartet: die Arbeit wurde sofort eingestellt. Ein Arbeiter <strong>der</strong> Fabrik<br />
Reno erzählt: »Nach dem Mittagessen kamen einige Maschinengewehrschützen zu uns<br />
gelaufen mit <strong>der</strong> Bitte, ihnen Lastautos zu geben. Trotz des Protestes unseres Kollektivs<br />
(<strong>der</strong> Bolschewiki) mußte man die Wagen stellen ... Hastig luden sie auf die Autos die<br />
"Maxims" (Maschinengewehre) und sausten zum Newski. Da waren nun unsere Arbeiter<br />
nicht mehr zu halten ... Wie sie an <strong>der</strong> Arbeit standen, in ihren Schürzen, von <strong>der</strong><br />
Werkbank weg, gingen sie in den Hof ... « Die Proteste <strong>der</strong> Bolschewiki in den Betrieben<br />
hatten, wie wohl anzunehmen ist, nicht immer sehr eindringlichen Charakter. Der längste<br />
Kampf ging um das Putilowwerk. Gegen 2 Uhr mittags verbreitete sich in den Abteilungen<br />
die Nachricht, eine Delegation des Maschinengewehrkommandos sei erschienen und<br />
rufe zu einem Meeting. Etwa zehntausend Arbeiter versammelten sich vor dem Kontor.<br />
Unter Beifalsrufen berichteten die Maschinengewehrschutzen, sie hätten den Befehl<br />
erhalten, am 4. Juli zur Front zu gehen, seien aber entschlossen, »nicht an die deutsche<br />
Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, son<strong>der</strong>n gegen die eigenen Minister-Kapitalisten«.<br />
Die Stimmung stieg. »Gehen wir, gehen wir!« schrien die Arbeiter. Der<br />
Sekretär des Fabrikkomitees, ein Bolschewik, machte Einwände und schlug vor, die<br />
Partei zu befragen. Proteste von allen Seiten: »Nie<strong>der</strong>! wie<strong>der</strong> wollt ihr die Sache<br />
verschleppen ... so weiter zu leben ist nicht möglich ... « Gegen 6 Uhr erschienen Vertreter<br />
des Exekutivkomitees, doch diesen gelang es noch weniger, die Arbeiter zu beeinflussen.<br />
Das Meeting ging weiter, das endlose, entnervende, hartnäckige Meeting einer<br />
vieltausendköpfigen Masse, die einen Ausweg sucht und sich nicht suggerieren läßt, daß<br />
es ihn nicht gibt. Der Vorschlag, eine Delegation zum Exekutivkomitee zu entsenden:<br />
wie<strong>der</strong> eine Verschleppung. Die Versammlung geht immer noch nicht auseinan<strong>der</strong>.<br />
Inzwischen bringt eine Gruppe Arbeiter und Soldaten die Nachricht, die Wyborger Seite<br />
marschiere bereits zuin Taurischen Palais. Länger zurückzuhalten war nun unmöglich.<br />
Man beschloß, loszugehen. Der Putilowarbeiter Jefimow kam zum Bezirkskomitee <strong>der</strong><br />
Partei gerannt, um sich zu erkundigen: »Was werden wir tun?« Man antwortete: »Wir<br />
werden keine Aktionen beginnen, doch die Arbeiter ihrem Schicksal überlassen können<br />
wir nicht, deshalb gehen wir mit ihnen zusammen.« In diesem Augenblick erschien das<br />
Bezirkskomiteemitglied Tschudin mit <strong>der</strong> Kunde: in allen Bezirken gingen die Arbeiter<br />
auf die Straße, die Parteimitglie<strong>der</strong> seien gezwungen, »die Ordnung aufrechtzuerhalten«.<br />
So wurden die Bolschewiki von <strong>der</strong> Bewegung erfaßt und in sie hineingezogen, dabei<br />
bestrebt, eine Rechtfertigung für ihr Handeln zu finden, das dem offiziellen Parteibeschluß<br />
zuwi<strong>der</strong>lief<br />
Das industrielle Leben <strong>der</strong> Hauptstadt hörte gegen 7 Uhr abends völlig auf. Fabrik<br />
nach Fabrik erhob sich, machte sich marschbereit, Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde wurden<br />
ausgerüstet. »In <strong>der</strong> tausendköpfigen Arbeitermasse«, erzählt <strong>der</strong> Wyborger Metelew,<br />
»liefen mit den Gewehrschlössern knackend hun<strong>der</strong>te Junggardisten geschäftig hin und<br />
her. Die einen füllten die Magazintaschen mit Patronenpäckchen, die an<strong>der</strong>en zogen die<br />
Riemen stramm, die dritten schnallten sich die Patronentaschen um, die vierten paßten<br />
die Bajonette auf, und jene Arbeiter, die, keine Waffe hatten, halfen den Gardisten beim<br />
Ausrüsten...« Der Sampsonjewski-Prospekt, die Haupta<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wyborger Seite, ist von<br />
Volk überfüllt. Links und rechts dichte Arbeiterkolonnen. In <strong>der</strong> Nähe des Prospekts das<br />
Maschinengewehrregiment, das Rückgrat des Zuges. An <strong>der</strong> Spitze je<strong>der</strong> Kompanie -<br />
Lastautomobile mit "Maxims". Hinter dem Maschinengewehrregiment - Arbeiter; als<br />
Nachhut, die Demonstration deckend, Teile des Moskauer Regiments. Über je<strong>der</strong> Abtei-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 315
lung ein Banner: »Alle Macht den Sowjets.« Der Trauerzug im März o<strong>der</strong> die Maidemonstration<br />
waren wahrscheinlich massenreicher. Doch <strong>der</strong> Julizug ist wuchtiger, gefahrdrohen<strong>der</strong><br />
und - einheitlicher in <strong>der</strong> Zusammensetzung. »Unter roten Fahnen schreiten nur<br />
Arbeiter und Soldaten«, schreibt einer <strong>der</strong> Teilnehmer. »Es fehlen die Kokarden <strong>der</strong><br />
Beamten, die glänzenden Knöpfe <strong>der</strong> Studenten, die Hüte <strong>der</strong> "sympathisierenden<br />
Damen", all das gab es vor vier Monaten, im Februar, im heutigen Zuge ist nichts davon,<br />
heute gehen nur die schwarzen Sklaven des Kapitals.« Durch die Straßen jagen, wie<br />
einst, in verschiedene Richtungen Automobile mit bewaffneten Arbeitern und Soldaten:<br />
Delegierte, Agitatoren, Kundschafter, Verbindungsmänner, Abteilungen, um Arbeiter<br />
und Regimenter herauszuholen. Die Flinten sind bei allen nach vorn gerichtet. Die stachligen<br />
Lastwagen riefen das Bild <strong>der</strong> Februartage in Erinnerung, elektrisierten die einen,<br />
terrorisierten die an<strong>der</strong>en. Der Kadett Nabokow schreibt: »Die gleichen wahnwitzigen,<br />
stumpfen, tierischen Gesichter, die wir noch aus den Februartagen in Erinnerung<br />
haben«, das heißt aus den Tagen jener <strong>Revolution</strong>, die die Liberalen offiziell ruhmreich<br />
und unblutig genannt hatten. Gegen 9 Uhr bewegten sich bereits sieben Regimenter zum<br />
Taurischen Palais. Unterwegs schlossen sich Kolonnen aus Fabriken und neue Truppenteile<br />
an. Die Bewegung des Maschinengewehrregiments bewies gewaltige Ansteckungskraft.<br />
Die "Julitage" waren eingeleitet.<br />
Es begannen fliegende Meetings. Hier und dort hörte man Schüsse. Nach Schil<strong>der</strong>ung<br />
des Arbeiters Korotkow »holte man auf dem Litejny-Prospekt aus einem Keller ein<br />
Maschinengewehr mit einem Offizier heraus, <strong>der</strong> an Ort und Stelle nie<strong>der</strong>gemacht<br />
wurde«. Die verschiedensten Gerüchte eilen <strong>der</strong> Demonstration voraus, Angst verbreitet<br />
sich von ihr strahlenförmig in alle Richtungen. Was melden die Telephone <strong>der</strong> aufgescheuchten<br />
Zentrumviertel nicht alles! Man erzählt, gegen 8 Uhr abends sei ein bewaffnetes<br />
Automobil zum Warschauer Bahnhof herangejagt auf <strong>der</strong> Suche nach dem gerade<br />
an diesem Tage zur Front abreisenden Kerenski, in <strong>der</strong> Absicht, ihn zu verhaften, doch<br />
das Automobil hätte den Zug verpaßt und die Verhaftung sei mißglückt. Diese Episode<br />
wurde später mehr als einmal angeführt, als Beweis für die Verschwörung. Wer eigentlich<br />
in dem Automobil gewesen war und wer dessen geheimnisvolle Absichten aufgedeckt<br />
hat, ist allerdings unbekannt geblieben. An jenem Abend fuhren Automobile mit<br />
bewaffneten Menschen in allen Vierteln herum, wahrscheinlich auch im Umkreis des<br />
Warschauer Bahnhofs. Kräftige Worte an die Adresse Kerenskis ertönten vielerorts. Das<br />
diente wohl als Grundlage für die Mythe, nimmt man nicht an, daß sie überhaupt von<br />
Anfang bis zu Ende erfunden ist.<br />
Die 'Iswestja' entwarfen folgendes Schema <strong>der</strong> Ereignisse vom 3. Juli: »Um 5 Uhr<br />
nachmittags traten bewaffnet hervor: das I. Maschinengewehrregiment, Teile des<br />
Moskauer-, des Grenadier- und des Pawlowski-Regiments. Ihnen schlossen sich Arbeiterhaufen<br />
an ... Gegen 8 Uhr abends begannen am Kschessinskaja-Palais einzelne<br />
Truppenteile in voller Kampfausrüstung zusammenzuströmen, mit roten Bannern und<br />
Plakaten, die den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets for<strong>der</strong>ten. Vom Balkon ertönten<br />
Reden ... Uni 10½ Uhr findet auf dem Platze vor dem Gebäude des Taurischen Palais ein<br />
Meeting statt ... Die Truppenteile wählten eine Deputation, die dem Al<strong>russischen</strong><br />
Zentral-Exekutivkomitee in ihrem Namen folgende For<strong>der</strong>ungen überbrachte: Nie<strong>der</strong> mit<br />
den zehn bürgerlichen Ministern, alle Macht dem Sowjet, Einstellung <strong>der</strong> Offensive,<br />
Beschlagnahme <strong>der</strong> bürgerlichen Zeitungsdruckereien, Verstaatlichung von Grund und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 316
Boden, Produktionskontrolle,« Sieht man von einigen nebensächlichen Retuschen ab:<br />
»Teile von Regimentern« statt Regimenter, »Arbeiterhaufen« statt geschlossene Betriebe,<br />
dann kann man sagen, daß Zeretelli-Dans Offiziosus die Vorgänge im allgemeinen nicht<br />
entstellt, insbeson<strong>der</strong>e die zwei Brennpunkte <strong>der</strong> Demonstration richtig vermerkt: die<br />
Villa Kschessinskaja und das Taurische Palais. Geistig und physisch drehte sich die<br />
Bewegung um diese antagonistischen Zentren: zum Hause Kschessinskaja geht man <strong>der</strong><br />
Direktive, <strong>der</strong> Leitung, <strong>der</strong> begeisternden Rede wegen, zum Taurischen Palais, um<br />
For<strong>der</strong>ungen zu stellen und sogar um mit seiner Kraft zu drohen.<br />
Um 3 Uhr nachmittags erschienen in <strong>der</strong> Stadtkonferenz <strong>der</strong> Bolschewiki, die an<br />
diesem Tage in <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja stattfand, zwei Delegierte <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />
mit <strong>der</strong> Nachricht, ihr Regiment habe beschlossen, hervorzutreten. Keiner<br />
hatte dies erwartet und keiner es gewünscht. Tomski erklärte: »Die Regimenter, die auf<br />
die Straße gegangen sind, handelten unkameradschaftlich, indem sie das Komitee<br />
unserer Partei nicht zur Besprechung <strong>der</strong> Demonstrationsfrage eingeladen haben. Das<br />
Zentralkomitee schlägt <strong>der</strong> Konferenz vor: erstens, einen Aufruf, herauszugeben, um die<br />
Massen zurückzuhalten, zweitens, in einem Appell das Exekutivkomitee aufzufor<strong>der</strong>n, die<br />
Macht zu über-nehmen. Jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine<br />
neue <strong>Revolution</strong> zu wollen, ist unzulässig.« Tomski, ein alter Arbeiter-Bolschewik, <strong>der</strong><br />
seine Treue zur Partei durch Jahre Katorga besiegelt hatte, später als Gewerkschaftsführer<br />
bekannt, neigte seinem Charakter nach überhaupt eher dazu, von einer Demonstration<br />
abzuhalten, als dazu aufzurufen. Aber diesmal entwickelte er nur Lenins Gedanken:<br />
»jetzt von bewaffneter Demonstration zu sprechen, ohne eine neue <strong>Revolution</strong> zu wollen,<br />
ist unzulässig.« Sogar <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> friedlichen Denionstration vom 10. Juni hatten ja<br />
die Versöhnler als Verschwörung verschrien! Die erdrückende Mehrheit <strong>der</strong> Konferenz<br />
war mit Tomski einverstanden. Man muß um jeden Preis die Lösung hinausziehen. Die<br />
Offensive an <strong>der</strong> Front hält das ganze Land in Spannung. Ihr Mißerfolg ist vorbestimmt,<br />
wie auch die Bereitschaft <strong>der</strong> Regierung, die Verantwortung für die Nie<strong>der</strong>lage auf die<br />
Bolschewiki abzuwälzen. Man muß den Versöhnlern Zeit lassen, sich endgültig zu<br />
kompromittieren. Wolodarski antwortete namens <strong>der</strong> Konferenz den Maschinengewehrschützen<br />
in dem Sinne, daß das Regiment sich dem Parteibeschluß zu fügen habe. Die<br />
Maschinengewehrschützen entfernen sich unter Protest. Um 4 Uhr bestätigt das Zentralkomitee<br />
den Beschluß <strong>der</strong> Konferenz. Ihre Teilnehmer gehen auseinan<strong>der</strong>, in die Bezirke<br />
und Betriebe, um die Massen von einer Demonstration abzuhalten. Ein entsprechen<strong>der</strong><br />
Aufruf wird <strong>der</strong> 'Prawda' geschickt zur Veröffentlichung am nächsten Morgen auf <strong>der</strong><br />
ersten Seite. Stalin wird beauftragt, die vereinigte Tagung des Exekutivkomitees von<br />
dein Parteibeschluß in Kenntnis zu setzen. Die Absichten <strong>der</strong> Bolschewiki lassen somit<br />
keinen Platz für Zweifel. Das Exekutivkomitee wandte sich an die Arbeiter und Soldaten<br />
mit einer Warnung: »Unbekannte Menschen ... rufen euch mit den Waffen auf die<br />
Straße«, und bestätigte damit, daß <strong>der</strong> Ruf von keiner einzigen Sowjetpartei stammte.<br />
Aber die Zentralkomitees, <strong>der</strong> Parteien wie <strong>der</strong> Sowjets, denken und die Maasen lenken.<br />
Gegen 8 Uhr abends kam das Maschinengewehr- und hinterher das Moskauer-Regiment<br />
zum Palais Kschessinskaja. Populäre Bolschewiki: Newski, Laschewitsch,<br />
Podwojski, versuchten vom Balkon aus, die Regimenter zur Umkehr zu bewegen. Man<br />
antwortete ihnen von unten: Nie<strong>der</strong>! Solche Rufe hatte <strong>der</strong> bolschewistische Balkon von<br />
den Soldaten noch nicht vernommen, und das war ein bedrohliches Anzeichen. Hinter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 317
dem Rücken <strong>der</strong> Regimenter tauchten die Betriebe auf: »Alle Macht den Sowjets!«<br />
»Nie<strong>der</strong> mit den zehn Ministern-Kapitalisten!« Das waren die Banner des 18. Juni. Aber<br />
jetzt waren sie von Bajonetten umgeben. Die Demonstration war eine machtvolle Tatsache.<br />
Was tun? Ist es für Bolschewiki denkbar, beiseite zu stehen? Die Mitglie<strong>der</strong> des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Komitees gemeinsam mit den Konferenzdelegierten und den Vertretern <strong>der</strong><br />
Regimenter und Betriebe beschließen: Die Frage zu revidieren, die unfruchtbaren<br />
Zurechtweisungen einzustellen, die zur Entfaltung gelangte Bewegung so zu lenken, daß<br />
die Regierungskrise im Interesse des Volkes gelöst werde; zu diesem Zwecke die Soldaten<br />
und Arbeiter aufzurufen, friedlich zum Taurischen Palais zu niarschieren, Delegierte<br />
zu wählen und durch sie ihre For<strong>der</strong>ungen dem Exekutivkomitee zu übergeben. Die<br />
anwesenden Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees sanktionierten diese Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Taktik.<br />
Der neue Beschluß, vom Balkon verkündet, wird mit Beifallrufen und Marseillaise<br />
begrüßt. Die Bewegung ist von <strong>der</strong> Partei legalisiert: die Maschinengewehrschützen<br />
können erleichtert aufatmen. Ein Teil des Regiments betritt sogleich die Peter-Paul-Festung,<br />
um <strong>der</strong>en Garnison zu beeinflussen und, wenn nötig, die von <strong>der</strong> Festung durch<br />
die schmale Kronwerksker Meerenge getrennte Villa Kschessinskaja gegen einen<br />
Anschlag zu schützen.<br />
Die Spitzenabteilungen <strong>der</strong> Demonstration betreten den Newski, die Pulsa<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie, Bürokratie und des Offizierskorps, wie ein fremdes Land. Von Bürgersteigen,<br />
Fenstern und Balkonen späht lauernd die Mißgunst tausen<strong>der</strong> Augen. Regiment<br />
wälzt sich auf Betrieb, Betrieb auf Regiment heran. Es kommen immer neue und neue<br />
Massen. Alle Banner, Gold auf Rot, schreien ein und dasselbe: Alle Macht den Sowjets!<br />
Der Zug beherrscht den Newski und ergießt sich in unüberwindlichem Strom zum Taurischen<br />
Palais. Plakate: »Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg!«, rufen die schärfste Feindseligkeit bei den<br />
Offizieren, darunter nicht wenig Invaliden, hervor. Mit den Armen fuchtelnd und sich<br />
überschreiend, mühen sich Student, Studentin, Beamter ab, den Soldaten auseinan<strong>der</strong>zusetzen,<br />
daß die hinter ihrem Rücken stehenden deutschen Agenten Wilhelms Truppen<br />
nach Petrograd hereinlassen wollen, um die Freiheit zu ersticken. Den Rednern scheinen<br />
ihre eigenen Argumente unwi<strong>der</strong>stehlich. »Von Spionen betrogen!« sagen Beamte von<br />
den Arbeitern, die sie düster abwehren. »Von Fanatikern hineingehetzt!« antworten<br />
Nachsichtigere. »Dunkelmänner!« stimmen die einen und die an<strong>der</strong>en überein. Doch die<br />
Arbeiter haben ihr eigenes Maß für die Dinge. Nicht bei deutschen Spionen haben sie<br />
jenen Gedanken gelemt, <strong>der</strong> sie heute auf die Straße führt. Die Demonstranten drängen<br />
unhöflich die lästigen Belehrer aus ihrer Mitte und bewegen sich vorwärts. Das bringt die<br />
Patrioten vom Newski in raserei. Stoßtrupps, am häufigsten von Invaliden und Georgsrittern<br />
angeführt, überfallen einzelne Demonstrantenreihen, um ein Banner zu entreißen. Da<br />
und dort kommt es zu Zusanimenstößen. Die Atmosphäre wird erhitzt. Schüsse ertönen,<br />
einer, noch einer. Aus einem Fenster? Aus dem Anitschkin-Palais? Vom Pflaster antwortet<br />
man mit einer Salve nach oben - ohne Adresse. Vorübergehend gerät die Straße in<br />
Verwirrung. Gegen Mittemacht, erzählt ein Arbeiter <strong>der</strong> Firma "Vulkan", während das<br />
Grenadierregiment den Newski passierte, setzte neben <strong>der</strong> Öffentlichen Bibliothek von<br />
irgendwoher eine Schießerei ein, die etliche Minuten andauerte. Eine Panik brach aus.<br />
Die Arbeiter zerstreuten sich in die Seitenstraßen. Die Soldaten warfen sich unter dem<br />
Feuer hin: nicht umsonst haben viele von ihnen die Schule des Krieges durchgemacht.<br />
Dieser mitternächtliche Newski-Prospekt mit den auf <strong>der</strong> Straße unter Feuer liegenden<br />
Gardegrenadieren bietet ein phantastisches Schauspiel. We<strong>der</strong> Puschkin noch Gogol, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 318
Sänger des Newski, haben sich ihn so vorgestellt! Indes war diese Phantastik Realität:<br />
auf dem Pflaster blieben Tote und Verwundete.<br />
Das Taurische Palais lebte an diesem Tage sein beson<strong>der</strong>es Leben. Angesichts des<br />
Austritts <strong>der</strong> Kadetten aus <strong>der</strong> Regierung berieten beide Exekutivkomitees, das <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldaten und das <strong>der</strong> Bauern, gemeinsam ein Referat Zeretellis über das<br />
Thema: wie ist <strong>der</strong> Pelz <strong>der</strong> Koalition zu waschen, ohne das Fell naß zu machen? Das<br />
Geheimnis einer solchen Operation wäre wohl schließlich entdeckt worden, wenn das die<br />
unruhigen Vorstädte nicht verhin<strong>der</strong>t hätten. Telephonische Berichte über das bevorstehende<br />
Auftreten des Maschinengewehrreginients rufen auf den Gesichtern <strong>der</strong> Führer<br />
Grimassen des Zorns und Ärgers hervor. Können denn die Soldaten und Arbeiter nicht<br />
abwarten, bis ihnen die Zeitungen rettende Entschlüsse bringen? Scheele Blicke <strong>der</strong><br />
Mehrheit in die Richtung <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch kam die Demonstration diesmal auch<br />
für diese überraschend. Kamenjew und an<strong>der</strong>e anwesende Vertreter <strong>der</strong> Partei erklären<br />
sich sogar bereit, nach <strong>der</strong> Tagessitzung in die Betriebe und Kasernen zu gehen, uni die<br />
Massen von einer Demonstration zurückzuhalten. Später deuteten die Versöhnler diese<br />
Geste als Kriegslist. Die Exekutivkomitees nehmen eiligst einen Aufruf an, <strong>der</strong>, wie<br />
üblich, jede Demonstration als <strong>Revolution</strong>sverrat erklärt. Was aber nun mit <strong>der</strong> Regierungskrise?<br />
Der Ausweg ist gefunden: das amputierte Kabinett bleibt, wie es ist, und die<br />
Gesamtfrage wird bis zum Zusammentritt <strong>der</strong> Provinzmitglie<strong>der</strong> des Exekutivkomitees<br />
vertagt. Verschleppen, Zeit gewinnen für die eigenen Schwankungen - ist das nicht die<br />
weiseste aller Politik?<br />
Nur im Kanipfe gegen die Massen hielten die Versöhnler Zeitverlust für unzulässig.<br />
Der offizielle Apparat wurde unverzüglich in Bewegung gesetzt, um gegen den Aufstand<br />
- so wurde die Demonstration von Anfang an bezeichnet - zu rüsten. Die Führer suchten<br />
überall bewaffnete Kräfte zum Schutze <strong>der</strong> Regierung und des Exekutivkomitees. Unterzeichnet<br />
von Tschcheidse und an<strong>der</strong>en Präsidiumsmitglie<strong>der</strong>n, ergingen an die verschiedensten<br />
militärischen Stellen Auffor<strong>der</strong>ungen, dem Taurischen Palais Panzerautos,<br />
Drei-Zoll-Geschütze und Geschosse zu liefern. Gleichzeitig erhielten fast sämtliche<br />
Regimenter Befehl, bewaffnete Abteilungen zur Verteidigung des Palais zu entsenden.<br />
Doch machte man dabei nicht halt. Das Büro beeilte sich noch am selben Tage, an die<br />
Front, und zwar an die <strong>der</strong> Hauptstadt nächstgelegene 5. Armee, telegraphisch Or<strong>der</strong> zu<br />
geben, »nach Petrograd eine Kavalleriedivision, eine Infanteriebrigade und Panzerwagen<br />
zu schicken«. Der Menschewik Wojtinski, <strong>der</strong> mit dem Schutz des Exekutivkomitees<br />
betraut war, gestand später in seinem retrospektiven Überblick: »Der ganze Tag des 3.<br />
Juh war ausgefüllt mit <strong>der</strong> Zusammenziehung von Truppen, mit <strong>der</strong> Befestigung des<br />
Taurischen Palais ... Wir hatten die Aufgabe, mindedstens einige Kompanien heranzuholen<br />
... Eine Zeitlang besaßen wir absolut keine militärischen Kräfte. An <strong>der</strong> Eingangstüre<br />
des Taurischen Palais standen sechs Mann Posten, die außerstande waren, die Menge<br />
aufzuhalten...« Dann wie<strong>der</strong>: »Am ersten Demonstrationstag waren zu unserer Verfügung<br />
nur hun<strong>der</strong>t Mann, - mehr Kräfte besaßen wir nicht. Wir entsandten Kommissare<br />
an alle Regimenter mit <strong>der</strong> Bitte, uns Soldaten für den Wachtdienst zu stellen ... Aber<br />
jedes Regiment blickte sich nach dem an<strong>der</strong>en um, - was dieses tun werde. Man mußte<br />
um jeden Prcis diesem Unwesen ein Ende bereiten, und wir for<strong>der</strong>ten Truppen von <strong>der</strong><br />
Front an.« Sogar vorsätzlich ließe sich schwer eine bösere Satire auf die Versöhnler<br />
ausdenken. Hun<strong>der</strong>ttausende Demonstranten for<strong>der</strong>n die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 319
Sowjets. Tschcheidse, <strong>der</strong> das Sowjetsystem repräsentiert, und schon allein damit Kandidat<br />
für den Premierposten, sucht Militärkräfte gegen die Demonstranten. Die grandiose<br />
Bewegung für die Macht <strong>der</strong> Demokratie wird von <strong>der</strong>en Führern erklärt als Überfall<br />
bewaffneter Banden auf die Demokratie.<br />
Im gleichen Taurischen Palais trat nach langer Pause die Arbeitersektion des Sowjets<br />
zusammen, die während <strong>der</strong> letzten zwei Monate durch partielle Neuwahlen in den<br />
Betrieben ihre Zusammensetzung <strong>der</strong>art hatte verän<strong>der</strong>n können, daß das Exekutivkomitee<br />
nicht ohne Grund dort eine Übermacht <strong>der</strong> Bolschewiki befürchtete. Die künstlich<br />
hinausgeschobene Sitzung <strong>der</strong> Sektion, die schließlich einige Tage vorher von den<br />
Versöhnlern selbst anberaumt worden war, fiel zufälligerweise mit <strong>der</strong> bewaffneten<br />
Demonstration zusammen: die Zeitungen erblickten auch darin die Hand <strong>der</strong><br />
Bolschewiki. Sinowjew entwickelte in seinem Referat vor <strong>der</strong> Sektion triftig den Gedanken,<br />
daß die Versöhnler, Verbündete <strong>der</strong> Bourgeoisie, gegen die Konterrevolution we<strong>der</strong><br />
kämpfen wollten noch könnten, denn unter diesem Namen verstünden sie nur vereinzelte<br />
Äußerungen des Schwarzhun<strong>der</strong>t-Hooliganentums, nicht aber den politischen Zusammenschluß<br />
<strong>der</strong> besitzenden Klassen mit dem Ziele, die Sowjets, als Wi<strong>der</strong>standszentren<br />
<strong>der</strong> Werktätigen, zu zermalmen. Das Referat traf den Kern. Die Menschewiki, die sich<br />
zum erstenmal auf sowjetistischem Boden in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit fühlten, schlagen vor, keine<br />
Beschlüsse zu fassen, son<strong>der</strong>n zum Schutze <strong>der</strong> Ordnung in die Bezirke auseinan<strong>der</strong>zugehen.<br />
Aber schon ist's zu spät! Die Kunde davon, daß vor dem Taurischen Palais<br />
bewaffnete Arbeiter und Maschinengewehrschützen aufmarschiert seien, ruft im Saal<br />
größte Erregung hervor. Die Tribüne besteigt Kamenjew. »Wir haben zur Demonstration<br />
nicht aufgerufen«, sagt er, »son<strong>der</strong>n die Volksmassen sind von selbst auf die Straße<br />
gegangen ... Wenn aber die Massen hinausgegangen sind, ist unser Platz unter ihnen ...<br />
Unsere Aufgabe ist jetzt, <strong>der</strong> Bewegung einen organisierten Charakter zu verleihen.«<br />
Kamenjew schließt mit dem Vorschlag, eine Kommission von fünfundzwanzig Mann zur<br />
Leitung <strong>der</strong> Bewegung zu wählen. Trotzki unterstützt diesen Vorschlag. Tschcheidse<br />
fürchtet die bolschewistische Kommission und dringt vergeblich darauf, die Frage an das<br />
Exekutivkomitee zu verweisen. Die Debatte nimmt stürmischen Charakter an. Sobald sie<br />
sich endgültig überzeugt haben, zusammen nicht mehr als ein Drittel <strong>der</strong> Versammlung<br />
zu bilden, verlassen Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Saal. Das wird nun<br />
überhaupt die beliebte Taktik <strong>der</strong> Demokraten: sie beginnen die Sowjets in dem Augenblick<br />
zu boykottieren, wo sie in ihnen die Mehrheit verlieren. Eine Resolution, die das<br />
Zentral-Exekutivkomitee auffor<strong>der</strong>t, die Macht in seine Hand zu nehmen, wird mit<br />
zweihun<strong>der</strong>tsechsundsiebzig Stimmen angenommen, in Abwesenheit <strong>der</strong> Opposition. Es<br />
werden auch sofort fünfzehn Mann in die Kommission gewählt; zehn Plätze hält man <strong>der</strong><br />
Min<strong>der</strong>heit frei; sie werden unbesetzt bleiben. Die Tatsache <strong>der</strong> Wahl einer bolschewistischen<br />
Kommission bedeutete für Freund und Feind, daß die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets von nun an die Basis des Bolschewismus geworden war. Ein großer<br />
Schritt vorwärts! Im April erstreckte sich <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki ungefähr auf ein<br />
Drittel <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter; im Sowjet bildeten sie in jenen Tagen einen unbedeutenden<br />
Sektor. jetzt, Anfang Juli stellen die Bolschewiki <strong>der</strong> Arbeitersektion etwa zwei<br />
Drittel <strong>der</strong> Delegierten: das bedeutet, daß ihr Einfluß in den Massen entscheidend geworden<br />
ist.<br />
Durch die zum Taurischen Palais führenden Straßen strömen Arbeiter-, Arbeiterinnen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 320
und Soldatenkolonnen mit Bannern, Gesang und Musik. Es zieht leichte Artillerie auf,<br />
<strong>der</strong>en Kommandeur Begeisterung auslöst durch die Mitteilung, sämtliche Batterien <strong>der</strong><br />
Division seien mit den Arbeitern. Durchfahrt und Garten am Taurischen Palais sind vom<br />
Volke überfüllt. Alle drängen sich vor <strong>der</strong> Tribüne bei <strong>der</strong> Haupteinfahrt des Palais<br />
zusammen. Zu den Demonstranten tritt Tschcheidse heraus mit <strong>der</strong> verdrießlichen Miene<br />
eines Menschen, den man unnütz bei <strong>der</strong> Arbeit gestört hat. Der populäre Sowjetvorsitzende<br />
wird von mißgünstigem Schweigen empfangen. Mit mü<strong>der</strong> und heiserer Stimme<br />
wie<strong>der</strong>holt Tschcheldse die allgemeinen Phrasen, <strong>der</strong>en alle schon überdrüssig sind.<br />
Nicht besser wird auch <strong>der</strong> ihm zu Hilfe auftauchende Wojtinsky aufgenommen.<br />
»Dagegen wurde Trotzki, <strong>der</strong>« - nach Miljukows Worten - »verkündete, nun sei <strong>der</strong><br />
Moment gekommen, wo die Macht an die Sowjets übergehen müsse, mit stürmischem<br />
Beifall begrüßt« ... Dieser Satz ist beabsichtigt zweideutig. Keiner <strong>der</strong> Bolschewiki sagte,<br />
»<strong>der</strong> Moment ist gekommen«, Ein Schlosser <strong>der</strong> kleinen Fabrik Duflon auf <strong>der</strong> Petersburger<br />
Seite erzählte später über das Meeting vor den Mauern des Taurischen Palais: »Ich<br />
erinnere mich an die Rede Trotzkis, <strong>der</strong> sagte, daß es noch nicht an <strong>der</strong> Zeit sei, die<br />
Macht zu übernehmen.« Der Schlosser gibt den Sinn <strong>der</strong> Rede richtiger wie<strong>der</strong> als <strong>der</strong><br />
Geschichtsprofessor. Aus dem Munde <strong>der</strong> bolschewistischen Redner erfuhren die<br />
Demonstranten von dem eben in <strong>der</strong> Arbeitersektion errungenen Sieg, und diese Tatsache<br />
gab ihnen eine fast greifbare Befriedigung - als Eintritt in die Epoche <strong>der</strong> Sowjetmacht.<br />
Die vereinigte Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees wurde kurz vor Mitternacht wie<strong>der</strong> eröffnet:<br />
um diese Zeit warfen sich die Grenadiere auf dem Newski hin. Auf Dans Antrag<br />
wird bestimmt, daß in <strong>der</strong> Versammlung nur jene bleiben dürfen, die sich im voraus<br />
verpflichten, angenommene Beschlüsse zu verteidigen und durchzuführen. Das ist ein<br />
neues Wort! Das Arbeiter- und Soldatenparlament, als welches die Menschewiki den<br />
Sowjet proklamiert hatten, versuchen sie nun in ein administratives Organ <strong>der</strong> Versöhnlermehrheit<br />
umzuwandeln. Wenn sie in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit bleiben werden - es sind nur noch<br />
zwei Monate bis dahin - werden die Versöhnler leidenschaftlich die Sowjetdemokratie<br />
verteidigen. Heute aber, wie auch sonst in allen entscheidenden Momenten des öffentlichen<br />
Lebens, wird die Demokratie zur Reserve entlassen. Einige Interrayonisten verließen<br />
unter Protest die Sitzung; Bolschewiki waren überhaupt nicht zugegen, sie berieten<br />
in <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja, was morgen zu tun. Im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Sitzung erscheinen<br />
die Interrayonisten und Bolschewiki im Saal mit <strong>der</strong> Erklärung, niemand könne<br />
ihnen das Mandat rauben, das ihnen die Wähler übertragen haben. Die Mehrheit<br />
schweigt sich aus, und Dans Resolution fällt unmerklich unter den Tisch. Die Sitzung<br />
schleppt sich hin wie eine Agonie. Mit welken Stimmen überzeugen die Versöhnler<br />
einan<strong>der</strong> von ihrem Recht. Zeretelli als Post- und Telegraphenminister beklagt sich über<br />
die unteren Beamten: »Von dem Post- und Telegraphenstreik habe ich erst soeben erfahren<br />
... Was die politischen For<strong>der</strong>unge trifft, so ist ihre Parole ebenfalls: Alle Macht den<br />
Sowjets!« ... Delegierte <strong>der</strong> das Palais von allen Seiten umlagernden Demonstranten<br />
for<strong>der</strong>n Zutritt zur Sitzung. Man läßt sie besorgt und feindselig ein. Indes glaubten die<br />
Delegierten aufrichtig, die Versöhnler könnten diesmal nicht an<strong>der</strong>s, als ihnen entgegenkommen.<br />
Enthüllten doch die durch den Austritt <strong>der</strong> Kadetten erhitzten Zeitungen <strong>der</strong><br />
Menschewiki und Sozialrevolutionäre heute selbst Intrigen und Sabotage ihrer bürgerlichen<br />
Verbündeten. Außerdem hat sich die Arbeitersektion für die Macht <strong>der</strong> Sowjets<br />
ausgesprochen. Worauf noch warten? Doch die leidenschaftlichen Appelle, in denen die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 321
Empörung noch Hoffnung atmet, fallen kraftlos und unangebracht in die abgestandene<br />
Atmosphäre des Versöhnlerparlaments. Die Führer beschäftigt nur ein Gedanke: wie die<br />
ungebetenen Gäste am schnellsten loswerden? Man bittet sie, sich auf die Galerie zu<br />
entfernen: sie auf die Straße zu jagen, zu den Demonstranten, wäre zu unvorsichtig. Von<br />
<strong>der</strong> Galerie herab hörten die Maschinengewehrschützen verwun<strong>der</strong>t die sich entwickelnden<br />
Debatten an, <strong>der</strong>en einziges Ziel war, Zeit zu gewinnen: die Versöhnler warteten auf<br />
zuverlässige Regimenter. »In den Straßen ist revolutionäres Volk«, sprach Dan, »aber<br />
dieses Volk verrichtet eine konterrevolutionäre Sache ... « Dan wird unterstützt von<br />
Abramowitsch, einem <strong>der</strong> Führer des jüdischen Bundes, einem konservativen Pedanten,<br />
dessen sämtliche Instinkte durch die <strong>Revolution</strong> verletzt sind. »Wir sind Zeugen einer<br />
Verschwörung«, behauptet er entgegen allem Augenschein und for<strong>der</strong>t die Bolschewiki<br />
auf, offen zuzugeben, daß »es ihre Arbeit ist«. Zeretelli vertieft das Problem: »Auf die<br />
Straße zu gehen mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung: Alle Macht den Sowjets, - ist das eine Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Sowjets? Wenn die Sowjets wollten, sie könnten die Macht haben. Hin<strong>der</strong>nisse stehen<br />
dem Willen <strong>der</strong> Sowjets von keiner Seite entgegen. Solche Aktionen aber gehen nicht den<br />
Weg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, son<strong>der</strong>n den Weg <strong>der</strong> Konterrevolution.« Diese Überlegungen<br />
konnten die Arbeiterdelegierten unmöglich begreifen. Es schien ihnen, die hohen Führer<br />
seien völlig übergeschnappt. Schließlich bestätigt die Versammlung noch einmal mit<br />
allen gegen elf Stimmen, daß das bewaffnete Auftreten ein Dolchstoß in den Rücken <strong>der</strong><br />
revolutionären Armee sei, und so weiter. Die Sitzung wird um 5 Uhr morgens geschlossen.<br />
Die Massen versickerten allmählich in ihre Bezirke. Bewaffnete Automobile waren<br />
die ganze Nacht unterwegs, Regimenter, Fabriken, Bezirkszentren miteinan<strong>der</strong> verbindend.<br />
Wie Ende Februar, zogen auch jetzt die Massen nachts das Fazit des verflossenen<br />
Kampftages. Aber nun taten sie es mit Hilfe eines komplizierten Systems von Organisationen:<br />
<strong>der</strong> Betriebe, <strong>der</strong> Partei, <strong>der</strong> Truppen, die dauemd miteinan<strong>der</strong> berieten. Es galt in<br />
den Bezirken als selbstverständlich, daß die Bewegung nicht beim halben Worte haltmachen<br />
durfte. Das Exekutivkomitee hatte den Beschluß über die Machtfrage vertagt. Die<br />
Massen deuteten es als Schwankung. Die Schlußfolgerung war klar: man muß weiter<br />
nachdrücken. Die Nachtsitzung <strong>der</strong> Bolschewiki und Interrayonisten, die im Taurischen<br />
Palais parallel mit <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees stattfand, zog ebenfalls das Fazit<br />
des vergangenen Tages und versuchte vorauszusehen, was <strong>der</strong> morgige Tag in sich<br />
berge. Die Berichte aus den Bezirken besagten, daß die heutige Demonstration die<br />
Massen erst in Bewegung gebracht und zum erstenmal die Machtfrage in aller Schärfe<br />
vor ihnen gestellt habe. Morgen werden die Fabriken und Regimenter auf Antwort<br />
drängen, und nichts wild sie in den Außenbezirken festhalten. Die Diskussionen drehten<br />
sich nicht um die Frage, ob man zur Machtergreifung aufrufen solle o<strong>der</strong> nicht, wie<br />
später die Gegner behaupteten, son<strong>der</strong>n darum, ob man versuchen müsse, die Demonstration<br />
zu liquidieren, o<strong>der</strong> aber sich am nächsten Morgen an ihre Spitze stellen soll.<br />
Spät in <strong>der</strong> Nacht, kurz vor 3 Uhr, marschierte das Putilowwerk, eine dreißigtausendköpfige<br />
Masse, viele mit Frauen und Kin<strong>der</strong>n, ans Taurische Palais heran. Der Zug hatte<br />
sich um 11 Uhr in Bewegung gesetzt, unterwegs hatten sich ihm an<strong>der</strong>e, saumseligere<br />
Betriebe angeschlossen. Am Narwaer Tor war trotz <strong>der</strong> späten Nachtstunde die Volksansammlung<br />
so groß, als sei niemand ini Bezirk zurückgeblieben. Die Frauen hatten<br />
geschrien: »Alle müssen gehen ... Wir werden die Wohnungen bewachen ... « Nach dem<br />
Läuten vom Glockenturm <strong>der</strong> Erlöserkirche fielen Schüsse, wie aus einem Maschinengewehr.<br />
Von unten gab man eine Salve gegen den Glockenturm »Beim Gostinyj Dwor<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 322
("Handelshofof") überfiel eine Gesellschaft von Junkern und Studenten die Demonstranten,<br />
und versuchte ihnen ein Plakat zu entreißen. Die Arbeiter leisteten Wi<strong>der</strong>stand, es<br />
kam zu einem Handgemenge, jemand schoß, dem Schreiber dieser Zeilen wurde <strong>der</strong> Kopf<br />
eingeschlagen, Hüften und Brust mit Füßen getreten.« Dies erzählt <strong>der</strong> uns schon<br />
bekannte Arbeiter Jefimow. Nachdem sie die ganze, schon in Schweigen gehüllt Stadt<br />
durchquert hatten, erreichten die Putilower schließlich das Taurische Palais. Dank <strong>der</strong><br />
energischen Vermittlung des damals mit den Gewerkschaften eng verbundenen Rjasanow<br />
wurde eine Betriebsdelegation zum Exekutivkomitee durchgelassen. Die Arbeitermasse,<br />
hungrig und todmüde, lagerte sich auf <strong>der</strong> Straße und im Garten, die meisten<br />
streckten sich hin in <strong>der</strong> Hoffnung, eine Antwort zu erlangen. Das Putilowwerk, um 3<br />
Uhr nachts auf <strong>der</strong> Erde lagernd, rings um das Taurische Palais, wo die demokratischen<br />
Führer die Ankunft <strong>der</strong> Truppen von <strong>der</strong> Front erwarteten - das ist eines <strong>der</strong> erschüttemdsten<br />
Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf dem scharfen Bergpaß vom Februar zum Oktober. Zwölf<br />
Jahre vorher haben nicht wenige dieser Arbeiter an <strong>der</strong> Januarprozession zum Winterpalais<br />
teilgenommen, unter Heiligenbildem und Kirchenfahnen; Jahrhun<strong>der</strong>te sind verstrichen<br />
seit jenem Sonntag. Neue Jahrhun<strong>der</strong>te werden verstreichen im Laufe <strong>der</strong> nächsten<br />
vier Monate.<br />
Auf die Beratung <strong>der</strong> bolschewistischen Führer und Organisatoren, die über den morgigen<br />
Tag streiten, legt sich <strong>der</strong> schwere Schatten des Putilowwerkes, das im Hofe lagert.<br />
Morgen werden die Putilower nicht zur Arbeit gehen: von welcher Arbeit könnte auch<br />
die Rede sein nach dem nächtlichen Wachen? Sinowjew wird unterdessen zum Telephon<br />
gerufen; aus Kronstadt telephoniert Raskolnikow, um zu melden: am frühen Morgen<br />
werde die Festungsgarnison nach Petrograd marschieren und niemand und nichts sie<br />
davon abbringen. Der junge Unterleutnant zur See bleibt am an<strong>der</strong>en Ende des<br />
Telephondrahtes hängen: ist es denkbar, daß das Zentralkomitee ihm befehlen wird, sich<br />
von den Matrosen zu trennen und sich in ihren Augen zu erledigen? Zu dem Bilde des<br />
Feldlager haltenden Putilowwerkes gesellt sich ein an<strong>der</strong>es, nicht weniger eindrucksvolles<br />
Bild <strong>der</strong> Matroseninsel, die in diesen schlaflosen Nachtstunden zur Hilfeleistung des<br />
Arbeiter- und Soldaten-Petrograd rüstet. Nein, die Lage ist zu klar. Für Schwankungen<br />
ist kein Raum mehr. Trotzki fragt zum letztenmal: vielleicht doch noch versuchen, <strong>der</strong><br />
Demonstration einen unbewaffneten Charakter zu verleihen? Nein, auch davon kann<br />
keine Rede sein. Eine Kolonne Junker würde zehntausende Unbewaffneter vor sich<br />
hertreiben wie eine Hammelherde. Die Soldaten und auch die Arbeiter würden einen<br />
solchen Vorschlag nüt Entrüstung aufnehmen wie eine Falle. Die Antwort ist kategorisch<br />
und überzeugend. Einmütig beschließen alle, die Massen morgen zur Fortsetzung <strong>der</strong><br />
Demonstration im Namen <strong>der</strong> Partei aufzurufen. Sinowjew befreit Raskolnikows Seele,<br />
<strong>der</strong> sich am Telephon abmartert. Es wird sogleich ein Aufruf an die Arbeiter und Soldaten<br />
verfaßt: Auf die Straße! Der Tagesaufruf des Zentralkomitees zum Abbruch <strong>der</strong><br />
Demonstration wird aus <strong>der</strong> Stereotypplatte herausgeschnitten; aber es ist bereits zu spät,<br />
ihn durch einen neuen Text zu ersetzen. Die weiße Seite <strong>der</strong> 'Prawda' wird morgen ein<br />
mör<strong>der</strong>isches Corpus delicti gegen die Bolschewiki werden: sie haben es wohl im letzten<br />
Moment mit <strong>der</strong> Angst gekriegt und den Aufruf zum Aufstands zurückgezogen; o<strong>der</strong><br />
vielleicht umgekehrt: haben auf den ursprünglichen Aufruf zur friedlichen Demonstration<br />
verzichtet, um die Sache zum Aufstand kommen zu lassen? Indes erschien <strong>der</strong> wahre<br />
Beschluß <strong>der</strong> Bolschewiki als Flugblatt. Es rief die Arbeiter und Soldaten auf, »ihren<br />
Willen durch eine friedliche und organisierte Demonstration den im Augenblick tagen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 323
den Exekutivkomitees kundzutun«. Nein, das ist kein Appell zum Aufstands!<br />
"Julitage": Kulminationspunkt und Zertrümmerung<br />
Die unmittelbare Leitung <strong>der</strong> Bewegung geht nunmehr endgültig in die Hände des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Parteikomitees über, dessen agitatorische Hauptkraft Wolodarski ist. Die<br />
Mobilisierung <strong>der</strong> Garnison obliegt <strong>der</strong> militärischen Organisation. An ihre Spitze waren<br />
bereits im März zwei alte Bolschewiki gestellt worden, denen die Organisation in ihrer<br />
weiteren Entwicklung vieles zu verdanken haben wird. Podwojski, eine grelle und eigenartige<br />
Figur in den Reihen des Bolschewismus, mit den Zügen des <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>ärs<br />
alten Typus vom Schlage ehemaliger Seminaristen, ein Mann von großer, wenn<br />
auch undisziplinierter Energie und schöpferischer Phantasie, die allerdings leicht auf<br />
Projektemacherei verfiel. Das Wort "Podwojskerei" erhielt später im Munde Lenins<br />
einen gutmütig-ironischen und warnenden Charakter. Doch sollten die schwachen Seiten<br />
dieser überschäumenden Natur sich hauptsächlich erst nach <strong>der</strong> Machteroberung zeigen,<br />
als <strong>der</strong> Reichtum an Möglichkeiten und Mitteln <strong>der</strong> verschwen<strong>der</strong>ischen Energie<br />
Podwojskis und seiner Leidenschaft für dekorative Unternehmungen allzu viele Antriebe<br />
bot. Unter den Bedingungen des revolutionären Machtkampfes war er durch seine<br />
optimistische Entschlossenheit, Selbstaufopferung, Unermüdlichkeit wie geschaffen zum<br />
unersetzbaren Führer <strong>der</strong> erwachenden Soldaten. Newski, früher Privatdozent, prosaischeren<br />
Schlages als Podwojski, <strong>der</strong> Partei jedoch nicht weniger ergeben als dieser,<br />
durchaus kein Organisator und nur dank einem unglücklichen Zufall ein Jahr später für<br />
kurze Zeit auf den Posten eines Sowjetverkehrsministers geraten, nahm die Soldaten<br />
durch Einfachheit, Umgänglichkeit und aufmerksame Weichheit ein. Um diese Fühhrer<br />
sammelte sich eine Gruppe engerer Mitarbeiter, Soldaten und junge Offiziere, von denen<br />
einigen bevorstand, später keine geringe Rolle zu spielen. In <strong>der</strong> Nacht zum 4. Juli rückt<br />
die Militärische Organisation jäh in den Vor<strong>der</strong>grund. Um Podwojski, <strong>der</strong> mühelos die<br />
Kommandofunktionen eroberte, entsteht ein improvisierter Stab. An alle Teile <strong>der</strong> Garnison<br />
werden kurze Aufrufe und Anrodnungeii verschickt. Um die Demonstranten gegen<br />
Überfälle zu schützen, wird befohlen, an Brücken, die von <strong>der</strong> Peripherie ins Zentrum<br />
führten, und an den Knotenpunkten <strong>der</strong> wichtigsten Verkehrsa<strong>der</strong>n Panzerwagen aufzustellen.<br />
Die Maschinengewehrschützen hatten schon in <strong>der</strong> Nacht bei <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung<br />
eine eigene Wache errichtet. Telephonisch sowie durch Boten werden die<br />
Garnisonen von Oranienbaum, Peterhof, Krassnoje Selo und an<strong>der</strong>en in <strong>der</strong> Umgebung<br />
<strong>der</strong> Hauptstadt liegenden Punkten von <strong>der</strong> morgigen Demonstration benachrichtigt. Die<br />
gesamte politische Leitung bleibt selbstverständlich in den Händen des Zentralkomitees.<br />
Die Maschinengewehrschützen kehrten erst gegen Morgen in ihre Baracken zurück,<br />
müde und trotz dem Juli fröstelnd. Der Nachtregen hat die Putilower bis auf den letzten<br />
Faden durchnäßt. Die Demonstranten versammeln sich erst gegen 11 Uhr vornüttags. Die<br />
Truppenteile rücken noch später aus. Das I. Maschinengewehrregiment ist auch heute<br />
vollzählig auf <strong>der</strong> Straße. Aber es spielt bereits nicht mehr die Rolle des Anstifters wie<br />
am Vorabend. In den Vor<strong>der</strong>grund sind die Betriebe gerückt. Der Bewegung haben sich<br />
auch jene Fabriken angeschlossen, die gestern abseits gestanden. Wo die Leitung<br />
schwankt o<strong>der</strong> sich wi<strong>der</strong>setzt, zwingt die Arbeiterjugend das wachdiensthabende<br />
Mitglied des Fabrikkomitees, zum Zeichen <strong>der</strong> Arbeitseinstellung die Fabriksirene<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 324
heulen zu lassen. Auf dem Baltischen Werk, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
überwogen, gingen von fünftausend Arbeitern viertausend auf die Straße. In <strong>der</strong> Schuhfabrik<br />
Skorochod, die lange als Feste <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre galt, hatte sich inzwischen<br />
ein so schroffer Stimmungsumschwung vollzogen, daß <strong>der</strong> alte Betriebsdeputierte, ein<br />
Sozialrevolutionär, einige Tage sich nicht zeigen durfte. Es streikten sämtliche Betriebe,<br />
Meetings fanden statt. Man wählte Demonstrationsführer und Delegierte zur Überreichung<br />
<strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen an das Exekutivkomitee. Wie<strong>der</strong> zogen Hun<strong>der</strong>ttausende strahlenförmig<br />
zum Taurischen Palais, und wie<strong>der</strong> bogen Aberzehntausende unterwegs zur<br />
Villa Kschessinskaja ab. Die heutige Bewegung ist imposanter und organisierter als die<br />
gestrige: man merkt die leitende Hand <strong>der</strong> Partei. Aber auch die Atmosphäre ist heute<br />
heißer: Soldaten und Arbeiter erstreben die Lösung <strong>der</strong> Krise. Die Regierung martert sich<br />
ab, denn heute, am zweiten Demonstrationstag, ist ihre Ohnmacht noch offensichtlicher<br />
als gestern. Das Exekutivkomitee wartet auf treue Truppen und erhält von überall<br />
Meldungen, gegen die Hauptstadt marschierten feindliche Teile. Aus Kronstadt, aus<br />
Nowyj Peterhof, aus Krassnoje Selo, aus dem Fort Krassnaja Gorka, aus <strong>der</strong> gesamten<br />
näheren Peripherie, zu Wasser und zu Lande bewegen sich Matrosen und Soldaten mit<br />
Musikorchester, Gewehren und, was das Schlimmste ist, mit bolschewistischen Plakaten.<br />
Einige Regimenter führen, ganz wie in den Februartagen, ihre Offiziere mit und tun so,<br />
als marschierten sie unter <strong>der</strong>en Kommando.<br />
»Die Regierungstagung war noch nicht beendet«, erzählt Miljukow, »als man aus dem<br />
Stab meldete, auf dem Newski gehe eine Schießerei vor sich. Es wurde beschlossen, die<br />
Tagung in den Stab zu verlegen. Dort befanden sich Fürst Lwow, Zeretelli, Justizminister<br />
Perewersew und zwei Gehilfen des Kriegsministers. Es war ein Moment, wo die Lage <strong>der</strong><br />
Regierung hoffnungslos schien. Die Preobraschensker, Semjonowsker und Ismajlowsker,<br />
die sich den Bolschewiki nicht angeschlossen hatten, erklärten auch <strong>der</strong> Regierung, sie<br />
würden "Neutralität" wahren. Auf dem Schloßplatz standen zur Verteidigung des Stabes<br />
nur Invaliden und einige Hun<strong>der</strong>tschaften Kosaken,« General Polowzew veröffentlichte<br />
am Morgen des 4. Juli eine Bekanntmachung über die bevorstehende Säuberung Petrograds<br />
von bewaffneten Haufen; die Bewohner wurden strengstens angehalten, die Tore<br />
zu schließen und nicht ohne dringende Notwendigkeit auf die Straße zu gehen. Der<br />
dräuende Befehl erwies sich als Blindgänzer. Der Kreiskommandierende <strong>der</strong> Truppen<br />
vermochte bloß, kreine Kosaken- und Junkerabteilungen gegen die Demonstranten zu<br />
werfen. Im Laufe des Tages riefen sie sinnlose Geplänkel und blutige Zusammenstoße<br />
hervor. Der Kornett des I. Don-Regiments, das das Winterpalais beschützte, berichtete<br />
<strong>der</strong> Untersuchungskommission: »Es war befohlen, vorbeikommende kleinere Menschengruppen,<br />
welcher Art immer, ebenso bewaffnete Automobile zu entwaffnen. In Ausführung<br />
dieses Befehls liefen wir von Zeit zu Zeit in Marschordnung vors Palais und<br />
nahmen Entwaffnungen vor ...« Die simple Darstellung des Kosakenfähnrichs schil<strong>der</strong>t<br />
fehlerlos sowohl das Kräfteverhältnis wie das Kampfbild. Die "meuternden" Truppen<br />
treten aus den Kasernen in Kompanien und Bataillonen heraus und beherrschen Straßen<br />
und Plätze. Die Regierungstruppen operieren aus dem Hinterhalt durch jähe Überfälle, in<br />
kleinen Abteilungen, das heißt gerade so, wie es sich für aufständische Partisanen<br />
geziemt. Der Rollenwechsel erklärt sich damit, daß fast die gesamte bewaffnete Macht<br />
<strong>der</strong> Regierung dieser feindlich, im günstigsten Falle neutral gegenübersteht. Die Regierung<br />
lebt von Gnaden des Exekutivkolnitees, das sich selbst nur hält durch die Hoffnung<br />
<strong>der</strong> Massen, es werde sich endlich besinnen und die Macht übernehmen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 325
Den höchsten Schwung verlieh <strong>der</strong> Demonstration das Erscheinen <strong>der</strong> Kronstädter<br />
Matrosen in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arena. Bereits am Vorabend hatten in <strong>der</strong> Garnison <strong>der</strong><br />
Seefestung Delegierte <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen gearbeitet. Für die lokalen Organisationen<br />
unerwartet, fand auf Initiative aus Petrograd eingetroffeiner Anarchisten auf<br />
dem Ankerplatz ein Meeting statt. Die Redner for<strong>der</strong>ten Hilfe für Petrograd. Roschal,<br />
Student <strong>der</strong> Medizin, einer <strong>der</strong> jungen Kronstädter Helden und Liebling des<br />
Ankerplatzes, versuchte mit einer mäßigenden Rede aufzutreten. Tausende Stimmen<br />
unterbrachen ihn. Roschal, an an<strong>der</strong>e Empfänge gewöhnt, mußte die Tribüne verlassen.<br />
Erst in <strong>der</strong> Nacht wurde bekannt, daß die Bolschewiki in Petrograd auf die Straße rufen.<br />
Das entschied die Frage. Die linken Sozialrevolutionäre in Kronstadt gab es und konnte<br />
es keine rechten geben - erklärten, auch sie seien entschlossen, an <strong>der</strong> Demonstration<br />
teilzunehmen. Diese Menschen gehörten <strong>der</strong> gleichen Partei wie Kerenski an, <strong>der</strong> zur<br />
gelben Zeit an <strong>der</strong> Front Truppen zur Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Demonstranten sammelte. Die<br />
Stimmung in <strong>der</strong> nächtlichen Sitzung <strong>der</strong> Kronstädter Organisationen ist <strong>der</strong>art, daß sogar<br />
<strong>der</strong> schüchterne Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Partschewski, für den Marsch<br />
auf Petrograd stimmt. Es wird ein Plan entworfen, die schwimmenden Hilfsmittel werden<br />
mobilisiert, für Bedürfnisse <strong>der</strong> politischen Landung aus dem Waffendepot fünfundsiebzig<br />
Pud Schießvorräte ausgegeben. Auf Schleppern und Passagierdampfern fahren<br />
annähernd zehntausend bewaffnete Matrosen, Soldaten und Arbeiter gegen 12 Uhr<br />
nachts in die Newamündung hinein. Auf beiden Flußufern landend, vereinigen sie sich<br />
zu einem Zuge und marschieren, Gewehre am Riemen, mit Musik. Hinter Matrosen- und<br />
Soldatenabteilungen Arbeiterkolonnen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und Wassiljiostrower Bezirke,<br />
abwechselnd mit Mannschaften <strong>der</strong> Roten Garde. An den Seiten Panzerwagen. Über den<br />
Häuptern zahllose Banner und Plakate.<br />
Zwei Schritt entfernt das Palais Kschessinskaja. Der kleine, schmächtige,<br />
pechschwarze Swerdlow, einer <strong>der</strong> Stammorganisatoren <strong>der</strong> Partei, in <strong>der</strong> Aprilkonferenz<br />
dem Zentralkomitee zugeteilt, stand auf dem Balkon und gab, sachlich wie immer, von<br />
oben mit mächtigem Baß Anweisungen: »Die Spitze des Zuges vorrücken, dichter zusammenschließen,<br />
die hinteren Reihen zusammenziehen.« Die Demonstranten begrüßte vom<br />
Balkon aus Lunatscharski, stets bereit, sich von <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Umgebung anstecken<br />
zu lassen, imponierend durch Aussehen und Organ, deklamatorisch beredsam, nicht sehr<br />
zuverlässig, aber häufig unersetzbar. Ihm wurde von unten stürmisch applaudiert. Aber<br />
die Demonstranten wünschten vor allem Lenin selbst zu hören - den man gerade an<br />
diesem Morgen aus seinem finnländischen Asyl herbeigerufen hatte -, und die Matrosen<br />
blieben so beharrlich bei ihrem Verlangen, daß Lenin, trotz einem Unwohlsein, sich dem<br />
nicht zu entziehen vermochte. Eine ungezügelte, rein kronstädtische Begeisterungswelle<br />
begrüßte das Erscheinen des Führers auf dem Balkon. Ungeduldig und wie stets halb<br />
verlegen die Begrüßung hinnehmend, begann Lenin, bevor noch die Stimmen verstummten.<br />
Seine Rede, die dann wochenlang von <strong>der</strong> feindlichen Presse in allen Tonarten<br />
zerzaust wurde, bestand aus einigen einfachen Sätzen: Begrüßung <strong>der</strong> Demonstranten;<br />
Worte <strong>der</strong> Gewißheit, daß die Parole »Alle Macht den Sowjets« schließlich siegen werde,<br />
Mahnung zu Ausdauer und Standhaftigkeit. Mit neuen Rufen formiert sich die Demonstration<br />
unter Orchesterklängen. Zwischen dieser festlichen Einleitung und <strong>der</strong> nächsten<br />
Etappe, wo Blut floß, keilt sich eine kuriose Episode ein. Die Führer <strong>der</strong> Kronstädter<br />
linken Sozialrevolutionäre entdeckten erst auf dem Marsfelde an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Demonstration<br />
ein Riesenplakat des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, das aufgetaucht war nach<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 326
dem Aufenthalt vor dem Hause Kschessinskaja; vor Parteieifersucht brennend, verlangten<br />
sie seine Entfernung. Die Bolschewiki weigerten sich. Darauf erklärten die Sozialrevolutionäre,<br />
dann gingen sie überhaupt weg. Von den Matrosen und Soldaten folgte<br />
jedoch niemand den Führern. Die gesamte Politik <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre bestand<br />
aus solchen launenhaften, bald komischen, bald tragischen Schwankungen.<br />
An <strong>der</strong> Ecke des Newski- und des Litejny-Prospektes wurde die Nachhut <strong>der</strong> Demonstration<br />
plötzlich beschossen, es gab einige Opfer. Eine erbitterte Beschießung folgte an<br />
<strong>der</strong> Ecke des Litejny-Prospektes und <strong>der</strong> Pantelejmonowskaja-Straße. Der Führer <strong>der</strong><br />
Kronstädter, Raskolnikow, erinnert sich, wie schwer die Demonstranten betroffen waren<br />
von <strong>der</strong> »Ungewißheit: wo ist <strong>der</strong> Feind? woher, von welcher Seite wird geschossen?«<br />
Die Matrosen griffen zu den Gewehren, es begann eine regellose Schießerei nach allen<br />
Richtungen, einige Mann wurden getötet, einige verwundet. Nur mit großer Mühe gelang<br />
es, so etwas wie Ordnung wie<strong>der</strong>herzustellen. Der Zug marschierte weiter unter Musikklängen,<br />
doch von <strong>der</strong> festlich gehobenen Stimmung war keine Spur mehr geblieben.<br />
Ȇberall schien <strong>der</strong> unsichtbare Feind zu lauern. Die Gewehre ruhten nicht mehr friedlich<br />
an <strong>der</strong> linken Schulter, son<strong>der</strong>n wurden in Bereitschaft gehalten.«<br />
Der blutigen Zusammenstöße gab es währvd des Tages in verschiedenen Stadtteilen<br />
nicht wenige. Ein gewisser Teil davon geht auf Konto von Mißverständnissen, Wirrwarr,<br />
abirrenden Kugeln und Panik. Solche tragischen Zufälle sind unvermeidliche Mehrausgaben<br />
einer <strong>Revolution</strong>, die selbst eine Mehrausgabe <strong>der</strong> historischen Entwicklung ist.<br />
Aber auch ein Element blutiger Provokation ist in den Juliereignissen ganz unbestreitbar,<br />
wurde in jenen Tagen festgestellt und später bestätigt. »... Als die demonstrierenden<br />
Soldaten«, erzählt Podwojski, »den Newski und die anliegenden, vorwiegend von<br />
Bourgeoisie bevölkerten Straßen passierten, tauchten unheilverkündende Anzeichen<br />
eines Zusammenstoßes auf, seltsame, unbekannt woher und von wem abgegebene<br />
Schüsse ... Durch die Kolonnen gings anfangs eine Verwirrung, dann eröffneten die<br />
wenigen Standhaften und Disziplinierten eine regellose Schießerei.« In den offiziellen<br />
'lswestja' beschrieb <strong>der</strong> Menschewiki Kantorowitsch die Beschießung einer Arbeiterkolonne<br />
mit folgenden Worten: »Auf <strong>der</strong> Sadowaja Straße marschierte eine sechzigtausendköpfige<br />
Menge Arbeiter verschiedener Betriebe. Während sie an <strong>der</strong> Kirche<br />
vorbeigingen, ertönte vom Glockenturm Geläut, und wie auf ein Signal hin begann von<br />
den Hausdächern eine Schießerei aus Gewehren und Maschinengewehren. Als die Arbeitermenge<br />
auf die an<strong>der</strong>e Straßenseite stürzte, ertönten auch von den Häusern <strong>der</strong> entgegengesetzten<br />
Seite Schüsse.« Von den Boden und Dächern aus, wo sich im Februar<br />
Protopopows "Pharaonen" mit Maschinengewehren eingenistet hatten, wirkten jetzt<br />
Mitglie<strong>der</strong> von Offiziersorganisationen. Durch Beschießung <strong>der</strong> Demonstranten suchten<br />
sie, nicht ohne Erfolg, Panik zu säen und Zusammenstöße zwischen den Truppenteilen<br />
hervorzurufen. Bei Durchsuchung <strong>der</strong> Häuser, aus denen geschossen worden war, fand<br />
man Maschinengewehrnester, mitunter auch die Schützen selbst.<br />
Hauptursache des Blutvergießens jedoch waren die Regierungsabteilungen, zwar<br />
ohnmächtig, mit <strong>der</strong> Bewegung fertigzuwerden, aber ausreichend für Provokation. Gegen<br />
8 Uhr abends, als die Demonstration in vollem Schwunge war, begaben sich zwei<br />
Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften mit leichtem Geschütz zur Verteidigung des Taurischen Palais.<br />
Unterwegs Verhandlungen mit den Demonstranten hartnäckig ablehnend, was an sich ein<br />
schlimmes Zeichen war, fingen die Kosaken, wo sie nur konnten, bewaffnete Automobile<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 327
ab und entwaffneten einzelne kleinere Gruppen. Kosakengeschütze in den von Arbeitern<br />
und Soldaten besetzten Straßen bedeuteten eine unerträgliche Herausfor<strong>der</strong>ung. Alles<br />
kündet Zusammenstöße an. An <strong>der</strong> Litejny-Brücke geraten die Kosaken auf kompakte<br />
Massen des Feindes, <strong>der</strong> hier Zeit gefunden hat, auf dem Wege zum Taurischen Palais<br />
einige Hin<strong>der</strong>nisse zu errichten. Eine Minute unheilvoller Stille, die durch Schüsse aus<br />
den Nachbarhäusern zerrissen wird. »Die Kosaken gehen mit Schnellfeuer vor«, schreibt<br />
<strong>der</strong> Arbeiter Metelew, »die Arbeiter und Soldaten, in Verstecken verstreut o<strong>der</strong> einfach<br />
unter Feuer auf dem Bürgersteig liegend, antworten mit gleichem.« Das Feuer <strong>der</strong> Soldaten<br />
zwingt die Kosaken zum Rückzug. Sie schlagen sich zum Newa-Kai durch und geben<br />
von dort aus Geschützen drei Salven ab die Kanonenschüsse sind ebenfalls von <strong>der</strong><br />
'Iswestja' registriert -, doch vom Gewehrfeuer erreicht, ziehen sie sich in Richtung des<br />
Taurischen Palais zurück. Eine ihnen entgegenkommende Arbeiterkolonne fügt den<br />
Kosaken den entscheidenden Schlag zu. Geschütze, Pferde und Gewehre preisgebend,<br />
verstecken sich die Kosaken in den Portalen <strong>der</strong> Bürgerhäuser und zerstreuen sich. Der<br />
Zusammenstoß auf dem Litejny, eine richtige kleine Schlacht, war die bedeutendste<br />
Kriegsepisode <strong>der</strong> Julitage, und seine Schil<strong>der</strong>ung geht durch die Erinnerungen vieler<br />
Demonstrationsteilnehmer. Burssin, ein Arbeiter <strong>der</strong> Erikson-Fabrik, <strong>der</strong> zusammen mit<br />
den Maschinengewehrschützen demonstrierte, erzählt, wie bei <strong>der</strong> Begegnung mit ihnen<br />
»die Kosaken sogleich Gewehrfeuer eröffneten. Viele Arbeiter blieben tot liegen. Auch<br />
mich durchbohrte eine Kugel, sie ging durch das eine Bein hindurch und blieb im<br />
an<strong>der</strong>en stecken ... Als lebendiges Andenken an die Julitage dienen mir mein steifes Bein<br />
und <strong>der</strong> Krückstock ... « Beim Zusammenstoß auf dem Litejny wurden sieben Kosaken<br />
getötet, Verletzungen und Konfusionen erlitten neunzehn. Bei den Demonstranten gab es<br />
sechs Tote und etwa zwanzig Verwundete. Hier und dort lagen Pferdeleichen umher.<br />
Wir besitzen ein interessantes Zeugnis aus dem gegnerischen Lager. Awerin, <strong>der</strong>selbe<br />
Kornett, <strong>der</strong> seit dem frühen Morgen Partisanenüberfälle auf die regulären Aufständischen<br />
unternahm, berichtet: »Gegen 8 Uhr abends erhielten wir den Befehl des Generals<br />
Polowzew, in Stärke von zwei Hun<strong>der</strong>tschaften mit zwei Schnellfeuergeschützen zum<br />
Taurischen Palais abzumarschieren ... Wir kamen an die Litejny-Brücke, wo ich bewaffnete<br />
Arbeiter, Soldaten und Matrosen erblickte ... mit meiner Spitzenabteilung ritt ich an<br />
sie heran und ersuchte sie, die Waffen abzugeben, doch wurde meine Bitte nicht erfüllt,<br />
und die ganze Bande flüchtete über die Brücke auf die Wyborger Seite. Bevor ich ihnen<br />
folgen konnte, drehte sich irgendein Soldat von kleinem Wuchs ohne Achselklappen nach<br />
mir um und schoß auf mich, verfehlte aber. Dieser Schuß wirkte wie ein Signal, von<br />
überall wurde auf uns ein regelloses Gewehrfeuer eröffnet. Aus <strong>der</strong> Menge ertönten<br />
Schreie: "Die Kosaken schießen." Tatsächlich war es auch so: die Kosaken stiegen von<br />
den Pferden und begannen zu schießen, es wurden sogar Versuche unternommen, aus<br />
den Geschützen zu feuern, doch die Soldaten eröffneten ein <strong>der</strong>artiges Trommelfeuer,<br />
daß die Kosaken gezwungen waren, sich zurückzuziehen; sie zerstreuten sich in <strong>der</strong><br />
Stadt.« Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ein Soldat auf den Kornett geschossen hat: ein<br />
Kosakenoffizier konnte eher eine Kugel als einen Gruß vou <strong>der</strong> Julimenge erwarten. Viel<br />
wahrscheinlicher jedoch sind die zahlreichen Zeugenaussagen, nach denen die ersten<br />
Schüsse nicht von <strong>der</strong> Straße, sondem aus dein Hinterhalt fielen. Ein einfacher Kosak aus<br />
<strong>der</strong>selben Hun<strong>der</strong>tschaft wie <strong>der</strong> Kornett sagte mit Bestimmtheit aus, daß die Kosaken<br />
von <strong>der</strong> Richtung des Kriegsgerichts her und dann aus an<strong>der</strong>en Häusern in <strong>der</strong> Samurskigasse<br />
und auf dem Litejny-Prospekt Feuer erhielten. Der Sowjetoffiziosus erwähnte, daß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 328
die Kosaken, bevor sie noch an <strong>der</strong> Litejny-Brücke anlangten, aus einem Steinhause mit<br />
Maschinengwehrfeuer beschossen wurden. Der Arbeiter Metelew behauptet, daß die<br />
Soldaten bei Durchsuchung dieses Hauses in <strong>der</strong> Wohnung eines Generals Vorräte an<br />
Schußwaffen, darunter zwei Maschinengewehre mit Munition, entdeckt hätten. Daran ist<br />
nichts Unwahrscheinliches. In den Händen des Kommandobestandes sammelte sich<br />
während des Krieges auf rechtmäßige und unrechtmäßige Weise eine Menge verschiedenster<br />
Waffen. Die Versuchung, ungestraft dieses ganze "Pack" von oben mit einem<br />
Bleiregen zu überschütten, war zu groß. Allerdings trafen die Schüsse die Kosaken.<br />
Doch in <strong>der</strong> Julimenge lebte die Überzeugung, die Konterrevolutionäre hätten absichtlich<br />
auf die Regierungstruppen geschossen, um diese zu einem erbarmungslosen Strafgericht<br />
zu provozieren. Die Offiziersklasse, die noch gestern uneingeschränkt geherrscht hat,<br />
kennt im Bürgerkrieg keine Grenze <strong>der</strong> Heimtücke und Grausamkeit. Petrograd<br />
wimmelte von geheimen und halbgeheimen Offiziersorganisationen, die hohe Gönnerschaft<br />
und freigebige Unterstützuni genossen. In einer Geheiminformation, die <strong>der</strong><br />
Menschewik Liber fast einen Monat vor den Julitagen erteilte, war erwähnt, daß<br />
Verschwörer-Offiziere einen beson<strong>der</strong>en Eingang zu Buchanan hatten. Konnten denn die<br />
Ententediplomaten etwa nicht besorgt sein um die schnellste Schaffung einer starken<br />
Macht?<br />
Liberale und Versöhnler suchten in allen Exzessen die Hand <strong>der</strong> "Anarcho-Bolschewiki"<br />
und <strong>der</strong> deutschen Agenten. Arbeiter und Soldaten schrieben in voller Überzeugung<br />
die Verantwortung für die Julizusammenstöße und -opfer den patriotischen Provokateuren<br />
zu. Auf wessen Seite ist die Wahrheit? Die Urteile <strong>der</strong> Masse sind natürlich nicht<br />
unfehlbar. Aber gröblichst irrt, wer glaubt, die Masse sei blind und leichtgläubig. Wo es<br />
sie am Nerv trifft, nimmt sie mit tausend Augen und Ohren Tatsachen und Vermutungen<br />
wahr, überprüft auf ihrem Rücken Gerüchte, wählt die einen aus, verwirft die an<strong>der</strong>en.<br />
Wo Versionen, die Massenbewegungen betreffen, auseinan<strong>der</strong>gehen, erweist sich als <strong>der</strong><br />
Wahrheit am nächsten jene, die die Masse selbst sich zu eigen gemacht hat. Deshalb sind<br />
für die Wissenschaft so unfruchtbar die internationalen Sykophanten vom Typus Hippolyte<br />
Taine, die beim Studium großer Volksbewegungen die Stimme <strong>der</strong> Straße ignorieren<br />
und sorgfältigst den leeren, aus Isoliertheit und Angst geborenen Salonklatsch<br />
auswählen.<br />
Demonstranten belagerten wie<strong>der</strong> das Taurische Palais und for<strong>der</strong>ten Antwort. Im<br />
Augenblick <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> Kronstädter ließ irgendeine Gruppe Tschernow zu ihnen<br />
herausrufen. Die Stimmung <strong>der</strong> Masse erfassend, hielt <strong>der</strong> redselige Minister diesmal nur<br />
eine kurze Ansprache, streifte die Regierungskrise und bemerkte über die aus <strong>der</strong> Regierung<br />
ausgetretenen Kadetten verächtlich: »Glückliche Reise!« Er wurde durch Zwischenrufe<br />
unterbrochen: »Warum habt ihr es nicht früher gesagt?« Miljukow erzählt sogar, es<br />
habe »ein großgewachsener Arbeiter mit <strong>der</strong> Faust dicht vor dem Gesicht des Ministers<br />
gefuchtelt und besessen geschrien: "Nimm, Hundesohn, die Macht, wenn man sie dir<br />
gibt."« Wenn dies auch nichts mehr als eine Anekdote ist, gibt sie doch mit rauher<br />
Schärfe das Wesen <strong>der</strong> Julisituation wie<strong>der</strong>. Die Antworten Tschemows bieten kein<br />
Interesse, jedenfalls haben sie ihm die Kronstädter Herzen nicht erobert ... Schon nach<br />
zwei, drei Minuten stürzte jemand in den Sitzungssaal des Exekutivkomitees hinein mit<br />
dem Geschrei, die Matrosen hätten Tschernow verhaftet und wollten mit ihm abrechnen.<br />
In unbeschreiblicher Erregung kommandierte das Exekutivkomitee einige seiner angese-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 329
henen Mitglie<strong>der</strong>, ausschließlich Internationalisten und Bolschewiki, dem Minister zu<br />
Hilfe. Tschernow gab später vor <strong>der</strong> Regieruligskommission an, daß er, beim Verlassen<br />
<strong>der</strong> Tribüne, hinter den Säulen am Eingang eine feindliche Bewegung einiger Personen<br />
wahrgenommen hätte. »Sie umringten mich und ließen mich nicht zur Türe ... Eine<br />
verdächtige Person, die über die Matrosen, die mich festhielten, das Kommando führte,<br />
zeigte fortwährend auf das in <strong>der</strong> Nähe stehende Automobil ... In diesem Augenblick kam<br />
aus dem Taurischen Palais Trotzki an das Automobil heran, bestieg den Vor<strong>der</strong>teil des<br />
Wagens, in dem ich mich befand, und hielt eine kurze Ansprache.« Indem er empfahl,<br />
Tscherrnow freizulassen, for<strong>der</strong>te Trotzki jene, die dagegen seien, auf, die Hand zu<br />
erheben. »Keine Hand erhob sich; nun ging die Gruppe, die mich zum Automobil begleitet<br />
hatte, mit unzufriedener Miene auseinan<strong>der</strong>. Trotzki sagte, glaube ich: "Bürger<br />
Tschernow, es hin<strong>der</strong>t Sie niemand, frei zurückzukehren" ... Das Gesamtbild hinterließ<br />
bei mir keinen Zweifel darüber, daß es sich hier um einen ohne Wissen <strong>der</strong> Gesamtmasse<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und Matrosen im voraus von Dunkelmännern angestifteten Versuch handelte,<br />
nach herauszurufen und zu verhaften.«<br />
Eine Woche vor seiner Verhaftung sagte Trotzki in einer vereinigten Sitzung <strong>der</strong><br />
Exekutivkomitees: »Diese Tatsachen werden in die <strong>Geschichte</strong> eingehen, und wir wollen<br />
versuchen, sie so festzuhalten, wie sie sich wirklich abgespielt haben ... Ich sah, daß am<br />
Eingang ein Häuflein Nichtsnutze stand. Ich sagte zu Lunatscharski und Rjasanow, daß<br />
dies Geheimpolizisten seien und daß sie versuchen, ins Taurische Palais einzudringen«<br />
(Lunatscharski vom Platze aus: »Richtig«). »... Ich könnte sie in einer zehntausendköpfigen<br />
Menge wie<strong>der</strong>erkennen.« In seinen Aussagen vom 4. Juli, bereits aus <strong>der</strong> Einzelzelle<br />
des Kresty-Gefängnisses, schrieb Trotzki: »... Ich hatte anfangs beschlossen, gemeinsam<br />
mit Tschernow und jenen, die ihn verhaften wollten, im Automobil aus <strong>der</strong> Menge<br />
hinauszufahren, um Konflikte und Panik zu vermeiden. Aber <strong>der</strong> an mich heranstürzende,<br />
sehr erregte Unterleutnant zur See, Raskolnikow, rief: "Das ist unmöglich ... Wenn Sie<br />
mit Tschernow abfahren, wird man morgen sagen, die Kronstädter hätten ihn verhaftet.<br />
Man muß Tschernow sofort befreien." Sobald <strong>der</strong> Hornist die Menge zur Ruhe gebracht<br />
und mir die Möglichkeit gegeben hatte, eine kurze Ansprache zu halten, die mit <strong>der</strong><br />
Frage schloß: "Wer ist hier für Gewalt, <strong>der</strong> erhebe die Hand?", bekam Tschernow sofort<br />
die Möglichkeit, unbehin<strong>der</strong>t ins Palais zurückzukehren.«<br />
Die Aussagen zweier Zeugen, die gleichzeitig die Hauptbeteiligten des Vorfalls waren,<br />
erschöpfen die faktische Seite <strong>der</strong> Sache. Das hat jedoch die den Bolschewiki feindliche<br />
Presse nicht im geringsten gehin<strong>der</strong>t, den Zwischenfall mit Tschernow und das "Attentat"<br />
auf die Freiheit Kerenskis hinzustellen als die überzeugendsten Beweise für die Organisierung<br />
des bewaffneten Aufstandes durch die Bolschewiki. Es mangelte, beson<strong>der</strong>s in<br />
<strong>der</strong> mündlichen Agitation, auch nicht an Hinweisen darauf, daß Tschernows Verhaftung<br />
Trotzki geleitet hätte. Diese Version drang sogar bis ins Taurische Palais. Tschernow<br />
selbst, <strong>der</strong> im geheimen Untersuchungsdokument die Umstände seiner halbstündigen<br />
Haft <strong>der</strong> Wahrheit recht nah geschil<strong>der</strong>t hatte, enthielt sich jedoch jeglicher öffentlicher<br />
Kundgebung über dieses Thema, um seine Partei nicht zu hin<strong>der</strong>n, Entrüstung gegen die<br />
Bolschewiki zu säen. Außerdem gehörte Tschernow zu <strong>der</strong> Regierung, die Trotzki ins<br />
Kresty-Gefängnis setzte. Die Versöhnler könnten sich allerdings darauf berufen, daß das<br />
Häuflein dunkler Verschwörer ein solch freches Unterfangen, wie die Verhaftung des<br />
Ministers am hellichten Tage aus <strong>der</strong> Menge heraus, nie gewagt haben würde, wenn es<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 330
nicht hätte hoffen können, daß ihm die Feindseligkeit <strong>der</strong> Massen gegen den "Leidtragenden"<br />
genügende Deckung bieten würde. So war es auch bis zu einem gewissen Grade. Im<br />
Umkreise des Automobils hatte niemand aus eigener Initiative versucht, Tschernow zu<br />
befreien. Hätte man zur Ergänzung irgendwo auch noch Kerenski verhaftet, we<strong>der</strong> die<br />
Arbeiter noch die Soldaten würden getrauert haben. In diesem Sinne war eine moralische<br />
Beteiligung <strong>der</strong> Massen an den tatsächlichen und angeblichen Attentaten auf die sozialistischen<br />
Minister vorhanden und bildete den Stützpunkt für die Anklagen gegen die<br />
Kronstädter. Doch dieses freimütige Argument auszusprechen, hin<strong>der</strong>te die Versöhnler<br />
die Sorge um die Reste ihres demokratischen Prestiges: während sie sich feindselig<br />
gegen die Demonstranten abgrenzten, fuhren sie dessenungeachtet fort, im belagerten<br />
Taurischen Palais das System <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets zu repräsentieren.<br />
Gegen 8 Uhr abends machte General Polowzew telephonisch dem Exekutivkomitee die<br />
hoffnungverheißende Mitteilung: zwei Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften seien mit Geschützen<br />
unterwegs zum Taurischen Palais. Endlich! Aber die Hoffnungen waren auch diesmal<br />
trügerisch. Das Hin und Her des Telephongeklingels verdichtete nur die Panik: die<br />
Kosaken waren spurlos verschwunden, gleichsam mitsamt den Pferden, Sätteln und<br />
Schnellfeuergeschützen verdampft. Miljukow schreibt, gegen Abend hätten sich die<br />
»ersten Folgen <strong>der</strong> Regierungsappelle an die Truppen« zu zeigen begonnen: so eilte das<br />
176. Regiment angeblich dem Taurischen Palais zu Hilfe. Dieser dem Anschein nach so<br />
präzise Hinweis ist sehr beachtenswert zur Charakteristik jener Quiproquo, die unvermeidlich<br />
in <strong>der</strong> ersten Periode des Bürgerkrieges entstehen, wenn die Lager sich erst zu<br />
scheiden beginnen. Vor dem Taurischen Palais war tatsächlich ein Regiment in<br />
Marschordnung angekommen: Tornister und zusammengerollte Mäntel auf dem Rücken,<br />
Feldflasche und Kochgeschirr an <strong>der</strong> Seite. Die Soldaten waren unterwegs durchnäßt<br />
worden und müde: sie kamen aus Krassnoje Selo. Das eben war das 176. Regiment. Aber<br />
es hatte gar nicht vor, die Regierung zu retten: Das zu den Interrayonisten in Beziehung<br />
stehende Regiment war unter Führung zweier Soldaten Bolschewiki, Lewinson und<br />
Medwedjew, ausmarschiert, um für die Macht <strong>der</strong> Sowjets einzutreten. Den Führern <strong>der</strong><br />
Exekutivkomitees, die wie auf Kohlen saßen, war sofort gemeldet worden, vor den<br />
Fenstern lagere sich zur verdienten Ruhe ein von weither in voller Marschordnung mit<br />
Offizieren eingetroffenes Regiment. Dan, <strong>der</strong> die Uniform eines Militärarztes trug,<br />
wandte sich an den Kommandeur mit <strong>der</strong> Bitte, Wachen zum Schutze des Palais zu<br />
stellen. Die Wachen wurden tatsächlich aufgestellt. Dan hat dies wohl mit Genugtuung<br />
dem Präsidium mitgeteilt, von wo aus <strong>der</strong> Vorfall in die Zeitungsberichte gelangte.<br />
Suchanow höhnt in seinen "Aufzeichnungen" über den Gehorsam, mit dem das bolschewistische<br />
Regiment <strong>der</strong> Or<strong>der</strong> des menschewistischen Führers Folge geleistet hätte: ein<br />
weiterer Beweis für die "Sinnlosigkeit" <strong>der</strong> Julidemonstration! In Wirklichkeit verhielt<br />
sich die Sache einfacher und zugleich komplizierter. Um Wachen ersucht, wandte sich<br />
<strong>der</strong> Regimentskommandeur an den diensthabenden Gehilfen des Kommandanten, den<br />
jungen Leutnant Prigorowski. Unglücklicherweise war Prigorowski Bolschewik,<br />
Mitglied <strong>der</strong> Interrayonisten-Organisation, und er suchte sofort Rat bei Trotzki, <strong>der</strong><br />
gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Bolschewiki einen Beobachtungsposten in einem<br />
<strong>der</strong> Seitenzimmer des Palais unterhielt. Prigorowski wurde selbstverständlich <strong>der</strong> Rat<br />
erteilt, unverzüglich überall Wachen aufzustellen: es ist ja viel vorteilhafter, an den<br />
Eingängen und Ausgängen Freunde zu haben als Feinde. So beschützte das 176.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 331
Regiment, das gegen die Macht zu demonstrieren gekommen war, diese Macht gegen die<br />
Denionstranten. Würde es sich tatsächlich um einen Aufstand gehandelt haben, Leutnant<br />
Prigorowski hätte mühelos mit vier Soldaten im Rücken das gesamte Exekutivkomitee<br />
verhaften können. Doch dachte niemand an Verhaftung, die Soldaten des bolschewistischen<br />
Regiments erfüllten gewissenhaft ihren Wachdienst.<br />
Nachdem die Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften, das einzige Hin<strong>der</strong>nis auf dem Wege zum<br />
Taurischen Palais, hinweggefegt waren, schien vielen Demonstranten <strong>der</strong> Sieg gesichert.<br />
In Wirklichkeit saß das Haupthindemis im Taurischen Palais selbst. In <strong>der</strong> vereinigten<br />
Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees, die um 6 Uhr abends begann, waren neunzig Vertreter<br />
von vierundfünfzig Fabriken und Werkstätten anwesend. Die fünf Redner, die nach<br />
Übereinkunft das Wort erhielten, begannen mit einem Protest dagegen, daß die Demonstranten<br />
in den Aufrufen des Exekutivkomitees als Konterrevolutionäre gebrandmarkt<br />
werden. »lhr seht, was auf den Plakaten geschrieben steht«, sagte einer. »Das sind die<br />
von den Arbeitern angenommenen Beschlüsse ... Wir for<strong>der</strong>n das Abtreten <strong>der</strong> zehn<br />
Minister-Kapitalisten. Wir vertrauen dem Sowjet, aber nicht jenen, denen <strong>der</strong> Sowjet<br />
vertraut ... Wir for<strong>der</strong>n, daß unverzüglich <strong>der</strong> Grund und Boden beschlagnahmt undunverzüglich<br />
die Produktionskontrolle eingeführt wird, wir for<strong>der</strong>n den Kampf gegen den<br />
uns bedrohenden Hunger ...« Ein an<strong>der</strong>er ergänzte: »Ihr seht hier nicht eine Meuterei,<br />
son<strong>der</strong>n eine durchaus organisierte Aktion. Wir for<strong>der</strong>n den Übergang des Bodens an<br />
die Bauern. Wir for<strong>der</strong>n die Aufhebung <strong>der</strong> gegen die revolutionäre Armee gerichteten<br />
Befehle ... jetzt, wo die Kadetten abgelehnt haben, mit euch zu arbeiten, fragen wir euch,<br />
mit wem werdet ihr noch paktieren? Wir for<strong>der</strong>n, daß die Macht in die Hände <strong>der</strong><br />
Sowjets übergeht.« Die propagandistischen Parolen <strong>der</strong> Demonstration vom 18. Juni<br />
waren nunmehr ein bewaffnetes Ultimatum <strong>der</strong> Massen geworden. Die Versöhnler aber<br />
waren bereits mit zu schweren Ketten an den Wagen <strong>der</strong> Besitzenden geschmiedet. Die<br />
Macht <strong>der</strong> Sowjets? Aber das bedeutet ja vor allem kühne Friedenspolitik, Bruch mit den<br />
Verbündeten, Bruch mit <strong>der</strong> eigenen Bourgeoisie, völlige Isolierung, Untergang nach<br />
wenigen Wochen., Nein, die pflichtbewußte Demokratie wird den Weg <strong>der</strong> Abenteuer<br />
nicht betreten! »Die gegenwärtigen Verhältnisse«, sagte Zeretelli, »machen es in <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Atmosphäre unmöglich, irgendwelche neuen Beschlüsse durchzuführen.« Es<br />
gäbe deshalb nur einen Ausweg: »Die Regierung in <strong>der</strong> Zusammensetzung, in <strong>der</strong> sie<br />
geblieben ist, anzuerkennen ... Einen außerordentlichen Sowjetkongreß in zwei Wochen<br />
anzuberaumen .. . an einem Ort, wo er ungehin<strong>der</strong>t arbeiten könnte, am besten in<br />
Moskau.«<br />
Doch <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Verhandlungen wird dauernd unterbrochen. An die Pforte des<br />
Taurischen Palais klopfen die Putilower: sie sind erst gegen Abend angelangt, müde,<br />
gereizt, in äußerster Erregung. »Zeretelli, her mit Zeretelli!« Die dreißigtausendköpfige<br />
Menge schickt ihre Vertreter ins Palais, einer ruft ihnen nach: kommt Zeretelli nicht<br />
freiwillig, wird man ihn mit Gewalt herausholen müssen. Von <strong>der</strong> Drohung zur Tat ist es<br />
noch weit, doch nimmt die Sache immerhin eine zu scharfe Wendung, und die Bolschewiki<br />
beeilen sich, anzugreifen. Sinowjew erzählte später: »Unsere Genossen schlugen<br />
mir vor, zu den Putilowern hinauszugehen ... Ein Meer von Köpfen, wie ich es noch nie<br />
gesehen hatte. Einige zehntausend Menschen drängten sich aneinan<strong>der</strong>. Schreie<br />
"Zeretelli" dauerten an ... Ich begann: "Für Zeretelli bin ich zu euch gekommen ..."<br />
Lachen. Das brachte die Stimmung zum Wenden. Ich konnte eine ziemlich große Rede<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 332
halten. Zum Schluß for<strong>der</strong>te ich auch dieses Auditorium auf, unverzüglich unter<br />
Wahrung völliger Ordnung friedlich auseinan<strong>der</strong>zugehen und sich unter keinen Umständen<br />
zu irgendwelchen aggressiven Handlungen provozieren zu lassen. Die Versammelten<br />
klatschten stürmisch Beifall, stellen sich in Reihen auf und beginnen abzumarschieren.«<br />
Diese Episode wi<strong>der</strong>spiegelt am besten sowohl die Schärfe <strong>der</strong> Unzufriedenheit <strong>der</strong><br />
Massen, wie das Fehlen eines Offensivplanes bei ihnen, wie auch die wirkliche Rolle <strong>der</strong><br />
Partei in den Juliereignissen.<br />
Während Sinowjew sich mit den Putilowern auf <strong>der</strong> Straße auseinan<strong>der</strong>setzte, stürmte<br />
eine zahlreiche Gruppe Putilow-Delegierter, etliche mit Gewehren, in den Sitzungssaal.<br />
Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutivkomitees springen von den Plätzen auf. »Manche offenbaren<br />
nicht genügend Mut und Selbstbeherrschung«, schreibt Suchanow, <strong>der</strong> eine grelle Schil<strong>der</strong>ung<br />
dieses dramatischen Moments hinterlassen hat. Einer <strong>der</strong> Arbeiter, »ein klassischer<br />
Sansculotte, in Mütze und kurzer blauer Bluse ohne Gürtel, die Flinte in <strong>der</strong><br />
Hand«, springt bebend vor Erregung und Zorn auf die Rednertribüne ... »Genossen!<br />
Sollen wir Arbeiter noch lange den Verrat über uns ergehen lassen? Ihr trefft Abmachungen<br />
mit <strong>der</strong> Bourgeoisie und den Gutsbesitzern ... Wir sind hier dreißigtausend Putilower<br />
Arbeiter ... Wir werden unseren Willen durchsetzen!« Tschcheidse, vor dessen Nase das<br />
Gewehr tanzt, bewahrt Haltung. Sich gefaßt von seinem Platze aus vorbeugend, steckte<br />
er in die bebende Hand des Arbeiters einen gedruckten Aufruf: »Hier, Genosse, bitte,<br />
nehmen Sie, und lesen Sie. Da ist gesagt, was die Putilower Genossen zu tun haben ... «<br />
In dem Aufruf war nichts an<strong>der</strong>es gesagt, als daß die Demonstranten sich heimzubegeben<br />
hätten, an<strong>der</strong>nfalls wären sie Verräter an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Was blieb den Menschewiki<br />
auch an<strong>der</strong>es zu sagen übrig?<br />
In <strong>der</strong> Agitation vor den Mauern des Taurischen Palais, wie überhaupt in dem Agitationswirbel<br />
jener Periode, nahm einen großen Platz Sinowjew ein, ein Redner von ausnehmen<strong>der</strong><br />
Stärke. Seine hohe Tenorstimme verblüffte im ersten Moment, bestach dann<br />
durch ihre eigenartige Musik. Sinowjew war geborener Agitator. Er war fähig, sich von<br />
<strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Massen anstecken zu lassen, ihre Wallungen mitzuerleben und für ihre<br />
Gefühle und Gedanken vielleicht einen etwas verschwommenen, aber hinreißenden<br />
Ausdruck zu finden. Die Gegner nannten Sinowjew den größten Demagogen unter den<br />
Bolschewiki. Das war <strong>der</strong> Tribut, den sie gewöhnlich seinem stärksten Zuge zollten, das<br />
heißt seiner Fähigkeit, in die Seele des Demos einzudringen und auf <strong>der</strong>en Saiten zu<br />
spielen, Es läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß Sinowjew, <strong>der</strong> nur Agitator und kein<br />
Theoretiker, kein revolutionärer Stratege war, hielt ihn äußere Disziplin nicht zurück,<br />
leicht auf den Weg <strong>der</strong> Demagogie hinabglitt, aber dann nicht im spießbürgerlichen,<br />
son<strong>der</strong>n im wissenschaftlichen Sinne dieses Wortes, das heißt er neigte dazu, dauernde<br />
Interessen im Namen von Augenblickserfolgen preiszugeben. Sinowjews agitatorische<br />
Feinfühligkeit machte ihn zu einem äußerst wertvollen Berater, wo es um konjunkturmäßige<br />
politische Bewertungen, aber nicht um Tieferes ging. In Parteiversammlungen<br />
konnte er überzeugen, gewinnen, bezaubern, kam er mit einer fertigen politischen, in<br />
Massenmeetings überprüften, gleichsam von Hoffnungen und Haß <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Soldaten gesättigten Idee. An<strong>der</strong>erseits besaß Sinowjew die Fähigkeit, in feindlicher<br />
Versammlung, sogar im damaligen Exekutivkomitee, dem extremsten und aufwühlendsten<br />
Gedanken nebelhafte, einschmeichelnde Form zu verleihen und in die Köpfe jener<br />
einzudringen, die ihm mit vorgefaßtem Mißtrauen begegneten. Um solche unschätzbare<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 333
Resultate zu erzielen, genügte ihm das bloße Bewußtsein seines Rechtesnicht: er<br />
brauchte die beruhigende Gewißheit, daß die politische Verantwortung durch eine<br />
sichere und feste Hand von ihm genommen war. Diese Gewißheit pflegte ihm Lenin zu<br />
geben. Mit einer fertigen strategischen Formel bewaffnet, die den Kern <strong>der</strong> Frage<br />
aufdeckte, füllte sie Sinowjew treffend und feinfühlig mit frischen, eben erst auf <strong>der</strong><br />
Straße, in <strong>der</strong> Fabrik o<strong>der</strong> Kaserne aufgegriffenen Rufen, Protesten, For<strong>der</strong>ungen. In<br />
solchen Momenten war er ein idealer Verniittlungsmechanismus zwischen Lenin und <strong>der</strong><br />
Masse, teils auch zwischen <strong>der</strong> Masse und Lenin. Seinein Lehrer folgte Sinowjew immer,<br />
mit Ausnahme weniger Fälle; doch die Stunde <strong>der</strong> Meinungsverschiedenheiten pflegte<br />
gerade dann einzutreten, wenn sich das Schicksal <strong>der</strong> Partei, <strong>der</strong> Klasse, des Landes<br />
entschied. Dem Agitator <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> fehlte revolutionärer Charakter. Sofern es um<br />
die Gewinnung von Köpfen und Seelen ging, blieb Sinowjew unermüdlicher Kämpfer.<br />
Doch verlor er sofort die Kampfsicherheit, war er von Angesicht zu Angesicht vor die<br />
Notwendigkeit einer Tat gestellt. Da prallte er vor <strong>der</strong> Masse zurück, wie auch vor Lenin,<br />
reagierte nur auf die Stimme <strong>der</strong> Unentschlossenheit, griff Zweifel auf, sah nur Hin<strong>der</strong>nisse,<br />
und seine einschmeichelnde, fast weibliche Stimme verlor die Überzeugungskraft<br />
und verriet innere Schwäche. Vor den Mauern des Taurischen Palais in den Julitagen war<br />
Sinowjew äußerst aktiv, findig und stark. Er steigerte bis zu den höchsten Noten die<br />
Erregung <strong>der</strong> Massen, - nicht um zu entscheidenden Taten aufzurufen, son<strong>der</strong>n im<br />
Gegenteil, um davon abzuhalten. Das entsprach dem Augenblick und <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong><br />
Partei. Sinowjew war da völlig in seinem Element.<br />
Die Schlacht auf dem Litejny brachte in die Entwicklung <strong>der</strong> Demonstration einen<br />
schroffen Umschwung. Niemand betrachtete mehr von Fenstern und Balkonen aus den<br />
Zug. Das soli<strong>der</strong>e Publikum verließ, die Bahnhöfe belagernd, die Stadt. Der Straßenkampf<br />
verwandelte sich in vereinzelte Zusammenstöße ohne bestimmte Ziele. In den<br />
Nachtstunden gab es Handgemenge zwischen Demonstranten und Patrioten, regellose<br />
Entwaffnungen, Wan<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gewehre von Hand zu Hand. Gruppen von Soldaten außer<br />
Ordnung geratener Regimenter gingen getrennt vor. »Dunkle Elemente und Provokateure<br />
machten sich an sie heran und ermunterten sie zu anarchischen Taten«, fügt Podwojski<br />
hinzu. Auf <strong>der</strong> Suche nach den Schuldigen <strong>der</strong> Schießerei aus den Häusern nahmen<br />
Matrosen- und Soldatengruppen allgemeine Haussuchungen vor. Unter dem Vorwand<br />
von Haussuchungen brachen hie und da Plün<strong>der</strong>ungen aus. An<strong>der</strong>erseits begannen auch<br />
Pogromhandlungen. Krämer stürzten sich in jenen Stadtteilen, wo sie sich sicher fühlten,<br />
wutentbrannt auf Arbeiter und verprügelten sie erbarmungslos. »Unter Rufen: "Schlag<br />
die Juden und die Bolschewiki! Ins Wasser nüt ihnen!"«, erzählt Afanassjew, ein Arbeiter<br />
<strong>der</strong> Fabrik Nowi Lessner, »stürzte sich auf uns eine Menge und verprügelte uns<br />
gehörig.« Eines <strong>der</strong> Opfer starb im Krankenhaus, den verprügelten und blutenden<br />
Afanassjew selbst zogen Matrosen aus dem Jekaterininski-Kanal heraus ...<br />
Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines<br />
praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
beschloß, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch <strong>der</strong> Demonstration aufzurufen.<br />
jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf fast keinen<br />
Wi<strong>der</strong>stand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück<br />
und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wie<strong>der</strong> aufzunehmen. Sie<br />
fühlten nun, daß es sich mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 334
gedacht.<br />
Die Belagerung des Taurischen Palais war endgültig aufgehoben, die anliegenden<br />
Straßen waren leer. Aber das Wachen <strong>der</strong> Exekutivkomitees dauerte an, mit Pausen,<br />
schleppenden Reden, ohne Sinn und Zweck. Erst später stellte sich heraus, daß die<br />
Versöhnler auf etwas warteten. In den Nebenräumen plagten sich noch immer Delegierte<br />
von Fabriken und Regimentem ab. »Es war schon lange nach Mittemacht«, erzählt<br />
Metelew, »und wir alle warteten noch immer auf "Beschlüsse" ... Gequält von Müdigkeit<br />
und Hunger wan<strong>der</strong>ten wir durch den Alexandrowski-Saal ... Um 4 Uhr morgens zum 5.<br />
Juli wird unserem Warten ein Ende bereitet ... Durch die geöffneten Tore <strong>der</strong> Haupteinfahrt<br />
des Palais stürzen unter Gepolter bewaffnete Offiziere und Soldaten.« Das ganze<br />
Gebäude erdröhnt von blechernen Tönen <strong>der</strong> Marseillaise. Das Stampfen <strong>der</strong> Füße und<br />
<strong>der</strong> Lärm <strong>der</strong> Instrumente in dieser frühen Dämmerstunde rufen im Saal außerordentliche<br />
Erregung hervor. Die Deputierten springen von ihren Plätzen auf Neue Gefahr? Aber auf<br />
<strong>der</strong> Tribüne ist Dan ... »Genossen«, verkündet er, »beruhigt euch! Keine Gefahr! Es sind<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> treue Regimenter angekommen.« Ja, es sind endlich die lang erwarteten<br />
treuen Truppen eingetroffen. Sie besetzen die Durchgänge, fallen wütend über die<br />
wenigen im Palais noch verbliebenen Arbeiter her, nehmen die Waffen denen weg, die<br />
noch welche haben, verhaften, führen ab. Die Tribüne besteigt Leutnant Kutschin, ein<br />
angesehener Menschewik, in Felduniform. Der Vorsitzende Dan umarmt ihn unter<br />
Siegesklängen des Orchesters. Japsend vor Begeisterung und die Linken mit triumphierenden<br />
Blicken in Staub verwandelnd, fassen die Versöhnler einan<strong>der</strong> bei den Händen,<br />
öffnen weit die Mün<strong>der</strong> und ergießen ihren Enthusiasmus in die Klänge <strong>der</strong> Marseillaise.<br />
»Eine klassische Szene des Beginns <strong>der</strong> Konterrevolution«, wirft zornig Martow hin, <strong>der</strong><br />
vieles zu beobachten und zu durchschauen wußte. Der politische Sinn <strong>der</strong> Szene, die<br />
Suchanow festgehalten hat, wird noch bedeutsamer, erinnert man daran, daß Martow <strong>der</strong><br />
gleichen Partei angehörte wie Dan, für den diese Szene <strong>der</strong> höchste Triumph <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
war.<br />
Erst jetzt, die sprudelnde Freude <strong>der</strong> Mehrheit beobachtend, begann <strong>der</strong> linke Flügel<br />
richtig zu erfassen, wie isoliert das oberste Organ <strong>der</strong> offiziellen Demokratie gewesen,<br />
als die wahre Demokratie auf die Straße hinausging. Im Laufe von sechsunddreißig<br />
Stunden verschwanden diese Menschen einer nach dem an<strong>der</strong>en hinter die Kulissen, um<br />
sich von <strong>der</strong> Telephonzelle aus mit dem Stab, mit Kerenski an <strong>der</strong> Front, in Verbindung<br />
zu setzen, Truppen anzufor<strong>der</strong>n, Hilfe zu rufen, zu überreden, zu flehen, wie<strong>der</strong> und<br />
wie<strong>der</strong> Agitatoren zu entsenden und wie<strong>der</strong> zu warten. Die Gefahr war vorüber, doch <strong>der</strong><br />
Bann <strong>der</strong> Angst geblieben. Und das Stampfen <strong>der</strong> "Treuen" um 5 Uhr morgens klang in<br />
ihren Ohren wie eine Befreiungssymphonie. Von <strong>der</strong> Tribüne ertönten endlich offenherzige<br />
Reden über die glücklich unterdrückte bewaffnete Meuterei und die Notwendigkeit,<br />
diesmal mit den Bolschewiki endgültig abzurechnen. Die Abteilung, die in das Taurische<br />
Palais einmarschierte, war nicht von <strong>der</strong> Front gekommen, wie es vielen in <strong>der</strong> Hitze<br />
schien: sie war aus <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison, hauptsächlich aus den drei rückständigsten<br />
Gardebataillonen, <strong>der</strong> Preobraschenski-, Semjonowski- und Ismajlowski-Regimenter,<br />
ausgeson<strong>der</strong>t worden. Am 3. Juli hatten sie sich für neutral erklärt. Vergebens hatte man<br />
versucht, sie mit <strong>der</strong> Autorität. <strong>der</strong> Regierung und des Exekutivkomitees einzufangen: die<br />
Soldaten saßen düster in den Kasemen, warteten. Erst in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 4. Juli<br />
entdeckten die Vorgesetzten ein stark wirkendes Mittel: man zeigte den Preobraschens-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 335
kern Dokumente, die klar wie zwei mal zwei nachwiesen, daß Lenin - ein deutscher<br />
Spion sei. Das wirkte. Die Kunde lief durch die Regimenter. Offiziere, Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Regimentskomitees, Agitatoren des Exekutivkomitees arbeiteten mit Volldampf. In <strong>der</strong><br />
Stimmung <strong>der</strong> neutralen Bataillone vollzog sich ein Umschwung. Gegen Morgengrauen,<br />
als man ihrer bereits nicht mehr bedurfte, gelang es, sie zu versammeln und durch die<br />
menschenleeren Straßen zum vereinsamten Taurischen Palais zu fuhren. Die Marseillaise<br />
spielte das Orchester des Ismajlowski-Regiments, desselben Regiments, dem als einem<br />
<strong>der</strong> reaktionärsten am 3. Dezember 1905 die Aufgabe übertragen worden war, den ersten<br />
Petrogra<strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten, <strong>der</strong> unter Trotzkis Vorsitz tagte, zu<br />
verhaften. Der blinde Regisseur historischer Inszenierungen erreicht auf Schritt und Tritt<br />
verblüffende Theatereffekte, ohne sie auch nur im geringsten zu suchen: er lockert<br />
einfach <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge die Zügel.<br />
Nachdem die Straßen sich von den Massen geleert hatten, reckte die junge <strong>Revolution</strong>sregierung<br />
ihre podagrischen Glie<strong>der</strong>: Arbeitervertreter wurden verhaftet, Waffen<br />
beschlagnahmt, ein Stadtteil nach dem an<strong>der</strong>en zerniert. Gegen 6 Uhr morgens hielt vor<br />
dem Redaktionsgebäude <strong>der</strong> 'Prawda' ein Automobil, beladen mit Junkern und Soldaten<br />
mit Maschinengewehr, das man sogleich in einem Fenster aufstellte. Nach dem Abzug<br />
<strong>der</strong> ungebetenen Gäste bot die Redaktion ein Bild <strong>der</strong> Verwüstutig dar: aufgebrochene<br />
Schubladen, mit zerfetzten Manuskripten bedeckter Fußboden, abgerissene Telephone.<br />
Die Diensthabenden und die Redaktions- und Büroangestellten hatte man verprügelt und<br />
verhaftet. Noch schlimmer war die Verwüstung in <strong>der</strong> Druckerei, für die die Arbeiter<br />
während <strong>der</strong> letzten drei Monate Geld gesammelt hatten: die Rotationsmaschinen<br />
demoliert, die Monotyps zerstört, die Setzmaschinen zertrümmert. Zu Unrecht hatten die<br />
Bolschewiki die Kerenski-Regierung des Mangels an Energie beschuldigt!<br />
»Die Straßen sahen, allgemein gesprochen, wie<strong>der</strong> normal aus«, schreibt Suchanow.<br />
»Zusammenrottungen und Straßenmeetings gab es fast nicht. Die Geschäfte waren<br />
beinah alle geöffnet.« Seit dem Morgen wird ein bolschewistischer Aufruf zum Abbruch<br />
<strong>der</strong> Demonstration verbreitet, das letzte Produkt <strong>der</strong> vernichteten Druckerei. Kosaken<br />
und Junker verhaften in den Straßen Matrosen, Soldaten und Arbeiter und schicken sie in<br />
Gefängnisse und Hauptwachen. In den Läden und auf den Bürgersteigen spricht man<br />
vom deutschen Geld. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> ein Wort zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki sagt, wird verhaftet.<br />
»Man darf schon nicht mehr erklären, daß Lenin ein ehrlicher Mann ist: man wird ins<br />
Kommissariat abgeführt.« Suchanow tritt, wie stets, als aufmerksamer Beobachter dessen<br />
auf, was in den Straßen <strong>der</strong> Bourgeoisie, <strong>der</strong> Intelligenz und des Kleinbürgertums sich<br />
abspielt. An<strong>der</strong>s aber sehen die Arbeiterviertel aus. Fabriken und Werkstätten arbeiten<br />
noch nicht. Die Stimmung ist gespannt. Es kursieren Gerüchte, von <strong>der</strong> Front seien<br />
Truppen angekommen. Die Straßen des Wyborger Bezirks sind von Truppen belagert,<br />
die darüber diskutieren, was im Falle eines Überfalls zu geschehen habe. »Rotgardisten<br />
und überhaupt Fabrikjugend«, erzählt Metelew, »bereiten sich darauf vor, in die Peter-<br />
Paul-Festung zur Unterstützung <strong>der</strong> dort belagerten Abteilungen einzudringen.<br />
Handgranaten in Taschen, Stiefeln, unter den Blusen verborgen, begeben sie sich in<br />
Booten, häufiger über die Brücken auf das an<strong>der</strong>e Ufer.« Der Setzer Smirnow aus dem<br />
Kolomenski-Viertel erinnert sich: »Ich sah, wie auf <strong>der</strong> Newa Schlepper mit Gardemarine<br />
aus Du<strong>der</strong>hof und Oranienbaum ankamen. Gegen 2 Uhr begann sich die Lage in<br />
schlimmer Richtung zu klären ... Ich sah, wie Matrosen einzeln durch Hintergassen nach<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 336
Kronstadt zurückkehrten ... Man verbreitete die Version, alle Bolschewiki seien deutsche<br />
Spione. Eine nie<strong>der</strong>trächtige Hetze setzte ein ...« Geschichtschreiber Miljukow resümiert<br />
mit Befriedigung: »Stimmung und Zusammensetzung des Publikums auf den Straßen<br />
hatten sich völlig verän<strong>der</strong>t. Gegen Abend war Petrograd völlig ruhig.«<br />
Solange die Truppen von <strong>der</strong> Front noch nicht eingetroffen waren, fuhr <strong>der</strong> Kreisstab<br />
unter politischer Mitwirkung <strong>der</strong> Versöhnler fort, seine Absichten zu verschleiem. Am<br />
Tage bemühten sich Mitglie<strong>der</strong> des Exekutivkomitees mit Liber an <strong>der</strong> Spitze ins Palais<br />
Kschessinskaja zur Beratung mit den bolschewistischen Führern: schon dieser Besuch<br />
allein sollte friedlichste Gefühle bezeugen. Das getroffene Übereinkommen verpflichtete<br />
die Bolschewiki, die Matrosen nach Kronstadt zurückzuführen, die Maschinengewehrkompanie<br />
aus <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung herauszubringen, die Panzerautos und Wachen von<br />
ihren Posten zu entfernen. Die Regierung ihrerseits versprach, keinerlei Pogrome, und<br />
Repressalien gegen die Bolschewiki zu dulden und alle Verhafteten mit Ausnahme <strong>der</strong><br />
wegen krimineller Vergehen festgenommenen freizulassen. Doch das Übereinkomnien<br />
währte nicht lange. Je mehr die Gerüchte über das deutsche Geld und die von <strong>der</strong> Front<br />
sich nähernden Truppen um sich griffen, um so mehr Truppenteile und -teilchen <strong>der</strong><br />
Garnison entsannen sich ihrer Treue zu Demokratie und Kerenski. Sie schickten<br />
Delegierte ins Taurische Palais o<strong>der</strong> in den Kreisstab. Endlich begannen wirklich Staffeln<br />
von <strong>der</strong> Front einzutreffen. Die Stimmung in den Versöhnlersphären wurde von Stunde<br />
zu Stunde rasen<strong>der</strong>. Die von <strong>der</strong> Front ankommenden Truppen waren darauf gefaßt, die<br />
Hauptstadt in blutigem Kampfe den Agenten des Kaisers entreißen zu müssen. Nun, da<br />
es sich herausstellte, daß an Truppen kein Bedürfnis bestand, mußte man <strong>der</strong>en Anfor<strong>der</strong>ung<br />
rechtfertigen. Um nicht selbst in Verdacht zu geraten, waren die Versöhnler aus<br />
allen Kräften beniüht, den Kommandeuren zu beweisen, daß Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
mit ihnen zum gleichen Lager gehörten und die Bolschewiki <strong>der</strong> gemeinsame<br />
Feind seien. Als Kamenjew den Versuch machte, die Mitglie<strong>der</strong> des Präsidiums des<br />
Exekutivkomitees an das vor wenigen Stunden getroffene Abkommen zu erinnern,<br />
antwortete Liber im Tone eines eisernen Staatsmannes: »Jetzt hat sich das Kräfteverhältnis<br />
geän<strong>der</strong>t.« Aus den populären Reden Lassalles wußte Liber, daß die Kanone ein<br />
wichtiger Bestandteil einer Konstitution ist. Eine Delegation Kronstädter mit Raskolnikow<br />
an <strong>der</strong> Spitze wurde wie<strong>der</strong>holt vor die Militärische Kommission des Exekutivkomitees<br />
geladen, wo die For<strong>der</strong>ungen, von Stunde zu Stunde sich steigernd, in einem<br />
Ultimatum Libers gipfelten: unverzüglich in die Entwaffnung <strong>der</strong> Kronstädter einzuwilligen.<br />
»Nachdem wir die Militärische Kommission verlassen hatten«, erzählt Raskolnikow,<br />
»nahmen wir unsere Beratungen mit Trotzki und Kamenjew wie<strong>der</strong> auf. Lew Davidowitsch<br />
(Trotzki) empfahl, unverzüglich und geheim die Kronstädter nach Hause zu schikken.<br />
Es wurde <strong>der</strong> Beschluß gefaßt, Genossen in die Kasernen zu entsenden und die<br />
Kronstädter vor <strong>der</strong> drohenden gewaltsamen Entwaffnung zu warnen.« Die Mehrzahl <strong>der</strong><br />
Kronstädter reiste rechtzeitig ab; es blieben nur kleine Abteilungen in <strong>der</strong> Villa<br />
Kschessinskaja und <strong>der</strong> Peter-PaulFestung.<br />
Mit Wissen und Zustimmung <strong>der</strong> Minister-<strong>Sozialisten</strong> erteilte Fürst Lwow schon ani 4.<br />
Juli dem General Polowzew den schriftlichen Befehl: »Die Bolscliewiki zu verhaften, die<br />
das Haus Kschessinskaja besetzt halten, es zu säubern und mit Truppen zu belegen.«<br />
jetzt, nach <strong>der</strong> Zertrümmerung <strong>der</strong> Redaktion und <strong>der</strong> Druckerei, erhob sich die Frage<br />
nach dem Schicksal des Zentralquartiers <strong>der</strong> Bolschewiki in aller Schärfe. Man mußte die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 337
Villa in Verteidigungszustand bringen. Zum Kommandanten des Gebäudes ernannte die<br />
Militärische Organisation Raskolnikow. Er verstand seine Aufgabe weitgehend auf<br />
Kronstädter Art, verschickte Auffor<strong>der</strong>ungen zur Lieferung von Kanonen und sogar zur<br />
Entsendung eines kleinen Kriegsschiffes in die Newamündung. Diesen seinen Schritt<br />
erklärte Raskolnikow später folgen<strong>der</strong>maßen: »Gewiß wurden meinerseits Kriegsvorbereitungen<br />
getroffen, aber nur zum Zwecke <strong>der</strong> Selbstverteidigung, da es in <strong>der</strong> Luft nicht<br />
nur nach Pulver, son<strong>der</strong>n auch nach Pogromen roch ... Ich glaube nicht ohne Grund<br />
angenommen zu haben, daß es genügte, ein gutes Schiff in die Newamündung zu bringen,<br />
damit die Entschlossenheit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bedeutend sinke.« Das alles ist<br />
ziemlich unklar und nicht sehr ernst. Man darf eher annehmen, daß in den Tagesstunden<br />
des 5. Juli die Führer <strong>der</strong> Militärischen Organisation und Raskolnikow mit ihren den<br />
Umschwung <strong>der</strong> Lage noch nicht völlig richtig eingeschätzt hatten und daß in dem<br />
Augenblick, wo die bewaffnete Demonstration eiligst den Rückzug antreten niußte, um<br />
sich nicht in einen vom Feinde aufgezwungeiien bewaffneten Aufstand zu verwandeln,<br />
manch einer von den militärischen Leitern einige zufällige und unüberlegte Schritte<br />
vorwärts versuchte. Die jungen Kronstädter Führer hatten nicht zuni erstenmal das Maß<br />
zu voll genommen. Aber kann man eine <strong>Revolution</strong> ohne Teilnahme von Menschen<br />
machen, die das Maß zu voll nehmen? Ünd bildet nicht ein gewisser Prozentsatz Leichtsinn<br />
einen notwendigen Bestandteil je<strong>der</strong> großen menschlichen Tat? Diesmal<br />
beschränkte sich alles nur auf Befehle, die außerdem von Raskolnikow selbst bald aufgehoben<br />
wurden. In <strong>der</strong> Villa liefen indes immer beunruhigen<strong>der</strong>e Nachrichten zusammen:<br />
jemand wollte in den Fenstern eines auf dem an<strong>der</strong>en Newaufer gelegenen Hauses gegen<br />
das Haus Kschessinskaja gerichtete Maschinengewehre bemerkt haben; ein an<strong>der</strong>er sah<br />
eine Panzerautokolonne in die gleiche Richtung fahren; ein dritter berichtete über<br />
nahende Kosakenpatrouillen. Zum Kreiskommandierenden wurden zwecks Verhandlungen<br />
zwei Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Militärischen Organisation entsandt. Polowzew versicherte den<br />
Parlamentären, die Zerstörung <strong>der</strong> »Prawda« sei ohne sein Wissen geschehen und er<br />
bereite gegen die Militärische Organisation keinerlei Repressalien vor. In Wirklichkeit<br />
wartete er nur auf genügende Verstärkung von <strong>der</strong> Front.<br />
Während Kronstadt schon den Rückzug antrat, bereitete sich die Baltische Flotte in<br />
ihrer Gesamtheit erst zum Angriff vor. In den finnischen Gewässern stand <strong>der</strong> Hauptteil<br />
<strong>der</strong> Flotte mit einer Gesamtzahl von annähernd siebzigtausend Seeleuten; in Finnland<br />
war außerdem ein Armeekorps untergebracht, auf einer Helsingforser Hafenwerft arbeiteten<br />
etwa zehntausend russische Arbeiter. Das war eine imposante Faust <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Der Druck <strong>der</strong> Matrosen und Soldaten war <strong>der</strong>art unüberwindlich, daß sich sogar das<br />
Helsingforser Komitee <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre gegen die Koalition aussprach. Infolgedessen<br />
for<strong>der</strong>ten sämtliche Sowjetorgane <strong>der</strong> Flotte und <strong>der</strong> Armee in Finnland einmütig,<br />
daß das Zentral-Exekutivkomitee die Macht in seine Hände nähme. Zur Unterstützung<br />
ihrer For<strong>der</strong>ung waren die baltischen Seeleute bereit, jeden Moment zur Newamündung<br />
auszurücken; es hielt sie indes davon die Befürchtung ab, die Linie <strong>der</strong> Meeresverteidigung<br />
zu schwächen und <strong>der</strong> deutschen Flotte den Überfall auf Kronstadt und Petrograd<br />
zu erleichtern. Doch da geschah etwas ganz Unvorhergesehenes. Das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />
Baltischen Flotte <strong>der</strong> sogenannte Zentrobalt - rief für den 4. Juli eine außerordentliche<br />
Sitzung <strong>der</strong> Schiffkomitees zusammen, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorsitzende, Dybenko, zwei soeben<br />
vom Flottenkommandeur erhaltene Geheimbefehle, versehen mit <strong>der</strong> Unterschrift des<br />
Gehilfen des Marineministers, Dudarew, bekanntgab: <strong>der</strong> erste verpflichtete Admiral<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 338
Wer<strong>der</strong>ewski, vier Torpedoboote nach Petrograd zu schicken, um mit Gewalt die<br />
Landung <strong>der</strong> Meuterer aus Kronstadt zu verhin<strong>der</strong>n; <strong>der</strong> zweite verlangte vom Flottenkommandeur,<br />
unter keinen Umständen die Ausfahrt <strong>der</strong> Schiffe aus Helsingfors nach<br />
Kronstadt zuzulassen und auch vor <strong>der</strong> Versenkung <strong>der</strong> ungehorsamen Schiffe durch<br />
Unterseeboote nicht zurückzuschrecken. Zwischen zwei Feuer geraten und vor allem um<br />
die Erhaltung des eigenen Kopfes besorgt, griff <strong>der</strong> Admiral vor und übergab dem<br />
Zentrobalt die Telegramme mit <strong>der</strong> Erklärung, den Befehl auch dann nicht erfüllen zu<br />
wollen, wenn <strong>der</strong> Zentrobalt seinen Stempel darauf geben würde. Das Verlesen <strong>der</strong><br />
Telegramme machte auf die Seeleute einen nie<strong>der</strong>schmettemden Eindruck. Zwar hatten<br />
sie bei verschiedenen Anlässen auf Kerenski und die Versöhnler geschinipft. Aber das<br />
war in ihren Augen ein innerer Sowjetkampf gewesen. Gehörte doch die Mehrheit des<br />
Zentral-Exekutivkomitees den gleichen Parteien an wie die des Distriktkomitees<br />
Finnlands, das sich soeben für die Macht <strong>der</strong> Sowjets ausgesprochen hatte. Es war klar:<br />
we<strong>der</strong> Menschewiki noch Sozialrevolutionäre konnten die Versenkung von Schiffen<br />
gutheißen, die für die Macht des Exekutivkomitees demonstrieren. Wie durfte <strong>der</strong> alte<br />
Seeoffizier Dudarew sich in den familiären Sowjetstreit einmischen, um diesen in eine<br />
Seeschlacht zu verwandeln? Gestern noch galten offiziell die großen Schiffe im Gegensatz<br />
zu den rückständigen Torpedobooten und den von <strong>der</strong> Propaganda kaum berührten<br />
Unterseebooten als die Stütze <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Gehen etwa die Behörden jetzt ernsthaft<br />
daran, die Schiffe mit Hilfe von Unterseebooten zu versenken? Diese Tatsachen wollten<br />
in die harten Matrosenschädel nicht hinein. Der Befehl, <strong>der</strong> ihnen nicht ohne Grund ein<br />
Alpdruck schien, war jedoch die rechtmäßige Julifrucht <strong>der</strong> Märzsaat. Bereits seit April<br />
hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre an die Provinz gegen Petrograd zu appellieren<br />
begonnen, an die Soldaten gegen die Arbeiter, an die Kavallerie gegen die Maschinengewehrschützen.<br />
Sie gaben den Kompanien privilegiertere Vertretungen in den<br />
Sowjets als den Fabriken; begünstigten die kleinen, vereinzelten Betriebe gegenüber den<br />
Metallgiganten. Verkörperung des gestrigen Tages, suchten sie Schutz bei Rückständigkeitjeglicher<br />
Art. Den Boden unter ihren Füßen verlierend, hetzten sie die Arrieregarde<br />
gegen die Avantgarde. Die Politik hat ihre eigene Logik, beson<strong>der</strong>s in Zeiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Von allen Seiten bedrängt, sahen sich die Versöhnler gezwungen, General<br />
Wer<strong>der</strong>ewski zu beauftragen, die fortgeschrittensten Schiffe zu versenken. Zum Unglück<br />
für die Versöhnler waren die Zurückgebliebenen, auf die sie sich stützen wollten, immer<br />
mehr bestrebt, sich den Fortgeschnittenen anzugleichen: die Kommandos <strong>der</strong> Unterseeboote<br />
waren über Dudarews Befehl nicht weniger entrüstet als die Kommandos <strong>der</strong><br />
Panzerschiffe.<br />
An <strong>der</strong> Spitze des Zentrobalts standen Menschen von keinesfalls hamletischer Veranlagung:<br />
gemeinsam mit den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Schiffkomitees nahmen sie ohne Zeitverlust<br />
den Beschluß an: das Schwadronen-Torpedoboot "Orpheus", zur Versenkung <strong>der</strong><br />
Kronstädter bestimmt, eiligst nach Petrograd zu schicken, erstens um darüber Nachrichten<br />
zu erhalten, was dort vor sich gehe, zweitens »zur Verhaftung des Gehilfen des<br />
Marineministers Dudarew«. So verblüffend dieser Beschluß scheinen mag, legt er mit<br />
beson<strong>der</strong>em Nachdruck Zeugnis ab dafür, wie sehr noch die Baltischen geneigt waren,<br />
die Versöhnler als die internen Gegner zu betrachten, zum Unterschied von irgendeinem<br />
Dudarew, den sie für einen gemeinsamen Feind hielten. "Orpheus" kam in die<br />
Newamündung hinein vierundzwanzig Stunden, nachdem hier zehntausend bewaffnete<br />
Kronstädter gelandet waren. Aber »das Kräfteverhältnis hatte sich geän<strong>der</strong>t«. Einen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 339
ganzen Tag lang erlaubte man dem Kommando nicht zu landen. Erst abends wurde eine<br />
Delegation von siebenundsechzig Seeleuten des Zentrobalts und des Schiffskommandos<br />
zur vereinigten Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees zugelassen, die das erste Fazit aus den<br />
Julitagen zu ziehen im Begriffe war. Die Sieger badeten in ihrem frischen Sieg. Der<br />
Berichterstatter Wojtinsky schil<strong>der</strong>te nicht ohne Behagen die Stunden <strong>der</strong> Schwäche und<br />
<strong>der</strong> Erniedrigung, um den darauffolgenden Triumph noch greller darzustellen. »Der erste<br />
Truppenteil, <strong>der</strong> uns zu Hilfe kam«, sagt er, »waren die Panzerautos. Wir waren fest<br />
entschlossen, im Falle <strong>der</strong> Gewalt seitens <strong>der</strong> bewaffneten Banden Feuer zu eröffnen ...<br />
In Anbetracht <strong>der</strong> ganzen Gefahr, die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> drohte, erließen wir an einige<br />
Truppenteile (an <strong>der</strong> Front) den Befehl, sich zu verladen und hierherzukommen ...« Die<br />
Mehrheit <strong>der</strong> hohen Versammlung atmete Haß gegen die Bolschewiki, beson<strong>der</strong>s gegen<br />
die Matrosen. In diese Atmosphäre gerieten die baltischen Delegierten, ausgerüstet mit<br />
dem Befehl, Dudarew zu verhaften. Mit wildem Geheul, Faustgehämmer auf die Tische<br />
und Fußgetrampel nahmen die Sieger das Verlesen <strong>der</strong> Resolution <strong>der</strong> Baltischen Flotte<br />
auf. Dudarew verhaften? Aber <strong>der</strong> heldenmütige Kapitän ersten Ranges hat nur seine<br />
heilige Pflicht für die <strong>Revolution</strong> erfüllt, <strong>der</strong> sie, die Matrosen, diese Meuterer, diese<br />
Konterrevolutionäre, einen Dolchstoß in den Rücken versetzen wollen. Durch einen<br />
beson<strong>der</strong>en Beschluß solidarisierte sich die vereinigte Sitzung feierlichst mit Dudarew.<br />
Die Matrosen blickten auf die Redner und aufeinan<strong>der</strong> mit weit aufgerissenen Augen.<br />
Erst jetzt begannen sie zu begreifen, was da vor ihnen geschah. Die gesamte Delegation<br />
wurde am nächsten Tage verhaftet und vollendete ihre Politische Erziehung im Gefängnis.<br />
Hinterher wurde auch <strong>der</strong> ihnen nachgeeilte Vorsitzende des Zentrobalts, Unteroffizier<br />
zur See Dybenko, verhaftet und später dann <strong>der</strong> Admiral Wer<strong>der</strong>ewski, den man<br />
zwecks Aufklärung in die Hauptstadt befohlen hatte.<br />
Am Morgen des 6. nehmen die Arbeiter die Arbeit wie<strong>der</strong> auf. In den Straßen demonstrieren<br />
nur die von <strong>der</strong> Front herbeigeschafften Truppen. Agenten <strong>der</strong> Konterspionage<br />
kontrollieren die Pässe und nehmen nach rechts und links Verhaftungen vor. Der junge<br />
Arbeiter Woinow, <strong>der</strong> das an Stelle <strong>der</strong> am Vorabend demolierten bolschewistischen<br />
Zeitung erschienene Blatt 'Listok Prawdy' verbreitet, wird auf <strong>der</strong> Straße von einer Bande<br />
ermordet, vielleicht von den gleichen Agenten <strong>der</strong> Konterspionage. Die Schwarzhun<strong>der</strong>t-<br />
Eleniente gewinnen Geschmack an <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes. Plün<strong>der</strong>ungen,<br />
Gewaltakte und hie und da auch Schießereien dauern in verschiedenen Stadtteilen an.<br />
Während des Tages kommen Staffel auf Staffel an, das Donkosakenregiment, eine<br />
Kavalleriedivision, eine Ulanendivision, das Isborsker-, Malorossijsker-, das Dragonerregiment<br />
und an<strong>der</strong>e. »Die in großer Zahl eingetroffenen Kosakentruppenteile«, schreibt<br />
Gorkis Zeitung, »sind in sehr aggressiver Verfassung«. Das soeben angekommene<br />
Isborsker Regiment wird an zwei Stellen <strong>der</strong> Stadt mit Maschinengewehren beschossen.<br />
In beiden Fällen werden die Standorte <strong>der</strong> Maschinengewehre auf einem Dach festgestellt,<br />
die Täter nicht ermittelt. Man beschoß die angekommenen Truppenteile auch in<br />
an<strong>der</strong>en Gegenden. Der berechnete Wahnwitz dieser Schießerei erregte die Arbeiter tief.<br />
Es war klar, daß erfahrene Provokateure die Soldaten mit Blei empfingen, zwecks<br />
antibolschewistischer Impfung. Die Arbeiter boten alles auf, dies den ankommenden<br />
Soldaten zu erklären, doch man ließ sie an diese nicht heran: zum erstenmal seit den<br />
Februartagen stellte sich zwischen Arbeiter und Soldat <strong>der</strong> Junker o<strong>der</strong> Offizier.<br />
Die Versöhnler begrüßten freudestrahlend die ankommenden Regimenter. In einer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 340
Versammlung von Vertretern <strong>der</strong> Truppenteile deklamierte <strong>der</strong>selbe Wojtinsky in Gegenwart<br />
einer großen Anzahl von Offizieren und Junkern pathetisch: »Nun marschieren<br />
durch die Milljonnaja-Straße Truppen und Panzerwagen in die Richtung zum Schloßplatz,<br />
umsich unter den Befehl des Generals Polowzew zu stellen. Ds ist unsere reale<br />
Kraft, auf die wir uns stützen.« Als politische Deckung wurden dem Kreiskommandierenden<br />
vier sozialistische Assistenten beigeordnet: Awksentjew und Goz vom Exekutivkomitee,<br />
Skobelew und Tschernow von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. Aber dies rettete<br />
den Kommandierenden nicht. Kerenski prahlte später vor den Weißgardisten, er habe, in<br />
den Jlitagen von <strong>der</strong> Front zurckgekehrt, General Polowzew »wegen seiner Unentschlossenheit«<br />
entlassen.<br />
Jetzt konnte man endlich die so lange vertagte Aufgabe lösen: das Wespennest <strong>der</strong><br />
Bolschewiki im Hause Kschessinskaja auszuräuchern. Im öffentlichen Leben überhaupt<br />
und in Zeiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> insbeson<strong>der</strong>e erlangen mit unter große Wichtigkeit zweitrangige<br />
Tatsachen, die durch ihre symbolische Bedeutung auf die Phantasie wirken. So<br />
gewann einen unverhältnismäßig großen Platz im Kampfe gegen die Bolschewiki die<br />
Frage nach Lenins "Expropriation" <strong>der</strong> Villa <strong>der</strong> Kschessinskaja, einer Hofballerina,<br />
berühmt nicht so sehr durch ihre Kunst als durch ihre Bezieliungen zu den männlichen<br />
Vertretern <strong>der</strong> Romanowschen Dynastie. Ihre Villa war die Frucht dieser Beziehungen,<br />
<strong>der</strong>en Fundament offenbar Nikolaus II. noch in seiner Eigenschaft als Thronfolger gelegt<br />
hatte. Vor dem Kriege klatschten die Bürger über die dem Winterpalais gegenüberliegende<br />
Stätte des Luxus, <strong>der</strong> Sporen und Brillanten, mit einem Anflug neidischer<br />
Ehrfurcht; während des Krieges sagte man häufiger »zusammengestohlen«; die Soldaten<br />
drückten sich noch präziser aus. Sich <strong>der</strong> Altersgrenze nähernd, verlegte sich die Ballerina<br />
auf die patriotische Laufbahn. Der offenherzige Rodsjanko erzählt darüber: »... <strong>der</strong><br />
Höchstkommandierende (Großfürst Nikolai Nikolajewitsch) erwähnte, ihm seien Beteiligung<br />
und Einfluß <strong>der</strong> Ballerina Kschessinskaja in Angelegenheiten <strong>der</strong> Artillerie<br />
bekannt, durch sie hätten verschiedene Firmen Lieferungen erhalten.« Es ist nicht<br />
verwun<strong>der</strong>lich, daß nach <strong>der</strong> Umwälzung das vereinsamte Palais <strong>der</strong> Kschessinskaja im<br />
Volke keine freundlichen Gefühle auslöste. Während die <strong>Revolution</strong> eine unstillbare<br />
Nachfrage nach Räumen erzeugte, wagte die Regierung nicht, auf irgendein Privatgebäude<br />
Beschlag zu legen. Requisitionen von Bauernpferden für den Krieg ist eines.<br />
Requisition leerstehen<strong>der</strong> Villen für die <strong>Revolution</strong> - etwas ganz an<strong>der</strong>es. Aber die<br />
Volksmassen waren nicht dieser Meinung.<br />
Auf <strong>der</strong> Suche nach einem passenden Raum für sich stieß die Reserve-Panzerdivision<br />
in den ersten Märztagen auf die Villa Kschessinskaja und besetzte sie: die Ballerina<br />
besaß eine gute Garage. Dem Petrogra<strong>der</strong> Komitee <strong>der</strong> Bolschewiki überließ die Division<br />
gerne das obere Stockwerk. Die Freundschaft <strong>der</strong> Bolschewiki mit den Panzerautomobilisten<br />
ergänzte ihre Freundschaft mit den Maschinengewehrschützen. Die wenige<br />
Wochen vor Lenins Ankunft erfolgte Besetzung des Palais war anfangs kaum beachtet<br />
worden. Die Entrüstung über die Expropriateure wuchs mit dem Einfluß <strong>der</strong><br />
Bolschewiki. Die Zeitungsplau<strong>der</strong>eien, wonach Lenin sich im Boudoir <strong>der</strong> Ballerina<br />
nie<strong>der</strong>gelassen habe o<strong>der</strong> die gesamte Einrichtung <strong>der</strong> Villa ausgeplün<strong>der</strong>t und zerrissen<br />
sei, waren einfach Erfindungen. Lenin lebte in <strong>der</strong> bescheidenen Wohnung seiner Schwester,<br />
während die Einrichtung <strong>der</strong> Ballerina von dem Hauskommandanten weggeräumt<br />
und versiegelt worden war. Suchanow, <strong>der</strong> das Palais am Tage <strong>der</strong> Ankunft Lenins<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 341
esuchte, hinterließ eine nicht uninteressante Beschreibung des Hauses. »Die Gemächer<br />
<strong>der</strong> berühmten Ballerina hatten ein recht seltsames und ungereimtes Aussehen. Die<br />
auserlesenen Zimmerdecken und Wände harmonierten schlecht mit dem einfachen<br />
Mobiliar, priimtiven Tischen, Stühlen und Bänken, in aller Eile für Arbeitszwecke aufgestellt.<br />
Möbel gab es überhaupt nur wenig. Das Mobiliar <strong>der</strong> Kschessinskaja war irgendwohin<br />
weggeräumt worden ...« Behutsam die Frage <strong>der</strong> Panzerdivision umgehend,<br />
schil<strong>der</strong>te die Presse Lenin als den Schuldigen an <strong>der</strong> bewaffneten Einnahme des Hauses<br />
einer schutzlosen Dienerin <strong>der</strong> Kunst. Dieses Thema nährte Leitartikel und Feuilletons.<br />
Schmierige Arbeiter und Soldaten zwischen Samt, Seide und Teppichen! Alle Beletagen<br />
<strong>der</strong> Hauptstadt erschauerten vor sittlicher Entrüstung. Wie ehemals die Girondisten die<br />
Verantwortung für die Septembermorde, den Matratzendiebstahl aus einer Kaserne und<br />
die Predigt des Agrargesetzes auf die Jakobiner abschoben, so beschuldigten jetzt Kadetten<br />
und Demokraten die Bolschewiki, daß diese die Pfeiler <strong>der</strong> menschliclien Moral<br />
untergrüben und auf die Parkettboden <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja spuckten. Die dynastische<br />
Ballerina wurde das Symbol <strong>der</strong> von den Hufen <strong>der</strong> Barbarei zertretenen Kultur.<br />
Diese Apotheose beschwingte die Besitzerin, und sie wandte sich beschwerdeführend an<br />
das Gericht, das die Ausquartierung <strong>der</strong> Bolschewiki verfügte. Doch das war gar nicht so<br />
einfach. »Die im Hofe Wache haltenden Panzerwagen sahen recht Achtung gebietend<br />
aus«, erzählt das Mitglied des damaligen Petrogra<strong>der</strong> Komitees, Saleschski. Außerdem<br />
waren das Maschinengewehrregiment wie auch an<strong>der</strong>e Truppenteile bereit, im Notfalle<br />
die Panzerautos zu unterstützen. Am 25. Mai hatte das Büro des Exekutivkomitees auf<br />
die Beschwerde des Advokaten <strong>der</strong> Ballerina verfügt, »die Interessen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
verlangen die Unterwerfung unter rechtskräftige Gerichtsbeschlüsse«. Über diesen platonischen<br />
Aphorismus waren die Versöhnler jedoch nicht hinausgegangen, zum großen<br />
Ärger <strong>der</strong> nicht zum Platonismus neigenden Ballerina.<br />
In <strong>der</strong> Villa setzten Zentralkomitee, Petrogra<strong>der</strong> Komitee und Militärorganisation Seite<br />
an Seite ihre Arbeit fort. »Im Hause Kschessinskaja«, erzählt Raskolnikow, »drängte<br />
sich unaufhörlich eine Menge Volk. Die einen kamen geschäftlich in dies o<strong>der</strong> jenes<br />
Sekretariat, die an<strong>der</strong>en zum Bücherlager . . ., die dritten zur Redaktion <strong>der</strong> "Soldatskaja<br />
Prawda", die vierten zu irgendeiner Sitzung. Versammlungen fanden sehr häufig statt,<br />
manchmal ununterbrochen, entwe<strong>der</strong> unten in dem geräumigen breiten Saal o<strong>der</strong> oben<br />
im Zimmer mit dem langen Tisch, wohl dem ehemaligen Speisezimmer <strong>der</strong> Ballerina.«<br />
Vom Balkon <strong>der</strong> Villa, über dem die imposante Fahne des Zentralkomitees wehte, veranstalteten<br />
die Redner dauernd Kundgebungen, nicht nur tags, son<strong>der</strong>n auch nachts. Häufig<br />
kam in tiefer Dunkelheit irgendein Truppenteil o<strong>der</strong> eine Arbeitergruppe vor das Haus<br />
und verlangte nach einem Redner. Es blieben vor dem Balkon auch zufällige Bürgergruppen<br />
stehen, <strong>der</strong>en Neugier periodisch durch einen Zeitungslärm geweckt wurde. In<br />
den kritischen Tagen näherten sich dem Hause flüchtig auch feindselige Denionstrationen,<br />
die Lenins Verhaftung und die Vertreibung <strong>der</strong> Bolschewiki for<strong>der</strong>ten. Hinter den<br />
Menschenströmen, die das Palais umspülten, spürte man die aufgewirbelten Tiefen <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Den Gipfelpunkt erlebte das Haus Kschessinskaja in den Julitagen. »Als<br />
Hauptstab <strong>der</strong> Bewegung erwies sich nicht das Taurische Palais«, schreibt Mi1jukow,<br />
»son<strong>der</strong>n Lenins Zitadelle, das Haus Kschessinskaja mit dem klassichen Balkon.« Die<br />
Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Demonstration mußte zwangsläufig zur Nie<strong>der</strong>schlagung des Stabsquartiers<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki führen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 342
Gegen 3 Uhr nachts wurde gegen das Haus Kschessinskaja und die<br />
Peter-Paul-Festung, beide durch einen Wasserstreifen voneinan<strong>der</strong> getrennt, aufgeboten:<br />
das Reservebataillon des Petrogra<strong>der</strong> Regiments, ein Maschinengewehrkommando, eine<br />
Kompanie Semjonowsker, eine Kompanie Preobraschensker, das Lehrkommando des<br />
Wolynsker Regiments, zwei Geschütze und eine Panzerabteilung von acht Wagen. Um 7<br />
Uhr morgens for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Gehilfe des Kreiskommandierenden, <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />
Kusmin, die Räumung <strong>der</strong> Villa. Da sie die Waffen nicht abliefern wollten, begannen die<br />
Kronstädter, <strong>der</strong>en im Palais nicht mehr als hun<strong>der</strong>tundzwanzig Mann verblieben waren,<br />
in die Peter-Paul-Festung überzulaufen. Als die Regierungstruppen die Villa besetzten,<br />
fanden sie dort nur noch einige Angestellte vor ... Es blieb nun die Frage <strong>der</strong> Peter-Paul-<br />
Festung. Aus dem Wyborger Bezirk hatten sich, wie wir wissen, junge Rotgardisten zur<br />
Peter-Paul-Festung übergesetzt, um im Notfalle den Seeleuten beizustehen. »Auf den<br />
Festungsmauern«, erzählt einer von ihnen, »stehen einige Geschütze, wohl von den<br />
Matrosen für jeden Fall aufgestellt ... Es beginnt nach blutigen Ereignissen zu riechen.«<br />
Doch diplomatische Verhandlungen lösten die Frage friedlich. Im Auftrage des Zentralkomitees<br />
schlug Stalin den Versöhnlerführern vor, gemeinsam Maßnahmen zur unblutigen<br />
Liquidierung <strong>der</strong> Kronstädter Aktion zu treffen. Zusammen mit dem Menschewik<br />
Bogdanow überredeten sie ohne beson<strong>der</strong>e Mühe die Matrosen, das gestrige Ultimatum<br />
Libers anzunehmen. Als die Panzerwagen <strong>der</strong> Regierung vor <strong>der</strong> Festung erschienen, trat<br />
eine Deputation aus dem Tor mit <strong>der</strong> Erklärung, die Garnison unterwerfe sich dem<br />
Exekutivkomitee. Die von den Matrosen und Soldaten abgelieferten Waffen wurden auf<br />
Lastautos weggeschafft. Die waffenlosen Matrosen wurden zur Rückbeför<strong>der</strong>ung nach<br />
Kronstadt auf Schlepper gebracht. Die Übergabe <strong>der</strong> Festung darf man als Schlußperiode<br />
<strong>der</strong> Julibewegung betrachten. Von <strong>der</strong> Front angekommene Radfahrer bezogen die von<br />
den Bolschewiki verlassene Villa Kschessinskaja und die Peter-Paul-Festung, um am<br />
Vorabend <strong>der</strong> Oktoberrevolution ihrerseits auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki überzugehen.<br />
Konnten die Bolschewiki im Juli die Macht ergreifen?<br />
Die von Regierung und Exekutivkomitee verbotene Demonstration trug grandiosen<br />
Charakter; am zweiten Tage nahmen an ihr nicht weniger als fünfhun<strong>der</strong>ttausend<br />
Menschen teil. Suchanow, <strong>der</strong> nicht genug starke Worte zur Verurteilung »des Blutes<br />
und Schmutzes« <strong>der</strong> Julitage findet, schreibt immerhin: »Unabhängig von den politischen<br />
Folgen konnte man nicht an<strong>der</strong>s als mit Entzücken diese erstaunliche Bewegung <strong>der</strong><br />
Volksmassen betrachten. Hielt man sie auch für verhängnisvoll, mußte man doch ihren<br />
gigantischen, elementaren Schwung bewun<strong>der</strong>n.« Nach den Feststellungen <strong>der</strong> Untersuchungskommission<br />
hat es insgesamt neunundzwanzig Tote und hun<strong>der</strong>tundvierzehn<br />
Verwundete gegeben, die Opfer waren auf beiden Seiten etwa gleich groß.<br />
Daß die Bewegung von unten begann, unabhängig von den Bolschewiki, in gewissem<br />
Grade gegen sie, wurde in den ersten Stunden auch von den Versöhnlern eingestanden.<br />
Aber schon in <strong>der</strong> Nacht zum 3. Juli, hauptsächlich jedoch am folgenden Tag, än<strong>der</strong>t sich<br />
die offizielle Beurteilung, Die Bewegung wird als Aufstand erklärt, die Bolschewiki als<br />
seine Organisatoren. »Unter <strong>der</strong> Parole "Alle Macht den Sowjets"«, schrieb <strong>der</strong> später<br />
Kerenski nahestehende Stankewitsch, »entwickelte sich in aller Form ein Aufstand <strong>der</strong><br />
Bolschewiki gegen die damalige Sowjetmehrheit, die aus Parteien <strong>der</strong> Landesverteidigung<br />
bestand.« Die Beschuldigung, einen Aufstand angestiftet zu haben, war nicht nur<br />
ein Kniff des politischen Kampfes: diese Menschen hatten während des Juni sich allzu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 343
gut von <strong>der</strong> Macht des Einflusses <strong>der</strong> Bolschewiki auf die Massen überzeugen können<br />
und weigerten sich jetzt einfach, zu glauben, die Bewegung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
könnte über die Köpfe <strong>der</strong> Bolschewiki hinweggegangen sein. Trotzki versuchte im<br />
Exekutivkomitee auseinan<strong>der</strong>zusetzen: »Man beschuldigt uns, daß wir die Stimmung <strong>der</strong><br />
Massen erzeugen; das ist eine Unwahrheit, wir versuchen nur, sie zu formulieren.« In<br />
den nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung erschienenen Büchern <strong>der</strong> Gegner, insbeson<strong>der</strong>e bei<br />
Suchanow, kann man die Behauptung finden, die Bolschewiki hätten angeblich nur<br />
infolge <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage des Juliaufstandes ihr wahres Ziel verheimlicht und sich hinter<br />
dem Elementaren <strong>der</strong> Massenbewegung versteckt. Aber kann man einem Schatz gleich<br />
den Plan eines bewaffneten Aufstandes verbergen, <strong>der</strong> in seinen Wirbel hun<strong>der</strong>ttausende<br />
Menschen hineinzieht? Waren denn die Bolschewiki vor dem Oktober nicht gezwungen,<br />
ganz offen zum Aufstand aufzurufen und sich vor aller Augen auf ihn vorzubereiten?<br />
Wenn niemand im Juli diesen Plan entdeckt hat, so deshalb, weil es ihn nicht gab. Der<br />
Einzug von Maschinengewehrschützen und Kronstädtern in die Peter-Paul-Festung mit<br />
Zustimmung ihrer ständigen Garnison auf diese Besetzung pochten die Versöhnler ganz<br />
beson<strong>der</strong>s! - war keinesfalls ein Akt des bewaffneten Aufstandes. Das auf <strong>der</strong> kleinen<br />
Insel liegende Gebäude - eher Gefängnis als militärischer Stützpunkt - konnte noch allenfalls<br />
den Zurückweichenden als Zufluchtsort dienen, bot aber nichts den Angreifern.<br />
Zum Taurischen Palais marschierend, gingen die Demonstranten gleichgültig an den<br />
wichtigsten Regierungsgebäuden vorbei, für <strong>der</strong>en Besetzung eine Putilowabteilung <strong>der</strong><br />
Roten Garde genügt haben würde. Die Peter-Paul-Festung besetzten sie ebenso, wie sie<br />
Straßen, Posten und Plätze besetzten. Einen Grund mehr dafür bildete die Nachbarschaft<br />
<strong>der</strong> Villa Kschessinskaja, <strong>der</strong> man, im Falle <strong>der</strong> Gefahr, von <strong>der</strong> Festung aus zu Hilfe<br />
kommen konnte.<br />
Die Bolschewiki taten alles, um die Julibewegung in eine Demonstration auslaufen zu<br />
lassen. Aber ging sie nicht trotzdem, kraft <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge, über diese Grenze<br />
hinaus? Auf diese politische Frage ist schwieriger zu antworten als auf eine kriminelle<br />
Beschuldigung. Als er die Julitage gleich nach ihrem Abschluß analysierte, schrieb<br />
Lenin: »Eine gegen die Regierung gerichtete Demonstration - das wäre formell die<br />
genaueste Bezeichnung <strong>der</strong> Ereignisse. Aber darum handelt es sich eben, daß es keine<br />
übliche Demonstration ist, son<strong>der</strong>n etwas bedeutend Größeres als eine Demonstration<br />
und Geringeres als eine <strong>Revolution</strong>.« Machen sich die Massen irgendeine Idee zu eigen,<br />
dann wollen sie sie ver-wirklichen. Der Partei <strong>der</strong> Bolschewiki vertrauend, hatten die<br />
Arbeiter und beson<strong>der</strong>s die Soldaten sich jedoch noch nicht die Überzeugung zu eigen<br />
gemacht, daß man eine Aktion nicht an<strong>der</strong>s beginnen dürfe als auf Auffor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Partei hin und unter ihrer Leitung. Die Erfahrung vom Februar und April lehrte eher das<br />
Gegenteil. Als Lenin im Mai sagte, die Arbeiter und Bauern wären hun<strong>der</strong>tmal revolutionärer<br />
als unsere Partei, verallgemeinerte er zweifellos die Februar- und Aprilerfahrung.<br />
Doch auch die Massen verallgemeinerten diese Erfahrung auf ihre Art. Sie sagten sich:<br />
sogar die Bolschewiki ziehen in die Länge und halten zurück. Die Demonstranten waren<br />
in den Julitagen durchaus willens - hätte <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Ereignisse es erfor<strong>der</strong>t -, die<br />
offizielle Macht zu liquidieren. Für den Fall des Wi<strong>der</strong>standes seitens <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
waren sie bereit, zur Waffe zu greifen. Insofern gab es hier ein Element des bewaffneten<br />
Aufstandes. Wenn er trotzdem nicht einmal bis zur Mitte, geschweige denn bis zu Ende<br />
durchgeführt wurde, so deshalb, weil die Versöhnler das Bild verwirrten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 344
Im ersten Band dieser Arbeit haben wir ausführlich das Paradoxon des Februarregimes<br />
charakterisiert. Die Macht war aus den Händen des revolutionären Volkes zu den kleinbürgerlichen<br />
Demokraten, Menschewiki und Sozialrevolutionären, übergegangen. Sie<br />
hatten diese Aufgabe sich nicht gestellt gehabt. Sie hatten die Macht nicht erobert. Gegen<br />
ihren Willen befanden sie sich an <strong>der</strong> Macht. Gegen den Willen <strong>der</strong> Massen waren sie<br />
bestrebt, die Macht an die imperialistische Bourgeoisie abzutreten. Das Volk traute den<br />
Liberalen nicht, traute jedoch den Versöhnlern, die indes sich selbst nicht trauten. Und<br />
sie hatten auf ihre Art recht. Sogar wenn sie die Macht restlos <strong>der</strong> Bourgeoisie ausgeliefert<br />
hätten, die Demokraten hätten doch irgendeine Geltung behalten. Würden sie aber<br />
die Macht in ihre Hände genommien haben, sie hätten sich in nichts verwandeln müssen.<br />
Aus den Händen <strong>der</strong> Demokraten wäre die Macht fast automatisch in die Hände <strong>der</strong><br />
Bolschewiki hinübergeglitten. Das Unglück war nicht zu verhüten, denn es entsprang <strong>der</strong><br />
organischen Nichtigkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Demokratie.<br />
Die Julideiiionstranten wollten die Macht den Sowjets übergeben. Dazu war<br />
notwendig, daß die Sowjets bereit wären, sie zu nehmen. Indes gehörte sogar in <strong>der</strong><br />
Hauptstadt, wo die Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter und die aktiven Elemente <strong>der</strong> Garnison bereits<br />
mit den Bolschewiki gingen, kraft des Trägheitsgesetzes, das je<strong>der</strong> Vertretung eigen ist,<br />
die Mehrheit im Sowjet noch den kleinbürgerlichen Parteien an, die das Attentat auf die<br />
Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie als Attentat gegen sich selbst betrachteten. Arbeiter und Soldaten<br />
empfanden scharf den Wi<strong>der</strong>spruch zwischen ihren Stimmungen und <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong><br />
Sowjets, das heißt zwischen ihrem heutigen und ihrem gestrigen Tag. Indem sie sich für<br />
die Macht <strong>der</strong> Sowjets erhoben, brachten sie durchaus nicht <strong>der</strong> Versöhnlermehrheit<br />
Vertrauen dar. Aber sie wußten nicht, wie mit ihr fertigzuwerden. Sie mit Gewalt zu<br />
stürzen, hätte bedeutet, die Sowjets auseinan<strong>der</strong>zujagen, anstatt ihnen die Macht zu<br />
übergeben. Ehe sie den Weg fanden zur Erneuerung <strong>der</strong> Sowjets, versuchten die Arbeiter<br />
und Soldaten, diese Sowjets mit den Mitteln <strong>der</strong> direkten Aktion ihrem Willen gefügig zu<br />
machen.<br />
In <strong>der</strong> Proklamation <strong>der</strong> beiden Exekutivkomitees über die Julitage appellierten die<br />
Versöhnler entrüstet an die Arbeiter und Soldaten gegen die Demonstranten, die da »mit<br />
Waffengewalt versuchten, ihren Willen den von euch gewählten Vertretern<br />
aufzuzwingen«. Als wären die Demonstranten und die Wähler nicht zwei Bezeichnungen<br />
für die nämlichen Arbeiter und Soldaten! Als hätten die Wähler nicht das Recht, ihren<br />
Willen den Gewählten aufzuzwingen! Und als hätte dieser Wille in etwas an<strong>der</strong>em<br />
bestanden als <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, die Pflicht zu erfüllen: im Interesse des Volkes die Macht<br />
zu ergreifen. Sich um das Taurische Palais scharend, schrien die Massen in die Ohren des<br />
Exekutivkomitees den gleichen Satz, den ein namenloser Arbeiter zusammen mit <strong>der</strong><br />
schwieligen Faust Tschernow präsentierte: »Nimm die Macht, wenn man sie dir gibt.«<br />
Als Antwort holten die Versöhnler Kosaken. Die Herren Demokraten zogen den Bürgerkrieg<br />
gegen das Volk dem unblutigen Übergang <strong>der</strong> Macht in ihre eigenen Hände vor.<br />
Als erste schossen die Weißgardisten. Doch die politische Atmosphäre des Bürgerkrieges<br />
war geschaffen von den Menschewiki und Sozialrevolutionären.<br />
Auf den bewaffneten Wi<strong>der</strong>stand des gleichen Organs stoßend, dem sie die Macht<br />
übergeben wollten, verloren die Arbeiter und Soldaten den Sinn für das Ziel. Der gewaltigen<br />
Volksbewegung war die politische Achse herausgerissen. Der Julimarsch lief auf<br />
eine Demonstration hinaus, durchgeführt teilweise mit Mitteln des bewaffneten Aufstan-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 345
des. Mit gleichem Recht kann man auch sagen, es war ein halber Aufstand im Namen<br />
eines Zieles, das keine an<strong>der</strong>en Methoden außer <strong>der</strong> reinen Demonstration zuließ.<br />
Während sie auf die Macht verzichteten, gaben die Versöhnler sie gleichzeitig auch<br />
nicht restlos an die Liberalen ab: sowohl weil sie vor ihnen Angst hatten - <strong>der</strong> kleine<br />
Bougeois fürchtet den großen -, wie auch, weil sie um diese bangten -, ein reines Kadettenministerium<br />
wäre sofort von den Massen gestürzt worden. Mehr noch: wie Miljukow<br />
richtig bemerkt: »Im Kampfe gegen das eigenmächtig bewaffnete Auftreten sichert sich<br />
das Exekutivkomitee des Sowjets das in den Unruhetagen vom 20. bis 21. April verkündete<br />
Recht, nach eigenem Ermessen über die bewaffneten Kräfte <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison<br />
zu verfügen.« Die Versöhnler fahren in alter Weise fort, sich die Macht unter ihrem<br />
eigenen Kissen wegzustehlen. Um bewaffneten Wi<strong>der</strong>stand denen zu bieten, die auf<br />
ihren Plakaten die Macht <strong>der</strong> Sowjets for<strong>der</strong>n, ist <strong>der</strong> Sowjet gezwungen, tatsächlich die<br />
Macht in seinen Händen zu konzentrieren.<br />
Das Exekutivkomitee geht noch weiter: es verkündet in diesen Tagen formell seine<br />
Souveränität. »Würde die revolutionäre Demokratie den Übergang <strong>der</strong> gesamten Macht<br />
in die Hände des Sowjets für notwendig erachten«, lautet die Resolution vom 4. Juli, »so<br />
könnte über diese Frage nur die Vollversammlung <strong>der</strong> Exekutivkomitees beschließen.«<br />
Während es die Demonstration zugunsten <strong>der</strong> Sowjetmacht als konterrevolutionären<br />
Aufstand erklärte, konstituierte sich das Exekutivkomitee gleichzeitig als oberste Macht<br />
und entschied das Schicksal <strong>der</strong> Regierung.<br />
Als beim Morgengrauen des 5. Juli die »treuen« Truppen das Taurische<br />
Palais betraten, meldete ihr Kommandeur, seine Abteilung<br />
unter-werfe sich voll und ganz dem Zentral-Exekutivkomitee. Kein<br />
Wort von <strong>der</strong> Regierung! Aber auch die Rebellen warenja bereit, sich<br />
dem Exekutivkomitee als <strong>der</strong> Macht zu unterwerfen. Bei Obergabe<br />
<strong>der</strong> Peter-Paul-Festung hatte <strong>der</strong>en Garnison nur nötig, ihre Unterwerfung<br />
unter das Exekutivkomitee zu erklären. Niemand for<strong>der</strong>te<br />
Unterwerfung unter die offizielle Regierung. Auch die von <strong>der</strong> Front<br />
herbeigerufenen Tr@uppen stellten sich restlos dem Exekutivkomitee<br />
zur Verfügung. Weshalb aber floß dann Blut?<br />
Hätte <strong>der</strong> Kampf am Ausgang des Mittelalters stattgefunden, beide Parteien hätten<br />
einan<strong>der</strong> tötend, die gleichen Bibelsprüche zitiert. Fhstoriker-Formalisten wären später<br />
zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung gekommen, <strong>der</strong> Kampf sei um die Textauslegung geführt<br />
worden: die mittelalterlichen Handwerker und die unwissenden Bauern hatten bekanntlich<br />
die seltsame Leidenschaft, sich wegen philologischer Feüiheiten in <strong>der</strong> Offenbarung<br />
johannis töten zu lassen, wie die <strong>russischen</strong> Raskolniki sich <strong>der</strong> Ausrottung preisgaben<br />
<strong>der</strong> Frage wegen, ob die Bekreuzigung mit zwei o<strong>der</strong> drei Fingern auszuführen sei. In<br />
Wirklichkeit verbarg sich ini Mittelalter nicht min<strong>der</strong> als heute unter den symbolischen<br />
Formeln ein Kampf von Lebensinteressen, den man aufzudecken verstehen muß. Der<br />
gleiche evangelische Vers bedeutet für die einen Leibeigenschaft, für die an<strong>der</strong>en -<br />
Freiheit.<br />
Doch gibt es viel frischere und näherliegende Analogien. Während <strong>der</strong> junitage 1848<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 346
erscholl in Frankreich auf beiden Seiten <strong>der</strong> Barrikaden <strong>der</strong> gleiche Schrei: »Es lebe die<br />
Republik!« Den kleinbürgerlichen Idealisten erschienen deshalb diejunikämpfe als<br />
Mißverständnis, hervorgerufen durch die Fahrlässigkeit <strong>der</strong> einen und die Heißsportügkeit<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. In Wirklichkeit wollten die Bourgeois eine Republik für sich, die Arbeiter<br />
- eine Republik für alle. Politische Parolen dienen häufiger dazu, Interessen zu<br />
maskieren, als dazu, sie bei Namen zu nennen.<br />
Trotz dem ganzen Paradoxen des Februarregimes, das die Versöhnler obendrein mit<br />
marxistischen und volkstünilerischen Hieroglyphen bedeckten, sind die wirklichen<br />
Klassenbeziehungen hinreichend klar. Man darf nur die zwiespältige Natur <strong>der</strong><br />
Versöhnl(;rparteien nicht aus den Augen verlieren. Die aufgeklärten Kleinbourgeois<br />
stützten sich auf die Arbeiter und Bauern, verbrü<strong>der</strong>ten sich aber mii den hochbetitelten<br />
Gutsbesitzern und Zuckerfabrikanten. Bestandteil des Sowjetsystems, durch das die<br />
For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> unteren Schichten den offiziellen Staat erreichten, diente das Exekutivkomitee<br />
gleichzeitig als politische Hülle für die Bourgeoisie. Die besitzenden Klassen<br />
»unterwarfen«, sich dem Exekutivkoniitee, insofern es die Macht in ihre Richtung<br />
verschob. Die Massen unterwarfen sich dem Exekutivkomitee, insofern sie hofften, es<br />
würde zum Herrschaftsorgan <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern werden. Im Taurischen Palais<br />
kreuzten sich entgegengesetzte Klassentendenzen, wobei die eine wie die an<strong>der</strong>e sich mit<br />
dem Namen des Exekutivkoniitees deckte: die eine - aus Unaufgeklärtheit und Vertrauensseligkeit,<br />
die an<strong>der</strong>e aus kalter Berechnung. Der Kampf ging indes um nichts Geringeres<br />
als darum, wer dieses Land regiereq solle: Bourgeoisie o<strong>der</strong> Proletariat.<br />
Doch wenn die Versöhnler die Macht nicht nehmen wollten und die Bourgeoisie dazu<br />
nicht die Kraft besaß, vielleicht konnten imjuli die Bolschewiki das Steuer ergreifen?<br />
Während <strong>der</strong> zwei kritischen Tage entglitt die Macht in Petrograd vollständig den<br />
Händen <strong>der</strong> Regierungsäniter. 1)as Exekutivkomitee verspürte zuni erstenmal seine<br />
völlige Ohnmacht. Unter di'esen Umständen die Macht zu ergreifen, hätte die Bolschewiki<br />
keine Mühe gekostet. Man hätte die Macht auch an einzelnen Provinzpunkten<br />
erobern können. Tat die bolschewistische Partei somit recht, auf die Machtergreifung zu<br />
verzichten? Wäre es ihr nicht möglich gewesen, gestützt auf die Hauptstadt und einige<br />
Industriebezirke, später ihre Herrschaft über das ganze Land auszudehnen ? Das ist eii)e<br />
wichtige Frage. Nichts hat ani Ende des Krieges zum Triumph des liiiperialisnius und <strong>der</strong><br />
Reaktion in Europa mehr beigetragen als die kurzen Monate <strong>der</strong> Kerenskiade, die das<br />
revolutionäre Rußland zermürbten und seiner moralischen Autorität einen uneriiießlichen<br />
Schaden zufügten in den Augen <strong>der</strong> kämpfenden Armeen und werktätigen Massen<br />
Europas, die hoffnungsvoll von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ein neues Wort erwartet hatten. Die<br />
Geburtswehen <strong>der</strong> proletarischen Uniwälzung um vier Monate verkürzt - eine enorme<br />
Frist! -, die Bolschewiki würden das Land weniger<br />
461<br />
erschöpft, die Autorität <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Europa weniger untergraben vorgefunden<br />
haben. Das hätte den Sowjets nicht nur riesige Vorteile geboten bei den Verhandlungen<br />
mit Deutschland, son<strong>der</strong>n auch den größten Einfluß auf den Verlauf von Krieg und<br />
Frieden in Europa ausgeübt. Die Perspektive war zu verlockend! Und nichtsdestoweniger<br />
hatte die Parteileitung völlig recht, den Weg des bewaffneten Aufstandes nicht zu<br />
beschreiten. Es genügt nicht, die Macht zu ergreifen. Man muß sie halten. Als im<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 347
Oktober die Bolschewiki berechneten, daß ihre Stunde geschlagen hat, kam für sie die<br />
schwierigste Zeit nach <strong>der</strong> Machteroberung. Es war die höchste Kraftanspannung <strong>der</strong><br />
Arbeiterklasse notwendig, um den zahllosen Attacken <strong>der</strong> Feinde standzuhalten. Im Juli<br />
war die Bereitschaft zu diesem selbstlosen Kampfe sogar bei den Petrogra<strong>der</strong> Arbeitern<br />
noch nicht vorhanden. In <strong>der</strong> Lage, die Macht zu ergreifen, boten sie sie dem Exekutivkomitee<br />
an. In seiner überwiegenden Mehrheit bereits zu den Bolschewiki neigend, hatte<br />
das Proletariat <strong>der</strong> Hauptstadt noch die Nabelschnur des Februar nicht zerrissen, die es<br />
mit den Versöhnlern verband. Noch herrschten nicht wenige Illusionen, als ließe sich mit<br />
Wort und Demonstration alles erreichen; als ginge es darum, Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
ein wenig zu schrecken, um sie zu einer gemeinsamen Politik mit den<br />
Bolschewiki zu bewegen. Nicht einmal <strong>der</strong> fortgeschrittene Teil <strong>der</strong> Klasse gab sich<br />
Rechenschaft darüber, auf welchem Wege man zur Macht kommen könne. Lenin schrieb<br />
kurz danach: »Der tatsächliche Fehler unserer Partei in den Tagen des 3. bis 4. Juli, von<br />
den Ereignissen jetzt aufgedeckt, war nur, ... daß die Partei eine friedliche Entwicklung<br />
<strong>der</strong> politischen Umwandlungen auf dem Wege <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pohtik durch die<br />
Sowjets für möglich hielt, während in Wirklichkeit die Menschewiki und Sozialrevolutionare<br />
sich durch ihr Versöhnlertum bereits <strong>der</strong>art mit <strong>der</strong> Bourgeoisie verkoppelt und<br />
verbunden hatten und die Bourgeoisie <strong>der</strong>art konterrevolutionär geworden war, daß von<br />
keinerlei friedlicher Entwicklung mehr die Redesein konnte.«<br />
Als beim Morgengrauen des 5. Juli die "treuen" Truppen das Taurische Palais betraten,<br />
meldete ihr Kommandeur, seine Abteilung unterwerfe sich voll und ganz dem Zentral-Exekutivkomitee.<br />
Kein Wort von <strong>der</strong> Regierung! Aber auch die Rebellen waren ja bereit,<br />
sich dem Exekutivkomitee als <strong>der</strong> Macht zu unterwerfen. Bei Übergabe <strong>der</strong> Peter-Paul-<br />
Festung hatte <strong>der</strong>en Garnison nur nötig, ihre Unterwerfung unter das Exekutivkomitee zu<br />
erklären. Niemand for<strong>der</strong>te Unterwerfung unter die offizielle Regierung. Auch die von<br />
<strong>der</strong> Front herbeigerufenen Truppen stellten sich restlos dem Exekutivkomitee zur Verfügung.<br />
Weshalb aber floß dann Blut?<br />
Hätte <strong>der</strong> Kampf am Ausgang des Mittelalters stattgefunden, beide Parteien hätten<br />
einan<strong>der</strong> tötend, die gleichen Bibelsprüche zitiert. Historiker-Formalisten wären später zu<br />
<strong>der</strong> Schlußfolgerung gekommen, <strong>der</strong> Kampf sei um die Textauslegung geführt worden:<br />
die mittelalterlichen Handwerker und die unwissenden Bauern hatten bekanntlich die<br />
seltsame Leidenschaft, sich wegen philologischer Feiniheiten in <strong>der</strong> Offenbarung Johannis<br />
töten zu lassen, wie die <strong>russischen</strong> Raskolniki sich <strong>der</strong> Ausrottung preisgaben <strong>der</strong><br />
Frage wegen, ob die Bekreuzigung mit zwei o<strong>der</strong> drei Fingern auszuführen sei. In<br />
Wirklichkeit verbarg sich im Mittelalter nicht min<strong>der</strong> als heute unter den symbolischen<br />
Formeln ein Kampf von Lebensinteressen, den man aufzudecken verstehen muß. Der<br />
gleiche evangelische Vers bedeutet für die einen Leibeigenschaft, für die an<strong>der</strong>en -<br />
Freiheit.<br />
Doch gibt es viel frischere und näherliegende Analogien. Während <strong>der</strong> Junitage 1848<br />
erscholl in Frankreich auf beiden Seiten <strong>der</strong> Barrikaden <strong>der</strong> gleiche Schrei: »Es lebe die<br />
Republik!« Den kleinbürgerlichen Idealisten erschienen deshalb die Junikämpfe als<br />
Mißverständnis, hervorgerufen durch die Fahrlässigkeit <strong>der</strong> einen und die Heißspornigkeit<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. In Wirklichkeit wollten die Bourgeois eine Republik für sich, die Arbei-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 348
ter - eine Republik für alle. Politische Parolen dienen häufiger dazu, Interessen zu<br />
maskieren, als dazu, sie bei Namen zu nennen.<br />
Trotz dem ganzen Paradoxen des Februarregimes, das die Versöhnler obendrein mit<br />
marxistischen und volkstümlerischen Hieroglyphen bedeckten, sind die wirklichen<br />
Klassenbeziehungen hinreichend klar. Man darf nur die zwiespältige Natur <strong>der</strong> Versöhnlerparteien<br />
nicht aus den Augen verlieren. Die aufgeklärten Kleinbourgeois stützten sich<br />
auf die Arbeiter und Bauern, verbrü<strong>der</strong>ten sich aber mit den hochbetitelten Gutsbesitzern<br />
und Zuckerfabrikanten. Bestandteil des Sowjetsystems, durch das die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
unteren Schichten den offiziellen Staat erreichten, diente das Exekutivkomitee gleichzeitig<br />
als politische Hülle für die Bourgeoisie. Die besitzenden Klassen "unterwarfen", sich<br />
dem Exekutivkomitee, insofern es die Macht in ihre Richtung verschob. Die Massen<br />
unterwarfen sich dem Exekutivkomitee, insofern sie hofften, es würde zum Herrschaftsorgan<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und Bauern werden. Im Taurischen Palais kreuzten sich entgegengesetzte<br />
Klassentendenzen, wobei die eine wie die an<strong>der</strong>e sich mit dem Namen des<br />
Exekutivkomitees deckte: die eine - aus Unaufgeklärtheit und Vertrauensseligkeit, die<br />
an<strong>der</strong>e aus kalter Berechnung. Der Kampf ging indes um nichts Geringeres als darum,<br />
wer dieses Land regieren solle: Bourgeoisie o<strong>der</strong> Proletariat.<br />
Doch wenn die Versöhnler die Macht nicht nehmen wollten und die Bourgeoisie dazu<br />
nicht die Kraft besaß, vielleicht konnten im Juli die Bolschewiki das Steuer ergreifen?<br />
Während <strong>der</strong> zwei kritischen Tage entglitt die Macht in Petrograd vollständig den<br />
Händen <strong>der</strong> Regierungsämter. Das Exekutivkomitee verspürte zum erstenmal seine<br />
völlige Ohnmacht. Unter diesen Umständen die Macht zu ergreifen, hätte die Bolschewiki<br />
keine Mühe gekostet. Man hätte die Macht auch an einzelnen Provinzpunkten<br />
erobern können. Tat die bolschewistische Partei somit recht, auf die Machtergreifung zu<br />
verzichten? Wäre es ihr nicht möglich gewesen, gestützt auf die Hauptstadt und einige<br />
Industriebezirke, später ihre Herrschaft über das ganze Land auszudehnen ? Das ist eine<br />
wichtige Frage. Nichts hat am Ende des Krieges zum Triumph des Imiperialismus und<br />
<strong>der</strong> Reaktion in Europa mehr beigetragen als die kurzen Monate <strong>der</strong> Kerenskiade, die das<br />
revolutionäre Rußland zermürbten und seiner moralischen Autorität einen unermeßlichen<br />
Schaden zufügten in den Augen <strong>der</strong> kämpfenden Armeen und werktätigen Massen<br />
Europas, die hoffnungsvoll von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ein neues Wort erwartet hatten. Die<br />
Geburtswehen <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung um vier Monate verkürzt - eine enorme<br />
Frist! -, die Bolschewiki würden das Land weniger erschöpft, die Autorität <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
in Europa weniger untergraben vorgefunden haben. Das hätte den Sowjets nicht nur<br />
riesige Vorteile geboten bei den Verhandlungen mit Deutschland, son<strong>der</strong>n auch den<br />
größten Einfluß auf den Verlauf von Krieg und Frieden in Europa ausgeübt. Die<br />
Perspektive war zu verlockend! Und nichtsdestoweniger hatte die Parteileitung völlig<br />
recht, den Weg des bewaffneten Aufstandes nicht zu beschreiten. Es genügt nicht, die<br />
Macht zu ergreifen. Man muß sie halten. Als im Oktober die Bolschewiki berechneten,<br />
daß ihre Stunde geschlagen hat, kam für sie die schwierigste Zeit nach <strong>der</strong> Machteroberung.<br />
Es war die höchste Kraftanspannung <strong>der</strong> Arbeiterklasse notwendig, um den zahllosen<br />
Attacken <strong>der</strong> Feinde standzuhalten. Im Juli war die Bereitschaft zu diesem<br />
selbstlosen Kampfe sogar bei den Petrogra<strong>der</strong> Arbeitern noch nicht vorhanden. In <strong>der</strong><br />
Lage, die Macht zu ergreifen, boten sie sie dem Exekutivkomitee an. In seiner überwiegenden<br />
Mehrheit bereits zu den Bolschewiki neigend, hatte das Proletariat <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 349
noch die Nabelschnur des Februar nicht zerrissen, die es mit den Versöhnlern verband.<br />
Noch herrschten nicht wenige Illusionen, als ließe sich mit Wort und Demonstration alles<br />
erreichen; als ginge es darum, Menschewiki und Sozialrevolutionäre ein wenig zu<br />
schrecken, um sie zu einer gemeinsamen Politik mit den Bolschewiki zu bewegen. Nicht<br />
einmal <strong>der</strong> fortgeschrittene Teil <strong>der</strong> Klasse gab sich Rechenschaft darüber, auf welchem<br />
Wege man zur Macht kommen könne. Lenin schrieb kurz danach: »Der tatsächliche<br />
Fehler unserer Partei in den Tagen des 3. bis 4. Juli, von den Ereignissen jetzt aufgedeckt,<br />
war nur, ... daß die Partei eine friedliche Entwicklung <strong>der</strong> politischen Umwandlungen<br />
auf dem Wege <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pohtik durch die Sowjets für möglich hielt,<br />
während in Wirklichkeit die Menschewiki und Sozialrevolutionare sich durch ihr<br />
Versöhnlertum bereits <strong>der</strong>art mit <strong>der</strong> Bourgeoisie verkoppelt und verbunden hatten und<br />
die Bourgeoisie <strong>der</strong>art konterrevolutionär geworden war, daß von keinerlei friedlicher<br />
Entwicklung mehr die Redesein konnte.«<br />
War das Proletariat politisch uneinheitlich und nicht entschieden genug, um so weniger<br />
die Bauernarmee. Durch ihr Verhalten während des 3. bis 4. Juli hatte die Garnison den<br />
Bolschewiki die volle Möglichkeit geschaffen, die Macht zu ergreifen. Jedoch befanden<br />
sich ini Garnisonsbestand noch neutrale Teile, die bereits am Abend des 4. Juli entschieden<br />
in die Richtung <strong>der</strong> patriotischen Parteien einschwenkten. Am 5. Juli stellen sich die<br />
neutralen Regimenter auf seiten des Exekutivkomitees, und die zu den Bolschewiki<br />
neigenden Regimenter sind bestrebt, eine neutrale Färbung anzunehmen. Das hat den<br />
Behörden die Hände viel mehr gelöst als die verspätete Ankunft <strong>der</strong> Fronttruppen. Hätten<br />
die Bolschewiki am 4. Juli in <strong>der</strong> Hitze die Macht übernommen, die Petrogra<strong>der</strong> Garnison<br />
hätte nicht nur selbst sie nicht behalten, son<strong>der</strong>n auch die Arbeiter gehin<strong>der</strong>t, sie im<br />
Falle eines unvermeidlichen Anschlags von außen zu verteidigen.<br />
Noch ungünstiger sah die Lage in <strong>der</strong> aktiven Armee aus. Der Kampf um Frieden und<br />
Land hatte sie, beson<strong>der</strong>s seit <strong>der</strong> Junioffensive, sehr empfänglich gemacht für die<br />
Parolen <strong>der</strong> Bolschewiki. Aber <strong>der</strong> sogenannte "elementare" Bolschewismus <strong>der</strong> Soldaten<br />
identifizierte sich keinesfalls in ihrem Bewußtsein mit einer bestimmten Partei, <strong>der</strong>en<br />
Zentralkomitee und <strong>der</strong>en Führern. Soldatenbriefe aus jener Zeit geben diese Verfassung<br />
<strong>der</strong> Armee sehr grell wie<strong>der</strong>. »Bedenkt, ihr Herren Minister und obersten Führer«,<br />
schreibt eine rauhe Soldatenhand von <strong>der</strong> Front, »wir verstehen uns auf Parteien<br />
schlecht, aber nicht fern sind Zukunft und Vergangenheit, <strong>der</strong> Zar hat euch nach Sibirien<br />
geschickt und in Gefängnisse gesteckt, wir aber werden euch auf die Bajonette setzen.«<br />
Äußerster Grad <strong>der</strong> Erbitterung gegen die Spitzen, die betrügen, vermengt sich in diesen<br />
Zeilen mit dem Eingeständnis <strong>der</strong> eigenen Ohnmacht: »Wir verstehen uns auf Parteien<br />
schlecht.« Gegen Krieg und Offizierstand rebellierte die Armee dauernd, wobei sie die<br />
Parolen des bolschewistischen Vokabulars benutzte. Aber den Aufstand zu beginnen für<br />
die Machtübergabe an die bolschewistische Partei, dafür war die Armee noch längst nicht<br />
bereit. Die zuverlässigen Teile zur Unterdrückung Petrograds hatte die Regierung aus<br />
den <strong>der</strong> Hauptstadt nächstgelegenen Truppen ausgeson<strong>der</strong>t, ohne auf aktiven Wi<strong>der</strong>stand<br />
<strong>der</strong> übrigen Teile zu stoßen, und sie hatte die Staffeln herangeführt ohne Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong><br />
Eisenbahner. Die unzufriedene, rebellische, leicht entzündbare Armee verblieb politisch<br />
ungeformt; in ihrer Zusammensetzung gab es zu wenig festgefügte bolschewistische<br />
Kerne, fähig, den Gedanken und Handlungen <strong>der</strong> lockeren Soldatenmasse einheitliche<br />
Richtung zu geben.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 350
An<strong>der</strong>erseits benutzten die Versöhnler, um die Front gegen Petrograd und das bäuerliche<br />
Hinterland auszuspielen, nicht ohne Erfolg jene vergifteten Waffen, die die Reaktion<br />
iin März vergeblich versucht hatte, gegen die Sowjets anzuwenden. Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki sagten den Soldaten an <strong>der</strong> Front: die Petrogra<strong>der</strong> Garnison liefert<br />
euch, unter dem Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki, keinen Ersatz; die Arbeiter wollen für die<br />
Bedürfnisse <strong>der</strong> Front nicht arbeiten; hören jetzt die Bauern auf die Bolschewiki und<br />
eignen sich den Boden an, bleibt nichts übrig für die Frontler. Die Soldaten bedurften<br />
noch einer ergänzenden Erfahrung, um zu begreifen, für wen die Regierung den Boden<br />
beschützte: für die Frontsoldaten o<strong>der</strong> für die Gutsbesitzer.<br />
Zwischen Petrograd und <strong>der</strong> aktiven Armee stand die Provinz. Ihr Wi<strong>der</strong>hall auf die<br />
Juliereignisse kann an sich als wichtiges nachträgliches Kriterium dienen bei <strong>der</strong><br />
Entscheidung über die Frage, ob die Bolschewiki im Juli richtig handelten, als sie dem<br />
unmittelbaren Kampf um die Macht auswichen. Schon in Moskau pulsierte die <strong>Revolution</strong><br />
unvergleichlich schwächer als in Petrograd. In <strong>der</strong> Sitzung des Moskauer Komitees<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki fanden stürmische Debatten statt: einzelne zum äußersten linken Flügel<br />
gehörende Personen, wie zum Beispiel Bubnow, schlugen vor, Post, Telegraph, Telephonamt<br />
und die Redaktion des 'Russkoje Slowo' zu besetzen, das heißt den Weg des<br />
Aufstandes zu betreten. Das seinem gesamten Geiste nach sehr gemäßigte Komitee<br />
wehrte diese Vorschläge entschieden ab, mit <strong>der</strong> Begründung, die Moskauer Massen<br />
seien zu solchen Aktionen durchaus nicht bereit. Trotz dem Verbot des Sowjets wurde<br />
beschlossen, eine Demonstration zu veranstalten. Zum Skobeljew-Platz marschierten<br />
beträchtliche Arbeitermassen unter den gleichen Parolen wie in Petrograd, doch bei<br />
weitem nicht mit <strong>der</strong> gleichen Begeisterung. Der Wi<strong>der</strong>hall in <strong>der</strong> Garnison war nicht<br />
einmütig, wenige Teile schlossen sich an, nur einer davon in voller Ausrüstung. Der<br />
Artilleriesoldat Dawydowskil dem es bevorstand, an den Oktoberkämpfen ernsten Anteil<br />
zu nehmen, bezeugt in seinen Erinnerungen, #daß Moskau in den Julitagen unvorbereitet<br />
war und daß <strong>der</strong> Mißerfolg bei den Deinonstrationsführern »einen ungünstigen Nie<strong>der</strong>schlag«<br />
zurückließ.<br />
Nach lwanowo-Wosnessensk, <strong>der</strong> Textilresidenz, wo <strong>der</strong> Sowjet bereits unter Führung<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki stand, drangen die Berichte über die Ereignisse in Petrograd gleichzeitig<br />
mit einem Gerücht vom Sturze <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. In <strong>der</strong> Nachtsitzung des<br />
Exekutivkomitees wurde als vorbereitende Maßnahme beschlossen, eine Kontrolle über<br />
Telephon und Telegraph zu verhängen. Am 6. Juli wurde in den Fabriken die Arbeit<br />
eingestellt; an <strong>der</strong> Demonstration nahmen annähernd vierzigtausend Arbeiter teil, viele<br />
bewaffnet. Als bekannt wurde, daß die Petrogra<strong>der</strong> Demonstration nicht zum Siege<br />
geführt hatte, trat <strong>der</strong> lwanowoWolsnessensker Sowjet eiligst den Rückzug an.<br />
In Riga erfolgte unter dem Eindruck <strong>der</strong> Nachrichten über die Petrogradür Ereignisse<br />
in <strong>der</strong> Nacht zum 6. Juli ein Zusammenstoß zwischen den bolschewistisch gestimmten<br />
lettischen Schützen und dem "Todesbataillon", wobei das patriotische Bataillon zum<br />
Rückzug gezwungen wurde. Der Rigaer Sowjet nahm in <strong>der</strong> gleichen Nacht eine Resolution<br />
zugunsten <strong>der</strong> Sowjetmacht an. Zwei Tage später wurde eine gleiche Resolution in<br />
<strong>der</strong> Hauptstadt des Urals, Jekaterinburg, angemmen. Die Tatsache, daß die Parole <strong>der</strong><br />
Sowjetmacht, in den ersten Monaten nur im Namen <strong>der</strong> Partei erhoben, von nun an<br />
Programm einzelner Lokalsowjets wurde, bedeutete zweifellos einen großen Schritt<br />
vorwärts. Aber von <strong>der</strong> Resolution für die Sowjetmacht bis zum Aufstande unter dem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 351
Banner <strong>der</strong> Bolschewiki blieb noch ein weites Stück Weges.<br />
An einzelnen Punkten des Landes dienten die Petrogra<strong>der</strong> Ereignisse als Anstoß zur<br />
Entfachung scharfer Konflikte lokalen Charakters. In Nischni Nowgorod, wo sich die<br />
evakuierten Soldaten dem Abtransport zur Front lange wi<strong>der</strong>setzten, riefen die aus<br />
Moskau entsandten Junker durch ihre Gewalttaten die Empörung <strong>der</strong> beiden Platzregimenter<br />
hervor. Das Resultat eines Geplänkels, bei dem es Tote und Verwundete gab,<br />
war, daß die Junker sich ergaben und entwaffnet wurden. Die Behörden verschwanden.<br />
Von Moskau her rückte eine Strafexpedition aus drei Truppengattungen vor. An ihrer<br />
Spitze standen: <strong>der</strong> Befehlshaber des Moskauer Militärbezirks, <strong>der</strong> impulsive Oberst<br />
Werchowski, später Kerenskis Kriegsminister, und <strong>der</strong> Vorsitzende des Moskauer<br />
Sowjets, <strong>der</strong> alte Menschewik Chintschuk, ein Mann von wenig kriegerischer Wesensart,<br />
später Haupt <strong>der</strong> Kooperativen und dann Sowjetbotschafter in Berlin. Es gab jedoch für<br />
sie nichts mehr zu bestrafen, da das von den aufständischen Soldaten gewählte Komitee<br />
inzwischen die Ordnung völlig hergestellt hatte.<br />
Ungefähr in den gleichen Nachtstunden und aus dem gleichen Anlaß <strong>der</strong> Weigerung,<br />
an die Front zu gehen, meuterten in Kiew die Soldaten des Regiments Hetman Polubotjko<br />
in Stärke von fünftausend Mann, ergriffen Besitz vom Waffenlager, besetzten die<br />
Festung, den Kreisstab, verhafteten den Kommandanten und Milizchef. Die Panik in <strong>der</strong><br />
Stadt dauerte einige Stunden, bis es gelang, mit den kombinierten Kräften <strong>der</strong> Militärbehörden,<br />
<strong>der</strong> Komitees öffentlicher Organisationen und <strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Ukrainischen<br />
Zentralrada die Verhafteten zu befreien und den größten Teil <strong>der</strong> Aufständischen zu<br />
entwaffnen.<br />
Im fernen Krasnojarsk fühlten sich die Bolschewiki dank <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Garnison<br />
<strong>der</strong>art sicher, daß sie, trotz <strong>der</strong> im Lande bereits einsetzenden Reaktionswelle, am 9. Juli<br />
eine Demonstration veranstalteten, an <strong>der</strong> acht- bis zehntausend Menschen, meist Soldaten,<br />
teilnahmen. Gegen Krasnojarsk wurde aus Irkutsk eine Abteilung von vierhun<strong>der</strong>t<br />
Mann mit Artillerie unter Leitung des Kreiskriegskommissars, des Sozialrevolutionärs<br />
Krakowezki, entsandt. Während <strong>der</strong> beiden dem Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft für<br />
Beratungen und Unterhandlungen unentbehrlichen Tage wurde die Strafabteilung durch<br />
Soldatenagitation <strong>der</strong>art zersetzt, daß <strong>der</strong> Kommissar sich beeilen mußte, sie schleunigst<br />
nach Irkutsk zurückzuführen. Doch Krasnojarsk bildete eher eine Ausnahme.<br />
In den meisten Gouvernements- und Kreisstädten war die Lage viel ungünstiger. In<br />
Samara zum Beispiel hatte die bolschewistische Organisation bei <strong>der</strong> Nachricht von den<br />
Kämpfen in <strong>der</strong> Hauptstadt »auf ein Signal gewartet, obwohl man fast mit niemand<br />
rechnen konnte«. Eines <strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong> am Ort erzählt: »Die Arbeiter begannen, mit<br />
den Bolschewiki zu sympathisieren«, doch zu hoffen, sie würden sich in den Kampf<br />
stürzen, war unmöglich; mit den Soldaten konnte man noch weniger rechnen; was die<br />
Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki betraf, so »waren die Kräfte sehr schwach, - wir waren ein<br />
Häuflein; im Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten gab es <strong>der</strong> Bolschewiki nur wenige Mann<br />
und im Soldatensowjet scheinbar überhaupt keine, er bestand ja fast ausschließlich. aus<br />
Offizieren«. Die Hauptursache des schwachen und uneinheitlichen Wi<strong>der</strong>halls im Lande<br />
bestand darin, daß die Provinz, die ohne Kämpfe die Februarrevolution aus den Händen<br />
Petrograds, übemommen hatte, viel langsamer als die Hauptstadt die neuen Tatsachen<br />
und Ideen verdaute. Es war eine ergänzende Frist nötig, damit die Avantgarde die schweren<br />
Reserven politisch an sich heranziehen konnte.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 352
Der Stand des Bewußtseins <strong>der</strong> Volksmassen, als die entscheidende Instanz revolutionärer<br />
Politik, schloß somit im Juli die Möghchkeit <strong>der</strong> Machtergreifung durch die<br />
Bolschewiki aus. Zugleich bewog die Offensive an <strong>der</strong> Front die Partei, sich Demonstrationen<br />
zu wi<strong>der</strong>setzen. Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Offensive war völlig unvermeidlich.<br />
Faktisch hatte er schon begonnen. Aber das Land wußte es noch nicht. Die Gefahr<br />
bestand darin, daß die Regierung im Falle einer Unvorsichtigkeit <strong>der</strong> Partei versuchen<br />
würde, die Verantwortung für die Folgen ihres eigenen Wahnsinns auf die Bolschewiki<br />
abzuwälzen. Man mußte <strong>der</strong> Offensive Zeit lassen, sich zu erschöpfen. Die Bolschewiki<br />
zweifelten nicht daran, daß <strong>der</strong> Umschwung in den Massen sich sehr schroff gestalten<br />
würde. Dann konnte man sehen, was zu unternehmen. Die Berechnung war durchaus<br />
richtig. Jedoch besitzen die Ereignisse ihre eigene Logik, die nicht nach politischen<br />
Berechnungen fragt, und diesmal brach sie grausam über die Köpfe <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
herein.<br />
Der Mißerfolg <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front nahm am 6. Juli den Charakter einer<br />
Katastrophe an, als die deutschen Truppen die russische Front in einer Ausdehnung von<br />
zwölf Werst Breite und zehn Werst Tiefe durchbrachen. In <strong>der</strong> Hauptstadt wurde <strong>der</strong><br />
Durchbruch am 7. Juli bekannt, gerade als die Nie<strong>der</strong>schlagungs- und Strafaktionen auf<br />
dem Gipfel waren. Noch viele Monate später, als die Leidenschaften sich beruhigt o<strong>der</strong><br />
doch einen geklärteren Charakter angenommen haben sollten, schrieb Stankewitsch,<br />
nicht <strong>der</strong> bösartigste Gegner des Bolschewismus, dennoch von »<strong>der</strong> rätselhaften Konsequenz<br />
<strong>der</strong> Ereignisse«, - in Gestalt des Durchbruchs bei Tamopol unmittelbar nach den<br />
Julitagen in Petrograd. Diese Menschen sahen nicht o<strong>der</strong> wollten nicht sehen, die wirkliche<br />
Konsequenz <strong>der</strong> Ereignisse, die darin bestand, daß die unter dem Stock <strong>der</strong> Entente<br />
begonnene hoffnungslose Offensive zu nichts an<strong>der</strong>em als zu einer militärischen<br />
Katastrophe führen konnte und gleichzeitig den Empörungsausbruch <strong>der</strong> durch die<br />
<strong>Revolution</strong> betrogenen Massen hervorrufen mußte. Aber war es nicht gleich, wie es sich<br />
in Wirklichkeit verhielt? Die Petrogra<strong>der</strong> Demonstration mit dem Mißerfolg an <strong>der</strong> Front<br />
zu verbinden, war zu verlockend. Die patriotische Presse verheimlichte die Nie<strong>der</strong>lage<br />
nicht nur nicht, im Gegenteil, sie übertrieb sie aus allen Kräften, ohne vor Aufdeckung<br />
von Kriegsgeheimnissen haltzumachen: Divisionen und Regimenter wurden genannt,<br />
ihre Stellung angegeben. »Seit dem 8. Juli«, gesteht Milljukow, »druckten die Zeitungen.<br />
vorsätzlich offene Telegramme von <strong>der</strong> Front, die die russische Öffentlichkeit wie<br />
Donner trafen.« Darin eben bestand die Absicht: erschüttern, erschrecken, betäuben, um<br />
desto leichter die Bolschewiki mit den Deutschen in Verbindung bringen zu können.<br />
Provokation hat zweifellos eine gewisse Rolle gespielt bei den Ereignissen an <strong>der</strong><br />
Front, wie auch in den Straßen Petrograds. Nach <strong>der</strong> Februarumwälzung hatte die Regierung<br />
in die aktive Armee eine große Anzahl ehemaliger Gendarmen und Schutzleute<br />
geworfen. Keiner von ihnen wollte natürlich Krieg führen. Sie fürchteten die <strong>russischen</strong><br />
Soldaten mehr als die Deutschen. Um ihre Vergangenheit vergessen zu machen, imitierten<br />
sie die radikalsten Stimmungen <strong>der</strong> Armee, hetzten Soldaten gegen Offiziere auf,<br />
schrien am lautesten gegen Disziplin und Offensive und gaben sich nicht selten direkt für<br />
Bolschewiki aus. Indem sie die natürlichen Verbindungen von Komplicen zueinan<strong>der</strong><br />
unterhielten, bildeten sie einen eigenartigen Orden <strong>der</strong> Feigheit und Nie<strong>der</strong>tracht. Durch<br />
sie drangen in die Truppen und verbreiteten sich schnell die phantastischsten Gerüchte,<br />
in denen Ultrarevolutionarismus sich mit Schwarzhun<strong>der</strong>ttum vermengte. In kritischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 353
Stunden gaben diese Subjekte als erste Paniksignale. Auf die zersetzende Arbeit <strong>der</strong><br />
Polizisten und Gendarmen verwies die Presse mehr als einmal. Nicht weniger häufig sind<br />
solcher Art Hinweise in den Geheimdokumenten <strong>der</strong> Armee selbst. Doch das höhere<br />
Kommando verharrte in Schweigen und zog es vor, die Schwarzhun<strong>der</strong>t-Provokateure<br />
mit den Bolschewiki zu identifizieren. Jetzt, nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> Offensive,<br />
wurde dieser Kniff legalisiert, und die Zeitung <strong>der</strong> Menschewiki war besorgt, hinter den<br />
schmutzigsten chauvinistischen Blättchen zurückzubleiben. Mit dem Geschrei über<br />
»Anarcho-Bolschewiki«, deutsche Agenten, ehemalige Gendarmen übertönten die<br />
Patrioten eine Weile nicht ohne Erfolg die Frage nach dem Gegamtzustand <strong>der</strong> Armee<br />
und <strong>der</strong> Friedenspolitik. »Unser tiefer Durchbruch an Lenins Front«, prahlte Fürst<br />
Lwow offen, »hat meiner festen Überzeugung nach unermeßlich größere Bedeutung für<br />
Rußland als <strong>der</strong> Durchbruch <strong>der</strong> Deutschen an <strong>der</strong> Südwestfront ... « Das ehrwürdige<br />
Regierungsoberhaupt ähnelte dem Kammerherrn Rodsjanko in dem Sinne, daß er nicht<br />
zu unterscheiden wußte, wann es zu schweigen hieß.<br />
Wäre es am 3. bis 4. Juli gelungen, die Massen von <strong>der</strong> Demonstration zurückzuhalten,<br />
die Aktion wäre unvermeidlich als Folge des Tarnopoler Durchbruchs gekommen. Die<br />
Frist von nur wenigen Tagen hätte indes wichtige Än<strong>der</strong>ungen in die politische Lage<br />
gebracht. Die Bewegung würde sogleich größeren Schwung angenommen und nicht nur<br />
die Provinz, son<strong>der</strong>n auch in bedeutendem Maße die Front erfaßt haben. Die Regierung<br />
wäre politisch entblößt und es wäre für sie viel schwieriger gewesen, die Schuld auf die<br />
»Verräter« im Mutterlande abzuschieben. Die Lage <strong>der</strong> bolschewistischen Partei würde<br />
in je<strong>der</strong> Hinsicht vorteilhafter gewesen sein. Aber auch in diesem Falle hätte es sich nicht<br />
um die unmittelbare Machteroberung handeln können. Mit Sicherheit läßt sich nur das<br />
eine behaupten: wäre die Bewegung eine Woche später entbrannt, die Reaktion hätte sich<br />
im Juli nicht so siegreich zu entfalten vermocht. Gerade die »rätselhafte Konsequenz«<br />
<strong>der</strong> Fristen von Demonstration und Durchbruch wandte sich völlig gegen die Bolschewiki.<br />
Die Welle <strong>der</strong> Empörung und Verzweiflung, die von <strong>der</strong> Front heranrollte, stieß auf<br />
die Welle <strong>der</strong> zertrümmerten Hoffnungen, die aus Petrograd kam. Die Lehre, die die<br />
Massen in <strong>der</strong> Hauptstadt erhalten hatten, war zu hart, als daß man sofort an eine Wie<strong>der</strong>aufnahme<br />
des Kampfes hätte denken können. Indessen suchte das durch die sinnlose<br />
Nie<strong>der</strong>lage hervorgerufene heftige Gefühl nach einem Ausweg. Und den Patrioten gelang<br />
es bis zu einem gewissen Grade, diese Stimmung gegen die Bolschewiki zu lenken.<br />
Im April, Juni und Juli waren die wichtigsten handelnden Figuren die gleichen: Liberale,<br />
Versöhnler, Bolschewiki. Die Massen suchten auf all diesen Etappen die Bourgeoisie<br />
von <strong>der</strong> Macht zu verdrängen. Aber <strong>der</strong> Unterschied in den politischen Folgen <strong>der</strong> Einmischung<br />
<strong>der</strong> Massen in die Ereignisse war ungeheuer. Das Resultat <strong>der</strong> "Apriltage" ergab<br />
einen Verlust für die Bourgeoisie: Die annexionistische Politik wurde, mindestens in<br />
Worten, verurteilt, die Kadettenpartei gedemütigt, das Portefeuille des Auswärtigen ihr<br />
abgenommen. Im Juni blieb die Bewegung unentschieden: man holte gegen die Bolschewiki<br />
aus, schlug jedoch nicht zu. Im Juli wurde die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki des Verrats<br />
beschuldigt, nie<strong>der</strong>geschlagen, des Feuers und des Wassers beraubt. Flog im April Miljukow<br />
aus <strong>der</strong> Regierung, ging im Juli Lenin in die Illegalität.<br />
Was bestimmte einen so schroffen Umschwung im Verlauf von zehn Wochen? Es ist<br />
ganz offensichtlich, daß in den regierenden Kreisen eine ernste Verschiebung in die<br />
Richtung zur liberalen Bourgeoisie vor sich gegangen war. Indes hatte sich gerade in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 354
dieser Periode, April-Juli, die Stimmung <strong>der</strong> Massen schroff zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
gewandelt. Diese zwei wi<strong>der</strong>strebenden Prozesse entwickelten sich in engster Abhängigkeit<br />
voneinan<strong>der</strong>. je mehr sich die Arbeiter und Soldaten um die Bolschewiki zusammenschlossen,<br />
um so entschiedener mußten die Versöhnler die Bourgeoisie unterstützen. Im<br />
April hatten die Führer des Exekutivkomitees, um ihren Einfluß besorgt, den Massen<br />
noch einen Schritt entgegenkommen und Miljukow, allerdings mit einem soliden<br />
Rettungsgürtel versehen, über Bord werfen können. Im Juli schlugen die Versöhnler<br />
gemeinsam mit Bourgeoisie und Offizierskorps auf die Bolschewiki ein. Die Verän<strong>der</strong>ung<br />
im Kräfteverhältnis war folglich auch diesmal hervorgerufen worden durch die<br />
Schwenkung <strong>der</strong> politisch am wenigsten wi<strong>der</strong>standsfähigen Kraft, <strong>der</strong> kleinbürgerlichen<br />
Demokratie, durch <strong>der</strong>en schroffe Wendung in die Richtung zur bürgerlichen Konterrevolution.<br />
Doch wenn dem so ist, handelten dann die Bolschewiki richtig, als sie sich <strong>der</strong> Demonstration<br />
anschlossen und die Verantwortung für sie übernahmen? Am 3. Juli hatte<br />
Tomski Lenins Gedanken kommentiert: »Jetzt von bewaffneter Demonstration zu<br />
sprechen, ohne eine neue <strong>Revolution</strong> zu wollen, ist unzulässig.« Wie konnte dann die<br />
Partei schon wenige Stunden später sich an die Spitze <strong>der</strong> bewaffneten Demonstration<br />
stellen, wobei sie keineswegs zu einer neuen <strong>Revolution</strong> aufrief? Der Doktrinär wird<br />
darin Inkonsequenz, o<strong>der</strong> noch schlimmer, politischen Leichtsinn erblikken. So betrachtete<br />
die Sache zum Beispiel Suchanow, dessen "Aufzeichnungen" nicht wenige ironische<br />
Zeilen über die Schwankungen <strong>der</strong> bolschewistischen Leitung enthalten. Doch die<br />
Massen greifen in die Ereignisse nicht nach doktrinärer Vorschrift ein, sondem dann,<br />
wenn es sich aus ihrer eigenen politischen Entwicklung ergibt. Die bolschewistische<br />
Leitung hatte klar erkannt, daß die politische Situation zu än<strong>der</strong>n nur eine neue <strong>Revolution</strong><br />
vermochte. Die Arbeiter und Soldaten jedoch hatten das noch nicht erkannt. Die<br />
bolschewistische Leitung sah klar, daß man den schweren Reserven Zeit lassen müsse,<br />
ihre Schlußfolgerungen aus dem Abenteuer <strong>der</strong> Offensive zu ziehen. Doch die fortgeschrittenen<br />
Schichten drängten auf die Straße gerade unter dem Einfluß dieses Abenteuers.<br />
Tiefster Radikalismus <strong>der</strong> Aufgaben vermischte sich da bei ihnen mit Illusionen über<br />
die Methoden. Die Warnungen <strong>der</strong> Bolschewiki fruchteten nichts. Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten konnten die Lage nur mittels eigener Erfahrung überprüfen. Die bewaffnete<br />
Demonstration wurde zu einer solchen Überprüfung. Doch gegen den Willen <strong>der</strong><br />
Massen konnte die Überprüfung sich leicht in eine Entscheidungsschlacht verwandeln<br />
und damit in eine entscheidende Nie<strong>der</strong>lage. Unter diesen Umständen durfte die Partei<br />
nicht abseits bleiben. Die Hände im Wässerchen strategischer Moralpredigten zu<br />
waschen, hätte bedeutet, die Arbeiter und Soldaten einfach ihren Feinden auszuliefern.<br />
Die Partei <strong>der</strong> Massen mußte sich auf den Boden stellen, auf den sich die Massen gestellt<br />
hatten, um, ohne irgendwie <strong>der</strong>en Illusionen zu teilen, ihnen zu helfen, mit den kleinsten<br />
Verlusten die notwendigen Lehren zu ziehen. Trotzki antwortete in <strong>der</strong> Presse den<br />
zahllosen Kritkern jener Tage: »Wir erachten es nicht als notwendig, uns vor wem immer<br />
deshalb zu verantworten, daß wir nicht abwartend beiseite traten und es General<br />
Polowzew überließen, sich mit den Demonstranten zu "unterhalten". Jedenfalls konnte<br />
unsere Einmischung in keiner Weise die Zahl <strong>der</strong> Opfer vergrößern o<strong>der</strong> die chaotische<br />
bewaffnete Kundgebung in einen pohtischen Aufstand verwandeln.«<br />
Dem Vorbild <strong>der</strong> "Julitage" begegnen wir in aßen alten <strong>Revolution</strong>en, mit verschiede-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 355
nem, aber in <strong>der</strong> Regel ungünstigem, häufig katastrophalem Ausgang. Eine <strong>der</strong>artige<br />
Etappe ist in <strong>der</strong> inneren Mechanik <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> begründet, insofem die<br />
Klasse, die am meisten für ihren Erfolg opfert und die meisten Hoffnungen auf sie setzt,<br />
von ihr am wenigsten empfängt. Die Gesetzmäßigkeit des Prozesses ist durchaus klar.<br />
Die besitzende Klasse, die, durch die Umwälzung <strong>der</strong> Macht teilhaftig geworden, zu <strong>der</strong><br />
Ansicht neigt, die <strong>Revolution</strong> habe damit bereits ihre Mission erfüllt, ist vor allem darum<br />
besorgt, den Kräften <strong>der</strong> Reaktion ihre Zuverlässigkeit zu beweisen. Die "revolutionäre"<br />
Bourgeoisie ruft die Empörung <strong>der</strong> Volksmassen durch die gleichen Maßnahmen hervor,<br />
durch die sie sich das Wohlgefallen <strong>der</strong> gestürzten Klasse zu gewinnen bestrebt ist. Die<br />
Enttäuschung <strong>der</strong> Massen tritt sehr schnell ein, noch ehe die Avantgarde Zeit findet, von<br />
den <strong>Revolution</strong>skämpfen abzukühlen. Das Volk glaubt, es könne durch einen neuen<br />
Schlag das vollenden o<strong>der</strong> korrigieren, was es früher nicht entschlossen genug getan hat.<br />
Daher <strong>der</strong> Drang zu einer neuen <strong>Revolution</strong>, ohne Vorbereitung, ohne Programm, ohne<br />
Berücksichtigung <strong>der</strong> Reserven, ohne Überlegung <strong>der</strong> Folgen. An<strong>der</strong>erseits lauert die neu<br />
zur Macht gelangte Schicht <strong>der</strong> Bourgeoisie gleichsam auf einen stürmischen Ausbruch<br />
von unten, um zu versuchen, mit dem Volke endgültig fertigzuwerden. Dies ist die<br />
soziale und psychologische Basis jener ergänzenden Halbrevolution, die in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> mehr als einmal Ausgangspunkt <strong>der</strong> siegreichen Konterrevolution wurde.<br />
Am I7. Juli 1791 schoß Lafayette auf dem Marsfelde eine friedliche Demonstration<br />
von Republikanern zusammen, die versucht hatten, sich mit einer Petition an die Nationalversammlung<br />
zu wenden, die den Treubruch <strong>der</strong> Königsmacht deckte, wie die <strong>russischen</strong><br />
Versöhnler hun<strong>der</strong>tsechsundzwanzig Jahre später den Treubruch <strong>der</strong> Liberalen<br />
deckten. Die royalistische Bourgeoisie hoffte durch ein rechtzeitiges Blutbad mit <strong>der</strong><br />
Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> für immer fertigzuwerden. Die Republikaner, die sich noch nicht<br />
stark genug fühlten, zu siegen, wichen dem Kampfe aus, was durchaus vernünftig war.<br />
Sie beeilten sich sogar, von den Petitionären abzurücken, was jedenfalls würdelos und<br />
falsch war. Das Regime des bürgerlichen Terrors zwang die Jakobiner, sich einige<br />
Monate still zu verhalten. Robespierre fand Unterschlupf bei dem Tischler Duplay,<br />
Desmoulins hielt sich versteckt, Danton verbrachte einige Wochen in England. Doch die<br />
royalistische Provokation mißlang dennoch: das Blutgericht auf dem Marsfeld hin<strong>der</strong>te<br />
die republikanische Bewegung nicht, zum Siege zu gelangen. Die Große Französische<br />
<strong>Revolution</strong> hatte somit ihre "Julitage" sowohl im politischen wie im Kalen<strong>der</strong>sinne des<br />
Wortes.<br />
Nach siebenundfünfzig Jahren fielen in Frankreich die "Julitage" auf den Juni und<br />
nahmen einen unermeßlich grandioseren und tragischeren Charakter an. Die sogenannten<br />
"Junitage" von 1848 erwuchsen mit unüberwindlicher Kraft aus <strong>der</strong> Februarumwälzung.<br />
Die französische Bourgeoisie proklamierte in den Stunden ihres Sieges das "Recht auf<br />
Arbeit", wie sie seit 1789 viele herrliche Dinge verkündete, und wie sie 1914 beteuerte,<br />
sie führe ihren letzten Krieg. Aus dem prunkvollen Recht auf Arbeit entstanden die<br />
kläglichen Nationalwerkstätten, wo hun<strong>der</strong>ttausend Arbeiter, die für ihre Brotgeber die<br />
Macht erobert hatten, dreiundzwanzig Sous pro Tag bekamen. Bereits einige Wochen<br />
später fand die mit Phrasen so freigebige, aber mit Moneten so knickrige republikanische<br />
Bourgeoisie nicht genug beleidigen<strong>der</strong> Worte für die "Müßiggänger", die auf die nationale<br />
Hungerration gesetzt waren. In dem Überfluß an Februar-Versprechungen und <strong>der</strong><br />
Planmäßigkeit <strong>der</strong> Vorjuni-Provokationen zeigt sich <strong>der</strong> nationale Zug <strong>der</strong> französischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 356
Bourgeoisie. Aber auch sonst hätten die Pariser Arbeiter, mit <strong>der</strong> Februarflinte in <strong>der</strong><br />
Hand, nicht den Wi<strong>der</strong>spruch hinnehmen können zwischen dem prunkvollen Programm<br />
und <strong>der</strong> jämmerlichen Wirklichkeit, diesen unerträglichen Kontrast, <strong>der</strong> sie täglich an<br />
Magen und Gewissen traf. Mit welch kühler und fast unverhüllter Berechnung ließ<br />
Cavaignac vor den Augen <strong>der</strong> gesamten herrschenden Gesellschaft den Aufstand<br />
anwachsen, um desto entschiedener mit ihm abzurechnen. Nicht weniger als zwölftausend<br />
Arbeiter ermordete die republikanische Bourgeoisie, nicht weniger als zwanzigtausend<br />
verhaftete sie, um die übrigen von dem Glauben an das von ihr verkündete "Recht<br />
auf Arbeit" zu kurieren. Ohne Plan, ohne Programm, ohne Leitung ähneln die Junitage<br />
von 1848 einem mächtigen und unabwendbaren Reflex des in seinen elementarsten<br />
Bedürfnissen benachteiligten und in seinen höchsten Hoffnungen betrogenen Proletariats.<br />
Die aufständischen Arbeiter wurden nicht nur nie<strong>der</strong>geschlagen, son<strong>der</strong>n auch verleumdet.<br />
Der linke Demokrat Flocon, Gesinnungsgenosse Ledru Rollins, eines Vorläufers<br />
Zeretellis, versicherte <strong>der</strong> Nationalversammlung, die Aufständischen seien von Monarchisten<br />
und ausländischen Regierungen bestochen. Die Versöhnler von 1848 brauchten<br />
nicht einmal die Kriegsatmosphäre, um in den Taschen <strong>der</strong> Rebellen englisches und<br />
russisches Gold zu entdecken. So bereiteten die Demokraten dem Bonapartismus den<br />
Weg.<br />
Das gigantische Aufbranden <strong>der</strong> Kommune verhielt sich zur Septemberumwälzung<br />
1870 wie die Junitage zur Februarrevolution von 1848. Der Märzaufstand des Pariser<br />
Proletariats war am allerwenigsten Sache strategischer Berechnung. Er entstand aus einer<br />
tragischen Verquickung von Umständen, ergänzt durch eine jener Provokationen, an<br />
denen die französische Bourgeoisie, wenn Angst ihren bösen Willen anpeitscht, so erfin<strong>der</strong>isch<br />
ist. Entgegen den Plänen <strong>der</strong> regierenden Clique, die vor allem bestrebt war, das<br />
Volk zu entwaffnen, wollten die Arbeiter Paris, das sie zum erstenmal in ihr Paris<br />
umzuwandeln versuchten, verteidigen. Die Nationalgarde gab ihnen eine bewaffnete<br />
Organisation, sehr ähnlich dem Sowjettypus, und die politische Führung in Gestalt ihres<br />
Zentralkomitees. Infolge ungünstiger objektiver Verhältnisse und politischer Fehler sah<br />
sich Paris Frankreich gegenübergestellt; nicht verstanden, nicht unterstützt, zum Teil von<br />
<strong>der</strong> Provinz direkt verraten, fiel es in die Hände <strong>der</strong> wütenden Versailler, die im Rücken<br />
Bismarck und Moltke hatten. Die demoralisierten und geschlagenen Offiziere Napoleons<br />
III. erwiesen sich als unersetzliche Henker im Dienste <strong>der</strong> zärtlichen Marianne, die durch<br />
die Preußen in schweren Stiefeln eben erst aus den Umarmungen des Schein-Bonaparte<br />
befreit worden war. In <strong>der</strong> Pariser Kommune erklomm <strong>der</strong> reflexive Protest des Proletariats<br />
gegen den Betrug <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> zum erstenmal in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> die<br />
Stufe <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung, erklomm, um jedoch gleich wie<strong>der</strong> zu fallen.<br />
Die Spartakuswoche im Januar 1919 in Berlin gehört zum gleichen Typ zwischenstuflicher<br />
Halbrevolutionen wie die Julitage in Petrograd. Infolge <strong>der</strong> vorherrschenden<br />
Stellung des Proletariats innerhalb <strong>der</strong> deutschen Nation, beson<strong>der</strong>s ihrer Wirtschaft,<br />
hatte die Novemberumwälzung dem Arbeiter- und Soldatenrat automatisch die Staatssouveränität<br />
übergeben. Doch das Proletariat war politisch mit <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />
identisch, die sich selbst mit dem bürgerlichen Regime identifizierte. Die Unabhängige<br />
Sozialdemokratische Partei nahm in <strong>der</strong> deutschen <strong>Revolution</strong> jenen Platz ein, <strong>der</strong> in<br />
Rußland den Sozialrevolutionären und Menschewiki gehörte. Was fehlte, war eine<br />
bolschewistische Partei.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 357
Je<strong>der</strong> Tag nach dem 9. November erzeugte bei den deutschen Arbeitern das lebendige<br />
Gefühl, es entgleite etwas ihren Händen, werde ihnen weggenommen, rinne zwischen<br />
den Fingern hindurch. Das Bestreben, die Errungenschaften festzuhalten, die Positionen<br />
zu stärken, Abwehr zu leisten, wuchs von Tag zu Tag. Diese defensive Tendenz lag auch<br />
bei den Januarkäinpfen von 1919 zugrunde. Die Spartakuswoche begann nicht als Folge<br />
strategischer Berechnung <strong>der</strong> Partei, son<strong>der</strong>n als Folge des Drucks <strong>der</strong> empörten unteren<br />
Schichten. Sie entwickelte sich um eine drittrangige Frage, um das Verbleiben des<br />
Polizeipräsidenten auf seinem Posten, obwohl sie ihren Tendenzen nach den Beginn<br />
einer neuen Umwälzung darstellte. Beide an <strong>der</strong> Leitung beteiligten Organisationen, die<br />
Spartakisten und die linken Unabhängigen, wurden von den Ereignissen überrascht,<br />
gingen weiter, als sie wollten, doch nicht bis zu Ende. Die Spartakisten waren zu einer<br />
selbständigen Führung noch zu schwach. Die linken Unabhängigen scheuten vor den<br />
Methoden zurück, die allein zum Ziele führen konnten, schwankten, spielten Aufstand,<br />
diesen mit diplomatischen Verhandlungen verbindend.<br />
Die Januarnie<strong>der</strong>lage erreicht nach <strong>der</strong> Zahl ihrer Opfer bei weitem nicht die gigantischen<br />
Zahlen <strong>der</strong> "Junitage" in Frankreich. Jedoch läßt sich die politische Bedeutung<br />
einer Nie<strong>der</strong>lage nicht allein mit <strong>der</strong> Statistik <strong>der</strong> Ermordeten und Erschossenen messen.<br />
Es genügt, daß die junge Kommunistische Partei dabei physisch enthauptet wurde und<br />
die Unabhängige Partei gezeigt hatte, daß sie schon dem Wesen ihrer Methoden nach<br />
unfähig war, das Proletariat zum Siege zu führen. Von einem weiteren Gesichtspunkte<br />
aus gesehen haben sich die "Julitage" in Deutschland in mehreren Etappen abgespielt:<br />
Januarwoche 1919, Märztage 1921, Oktoberrückzug 1923. Die gesamte weitere<br />
<strong>Geschichte</strong> Deutschlands ergibt sich aus diesen Ereignissen. Die nicht zu Ende geführte<br />
<strong>Revolution</strong> schaltete sich auf den Faschismus um.<br />
In dem Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden Anfang Mai 1931, bereitete<br />
die unblutige, friedliche, ruhmreiche (die Liste dieser Adjektive bleibt sich stets gleich)<br />
<strong>Revolution</strong> in Spanien vor unseren Augen ihre "Junitage" vor, nimmt man Frankreichs<br />
Kalen<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> ihre "Julitage" nach dem Kalen<strong>der</strong> Rußlands. In Phrasen plätschernd, die<br />
nicht selten wie eine Übersetzung aus dem Russischen erscheinen, verspricht die Madri<strong>der</strong><br />
Provisorische Regierung weitgehende Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und<br />
Landnot, wagt aber nicht, auch nur an eine <strong>der</strong> alten sozialen Wunden zu rühren. Die<br />
Koalitionssozialisten helfen den Republikanern die Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu sabotieren.<br />
Ist es schwer, das fieberhafte Steigen <strong>der</strong> Empörung bei Arbeitern und Bauern<br />
vorauszusehen? Das Mißverhältnis zwischen dem Gang <strong>der</strong> Massenrevolution und <strong>der</strong><br />
Politik <strong>der</strong> neuen regierenden Klassen - das ist die Quelle jenes unversöhnlichen<br />
Konflikts, <strong>der</strong> in seiner Entwicklung entwe<strong>der</strong> die erste, die Aprilrevolution, begraben<br />
o<strong>der</strong> zur zweiten führen wird.<br />
Wenn auch die Kernmasse <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bolschewiki im Juli 1917 fühlte, daß man<br />
über eine gewisse Grenze noch nicht hinausgehen dürfe, war eine einheitliche Stimmung<br />
doch nicht vorhanden. Viele Arbeiter und Soldaten waren geneigt, die sich entwickelnden<br />
Aktionen als entscheidende Lösung einzuschätzen. In seinen Erinnerungen, die fünf<br />
Jahre später geschrieben sind, äußert sich Metelew über den Sinn <strong>der</strong> Ereignisse in<br />
folgenden Worten: »An diesem Aufstande war unser Hauptfehler, daß wir dem Versöhnler-Exekutivkomitee<br />
anboten, die Macht zu ergreifen ... Nicht anbieten sollte man,<br />
son<strong>der</strong>n selbst die Macht ergreifen. Unser zweiter Fehler war, daß wir fast zweimal<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 358
vierundzwanzig Stunden in den Straßen defilierten, anstatt sofort alle Ämter, Paläste,<br />
Banken, Bahnhöfe, Telegraphen zu besetzen, die gesamte Provisorische Regierung zu<br />
verhaften«, und so weiter. In bezug auf einen Aufstand wäre das zweifellos richtig. Doch<br />
die Julibewegung in einen Aufstand zu verwandeln, würde fast sicher bedeutet haben, die<br />
<strong>Revolution</strong> zu begraben.<br />
Die Anarchisten, die zum Kampf riefen, wiesen darauf hin, daß »auch <strong>der</strong> Februaraufstand<br />
ohne Führung von Parteien vollzogen wurde«. Aber <strong>der</strong> Februaraufstand hatte<br />
fertige, durch den Kampf von Generationen ausgearbeitete Aufgaben vor sich, und über<br />
dem Februaraufstand erhoben sich die oppositionelle liberale Gesellschaft und die patriotische<br />
Demokratie, vorbereitete Anwärter auf die Macht. Die Julibewegung dagegen<br />
mußte sich ein ganz neues historisches Bett bahnen. Die gesamte bürgerliche Gesellschaft,<br />
einschließlich Sowjetdemokratie, stand ihr mit unversöhnlicher Feindschaft<br />
gegenüber. Diesen Grundunterschied zwischen den Bedingungen <strong>der</strong> bürgerlichen und<br />
<strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> hatten die Anarchisten nicht gesehen o<strong>der</strong> nicht begriffen.<br />
Hätte die bolschewistische Partei sich auf <strong>der</strong> doktrinären Einschätzung <strong>der</strong> Julibewegung<br />
als einer "verfrühten" versteift, den Massen den Rücken gekehrt, <strong>der</strong> halbe<br />
Aufstand wäre unvermeidlich unter die zersplitterte und uneinige Leitung von Anarchisten,<br />
Abenteurern, zufälligen Exponenten <strong>der</strong> Massenempörung geraten und in fruchtlosen<br />
Konvulsionen verblutet. Aber auch umgekehrt: Hätte die Partei, sich an die Spitze<br />
<strong>der</strong> Maschinengewehrschützen und <strong>der</strong> Putilower stellend, auf ihre Gesamteinschätzung<br />
<strong>der</strong> Lage verzichtet und den Weg entscheiden<strong>der</strong> Kämpfe beschnitten, <strong>der</strong> Aufstand hätte<br />
zweifellos kühnen Schwung genommen, und die Arbeiter und Soldaten würden unter <strong>der</strong><br />
Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki die Macht erobert haben, aber nur, um den Zusammenbruch <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> vorzubereiten. Die Frage <strong>der</strong> Macht im nationalen Maßstabe wäre, im Gegensatz<br />
zum Februar, durch einen Sieg in Petrograd nicht entschieden worden. Die Provinz<br />
hätte mit <strong>der</strong> Hauptstadt nicht Schritt gehalten. Die Front die Umwälzung nicht begriffen<br />
und nicht akzeptiert. Eisenbahn und Telegraph hätten den Versöhnlern gegen die<br />
Bolschewiki gedient. Kerenski und das Hauptquartier eine Regierung <strong>der</strong> Front und<br />
Provinz gebildet. Petrograd wäre blockiert worden. In seinen Mauern hätte Zersetzung<br />
Platz gegriffen. Der Regierung wäre es möglich gewesen, größere Soldatenmassen gegen<br />
Petrograd zu werfen. Der Aufstand hätte unter solchen Bedingungen mit einer Tragödie<br />
<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Kommune geendet.<br />
An <strong>der</strong> Juli-Kreuzung <strong>der</strong> historischen Wege hat nur die Einmischung <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong><br />
Bolschewiki beide Varianten <strong>der</strong> schicksalvollen Gefahr verhin<strong>der</strong>t: sowohl die im<br />
Geiste <strong>der</strong> junitage von 1848 wie die im Geiste <strong>der</strong> Pariser Kommune von 1871. Dank<br />
<strong>der</strong> Tatsache, daß die Partei sich kühn an die Spitze <strong>der</strong> Bewegung stellte, erhielt sie die<br />
Möglichkeit, die Massen in dem Moment anzuhalten, wo die Demonstration sich in ein<br />
bewaffnetes Kräftemessen zu verwandeln begann. Der Schlag, <strong>der</strong> im Juli den Massen<br />
und <strong>der</strong> Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheiden<strong>der</strong><br />
Schlag. Die Opfer zählten nach Zehnern, nicht nach Zehntausenden. Die Arbeiterklasse<br />
ging aus <strong>der</strong> Prüfung we<strong>der</strong> enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfka<strong>der</strong><br />
unversehrt erhalten, und diese Ka<strong>der</strong> hatten vieles gelernt.<br />
In jenen Tagen <strong>der</strong> Februarumwälzung hatte sich die gesamte vorangegangene langjährige<br />
Arbeit <strong>der</strong> Bolschewiki gezeigt, und die von <strong>der</strong> Partei erzogenen fortgeschrittenen<br />
Arbeiter hatten ihren Platz im Kampfe gefunden; doch eine unmittelbare Leitung seitens<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 359
<strong>der</strong> Partei gab es noch nicht. In den Aprilereignissen enthüllten die Parteiparolen ihre<br />
dynamische Kraft, die Bewegung jedoch entwickelte sich spontan. Im Juni offenbarte<br />
sich <strong>der</strong> riesige Einfluß <strong>der</strong> Partei, doch die Massen traten noch im Rahmen einer offiziell<br />
vom Gegner bestimmten Demonstration auf. Und erst im Juli erscheint die bolschewistische<br />
Partei, nachdem sie den Druck <strong>der</strong> Massen an sich erfahren hat, gegen alle übrigen<br />
Parteien auf <strong>der</strong> Straße und bestimnit nicht nur ihre Parolen, sondem auch durch ihre<br />
organisatorische Leitung den grundlegenden Charakter <strong>der</strong> Bewegung. Die Bedeutung<br />
einer geschlossenen Avantgarde zeigt sich zum erstenmal in ihrer ganzen Stärke während<br />
<strong>der</strong> Julitage, wo die Partei - um einen hohen Preis - das Proletariat vor Zerschmetterung<br />
bewahrt und die Zukunft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und ihre eigene Zukunft sichert.<br />
»Als technische Probe«, schrieb Miljukow über die Bedeutung <strong>der</strong> Julitage für die<br />
Bolschewiki, »war das Experiment für sie zweifellos außerordentlich nützlich. Es zeigte<br />
ihnen, mit welchen Elementen man es zu tun hat; wie diese Elemente zu organisieren,<br />
undschließlich, welchen Wi<strong>der</strong>stand Regierung, Sowjet und Truppenteile zu leisten<br />
imstande sind ... Es war klar, kommt die Zeit für die Wie<strong>der</strong>holung des Experiments, sie<br />
würden es systematischer und umsichtiger ausführen.« Diese Worte schätzen die Bedeutung<br />
<strong>der</strong> Julierfahrung für die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Bolschewiki richtig<br />
ein. Aber bevor sie die Julilehren ausnutzte, mußte die Partei noch einige äußerst<br />
schwere Wochen durchmachen, wo es kurzsichtigen Feinden schien, die Kraft des<br />
Bolschewismus sei endgültig gebrochen.<br />
Ein Monat <strong>der</strong> großen Verleumdung<br />
Am 4. Juli, bereits in den Nachtstunden, während die zweihun<strong>der</strong>t Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
beiden Exekutiven, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauern, sich zwischen<br />
zwei gleich fruchtlosen Sitzungen abmarterten, drang in ihre Mitte ein geheimnisvolles<br />
Gerücht: man habe Belege über Lenins Verbindung mit dem deutschen Generalstab<br />
aufgefunden; morgen würden die Zeitungen die enthüllenden Dokumente<br />
veröffentlichen. Die finsteren Auguren vom Präsidium, die den Saal auf dem Wege<br />
hinter die Kulissen durchqueren, wo unaufhörlich Beratungen stattfinden, beantworten<br />
unwillig und ausweichend die Fragen sogar ihnen befreundeter Personen. Über das<br />
Taurische Palais, das vom außenstehenden Publikum fast verlassen ist, legt sich ein<br />
Schauer. Lenin im Dienste des deutschen Generalstabs? Zweifel, Schrecken, Schadenfreude<br />
führen die Deputierten zu erregten Gruppen zusammen. »Selbstverständlich«,<br />
erinnert sich Suchanow, <strong>der</strong> in den Julitagen den Bolschewiki sehr feindlich gegenüberstand,<br />
»zweifelte von den <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wirklich verbundenen Menschen niemand auch<br />
nur einen Augenblick an <strong>der</strong> Unsinnigkeit dieser Gerüchte.« Doch Menschen mit revolutionärer<br />
Vergangenheit bildeten unter den Mitglie<strong>der</strong>n des Exekutivkomitees eine<br />
unbedeutende Min<strong>der</strong>heit. Märzrevolutionäre, zufällige Elemente, von <strong>der</strong> ersten Welle<br />
erfaßt, überwogen sogar in den leitenden Sowjetorganen. Unter den Provinzlern,<br />
Dorfschreibern, Krämern, Amtsvorstehern stieß man auf Deputierte mit unverkennbarem<br />
Geruch nach Schwarzhun<strong>der</strong>ttum. Die sind zuallererst aufgeknöpft: sie haben das vorausgesehen,<br />
so war's auch zu erwarten!<br />
Erschreckt durch die überraschende und allzu jähe Wendung <strong>der</strong> Sache, suchten die<br />
Führer Zeit zu gewinnen. Tschcheidse und Zeretelli empfahlen telephonisch den<br />
Zeitungsredaktionen, von <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> sensationellen Enthüllungen, weil<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 360
»ungeprüft«, abzusehen. Die Redaktionen wagten nicht, gegen eine aus dem Taurischen<br />
Palais kommende "Bitte" zu verstoßen; alle, außer einer: das kleine gelbe Blatt eines <strong>der</strong><br />
Söhne Suworins. des gewichtigen Verlegers <strong>der</strong> 'Nowoje Wremja', servierte am nächsten<br />
Morgen seinen Lesern das offiziös klingende Dokument über den Empfang von Direktiven<br />
und Geld <strong>der</strong> deutschen Regierung durch Lenin. Das Verbot war durchbrochen, und<br />
tags darauf war die gesamte Presse von dieser Sensation voll. So setzte die unglaublichste<br />
Episode des an Ereignissen reichen Jahres ein: Führer einer revolutionären Partei,<br />
<strong>der</strong>en Leben jahrzehntelang im Kampf mit gekrönten und ungekrönten Herrschern<br />
verlaufen war, wurden vor dem ganzen Lande und <strong>der</strong> ganzen Welt als gemietete<br />
Agenten <strong>der</strong> Hohenzollern hingestellt. Eine Verleumdung von nie dagewesenem<br />
Maßstabe wurde in die Tiefe <strong>der</strong> Volksmassen geschleu<strong>der</strong>t, die in ihrer überwiegenden<br />
Mehrheit zum erstenmal nach <strong>der</strong> Februarrevolution die Namen <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Führer vernahmen. Die Intrige wurde zum erstrangigen politischen Faktor. Das macht<br />
eine aufmerksamere Untersuchung ihrer Mechanik notwendig.<br />
Das sensationelle Dokument hatte zu seiner Urquelle die Aussagen eines gewissen<br />
Jermolenko. Die Physiognomie dieses Helden wird durch die offiziellen Angaben<br />
erschöpft: in <strong>der</strong> Periode nach dem Japanischen Krieg bis 1913 Agent <strong>der</strong> Konterspionage;<br />
1913 im Range eines Fähnrichs entlassen aus nicht festzustellenden Gründen; im<br />
Jahre 1914 zur aktiven Armee eingezogen; geriet ruhmreich in Gefangenschaft und<br />
beschäftigte sich mit polizeilicher Überwachung <strong>der</strong> Kriegsgefangenen. Doch entspricht<br />
das Regime des Konzentrationslagers nicht dem Geschmack des Spitzels, und er tritt »auf<br />
Drängen <strong>der</strong> Kameraden« - das sind seine Angaben - in Dienst <strong>der</strong> Deutschen, selbstverständlich<br />
zu patriotischen Zwecken. In seinem Leben begann ein neues Kapitel. Am<br />
25. April wurde <strong>der</strong> Fähnrich von den deutschen Militärbehörden über die russische<br />
Front »geworfen« zum Zwecke, Brücken zu sprengen, Spionageberichte zu liefern, für<br />
die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Ukraine zu kämpfen und für den Separatfrieden zu agitieren.<br />
Deutsche Offiziere, die Hauptleute Schidizki und Libers, die Jermolenko für diese<br />
Zwecke verpflichtet hatten, berichteten ihm darüber hinaus, so nebenbei, ohne jegliche<br />
praktische Notwendigkeit, offenbar nur zur Stärkung seines Mutes, außer dem Fähnrich<br />
werde in <strong>der</strong> gleichen Richtung in Rußland noch ... Lenin arbeiten. Das ist das Fundament<br />
<strong>der</strong> ganzen Sache.<br />
Was o<strong>der</strong> wer gab Jermolenko seine Aussagen über Lenin ein? Deutsche Offiziere<br />
jedenfalls nicht. Eine einfache Gegenüberstellung von Daten und Tatsachen führt uns in<br />
das geistige Laboratorium des Fähnrichs ein. Am 4. April veröffentlichte Lenin seine<br />
berühmten Thesen, die eine Kriegserklärung an das Februarregime bedeuteten. Am 20.<br />
bis 21. fand die bewaffnete Demonstration gegen die Verlängerung des Krieges statt. Die<br />
Hetze gegen Lenin nahm den Charakter eines Orkans an. Am 25. wurde Jermolenko über<br />
die russische Front »geworfen« und kam in <strong>der</strong> ersten Maihälfte in Führung mit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Spionage beim Hauptquartier. Die zweideutigen Zeitungsartikel, die nachwiesen,<br />
Lenins Politik nütze dem »Kaiser«, führten zu dem Gedanken, Lenin sei deutscher<br />
Agent. An <strong>der</strong> Front genierten sich die Offiziere und Kommissare im Kampfe mit dem<br />
unüberwindlichen »Bolschewismus« <strong>der</strong> Soldaten noch weniger bei <strong>der</strong> Wahl ihrer<br />
Äußerungen, wenn die Rede auf Lenin kam. Jermolenko tauchte sogleich in diesem<br />
Strome unter. Ob er selbst den bei den Haaren herbeigezogenen Satz über Lenin ausgedacht<br />
hat, ob ihn irgendein Inspirator ihm vertraulich zugeflüstert o<strong>der</strong> ihn die Beamten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 361
<strong>der</strong> Konterspionage mit Jermolenko zusammen verfertigt haben - ist ohne große Bedeutung.<br />
Die Nachfrage nach Verleumdungen gegen die Bolschewiki erreichte eine solche<br />
Spannung, daß das Angebot nicht ausbleiben konnte. Der Generalstabschef Denikin, <strong>der</strong><br />
spätere Generalissimus <strong>der</strong> Weißen im Bürgerkriege, <strong>der</strong> sich selbst nicht sehr über den<br />
Horizont <strong>der</strong> Agenten <strong>der</strong> zaristischen Konterspionage erhob, verlieh o<strong>der</strong> tat, als<br />
verleihe er, Jermolenkos Angaben große Bedeutung und übemittelte sie mit einem<br />
entsprechenden Brief am 16. Mai dem Kriegsminister. Kerenski besprach sich, wie<br />
anzunehmen ist, mit Zeretelli und Tschcheidse, die nicht umhin konnten, seinen edlen<br />
Eifer etwas zu hemmen; das erklärt offenbar, weshalb die Angelegenheit nicht weiter<br />
verfolgt wurde. Kerenski schrieb später, wenn auch Jermolenko auf Lenins Verbindung<br />
mit dem deutschen Generalstab hingewiesen habe, so doch »nicht mit ausreichen<strong>der</strong><br />
Bestimmtheit«. Der Bericht Jermolenko-Denikin blieb an<strong>der</strong>thalb Monate im Verborgenen<br />
liegen. Die Konterspionage entließ Jermolenko aus Mangel an Beschäftigung, und<br />
<strong>der</strong> Fähnrich machte sich nach dem Fernen Osten davon, das aus zweierlei Quellen erhaltene<br />
Geld zu vertrinken.<br />
Die Ereignisse <strong>der</strong> Julitage, die die drohende Gefahr des Bolschewismus in ihrer<br />
ganzen Größe gezeigt hatten, zwangen jedoch, sich <strong>der</strong> Enthüllungen Jermolenkos zu<br />
erinnern. Er wurde eiligst aus Blagowestschensk herbeigerufen, konnte aber infolge<br />
mangeln<strong>der</strong> Einbildungskraft, trotz allen Ermunterungen, seinen ursprünglichen Angaben<br />
kein Wort hinzufügen. Zu dieser Zeit arbeiteten indes Justiz und Konterspionage bereits<br />
mit Volldampf. Über eventuelle verbrecherische Verbindungen <strong>der</strong> Bolschewiki wurden<br />
Politiker, Generale, Gendarmen, Kaufleute und eine Menge Personen verschiedenster<br />
Berufe vernommen. Die soliden zaristischen Gendarmen verhielten sich bei diesen<br />
Untersuchungen bedeutend vorsichtiger als die nagelneuen Vertreter <strong>der</strong> demokratischen<br />
Justiz! »Über Berichte«, schrieb <strong>der</strong> ehemalige Chef <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Ochrana, <strong>der</strong><br />
würdige General Globatschew, »wonach Lenin in Rußland zu dessen Schaden und für<br />
deutsches Geld gearbeitet habe, verfügte die Ochrana, mindestens während meiner<br />
Dienstzeit, nicht.« Ein an<strong>der</strong>er Geheimpolizist, Jakubow, <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> Konterspionageabteilung<br />
des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirkes, sagte aus: »Mir ist über Verbindungen Lenins<br />
und seiner Gesinnungsgenossen mit dem deutschen Generalstab nichts bekannt, auch<br />
weiß ich nichts über die Geldmittel, die Lenin zur Verfügung standen.« Aus den Organen<br />
<strong>der</strong> zaristischen Geheimpolizei, die den Bolschewismus von seinen ersten Anfängen an<br />
überwacht hatten, war nichts Nützliches herauszupressen.<br />
Indes, wenn Menschen, beson<strong>der</strong>s mit <strong>der</strong> Regierungsmacht bewaffnete, lange suchen,<br />
finden sie schließlich doch etwas. Irgendein S. Burstein, seinem offiziellen Stande nach<br />
Kaufmann, öffnete <strong>der</strong> Provisorischen Regierung die Augen über die »deutsche Spionageorganisation<br />
in Stockholm, mit Parvus an <strong>der</strong> Spitze«, dem bekannten deutschen<br />
Sozialdemokraten russischer Herkunft. Nach Bursteins Angaben stand Lenin durch die<br />
polnischen <strong>Revolution</strong>äre Ganetzki und Koslowski mit dieser Organisation in Verbindung.<br />
Kerenski schrieb später: »Sehr ernsthafte Angaben, aber lei<strong>der</strong> nicht vom Gericht,<br />
son<strong>der</strong>n von Geheimagenten herrührend, sollten mit <strong>der</strong> Ankunft Ganetzkis in Rußland,<br />
<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Grenze zu verhaften war, eine völlig unwi<strong>der</strong>legbare Bestätigung erhalten<br />
und sich in ein zuverlässiges Gerichtsmaterial gegen den bolschewistischen Stab<br />
verwandeln.« Kerenski wußte im voraus, was sich in was zu verwandeln hatte.<br />
Die Angaben des Kaufmanns Burstein betrafen geschäftliche Operationen Ganetzkis<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 362
und Koslowskis zwischen Petrograd und Stockholm. Dieses Geschäft zur Kriegszeit, das<br />
sich wahrscheinlich bei <strong>der</strong> Korrespondenz einer Decksprache bediente, hatte keine<br />
Beziehung zur Politik. Die bolschewistische Partei hatte keine Beziehung zu diesen<br />
Geschäften. Lenin und Trotzki hatten Parvus, <strong>der</strong> gute Geschäfte mit schlechter Politik<br />
zu verbinden verstand, öffentlich entlarvt und die <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre aufgefor<strong>der</strong>t,<br />
alle Beziehungen zu ihm abzubrechen. Wer hatte aber die Möglichkeit, im Strudel <strong>der</strong><br />
Ereignisse sich in alledem zurechtzufinden? Eine Spionageorganisation in Stockholm -<br />
das klang einleuchtend. Und das Licht, erfolglos angezündet von <strong>der</strong> Hand des Fähnrichs<br />
Jermolenko, entbrannte vom an<strong>der</strong>en Ende. Zwar stieß man auch hier auf Schwierigkeiten.<br />
Der Chef <strong>der</strong> Konterspionageabteilung des Generalstabs, Fürst Turkestanow,<br />
antwortete auf die Anfrage des Untersuchungsrichters für beson<strong>der</strong>s wichtige Angelegenheiten,<br />
Alexandrow, daß »S. Burstein eine Person ist, die keinerlei Vertrauen<br />
verdient. Burstein stellte den Typus des dunklen Geschäftemachers dar, dem nichts zu<br />
schmutzig ist.« Aber konnte <strong>der</strong> schlechte Ruf Bursteins den Versuch vereiteln, Lenins<br />
Ruf zu ver<strong>der</strong>ben? Nein, Kerenski schwankte nicht, Bursteins Aussagen als »sehr ernsthaft«<br />
zu bezeichnen. Die Untersuchung folgte nunmehr den Stockholmer Spuren. Die<br />
Enthüllungen des Fähnrichs, <strong>der</strong> zwei Stäben diente, und des dunklen Geschäftemachers,<br />
<strong>der</strong> »kein Vertrauen verdient«, bildeten das Fundament <strong>der</strong> allerphantastischsten<br />
Beschuldigung gegen eine revolutionäre Partei, die das Hun<strong>der</strong>tsechzigmillionen-Volk<br />
an die Macht zu stellen sich anschickte.<br />
Auf welche Weise war indes das Material <strong>der</strong> Voruntersuchung in die Presse gelangt,<br />
dabei gerade in dem Augenblick, wo die zusammengebrochene Offensive Kerenskis an<br />
<strong>der</strong> Front in eine Katastrophe umzuschlagen begann, die Julidemonstration in Petrograd<br />
aber das unaufhaltsame Anwachsen <strong>der</strong> Bolschewiki offenbarte? Einer <strong>der</strong> Initiatoren des<br />
Unternehmens, Staatsanwalt Bessarabow, erzählte später in <strong>der</strong> Presse offen: als es sich<br />
herausstellte, daß die Provisorische Regierung über keinerlei zuverlässige bewaffnete<br />
Macht in Petrograd verfügte, wurde im Bezirksstab beschlossen, zu versuchen, mit Hilfe<br />
eines stark wirkenden Mittels in den Regimentern einen psychologischen Umschwung<br />
hervorzurufen. »Vertretern des Preobraschenski-Regiments, das dem Stabe am nächsten<br />
stand, wurde <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> Dokumente mitgeteilt; die Anwesenden konnten sich<br />
überzeugen, welch erschütternden Eindruck diese Mitteilung machte. Von diesem<br />
Moment an war es klar, über welch mächtige Waffe die Regierung verfügte.« Nach einer<br />
so gelungenen experimentalen Prüfung eilten die Verschwörer aus Justiz, Stab und<br />
Konterspionage, von ihrer Entdeckung den Justizminister in Kenntnis zu setzen.<br />
Perewersew antwortete, eine offizielle Mitteilung könne nicht gemacht werden, doch<br />
würden seitens <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung »<strong>der</strong> privaten Initiative<br />
keine Hin<strong>der</strong>nisse bereitet werden«. Man hatte nicht ohne Grund erkannt, daß Namen<br />
von Stabs- o<strong>der</strong> Gerichtsbeamten den Interessen <strong>der</strong> Sache nicht entsprachen: um die<br />
sensationelle Verleumdung in Umlauf zu setzen, brauchte man einen »Politiker«. Im<br />
Wege <strong>der</strong> privaten Initiative fanden die Verschwörer mühelos gerade die Person, <strong>der</strong>en<br />
sie bedurften. Ehemaliger <strong>Revolution</strong>är, Deputierter <strong>der</strong> Zweiten Duma, lärmen<strong>der</strong><br />
Redner und leidenschaftlicher Intrigant, hatte Alexinski sich eine Zeitlang auf dem<br />
äußersten linken Flügel <strong>der</strong> Bolschewiki befunden. Lenin war in seinen Augen ein unverbesserlicher<br />
Opportunist. In den Jahren <strong>der</strong> Reaktion hatte Alexinski eine, ultralinke<br />
Son<strong>der</strong>gruppierung geschaffen, an <strong>der</strong>en Spitze er sich bis zum Kriege in <strong>der</strong> Emigration<br />
hielt, um mit dessen Beginn eine ultrapatriotische Position zu beziehen und sogleich zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 363
seiner Spezialität zu machen, alle und jeden als Mietling des deutschen Kaisers zu entlarven.<br />
Auf diesem Gebiete entfaltete er in Paris eine umfangreiche Spitzeltätigkeit im<br />
Bunde mit <strong>russischen</strong> und französischen Patrioten von gleichem Typ. Die Pariser Gesellschaft<br />
<strong>der</strong> ausländischen Journalisten, das heißt Korrespondenten <strong>der</strong> alliierten und<br />
neutralen Län<strong>der</strong> - sehr patriotisch und durchaus nicht rigoros -, sah sich gezwungen,<br />
durch beson<strong>der</strong>en Beschluß Alexinski für einen »ehrlosen Verleum<strong>der</strong>« zu erklären und<br />
aus ihrer Mitte zu weisen. Mit diesem Zeugnis nach <strong>der</strong> Februarumwälzung in Petrograd<br />
angekommen, versuchte Alexinski als ehemaliger Linker in das Exekutivkomitee einzudringen.<br />
Trotz all ihrer Nachsicht machten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
durch einen Beschluß vom 11. April vor ihm die Türe zu und gaben ihm anheim, vorerst<br />
seine Ehre wie<strong>der</strong>herzustellen. Das war leicht gesagt! In Erwägung, an<strong>der</strong>e zu verleumden<br />
sei weitaus erreichbarer, als sich selbst zu rehabilitieren, setzte sich Alexinski mit <strong>der</strong><br />
Konterspionage in Verbindung und sicherte seinen Intrigeninstinkten staatliches<br />
Ausmaß. Schon in <strong>der</strong> zweiten Julihälfte begann er in die Kreise seiner Verleumdung<br />
auch die Menschewiki einzubeziehen. Deren Führer Dan trat aus seiner abwartenden<br />
Haltung heraus und veröffentlichte im offiziellen Sowjetorgan 'Iswestja' (am 22. Juli) ein<br />
Protestschreiben: »... Es ist Zeit, den Heldentaten eines Menschen ein Ende zu setzen, <strong>der</strong><br />
offiziell als ehrloser Verleum<strong>der</strong> erklärt wurde.« Ist es nicht verständlich, daß die<br />
Themis, die Jermolenko und Burstein inspiriert hatte, keinen besseren Vermittler<br />
zwischen sich und <strong>der</strong> öffentlichen Meinung finden konnte als Alexinski? Seine Unterschrift<br />
zierte nun das Enthüllungsdokument.<br />
Hinter den Kulissen protestierten die Minister-<strong>Sozialisten</strong>, wie übrigens auch zwei<br />
bürgerliche Minister, Nekrassow und Tereschtschenko, gegen die Auslieferung des<br />
Dokuments an die Presse. Am Tage <strong>der</strong> Veröffentlichung, am 5. Juli, war Perewersew,<br />
den die Regierung schon vorher gerne hatte loswerden wollen, zu demissionieren<br />
gezwungen. Die Menschewiki deuteten an, daß es ihr Sieg sei. Kerenski behauptete<br />
später, <strong>der</strong> Minister sei entfernt worden wegen übermäßiger Voreiligkeit bei den Enthüllungen,<br />
die den Gang <strong>der</strong> Untersuchung gestört hätten. Wenn nicht mit seinem Verweilen<br />
an <strong>der</strong> Macht, so hat Perewersew jedenfalls mit seinem Verschwinden alle befriedigt.<br />
Am gleichen Tage erschien in <strong>der</strong> Sitzung des Büros des Exekutivkomitees Sinowjew<br />
und for<strong>der</strong>te im Namen des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, unverzüglich Maßnahmen<br />
zu treffen zur Rehabilitierung Lenins und zur Vorbeugung eventueller Verleumdung. Das<br />
Büro konnte die Einsetzung einer Untersuchungskommission nicht verweigern. Suchanow<br />
schreibt: »Die Kommission selbst begriff, daß hierbei nicht die Frage des Verkaufs<br />
Rußlands durch Lenin zu untersuchen war, son<strong>der</strong>n nur die Quellen <strong>der</strong> Verleumdung.«<br />
Doch stieß die Kommission mit <strong>der</strong> eifersüchtigen Rivalität <strong>der</strong> Justiz- und Konterspionage<br />
zusammen, die allen Grund hatten, fremde Einmischung in ihr Handwerk nicht zu<br />
wünschen. Allerdings waren die Sowietorgane bisher stets mit den Regierungsstellen<br />
mühelos fertiggeworden, wenn sie die Notwendigkeit hierzu verspürten. Die Julitage<br />
jedoch hatten eine ernstliche Verschiebung <strong>der</strong> Macht nach rechts vollbracht; außerdem<br />
eilte die Sowjetkommission nicht im geringsten, eine Aufgabe zu lösen, die den politischen<br />
Interessen ihrer Vertrauensleute offensichtlich wi<strong>der</strong>sprach. Die ernsthafteren von<br />
den Versöhnlerführern, eigentlich nur die Menschewiki, trugen Sorge, ihr formelles<br />
Unbeteiligtsein an <strong>der</strong> Verleumdung sicherzustellen, aber auch nicht mehr. In allen<br />
Fällen, wo einer direkten Antwort nicht auszuweichen war, grenzten sie sich mit einigen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 364
Worten von den Verleum<strong>der</strong>n ab; doch rührten sie keinen Finger, den vergifteten Dolch<br />
abzuwenden, <strong>der</strong> über dem Haupt <strong>der</strong> Bolschewiki schwebte. Ein populäres Beispiel<br />
solcher Politik gab einst <strong>der</strong> römische Prokonsul Pilatus. Konnten sie denn auch an<strong>der</strong>s<br />
handeln, ohne sich untreu zu werden? Nur die Verleumdung gegen Lenin hat in den<br />
Julitagen einen Teil <strong>der</strong> Garnison von den Bolschewiki abgestoßen. Würden die<br />
Versöhnler einen Kampf gegen die Verleumdung aufgenommen haben, das Bataillon des<br />
Ismajlowski-Regiments hätte, wie anzunehnien ist, den Gesang <strong>der</strong> Marseillaise zu Ehren<br />
des Exekutivkomitees abgebrochen und wäre in die Kasernen, wenn nicht zuni<br />
Kschessinskaja-Palais zurückgekehrt.<br />
In Übereinstinimung mit <strong>der</strong> Gesamtlinie <strong>der</strong> Menschewiki hielt es Innenminister<br />
Zeretelli, <strong>der</strong> die Verantwortung für die bald darauf erfolgten Verhaftungen <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
übernahm, für nötig, allerdings unter dem Druck <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion, in<br />
<strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees zu erklären, er persönlich verdächtige die bolschewistischen<br />
Führer <strong>der</strong> Spionage nicht, beschuldige sie aber <strong>der</strong> Verschwörung und des<br />
bewaffneten Aufstandes. Als am 13. Juli Liber eine Resolution einbrachte, die die<br />
bolschewistische Partei eigentlich außer Gesetz stellte, fand er den Vorbehalt notwendig:<br />
»Ich selbst halte die gegen Lenin und Sinowjew gerichtete Beschuldigung für völlig<br />
unbegründet.« Erklärungen solcher Art nahmen alle schweigend und finster auf: den<br />
Bolschewiki erschienen sie würdelos ausweichend, den Patrioten überflüssig, da unvorteilhaft.<br />
Bei seinem Auftreten in <strong>der</strong> Vereinigten Sitzung bei<strong>der</strong> Exekutivkomitees am I7. sagte<br />
Trotzki: »Es wird eine unerträgliche Atmosphäre geschaffen, in <strong>der</strong> ihr ebenso ersticken<br />
werdet wie wir. Man schleu<strong>der</strong>t schmutzige Beschuldigungen gegen Lenin und Sinowjew.<br />
[Eine Stimnie: »Mit Recht.« Lärm. Trotzki fährt fort:] Es gibt hier im Saale, wie sich<br />
herausstellt, Menschen, die mit den Beschuldigungen sympathisieren. Hier gibt es<br />
Menschen, die sich an die <strong>Revolution</strong> nur herangeschmiert haben. [Lärm. Die Glocke<br />
des Vorsitzenden braucht lange zur Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ruhe.] ... Lenin hat für die<br />
<strong>Revolution</strong> dreißig Jahre gekämpft. Ich kämpfe zwanzig Jahre gegen die Unterdrückung<br />
<strong>der</strong> Volksmassen. Und wir können nur Haß gegen den deutschen Militarismus hegen ...<br />
Auf diesem Gebiet gegen uns einen Verdacht aussprechen kann nur jemand, <strong>der</strong> nicht<br />
weiß, was ein <strong>Revolution</strong>är ist. Ich war vom deutschen Gericht zu acht Monaten Gefängnis<br />
verurteilt für den Kampf gegen den deutschen Militarismus ... und das wissen alle.<br />
Erlaubt keinem hier in diesem Saale auszusprechen, daß wir Mietlinge Deutschlands<br />
seien, denn dies ist nicht die Stimme überzeugter <strong>Revolution</strong>äre, son<strong>der</strong>n die Stimme <strong>der</strong><br />
Nie<strong>der</strong>tracht.« (Beifall.) So ist die Episode in <strong>der</strong> antibolschewistischen Presse jener Zeit<br />
dargestellt, - die bolschewistische war bereits verboten. Es muß jedoch erklärt werden,<br />
daß <strong>der</strong> Beifall nur aus dem kleinen linken Sektor kam; ein Teil <strong>der</strong> Deputierten brüllte<br />
haßerfüllt, die Mehrheit schwieg sich aus. Doch niemand, auch nicht einer von den<br />
offenen Agenten Kerenskis, bestieg die Tribüne, um die offizielle Version <strong>der</strong> Beschuldigung<br />
zu unterstützen o<strong>der</strong> auch nur indirekt zu decken.<br />
In Moskau, wo <strong>der</strong> Kampf zwischen Bolschewiki und Versöhnlern überhaupt mil<strong>der</strong>en<br />
Charakter trug, um im Oktober um so erbittertere Formen anzunehmen, verfügte am 10.<br />
Juli die Vereinigte Sitzung bei<strong>der</strong> Sowjets, <strong>der</strong> Arbeiter und <strong>der</strong> Soldaten, »einen Aufruf<br />
herauszugeben und anuschlagen, in dem darauf verwiesen wird, daß die Beschuldigung<br />
<strong>der</strong> Spionage gegen die Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki Verleumdung und Intrige <strong>der</strong> Konter-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 365
evolution ist«. Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, von den Regierungskombinationen unmittelbarer<br />
abhängig, unternahm keinerlei Schritte, son<strong>der</strong>n wartete das Resultat <strong>der</strong> Untersuchungskommission<br />
ab, die indes nicht an die Arbeit heranging.<br />
Am 5. Juli stellte Lenin in einem Gespräch mit Trotzki die Frage: »Werden sie uns<br />
nicht einen nach dem an<strong>der</strong>en abschießen?« Nur mit solchen Absichten war ja überhaupt<br />
<strong>der</strong> offiziöse Stempel auf <strong>der</strong> ungeheuerlichen Verleumdung zu erklären. Lenin hielt die<br />
Feinde für fähig, die von ihnen angezettelte Sache bis zu Ende zu führen, und kam zu <strong>der</strong><br />
Schlußfolgerung: sich ihnen nicht in die Hände geben. Am 6. abends traf von <strong>der</strong> Front<br />
Kerenski ein, vollgepfropft von Eingebungen <strong>der</strong> Generale, und verlangte entschiedene<br />
Maßnahmen gegen die Bolschewiki. Etwa um 2 Uhr nachts beschloß die Regierung, alle<br />
Führer des »bewaffneten Aufstandes« zur Verantwortung zu ziehen und die Regimenter,<br />
die an <strong>der</strong> Meuterei teilgenommen, aufzulösen. Das Militärdetachement, das in die<br />
Wohnung Lenins geschickt wurde, eine Haussuchung und die Verhaftung vorzunehmen,<br />
mußte sich mit <strong>der</strong> Haussuchung begnügen, da <strong>der</strong> Wohnungsinhaber bereits nicht mehr<br />
zu Hause war. Lenin hielt sich noch in Petrograd auf, verbarg sich aber in einer Arbeiterwohnung<br />
und verlangte, daß die Untersuchungskommission des Sowjets ihn und<br />
Sinowjew unter Bedingungen vernehme, die eine Falle seitens <strong>der</strong> Konterrevolution<br />
ausschlössen. In einer an die Kommission gerichteten Erklärung schrieben Lenin und<br />
Sinowjew: »Morgens [Freitag, den 7. Juli] wurde Kamenjew von <strong>der</strong> Duma aus<br />
mitgeteilt, die Kommission werde heute um 12 Uhr in die verabredete Wohnung kommen.<br />
Wir schreiben diese Zeilen um 6½ Uhr abends des 7. Juli und stellen fest, daß die<br />
Kommission bis jetzt nicht erschienen ist und nichts von sich hat hören lassen ... Die<br />
Verantwortung für die Verzögerung <strong>der</strong> Vemehmung fällt nicht auf uns.« Das Ausweichen<br />
<strong>der</strong> Sowjetkommission vor <strong>der</strong> versprochenen Untersuchung überzeugte Lenin<br />
endgültig davon, daß die Versöhnler ihre Hände in Unschuld wuschen und die Abrechnung<br />
den Weißgardisten überließen. Offiziere und Junker, die inzwischen Zeit gefunden<br />
hatten, die Parteidruckerei zu demolieren, verprügelten und verhafteten in den Straßen<br />
jeden, <strong>der</strong> gegen die Beschuldigung protestierte, die Bolschewiki seien Spione. Da<br />
beschloß Lenin endgültig, sich zu verbergen, nicht vor <strong>der</strong> Untersuchung, son<strong>der</strong>n vor<br />
<strong>der</strong> möglichen Abrechnung.<br />
Am 15. gaben Lenin und Sinowjew in <strong>der</strong> Kronstädter bolschewistischen Zeitung, die<br />
zu verbieten die Behörden nicht gewagt hatten, eine Erklärung ab, weshalb sie es nicht<br />
für angängig hielten, sich den Händen <strong>der</strong> Behörden auszuliefern: »Aus dem in <strong>der</strong><br />
Sonntagnummer <strong>der</strong> Zeitung 'Nowoje Wremja' veröffentlichten Brief des früheren Justizministers<br />
Perewersew geht ganz klar hervor, daß die "Sache" gegen Lenin und Genossen<br />
wegen Spionage völhg überlegt, von <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong> Konterrevolution angezettelt ist.<br />
Perewersew gesteht ganz offen, daß er ungeprüfte Beschuldigungen in Umlauf gebracht<br />
hat, um die Wut (wörtlicher Ausdruck) <strong>der</strong> Soldaten gegen unsere Partei auszulösen. Das<br />
gesteht <strong>der</strong> gestrige Justizminister! ... In Rußland gibt es zur Zeit keinerlei Rechtsgarantien.<br />
Sich den Händen <strong>der</strong> Behörden ausliefern, hieße sich den Händen <strong>der</strong> Miljukow,<br />
Alexinski, Perewersew, den Händen wutschnauben<strong>der</strong> Konterrevolutionäre ausliefern,<br />
für die alle Beschuldigungen gegen uns nur eine einfache Episode im Bürgerkriege<br />
sind.« Um heute den Sinn <strong>der</strong> Worte von <strong>der</strong> "Episode" im Bürgerkriege zu erfassen,<br />
genügt es, an das Schicksal Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs zu erinnern. Lenin<br />
vermochte vorauszusehen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 366
Während die Agitatoren des feindlichen Lagers in allen Tonarten erzählten, Lenin sei,<br />
bald auf einem Torpedoboot, bald auf einem Unterseeboot, nach Deutschland geflüchtet,<br />
beeilte sich die Mehrheit des Exekutivkomitees, Lenin wegen seines Ausweichens vor<br />
<strong>der</strong> Untersuchung zu verurteilen. Indem sie die Frage des politischen Sinns <strong>der</strong> Pogromstimmung<br />
umgingen, in <strong>der</strong> und <strong>der</strong>etwegen die Beschuldigung erhoben worden war,<br />
traten die Versöhnler als Verfechter <strong>der</strong> reinen Gerechtigkeit auf. Das war die am wenigsten<br />
ungünstige von allen Positionen, die ihnen noch übriggeblieben waren. Die Resolution<br />
des Exekutivkomitees vom 13. Juli bezeichnete die Haltung von Lenin und<br />
Sinowjew nicht nur als »ganz unzulässig«, sondem for<strong>der</strong>te auch von <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Fraktion »die unverzügliche, kategorische und klare Verurteilung« ihrer Führer.<br />
Die Fraktion lehnte einmütig die For<strong>der</strong>ung des Exekutivkomitees ab. Indes gab es bei<br />
den Bolschewiki, mindestens bei den Spitzen, Schwankungen wegen Lenins Ausweichen<br />
vor <strong>der</strong> Untersuchung. Bei den Versöhnlern, auch den allerlinksten, rief Lenins<br />
Verschwinden einmütige Entrüstung hervor, nicht immer heuchlerische, wie Suchanows<br />
Beispiel zeigt. Der verleum<strong>der</strong>ische Charakter des Materials <strong>der</strong> Konterspionage hatte bei<br />
ihm, wie wir wissen, von Anfang an außer Zweifel gestanden. »Die sinnlose Beschuldigung«,<br />
schrieb er, »verflüchtigte sich wie Dunst. Durch nichts und von niemand wurde<br />
sie bestätigt, und man hörte auf, ihr zu glauben.« Doch für Suchanow blieb es ein Rätsel,<br />
wie Lenin sich hatte entschließen können, <strong>der</strong> Untersuchung auszuweichen. »Das war<br />
etwas ganz Außerordentliches, Beispielloses, Unbegreifliches. Je<strong>der</strong> gewöhnliche Sterbliche<br />
hätte unter den ungünstigsten Bedingungen Gericht und Untersuchung verlangt.«<br />
Ja, je<strong>der</strong> gewöhnliche Sterbliche. Aber ein gewöhnlicher Sterblicher hätte auch nicht<br />
Gegenstand wildesten Hasses <strong>der</strong> regierenden Klassen werden können. Lenin war kein<br />
gewöhnlicher Sterblicher und vergaß keine Minute die auf ihm lastende Verantwortung.<br />
Er wußte aus <strong>der</strong> Lage alle Schlußfolgerungen zu ziehen und die Schwankungen <strong>der</strong><br />
"öffentlichen Meinung" zu ignorieren, im Namen <strong>der</strong> Aufgaben, denen sein Leben untergeordnet<br />
war. Donquichotterie und Pose waren ihm in gleicher Weise fremd.<br />
Zusammen mit Sinowjew verbrachte Lenin einige Wochen in <strong>der</strong> Umgebung Petrograds;<br />
nahe bei Sestroretzk, im Walde in einem Heuschober, mußten sie übernachten und<br />
vor Regen Schutz suchen. Als Heizer verkleidet, passierte Lenin auf einer Lokomotive<br />
die finnländische Grenze und hielt sich in <strong>der</strong> Wohnung des Helsingforser Polizeimeisters,<br />
eines früheren Petrogra<strong>der</strong> Arbeiters, verborgen; später übersiedelte er näher an die<br />
russische Grenze nach Wyborg. Seit Ende September lebte er illegal in Petrograd, um am<br />
Tage des Aufstandes, nach fast viermonatiger Abwesenheit, in <strong>der</strong> offenen Arena zu<br />
erscheinen.<br />
Der Juli gestaltete sich zu einem Monat ausschweifen<strong>der</strong>, schamloser und triuniphieren<strong>der</strong><br />
Verleumdung; im August schon begann sie sich zu verflüchtigen. Genau einen<br />
Monat, nachdem die Verleumdung in Umlauf gesetzt worden war, hielt <strong>der</strong> sich treue<br />
Zeretelli es für nötig, in <strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees zu wie<strong>der</strong>holen: »Ich habe<br />
gleich am Tage nach den Verhaftungen auf die Anfrage <strong>der</strong> Bolschewiki öffentlich<br />
Antwort gegeben und gesagt: die <strong>der</strong> Anstiftung zum Aufstands vom 3. bis 5. Juli<br />
angeklagten Führer <strong>der</strong> Bolschewiki verdächtige ich <strong>der</strong> Verbindung mit dem deutschen<br />
Generalstab nicht.« Weniger konnte man nicht sagen. Mehr zu sagen war unvorteilhaft.<br />
Die Presse <strong>der</strong> Versöhnlerparteien ging über Zeretellis Worte nicht hinaus. Da sie aber<br />
gleichzeitig erbittert die Bolschewiki als Helfershelfer des deutschen Militarismus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 367
entlarvte, so verschmolz die Stimme <strong>der</strong> Versölinlerzeitungen politisch mit dem Geheul<br />
<strong>der</strong> übrigen Presse, die von den Bolschewiki nicht als »Helfershelfern« Ludendorffs,<br />
sondem als dessen Mietlingen sprach. Die höchsten Töne in diesem Chor kamen von den<br />
Kadetten. 'Russkije Wedomosti', das Blatt <strong>der</strong> liberalen Moskauer Professoren,<br />
berichtete, bei <strong>der</strong> Haussuchung in <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' sei angeblich ein<br />
deutscher Brief gefunden worden, in dem ein Baron aus Haparanda »das Vorgehen <strong>der</strong><br />
Bolschewiki begrüßt«, und »die Freude, die es in Berlin hervorrufen wird«, voraussieht.<br />
Der deutsche Baron von <strong>der</strong> finnländischen Grenze wußte gut, welche Briefe die <strong>russischen</strong><br />
Patrioten benötigten. Von solchen Berichten war die Presse <strong>der</strong> gebildeten Gesellschaft<br />
voll, die sich gegen die bolschewistische Barbarei verteidigte.<br />
Glaubten die Professoren und Advokaten ihren eigenen Worten? Dies anzunehmen,<br />
mindestens was die wichtigsten Führer betrifft, hieße, ihre politische Urteilskraft gar zu<br />
niedrig einschätzen. Wenn nicht prinzipielle und psychologische, so mußten allein schon<br />
sachliche Erwägungen ihnen die Sinnlosigkeit <strong>der</strong> Beschuldigung beweisen, - und vor<br />
allem finanzielle Erwägungen. Die deutsche Regierung hätte doch sicher den Bolschewiki<br />
nicht mit Ideen, son<strong>der</strong>n mit Geld helfen können. Aber gerade Geld hatten die<br />
Bolschewiki nicht. Das ausländische Zentrum <strong>der</strong> Partei kämpfte während des Krieges<br />
mit <strong>der</strong> bittersten Not, hun<strong>der</strong>t Franken waren eine Riesensumme, das Zentralorgan<br />
erschien einmal im Monat o<strong>der</strong> gar in zwei Monaten, und Lenin zählte sorgfältig die<br />
Zeilen, um das Budget nicht zu überschreiten. Die Ausgaben <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Organisation<br />
in den Kriegsjahren belaufen sich auf wenige tausend Rubel, die hauptsächlich für<br />
den Druck illegaler Flugblätter verwandt wurden: während zweieinhalbjahren sind in<br />
Petrograd insgesamt nur dreihun<strong>der</strong>ttausend Exemplare erschienen. Nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />
war <strong>der</strong> Zustrom von Mitglie<strong>der</strong>n und Mitteln natürlich sehr gewachsen. Die Arbeiter<br />
machten mit großer Bereitwilligkeit Lohnabzüge für den Sowjet und die<br />
Sowjetparteien. »Spenden, allerhand Beiträge, Sammlungen und Abzüge zugunsten des<br />
Sowjets«, berichtete auf dem ersten Sowjetkongreß <strong>der</strong> Advokat Bramson, ein Trudowik,<br />
»gingen gleich am ersten Tage nach unserer <strong>Revolution</strong> ein ... Man konnte das äußerst<br />
rührende Bild einer ununterbrochenen Wallfahrt mit diesen Spenden zu uns ins Taurische<br />
Palais vom frühen Morgen bis zum späten Abend beobachten.« Je weiter, um so<br />
bereitwilliger machten die Arbeiter Lohnabzüge zugunsten <strong>der</strong> Bolschewiki. Jedoch war<br />
die 'Prawda' trotz dem schnellen Anwachsen <strong>der</strong> Partei und <strong>der</strong> Geldeingänge dem<br />
Umfang nach die kleinste von allen Parteizeitungen. Bald nach seiner Ankunft in<br />
Rußland schrieb Lenin an Radek nach Stockholm: »Schreiben Sie Artikel für die<br />
'Prawda' über Außenpolitik, das Allerkürzeste, im Geist <strong>der</strong> 'Prawda' (wenig, wenig<br />
Raum, plagen uns mit Erweiterungen ab).« Trotz dem von Lenin durchgeführten spartanischen<br />
Sparregime kam die Partei aus <strong>der</strong> Not nicht heraus. Die Zuweisung von zweibis<br />
dreitausend Kriegsrubeln an eine Lokalorganisation bildete jedesmal ein ernstes<br />
Problem für das Zentralkomitee. Für den Versand <strong>der</strong> Zeitungen an die Front mußte man<br />
immer neue und neue Sammlungen unter <strong>der</strong> Arbeiterschaft veranstalten. Und doch<br />
erreichten die bolschewistischen Zeitungen die Schützengräben in viel geringerer Anzahl<br />
als die Zeitungen <strong>der</strong> Versöhnler und Liberalen. Klagen darüber kamen dauernd. »Wir<br />
leben nur von Gerüchten über eure Zeitung«, schrieben Soldaten. Im April hatte die<br />
Stadtkonferenz <strong>der</strong> Partei die Arbeiter Petrograds aufgerufen, in drei Tagen die fehlenden<br />
fünfundsiebzigtausend Rubel für den Kauf einer Druckerei zu sammeln. Diese Summe<br />
kam mit Überschuß ein, und die Partei erwarb endlich eine eigene Druckerei, jene, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 368
die Junker dann im Juli bis auf den Grund deinolierten. Der Einfluß <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Parolen wuchs wie ein Steppenbrand. Doch blieben die materiellen Propagandamittel<br />
sehr kärglich. Das persönliche Leben <strong>der</strong> Bolschewiki gab noch weniger<br />
Anhaltspunkte zur Verleumdung. Was blieb da? Nichts letzten Endes als Lenins Reise<br />
durch Deutschland. Doch gerade diese Tatsache, die vor unerfahrenen Auditorien am<br />
häufigsten als Beweis für Lenins Freundschaft mit <strong>der</strong> deutschen Regierung in den<br />
Vor<strong>der</strong>grund gestellt wurde, bewies in Wirklichkeit das Gegenteil: ein Agent würde<br />
durch das feindliche Land geheim und voller Sicherheit gefahren sein; offen die Gesetze<br />
des Patriotismus im Krieg verletzen, dazu konnte sich nur ein seiner selbst völlig sicherer<br />
<strong>Revolution</strong>är entschließen.<br />
Das Justizministerium machte jedoch vor <strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> undankbaren Aufgabe<br />
nicht halt: nicht umsonst hatte es von <strong>der</strong> Vergangenheit Ka<strong>der</strong> geerbt, die erzogen waren<br />
in <strong>der</strong> letzten Periode des Selbstherrschertums, als die Morde an liberalen Deputierten,<br />
von Schwarzhun<strong>der</strong>t verübt, die dem ganzen Lande namentlich bekannt waren, systematisch<br />
unaufgedeckt blieben, während ein jüdischer Handlungsgehilfe aus Kiew beschuldigt<br />
wurde, Blut eines Christenknabens gebraucht zu haben. Unterzeichnet vom<br />
Untersuchungsrichter für beson<strong>der</strong>s wichtige Angelegenheiten, Alexandrow, und dem<br />
Staatsanwalt des Obersten Gerichtshofes, Karinski, wurde am 21. Juli die Eröffnung<br />
eines Gerichtsverfahrens wegen Hochverrates gegen Lenin, Sinowjew, Kollontay und<br />
eine Reihe an<strong>der</strong>er Personen, darunter <strong>der</strong> deutsche Sozialdemokrat Helphand (Parvus),<br />
bekanntgegeben. Die gleichen Artikel des Strafgesetzbuchs 51, 10 und 108 dehnte man<br />
dann auf Trotzki und Lunatscharski aus, die am 23. Juli durch Militärabteilungen verhaftet<br />
wurden. Nach dem Text des Eröffnungsbeschlusses waren die Führer <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
»als russische Bürger nach vorheriger Verabredung untereinan<strong>der</strong> und mit an<strong>der</strong>en<br />
Personen zum Zwecke <strong>der</strong> Unterstützung von mit Rußland in feindlichen Handlungen<br />
befindfichen Staaten mit Agenten <strong>der</strong> genannten Staaten übereingekommen, an <strong>der</strong><br />
Desorganisierung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee und des Hinterlandes zur Schwächung <strong>der</strong><br />
Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee mitzuwirken. Zu welchem Zwecke sie mit den von diesen<br />
Staaten erhaltenen Geldmitteln unter Bevölkerung und Truppen eine Propaganda mit <strong>der</strong><br />
Auffor<strong>der</strong>ung zur sofortigen Verweigerung von Kriegshandlungen gegen den Feind<br />
organisierten; mit den gleichen Absichten organisierten sie in <strong>der</strong> Zeit vom 3. bis 5. Juli<br />
1917 in Petrograd einen bewaffneten Aufstand!« Obwohl je<strong>der</strong> des Lesens kundige<br />
Mensch mindestens in <strong>der</strong> Hauptstadt in jenen Tagen wußte, unter welchen Umständen<br />
Trotzki aus New York über Christiania und Stockholm nach Petrograd gekommen war,<br />
legte auch ihm <strong>der</strong> Untersuchungsrichter die Reise durch Deutschland zur Last. Die<br />
Justiz wollte offenbar keinen Zweifel übriglassen an <strong>der</strong> Solidität jenes Materials, das ihr<br />
die Konterspionage zur Verfügung gestellt hatte.<br />
Diese Institution ist nirgendwo eine Pflanzstätte <strong>der</strong> Moral. In Rußland indes bildete<br />
die Konterspionage die Kloake des Rasputinschen Regimes. Der Auswurf des Offizierstandes,<br />
<strong>der</strong> Polizei, Gendarmerie, davongejagte Agenten <strong>der</strong> Ochrana - das waren die<br />
Ka<strong>der</strong> dieser talentlosen, nie<strong>der</strong>trächtigen und anmächtigen Institution. Oberste, Hauptleute<br />
und Fähnriche, untauglich zu kriegerischen Heldentaten, bezogen in ihr Ressort alle<br />
Zweige des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens ein, indem sie im ganzen Lande ein<br />
System des Konterspionage-Feudalismus errichteten. »Die Lage wurde direkt katastrophal«,<br />
klagt <strong>der</strong> ehemalige Polizeidirektor Kurlow, »als an den Angelegenheiten <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 369
Zivilverwaltung die berühmt gewordene Konterspionage teilzunehmen begann.« Kurlow<br />
selbst hatte nicht wenig dunkle Angelegenheiten auf dem Kerbholz, darunter auch die<br />
indirekte Beteiligung an <strong>der</strong> Ermordung des Premier Stolypin; nichtsdestoweniger ließ<br />
die Tätigkeit <strong>der</strong> Konterspionage sogar seine erprobte Phantasie erschauern. Während<br />
»<strong>der</strong> Kampf gegen die feindliche Spionage ... sehr schwach geführt wurde«, schreibt er,<br />
wurden fortwährend bewußt erfundene Verfahren inszeniert gegen völlig unschuldige<br />
Personen nur zum Zwecke <strong>der</strong> Erpressung. Auf eine solche Sache stieß Kurlow: »Zu<br />
meinem Entsetzen«, sagte er, »vernahm [ich] das Pseudonym eines mir aus meinem<br />
früheren Dienst im Polizeidepartement bekannten, wegen Erpressung davongejagten<br />
Geheimagenten.« Einer <strong>der</strong> Provinzchefs <strong>der</strong> Konterspionage, ein gewisser Ustinow, vor<br />
dem Kriege Notar, schil<strong>der</strong>t in seinen Erinnerungen die Sitten <strong>der</strong> Konterspionage<br />
ungefähr in den gleichen Farben wie Kurlow: »lm Suchen nach Verfahren fabrizierte die<br />
Agentur selbst das Material.« Um so lehrreicher ist es, das Niveau <strong>der</strong> Institution am<br />
Enthüller selbst nachzuprüfen: »Rußland ging zugrunde«, schreibt Ustinow über die<br />
Februarrevolution, »indem es das Opfer einer <strong>Revolution</strong> wurde, die deutsche Agenten<br />
mit deutschem Golde machten.« Das Verhalten des patriotischen Notars zu den Bolschewiki<br />
bedarf keiner Erklärungen. »Berichte <strong>der</strong> Konterspionage über die frühere Tätigkeit<br />
Lenins, über seine Verbindung mit dem deutschen Generalstab, über das von ihm<br />
empfangene deutsche Gold waren <strong>der</strong>art überzeugend, um ihn sofort aufzuhängen.«<br />
Kerenski hatte dies, wie sich erweist, nur deshalb nicht getan, weil er selbst ein Verräter<br />
war. »Beson<strong>der</strong>s erstaunte und empörte die Rädelsführerschaft des armseligen Advokaten,<br />
des Jüdchen Saschka Kerenski.« Ustinow bezeugt, daß Kerenski »als Provokateur,<br />
<strong>der</strong> seine Genossen verriet, gut bekannt war«. Der französische General Anselme verließ<br />
ini März 1919 Odessa, wie sich weiter ergibt, nicht unter dem Drucke <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />
son<strong>der</strong>n weil er eine beträchtliche Bestechung empfangen hatte. Von den Bolschewiki?<br />
Nein, »die Bolschewiki haben damit nichts zu tun. Hier sind die Freimaurer am Werk«.<br />
So ist diese Welt.<br />
Bald nach <strong>der</strong> Februarumwälzung wurde die Überwachung <strong>der</strong> Institution, die aus<br />
Gaunern, Fälschern und Erpressern bestand, dem aus <strong>der</strong> Emigration angelangten patriotischen<br />
Sozialrevolutionär Mironow übertragen, den <strong>der</strong> Ministergehilfe Demjanow, ein<br />
"Volkssozialist", mit folgenden Worten charakterisiert: »Äußerlich machte Mirnow einen<br />
guten Eindruck ... Doch würde ich mich nicht wun<strong>der</strong>n, wenn ich erfahren sollte, daß es<br />
kein ganz normaler Mensch war.« Dem kann man beipflichten: ein normaler Mensch<br />
wäre wohl kaum bereit gewesen, ein Amt zu repräsentieren, das man einfach auseinandejagen<br />
und dessen Wände man mit Sublimat begießen mußte. Infolge des durch die<br />
Umwälzung hervorgerufenen administrativen Wirrwarrs ward die Konterspionage dem<br />
Justizminister Perewersew unterstellt, einem Menschen von unbegreiflichein Leichtsinn<br />
und völliger Unbedenklichkeit in den Mitteln. Der gleiche Demjanow sagt in seinen<br />
Erinnerungen, daß sein Minister »im Sowjet fast gar kein Ansehen genoß«. Gedeckt<br />
durch Mironow und Perewersew erholten sich die über die <strong>Revolution</strong> erschrockenen<br />
Agenten bald und paßten ihre alte Tätigkeit <strong>der</strong> neuen politischen Situation an. Im Juni<br />
begann sogar <strong>der</strong> linke Flügel <strong>der</strong> Regierungspresse Nachrichten zu veröffentlichen über<br />
Gel<strong>der</strong>pressungen und an<strong>der</strong>e Verbrechen <strong>der</strong> höheren Beamten <strong>der</strong> Konterspionage,<br />
zwei Leiter <strong>der</strong> Institution, Schtschukin und Broy, die nächsten Gehilfen des unglückseligen<br />
Mironow, nicht ausgenommen. Eine Woche vor <strong>der</strong> Julikrise hatte das Exekutivkomitee<br />
unter dem Drucke <strong>der</strong> Bolschewiki sich an die Regierung mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 370
gewandt, eine sofortige Revision <strong>der</strong> Konterspionage unter Beteiligung von Sowjetvertretern<br />
vorzunehmen. Die Geheimagenten hatten folglich ihre amtlichen, o<strong>der</strong> richtiger,<br />
ihre selbstsüchtigen Gründe, gegen die Bolschewiki einen möglichst schnellen und<br />
<strong>der</strong>ben Schlag zu führen. Fürst Lwow hatte noch rechtzeitig ein Gesetz unterschrieben,<br />
das die Konterspionage berechtigte, einen Verhafteten drei Monate lang hinter Schloß<br />
und Riegel zu halten.<br />
Aus dem Charakter <strong>der</strong> Anklage und <strong>der</strong> Ankläger selbst ergibt sich unvermeidlich die<br />
Frage: wie konnten überhaupt normal denkende Menschen glauben o<strong>der</strong> auch nur tun, als<br />
glaubten sie einer bewußten und durch und durch sinnlosen Lüge? Der Erfolg <strong>der</strong><br />
Konterspionage wäre tatsächlich undenkbar gewesen außerhalb <strong>der</strong> durch Krieg, Nie<strong>der</strong>lagen,<br />
Desorganisation, <strong>Revolution</strong> und erbitterten sozialen Kampf geschaffenen Gesamtatmosphäre.<br />
Nichts war seit dem Herbst des Jahres 1914 den herrschenden Klassen<br />
Rußlands gelungen, <strong>der</strong> Boden stürzte unter den Füßen ein, alles fiel aus den Händen, ein<br />
Unheil löste das an<strong>der</strong>e ab - mußte man da nicht nach einem Schuldigen suchen? Der<br />
ehemalige Staatsanwalt des Obergerichtshofs, Sawadski, erinnert sich später, daß »ganz<br />
gesunde Menschen in den unruhigen Kriegsjahren dazu neigten, Verrat dort zu wittern,<br />
wo er offenbar und manchmal auch zweifellos nicht existierte. Die Mehrzahl solcher<br />
Verfahren, die während meiner Amtstätigkeit als Staatsanwalt eingeleitet wurden, erwiesen<br />
sich als unhaltbar.« Neben dem bösartigen Agenten trat als Urheber solcher Verfahren<br />
<strong>der</strong> Spießer auf, <strong>der</strong> den Kopf verloren hatte. Aber sehr bald schon verband sich die<br />
Kriegspsychose mit dem vorrevolutionären politischen Fieber und zeitigte um so<br />
wun<strong>der</strong>lichere Früchte. Gemeinsam mit den erfolglosen Generalen suchten die Liberalen<br />
überall und in allem die deutsche Hand. Die Kamarilla galt als germanophil. Die ganze<br />
Rasputin-Clique handelte nach Instruktionen aus Potsdam, glaubten die Liberalen o<strong>der</strong><br />
verkündeten es mindestens. Die Zarin beschuldigte man weit und breit offen <strong>der</strong> Spionage;<br />
ihr schrieb man selbst in Hofkreisen die Verantwortung zu für die durch die<br />
Deutschen erfolgte Versenkung des Schiffes, auf dem General Kitchener nach Rußland<br />
fuhr. Die Rechten blieben selbstverständlich nichts schuldig. Sawadski erzählt, daß <strong>der</strong><br />
Gehilfe des Innenministers, Beletzki, zu Beginn des Jahres 1916 versucht hätte, gegen<br />
den nationalliberalen Industriellen Gutschkow ein Verfahren zu konstruieren, wobei er<br />
ihn »Handlungen, die in Kriegszeiten an Hochverrat grenzen« - beschuldigte ... Indem er<br />
die Heldentaten Beletzkis enthüllt, stellt Kurlow, gleichfalls ein ehemaliger Gehilfe des<br />
Innenministers, seinerseits die Frage an Mi]jukow: »Für welche vom Standpunkte des<br />
Vaterlandes ehrenhafte Arbeit hat er zweitausend Rubel "finnländischen" Geldes erhalten,<br />
die ihm per Post auf den Namen seines Hauspförtners überwiesen wurden?« Die<br />
Anführungszeichen bei dem "finnländischen" Geld sollen sagen, daß es sich um<br />
deutsches Geld handelte. Dabei hatte Miljukow den vollauf verdienten Ruf des<br />
Deutschenhassers! In Regierungskreisen galt es überhaupt als erwiesen, daß alle oppositionellen<br />
Parteien mit deutschem Gelde arbeiteten. Im August 1915, als man im Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> beabsichtigten Dumaauflösung Unruhen erwartete, sagte <strong>der</strong><br />
Marineminister Grigorowitsch, <strong>der</strong> als Beinah-Liberaler galt, in einer Regierungssitzung:<br />
»Die Deutschen führen eine verschärfte Propaganda und überschütten mit Geld die<br />
regierungsfeindlichen Organisationen.« Die Oktobristen und Kadetten, entrüstet über<br />
diese Insinuation, trugen indes kein Bedenken, sie von sich nach links abzuschieben.<br />
Anläßlich <strong>der</strong> halbpatriotischen Rede des Menschewiken Tschcheidse zu Beginn des<br />
Krieges schrieb <strong>der</strong> Dumavorsitzende Rodsjanko: »Die Folgen haben später<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 371
Tschcheidses Nähe zu deutschen Kreisen bestätigt.« Vergeblich wäre, auch nur den<br />
Schatten eines Beweises zu erwarten!<br />
In seiner "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> zweiten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>" sagt Miljukow: »Die Rolle<br />
<strong>der</strong> "dunklen Quellen" in <strong>der</strong> Umwälzung vom 27. Februar ist ganz unklar, doch nach<br />
allein Weiteren zu folgern, ist sie schwer abzuleugnen.« Entschiedener äußert sich <strong>der</strong><br />
frühere Marxist, jetzt reaktionäre Slawophile deutscher Abstammung Peter von Struve:<br />
»Als die russische <strong>Revolution</strong>, vorbereitet und ausgedacht von den Deutschen, glückte,<br />
schied Rußland eigentlich aus dem Kriege aus.« Bei Struve wie bei Miljukow ist die<br />
Rede nicht von <strong>der</strong> Oktober-, sondem von <strong>der</strong> Februarrevolution. Änläßlich des berühmten<br />
"Befehls Nr. I", <strong>der</strong> großen Charte <strong>der</strong> Soldatenfreiheiten, ausgearbeitet von den<br />
Delegierten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison, schrieb Rodsjanko: »Ich zweifle keine Minute an<br />
dem deutschen Ursprung des Befehls Nr. I.« Der Chef einer <strong>der</strong> Divisionen, General<br />
Barkowski, erzählte Rodsjanko, daß <strong>der</strong> Befehl Nr. I, »in riesigen Mengen in den Bereich<br />
seiner Truppen aus den deutschen Schützengräben geliefert wurde«. Nachdem er Kriegsminister<br />
geworden war, beeilte sich auch Gutschkow, den man unter dem Zaren des<br />
Hochverrats zu beschuldigen versucht hatte, diese Beschuldigung nach links abzuschieben.<br />
Der Aprilbefehl Gutschkows an die Armee lautete: »Personen, die Rußland hassen<br />
und zweifellos im Dienste unserer Feinde stehen, sind in die aktive Armee mit einer<br />
Beharrlichkeit eingedrungen, die unsere Gegner charakterisiert, und propagieren, wohl<br />
um <strong>der</strong>en For<strong>der</strong>ungen zu erfüllen, die Notwendigkeit eines möglichst raschen Kriegsendes.«<br />
Anläßlich <strong>der</strong> gegen die imperialistische Politik gerichteten Aprilmanifestation<br />
schreibt Miljukow: »Die Aufgabe <strong>der</strong> Beseitigung bei<strong>der</strong> Minister (Miljukow und<br />
Gutschkow) war direkt in Deutschland gestellt worden«; die Arbeiter hätten für die<br />
Beteiligung an <strong>der</strong> Demonstration von den Bolschewiki fünfzehn Rubel pro Tag erhalten.<br />
Mit dem deutschen Goldschlüssel löste <strong>der</strong> liberale Historiker alle Rätsel, an denen er als<br />
Politiker sich den Kopf zerschlug.<br />
Die patriotischen <strong>Sozialisten</strong>, die gegen die Bolschewiki als die unfreiwilligen Verbündeten,<br />
wenn nicht Agenten des regierenden Deutschland hetzten, standen selbst unter<br />
ähnlicher Beschuldigung von rechts. Wir haben Rodsjankos Äußerungen über<br />
Tschcheidse gehört. Auch Kerenski fand vor seinen Augen keine Gnade: »Sicherlich hat<br />
er aus geheimer Sympathie mit den Bolschewiki, vielleicht aber auch infolge an<strong>der</strong>er<br />
Erwägungen, die Provisorische Regierung veranlaßt«, die Bolschewiki nach Rußland<br />
hereinzulassen. Die »an<strong>der</strong>en Erwägungen« können nichts an<strong>der</strong>es bedeuten als die<br />
Leidenschaft für das deutsche Geld. In seinen kuriosen, auch in fremde Sprachen<br />
übersetzten Memoiren fügt <strong>der</strong> Gendarmeriegeneral Spiridowitsch, nachdem er die Fülle<br />
von Juden unter den regierenden sozialrevolutionären Kreisen vermerkt hat, hinzu:<br />
»Unter ihnen glänzten auch russische Namen, in <strong>der</strong> Art des späteren Bauernministers<br />
und deutschen Spions Victor Tschernow.« Der Parteiführer <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre stand<br />
unter Verdacht durchaus nicht nur bei dem Gendarmen. Nach dem Julipogrom gegen die<br />
Bolschewiki begannen die Kadetten, ohne Zeit zu verlieren, eine Hetze gegen den Ackerbauminister<br />
Tschernow, als <strong>der</strong> Verbindung mit Berlin verdächtig, und <strong>der</strong> unglückselige<br />
Patriot mußte vorübergehend zurücktreten, um sich von den Beschuldigungen zu reinigen.<br />
Im Herbst 1917, als Miljukow über den Auftrag sprach, durch den das patriotische<br />
Exekutivkomitee den Menschewiken Skobeljew ermächtigt hatte, an <strong>der</strong> intemationalen<br />
sozialistischen Konferenz teilzunehmen, versuchte er von <strong>der</strong> Tribüne des Vorparlaments<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 372
herab mittels einer skrupulösen Syntaxanalyse des Textes den offensichtlich »deutschen<br />
Ursprung« des Dokumentes zu beweisen. Der Stil des Auftrages, wie übrigens <strong>der</strong><br />
gesamten Versöhnlerliteratur, war tatsächlich schlecht. Die verspätete Demokratie, ohne<br />
Gedanken, ohne Wilen, ängstlich sich nach allen Seiten umschauend, häufte in ihren<br />
Schriften Ausreden auf Ausreden und verwandelte sie in eine schlechte Übersetzung aus<br />
einer fremden Sprache, wie sie ja selbst nur <strong>der</strong> Schatten einer fremden Vergangenheit<br />
war. Ludendorff indes trifft dafür gar keine Schuld.<br />
Die Reise Lenins durch Deutschland eröffnete <strong>der</strong> chauvinistischen Demagogie<br />
unerschöpfliche Möglichkeiten. Aber gleichsam um die dienende Rolle des Patriotismus<br />
in ihrer Politik grell zu beweisen, begann die bürgerliche Presse, die anfangs Lenin mit<br />
erkünsteltem Wohlwollen begegnet war, eine zügellose Hetze gegen sein »Germanophilentum«<br />
erst, nachdem sie sich seines sozialen Programms bewußt geworden war. "Land,<br />
Brot und Frieden?" Diese Parole konnte er nur aus Deutschland eingeführt haben. Zu<br />
dieser Zeit war noch nicht einmal die Rede von Jermolenkos Enthüllungen.<br />
Nachdem Trotzki und einige an<strong>der</strong>e Emigranten, die sich auf <strong>der</strong> Rückkehr aus<br />
Amerika befanden, von <strong>der</strong> Militärkontrolle König Georgs in Halifax verhaftet waren,<br />
erstattete die britische Gesandtschaft in Petrograd <strong>der</strong> Presse einen offizielleil Bericht in<br />
einer unnachahmlichen anglo-<strong>russischen</strong> Sprache: »jene <strong>russischen</strong> Bürger auf dem<br />
Dampfer "Christianiafjord" sind in Halifax angehalten worden, weil <strong>der</strong> englischen<br />
Regierung mitgeteilt wurde, daß sie mit einem von <strong>der</strong> deutschen Regierung subsidierten<br />
Plan, die russische Provisorische Regierung zu stürzen, in Verbindung ständen ...« Die<br />
Mitteilung des Sir Buchanan datierte vom 14. April: zu dieser Zeit war nicht nur<br />
Burstein, sondem auch Jermolenko auf dem Horizont noch nicht aufgetaucht. In seiner<br />
Eigenschaft als Außenminister war jedoch Miljukow gezwungen, durch den <strong>russischen</strong><br />
Gesandten Nabokow die englische Regierung zu ersuchen, Trotzki aus <strong>der</strong> Haft freizugeben<br />
und nach Rußland durchzulassen. »Informiert über Trotzki nach dessen Tätigkeit in<br />
Amerika«, schreibt Nabokow, »konnte es die englische Regierung nicht fassen: "Was ist<br />
es, böser Wille o<strong>der</strong> Blindheit?" Die Englän<strong>der</strong> zuckten die Achseln, begriffen die<br />
Gefahr, warnten uns.« Lloyd George mußte aber nachgeben. In <strong>der</strong> Antwort auf die<br />
Frage, die Trotzki in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Presse an den britischen Gesandten richtete, nahm<br />
Buchanan verlegen seine ursprüngliche Erklärung zurück und verkündete diesmal:<br />
»Meine Regierung hielt die Emigrantengruppe in Halifax zurück nur zwecks und bis zur<br />
Feststellung ihrer Persönlichkeit durch die russische Regierung ... Darauf läuft die<br />
ganze Sache mit dem Zurückhalten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Emigranten hinaus.« Buchanan war<br />
nicht nur Gentleman, son<strong>der</strong>n auch Diplomat.<br />
In einer Beratung <strong>der</strong> Reichsdumamitglie<strong>der</strong> Anfang Juni for<strong>der</strong>te Miljukow, <strong>der</strong> durch<br />
die Aprildemonstration aus <strong>der</strong> Regierung geschleu<strong>der</strong>t worden war, die Verhaftung<br />
Lenins und Trotzkis, wobei er unzweideutig auf <strong>der</strong>en Verbindung mit Deutschland<br />
anspielte. Trotzki erklärte am nächsten Tage auf dem Sowjetkongreß: »Solange Miljukow<br />
diese Beschuldigung nicht beweist o<strong>der</strong> zurücknimmt, bleibt auf seiner Stirn das Brandmal<br />
des ehrlosen Verleum<strong>der</strong>s.« Miljukow antwortete darauf in <strong>der</strong> 'Rjetsch', er sei<br />
»tatsächlich damit unzufrieden«, »daß die Herren Lenin und Trotzki frei herumlaufen«,<br />
die Notwendigkeit ihrer Verhaftung aber begründet er »nicht damit, daß sie Agenten<br />
Deutschlands seien, son<strong>der</strong>n damit, daß sie sich gegen das Strafgesetzbuch hinreichend<br />
versündigt hätten«. Miljukow war Diplomat, ohne Gentleman zu sein. Die Notwendig-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 373
keit <strong>der</strong> Verhaftung Lenins und Trotzkis war ihm schon vor den Enthüllungen Jermolenskos<br />
klar; die juridische Aufmachung <strong>der</strong> Verhaftung stellte eine Frage <strong>der</strong> Technik dar.<br />
Der Führer <strong>der</strong> Liberalen spielte politisch mit <strong>der</strong> scharfen Beschuldigung, lange bevor<br />
sie in »juridischer« Form in Umlauf gesetzt worden war.<br />
Die Rolle des Mythos vom deutschen Golde tritt am plastischsten in <strong>der</strong> farbigen<br />
Episode hervor, die <strong>der</strong> Geschäftsführer <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, <strong>der</strong> Kadett<br />
Nabokow (nicht zu verwechseln mit dem eben zitierten <strong>russischen</strong> Gesandten in<br />
London), erzählt. In einer <strong>der</strong> Regierungssitzungen bemerkte Miljukow bei irgendeinem<br />
an<strong>der</strong>en Anlasse: »Es ist für niemand ein Geheimnis, daß das deutsche Geld unter den<br />
Faktoren, die zur Umwälzung beigetragen haben, seine Rolle spielte ... « Das sieht<br />
Miljukow sehr ähnlich, obwohl seine Formulierung deutlich gemil<strong>der</strong>t ist. Nach<br />
Nabokows Darstellung benahm sich Kerenski, als sei <strong>der</strong> Teufel in ihn gefahren. Er riß<br />
seine Aktenmappe an sich, schlug damit auf den Tisch und schrie: »Nachdem Miljukow<br />
es gewagt hat, in meiner Gegenwart die heilige Sache <strong>der</strong> großen <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />
zu verleumden, wünsche ich keinen Moment länger hierzubleiben.« Das sieht Kerenski<br />
sehr ähnlich, obwohl seine Geste vielleicht stark aufgetragen ist. Ein russisches Sprichwort<br />
empfiehlt, nicht in den Brunnen zu spucken, aus dem man eventuell wird trinken<br />
müssen. Durch die Oktoberrevolution beleidigt, fand Kerenski nichts Besseres, als den<br />
Mythos vom deutschen Golde gegen sie zu richten. Was bei Miljukow eine »Verleumdung<br />
<strong>der</strong> heiligen Sache« war, verwandelte sich bei Burstein-Kerenski in eine heilige<br />
Sache <strong>der</strong> Verleumdung gegen die Bolschewiki.<br />
Die ununterbrochene Kette von Verdächtigungen wegen Germanophilentum und<br />
Spionage, die sich von Zarin, Rasputin und Hofkreisen über Ministerien, Stäbe, Duma,<br />
liberale Redaktionen bis zu Kerenski und einem Teil <strong>der</strong> Sowjetspitzen zog, verblüfft am<br />
meisten durch ihre Einförmigkeit. Die politischen Gegner scheinen gleichsam fest<br />
beschlossen zu haben, ihre Einbildungskraft nicht zu überanstrengen: sie rollen einfach<br />
die gleiche Beschuldigung von Ort zu Ort, vorwiegend von rechts nach links. Die<br />
Juliverleumdung war auf die Bolschewiki am allerwenigsten aus heiterem Hinitnel<br />
herabgestürzt, sie war die natürliche Frucht von Panik und Haß, das letzte Glied einer<br />
schändlichen Kette, die Verschiebung <strong>der</strong> fertigen Verleumdungsformel an eine neue,<br />
endgültige Adresse, die die gestrigen Ankläger und Angeklagten versöhnte. Alle<br />
Kränkungen <strong>der</strong> Regierenden, alle Ängste, all ihre Erbitterung richteten sich gegen jene<br />
Partei, die die äußerste von links war und am vollendetsten die zerschmetternde Kraft <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> verkörperte. Konnten denn in <strong>der</strong> Tat die besitzenden Klassen ihren Platz den<br />
Bolschewiki räumen, ohne den letzten verzweifelten Versuch gemacht zu haben, sie in<br />
Blut und Schmutz zu treten? Der durch langen Gebrauch verworrene Knäuel <strong>der</strong><br />
Verleumdung mußte zwangsläufig auf das Haupt <strong>der</strong> Bolschewiki nie<strong>der</strong>fallen. Die<br />
Enthüllungen des Fähnrichs von <strong>der</strong> Konterspionage waren nur eine Materialisation des<br />
Fieberwahns <strong>der</strong> besitzenden Klassen, die sich in einer Sackgasse erblickten. Deshalb<br />
gewann auch die Verleumdung solch schreckliche Kraft.<br />
Die deutsche Agentur an sich war selbstverständlich kein Fieberwahn. Die deutsche<br />
Spionage in Rußland war unermeßlich besser organisiert als die russische in<br />
Deutschland. Es genügt, daran zu erinnern, daß <strong>der</strong> Kriegsminister Suchomlinow noch<br />
unter dem alten Regime verhaftet wurde als Vertrauensperson Berlins. Es ist auch<br />
unzweifelhaft, daß deutsche Agenten sich nicht nur an die Hof- und Schwarzhun<strong>der</strong>t-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 374
kreise anzuschmieren wußten, sondem auch an Linkskreise. Die österreichischen und<br />
deutschen Behörden liebäugelten von den ersten Kriegstagen an stark mit separatistischen<br />
Tendenzen, beginnend mit <strong>der</strong> ukrainischen und kaukasischen Emigration. Es ist<br />
bemerkenswert, daß auch Jermolenko, angeworben im April 1917, in den Kampf<br />
geschickt wurde für die Lostrennung <strong>der</strong> Ukraine. Schon im Herbst 1914 for<strong>der</strong>n sowohl<br />
Lenin wie auch Trotzki in <strong>der</strong> Schweiz öffentlich auf, mit jenen <strong>Revolution</strong>ären zu<br />
brechen, die auf die Angel des deutsch-österreichischen Militarismus gehen. Anfang<br />
19I7 warnte Trotzki von New York aus öffentlich die linken deutschen<br />
Sozialdemokraten, Liebknecht-Anhänger, an <strong>der</strong>en Reihen sich Agenten <strong>der</strong> britischen<br />
Gesandtschaft heranzumachen suchten. Jedoch bei allem Liebäugeln mit den Separatisten<br />
in <strong>der</strong> Absicht, Rußland zu schwächen und den Zaren einzuschüchtern, war die deutsche<br />
Regierung vom Gedanken an den Sturz des Zarismus weit entfernt. Das beweist am<br />
besten eine Proklamation, die die Deutschen nach <strong>der</strong> Februarumwälzung in den <strong>russischen</strong><br />
Schützengräben verbreiteten und die am 11. März in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets bekanntgegeben wurde. »Anfangs gingen die Englän<strong>der</strong> mit eurem Zaren, jetzt<br />
aber haben sie sich gegen ihn erhoben, weil er ihren eigennützigen For<strong>der</strong>ungen nicht<br />
zugestimmt hatte. Sie haben euren euch von Gott gegebenen Zaren vom Throne gestürzt.<br />
Weshalb aber ist das geschehen? Weil er dcn heuchlerischen und heimtückischen Streich<br />
Englands durchschaut und bekanntgegeben hat.« Form wie Inhalt dieses Dokumentes<br />
bieten die innere Garantie für dessen Echtheit. Wie man den preußischen Leutnant nicht<br />
nachahmen kann, so kann man auch seine historische Philosophie nicht nachahmen.<br />
Hoffmann, ein preußischer Leutnant im Generalsrange, war <strong>der</strong> Meinung, die russische<br />
<strong>Revolution</strong> sei in England ausgedacht und inszeniert worden. Darin liegt immerhin<br />
weniger Unsinn als in <strong>der</strong> Theorie Miljukow-Struve, denn Potsdam fuhr bis zum Schluß<br />
fort, auf einen Separatfrieden mit Zarskoje Selo zu hoffen, während man in England am<br />
meisten diesen Separatfrieden fürchtete. Erst als sich die Unmöglichkeit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einsetzung<br />
des Zaren restlos offenbart hatte, setzte <strong>der</strong> deutsche Stab seine Hoffnungen auf<br />
die zersetzende Kraft des revolutionären Prozesses. Aber selbst in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Reise<br />
Lenins durch Deutschland ging die Initiative nicht von deutschen Kreisen aus, son<strong>der</strong>n<br />
von Lenin selbst und in ihrer ursprünglichen Form von dem Menschewiken Martow. Der<br />
deutsche Generalstab kam dem nur entgegen, vermutlich nicht ohne Schwanken. Ludendorff<br />
sagte sich: vielleicht kommt eine Erleichterung von dieser Seite.<br />
Während <strong>der</strong> Juliereignisse suchten sogar die Bolschewiki hinter den einzelnen<br />
unerwarteten und mit klarem Vorbedacht ausgelösten Exzessen die Arbeit einer fremden<br />
und verbrecherischen Hand. Trotzki schrieb in jenen Tagen: »Welche Rolle hat dabei die<br />
konterrevolutionäre Provokation o<strong>der</strong> die deutsche Agentur gespielt? Es ist schwer, jetzt<br />
etwas Bestimmtes darüber zu sagen ... Es bleibt nur übrig, die Ergebnisse einer ernsthaften<br />
Untersuchung abzuwarten ... Aber schon jetzt läßt sich mit Sicherheit aussprechen:<br />
die Resultate einer solchen Untersuchung könnten ein grelles Licht werfen auf die Arbeit<br />
<strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>tbanden und auf die unterirdische Rolle deutschen, englischen o<strong>der</strong><br />
echt <strong>russischen</strong> Goldes o<strong>der</strong> schließlich des einen, des an<strong>der</strong>n und des dritten zusammen;<br />
doch den politischen Sinn <strong>der</strong> Ereignisse könnte keine gerichtliche Untersuchung<br />
än<strong>der</strong>n. Die Arbeiter- und Soldatenmassen Petrograds waren nicht bestochen und<br />
konnten nicht bestochen sein. Sie stehen we<strong>der</strong> bei Wilhelm noch bei Buchanan noch bei<br />
Miljukow im Dienste ... Die Bewegung war vorbereitet worden durch Krieg, Kopflosigkeit<br />
<strong>der</strong> Regierung, abenteuerliche Offensive, politisches Mißtrauen und revolutionäre<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 375
Unruhe <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten ... « Alle nach dem Krieg und den zwei Umwälzungen<br />
bekanntgewordenen Archivmaterialien, Dokumente, Memoiren beweisen unzweifelhaft,<br />
daß die Beteiligung <strong>der</strong> deutschen Agentur an den revolutionären Prozessen in Rußland<br />
sich nicht für eine Stunde aus <strong>der</strong> militär-polizeilichen Sphäre in das Gebiet <strong>der</strong> großen<br />
Politik erhob. Ist es übrigens noch notwendig, nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Deutschland auf<br />
dieser Behauptung zu beharren? Wie kläglich und ohnmächtig erwies sich diese angeblich<br />
allmächtige hohenzollernsche Spionageagentur im Herbst 1918 vor dem Angesicht<br />
<strong>der</strong> deutschen Arbeiter und Soldaten! »Die Berechnung unserer Feinde, die Lenin nach<br />
Rußland geschickt hatten, erwies sich als vollkommen richtig«, sagt Miljukow. Ganz<br />
an<strong>der</strong>s schätzt die Ergebnisse des Untemehmens Ludendorff selbst ein: »Ich konnte das<br />
damals nicht für möglich halten«, rechtfertigt er sich, von <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />
sprechend, »daß sie später auch unsere Kraft untergraben würde.« Das will nur sagen,<br />
daß von den zwei Strategen: Ludendorf, <strong>der</strong> Lenin die Durchreise erlaubte, und Lenin,<br />
<strong>der</strong> diese Erlaubnis annahm, Lenin besser und weiter gesehen hat.<br />
»Die feindliche Propaganda und <strong>der</strong> Bolschewismus«, klagt Ludendorff in seinen<br />
Kriegserinnerungen, »verfolgten auf deutschem Boden die gleichen Ziele. England gab<br />
China das Opium, die Feinde uns die <strong>Revolution</strong> ...« Ludendorff sagt <strong>der</strong> Entente<br />
dasselbe nach, dessen Miljukow und Kerenski Deutschland beschuldigten. So grausam<br />
rächt sich <strong>der</strong> geachtete historische Sinn! Aber Ludendorff blieb dabei nicht stehen. Im<br />
Februar 1931 gab er <strong>der</strong> Welt kund, daß hinter dem Rücken <strong>der</strong> Bolschewiki das internationale,<br />
beson<strong>der</strong>s jüdische Finanzkapital stand, geeint durch den Kampf gegen das<br />
zaristische Rußland und das imperialistische Deutschland. »Trotzki war von Amerika<br />
über Schweden nach Petersburg gelangt, mit reichen Geldmitteln <strong>der</strong> Weltkapitalisten<br />
ausgestattet. An<strong>der</strong>es Geld war vom Juden Solmssen aus Deutschland den Bolschewiken<br />
zugeflossen.« ('Ludendorffs Volkswarte', 15. Februar 1931.) So sehr die Aussagen<br />
Ludendorffs und Jermolenkos auseinan<strong>der</strong>gehen, in einem Punkte decken sie sich indes:<br />
ein Teil des Geldes floß, wie sich herausstellt, doch aus Deutschland, zwar nicht von<br />
Ludendorff, son<strong>der</strong>n von dessen Todfeind Solmssen. Nur dieses Zeugnis hatte noch<br />
gefehlt, um <strong>der</strong> ganzen Frage eine ästhetische Vollendung zu verleihen.<br />
Doch we<strong>der</strong> Ludendorff noch Miljukow noch Kerenski haben das Pulver erfunden,<br />
wenn auch <strong>der</strong> erstere eine weitgehende Anwendung von ihm gemacht hat. "Solmssen"<br />
hatte viele Vorläufer in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, sowohl als Jude wie als deutscher Agent. Graf<br />
Fersen, schwedischer Gesandter in Frankreich während <strong>der</strong> Großen <strong>Revolution</strong>, ein<br />
leidenschaftlicher Anhänger <strong>der</strong> Königsmacht, des Königs und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Königin,<br />
hat mehr als einmal seiner Regierung nach Stockholm Berichte folgen<strong>der</strong> Art erstattet:<br />
»Der Jude Efraim, <strong>der</strong> Emissär des Herrn Herzberg aus Berlin (des preußischen<br />
Ministers des Auswärtigen), liefert ihnen (den Jakobinern) Geld; vor kurzem hat er<br />
wie<strong>der</strong> sechshun<strong>der</strong>ttausend Pfund bekommen.« Die gemäßigte Zeitung 'Pariser <strong>Revolution</strong>en'<br />
sprach die Vermutung aus, daß während <strong>der</strong> republik Umwälzung »Emissäre <strong>der</strong><br />
europäischen Diplomatie, zum Beispiel in <strong>der</strong> Art des Juden Efraim, eines Agenten des<br />
preußischen Königs, in die bewegte und wandelbare Menge eindrangen ...« Der gleiche<br />
Fersen meldete: »Die Jakobiner ... würden zugrunde gehen ohne die Hilfe des von ihnen<br />
bestochenen Pöbels.« Wenn die Bolschewiki den Teilnehmern <strong>der</strong> Demonstrationen<br />
Taglohn zahlten, folgten sie nur dem Beispiel <strong>der</strong> Jakobiner, wobei das Geld für die<br />
Bestechung des "Pöbels" in beiden Fällen Berliner Quellen entstammte. Die Überein-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 376
stimmung <strong>der</strong> Handlungsweise <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre des XX. und des XVIII. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
müßte verblüffen, wenn sie nicht durch die noch verblüffen<strong>der</strong>e Identität <strong>der</strong> Verleumdung<br />
seitens ihrer Feinde verdeckt wäre. Doch man braucht sich nicht mit den Jakobinern<br />
zu begnügen. Die <strong>Geschichte</strong> aller <strong>Revolution</strong>en und Bürgerkriege zeigt<br />
unverän<strong>der</strong>lich, daß die bedrohte o<strong>der</strong> gestürzte Klasse dazu neigt, den Grund ihres<br />
Mißgeschickes nicht bei sich, son<strong>der</strong>n bei ausländischen Agenten und Emissären zu<br />
suchen. Nicht nur Miljukow in seiner Eigenschaft als gelehrter Historiker, son<strong>der</strong>n auch<br />
Kerenski in seiner Eigenschaft als oberflächlicher Leser hätten das wissen müssen.<br />
Jedoch in ihrer Eigenschaft als Politiker wurden beide Opfer <strong>der</strong> eigenen konterrevolutionären<br />
Funktion.<br />
Den Theorien von <strong>der</strong> revolutiouären Rolle ausländischer Agenten wie überhaupt allen<br />
typischen und Massen-Verirrungen liegt jedoch ein indirektes historisches Fundament<br />
zugrunde. Bewußt o<strong>der</strong> unbewußt macht jedes Volk in kritischen Perioden seines<br />
Daseins beson<strong>der</strong>s große und kühne Anleihen in den Schatzkammern <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Völker. Nicht selten spielen überdies die führende Rolle in <strong>der</strong> Fortschrittbewegung<br />
Personen, die im Ausland gelebt haben, o<strong>der</strong> in die Heimat zurückgekehrte Emigranten.<br />
Neue Ideen und Institutionen erscheinen deshalb den konservativen Schichten vor allem<br />
als fremdartige, als ausländische Produkte. Dorf gegen Stadt, Provinznest gegen Metropole,<br />
Kleinbürger gegen Arbeiter verteidigen sich als nationale Kräfte gegen ausländische<br />
Einflüsse. Die Bewegung <strong>der</strong> Bolschewiki erschien Miljukow als »deutsche« letzten<br />
Endes aus denselben Gründen, aus denen <strong>der</strong> russische Muschik jahrhun<strong>der</strong>telang jeden<br />
städtisch gekleideten Menschen für einen Deutschen hielt. Nur mit dem Unterschiede,<br />
daß <strong>der</strong> Muschik dabei rechtschaffen blieb.<br />
lin Jahre 1918, also bereits nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, veröffentlichte das Pressebüro<br />
<strong>der</strong> amerikanischen Regierung feierlich eine Sammlung von Dokumenten über die<br />
Verbindung <strong>der</strong> Bolschewiki mit den Deutschen. Dieser plumpen Falsifikation, die nicht<br />
einmal dem Hauche einer Kritik wi<strong>der</strong>stand, glaubten viele gebildete und scharfsichtige<br />
Menschen, solange nicht nachgewiesen wurde, daß die angeblich aus verschiedenen<br />
Län<strong>der</strong>n stammenden Originale <strong>der</strong> Dokumente sämtlich auf ein und <strong>der</strong>selben Schreibmaschine<br />
angefertigt worden waren. Die Fälscher machten mit den Konsumenten keine<br />
Umstände: sie waren offenbar sicher, daß <strong>der</strong> politische Bedarf an Enthüllungen über die<br />
Bolschewiki sich als stärker erweisen würde als die Stimme <strong>der</strong> Kritik. Und sie gingen<br />
nicht fehl, denn sie wurden für die Dokumente gut bezahlt. Indes war die amerikanische<br />
Regierung, vom Kampfschauplatz durch einen Ozean getrennt, erst in zweiter und dritter<br />
Linie an den Ereignissen interessiert.<br />
Aber weshalb ist die politische Verleumdung denn doch so dürftig und eintönig?<br />
Deshalb, weil die Gesellschaftspsyche sparsam und konservativ ist. Sie verausgabt nicht<br />
mehr Kraft, als für ihre Zwecke unbedingt erfor<strong>der</strong>lich ist. Sie zieht vor, Altes zu entlehnen,<br />
sobald sie nicht gezwungen ist, Neues zu bauen, aber auch in diesem Falle kombiniert<br />
sie die Elemente des Alten. jede nachfolgende Religion pflegte ihre Mythologie<br />
nicht neu zu schaffen, son<strong>der</strong>n den Aberglauben <strong>der</strong> Vergangenheit umzuformen. Nach<br />
dem gleichen Typus wurden auch die philosophischen Systeme geschaffen, die Doktrinen<br />
des Rechts und <strong>der</strong> Moral. Einzelne Menschen, sogar auch geniale, entwickeln sich<br />
ebenso unharmonisch wie die Gesellschaft, die sie erzieht. Kühne Phantasie findet im<br />
gleichen Schädel Platz neben sklavischer Anhänglichkeit an überkommene Muster.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 377
Verwegene Höhenflüge vertragen sich mit grobem Aberglauben. Shakespeare nährte<br />
seine Schöpfung mit Sujets, die aus <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te zu ihm drangen. Pascal<br />
bewies die Existenz Gottes mit Hilfe <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitstheorie. Newton entdeckte<br />
die Anziehungsgesetze und glaubte an die Apokalypse. Nachdem Marconi eine Radiosendestation<br />
in <strong>der</strong> Residenz des Papstes errichtet hat, verbreitet <strong>der</strong> Stellvertreter Christi<br />
seinen mystischen Segen durch Radio. In gewöhnlichen Zeiten gehen diese Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
aus dem Schlummerzustande nicht heraus. Aber in Zeiten von Katastrophen gewinnen<br />
sie Explosivkraft. Wo es um Bedrohung <strong>der</strong> materiellen Interessen geht, bringen die<br />
gebildeten Klassen alle Vorurteile und Verirrungen in Bewegung, die die Menschheit im<br />
Troß hinter sich herschleppt. Kann man den gestürzten Herren des alten Rußland allzusehr<br />
zürnen, wenn sie die Mythologie ihres Sturzes wahllos von jenen Klassen übernahmen,<br />
die vor ihnen gestürzt worden waren? Gewiß, die Tatsache, daß Kerenski viele<br />
Jahre nach den Ereignissen in seinen Memoiren Jermolenkos Version wie<strong>der</strong> auferstehen<br />
läßt, ist jedenfalls eine Verschwendung.<br />
Die Verleumdung <strong>der</strong> Kriegs- und <strong>Revolution</strong>sjahre verblüfft, sagten wir, durch ihre<br />
Einförmigkeit. Aber es gibt einen Unterschied. Aus <strong>der</strong> Anhäufung von Quantität<br />
entsteht neue Qualität. Der Kampf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Parteien untereinan<strong>der</strong> ähnelte fast einem<br />
Familienzwist im Vergleich mit ihrer gemeinsamen Hetze gegen die Bolschewiki. In<br />
ihren Zusammenstößen untereinan<strong>der</strong> traainierten sie gleichsam nur für den an<strong>der</strong>en,<br />
entscheidenden Kompf. Selbst wenn sie gegeneinan<strong>der</strong> die scharfe Beschuldigung <strong>der</strong><br />
Verbindung mit den Deutschen erhoben, führten sie die Sache niemals bis zum Ende<br />
durch. Der Juli bietet ein an<strong>der</strong>es Bild. In ihrem Vorstoß gegen die Bolschewiki stellen<br />
alle herrschenden Kräfte: Regierung, Justiz, Konterspionage, Stäbe, Beamte, Munizipalitäten,<br />
Parteien <strong>der</strong> Sowjetmehrheit, ihre Presse und Redner, ein grandioses Ganzes dar.<br />
Selbst die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen verstärken, wie <strong>der</strong> Unterschied <strong>der</strong><br />
Instrumente im Orchester, nur den Gesamteffekt. Die unsinnige Erfindung zweier<br />
verächtlicher Subjekte wird auf die Höhe eines historischen Faktors erhoben. Die<br />
Verleumdung stürzt herab wie ein Niagara. Zieht man die Situation in Betracht - Krieg<br />
und <strong>Revolution</strong>-und den Charakter <strong>der</strong> Beschuldigten - revolutionäre Führer von Millionen,<br />
die ihre Partei zur Macht gebracht haben -, so kann man ohne Übertreibung sagen,<br />
daß <strong>der</strong> Juli I917 ein Monat <strong>der</strong> größten Verleumdung in <strong>der</strong> Weltgeschichte war.<br />
Die Konterrevolution erhebt das Haupt<br />
In den ersten zwei Monaten, als die Regierung formell Gutschkow-Miljukow gehörte,<br />
konzentrierte sich die Macht faktisch vollständig in den Händen des Sowjets. In den<br />
folgenden zwei Monaten erlitt <strong>der</strong> Sowjet eine Schwächung: ein Teil des Einflusses auf<br />
die Massen ging an die Bolschewiki über, ein Teilchen <strong>der</strong> Macht brachten die Minister-<br />
<strong>Sozialisten</strong> in ihren Portefeuilles <strong>der</strong> Koahtionsregierung. Mit Beginn <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Offensive verstärkte sich automatisch die Bedeutung des Kommandostabes, <strong>der</strong><br />
Organe des Finanzkapitals und <strong>der</strong> Kadettenpartei. Ehe es daran ging, das Blut <strong>der</strong> Soldaten<br />
zu vergießen, unternahm das Exekutivkomitee eine solide Transfusion eigenen Blutes<br />
in die A<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bourgeoisie. Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den<br />
Händen <strong>der</strong> Gesandtschaften und Regierungen! <strong>der</strong> Entente.<br />
Zu <strong>der</strong> in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde<br />
"vergessen", den <strong>russischen</strong> Gesandten einzuladen; erst nachdem er sich selbst in Erinne-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 378
ung gebracht, rief man ihn, zehn Minuten vor Eröffnung <strong>der</strong> Tagung, wobei sich für ihn<br />
am Tische kein Platz fand und er sich zwischen die Franzosen hineinzwängen mußte. Die<br />
Verhöhnung des Gesandten <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und <strong>der</strong> demonstrative Austritt<br />
<strong>der</strong> Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten<br />
das gleiche Ziel: die Versöhnler nie<strong>der</strong>zuducken. Die gleich danach zur Entladung<br />
gekommene bewaffnete Demonstration mußte die Sowjetführer um so mehr außer sich<br />
bringen als, unter dem doppelten Schlag, ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen gerade<br />
entgegengesetzten Weg gerichtet war. Ist man gezwungen, das blutige Joch im Bunde<br />
mit <strong>der</strong> Entente zu tragen, so lassen sich doch keine besseren Vermittler finden als die<br />
Kadetten. Tschaikowski, einer <strong>der</strong> ältesten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre, während <strong>der</strong> langen<br />
Emigrationsjahre zu einem gemäßigten britischen Liberalen geworden, sprach belehrend:<br />
»Für den Krieg braucht man Geld, aber den <strong>Sozialisten</strong> werden die Alliierten kein Geld<br />
geben.« Den Versöhnlern war dieses Argument peinlich, doch begriffen sie sein ganzes<br />
Gewicht.<br />
Das Kräfteverhältnis verän<strong>der</strong>te sich offensichtlich zuungunsten des Volkes, doch<br />
konnte niemand sagen, in welchem Grade. Die Appetite <strong>der</strong> Bourgeoisie waren jedenfalls<br />
viel stärker gewachsen als ihre Möglichkeiten. In dieser Unbestimmtheit lag die Quelle<br />
<strong>der</strong> Zusammenstöße, denn die Klassenkräfte werden in <strong>der</strong> Aktion überprüft, und Ereignisse<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> laufen auf solche wie<strong>der</strong>holte Nachprüfungen hinaus. Jedoch wie<br />
groß dem Umfang nach die Verschiebung <strong>der</strong> Macht von links nach rechts auch sein<br />
mochte, sie berührte wenig die Provisorische Regierung, die ein leerer Fleck blieb. Die<br />
Menschen, die sich in den kritischen Julitagen für das Ministerium des Fürsten Lwow<br />
interessierten, kann man an den Fingern abzählen. General Krymow, <strong>der</strong> nämliche, <strong>der</strong><br />
einstmals mit Gutschkow über die Entthronung Nikolaus' II. verhandelt hatte - wir<br />
werden diesem General bald zum letztenmal begegnen -, richtete an die Adresse des<br />
Fürsten ein Telegramm, das mit <strong>der</strong> Belehrung schloß: »Es ist an <strong>der</strong> Zeit, von Worten<br />
zur Tat überzugehen.« Der Rat klang wie Hohn und unterstrich nur noch schärfer die<br />
Ohnmacht <strong>der</strong> Regierung.<br />
»Anfang Juli«, schrieb später <strong>der</strong> Liberale Nabokow, »gab es einen kurzen Moment,<br />
wo die Autorität <strong>der</strong> Regierung gleichsam wie<strong>der</strong> gestiegen war; das war nach <strong>der</strong><br />
Unterdrückung des ersten bolschewistischen Auftretens. Doch diesen Moment verstand<br />
die Provisorische Regierung. nicht auszunutzen, und die damaligen günstigen Bedingungen<br />
wurden verpaßt. Sie kehrten nicht mehr wie<strong>der</strong>.« In gleichem Sinne äußerten sich<br />
auch an<strong>der</strong>e Vertreter des rechten Lagers. In Wirklichkeit haben in den Julitagen, wie in<br />
allen kritischen Augenblicken überhaupt, die einzelnen Bestandteile <strong>der</strong> Koalition<br />
verschiedene Zwecke verfolgt. Die Versöhnler wären durchaus bereit gewesen, die<br />
endgültige Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu dulden, würde es nicht augenscheinlich<br />
gewesen sein, daß die Offiziere, Kosaken, Georgsritter und Stoßtrupps nach <strong>der</strong> Abrechnung<br />
mit den Bolschewiki die Versöhnler selbst zerschmettert hätten. Die Kadetten<br />
wollten bis ans Ende gehen, um nicht nur die Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch die Sowjets<br />
hinwegzufegen. Allein nicht zufällig standen die Kadetten in aller scharfen Momenten<br />
außerhalb <strong>der</strong> Regierung. Letzten Endes vertrieb sie von dort <strong>der</strong> trotz allen versöhnlerischen<br />
Purem unüberwindfiche Druck <strong>der</strong> Massen. Auch wenn es den Liberalen gelungen<br />
wäre, die Macht zu ergreifen, sie hätten sie nicht zu halten vermocht. Die Ereignisse<br />
haben das nachträglich erschöpfend bewiesen. Der Gedanke von <strong>der</strong> angeblich im Juli<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 379
versäumten Möglichkeit ist eine retrospektive Illusion. Jedenfalls hat <strong>der</strong> Julisieg die<br />
Macht nicht nur gefestigt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die Periode <strong>der</strong> schleichenden Regierungskrise<br />
eingeleitet, die formell erst am 24. Juli gelöst wurde, tatsächlich aber den<br />
Eintritt <strong>der</strong> vier Monate währenden Agonie des Februarregimes darstellte.<br />
Die Versöhnler zerrissen sich zwischen <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Halbfreundschaft mit<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie wie<strong>der</strong>herzustellen, und dem Bedürfnis, die Feindseligkeit <strong>der</strong> Massen<br />
zu mil<strong>der</strong>n. Lavieren wird für sie Daseinsform, die Zickzacks verwandeln sich in ein<br />
fieberhaftes Hin und Her, doch die Grundlinie nimmt schroff die Richtung nach rechts.<br />
Am 7. Juli ordnet die Regierung eine ganze Reihe von Repressivmaßregeln an. Aber in<br />
<strong>der</strong>selben Sitzung, gleichsam im Verstohlenen, die Abwesenheit <strong>der</strong> "Erwachsenen", das<br />
heißt <strong>der</strong> Kadetten, ausnutzend, schlugen die Minister-<strong>Sozialisten</strong> <strong>der</strong> Regierung vor, an<br />
die Verwirklichung des Programms des Sowjetkongresses vom Juni heranzugehen. Das<br />
führte unverzüglich zum weiteren Zerfall <strong>der</strong> Regierung. Der Großgrundbesitzer und<br />
ehemalige Vorsitzende des Semstwo-Verbandes, Fürst Lwow, beschuldigt die<br />
Regierung, ihre Agrarpolitik »untergräbt das Rechtsbewußtsein des Volkes«. Die Gutsbesitzer<br />
beunruhigte nicht <strong>der</strong> Umstand, daß sie ihre Erbgüter verlieren könnten, son<strong>der</strong>n<br />
daß die Versöhnler »bestrebt sind, die Konstituierende Versammlung vor die Tatsache<br />
<strong>der</strong> bereits gelösten Frage zu stellen«. Sämtliche Säulen <strong>der</strong> monarchistischen Reaktion<br />
wurden nun flammende Anhänger <strong>der</strong> reinen Demokratie! Die Regierung beschloß,<br />
Kerenski den Posten des Ministerpräsidenten zu übertragen bei Belassung seiner Kriegsund<br />
Marineportefeuilles. Zeretelli, <strong>der</strong> neue Innenminister, mußte dem Exekutivkomitee<br />
Rede stehen wegen <strong>der</strong> Verhaftungen <strong>der</strong> Bolschewiki. Die protestierende Anfrage ging<br />
von Martow aus, und Zeretelli antwortete ohne Zeremonie seinem älteren<br />
Parteigenossen, er ziehe vor, mit Lenin und nicht mit Martow zu tun zu haben: bei dem<br />
einen wisse er, wie zu verfahren, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ihm die Hände binde ... »Ich nehme<br />
die Verantwortung für diese Verhaftungen auf mich«, warf <strong>der</strong> Minister herausfor<strong>der</strong>nd<br />
in den gespannt lauemden Saal.<br />
Die Schläge nach links austeilend, decken sich die Versöhnler mit <strong>der</strong> Gefahr von<br />
rechts. »Rußland steht vor einer Militärdiktatur«, berichtet Dan in <strong>der</strong> Sitzung vom 9.<br />
Juli. »Wir müssen <strong>der</strong> Militärdiktatur das Bajonett aus den Händen winden. Und dies<br />
können wir nur, indem wir die Provisorische Regierung als ein Komitee zur öffentlichen<br />
Rettung anerkennen. Wir müssen ihr uneingeschränkte Vollmachten erteilen, damit sie<br />
die Anarchie von links und die Konterrevolution von rechts an <strong>der</strong> Wurzel untergrabe ...«<br />
Als hätte in den Händen <strong>der</strong> gegen Arbeiter, Soldaten und Bauern kämpfenden Regierung<br />
ein an<strong>der</strong>es Bajonett sein können als das Bajonett <strong>der</strong> Konterrevolution! Mit<br />
zweihun<strong>der</strong>tzweiundfünfzig Stimmen bei siebenundvierzig Stimmenthaltungen beschloß<br />
die vereinigte Versammlung: »1., Land und <strong>Revolution</strong> sind in Gefahr. 2., Die Provisorische<br />
Regierung wird als Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> proklamiert. 3., Sie erhält<br />
uneingeschränkte Vollmachten.« Der Beschluß klang dröhnend wie ein leeres Faß. Die in<br />
<strong>der</strong> Sitzung anwesenden Bolschewiki enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung, was unzweifelhaft<br />
von <strong>der</strong> Verwirrung bei den Parteispitzen in jenen Tagen zeugt.<br />
Massenbewegungen, auch geschlagene, gehen niemals spurlos vorüber. Den Platz des<br />
hochbetitelten Herrn nahm an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> radikale Advokat ein-, das<br />
Innenministerium repräsentierte ein ehemaliger Katorgasträfling. Die plebejische Erneuerung<br />
<strong>der</strong> Macht war offenkundig. Kerenski, Zeretelli, Tschernow, Skobeljew, die Führer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 380
des Exekutivkomitees, bestimmten nun die Physiognomie <strong>der</strong> Regierung. War das nicht<br />
die Verwirklichung des Lösungswortes <strong>der</strong> Junitage: »Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten«?<br />
Nein, das war nur die Enthüllung seiner Unzulänglichkeit. Die Minister-Demokraten<br />
übernahmen die Macht nur, um sie den Minister-Kapitalisten zurückzugeben.<br />
La coalition est morte, vive la coalition!<br />
Es entwickelt sich die feierlich-schändliche Komödie <strong>der</strong> Entwaffnung <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />
auf dem Schloßplatz. Eine Reihe Regimenter wird aufgelöst. Die Soldaten<br />
werden in kleinen Abteilungen zur Nachfüllung <strong>der</strong> Front abtransportiert.<br />
Vierzigjährige werden zum Gehorsam gezwungen und in Schützengräben getrieben. Das<br />
alles sind Agitatoren gegen das Regime <strong>der</strong> Kerenskiade. Ihrer sind Zehntausende, und<br />
sie werden bis zum Herbst große Arbeit leisten. Parallel werden Arbeiter entwaffnet,<br />
wenn auch mit kleinerem Erfolg. Unter dem Druck <strong>der</strong> Generale - wir werden bald<br />
sehen, welche Formen er annahm - wird an <strong>der</strong> Front die Todesstrafe eingeführt. Aber<br />
am gleichen Tage, dem 12. Juli, wird ein Dekret erlassen, das den Abschluß von Bodentransaktionen<br />
einschränkt. Diese verspätete Halbmaßnahme, angenommen unter <strong>der</strong> Axt<br />
des Muschiks, rief links Hohn, rechts Zähneknirschen hervor. Wehrend er alle Straßenumzüge<br />
verbot - eine Drohung nach links erhob Zeretelli die Hand gegen eigenmächtige<br />
Verhaftungen Versuch einer Zurechtweisung nach rechts. Die Absetzung des Oberbefehlshabers<br />
des Militärbezirks erläuterte Kerenski nach links: wegen <strong>der</strong> Zertrümmerung<br />
von Arbeiterorganisationen, nach rechts: wegen mangeln<strong>der</strong> Entschlossenheit.<br />
Die Kosaken wurden dic wahren Helden des bürgerlichen Petrograd. »Es kamen Fälle<br />
vor«, erzählt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Grekow, »daß, wenn jemand einen öffentlichen Ort,<br />
etwa ein Restaurant, wo viele Menschen waren, in Kosakenuniform betrat, sich alle<br />
erhoben und den Eiiitretendcn mit Hindeklatschen begrüßten.« Theater, Kinos, öffentliche<br />
Gärten veranstalteten Wohltätigkeitsabende zugunsten <strong>der</strong> verwundeten Kosaken<br />
und <strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Getöteten. Das Büro des Exekutivkomitees war gezwungen, eine<br />
Kommission zu wählen mit Tscheidse an <strong>der</strong> Spitze zur Teilnahme an den Vorbereitungen<br />
für die Beerdigung <strong>der</strong> »bei Erfüllung <strong>der</strong> revolutionären Pflicht in den Tagen vom<br />
3. bis 5. Juli gefallenen Krieger«. Den Kelch <strong>der</strong> Erniedrigung mußten die Versöhnler<br />
bis zur Neige leeren. Das Zeremoniell begann mit einer Liturgie in <strong>der</strong> Isaak-Kathedrale.<br />
Die Särge wurden von Rodsjanko, Miljukow, Fürst Lwow und Kerenski auf den Händen<br />
hinausgetragen und im Prozessionszug zur Beisetzung in das Alexandro-Newski-Kloster<br />
gebracht. Auf dem ganzen Weg des Zuges war die Miliz entfernt worden, den Ordnungsdienst<br />
hatten die Kosaken übernommen: <strong>der</strong> Begräbnistag war ein Tag ihrer absoluten<br />
Herrschaft über Petrograd. Die von den Kosaken ermordeten Arbeiter und Soldaten,<br />
Blutsbrü<strong>der</strong> <strong>der</strong> Februaropfer, wurden ganz im stillen beerdigt, wie man einst unter dem<br />
Zarismus die Opfer des 9. Januar begrub.<br />
An das Kronstädter Exekutivkomitee stellte die Regierung, unter Androhung, die Insel<br />
zu blockieren, die For<strong>der</strong>ung, Raskolnikow, Roschal und den Fähnrich Remnew unverzüglich<br />
den Untersuchungsbehörden auszuliefern. In Helsingfors wurden neben den<br />
Bolschewiki zum erstenmal auch linke Sozialrevolutionäre verhaftet. Der zurückgctretene<br />
Fürst Lwow beklagte sich in den Zeitungen darüber, daß »die Sowjets tief unter dem<br />
Niveau <strong>der</strong> Staatsmoral stehen und sich von den Leninisten, diesen Agenten <strong>der</strong><br />
Deutschen, nicht gesäubert haben«. Ehrensache für die Versöhnler wurde es, ihre Staatsmoral<br />
zu beweisen! Am 13. Juli nehmen die Exekutivkomitees in gemeinsamer Sitzung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 381
eine von Dan eingebrachte Resolution an: »Alle Personen, gegen die von <strong>der</strong> Gerichtsbehörde<br />
Anklage erhoben ist, werden bis zur gerichtlichen Entscheidung von <strong>der</strong><br />
Teilnahme an den Exekutivkomitees ausgeschlossen.« Die Bolschewiki wurden damit<br />
faktisch außerhalb des Gesetzes gestellt. Kerenski verbot die gesamte bolschewistische<br />
Presse. In <strong>der</strong> Provinz fanden Verhaftungen <strong>der</strong> Landeskomitees statt. Die 'Iswestja'<br />
jammerten ohnmächtig: »Noch vor wenigen Tagen waren wir Zeugen <strong>der</strong> Orgie <strong>der</strong><br />
Anarchie in den Straßen von Petrogaid. Heute fließen in denselben Straßen unaufhaltsam<br />
konterrevolutionäre und Schwarzhun<strong>der</strong>t-Reden.«<br />
Nach Auflösung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile und Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter<br />
verschob sich das Gleichgewicht noch mehr nach rechts. In den Händen <strong>der</strong> Militärspitzen,<br />
<strong>der</strong> Bank- und Industrie- wie <strong>der</strong> Kadettengruppen konzentrierte sich unverhüllt ein<br />
beträchtlicher Teil <strong>der</strong> realen Macht. Der übrige Teil blieb nach wie vor in den Händen<br />
<strong>der</strong> Sowjets. Die Doppelherrschaft war offensichtlich, aber nicht mehr die legalisierte<br />
Kontakt- o<strong>der</strong> Koaltionsdoppelherrschaft <strong>der</strong> vorangegangenen Monate, son<strong>der</strong>n die<br />
explosive Doppelherrschaft von Cliquen, <strong>der</strong> militärisch-bürgerlichen und <strong>der</strong> versöhnlerischen,<br />
die einan<strong>der</strong> fürchteten, aber gleichzeitig einan<strong>der</strong> brauchten. Was blieb übrig?<br />
Die Koalition wie<strong>der</strong>herzustellen. »Nach dem Aufstand vom 3. bis 5. Juli«, sagt Miljukow<br />
mit Recht, »verschwand die Koalitionsidee nicht nur nicht, son<strong>der</strong>n gewann, im<br />
Gegenteil, vorübergehend stärkere Kraft und Bedeutung als früher.«<br />
Das Provisorische Komitee <strong>der</strong> Reichsduma erlebte plötzlich seine Auferstehung und<br />
nahm eine scharfe Resolution gegen die Rettungsregierung an. Das war <strong>der</strong> letzte Stoß.<br />
Sämtliche Minister händigten ihre Portefeuilles Kerenski aus und verwandelten ihn damit<br />
allein schon in den Mittelpunkt <strong>der</strong> nationalen Souveränität. Für das weitere Schicksal<br />
des Februarregimes wie für das persönhche Schicksal Kerenskis erhielt dieses Moment<br />
große Bedeutung: im Chaos <strong>der</strong> Gruppierungen, Verabschiedungen und Ernennungen<br />
zeichnete sich nun so etwas wie ein unverrückbarer Punkt ab, um den sich alle an<strong>der</strong>en<br />
drehten. Die Verabschiedung <strong>der</strong> Minister war nur <strong>der</strong> Auftakt zu Unterhandlungen mit<br />
den Kadetten und Industriellen. Die Kadetten stellten ihre Bedingungen: Verantwortlichkeit<br />
<strong>der</strong> Regierungsmitglie<strong>der</strong> »ausschließlich vor ihrem Gewissen«; restlose Einigung<br />
mit den Alliierten; Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Disziplin in <strong>der</strong> Armee; keinerlei soziale Reformen<br />
vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung. Einen ungeschriebenen Punkt bildete die<br />
For<strong>der</strong>ung, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu vertagen. Das nannte man<br />
»überparteiliches und nationales Programm«. Im gleichen Geiste antworteten die<br />
Vertreter von Handel und Industrie, die gegen die Kadetten auszuspielen die Versöhnler<br />
sich vergeblich bemüht hatten. Das Exekutivkomitee bestätigte erneut seine Resolution,<br />
die die Rettungsregierung »mit allen Vollmachten« ausstattete: das bedeutete die Einwilligung<br />
in die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Regierung von den Sowjets. Am gleichen Tage<br />
versandte Zeretelli in seiner Eigenschaft als Minister des Innem ein Zirkular über die<br />
Ergreifung "schneller und entschiedener Maßnahmen zur Unterbindung aller eigenmächtigen<br />
Handlungen auf dem Gebiete des Bodenbesitzes". Der Ernährungsminister Peschechonow<br />
seinerseits for<strong>der</strong>te die Unterbindung »des gewaltsamen und verbrecherischen<br />
Vorgehens gegen die Bodenbesitzer«. Die Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> empfahl<br />
sich in erster Linie als Regierung zur Rettung des gutsherrlichen Eigentums. Doch nicht<br />
dessen allein. Der Industriegewaltige Ingenieur Paltschinski verfolgte in seiner dreifachen<br />
Eigenschaft, als Leiter des Ministeriums für Handel und Industrie, als Hauptbevoll-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 382
mächtigter für Heizstoff und Metall und als Leiter <strong>der</strong> Landesverteidigungskommission,<br />
energisch die Politik des Syndikatkapitals. Der menschewistische Nationalökonom<br />
Tscherewarin beklagte sich vor <strong>der</strong> Wirtschaftsabteilung des Sowjets, daß alle guten<br />
Vorsätze <strong>der</strong> Demokratie an <strong>der</strong> Sabotage Paltschinskis zerschellten. Ackerbauminister<br />
Tschernow, auf den die Kadetten die Beschuldigung <strong>der</strong> Verbindung mit den Deutschen<br />
ausdehnten, sah sich gezwungen, »zum Zwecke <strong>der</strong> Rehabilitierung« zu demissionieren.<br />
Am 18. Juli erläßt die Regierung, in <strong>der</strong> die <strong>Sozialisten</strong> überwiegen, ein Manifest über<br />
die Auflösung des ungehorsamen finnländischen Sejm mit dessen sozialdemokratischer<br />
Mehrheit. In <strong>der</strong> feierlichen Note an die Alliierten anläßlich des dreijährigen Jubiläums<br />
des Weltkrieges wie<strong>der</strong>holt die Regierung nicht nur den rituellen Treuschwur, son<strong>der</strong>n<br />
berichtet auch von <strong>der</strong> glücklichen Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> durch feindliche Agenten angezettelten<br />
Meuterei. Ein unerhörtes Dokument <strong>der</strong> Kriecherei! Gleichzeitig wird ein drakonisches<br />
Gesetz gegen Disziplinverletzung bei den Eisenbahnen erlassen. Nachdem die<br />
Regierung somit ihre Staatsreife vordemonstriert hatte, entschloß sich Kerenski endlich,<br />
das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei in dem Sinne zu beantworten, daß die von ihr gestellten<br />
For<strong>der</strong>ungen »kein Hin<strong>der</strong>nis für den Eintritt in die Provisorische Regierung bilden<br />
können«. Eine verschleierte Kapitulation genügte jedoch den Liberalen schon nicht mehr.<br />
Sie wollten die Versöhnler in die Knie zwingen. Das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />
erklärte, daß die nach Auflösung <strong>der</strong> Koalition am 8. Juli erlassene Regierungsdeklaration<br />
- ein Sammelsurium demokratischer Gemeinplätze - für die Kadetten unannehmbar<br />
sei, und - brach die Verhandlungen ab.<br />
Die Attacke hatte konzentrischen Charakter. Die Kadetten handelten nicht nur in enger<br />
Verbindung mit den Industriellen und alliierten Diplomaten, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong><br />
Generalität. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stand faktisch<br />
unter Leitung <strong>der</strong> Kadettenpartei. Durch den obersten Kommandobestand drückten die<br />
Kadetten auf die Versöhnler von <strong>der</strong> empfindlichsten Seite. Am 8. Juli erließ <strong>der</strong> Oberbefehlshaber<br />
<strong>der</strong> Südwestfront, General Kornilow, einen Befehl, gegen zurückweichende<br />
Soldaten mit Maschinengewehr- und Artilleriefeuer vorzugehen. Unterstützt vom Frontkommissar<br />
Sawinkow, dem ehemaligen Haupt <strong>der</strong> terroristischen Organisation <strong>der</strong><br />
Sozialrevolutionäre, hatte Kornilow vorher die Einführ-ung <strong>der</strong> Todesstrafe an <strong>der</strong> Frotit<br />
gefor<strong>der</strong>t und gedroht, an<strong>der</strong>nfalls das Kommando nie<strong>der</strong>zulegen. Das Geheimtelegramm<br />
wurde sofort in <strong>der</strong> Presse veröffentlicht: Kornilow hatte dafür gesorgt, daß es bekannt<br />
wurde. Der Höchstkommandierende Brjussilow, mehr zu Vorsicht und Lavieren neigend,<br />
schrieb schulmeisternd an Kerenski: »Die Lehren <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong>,<br />
von uns häufig vergessen, bringen sich dennoch gebieterisch in Erinnerung ...« Diese<br />
Lehren bestanden darin, daß die französischen <strong>Revolution</strong>äre, nachdem sie vergeblich<br />
versucht hatten, die Armee »auf den Prinzipien <strong>der</strong> Humanität« aufzubauen, den Weg<br />
<strong>der</strong> Todesstrafe beschnitten, »und ihre siegreichen Fahnen sind durch die halbe Welt<br />
gegangen«. An<strong>der</strong>es hatten die Generale aus dem Buche <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht herausgelesen.<br />
Am 12. Juli führte die Regierung die Todestrafe wie<strong>der</strong> ein »während <strong>der</strong> Kriegszeit<br />
für Militärdienstpflichtige für einige, schwerste Verbrechen«. Allein <strong>der</strong><br />
Befehlshaber <strong>der</strong> Nordfront, General Klembowski, schrieb nach drei Tagen: »Die Erfahrung<br />
hat gezeigt, daß jene Truppenteile sich als völlig kampfunfähig erwiesen, die häufig<br />
Ersatz erhielten. Die Armee kann nicht gesund sein, wenn die Quelle ihres Ersatzes<br />
verfault ist.« Diese verfaulte Ersatzquelle war das russische Volk.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 383
Am 16. Juli berief Kerenski im Hauptquartier eine Beratung <strong>der</strong> älteren Heerführer ein<br />
unter Beteiligung von Tereschtschenko und Sawinkow. Kornilow fehlte: <strong>der</strong> Rückzug an<br />
seiner Front war in vollem Gange und kam erst nach einigen Tagen zum Stillstand, als<br />
die Deutschen selbst an <strong>der</strong> alten Staatengrenze haltmachten. Die Namen <strong>der</strong> Teilnehmer<br />
an <strong>der</strong> Beratung: Brjussilow, Alexejew, Russki, Klembowski, Denikin, Roiiianowski<br />
klangen wie das Echo einer in den Abgrund versunkenen Epoche. Vier Monate lang<br />
hatten sich die hohen Generale als halbe Leichen gefühlt. Jetzt wurden sie lebendig und<br />
bedachten den Ministerpräsidenten, <strong>der</strong> für sie die Verkörperung <strong>der</strong> sie belästigenden<br />
<strong>Revolution</strong> war, ungestraft mit boshaften Nasenstübern.<br />
Nach Angaben des Hauptquartiers verlor die Armee <strong>der</strong> Südwestfront in <strong>der</strong> Zeit vom<br />
18. Juni bis zum 6. Juli etwa sechsundfünfzigtausend Mann. Unbeträchtliche Opfer im<br />
Kriegsmaßstabe! Aber die zwei Umwälzungen vom Februar und vom Oktober haben viel<br />
weniger gekostet. Was brachte die Offensive <strong>der</strong> Liberalen und Versöhnler außer Tod,<br />
Vernichtung und Elend? Die sozialen Erschütterungen vom Jahre 1917 haben das<br />
Gesicht eines Sechstels <strong>der</strong> Erde verän<strong>der</strong>t und vor <strong>der</strong> Menschheit neue Möglichkeiten<br />
eröffnet. Grausamkeiten und Schrecken <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die wir we<strong>der</strong> bestreiten noch<br />
herabmin<strong>der</strong>n wollen, fallen nicht vom Himmel: sie sind nicht zu trennen von <strong>der</strong> gesamten<br />
historischen Entwicklung.<br />
Brjussilow berichtete über die Resultate <strong>der</strong> vor einem Monat begonnenen Offensive:<br />
»Völliger Mißerfolg.« Die Ursache besteht darin, daß »die Vorgesetzten, vom Kompaniechef<br />
bis zum Oberbefehlshaber, über keine Macht verfügen«. Wie und weshalb sie sie<br />
verloren haben, sagte er nicht. Was die weiteren Operationen beträfe, so »können wir<br />
hierzu nicht vor dem Frühling bereit sein«. Gemeinsam mit den an<strong>der</strong>en auf Repressalien<br />
pochend, sprach Klembowski zugleich Zweifel an <strong>der</strong>en Wirksamkeit aus. »Todesstrafe?<br />
Aber kann man denn ganze Divisionen hinrichten? Gerichtliche Strafverfolgungen? Aber<br />
dann säße die halbe Armee in Sibirien ...« Der Generalstabschef berichtete: »Fünf<br />
Regimenter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sind aufgelöst. Die Anstifter dem Gericht übergeben<br />
... Insgesamt sollen aus Petrograd etwa neunzigtausend Mann herausgeschafft<br />
werden.« Das nahm man befriedigt zur Kenntnis. Niemand dachte darüber nach, welche<br />
Folgen die Evakuation <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison nach sich ziehen würde.<br />
Die Komitees? fragte Alexejew. »Sie müssen vernichtet werden ... Die nach Jahrtausenden<br />
zählende Kriegsgeschichte hat ihre Gesetze geschaffen. Wir wollten sie verletzen<br />
und haben ein Fiasko erlitten.« Dieser Mensch verstand unter den Gesetzen <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> die Dienstordnung. »Den alten Fahnen«, prahlte Russki, »folgten die<br />
Menschen wie einem Heiligtum, starben dafür. Wozu aber haben es die roten Fahnen<br />
gebracht? Dazu, daß die Truppen sich jetzt korpsweise ergeben.« Der hinfällige General<br />
hatte vergessen, daß er selbst im August I915 dem Ministerrat meldete: »Die mo<strong>der</strong>nen<br />
Ansprüche <strong>der</strong> Kriegstechnik gehen über unsere Kraft; jedenfalls können wir mit den<br />
Deutschen nicht Schritt halten.« Klembowski unterstrich schadenfroh, daß eigentlich<br />
nicht die Bolschewiki die Armee zugrunde gerichtet hätten, son<strong>der</strong>n »an<strong>der</strong>e«, die eine<br />
untaugliche Kriegsgesetzgebung anwandten, »Menschen, die Lebensform und Daseinsbedingungen<br />
<strong>der</strong> Armee nicht begreifen«. Das war direkt auf Kerenski gemünzt. Denikin<br />
griff die Minister noch entschiedener an: »Ihr habt sie in den Schmutz getreten, unsere<br />
ruhmreichen Kriegsfahnen, hebt ihr sie nun auch empor, wenn euch das Gewissen<br />
schlägt ...« Und Kerenski? Mangelnden Gewissens verdächtigt, dankte er demütig den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 384
Soldaten für »die offen und freimütig ausgesprochene Meinung«. Die Deklaration <strong>der</strong><br />
Soldatenrechte? »Wenn ich damals, als sie entstand, Minister gewesen wäre, die Deklaration<br />
wäre nicht erlassen worden. Wer hat als erster die Sibirischen Schützen bezwungen?<br />
Wer als erster zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Unbotmäßigen Blut vergossen? Mein<br />
Beauftragter, mein Kommissar.« Außenminister Tereschtschenko tröstet verbindlich:<br />
»Sogar mißglückt, hat unsere Offensive das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten zu uns gestärkt.«<br />
Das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten! Dreht sich nicht zu diesem Zwecke die Erde um ihre<br />
Achse?<br />
»Gegenwärtig sind die Offiziere die einzige Stütze <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«,<br />
belehrt Klembowski. »Der Offizier ist kein Bourgeois«, erläuterte Brjussilow, »er ist <strong>der</strong><br />
echteste Proletarier.« General Russki ergänzt: »Auch die Generale sind Proletarier.«<br />
Die Komitees vernichten, die Macht <strong>der</strong> alten Vorgesetzten wie<strong>der</strong>herstellen, die Politik<br />
aus <strong>der</strong> Armee treiben - das heißt die <strong>Revolution</strong> -, das ist das Programm <strong>der</strong> Proletarier<br />
im Generalsrange. Kerenski hat gegen das Programm nichts einzuwenden, es beunruhigt<br />
ihn nur die Frage <strong>der</strong> Fristen. »Was die vorgeschlagenen Maßnahmen betrifft«, sagte er,<br />
»so glaube ich, daß auch General Denikin nicht auf ihre sofortige Durchführung bestehen<br />
wird ...« Die Generale waren durchweg graue Mittelmäßigkeiten. Aber sie konnten<br />
nicht umhin sich zu sagen: »Das ist die Sprache, die man mit diesen Herrschaften<br />
sprechen muß!«<br />
Als Folge <strong>der</strong> Beratung fand ein Wechsel im obersten Kommandobestande statt. Der<br />
nachgiebige und geschmeidige Brjussilow, eingesetzt an Stelle des vorsichtigen Kanzleibeamten<br />
Alexejew, <strong>der</strong> gegen die Offensive gewesen war, wurde jetzt durch Kornilow<br />
abgelöst. Diesen Wechsel motivierte man verschieden: den Kadetten versprach man,<br />
Kornilow werde eiseme Disziplin einführen; den Versöhnlern versicherte man, Kornilow<br />
sei ein Freund <strong>der</strong> Komitees und <strong>der</strong> Kommissare: Sawinkow selbst bürge für dessen<br />
republikanische Gefühle. In Beantwortung <strong>der</strong> hohen Ernennung schickte <strong>der</strong> General an<br />
die Regierung ein neues Ultimatum: Er, Kornilow, nehme seine Ernennung nur an unter<br />
den Bedingungen: »Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen und dem Volke; Nichteinmischung<br />
in die Ernennung des höheren Kommandobestandes; Wie<strong>der</strong>einführuhg <strong>der</strong><br />
Todesstrafe im Hinterlande.« Der erste Punkt schuf Schwierigkeiten: »Verantwortlichkeit<br />
vor dem eigenen Gewissen und dem Volke«, damit hatte schon Kerenski begonnen,<br />
und diese Sache duldete keine Rivalität. Kornilows Telegramm wurde in <strong>der</strong> verbreitetsten<br />
liberalen Zeitung veröffentlicht. Die vorsichtigen Politiker <strong>der</strong> Reaktion runzelten<br />
die Stirn. Kornilows Ultimatum war das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei, nur in die unverhüllte<br />
Sprache des Kosakengenerals übersetzt. Aber Kornilows Berechnung war richtig:<br />
die Übermäßigkeit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen und die Vermessenheit des Tones im Ultimatum<br />
löste das Entzücken aller Feinde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> gesamten Ka<strong>der</strong>offiziere<br />
aus. Kerenski geriet in Erregung und wollte Kornilow unverzüglich entlassen, fand<br />
aber keine Unterstützung bei seiner Regierung. Letzten Endes willigte auf Anraten seiner<br />
Inspiratoren Kornilow ein, in einer mündlichen Erklärung festzustellen, daß er die<br />
Verantwortlichkeit vor dem Volke als Verantwortlichkeit vor <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
verstehe. Im übrigen wurde das Ultimatum mit kleinen Vorbehalten angenommen.<br />
Kornilow ward Höchstkommandieren<strong>der</strong>. Gleichzeitig wurde ihm <strong>der</strong> Kriegsingenieur<br />
Filonenko als Kommissar beigeordnet und <strong>der</strong> frühere Kommissar <strong>der</strong> Südwestfront,<br />
Sawinkow, zum Leiter des Kriegsministeriums ernannt. Der eine - eine zufällige Figur,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 385
Emporkömmling; <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e - mit einer großen revolutionären Vergangenheit; beide<br />
vollendete Abenteurer, zu allem bereit, wie Filonenko, o<strong>der</strong> mindestens zu vielem, wie<br />
Sawinkow. Ihr enges Bündnis mit Kornilow hat die schnelle Karriere des Generals geför<strong>der</strong>t<br />
und, wie wir sehen werden, in <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse eine Rolle<br />
gespielt.<br />
Die Versöhnler ergaben sich auf <strong>der</strong> ganzen Linie. Zeretelli wie<strong>der</strong>holte: »Die Koalition,<br />
das ist das Rettungsbündnis.« Hinter den Kulissen waren die Verhandlungen trotz<br />
formellem Bruche in vollem Gange. Zur Beschleunigung <strong>der</strong> Lösung nimmt Kerenski, in<br />
offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten, Zuflucht zu einer rein<br />
theatralischen, das heißt ganz dem Geiste seiner Politik entsprechenden und gleichzeitig<br />
für seine Ziele sehr wirksamen Maßnahme: er demissioniert und reist aus <strong>der</strong> Stadt weg,<br />
die Versöhnler ihrer eigenen Verzweiflung überlassend. Miljukow sagt darüber: »Durch<br />
sein demonstratives Abtreten ... bewies er sowohl seinen Gegnern wie seinen Rivalen wie<br />
auch seinen Anhängern, daß er, wie man zu seinen persönlichen Qualititen auch stehen<br />
mochte, einfach wegen <strong>der</strong> von ihm eingenommenen politischen Haltung - zwischen zwei<br />
kämpfenden Lagern im gegebenen Moment unentbehrlich war.« Die Partie war, nach<br />
dem System des Schlagdamespieles, gewonnen. Die Versöhnler stürzten zum »Genossen<br />
Kerenski« mit unterdrückten Flüchen und offenem Flehen. Beide Parteien, Kadetten und<br />
<strong>Sozialisten</strong>, zwangen mühelos dem enthaupteten Ministerium den Beschluß auf, sich<br />
selbst zu liquidieren und Kerenski zu beauftragen, nach seinein persönlichen Ermessen<br />
die Regierung neu zu bilden.<br />
Um die ohnehin erschrockenen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutivkomitees völlig einzuschüchtern,<br />
serviert man ihnen die letzten Berichte über die sich verschlechternde Lage an <strong>der</strong><br />
Front. Die Deutschen bedrängen die <strong>russischen</strong> Truppen, die 1iberalen bedrängen<br />
Kerenski, Kerenski bedrängt die Versöhnler. Die Fraktionen <strong>der</strong> Menschewiki und<br />
Sozialrevolutionäre beraten die ganze Nacht zum 24. Juli, von Hilflosigkeit gequält.<br />
Endlich billigen die Exekutivkomitees mit einer Mehrheit von hün<strong>der</strong>tsiebenundvierzig<br />
gegen sechsundvierzig Stimmen bei zweiundvierzig Stimmenthaltungen eine nie<br />
dagewesene Opposition! - die Machtübergabe an Kerenski, ohne Bedingungen und ohne<br />
Einschränkungen. Auf dem gleichzeitig stattfindenden Parteitag <strong>der</strong> Kadetten ertönen<br />
Stimnien zum Sturze Kerenskis, doch Miljukow weist die Ungeduldigen zurecht und<br />
empfiehlt, sich vorläufig auf einen Druck zu beschränken. Das bedeutet nicht, daß Miljukow<br />
sich in bezug auf Kerenski Illusionen hingab. Doch sah er in ihm den Punkt zum<br />
Einsetzen <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Die Regierung, von den Sowjets befreit,<br />
würde dann ohne Schwierigkeiten von Kerenski zu befreien sein.<br />
Unterdessen dürsteten die Götter <strong>der</strong> Koalition weiter. Die Verfügung über Lenins<br />
Verhaftung war <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Übergangsregierung vom 7. Juli vorausgegangen. Jetzt<br />
hieß es, durch einen Akt <strong>der</strong> Festigkeit die Auferstehung <strong>der</strong> Koalition auszuzeichnen.<br />
Bereits am 13. Juli erschien in Gorkis Zeitung - eine bolschewistische Presse gab es nicht<br />
inehr - ein offener Brief Trotzkis an die Provisorische Regierung. Er lautete: »Sie besitzen<br />
keine logischen Gründe, mich von <strong>der</strong> Wirkung des Dekrets, kraft dessen die Genossen<br />
Lenin, Sinowjew und Kamenjew zu verhaften sind, auszunehmen. Was die politische<br />
Seite <strong>der</strong> Sache betrifft, so können Sie nicht darüber im Zweifel sein, daß ich ein ebenso<br />
unversöhnhcher Gegner <strong>der</strong> Gesamtpolitik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bin wie die<br />
genannten Genossen.« In <strong>der</strong> Nacht, als das neue Ministerium gebildet ward, wurden in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 386
Petrograd Trotzki und Lunatscharski und an <strong>der</strong> Front Fähnrich Krylenko, <strong>der</strong> spätere<br />
Höchstkommandierende <strong>der</strong> Bolschewiki, verhaftet.<br />
Die Regierung, die nach <strong>der</strong> dreiwöchigen Krise das Licht <strong>der</strong> Welt erblickte, sah wie<br />
ein verhutzeltes Kind aus. Sie bestand aus Figuren zweiten und dritten Aufgebots, ausgewählt<br />
nach dem Prinzip des kleinsten Übels. Stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> wurde<br />
Ingenieur Nekrassow, ein linker Kadett, <strong>der</strong> am 27. Februar vorgeschlagen hatte, zur<br />
Unterdrückung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Macht einem <strong>der</strong> zaristischen Generale auszuliefern.<br />
Der parteilose und farblose Schriftsteller Prokopowitsch, <strong>der</strong> sich am Raine zwischen<br />
Kadetten und Menschewiki aufhielt, wurde Minister für Handel und Industrie. Ein<br />
ehemaliger Staatsanwalt, später radikaler Advokat, Sarudniy, Sohn des "liberalen"<br />
Ministers Alexan<strong>der</strong>s II., wurde zur Leitung <strong>der</strong> Justiz berufen. Der Vorsitzende des<br />
Bauern-Exekutivkomitees, Awksentjew, erhielt das Portefeuille des Innenministers.<br />
Arbeitsminister blieb <strong>der</strong> Menschewik Skobeljew, Ernährungsminister <strong>der</strong> Volkssozialist<br />
Peschechonow. Von den Liberalen gerieten ebenso zweitrangige-Figuren in das Kabinett,<br />
die we<strong>der</strong> vorher noch nachher eine führende Rolle spielten. Auf den Posten des Ackerbauministers<br />
kehrte recht unerwartet Tschernow zurück: in den vier Tagen, die zwischen<br />
seinem Rücktritt und seiner neuen Ernennung verstrichen waren, hatte er bereits Zeit<br />
gehabt, sich zu rehabilitieren. In seiner "<strong>Geschichte</strong>" bemerkt Miljukow gelassen, daß <strong>der</strong><br />
Charakter von Tschernows Beziehungen zu den deutschen Behörden »unaufgeklärt<br />
blieb; es ist auch möglich«, fügt er hinzu, »daß sowohl die Angaben <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Konterspionage wie die Verdächtigungen Kerenskis, Tereschtschenkos und an<strong>der</strong>er in<br />
dieser Hinsicht zu weit gegangen waren.« Die Wie<strong>der</strong>einsetzung Tschernows in das Amt<br />
des Ackerbauministers war nichts an<strong>der</strong>es als ein Tribut an das Prestige <strong>der</strong> regierenden<br />
Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, wo Tschernow allerdings immer mehr an Einfluß verlor.<br />
Zeretelli dagegen blieb umsichtigerweise außerhalb des Ministeriums: im Mai hieß es, er<br />
würde innerhalb <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nützlich sein; jetzt schickte er sich an,<br />
innerhalb des Sowjets <strong>der</strong> Regierung nützlich zu sein. Von nun an erfüllt Zeretelli<br />
tatsächlich die Pflichten eines Kommissars <strong>der</strong> Bourgeoisie im Sowjetsystem. »Wären<br />
die Interessen des Landes durch die Koalition verletzt«, sagte er in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets, »es wäre unsere Pflicht, die Genossen aus <strong>der</strong> Regierung abzurufen.«<br />
Nicht mehr davon war die Rede, die Liberalen auszuschöpfen und sie dann aus dem Weg<br />
zu räumen, wie Dan es noch vor kurzem versprochen hatte, son<strong>der</strong>n davon, nachdem<br />
man sich ausgeschöpft fühlen würde rechtzeitig selbst vom Steuer zurückzutreten.<br />
Zeretelli bereitete die restlose Machtübergabe an die Bourgeoisie vor.<br />
In <strong>der</strong> ersten, am 6. Mai gebildeten Koalition waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit;<br />
aber sie waren faktisch die wirklichen Herren <strong>der</strong> Lage; im Ministerium vom 24. Juli<br />
waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Mehrheit, aber sie waren nur ein Schatten <strong>der</strong> Liberalen ...<br />
»Bei einem kleinen nominellen Übergewicht <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong>«, gesteht Miljukow,<br />
»gehörte das tatsächliche Übergewicht Uli Kabinett zweifellos den überzeugten Anhängem<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie.« Es wäre richtiger zu sagen: des bürgerlichen Eigentums.<br />
Mit <strong>der</strong> Demokratie verhielt sich die Sache weniger klar. Im gleichen Geiste, wenn<br />
auch mit einer überraschenden Motivierung, verglich Minister Peschechonow die Koalition<br />
vom Juli mit <strong>der</strong> vom Mai: damals habe die Bourgeoisie eine Stütze von links<br />
gebraucht; jetzt, wo die Konterrevolution drohe, brauche man eine Stütze von rechts: »Je<br />
mehr Kräfte von rechts wir hinzuziehen, um so weniger werden von jenen übrigbleiben,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 387
die die Regierung angreifen könnten.« Eine unvergleichliche Regel politischer Strategie:<br />
um die Belagerung einer Festung zu brechen, ist es das beste - die Tore von innen zu<br />
öffnen. Dies eben war die Formel <strong>der</strong> neuen Koalition.<br />
Die Reaktion griff an, die Demokratie wich zurück. Die in <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>speriode<br />
eingeschüchterten Klassen und Gruppen erhoben das Haupt. Interessen, die man<br />
noch gestern verbarg, traten heute nach außen. Händler und Spekulanten for<strong>der</strong>ten die<br />
Ausrottung <strong>der</strong> Bolschewiki und - Handelsfreiheit; sie erhoben ihre Stimme gegen alle<br />
Einschränkungen des Umsatzes, sogar auch jene, die bereits unter dem Zarismus eingeführt<br />
worden waren. Ernährungsämter, die gegen Spekulation zu kämpfen versuchten,<br />
wurden als die Schuldigen an <strong>der</strong> Lebensmittelknappheit erklärt. Man übertrug den Haß<br />
von den Ernährungsämtern auf die Sowjets. Der menschewistische Nationalökonom<br />
Gromann berichtete, daß <strong>der</strong> Feldzug <strong>der</strong> Kaufleute »sich beson<strong>der</strong>s nach den Ereignissen<br />
des 3. bis 4. Juli verstärkte«. Die Sowjets wurden verantwortlich gemacht für<br />
Nie<strong>der</strong>lagen, Teuerung und nächtliche Plün<strong>der</strong>ungen.<br />
Beunruhigt durch die monarchistischen Ränke und in Befürchtung einer Abwehrexplosion<br />
von links schob die Regierung am 1. August Nikolaus Romanow nebst Familie nach<br />
Tobolsk ab. Am folgenden Tage wurde die neue Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki 'Rabotschij i<br />
Soldat' ('Arbeiter und Soldat') verboten. Von überall trafen Nachrichten ein über Massenverhaftungen<br />
von Truppenkomitees. Die Bolschewiki konnten Ende Juli ihren Parteitag<br />
nur halb illegal versammeln. Armeekongresse wurden verboten. Kongresse hielten nur<br />
jene ab, die früher still zu Hause saßen: Bodenbesitzer, Kaufleute und Industrielle,<br />
Spitzen <strong>der</strong> Kosakenschaft, Geistlichkeit, Georgsritter. Ihre Stimmen klangen einheitlich<br />
und unterschieden sich nur im Grade <strong>der</strong> Vermessenheit. Die unbestreitbare, wenn auch<br />
nicht immer sichtbare Leitung gehörte <strong>der</strong> Kadettenpartei.<br />
Auf dem Handels- und Industriekongreß, <strong>der</strong> Anfang August etwa dreihun<strong>der</strong>t Vertreter<br />
<strong>der</strong> wichtigsten Börsen- und Unternehmerorganisationen versammelte, hielt die<br />
Programmrede <strong>der</strong> Textilkönig Rjabuschinski, <strong>der</strong> sein Lämpchen nicht im verborgenen<br />
leuchten ließ. »Die Provisorische Regierung besaß nur den Schein <strong>der</strong> Macht ... Faktisch<br />
hatte sich eine Bande von politischen Scharlatanen breitgemacht ... Die Regierung übt<br />
einen Steuerdruck aus und besteuert in erster Linie die Handels- und Industrieklasse hart<br />
... Ist es zweckmäßig, dem Verschwen<strong>der</strong> zu geben? Ist es nicht besser, zur Rettung des<br />
Vaterlandes die Verschwen<strong>der</strong> unter Vormundschaft zu stellen? ...« Und endlich die<br />
Schlußdrohung: »Der knochige Arm des Hungers und <strong>der</strong> Volksverelendung wird die<br />
Freunde <strong>der</strong> Nation bei <strong>der</strong> Gurgel packen!« Der Satz vom knochigen Arm des Hungers,<br />
womit die Aussperrungspolitik verallgemeinert wurde, ist seit jener Zeit fest in das politische<br />
Vokabularium <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eingegangen. Er kam den Kapitalisten teuer zu<br />
stehen.<br />
In Petrograd wurde <strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Gouvernements-Kommissare eröffnet. Agenten<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die planmäßig vor ihr wie eine Mauer hätten stehen<br />
sollen, schlossen sich in Wirklichkeit gegen sie zusammen und nahmen, unter Führung<br />
ihres kadettischen Kerns, den unglückseligen Innenininister Awksentjew aufs Korn. »Es<br />
ist unmöglich, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: die Regierung muß regieren, nicht aber<br />
eine Marionette sein.« Die Versöhnler verteidigten sich und protestierten halblaut, in<br />
Angst, ihren Streit mit den Verbündeten könnten die Bolschewiki belauschen. Der<br />
Minister-Sozialist verließ den Kongreß wie verbrüht.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 388
Die sozialrevolutionäre und die menschewistische Presse begann allmählich eine<br />
Sprache des Wehklagens und Gekränktseins zu führen. Auf ihren Seiten begannen<br />
überraschende Enthüllungen zu erscheinen. Am 6. August veröffentlichte das sozialrevolutionäre<br />
Blatt 'Djelo Naroda' ('Volkssache') den Brief einer Gruppe linker Junker, den<br />
diese, unterwegs zur Front, abgeschickt hatten: die Autoren »waren über die Rolle<br />
erstaunt, in <strong>der</strong> die Junker sich betätigten ... systematisches Ohrfeigen, Beteiligung <strong>der</strong><br />
Junker an Strafexpeditionen begleitet von Erschießungen ohne Gericht und Untersuchung,<br />
nur auf Befehl eines Bataillonskommandeurs ... Die erbitterten Soldaten schießen<br />
hinterrücks auf einzelne Junker ...« So sah die Arbeit zur Gesundung <strong>der</strong> Armee aus.<br />
Die Reaktion griff an, die Regierung wich zurück. Am 7. August wurden die populärsten<br />
Schwarzhun<strong>der</strong>tführer, die Rasputinschen Kreisen angehörten und an jüdischen<br />
Pogromen beteiligt gewesen waren, aus dem Gefängnis entlassen. Die Bolschewiki<br />
blieben im Krestygefängnis, wo ein Hungerstreik <strong>der</strong> verhafteten Arbeiter, Soldaten und<br />
Matrosen drohte. Die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets schickte an jenem Tage<br />
eine Begrüßung an Trotzki, Lunatscharski, Kollontay und die übrigen Häftlinge.<br />
Industrielle, Gouvernements-Kommissare, <strong>der</strong> Kosakenkongreß in Nowotscherkassk,<br />
die patriotische Presse, Generale, Liberale, alle waren <strong>der</strong> Ansicht, die Wahlen zur<br />
Konstituierenden Versammlung im September vorzunehmen sei völhg unmöglich; am<br />
besten wäre es, sie bis zum Kriegsende zu vertagen. Darauf konnte die Regierung jedoch<br />
nicht eingehen. Aber ein Kompromiß kam zustande: die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung wurde auf den 28. November vertagt. Nicht ohne Murren nahmen die<br />
Kadetten diese Frist an: sie rechneten fest damit, daß in den verbleibenden drei Monaten<br />
entscheidende Ereignisse geschehen niüßten, die die Frage <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung selbst, auf eine an<strong>der</strong>e Ebene hinüberleiten würden. Diese Hoffnungen<br />
wurden immer offener mit Kornilows Namen verknüpft.<br />
Die Reklame für die Figur des neuen "Ober" stand von nun an im Zentrum <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Politik. Die Biographie »des ersten Volks-Oberbefehlshabers« wurde unter aktiver<br />
Mitwirkung des Hauptquartiers in unzähligen Exemplaren verbreitet. Wenn Sawinkow in<br />
seiner Eigenschaft als Leiter des Kriegsministeriums Journalisten gegenüber sagte: »Wir<br />
glauben«, dann bedeutete das »Wir« nicht Sawinkow und Kerenski, son<strong>der</strong>n Sawinkow<br />
und Kornilow. Der Lärm um Kornilow zwang Kerenski, die Ohren zu spitzen. Es gingen<br />
immer hartnäckigere Gerüchte über eineVerschwörung, in <strong>der</strong>en Zentrum das Komitee<br />
des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stände. Die persönliche Zusammenkunft von<br />
Regierungsoberhaupt und Armeeoberhaupt Anfang August schürte nur <strong>der</strong>en Antipathie.<br />
»Dieser leichtfertige Schwätzer will über mich kommandieren«, mußte Kornilow sich<br />
sagen. - »Dieser beschränkte und unwissende Kosak will Rußland retten?« mochte wohl<br />
Kerenski denken. Beide hatten auf ihre Weise recht. Kornilows Programm, das Militarisierung<br />
<strong>der</strong> Betriebe und Eisenbahnen, Ausdehnung <strong>der</strong> Todesstrafe auf das Hinterland<br />
und Unterordnung des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks mit Einschluß <strong>der</strong> Residenzgarnison<br />
unter das Hauptquartier umfaßte, wurde inzwischen in Versöhnlerkreisen bekannt. Hinter<br />
dem offiziellen Programm erriet man mühelos das an<strong>der</strong>e, nicht ausgesprochene, aber<br />
desto realere. Die linke Presse schlug Alarm. Das Exekutivkomitee stellte eine neue<br />
Kandidatur für den Posten des Oberbefehlshabers in Person des Generals Tscheremissow<br />
auf. Von <strong>der</strong> bevorstehenden Entlassung<br />
Kornilows begann man offen zu sprechen. Die Reaktion wurde unruhig.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 389
Am 6. August beschloß <strong>der</strong> Sowjet des Verbandes <strong>der</strong> zwölf Kosakenarmeen, <strong>der</strong><br />
Doner, Kubaner, Tersker und an<strong>der</strong>er, nicht ohne Mitwirkung Sawinkows, »laut und<br />
entschieden« zur Kenntnis <strong>der</strong> Regierung und des Volkes zu bringen, er lehne die<br />
Verantwortung ab für das Verhalten <strong>der</strong> Kosakentruppen an <strong>der</strong> Front Generals<br />
Kornilow. Die Konferenz des Verbandes <strong>der</strong> Georgsritter drohte <strong>der</strong> Regierung noch<br />
entschiedener: sollte Kornilow abgesetzt werden, so werde <strong>der</strong> Verband sofort »einen<br />
Kampfruf an alle Georgsritter zum gemeinsamen Auftreten mit dem Kosakentum« erlassen.<br />
Kein einziger <strong>der</strong> Generale protestierte gegen diese Verletzung <strong>der</strong> Subordination,<br />
und die Ordnungspresse druckte mit Begeisterung die Beschlüsse ab, die eine Androhung<br />
des Bürgerkrieges bedeuteten. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes <strong>der</strong> Armee und<br />
Flotte versandte ein Telegramm, in dem es alle seine Hoffnungen »auf den geliebten<br />
Führer, General Kornilow«, setzte, und »alle ehrlichen Menschen« aufrief, diesem ihr<br />
Vertrauen auszusprechen. Die zur selben Zeit in Moskau tagende Konferenz »öffentlicher<br />
Persönlichkeiten« des rechten Lagers sandte an Kornilow ein Telegramm, in dem<br />
sie einstimmte in den Chor <strong>der</strong> Offiziere, Georgsritter und des Kosakentums: »Das<br />
gesamte denkende Rußland blickt auf Sie mit Hoffnung und Vertrauen.« Klarer konnte<br />
man's nicht sagen. An <strong>der</strong> Konferenz beteiligten sich Industrielle und Bankiers, wie<br />
Rjabuschinski und Tretjakow, die Generale Alexejew und Brjussilow, Vertreter <strong>der</strong><br />
Geistlichkeit und <strong>der</strong> Professur und die Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei mit Miljukow an <strong>der</strong><br />
Spitze. Als Hülle figurierten Vertreter des halbfiktiven "Bauernbundes", <strong>der</strong> den Kadetten<br />
eine Stütze bei den Spitzen <strong>der</strong> Bauernschaft sein sollte. Aus dem Vorsitzendenstuhl<br />
ragte die Monumentalfigur Rodsjankos hervor, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Delegation eines Kosakenregimentes<br />
für die Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Bolschewiki dankte. Die Kandidatur Kornilows für die<br />
Rolle des Landesretters war somit von den autoritärsten Vertretern <strong>der</strong> besitzenden und<br />
gebildeten Klassen Rußlands offiziell aufgestellt.<br />
Nach dieser Vorbereitung erscheint <strong>der</strong> Oberbefehlshaber zum zweitenmal beim<br />
Kriegsminister, um über das von ihm eingereichte Programm zur Rettung des Landes zu<br />
verhandeln. »Nach Ankunft in Petrograd«, erzählt über diesen Besuch Kornilows dessen<br />
Stabschef, General Lukomski, »begab er sich in Begleitung <strong>der</strong> Tekiner mit zwei Maschinengewehren<br />
in das Winterpalais. Diese Maschinengewehre wurden vom Automobil<br />
heruntergeholt, sobald General Kornilow das Winterpalais betreten hatte, und die<br />
Tekiner hielten vor dem Portal des Palais Wache, um dem Oberbefehlshaber nötigenfalls<br />
zu Hilfe zu kommen.« Man rechnete damit, diese Hilfe könnte dem Oberbcfehlshaber<br />
gegen den Ministerpräsidenten notwendig werden. Die Maschinengewehre <strong>der</strong> Tekiner<br />
waren die Maschinengewehre <strong>der</strong> Bourgeoisie, gerichtet auf die zwischen den Beinen<br />
herumirrenden Versöhnler. So sah die - von den Sowjets unabhängige - Regierung <strong>der</strong><br />
Rettung aus!<br />
Sogleich nach dem Kornilowschen Besuch erklärte Kokoschkin, ein Mitglied <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung, dem Ministerpräsidenten Kerenski, die Kadetten würden<br />
demissionieren, »falls nicht noch heute Kornilows Programm akzeptiert wird«. Wenn<br />
auch ohne Maschinengewehre, so sprachen dic Kadetten mit <strong>der</strong> Regierung doch die<br />
ultimative Sprache Kornilows. Und dies half. Die Provisorische Regierung beeilte sich,<br />
den Bericht des Oberbefehlshabers zu prüfen, und kam zu dem Ergebnis, die Durchführung<br />
<strong>der</strong> vorgeschlagenen Maßnahmen sei im Prinzip möglich, »einschließlich <strong>der</strong><br />
Todesstrafe für das Hinterland«.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 390
Der Mobilisierung <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> Reaktion schloß sich naturgemäß die Allrussische<br />
Kirchenversaninilung an, die, ihrem offiziellen Zweck nach, die volle Befreiung <strong>der</strong><br />
rechtgläubigen Kirche aus bürokratischen Fesseln durchzuführen hatte, sie in Wirklichkeit<br />
jedoch vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> schützen sollte. Mit <strong>der</strong> Beseitigung <strong>der</strong> Monarchie hatte<br />
die Kirche ihr offizielles Haupt verloren. Ihr Verhältnis zum Staate, ihrem Beschützer<br />
und Gönner von altersher, war in <strong>der</strong> Luft hängen geblieben. Allerdings hatte <strong>der</strong> Heilige<br />
Synod in einer Botschaft vom 9. März sich beeilt, die vollzogene Uniwälzung zu segnen,<br />
und das Volk auigerufen, »sich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung anzuvertrauen«. Aber dic<br />
Zukunft war doch von Gefahren bedroht. Die Regierung hatte sich wie über alle an<strong>der</strong>en<br />
Fragen auch über die <strong>der</strong> Kirche ausgeschwiegen. Die Geistlichkeit war völlig fassungslos.<br />
Mitunter traf aus irgendeinem Randgebiet, so von <strong>der</strong> Geistlichkeit <strong>der</strong> Stadt Werny<br />
an <strong>der</strong> chinesischen Grenze, ein Telegramm ein, das dem Fürsten Lwow versicherte,<br />
seine Politik stehe durchaus im Einklang mit den Geboten des Evangeliums. Sich <strong>der</strong><br />
Umwälzung anpassend, hatte die Kirche nicht gewagt, in die Ereignisse einzugreifen.<br />
Am schroffsten hatte sich das an <strong>der</strong> Front gezeigt, wo <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Geistlichkeit<br />
gleichzeitig mit <strong>der</strong> Angstdisziplin zusammenstürzte. Denikin gesteht: »Wenn das<br />
Offizierskorps immerhin längere Zeit um seine Kommandomacht und militärische Autorität<br />
kämpfte, so verstummte in den ersten <strong>Revolution</strong>stagen die Stimme <strong>der</strong> Seelenhirten,<br />
und jegliche Anteilnahme ihrerseits am Leben <strong>der</strong> Truppen hörte auf.« Kongresse <strong>der</strong><br />
Geistlichkeit im Hauptquartier und in den Armeestäben verliefen völlig unbeachtet.<br />
Die Kirchenversammlung, vor allem Kastenangelegenheit <strong>der</strong> Geistlichkeit, beson<strong>der</strong>s<br />
ihrer oberen Schichten, blieb jedoch nicht auf den Rahmen <strong>der</strong> Kirchenbürokratie<br />
beschränkt: an sie klammerte sich mit aller Kraft die liberale Gesellschaft. Die Kadettenpartei,<br />
die im Volk keine politischen Wurzeln fand, träumte davon, die reformierte<br />
Kirche würde <strong>der</strong> Partei als Transmission zu den Massen dienen. Bei <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Kirchenversammlung spielten eine aktive Rolle neben den Kirchenfürsten und diesen<br />
voran weltliche Politiker verschiedener Schattierungen, wie Fürst Trubetzkoi, Graf<br />
Olssufjew, Rodsjanko, Samarin, liberale Professoren und Schriftsteller. Die Kadettenpartei<br />
war vergeblich bemüht, eine Atmosphäre kirchlicher Reformation um die Versammlung<br />
zu schaffen, wobei sie gleichzeitig fürchtete, durch eine unvorsichtige Bewegung<br />
das angefaulte Gebäude ins Wanken zu bringen. Ober Trennung von Kirche und Staat<br />
war keine Rede, we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Geistlichkeit noch bei den weltlichen Reformatoren. Die<br />
Kirchenfürsten neigten natürlich dazu, die Kontrolle des Staates über ihre inneren<br />
Angelegenheiten abzuschwächen, sie wollten jedoch, daß <strong>der</strong> Staat in alter Weise nicht<br />
nur ihre privilegierte Lage, ihre Län<strong>der</strong>eien und Einkäufe schütze, son<strong>der</strong>n auch fernerhin<br />
den Löwenanteil ihrer Ausgaben decke. Ihrerseits war die liberale Bourgeoisie bereit,<br />
<strong>der</strong> Orthodoxie die Stellung <strong>der</strong> herrschenden Kirche zu sichern, jedoch unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />
daß sie es lerne, auf neue Art in den Massen die Interessen <strong>der</strong> herrschenden<br />
Klassen zu wahren.<br />
Hier aber setzten die Hauptschwierigkeiten erst ein. Derselbe Denikin bemerkt<br />
zerknirscht, daß die russische <strong>Revolution</strong> »keine irgendwie bemerkenswerte volksreligiöse<br />
Bewegung geschaffen hat«. Richtiger wäre zu sagen, daß in dem Maße <strong>der</strong> Einbeziehung<br />
neuer Volksschichten in die <strong>Revolution</strong> diese Schichten fast automatisch <strong>der</strong><br />
Kirche den Rücken kehrten, auch wenn sie früher mit ihr verbunden waren. Auf dem<br />
Lande konnten noch einzelne Geistliche persönlichen Einfluß ausüben, je nach ihrem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 391
Verhalten zur Bodenfrage. In <strong>der</strong> Stadt kam es nicht nur in Arbeiter-, son<strong>der</strong>n auch in<br />
Kleinbürgerkreisen keinem in den Sinn, sich um Lösung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erhobenen<br />
Fragen an die Geisthchkeit zu wenden. Die Vorbereitung <strong>der</strong> Kirchenversaninilung<br />
stieß auf völlige Teilnahmslosigkeit des Volkes. Die Interessen und Leidenschaften <strong>der</strong><br />
Massen fanden ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Sprache sozialistischer Parolen, nicht aber in<br />
theologischen Texten. Das verspätete Rußland machte seine <strong>Geschichte</strong> nach einem<br />
gekürzten Lehrkursus durch: es war gezwungen, nicht nur über die Epoche <strong>der</strong> Reformation,<br />
son<strong>der</strong>n auch über die des bürgerlichen Parlamentarismus hinwegzuschreiten.<br />
Die in den Monaten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sflut in Aussicht genommene Kirchenversammlung<br />
fiel zusammen mit den Wochen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sebbe. Dies hat ihre reaktionäre Färbung<br />
nur noch verdichtet. Die Zusammensetzung, <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> von ihr berührten Fragen,<br />
sogar ihr Eröffnungszeremoniell - alles zeugte von den grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen<br />
im Verhältnis <strong>der</strong> verschiedenen Klassen zur Kirche. Bei dem Gottesdienst im Uspensski<br />
Sobor (Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale) waren neben Rodsjanko und den Kadetten auch<br />
Kerenski und Awksentjew anwesend. Der Moskauer Oberbürgermeister, Sozialrevolutionär<br />
Rudnjew, sagte in <strong>der</strong> Begrüßung: »Solange das russische Volk leben wird, wird in<br />
seinem Herzen <strong>der</strong> christliche Glaube brennen.« Noch gestern hatten diese Menschen<br />
sich für direkte Nachkommen des <strong>russischen</strong> Aufklärers Tschernyschewski gehalten.<br />
Die Kirchenversammlung versandte gedruckte Appelle in alle Ecken und Enden, rief<br />
nach einer starken Regierung, entlarvte die Bolschewiki und beschwor im Einklang mit<br />
dem Arbeitsminister Skobeljew: »Arbeiter, schaffet, ohne eure Kräfte zu schonen, und<br />
stellt eure For<strong>der</strong>ungen dem Wohle des Vaterlandes hintan.« Doch ganz beson<strong>der</strong>e<br />
Aufmerksamkeit widmete die Versammlung <strong>der</strong> Bodenfrage. Metropoliten und Bischöfe<br />
waren nicht weniger als die Gutsbesitzer über die Wucht <strong>der</strong> Bauernbewegung erschrokken<br />
und erbittert, und Angst um die Kirchen- und Klösterlän<strong>der</strong>eien ergriff von ihren<br />
Seelen viel stärker Besitz als die Frage nach <strong>der</strong> Demokratisierung <strong>der</strong> Pfarrgemeinden.<br />
Unter Androhung göttlichen Zorns und des Kirchenbanns for<strong>der</strong>t die Botschaft,<br />
»Kirchen, Klöster, Klerus und Privatbesitzern die ihnen geraubten Län<strong>der</strong>, Wäl<strong>der</strong> und<br />
Ernten unverzüglich zurückzugeben«. Hier wäre es angebracht, an die Stimme des Predigers<br />
in <strong>der</strong> Wüste zu erinnern! Die Kirchenversammlung zog sich von Woche zu Woche<br />
hin und erreichte den Höhepunkt ihrer Arbeit, die Wie<strong>der</strong>herstellung des von Peter dem<br />
Großen zwei jahrhun<strong>der</strong>te zuvor aufgehobenen Patriarchats, erst nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />
Ende Juli faßte die Regierung den Beschluß, zum 13. August nach Moskau eine Staatsberatung<br />
von Vertretern sämtlicher Klassen und öffentlichen Institutionen des Landes<br />
einzuberufen. Im völligen Wi<strong>der</strong>spruch zu den Resultaten aller im Lande stattgefundenen<br />
demokratischen Wahlen traf die Regierung Maßnahmen, um für die Beratung von<br />
vornherein die gleiche Zahl Vertreter <strong>der</strong> besitzenden Klassen wie des Volkes zu sichern.<br />
Nur auf <strong>der</strong> Grundlage eines solchen künstlichen Gleichgewichts hoffte die Regierung<br />
zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sich selbst noch zu retten. Mit irgendwelchen festgelegten<br />
Rechten wurde dieses Konzil nicht ausgestattet. »Die Beratung ... erhielt«, nach Milljukows<br />
Worten, »allenfalls nur beratende Stimme«: die besitzenden Klassen wollten <strong>der</strong><br />
Demokratie ein Beispiel von Selbstverleugnung geben, um sich später desto sicherer die<br />
ganze Macht anzueignen. Offiziell wurde als Ziel <strong>der</strong> Beratung verkündet: »Die<br />
Einigung <strong>der</strong> Staatsmacht mit allen organisierten Kräften des Landes.« Die Presse<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 392
sprach von <strong>der</strong> Notwendigkeit, zusammenzuschließen, zu versöhnen, aufzumuntern, zu<br />
ermutigen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die einen waren nicht willens, die an<strong>der</strong>en niclit fähig,<br />
klar auszusprechen, zu welchem Zwecke eigentlich die Beratung zusammentrete. Die<br />
Dinge bei Namen zu nennen, wurde auch hier Aufgabe <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Die Konterrevolution erhebt das Haupt<br />
In den ersten zwei Monaten, als die Regierung formell Gutschkow-Miljukow gehörte,<br />
konzentrierte sich die Macht faktisch vollständig in den Händen des Sowjets. In den<br />
folgenden zwei Monaten erlitt <strong>der</strong> Sowjet eine Schwächung: ein Teil des Einflusses auf<br />
die Massen ging an die Bolschewiki über, ein Teilchen <strong>der</strong> Macht brachten die Minister-<br />
<strong>Sozialisten</strong> in ihren Portefeuilles <strong>der</strong> Koahtionsregierung. Mit Beginn <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Offensive verstärkte sich automatisch die Bedeutung des Kommandostabes, <strong>der</strong><br />
Organe des Finanzkapitals und <strong>der</strong> Kadettenpartei. Ehe es daran ging, das Blut <strong>der</strong> Soldaten<br />
zu vergießen, unternahm das Exekutivkomitee eine solide Transfusion eigenen Blutes<br />
in die A<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bourgeoisie. Hinter den Kulissen konzentrierten sich die Fäden in den<br />
Händen <strong>der</strong> Gesandtschaften und Regierungen! <strong>der</strong> Entente.<br />
Zu <strong>der</strong> in London tagenden Interalliierten Konferenz hatten die westlichen Freunde<br />
"vergessen", den <strong>russischen</strong> Gesandten einzuladen; erst nachdem er sich selbst in Erinnerung<br />
gebracht, rief man ihn, zehn Minuten vor Eröffnung <strong>der</strong> Tagung, wobei sich für ihn<br />
am Tische kein Platz fand und er sich zwischen die Franzosen hineinzwängen mußte. Die<br />
Verhöhnung des Gesandten <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und <strong>der</strong> demonstrative Austritt<br />
<strong>der</strong> Kadetten aus dem Ministerium - beide Ereignisse geschahen am 2. Juli - verfolgten<br />
das gleiche Ziel: die Versöhnler nie<strong>der</strong>zuducken. Die gleich danach zur Entladung<br />
gekommene bewaffnete Demonstration mußte die Sowjetführer um so mehr außer sich<br />
bringen als, unter dem doppelten Schlag, ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen gerade<br />
entgegengesetzten Weg gerichtet war. Ist man gezwungen, das blutige Joch im Bunde<br />
mit <strong>der</strong> Entente zu tragen, so lassen sich doch keine besseren Vermittler finden als die<br />
Kadetten. Tschaikowski, einer <strong>der</strong> ältesten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre, während <strong>der</strong> langen<br />
Emigrationsjahre zu einem gemäßigten britischen Liberalen geworden, sprach belehrend:<br />
»Für den Krieg braucht man Geld, aber den <strong>Sozialisten</strong> werden die Alliierten kein Geld<br />
geben.« Den Versöhnlern war dieses Argument peinlich, doch begriffen sie sein ganzes<br />
Gewicht.<br />
Das Kräfteverhältnis verän<strong>der</strong>te sich offensichtlich zuungunsten des Volkes, doch<br />
konnte niemand sagen, in welchem Grade. Die Appetite <strong>der</strong> Bourgeoisie waren jedenfalls<br />
viel stärker gewachsen als ihre Möglichkeiten. In dieser Unbestimmtheit lag die Quelle<br />
<strong>der</strong> Zusammenstöße, denn die Klassenkräfte werden in <strong>der</strong> Aktion überprüft, und Ereignisse<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> laufen auf solche wie<strong>der</strong>holte Nachprüfungen hinaus. Jedoch wie<br />
groß dem Umfang nach die Verschiebung <strong>der</strong> Macht von links nach rechts auch sein<br />
mochte, sie berührte wenig die Provisorische Regierung, die ein leerer Fleck blieb. Die<br />
Menschen, die sich in den kritischen Julitagen für das Ministerium des Fürsten Lwow<br />
interessierten, kann man an den Fingern abzählen. General Krymow, <strong>der</strong> nämliche, <strong>der</strong><br />
einstmals mit Gutschkow über die Entthronung Nikolaus' II. verhandelt hatte - wir<br />
werden diesem General bald zum letztenmal begegnen -, richtete an die Adresse des<br />
Fürsten ein Telegramm, das mit <strong>der</strong> Belehrung schloß: »Es ist an <strong>der</strong> Zeit, von Worten<br />
zur Tat überzugehen.« Der Rat klang wie Hohn und unterstrich nur noch schärfer die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 393
Ohnmacht <strong>der</strong> Regierung.<br />
»Anfang Juli«, schrieb später <strong>der</strong> Liberale Nabokow, »gab es einen kurzen Moment,<br />
wo die Autorität <strong>der</strong> Regierung gleichsam wie<strong>der</strong> gestiegen war; das war nach <strong>der</strong><br />
Unterdrückung des ersten bolschewistischen Auftretens. Doch diesen Moment verstand<br />
die Provisorische Regierung. nicht auszunutzen, und die damaligen günstigen Bedingungen<br />
wurden verpaßt. Sie kehrten nicht mehr wie<strong>der</strong>.« In gleichem Sinne äußerten sich<br />
auch an<strong>der</strong>e Vertreter des rechten Lagers. In Wirklichkeit haben in den Julitagen, wie in<br />
allen kritischen Augenblicken überhaupt, die einzelnen Bestandteile <strong>der</strong> Koalition<br />
verschiedene Zwecke verfolgt. Die Versöhnler wären durchaus bereit gewesen, die<br />
endgültige Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu dulden, würde es nicht augenscheinlich<br />
gewesen sein, daß die Offiziere, Kosaken, Georgsritter und Stoßtrupps nach <strong>der</strong> Abrechnung<br />
mit den Bolschewiki die Versöhnler selbst zerschmettert hätten. Die Kadetten<br />
wollten bis ans Ende gehen, um nicht nur die Bolschewiki, son<strong>der</strong>n auch die Sowjets<br />
hinwegzufegen. Allein nicht zufällig standen die Kadetten in aller scharfen Momenten<br />
außerhalb <strong>der</strong> Regierung. Letzten Endes vertrieb sie von dort <strong>der</strong> trotz allen versöhnlerischen<br />
Purem unüberwindfiche Druck <strong>der</strong> Massen. Auch wenn es den Liberalen gelungen<br />
wäre, die Macht zu ergreifen, sie hätten sie nicht zu halten vermocht. Die Ereignisse<br />
haben das nachträglich erschöpfend bewiesen. Der Gedanke von <strong>der</strong> angeblich im Juli<br />
versäumten Möglichkeit ist eine retrospektive Illusion. Jedenfalls hat <strong>der</strong> Julisieg die<br />
Macht nicht nur gefestigt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die Periode <strong>der</strong> schleichenden Regierungskrise<br />
eingeleitet, die formell erst am 24. Juli gelöst wurde, tatsächlich aber den<br />
Eintritt <strong>der</strong> vier Monate währenden Agonie des Februarregimes darstellte.<br />
Die Versöhnler zerrissen sich zwischen <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Halbfreundschaft mit<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie wie<strong>der</strong>herzustellen, und dem Bedürfnis, die Feindseligkeit <strong>der</strong> Massen<br />
zu mil<strong>der</strong>n. Lavieren wird für sie Daseinsform, die Zickzacks verwandeln sich in ein<br />
fieberhaftes Hin und Her, doch die Grundlinie nimmt schroff die Richtung nach rechts.<br />
Am 7. Juli ordnet die Regierung eine ganze Reihe von Repressivmaßregeln an. Aber in<br />
<strong>der</strong>selben Sitzung, gleichsam im Verstohlenen, die Abwesenheit <strong>der</strong> "Erwachsenen", das<br />
heißt <strong>der</strong> Kadetten, ausnutzend, schlugen die Minister-<strong>Sozialisten</strong> <strong>der</strong> Regierung vor, an<br />
die Verwirklichung des Programms des Sowjetkongresses vom Juni heranzugehen. Das<br />
führte unverzüglich zum weiteren Zerfall <strong>der</strong> Regierung. Der Großgrundbesitzer und<br />
ehemalige Vorsitzende des Semstwo-Verbandes, Fürst Lwow, beschuldigt die<br />
Regierung, ihre Agrarpolitik »untergräbt das Rechtsbewußtsein des Volkes«. Die Gutsbesitzer<br />
beunruhigte nicht <strong>der</strong> Umstand, daß sie ihre Erbgüter verlieren könnten, son<strong>der</strong>n<br />
daß die Versöhnler »bestrebt sind, die Konstituierende Versammlung vor die Tatsache<br />
<strong>der</strong> bereits gelösten Frage zu stellen«. Sämtliche Säulen <strong>der</strong> monarchistischen Reaktion<br />
wurden nun flammende Anhänger <strong>der</strong> reinen Demokratie! Die Regierung beschloß,<br />
Kerenski den Posten des Ministerpräsidenten zu übertragen bei Belassung seiner Kriegsund<br />
Marineportefeuilles. Zeretelli, <strong>der</strong> neue Innenminister, mußte dem Exekutivkomitee<br />
Rede stehen wegen <strong>der</strong> Verhaftungen <strong>der</strong> Bolschewiki. Die protestierende Anfrage ging<br />
von Martow aus, und Zeretelli antwortete ohne Zeremonie seinem älteren<br />
Parteigenossen, er ziehe vor, mit Lenin und nicht mit Martow zu tun zu haben: bei dem<br />
einen wisse er, wie zu verfahren, während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ihm die Hände binde ... »Ich nehme<br />
die Verantwortung für diese Verhaftungen auf mich«, warf <strong>der</strong> Minister herausfor<strong>der</strong>nd<br />
in den gespannt lauemden Saal.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 394
Die Schläge nach links austeilend, decken sich die Versöhnler mit <strong>der</strong> Gefahr von<br />
rechts. »Rußland steht vor einer Militärdiktatur«, berichtet Dan in <strong>der</strong> Sitzung vom 9.<br />
Juli. »Wir müssen <strong>der</strong> Militärdiktatur das Bajonett aus den Händen winden. Und dies<br />
können wir nur, indem wir die Provisorische Regierung als ein Komitee zur öffentlichen<br />
Rettung anerkennen. Wir müssen ihr uneingeschränkte Vollmachten erteilen, damit sie<br />
die Anarchie von links und die Konterrevolution von rechts an <strong>der</strong> Wurzel untergrabe ...«<br />
Als hätte in den Händen <strong>der</strong> gegen Arbeiter, Soldaten und Bauern kämpfenden Regierung<br />
ein an<strong>der</strong>es Bajonett sein können als das Bajonett <strong>der</strong> Konterrevolution! Mit<br />
zweihun<strong>der</strong>tzweiundfünfzig Stimmen bei siebenundvierzig Stimmenthaltungen beschloß<br />
die vereinigte Versammlung: »1., Land und <strong>Revolution</strong> sind in Gefahr. 2., Die Provisorische<br />
Regierung wird als Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> proklamiert. 3., Sie erhält<br />
uneingeschränkte Vollmachten.« Der Beschluß klang dröhnend wie ein leeres Faß. Die in<br />
<strong>der</strong> Sitzung anwesenden Bolschewiki enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung, was unzweifelhaft<br />
von <strong>der</strong> Verwirrung bei den Parteispitzen in jenen Tagen zeugt.<br />
Massenbewegungen, auch geschlagene, gehen niemals spurlos vorüber. Den Platz des<br />
hochbetitelten Herrn nahm an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> radikale Advokat ein-, das<br />
Innenministerium repräsentierte ein ehemaliger Katorgasträfling. Die plebejische Erneuerung<br />
<strong>der</strong> Macht war offenkundig. Kerenski, Zeretelli, Tschernow, Skobeljew, die Führer<br />
des Exekutivkomitees, bestimmten nun die Physiognomie <strong>der</strong> Regierung. War das nicht<br />
die Verwirklichung des Lösungswortes <strong>der</strong> Junitage: »Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten«?<br />
Nein, das war nur die Enthüllung seiner Unzulänglichkeit. Die Minister-Demokraten<br />
übernahmen die Macht nur, um sie den Minister-Kapitalisten zurückzugeben.<br />
La coalition est morte, vive la coalition!<br />
Es entwickelt sich die feierlich-schändliche Komödie <strong>der</strong> Entwaffnung <strong>der</strong> Maschinengewehrschützen<br />
auf dem Schloßplatz. Eine Reihe Regimenter wird aufgelöst. Die Soldaten<br />
werden in kleinen Abteilungen zur Nachfüllung <strong>der</strong> Front abtransportiert.<br />
Vierzigjährige werden zum Gehorsam gezwungen und in Schützengräben getrieben. Das<br />
alles sind Agitatoren gegen das Regime <strong>der</strong> Kerenskiade. Ihrer sind Zehntausende, und<br />
sie werden bis zum Herbst große Arbeit leisten. Parallel werden Arbeiter entwaffnet,<br />
wenn auch mit kleinerem Erfolg. Unter dem Druck <strong>der</strong> Generale - wir werden bald<br />
sehen, welche Formen er annahm - wird an <strong>der</strong> Front die Todesstrafe eingeführt. Aber<br />
am gleichen Tage, dem 12. Juli, wird ein Dekret erlassen, das den Abschluß von Bodentransaktionen<br />
einschränkt. Diese verspätete Halbmaßnahme, angenommen unter <strong>der</strong> Axt<br />
des Muschiks, rief links Hohn, rechts Zähneknirschen hervor. Wehrend er alle Straßenumzüge<br />
verbot - eine Drohung nach links erhob Zeretelli die Hand gegen eigenmächtige<br />
Verhaftungen Versuch einer Zurechtweisung nach rechts. Die Absetzung des Oberbefehlshabers<br />
des Militärbezirks erläuterte Kerenski nach links: wegen <strong>der</strong> Zertrümmerung<br />
von Arbeiterorganisationen, nach rechts: wegen mangeln<strong>der</strong> Entschlossenheit.<br />
Die Kosaken wurden dic wahren Helden des bürgerlichen Petrograd. »Es kamen Fälle<br />
vor«, erzählt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Grekow, »daß, wenn jemand einen öffentlichen Ort,<br />
etwa ein Restaurant, wo viele Menschen waren, in Kosakenuniform betrat, sich alle<br />
erhoben und den Eiiitretendcn mit Hindeklatschen begrüßten.« Theater, Kinos, öffentliche<br />
Gärten veranstalteten Wohltätigkeitsabende zugunsten <strong>der</strong> verwundeten Kosaken<br />
und <strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Getöteten. Das Büro des Exekutivkomitees war gezwungen, eine<br />
Kommission zu wählen mit Tscheidse an <strong>der</strong> Spitze zur Teilnahme an den Vorbereitun-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 395
gen für die Beerdigung <strong>der</strong> »bei Erfüllung <strong>der</strong> revolutionären Pflicht in den Tagen vom<br />
3. bis 5. Juli gefallenen Krieger«. Den Kelch <strong>der</strong> Erniedrigung mußten die Versöhnler<br />
bis zur Neige leeren. Das Zeremoniell begann mit einer Liturgie in <strong>der</strong> Isaak-Kathedrale.<br />
Die Särge wurden von Rodsjanko, Miljukow, Fürst Lwow und Kerenski auf den Händen<br />
hinausgetragen und im Prozessionszug zur Beisetzung in das Alexandro-Newski-Kloster<br />
gebracht. Auf dem ganzen Weg des Zuges war die Miliz entfernt worden, den Ordnungsdienst<br />
hatten die Kosaken übernommen: <strong>der</strong> Begräbnistag war ein Tag ihrer absoluten<br />
Herrschaft über Petrograd. Die von den Kosaken ermordeten Arbeiter und Soldaten,<br />
Blutsbrü<strong>der</strong> <strong>der</strong> Februaropfer, wurden ganz im stillen beerdigt, wie man einst unter dem<br />
Zarismus die Opfer des 9. Januar begrub.<br />
An das Kronstädter Exekutivkomitee stellte die Regierung, unter Androhung, die Insel<br />
zu blockieren, die For<strong>der</strong>ung, Raskolnikow, Roschal und den Fähnrich Remnew unverzüglich<br />
den Untersuchungsbehörden auszuliefern. In Helsingfors wurden neben den<br />
Bolschewiki zum erstenmal auch linke Sozialrevolutionäre verhaftet. Der zurückgctretene<br />
Fürst Lwow beklagte sich in den Zeitungen darüber, daß »die Sowjets tief unter dem<br />
Niveau <strong>der</strong> Staatsmoral stehen und sich von den Leninisten, diesen Agenten <strong>der</strong><br />
Deutschen, nicht gesäubert haben«. Ehrensache für die Versöhnler wurde es, ihre Staatsmoral<br />
zu beweisen! Am 13. Juli nehmen die Exekutivkomitees in gemeinsamer Sitzung<br />
eine von Dan eingebrachte Resolution an: »Alle Personen, gegen die von <strong>der</strong> Gerichtsbehörde<br />
Anklage erhoben ist, werden bis zur gerichtlichen Entscheidung von <strong>der</strong><br />
Teilnahme an den Exekutivkomitees ausgeschlossen.« Die Bolschewiki wurden damit<br />
faktisch außerhalb des Gesetzes gestellt. Kerenski verbot die gesamte bolschewistische<br />
Presse. In <strong>der</strong> Provinz fanden Verhaftungen <strong>der</strong> Landeskomitees statt. Die 'Iswestja'<br />
jammerten ohnmächtig: »Noch vor wenigen Tagen waren wir Zeugen <strong>der</strong> Orgie <strong>der</strong><br />
Anarchie in den Straßen von Petrogaid. Heute fließen in denselben Straßen unaufhaltsam<br />
konterrevolutionäre und Schwarzhun<strong>der</strong>t-Reden.«<br />
Nach Auflösung <strong>der</strong> revolutionären Truppenteile und Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter<br />
verschob sich das Gleichgewicht noch mehr nach rechts. In den Händen <strong>der</strong> Militärspitzen,<br />
<strong>der</strong> Bank- und Industrie- wie <strong>der</strong> Kadettengruppen konzentrierte sich unverhüllt ein<br />
beträchtlicher Teil <strong>der</strong> realen Macht. Der übrige Teil blieb nach wie vor in den Händen<br />
<strong>der</strong> Sowjets. Die Doppelherrschaft war offensichtlich, aber nicht mehr die legalisierte<br />
Kontakt- o<strong>der</strong> Koaltionsdoppelherrschaft <strong>der</strong> vorangegangenen Monate, son<strong>der</strong>n die<br />
explosive Doppelherrschaft von Cliquen, <strong>der</strong> militärisch-bürgerlichen und <strong>der</strong> versöhnlerischen,<br />
die einan<strong>der</strong> fürchteten, aber gleichzeitig einan<strong>der</strong> brauchten. Was blieb übrig?<br />
Die Koalition wie<strong>der</strong>herzustellen. »Nach dem Aufstand vom 3. bis 5. Juli«, sagt Miljukow<br />
mit Recht, »verschwand die Koalitionsidee nicht nur nicht, son<strong>der</strong>n gewann, im<br />
Gegenteil, vorübergehend stärkere Kraft und Bedeutung als früher.«<br />
Das Provisorische Komitee <strong>der</strong> Reichsduma erlebte plötzlich seine Auferstehung und<br />
nahm eine scharfe Resolution gegen die Rettungsregierung an. Das war <strong>der</strong> letzte Stoß.<br />
Sämtliche Minister händigten ihre Portefeuilles Kerenski aus und verwandelten ihn damit<br />
allein schon in den Mittelpunkt <strong>der</strong> nationalen Souveränität. Für das weitere Schicksal<br />
des Februarregimes wie für das persönhche Schicksal Kerenskis erhielt dieses Moment<br />
große Bedeutung: im Chaos <strong>der</strong> Gruppierungen, Verabschiedungen und Ernennungen<br />
zeichnete sich nun so etwas wie ein unverrückbarer Punkt ab, um den sich alle an<strong>der</strong>en<br />
drehten. Die Verabschiedung <strong>der</strong> Minister war nur <strong>der</strong> Auftakt zu Unterhandlungen mit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 396
den Kadetten und Industriellen. Die Kadetten stellten ihre Bedingungen: Verantwortlichkeit<br />
<strong>der</strong> Regierungsmitglie<strong>der</strong> »ausschließlich vor ihrem Gewissen«; restlose Einigung<br />
mit den Alliierten; Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Disziplin in <strong>der</strong> Armee; keinerlei soziale Reformen<br />
vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung. Einen ungeschriebenen Punkt bildete die<br />
For<strong>der</strong>ung, die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zu vertagen. Das nannte man<br />
»überparteiliches und nationales Programm«. Im gleichen Geiste antworteten die<br />
Vertreter von Handel und Industrie, die gegen die Kadetten auszuspielen die Versöhnler<br />
sich vergeblich bemüht hatten. Das Exekutivkomitee bestätigte erneut seine Resolution,<br />
die die Rettungsregierung »mit allen Vollmachten« ausstattete: das bedeutete die Einwilligung<br />
in die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Regierung von den Sowjets. Am gleichen Tage<br />
versandte Zeretelli in seiner Eigenschaft als Minister des Innem ein Zirkular über die<br />
Ergreifung "schneller und entschiedener Maßnahmen zur Unterbindung aller eigenmächtigen<br />
Handlungen auf dem Gebiete des Bodenbesitzes". Der Ernährungsminister Peschechonow<br />
seinerseits for<strong>der</strong>te die Unterbindung »des gewaltsamen und verbrecherischen<br />
Vorgehens gegen die Bodenbesitzer«. Die Regierung zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> empfahl<br />
sich in erster Linie als Regierung zur Rettung des gutsherrlichen Eigentums. Doch nicht<br />
dessen allein. Der Industriegewaltige Ingenieur Paltschinski verfolgte in seiner dreifachen<br />
Eigenschaft, als Leiter des Ministeriums für Handel und Industrie, als Hauptbevollmächtigter<br />
für Heizstoff und Metall und als Leiter <strong>der</strong> Landesverteidigungskommission,<br />
energisch die Politik des Syndikatkapitals. Der menschewistische Nationalökonom<br />
Tscherewarin beklagte sich vor <strong>der</strong> Wirtschaftsabteilung des Sowjets, daß alle guten<br />
Vorsätze <strong>der</strong> Demokratie an <strong>der</strong> Sabotage Paltschinskis zerschellten. Ackerbauminister<br />
Tschernow, auf den die Kadetten die Beschuldigung <strong>der</strong> Verbindung mit den Deutschen<br />
ausdehnten, sah sich gezwungen, »zum Zwecke <strong>der</strong> Rehabilitierung« zu demissionieren.<br />
Am 18. Juli erläßt die Regierung, in <strong>der</strong> die <strong>Sozialisten</strong> überwiegen, ein Manifest über<br />
die Auflösung des ungehorsamen finnländischen Sejm mit dessen sozialdemokratischer<br />
Mehrheit. In <strong>der</strong> feierlichen Note an die Alliierten anläßlich des dreijährigen Jubiläums<br />
des Weltkrieges wie<strong>der</strong>holt die Regierung nicht nur den rituellen Treuschwur, son<strong>der</strong>n<br />
berichtet auch von <strong>der</strong> glücklichen Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> durch feindliche Agenten angezettelten<br />
Meuterei. Ein unerhörtes Dokument <strong>der</strong> Kriecherei! Gleichzeitig wird ein drakonisches<br />
Gesetz gegen Disziplinverletzung bei den Eisenbahnen erlassen. Nachdem die<br />
Regierung somit ihre Staatsreife vordemonstriert hatte, entschloß sich Kerenski endlich,<br />
das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei in dem Sinne zu beantworten, daß die von ihr gestellten<br />
For<strong>der</strong>ungen »kein Hin<strong>der</strong>nis für den Eintritt in die Provisorische Regierung bilden<br />
können«. Eine verschleierte Kapitulation genügte jedoch den Liberalen schon nicht mehr.<br />
Sie wollten die Versöhnler in die Knie zwingen. Das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />
erklärte, daß die nach Auflösung <strong>der</strong> Koalition am 8. Juli erlassene Regierungsdeklaration<br />
- ein Sammelsurium demokratischer Gemeinplätze - für die Kadetten unannehmbar<br />
sei, und - brach die Verhandlungen ab.<br />
Die Attacke hatte konzentrischen Charakter. Die Kadetten handelten nicht nur in enger<br />
Verbindung mit den Industriellen und alliierten Diplomaten, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong><br />
Generalität. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stand faktisch<br />
unter Leitung <strong>der</strong> Kadettenpartei. Durch den obersten Kommandobestand drückten die<br />
Kadetten auf die Versöhnler von <strong>der</strong> empfindlichsten Seite. Am 8. Juli erließ <strong>der</strong> Oberbefehlshaber<br />
<strong>der</strong> Südwestfront, General Kornilow, einen Befehl, gegen zurückweichende<br />
Soldaten mit Maschinengewehr- und Artilleriefeuer vorzugehen. Unterstützt vom Front-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 397
kommissar Sawinkow, dem ehemaligen Haupt <strong>der</strong> terroristischen Organisation <strong>der</strong><br />
Sozialrevolutionäre, hatte Kornilow vorher die Einführ-ung <strong>der</strong> Todesstrafe an <strong>der</strong> Frotit<br />
gefor<strong>der</strong>t und gedroht, an<strong>der</strong>nfalls das Kommando nie<strong>der</strong>zulegen. Das Geheimtelegramm<br />
wurde sofort in <strong>der</strong> Presse veröffentlicht: Kornilow hatte dafür gesorgt, daß es bekannt<br />
wurde. Der Höchstkommandierende Brjussilow, mehr zu Vorsicht und Lavieren neigend,<br />
schrieb schulmeisternd an Kerenski: »Die Lehren <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong>,<br />
von uns häufig vergessen, bringen sich dennoch gebieterisch in Erinnerung ...« Diese<br />
Lehren bestanden darin, daß die französischen <strong>Revolution</strong>äre, nachdem sie vergeblich<br />
versucht hatten, die Armee »auf den Prinzipien <strong>der</strong> Humanität« aufzubauen, den Weg<br />
<strong>der</strong> Todesstrafe beschnitten, »und ihre siegreichen Fahnen sind durch die halbe Welt<br />
gegangen«. An<strong>der</strong>es hatten die Generale aus dem Buche <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht herausgelesen.<br />
Am 12. Juli führte die Regierung die Todestrafe wie<strong>der</strong> ein »während <strong>der</strong> Kriegszeit<br />
für Militärdienstpflichtige für einige, schwerste Verbrechen«. Allein <strong>der</strong><br />
Befehlshaber <strong>der</strong> Nordfront, General Klembowski, schrieb nach drei Tagen: »Die Erfahrung<br />
hat gezeigt, daß jene Truppenteile sich als völlig kampfunfähig erwiesen, die häufig<br />
Ersatz erhielten. Die Armee kann nicht gesund sein, wenn die Quelle ihres Ersatzes<br />
verfault ist.« Diese verfaulte Ersatzquelle war das russische Volk.<br />
Am 16. Juli berief Kerenski im Hauptquartier eine Beratung <strong>der</strong> älteren Heerführer ein<br />
unter Beteiligung von Tereschtschenko und Sawinkow. Kornilow fehlte: <strong>der</strong> Rückzug an<br />
seiner Front war in vollem Gange und kam erst nach einigen Tagen zum Stillstand, als<br />
die Deutschen selbst an <strong>der</strong> alten Staatengrenze haltmachten. Die Namen <strong>der</strong> Teilnehmer<br />
an <strong>der</strong> Beratung: Brjussilow, Alexejew, Russki, Klembowski, Denikin, Roiiianowski<br />
klangen wie das Echo einer in den Abgrund versunkenen Epoche. Vier Monate lang<br />
hatten sich die hohen Generale als halbe Leichen gefühlt. Jetzt wurden sie lebendig und<br />
bedachten den Ministerpräsidenten, <strong>der</strong> für sie die Verkörperung <strong>der</strong> sie belästigenden<br />
<strong>Revolution</strong> war, ungestraft mit boshaften Nasenstübern.<br />
Nach Angaben des Hauptquartiers verlor die Armee <strong>der</strong> Südwestfront in <strong>der</strong> Zeit vom<br />
18. Juni bis zum 6. Juli etwa sechsundfünfzigtausend Mann. Unbeträchtliche Opfer im<br />
Kriegsmaßstabe! Aber die zwei Umwälzungen vom Februar und vom Oktober haben viel<br />
weniger gekostet. Was brachte die Offensive <strong>der</strong> Liberalen und Versöhnler außer Tod,<br />
Vernichtung und Elend? Die sozialen Erschütterungen vom Jahre 1917 haben das<br />
Gesicht eines Sechstels <strong>der</strong> Erde verän<strong>der</strong>t und vor <strong>der</strong> Menschheit neue Möglichkeiten<br />
eröffnet. Grausamkeiten und Schrecken <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die wir we<strong>der</strong> bestreiten noch<br />
herabmin<strong>der</strong>n wollen, fallen nicht vom Himmel: sie sind nicht zu trennen von <strong>der</strong> gesamten<br />
historischen Entwicklung.<br />
Brjussilow berichtete über die Resultate <strong>der</strong> vor einem Monat begonnenen Offensive:<br />
»Völliger Mißerfolg.« Die Ursache besteht darin, daß »die Vorgesetzten, vom Kompaniechef<br />
bis zum Oberbefehlshaber, über keine Macht verfügen«. Wie und weshalb sie sie<br />
verloren haben, sagte er nicht. Was die weiteren Operationen beträfe, so »können wir<br />
hierzu nicht vor dem Frühling bereit sein«. Gemeinsam mit den an<strong>der</strong>en auf Repressalien<br />
pochend, sprach Klembowski zugleich Zweifel an <strong>der</strong>en Wirksamkeit aus. »Todesstrafe?<br />
Aber kann man denn ganze Divisionen hinrichten? Gerichtliche Strafverfolgungen? Aber<br />
dann säße die halbe Armee in Sibirien ...« Der Generalstabschef berichtete: »Fünf<br />
Regimenter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sind aufgelöst. Die Anstifter dem Gericht übergeben<br />
... Insgesamt sollen aus Petrograd etwa neunzigtausend Mann herausgeschafft<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 398
werden.« Das nahm man befriedigt zur Kenntnis. Niemand dachte darüber nach, welche<br />
Folgen die Evakuation <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison nach sich ziehen würde.<br />
Die Komitees? fragte Alexejew. »Sie müssen vernichtet werden ... Die nach Jahrtausenden<br />
zählende Kriegsgeschichte hat ihre Gesetze geschaffen. Wir wollten sie verletzen<br />
und haben ein Fiasko erlitten.« Dieser Mensch verstand unter den Gesetzen <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> die Dienstordnung. »Den alten Fahnen«, prahlte Russki, »folgten die<br />
Menschen wie einem Heiligtum, starben dafür. Wozu aber haben es die roten Fahnen<br />
gebracht? Dazu, daß die Truppen sich jetzt korpsweise ergeben.« Der hinfällige General<br />
hatte vergessen, daß er selbst im August I915 dem Ministerrat meldete: »Die mo<strong>der</strong>nen<br />
Ansprüche <strong>der</strong> Kriegstechnik gehen über unsere Kraft; jedenfalls können wir mit den<br />
Deutschen nicht Schritt halten.« Klembowski unterstrich schadenfroh, daß eigentlich<br />
nicht die Bolschewiki die Armee zugrunde gerichtet hätten, son<strong>der</strong>n »an<strong>der</strong>e«, die eine<br />
untaugliche Kriegsgesetzgebung anwandten, »Menschen, die Lebensform und Daseinsbedingungen<br />
<strong>der</strong> Armee nicht begreifen«. Das war direkt auf Kerenski gemünzt. Denikin<br />
griff die Minister noch entschiedener an: »Ihr habt sie in den Schmutz getreten, unsere<br />
ruhmreichen Kriegsfahnen, hebt ihr sie nun auch empor, wenn euch das Gewissen<br />
schlägt ...« Und Kerenski? Mangelnden Gewissens verdächtigt, dankte er demütig den<br />
Soldaten für »die offen und freimütig ausgesprochene Meinung«. Die Deklaration <strong>der</strong><br />
Soldatenrechte? »Wenn ich damals, als sie entstand, Minister gewesen wäre, die Deklaration<br />
wäre nicht erlassen worden. Wer hat als erster die Sibirischen Schützen bezwungen?<br />
Wer als erster zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Unbotmäßigen Blut vergossen? Mein<br />
Beauftragter, mein Kommissar.« Außenminister Tereschtschenko tröstet verbindlich:<br />
»Sogar mißglückt, hat unsere Offensive das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten zu uns gestärkt.«<br />
Das Vertrauen <strong>der</strong> Alliierten! Dreht sich nicht zu diesem Zwecke die Erde um ihre<br />
Achse?<br />
»Gegenwärtig sind die Offiziere die einzige Stütze <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«,<br />
belehrt Klembowski. »Der Offizier ist kein Bourgeois«, erläuterte Brjussilow, »er ist <strong>der</strong><br />
echteste Proletarier.« General Russki ergänzt: »Auch die Generale sind Proletarier.«<br />
Die Komitees vernichten, die Macht <strong>der</strong> alten Vorgesetzten wie<strong>der</strong>herstellen, die Politik<br />
aus <strong>der</strong> Armee treiben - das heißt die <strong>Revolution</strong> -, das ist das Programm <strong>der</strong> Proletarier<br />
im Generalsrange. Kerenski hat gegen das Programm nichts einzuwenden, es beunruhigt<br />
ihn nur die Frage <strong>der</strong> Fristen. »Was die vorgeschlagenen Maßnahmen betrifft«, sagte er,<br />
»so glaube ich, daß auch General Denikin nicht auf ihre sofortige Durchführung bestehen<br />
wird ...« Die Generale waren durchweg graue Mittelmäßigkeiten. Aber sie konnten<br />
nicht umhin sich zu sagen: »Das ist die Sprache, die man mit diesen Herrschaften<br />
sprechen muß!«<br />
Als Folge <strong>der</strong> Beratung fand ein Wechsel im obersten Kommandobestande statt. Der<br />
nachgiebige und geschmeidige Brjussilow, eingesetzt an Stelle des vorsichtigen Kanzleibeamten<br />
Alexejew, <strong>der</strong> gegen die Offensive gewesen war, wurde jetzt durch Kornilow<br />
abgelöst. Diesen Wechsel motivierte man verschieden: den Kadetten versprach man,<br />
Kornilow werde eiseme Disziplin einführen; den Versöhnlern versicherte man, Kornilow<br />
sei ein Freund <strong>der</strong> Komitees und <strong>der</strong> Kommissare: Sawinkow selbst bürge für dessen<br />
republikanische Gefühle. In Beantwortung <strong>der</strong> hohen Ernennung schickte <strong>der</strong> General an<br />
die Regierung ein neues Ultimatum: Er, Kornilow, nehme seine Ernennung nur an unter<br />
den Bedingungen: »Verantwortlichkeit vor dem eigenen Gewissen und dem Volke; Nicht-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 399
einmischung in die Ernennung des höheren Kommandobestandes; Wie<strong>der</strong>einführuhg <strong>der</strong><br />
Todesstrafe im Hinterlande.« Der erste Punkt schuf Schwierigkeiten: »Verantwortlichkeit<br />
vor dem eigenen Gewissen und dem Volke«, damit hatte schon Kerenski begonnen,<br />
und diese Sache duldete keine Rivalität. Kornilows Telegramm wurde in <strong>der</strong> verbreitetsten<br />
liberalen Zeitung veröffentlicht. Die vorsichtigen Politiker <strong>der</strong> Reaktion runzelten<br />
die Stirn. Kornilows Ultimatum war das Ultimatum <strong>der</strong> Kadettenpartei, nur in die unverhüllte<br />
Sprache des Kosakengenerals übersetzt. Aber Kornilows Berechnung war richtig:<br />
die Übermäßigkeit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen und die Vermessenheit des Tones im Ultimatum<br />
löste das Entzücken aller Feinde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> gesamten Ka<strong>der</strong>offiziere<br />
aus. Kerenski geriet in Erregung und wollte Kornilow unverzüglich entlassen, fand<br />
aber keine Unterstützung bei seiner Regierung. Letzten Endes willigte auf Anraten seiner<br />
Inspiratoren Kornilow ein, in einer mündlichen Erklärung festzustellen, daß er die<br />
Verantwortlichkeit vor dem Volke als Verantwortlichkeit vor <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
verstehe. Im übrigen wurde das Ultimatum mit kleinen Vorbehalten angenommen.<br />
Kornilow ward Höchstkommandieren<strong>der</strong>. Gleichzeitig wurde ihm <strong>der</strong> Kriegsingenieur<br />
Filonenko als Kommissar beigeordnet und <strong>der</strong> frühere Kommissar <strong>der</strong> Südwestfront,<br />
Sawinkow, zum Leiter des Kriegsministeriums ernannt. Der eine - eine zufällige Figur,<br />
Emporkömmling; <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e - mit einer großen revolutionären Vergangenheit; beide<br />
vollendete Abenteurer, zu allem bereit, wie Filonenko, o<strong>der</strong> mindestens zu vielem, wie<br />
Sawinkow. Ihr enges Bündnis mit Kornilow hat die schnelle Karriere des Generals geför<strong>der</strong>t<br />
und, wie wir sehen werden, in <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse eine Rolle<br />
gespielt.<br />
Die Versöhnler ergaben sich auf <strong>der</strong> ganzen Linie. Zeretelli wie<strong>der</strong>holte: »Die Koalition,<br />
das ist das Rettungsbündnis.« Hinter den Kulissen waren die Verhandlungen trotz<br />
formellem Bruche in vollem Gange. Zur Beschleunigung <strong>der</strong> Lösung nimmt Kerenski, in<br />
offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten, Zuflucht zu einer rein<br />
theatralischen, das heißt ganz dem Geiste seiner Politik entsprechenden und gleichzeitig<br />
für seine Ziele sehr wirksamen Maßnahme: er demissioniert und reist aus <strong>der</strong> Stadt weg,<br />
die Versöhnler ihrer eigenen Verzweiflung überlassend. Miljukow sagt darüber: »Durch<br />
sein demonstratives Abtreten ... bewies er sowohl seinen Gegnern wie seinen Rivalen wie<br />
auch seinen Anhängern, daß er, wie man zu seinen persönlichen Qualititen auch stehen<br />
mochte, einfach wegen <strong>der</strong> von ihm eingenommenen politischen Haltung - zwischen zwei<br />
kämpfenden Lagern im gegebenen Moment unentbehrlich war.« Die Partie war, nach<br />
dem System des Schlagdamespieles, gewonnen. Die Versöhnler stürzten zum »Genossen<br />
Kerenski« mit unterdrückten Flüchen und offenem Flehen. Beide Parteien, Kadetten und<br />
<strong>Sozialisten</strong>, zwangen mühelos dem enthaupteten Ministerium den Beschluß auf, sich<br />
selbst zu liquidieren und Kerenski zu beauftragen, nach seinein persönlichen Ermessen<br />
die Regierung neu zu bilden.<br />
Um die ohnehin erschrockenen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutivkomitees völlig einzuschüchtern,<br />
serviert man ihnen die letzten Berichte über die sich verschlechternde Lage an <strong>der</strong><br />
Front. Die Deutschen bedrängen die <strong>russischen</strong> Truppen, die 1iberalen bedrängen<br />
Kerenski, Kerenski bedrängt die Versöhnler. Die Fraktionen <strong>der</strong> Menschewiki und<br />
Sozialrevolutionäre beraten die ganze Nacht zum 24. Juli, von Hilflosigkeit gequält.<br />
Endlich billigen die Exekutivkomitees mit einer Mehrheit von hün<strong>der</strong>tsiebenundvierzig<br />
gegen sechsundvierzig Stimmen bei zweiundvierzig Stimmenthaltungen eine nie<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 400
dagewesene Opposition! - die Machtübergabe an Kerenski, ohne Bedingungen und ohne<br />
Einschränkungen. Auf dem gleichzeitig stattfindenden Parteitag <strong>der</strong> Kadetten ertönen<br />
Stimnien zum Sturze Kerenskis, doch Miljukow weist die Ungeduldigen zurecht und<br />
empfiehlt, sich vorläufig auf einen Druck zu beschränken. Das bedeutet nicht, daß Miljukow<br />
sich in bezug auf Kerenski Illusionen hingab. Doch sah er in ihm den Punkt zum<br />
Einsetzen <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Die Regierung, von den Sowjets befreit,<br />
würde dann ohne Schwierigkeiten von Kerenski zu befreien sein.<br />
Unterdessen dürsteten die Götter <strong>der</strong> Koalition weiter. Die Verfügung über Lenins<br />
Verhaftung war <strong>der</strong> Bildung <strong>der</strong> Übergangsregierung vom 7. Juli vorausgegangen. Jetzt<br />
hieß es, durch einen Akt <strong>der</strong> Festigkeit die Auferstehung <strong>der</strong> Koalition auszuzeichnen.<br />
Bereits am 13. Juli erschien in Gorkis Zeitung - eine bolschewistische Presse gab es nicht<br />
inehr - ein offener Brief Trotzkis an die Provisorische Regierung. Er lautete: »Sie besitzen<br />
keine logischen Gründe, mich von <strong>der</strong> Wirkung des Dekrets, kraft dessen die Genossen<br />
Lenin, Sinowjew und Kamenjew zu verhaften sind, auszunehmen. Was die politische<br />
Seite <strong>der</strong> Sache betrifft, so können Sie nicht darüber im Zweifel sein, daß ich ein ebenso<br />
unversöhnhcher Gegner <strong>der</strong> Gesamtpolitik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung bin wie die<br />
genannten Genossen.« In <strong>der</strong> Nacht, als das neue Ministerium gebildet ward, wurden in<br />
Petrograd Trotzki und Lunatscharski und an <strong>der</strong> Front Fähnrich Krylenko, <strong>der</strong> spätere<br />
Höchstkommandierende <strong>der</strong> Bolschewiki, verhaftet.<br />
Die Regierung, die nach <strong>der</strong> dreiwöchigen Krise das Licht <strong>der</strong> Welt erblickte, sah wie<br />
ein verhutzeltes Kind aus. Sie bestand aus Figuren zweiten und dritten Aufgebots, ausgewählt<br />
nach dem Prinzip des kleinsten Übels. Stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> wurde<br />
Ingenieur Nekrassow, ein linker Kadett, <strong>der</strong> am 27. Februar vorgeschlagen hatte, zur<br />
Unterdrückung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Macht einem <strong>der</strong> zaristischen Generale auszuliefern.<br />
Der parteilose und farblose Schriftsteller Prokopowitsch, <strong>der</strong> sich am Raine zwischen<br />
Kadetten und Menschewiki aufhielt, wurde Minister für Handel und Industrie. Ein<br />
ehemaliger Staatsanwalt, später radikaler Advokat, Sarudniy, Sohn des "liberalen"<br />
Ministers Alexan<strong>der</strong>s II., wurde zur Leitung <strong>der</strong> Justiz berufen. Der Vorsitzende des<br />
Bauern-Exekutivkomitees, Awksentjew, erhielt das Portefeuille des Innenministers.<br />
Arbeitsminister blieb <strong>der</strong> Menschewik Skobeljew, Ernährungsminister <strong>der</strong> Volkssozialist<br />
Peschechonow. Von den Liberalen gerieten ebenso zweitrangige-Figuren in das Kabinett,<br />
die we<strong>der</strong> vorher noch nachher eine führende Rolle spielten. Auf den Posten des Ackerbauministers<br />
kehrte recht unerwartet Tschernow zurück: in den vier Tagen, die zwischen<br />
seinem Rücktritt und seiner neuen Ernennung verstrichen waren, hatte er bereits Zeit<br />
gehabt, sich zu rehabilitieren. In seiner "<strong>Geschichte</strong>" bemerkt Miljukow gelassen, daß <strong>der</strong><br />
Charakter von Tschernows Beziehungen zu den deutschen Behörden »unaufgeklärt<br />
blieb; es ist auch möglich«, fügt er hinzu, »daß sowohl die Angaben <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Konterspionage wie die Verdächtigungen Kerenskis, Tereschtschenkos und an<strong>der</strong>er in<br />
dieser Hinsicht zu weit gegangen waren.« Die Wie<strong>der</strong>einsetzung Tschernows in das Amt<br />
des Ackerbauministers war nichts an<strong>der</strong>es als ein Tribut an das Prestige <strong>der</strong> regierenden<br />
Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, wo Tschernow allerdings immer mehr an Einfluß verlor.<br />
Zeretelli dagegen blieb umsichtigerweise außerhalb des Ministeriums: im Mai hieß es, er<br />
würde innerhalb <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nützlich sein; jetzt schickte er sich an,<br />
innerhalb des Sowjets <strong>der</strong> Regierung nützlich zu sein. Von nun an erfüllt Zeretelli<br />
tatsächlich die Pflichten eines Kommissars <strong>der</strong> Bourgeoisie im Sowjetsystem. »Wären<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 401
die Interessen des Landes durch die Koalition verletzt«, sagte er in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets, »es wäre unsere Pflicht, die Genossen aus <strong>der</strong> Regierung abzurufen.«<br />
Nicht mehr davon war die Rede, die Liberalen auszuschöpfen und sie dann aus dem Weg<br />
zu räumen, wie Dan es noch vor kurzem versprochen hatte, son<strong>der</strong>n davon, nachdem<br />
man sich ausgeschöpft fühlen würde rechtzeitig selbst vom Steuer zurückzutreten.<br />
Zeretelli bereitete die restlose Machtübergabe an die Bourgeoisie vor.<br />
In <strong>der</strong> ersten, am 6. Mai gebildeten Koalition waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit;<br />
aber sie waren faktisch die wirklichen Herren <strong>der</strong> Lage; im Ministerium vom 24. Juli<br />
waren die <strong>Sozialisten</strong> in <strong>der</strong> Mehrheit, aber sie waren nur ein Schatten <strong>der</strong> Liberalen ...<br />
»Bei einem kleinen nominellen Übergewicht <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong>«, gesteht Miljukow,<br />
»gehörte das tatsächliche Übergewicht Uli Kabinett zweifellos den überzeugten Anhängem<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie.« Es wäre richtiger zu sagen: des bürgerlichen Eigentums.<br />
Mit <strong>der</strong> Demokratie verhielt sich die Sache weniger klar. Im gleichen Geiste, wenn<br />
auch mit einer überraschenden Motivierung, verglich Minister Peschechonow die Koalition<br />
vom Juli mit <strong>der</strong> vom Mai: damals habe die Bourgeoisie eine Stütze von links<br />
gebraucht; jetzt, wo die Konterrevolution drohe, brauche man eine Stütze von rechts: »Je<br />
mehr Kräfte von rechts wir hinzuziehen, um so weniger werden von jenen übrigbleiben,<br />
die die Regierung angreifen könnten.« Eine unvergleichliche Regel politischer Strategie:<br />
um die Belagerung einer Festung zu brechen, ist es das beste - die Tore von innen zu<br />
öffnen. Dies eben war die Formel <strong>der</strong> neuen Koalition.<br />
Die Reaktion griff an, die Demokratie wich zurück. Die in <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong>speriode<br />
eingeschüchterten Klassen und Gruppen erhoben das Haupt. Interessen, die man<br />
noch gestern verbarg, traten heute nach außen. Händler und Spekulanten for<strong>der</strong>ten die<br />
Ausrottung <strong>der</strong> Bolschewiki und - Handelsfreiheit; sie erhoben ihre Stimme gegen alle<br />
Einschränkungen des Umsatzes, sogar auch jene, die bereits unter dem Zarismus eingeführt<br />
worden waren. Ernährungsämter, die gegen Spekulation zu kämpfen versuchten,<br />
wurden als die Schuldigen an <strong>der</strong> Lebensmittelknappheit erklärt. Man übertrug den Haß<br />
von den Ernährungsämtern auf die Sowjets. Der menschewistische Nationalökonom<br />
Gromann berichtete, daß <strong>der</strong> Feldzug <strong>der</strong> Kaufleute »sich beson<strong>der</strong>s nach den Ereignissen<br />
des 3. bis 4. Juli verstärkte«. Die Sowjets wurden verantwortlich gemacht für<br />
Nie<strong>der</strong>lagen, Teuerung und nächtliche Plün<strong>der</strong>ungen.<br />
Beunruhigt durch die monarchistischen Ränke und in Befürchtung einer Abwehrexplosion<br />
von links schob die Regierung am 1. August Nikolaus Romanow nebst Familie nach<br />
Tobolsk ab. Am folgenden Tage wurde die neue Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki 'Rabotschij i<br />
Soldat' ('Arbeiter und Soldat') verboten. Von überall trafen Nachrichten ein über Massenverhaftungen<br />
von Truppenkomitees. Die Bolschewiki konnten Ende Juli ihren Parteitag<br />
nur halb illegal versammeln. Armeekongresse wurden verboten. Kongresse hielten nur<br />
jene ab, die früher still zu Hause saßen: Bodenbesitzer, Kaufleute und Industrielle,<br />
Spitzen <strong>der</strong> Kosakenschaft, Geistlichkeit, Georgsritter. Ihre Stimmen klangen einheitlich<br />
und unterschieden sich nur im Grade <strong>der</strong> Vermessenheit. Die unbestreitbare, wenn auch<br />
nicht immer sichtbare Leitung gehörte <strong>der</strong> Kadettenpartei.<br />
Auf dem Handels- und Industriekongreß, <strong>der</strong> Anfang August etwa dreihun<strong>der</strong>t Vertreter<br />
<strong>der</strong> wichtigsten Börsen- und Unternehmerorganisationen versammelte, hielt die<br />
Programmrede <strong>der</strong> Textilkönig Rjabuschinski, <strong>der</strong> sein Lämpchen nicht im verborgenen<br />
leuchten ließ. »Die Provisorische Regierung besaß nur den Schein <strong>der</strong> Macht ... Faktisch<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 402
hatte sich eine Bande von politischen Scharlatanen breitgemacht ... Die Regierung übt<br />
einen Steuerdruck aus und besteuert in erster Linie die Handels- und Industrieklasse hart<br />
... Ist es zweckmäßig, dem Verschwen<strong>der</strong> zu geben? Ist es nicht besser, zur Rettung des<br />
Vaterlandes die Verschwen<strong>der</strong> unter Vormundschaft zu stellen? ...« Und endlich die<br />
Schlußdrohung: »Der knochige Arm des Hungers und <strong>der</strong> Volksverelendung wird die<br />
Freunde <strong>der</strong> Nation bei <strong>der</strong> Gurgel packen!« Der Satz vom knochigen Arm des Hungers,<br />
womit die Aussperrungspolitik verallgemeinert wurde, ist seit jener Zeit fest in das politische<br />
Vokabularium <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eingegangen. Er kam den Kapitalisten teuer zu<br />
stehen.<br />
In Petrograd wurde <strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Gouvernements-Kommissare eröffnet. Agenten<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die planmäßig vor ihr wie eine Mauer hätten stehen<br />
sollen, schlossen sich in Wirklichkeit gegen sie zusammen und nahmen, unter Führung<br />
ihres kadettischen Kerns, den unglückseligen Innenininister Awksentjew aufs Korn. »Es<br />
ist unmöglich, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: die Regierung muß regieren, nicht aber<br />
eine Marionette sein.« Die Versöhnler verteidigten sich und protestierten halblaut, in<br />
Angst, ihren Streit mit den Verbündeten könnten die Bolschewiki belauschen. Der<br />
Minister-Sozialist verließ den Kongreß wie verbrüht.<br />
Die sozialrevolutionäre und die menschewistische Presse begann allmählich eine<br />
Sprache des Wehklagens und Gekränktseins zu führen. Auf ihren Seiten begannen<br />
überraschende Enthüllungen zu erscheinen. Am 6. August veröffentlichte das sozialrevolutionäre<br />
Blatt 'Djelo Naroda' ('Volkssache') den Brief einer Gruppe linker Junker, den<br />
diese, unterwegs zur Front, abgeschickt hatten: die Autoren »waren über die Rolle<br />
erstaunt, in <strong>der</strong> die Junker sich betätigten ... systematisches Ohrfeigen, Beteiligung <strong>der</strong><br />
Junker an Strafexpeditionen begleitet von Erschießungen ohne Gericht und Untersuchung,<br />
nur auf Befehl eines Bataillonskommandeurs ... Die erbitterten Soldaten schießen<br />
hinterrücks auf einzelne Junker ...« So sah die Arbeit zur Gesundung <strong>der</strong> Armee aus.<br />
Die Reaktion griff an, die Regierung wich zurück. Am 7. August wurden die populärsten<br />
Schwarzhun<strong>der</strong>tführer, die Rasputinschen Kreisen angehörten und an jüdischen<br />
Pogromen beteiligt gewesen waren, aus dem Gefängnis entlassen. Die Bolschewiki<br />
blieben im Krestygefängnis, wo ein Hungerstreik <strong>der</strong> verhafteten Arbeiter, Soldaten und<br />
Matrosen drohte. Die Arbeitersektion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets schickte an jenem Tage<br />
eine Begrüßung an Trotzki, Lunatscharski, Kollontay und die übrigen Häftlinge.<br />
Industrielle, Gouvernements-Kommissare, <strong>der</strong> Kosakenkongreß in Nowotscherkassk,<br />
die patriotische Presse, Generale, Liberale, alle waren <strong>der</strong> Ansicht, die Wahlen zur<br />
Konstituierenden Versammlung im September vorzunehmen sei völhg unmöglich; am<br />
besten wäre es, sie bis zum Kriegsende zu vertagen. Darauf konnte die Regierung jedoch<br />
nicht eingehen. Aber ein Kompromiß kam zustande: die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung wurde auf den 28. November vertagt. Nicht ohne Murren nahmen die<br />
Kadetten diese Frist an: sie rechneten fest damit, daß in den verbleibenden drei Monaten<br />
entscheidende Ereignisse geschehen niüßten, die die Frage <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung selbst, auf eine an<strong>der</strong>e Ebene hinüberleiten würden. Diese Hoffnungen<br />
wurden immer offener mit Kornilows Namen verknüpft.<br />
Die Reklame für die Figur des neuen "Ober" stand von nun an im Zentrum <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Politik. Die Biographie »des ersten Volks-Oberbefehlshabers« wurde unter aktiver<br />
Mitwirkung des Hauptquartiers in unzähligen Exemplaren verbreitet. Wenn Sawinkow in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 403
seiner Eigenschaft als Leiter des Kriegsministeriums Journalisten gegenüber sagte: »Wir<br />
glauben«, dann bedeutete das »Wir« nicht Sawinkow und Kerenski, son<strong>der</strong>n Sawinkow<br />
und Kornilow. Der Lärm um Kornilow zwang Kerenski, die Ohren zu spitzen. Es gingen<br />
immer hartnäckigere Gerüchte über eineVerschwörung, in <strong>der</strong>en Zentrum das Komitee<br />
des Offiziersverbandes beim Hauptquartier stände. Die persönliche Zusammenkunft von<br />
Regierungsoberhaupt und Armeeoberhaupt Anfang August schürte nur <strong>der</strong>en Antipathie.<br />
»Dieser leichtfertige Schwätzer will über mich kommandieren«, mußte Kornilow sich<br />
sagen. - »Dieser beschränkte und unwissende Kosak will Rußland retten?« mochte wohl<br />
Kerenski denken. Beide hatten auf ihre Weise recht. Kornilows Programm, das Militarisierung<br />
<strong>der</strong> Betriebe und Eisenbahnen, Ausdehnung <strong>der</strong> Todesstrafe auf das Hinterland<br />
und Unterordnung des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks mit Einschluß <strong>der</strong> Residenzgarnison<br />
unter das Hauptquartier umfaßte, wurde inzwischen in Versöhnlerkreisen bekannt. Hinter<br />
dem offiziellen Programm erriet man mühelos das an<strong>der</strong>e, nicht ausgesprochene, aber<br />
desto realere. Die linke Presse schlug Alarm. Das Exekutivkomitee stellte eine neue<br />
Kandidatur für den Posten des Oberbefehlshabers in Person des Generals Tscheremissow<br />
auf. Von <strong>der</strong> bevorstehenden Entlassung<br />
Kornilows begann man offen zu sprechen. Die Reaktion wurde unruhig.<br />
Am 6. August beschloß <strong>der</strong> Sowjet des Verbandes <strong>der</strong> zwölf Kosakenarmeen, <strong>der</strong><br />
Doner, Kubaner, Tersker und an<strong>der</strong>er, nicht ohne Mitwirkung Sawinkows, »laut und<br />
entschieden« zur Kenntnis <strong>der</strong> Regierung und des Volkes zu bringen, er lehne die<br />
Verantwortung ab für das Verhalten <strong>der</strong> Kosakentruppen an <strong>der</strong> Front Generals<br />
Kornilow. Die Konferenz des Verbandes <strong>der</strong> Georgsritter drohte <strong>der</strong> Regierung noch<br />
entschiedener: sollte Kornilow abgesetzt werden, so werde <strong>der</strong> Verband sofort »einen<br />
Kampfruf an alle Georgsritter zum gemeinsamen Auftreten mit dem Kosakentum« erlassen.<br />
Kein einziger <strong>der</strong> Generale protestierte gegen diese Verletzung <strong>der</strong> Subordination,<br />
und die Ordnungspresse druckte mit Begeisterung die Beschlüsse ab, die eine Androhung<br />
des Bürgerkrieges bedeuteten. Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes <strong>der</strong> Armee und<br />
Flotte versandte ein Telegramm, in dem es alle seine Hoffnungen »auf den geliebten<br />
Führer, General Kornilow«, setzte, und »alle ehrlichen Menschen« aufrief, diesem ihr<br />
Vertrauen auszusprechen. Die zur selben Zeit in Moskau tagende Konferenz »öffentlicher<br />
Persönlichkeiten« des rechten Lagers sandte an Kornilow ein Telegramm, in dem<br />
sie einstimmte in den Chor <strong>der</strong> Offiziere, Georgsritter und des Kosakentums: »Das<br />
gesamte denkende Rußland blickt auf Sie mit Hoffnung und Vertrauen.« Klarer konnte<br />
man's nicht sagen. An <strong>der</strong> Konferenz beteiligten sich Industrielle und Bankiers, wie<br />
Rjabuschinski und Tretjakow, die Generale Alexejew und Brjussilow, Vertreter <strong>der</strong><br />
Geistlichkeit und <strong>der</strong> Professur und die Führer <strong>der</strong> Kadettenpartei mit Miljukow an <strong>der</strong><br />
Spitze. Als Hülle figurierten Vertreter des halbfiktiven "Bauernbundes", <strong>der</strong> den Kadetten<br />
eine Stütze bei den Spitzen <strong>der</strong> Bauernschaft sein sollte. Aus dem Vorsitzendenstuhl<br />
ragte die Monumentalfigur Rodsjankos hervor, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Delegation eines Kosakenregimentes<br />
für die Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Bolschewiki dankte. Die Kandidatur Kornilows für die<br />
Rolle des Landesretters war somit von den autoritärsten Vertretern <strong>der</strong> besitzenden und<br />
gebildeten Klassen Rußlands offiziell aufgestellt.<br />
Nach dieser Vorbereitung erscheint <strong>der</strong> Oberbefehlshaber zum zweitenmal beim<br />
Kriegsminister, um über das von ihm eingereichte Programm zur Rettung des Landes zu<br />
verhandeln. »Nach Ankunft in Petrograd«, erzählt über diesen Besuch Kornilows dessen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 404
Stabschef, General Lukomski, »begab er sich in Begleitung <strong>der</strong> Tekiner mit zwei Maschinengewehren<br />
in das Winterpalais. Diese Maschinengewehre wurden vom Automobil<br />
heruntergeholt, sobald General Kornilow das Winterpalais betreten hatte, und die<br />
Tekiner hielten vor dem Portal des Palais Wache, um dem Oberbefehlshaber nötigenfalls<br />
zu Hilfe zu kommen.« Man rechnete damit, diese Hilfe könnte dem Oberbcfehlshaber<br />
gegen den Ministerpräsidenten notwendig werden. Die Maschinengewehre <strong>der</strong> Tekiner<br />
waren die Maschinengewehre <strong>der</strong> Bourgeoisie, gerichtet auf die zwischen den Beinen<br />
herumirrenden Versöhnler. So sah die - von den Sowjets unabhängige - Regierung <strong>der</strong><br />
Rettung aus!<br />
Sogleich nach dem Kornilowschen Besuch erklärte Kokoschkin, ein Mitglied <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung, dem Ministerpräsidenten Kerenski, die Kadetten würden<br />
demissionieren, »falls nicht noch heute Kornilows Programm akzeptiert wird«. Wenn<br />
auch ohne Maschinengewehre, so sprachen dic Kadetten mit <strong>der</strong> Regierung doch die<br />
ultimative Sprache Kornilows. Und dies half. Die Provisorische Regierung beeilte sich,<br />
den Bericht des Oberbefehlshabers zu prüfen, und kam zu dem Ergebnis, die Durchführung<br />
<strong>der</strong> vorgeschlagenen Maßnahmen sei im Prinzip möglich, »einschließlich <strong>der</strong><br />
Todesstrafe für das Hinterland«.<br />
Der Mobilisierung <strong>der</strong> Kräfte <strong>der</strong> Reaktion schloß sich naturgemäß die Allrussische<br />
Kirchenversaninilung an, die, ihrem offiziellen Zweck nach, die volle Befreiung <strong>der</strong><br />
rechtgläubigen Kirche aus bürokratischen Fesseln durchzuführen hatte, sie in Wirklichkeit<br />
jedoch vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> schützen sollte. Mit <strong>der</strong> Beseitigung <strong>der</strong> Monarchie hatte<br />
die Kirche ihr offizielles Haupt verloren. Ihr Verhältnis zum Staate, ihrem Beschützer<br />
und Gönner von altersher, war in <strong>der</strong> Luft hängen geblieben. Allerdings hatte <strong>der</strong> Heilige<br />
Synod in einer Botschaft vom 9. März sich beeilt, die vollzogene Uniwälzung zu segnen,<br />
und das Volk auigerufen, »sich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung anzuvertrauen«. Aber dic<br />
Zukunft war doch von Gefahren bedroht. Die Regierung hatte sich wie über alle an<strong>der</strong>en<br />
Fragen auch über die <strong>der</strong> Kirche ausgeschwiegen. Die Geistlichkeit war völlig fassungslos.<br />
Mitunter traf aus irgendeinem Randgebiet, so von <strong>der</strong> Geistlichkeit <strong>der</strong> Stadt Werny<br />
an <strong>der</strong> chinesischen Grenze, ein Telegramm ein, das dem Fürsten Lwow versicherte,<br />
seine Politik stehe durchaus im Einklang mit den Geboten des Evangeliums. Sich <strong>der</strong><br />
Umwälzung anpassend, hatte die Kirche nicht gewagt, in die Ereignisse einzugreifen.<br />
Am schroffsten hatte sich das an <strong>der</strong> Front gezeigt, wo <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Geistlichkeit<br />
gleichzeitig mit <strong>der</strong> Angstdisziplin zusammenstürzte. Denikin gesteht: »Wenn das<br />
Offizierskorps immerhin längere Zeit um seine Kommandomacht und militärische Autorität<br />
kämpfte, so verstummte in den ersten <strong>Revolution</strong>stagen die Stimme <strong>der</strong> Seelenhirten,<br />
und jegliche Anteilnahme ihrerseits am Leben <strong>der</strong> Truppen hörte auf.« Kongresse <strong>der</strong><br />
Geistlichkeit im Hauptquartier und in den Armeestäben verliefen völlig unbeachtet.<br />
Die Kirchenversammlung, vor allem Kastenangelegenheit <strong>der</strong> Geistlichkeit, beson<strong>der</strong>s<br />
ihrer oberen Schichten, blieb jedoch nicht auf den Rahmen <strong>der</strong> Kirchenbürokratie<br />
beschränkt: an sie klammerte sich mit aller Kraft die liberale Gesellschaft. Die Kadettenpartei,<br />
die im Volk keine politischen Wurzeln fand, träumte davon, die reformierte<br />
Kirche würde <strong>der</strong> Partei als Transmission zu den Massen dienen. Bei <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Kirchenversammlung spielten eine aktive Rolle neben den Kirchenfürsten und diesen<br />
voran weltliche Politiker verschiedener Schattierungen, wie Fürst Trubetzkoi, Graf<br />
Olssufjew, Rodsjanko, Samarin, liberale Professoren und Schriftsteller. Die Kadettenpar-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 405
tei war vergeblich bemüht, eine Atmosphäre kirchlicher Reformation um die Versammlung<br />
zu schaffen, wobei sie gleichzeitig fürchtete, durch eine unvorsichtige Bewegung<br />
das angefaulte Gebäude ins Wanken zu bringen. Ober Trennung von Kirche und Staat<br />
war keine Rede, we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Geistlichkeit noch bei den weltlichen Reformatoren. Die<br />
Kirchenfürsten neigten natürlich dazu, die Kontrolle des Staates über ihre inneren<br />
Angelegenheiten abzuschwächen, sie wollten jedoch, daß <strong>der</strong> Staat in alter Weise nicht<br />
nur ihre privilegierte Lage, ihre Län<strong>der</strong>eien und Einkäufe schütze, son<strong>der</strong>n auch fernerhin<br />
den Löwenanteil ihrer Ausgaben decke. Ihrerseits war die liberale Bourgeoisie bereit,<br />
<strong>der</strong> Orthodoxie die Stellung <strong>der</strong> herrschenden Kirche zu sichern, jedoch unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />
daß sie es lerne, auf neue Art in den Massen die Interessen <strong>der</strong> herrschenden<br />
Klassen zu wahren.<br />
Hier aber setzten die Hauptschwierigkeiten erst ein. Derselbe Denikin bemerkt<br />
zerknirscht, daß die russische <strong>Revolution</strong> »keine irgendwie bemerkenswerte volksreligiöse<br />
Bewegung geschaffen hat«. Richtiger wäre zu sagen, daß in dem Maße <strong>der</strong> Einbeziehung<br />
neuer Volksschichten in die <strong>Revolution</strong> diese Schichten fast automatisch <strong>der</strong><br />
Kirche den Rücken kehrten, auch wenn sie früher mit ihr verbunden waren. Auf dem<br />
Lande konnten noch einzelne Geistliche persönlichen Einfluß ausüben, je nach ihrem<br />
Verhalten zur Bodenfrage. In <strong>der</strong> Stadt kam es nicht nur in Arbeiter-, son<strong>der</strong>n auch in<br />
Kleinbürgerkreisen keinem in den Sinn, sich um Lösung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erhobenen<br />
Fragen an die Geisthchkeit zu wenden. Die Vorbereitung <strong>der</strong> Kirchenversaninilung<br />
stieß auf völlige Teilnahmslosigkeit des Volkes. Die Interessen und Leidenschaften <strong>der</strong><br />
Massen fanden ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Sprache sozialistischer Parolen, nicht aber in<br />
theologischen Texten. Das verspätete Rußland machte seine <strong>Geschichte</strong> nach einem<br />
gekürzten Lehrkursus durch: es war gezwungen, nicht nur über die Epoche <strong>der</strong> Reformation,<br />
son<strong>der</strong>n auch über die des bürgerlichen Parlamentarismus hinwegzuschreiten.<br />
Die in den Monaten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sflut in Aussicht genommene Kirchenversammlung<br />
fiel zusammen mit den Wochen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sebbe. Dies hat ihre reaktionäre Färbung<br />
nur noch verdichtet. Die Zusammensetzung, <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong> von ihr berührten Fragen,<br />
sogar ihr Eröffnungszeremoniell - alles zeugte von den grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen<br />
im Verhältnis <strong>der</strong> verschiedenen Klassen zur Kirche. Bei dem Gottesdienst im Uspensski<br />
Sobor (Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale) waren neben Rodsjanko und den Kadetten auch<br />
Kerenski und Awksentjew anwesend. Der Moskauer Oberbürgermeister, Sozialrevolutionär<br />
Rudnjew, sagte in <strong>der</strong> Begrüßung: »Solange das russische Volk leben wird, wird in<br />
seinem Herzen <strong>der</strong> christliche Glaube brennen.« Noch gestern hatten diese Menschen<br />
sich für direkte Nachkommen des <strong>russischen</strong> Aufklärers Tschernyschewski gehalten.<br />
Die Kirchenversammlung versandte gedruckte Appelle in alle Ecken und Enden, rief<br />
nach einer starken Regierung, entlarvte die Bolschewiki und beschwor im Einklang mit<br />
dem Arbeitsminister Skobeljew: »Arbeiter, schaffet, ohne eure Kräfte zu schonen, und<br />
stellt eure For<strong>der</strong>ungen dem Wohle des Vaterlandes hintan.« Doch ganz beson<strong>der</strong>e<br />
Aufmerksamkeit widmete die Versammlung <strong>der</strong> Bodenfrage. Metropoliten und Bischöfe<br />
waren nicht weniger als die Gutsbesitzer über die Wucht <strong>der</strong> Bauernbewegung erschrokken<br />
und erbittert, und Angst um die Kirchen- und Klösterlän<strong>der</strong>eien ergriff von ihren<br />
Seelen viel stärker Besitz als die Frage nach <strong>der</strong> Demokratisierung <strong>der</strong> Pfarrgemeinden.<br />
Unter Androhung göttlichen Zorns und des Kirchenbanns for<strong>der</strong>t die Botschaft,<br />
»Kirchen, Klöster, Klerus und Privatbesitzern die ihnen geraubten Län<strong>der</strong>, Wäl<strong>der</strong> und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 406
Ernten unverzüglich zurückzugeben«. Hier wäre es angebracht, an die Stimme des Predigers<br />
in <strong>der</strong> Wüste zu erinnern! Die Kirchenversammlung zog sich von Woche zu Woche<br />
hin und erreichte den Höhepunkt ihrer Arbeit, die Wie<strong>der</strong>herstellung des von Peter dem<br />
Großen zwei jahrhun<strong>der</strong>te zuvor aufgehobenen Patriarchats, erst nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />
Ende Juli faßte die Regierung den Beschluß, zum 13. August nach Moskau eine Staatsberatung<br />
von Vertretern sämtlicher Klassen und öffentlichen Institutionen des Landes<br />
einzuberufen. Im völligen Wi<strong>der</strong>spruch zu den Resultaten aller im Lande stattgefundenen<br />
demokratischen Wahlen traf die Regierung Maßnahmen, um für die Beratung von<br />
vornherein die gleiche Zahl Vertreter <strong>der</strong> besitzenden Klassen wie des Volkes zu sichern.<br />
Nur auf <strong>der</strong> Grundlage eines solchen künstlichen Gleichgewichts hoffte die Regierung<br />
zur Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sich selbst noch zu retten. Mit irgendwelchen festgelegten<br />
Rechten wurde dieses Konzil nicht ausgestattet. »Die Beratung ... erhielt«, nach Milljukows<br />
Worten, »allenfalls nur beratende Stimme«: die besitzenden Klassen wollten <strong>der</strong><br />
Demokratie ein Beispiel von Selbstverleugnung geben, um sich später desto sicherer die<br />
ganze Macht anzueignen. Offiziell wurde als Ziel <strong>der</strong> Beratung verkündet: »Die<br />
Einigung <strong>der</strong> Staatsmacht mit allen organisierten Kräften des Landes.« Die Presse<br />
sprach von <strong>der</strong> Notwendigkeit, zusammenzuschließen, zu versöhnen, aufzumuntern, zu<br />
ermutigen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die einen waren nicht willens, die an<strong>der</strong>en niclit fähig,<br />
klar auszusprechen, zu welchem Zwecke eigentlich die Beratung zusammentrete. Die<br />
Dinge bei Namen zu nennen, wurde auch hier Aufgabe <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Kerenski und Kornilow<br />
(Elemente des Bonapartismus in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>)<br />
Es ist nicht wenig darüber geschrieben worden, daß alles weitere Unheil, einschließlich<br />
<strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> Bolschewiki, zu vermeiden gewesen wäre, wenn an Stelle Kerenskis an<br />
<strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung ein Mann von klarem Sinn und festem Charakter gestanden<br />
haben würde. Unbestreitbar fehlte Kerenski das eine wie das an<strong>der</strong>e. Weshalb aber sahen<br />
sich bestimmte Gesellschaftsklassen gezwungen, gerade Kerenski auf ihren Schultern<br />
emporzuhehen?<br />
Gleichsam um unser historisches Gedächtnis aufzufrischen, zeigen uns die spanischen<br />
Ereignisse aufs neue, wie eine <strong>Revolution</strong>, die gewohnten politischen Scheidungsgrenzen<br />
verwischend, bei ihrem Beginn alles in rosige Nebel taucht. Sogar die Feinde sind in<br />
diesem Stadium bestrebt, ihre Farbe anzunehmen: in dieser Mimikry liegt ein halb<br />
instinktives Bestreben <strong>der</strong> konservativen Klassen, sich dem drohenden Umschwung<br />
anzupassen, um aus ihm mit geringstem Verlust herauszukommen. Die Solidarität <strong>der</strong><br />
Nation, auf hohlen Phrasen begründet, verwandelt das Versöhnlertum in eine notwendige<br />
politische Funktion. Kleinbürgerliche Idealisten, die über die Klassen hinwegblicken, in<br />
fertigen Schablonen denken, nicht wissen, was sie wollen, und allen das Allerbeste<br />
wünschen, sind in diesem Stadium die einzig denkbaren Führer <strong>der</strong> Mehrheit. Hätte<br />
Kerenski klaren Sinn und festen Willen gehabt, er hätte sich für seine historische Rolle<br />
ganz untauglich erwiesen. Das ist keine retrospektive Einschätzung. So dachten die<br />
Bolschewiki auch in <strong>der</strong> Hitze <strong>der</strong> Ereignisse. »Anwalt in politischen Prozessen, Sozialrevolutionär,<br />
<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Trudowiki stand, Radikaler ohne jegliche sozialistische<br />
Schule - war Kerenski die vollkommenste Wi<strong>der</strong>spiegelung <strong>der</strong> ersten Epoche <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 407
<strong>Revolution</strong>, ihrer "nationalen" Formlosigkeit, des zündenden Idealismus ihrer Hoffnungen<br />
und Erwartungen«, so schrieb nach den Julitagen, im Gefängnis Kerenskis, <strong>der</strong><br />
Autor dieser Zeilen, »Kerenski sprach von Land und Freiheit, von Ordnung, Völkerfrieden,<br />
Vaterlandsverteidigung, von Liebknechts Heroismus, davon, daß die russische<br />
<strong>Revolution</strong> durch ihre Großmut die Welt in Erstaunen setzen müsse, und fächelte dabei<br />
mit einem roten Seidentücheichen. Der aus dem Schlaf erwachte Spießbürger lauschte<br />
verzückt diesen Reden: es war ihm, als spräche er selbst von <strong>der</strong> Tribüne herab. Die<br />
Armee empfing Kerenski als den Befreier von Gutschkow. Die Bauern hatten von ihm als<br />
von einem Trudowiken, einem Muschik-Deputierten gehört. Die Liberalen bestach die<br />
äußerste Mäßigung <strong>der</strong> Ideen unter formlosem Phrasenradikalismus ...«<br />
Doch die Periode allgemeiner Umarmungen währt nicht lange. Der Kampf <strong>der</strong> Klassen<br />
erstirbt zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nur um später als Bürgerkrieg aufzuleben. Im märchenhaften<br />
Aufstieg des Versöhnlertums ist von vornherein sein unvermeidlicher Zusammenbruch<br />
enthalten. Das rasche Hinschwinden von Kerenskis Popularität erklärt <strong>der</strong> offiziöse<br />
französische Journalist Claude Anet damit, daß Taktmangel den sozialistischen Politiker<br />
zu Handlungen trieb, die mit seiner Rolle »wenig harmonierten«. »Er sitzt in kaiserlichen<br />
Logen. Lebt in Winterpalais o<strong>der</strong> im Zarskoselsker-Palais. Schläft im Bett <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Imperatoren. Ein wenig zu viel und dazu noch zu sichtbare Prunksucht; das chokiert das<br />
Land, das einfachste Land <strong>der</strong> Welt.« Takt setzt im Kleinen wie im Großen Verständnis<br />
voraus für die Situation den Platz, den sie anweist. Davon war bei Kerenski nicht die<br />
Spur. Von den Massen vertrauensselig emporgehoben, blieb er ihnen völlig frenid,<br />
verstand sie nicht und war durchaus uninteressiert daran, wie sie die <strong>Revolution</strong> aufnehmen<br />
und welche Schlußfolgerungen sie aus ihr ziehen. Die Massen erwarteten von<br />
Kerenski kühne Taten, er aber for<strong>der</strong>te von ihnen, seine Großmut und Schönre<strong>der</strong>ei nicht<br />
zu stören. Während er <strong>der</strong> verhafteten Zarenfamihe einen theatralischen Besuch abstattete,<br />
sagten die am Palais wachtbabenden Soldaten dem Kommandanten: »Wir müssen auf<br />
Pritschen schlafen, unser Auskommen ist schlecht; aber bei Nikolaschka, wenngleich er<br />
verhaftet ist, wird Fleisch in den Müllkübel geschüttet.« Das waren nicht »großmütige«<br />
Worte, aber sie drückten aus, was die Soldaten fühlten.<br />
Das Volk, das sich aus jahrhun<strong>der</strong>tealten Fesseln befreit hatte, übertrat auf Schritt und<br />
Tritt die Grenze, die ihm die gebildeten Führer steckten. Kerenski wehklagte deshalb<br />
Ende April: »Ist denn <strong>der</strong> freie russische Staat ein Staat meutern<strong>der</strong> Sklaven? ... Ich<br />
bedaure, nicht vor zwei Monaten gestorben zu sein: ich wäre mit einem großen Traum<br />
gestorben«, und so weiter. Durch solche üble Rhetorik hoffte er Arbeiter, Soldaten,<br />
Matrosen und Bauern zu beeinflussen. Admiral Koltschak erzählte später vor dem<br />
Sowjettribunal, wie <strong>der</strong> radikale Kriegsminister im Mai die Schwarzmeerflotte bereiste,<br />
um die Matrosen mit den Offizieren zu versöhnen. Nach jedem Auftreten wähnte <strong>der</strong><br />
Redner, das Ziel sei erreicht: »Nun sehen Sie, Admiral, es ist alles in Ordnung gebracht<br />
...« Doch nichts war in Ordnung gebracht: <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> Flotte begann erst.<br />
Je länger, um so schärfer erregte Kerenski durch seine Ziersucht, Hoffart, Eigendünkel<br />
den Unmut <strong>der</strong> Massen. Während seiner Frontreisen schrie er im Waggon gereizt seinen<br />
Adjutanten zu, wohl in Berechnung, daß die Generale es hören würden: »Jagt doch die<br />
verfluchten Komitees davon!« Als er die Baltische Flotte besuchte, befahl Kerenski dem<br />
Zentralkomitee <strong>der</strong> Seeleute, zu ihm auf das Admiralschiff zu kommen. Der<br />
»Zentrobalt«, <strong>der</strong> als Sowjetorgan dem Minister nicht unterstand, empfand den Befehl<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 408
als eine Beleidigung. Der Komiteevorsitzende, Matrose Dybenko, gab die Antwort:<br />
»Wenn Kerenski mit dem Zentrobalt zu sprechen wünscht, dann mag er zu uns kommen.«<br />
War dies nicht eine unerträgliche Frechheit! Auf den Schiffen, wo Kerenski mit den<br />
Matrosen in politische Gespräche kam, verhielt es sich nicht besser, beson<strong>der</strong>s auf dem<br />
bolschewistisch gestimmten Schiff "Republik", wo man den Minister Punkt für Punkt<br />
verhörte: weshalb habe er in <strong>der</strong> Reichsduma für den Krieg gestimmt?, weshalb die<br />
imperialistische Note Miljukows vom 21. April unterzeichnet?, weshalb den zaristischen<br />
Senatoren 6.000 Rubel Jahrespension bewilligt? Kerenski lehnte es ab, auf diese<br />
heimtückischen, von »Übelwollenden« gestellten Fragen zu antworten. Die Schiffsbesatzung<br />
betrachtete die Erklärungen des Ministers als »unbefriedigend« ... Unter Grabesstille<br />
<strong>der</strong> Matrosen verließ Kerenski das Schiff. »Meuternde Sklaven!« sagte<br />
zähneknirschend <strong>der</strong> radikale Advokat. Die Matrosen aber fühlten voller Stolz: »Ja, wir<br />
waren Sklaven, und wir haben uns erhoben!«<br />
Durch die Ungeniertheit, mit <strong>der</strong> er die demokratische öffentliche Meinung behandelte,<br />
rief Kerenski dauernd halbe Konflikte mit den Sowjetführern hervor, die zwar den<br />
gleichen Weg gingen wie er, aber doch mehr auf die Massen abgestimmt. Bereits am 8.<br />
März erklärte das über die Proteste von unten erschrockene Exekutivkomitee Kerenski,<br />
die Freilassung verhafteter Polizisten sei unzulässig. Einige Tage später sahen sich die<br />
Versöhnler gezwungen, zu protestieren gegen die Absicht des Justizministers, die Zarenfamilie<br />
nach England hinauszulassen. Nach weiteren zwei, drei Wochen erhob das<br />
Exekutivkomitee allgemein die Frage nach »Regulierung <strong>der</strong> Beziehungen« zu Kerenski.<br />
Aber diese Beziehungen wurden nicht reguliert und konnten nicht reguliert werden.<br />
Ebenso unglückselig gestaltete sich die Sache mit <strong>der</strong> Parteilinie. Auf dem Kongreß <strong>der</strong><br />
Sozialrevolutionäre Anfang Juli fiel Kerenski bei <strong>der</strong> Wahl zum Zentralkomitee durch; er<br />
erhielt 135 von 270 Stimmen. Wie wanden sich die Führer nach links und nach rechts,<br />
um klarzumachen, daß »für den Genossen Kerenski viele nicht gestimmt haben, weil er<br />
schon zu sehr überlastet ist«. In Wirklichkeit vergötterten zwar die Stabs- und Departements-Sozialrevolutionäre<br />
Kerenski als die Quelle allen Segens, aber bei den alten, mit<br />
den Massen verbundenen Sozialrevolutionären genoß er we<strong>der</strong> Achtung noch Vertrauen.<br />
Ohne Kerenski konnte indes we<strong>der</strong> das Exekutivkomitee noch die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
auskommen: er war unentbehrlich als Bindeglied <strong>der</strong> Koalition.<br />
Im Sowjetblock gehörte die führende Rolle den Mcnschewiki: sie erfanden die<br />
Beschlüsse, das heißt die Mittel, Taten auszuweichen. Doch im Staatsapparat waren die<br />
Narodnlki den Menschewiki offensichtlich überlegen, was in <strong>der</strong> dominierenden Stellung<br />
Kerenskis zum Ausdruck kam. Halb Kadett, halb Sozialrevolutionär, war Kerenski in <strong>der</strong><br />
Regierung nicht Vertreter <strong>der</strong> Sowjets wie Zeretelli o<strong>der</strong> Tschernow, son<strong>der</strong>n das lebendige<br />
Bindeglied zwischen Bourgeoisie und Demokratie. Zeretelli-Tschernow verkörperten<br />
eine Seite <strong>der</strong> Koalition. Kerenski war die personelle Verkörperung <strong>der</strong> Koalition<br />
selbst. Zeretelli klagte wegen des Überwiegens »persönlicher Momente« bei Kerenski,<br />
ohne zu begreifen, daß sie nicht zu trennen waren von seiner politischen Funktion.<br />
Zeretelli erließ als Innenminister ein Rundschreiben, wonach <strong>der</strong> Gouvernements-Kommissar<br />
sich auf alle lokalen »lebendigen Kräfte«, das heißt auf Bourgeoisie und die<br />
Sowjets zu stützen und die Politik <strong>der</strong> Provisorischen Regierung durchzuffihren hätte,<br />
ohne »Parteieinflüssen« nachzugehen. Dieser ideale, sich über feindliche Klassen und<br />
Parteien erhebende Kommissar, <strong>der</strong> nur aus sich selbst und aus dem Rundschreiben seine<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 409
Berufung schöpfen sollte - das eben ist <strong>der</strong> Kerenski im Gouvernements- o<strong>der</strong> Kreismaßstabe.<br />
Zur Krönung des Systems war ein unabhängiger Allrussischer Kommissar im<br />
Winterpalais nötig. Ohne Kerenski wäre das Versöhnlertum dasselbe gewesen wie eine<br />
Kirchenkuppel ohne Kreuz.<br />
Die <strong>Geschichte</strong> von Kerenskis Aufstieg ist sehr belehrend. Justizminister wurde er<br />
dank dem Februaraufstande, den er gefürchtet hatte. Die Aprildemonstration <strong>der</strong><br />
»meuternden Sklaven« machte ihn zum Kriegs- und Marineminister. Die Julikämpfe,<br />
hervorgerufen von »deutschen Agenten«, stellten ihn an die Spitze <strong>der</strong> Regierung.<br />
Anfang September wird die Massenbewegung das Regierungshaupt auch noch zum<br />
Höchstkommandierenden machen. Die Dialektik des Versöhnlerregimes, und zugleich<br />
dessen böse Ironie, bestand darin, daß die Massen durch ihren Druck Kerenski auf den<br />
höchsten Punkt emporheben mußten, bevor sie ihn stürzten.<br />
Während er verächtlich das Volk abwehrte, das ihm die Macht gegeben hatte, haschte<br />
Kerenski um so gieriger nach Zeichen <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> gebildeten Gesellschaft.<br />
Bereits in den ersten <strong>Revolution</strong>stagen erzählte <strong>der</strong> Arzt Kisclikin, Führer <strong>der</strong> Moskauer<br />
Kadetten, bei seiner Rückkehr aus Petrograd: »Ohne Kerenski würde das, was wir haben,<br />
nicht existieren. Mit goldenen Lettern wird sein Name aufden Tafeln <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
eingetragen werden.« Liberale Lobpreisungen zählten flir Kerenski zu den wichtigsten<br />
politischen Kriterien. Aber er konnte und wollte nicht seine Popularität <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
einfach zu Füßen legen. Im Gegenteil, er gewann immer mehr Geschmack daran, alle<br />
Klassen zu seinen eigenen Füßen zu sehen. »Der Gedanke, die Vertretung <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
und <strong>der</strong> Demokratie gegenüberzustellen und ins Gleichgewicht zu bringen«, bekundet<br />
Miljukow, »war Kerenski vom Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an nicht fremd.« Dieser Kurs<br />
ergab sich naturgemäß aus Kerenskis gesamtem Lebensweg, <strong>der</strong> zwischen liberaler<br />
Advokatur und illegalen Zirkeln verlaufen war. Während er Buchanan ehrerbietigst<br />
versicherte, daß »<strong>der</strong> Sowjet eines natürlichen Todes sterben« werde, schreckte Kerenski<br />
seine bürgerlichen Kollegen auf Schritt und Tritt mit dem Zorn des Sowjets. Und in den<br />
nicht seltenen Fällen, wo die Führer des Exekutivkomitees mit Kerenski uneinig waren,<br />
ängstigte er sie mit <strong>der</strong> furchtbarsten aller Katastrophen: dem Rücktritt <strong>der</strong> Liberalen.<br />
Wenn Kerenski immer erneut wie<strong>der</strong>holte, er wolle nicht <strong>der</strong> Marat <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
<strong>Revolution</strong> sein, so bedeutete dies, er lehne es ab, strenge Maßnahmen gegen die Reaktion,<br />
keinesfalls aber gegen die "Anarchie" anzuwenden. Dies ist übrigens gewöhnlich die<br />
Moral <strong>der</strong> Gegner <strong>der</strong> Gewalt in <strong>der</strong> Politik: sie lehnen sie ab, insofern es sich um die<br />
Än<strong>der</strong>ung des Bestehenden handelt; doch scheuen sie zur Verteidigung <strong>der</strong> Ordnung vor<br />
erbarmungslosem Strafgericht nicht zurück.<br />
In <strong>der</strong> Vorbereitungsperiode <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front wurde Kerenski eine beson<strong>der</strong>s<br />
beliebte Figur <strong>der</strong> besitzenden Klassen. Tereschtschenko erzählte nach rechts und nach<br />
links, wie hoch unsere Alliierten die »Mühen Kerenskis« einschätzten; die gegen die<br />
Versöhnler sehr strenge "Rjetsch" unterstrich beständig ihr Wohlwollen für den Kriegsminister;<br />
Rodsjanko selbst gestand, daß »dieser junge Mann ... tagtaglich mit verdoppelter<br />
Kraft aufersteht zum Wohle <strong>der</strong> Heimat und zu schöpferischer Arbeit«. Mit solchen<br />
Äußerungen wollten die Liberalen Kerenski zu Tode liebkosen. Konnte es ihnen doch<br />
nicht verborgen bleiben, daß er für sie arbeitete. »Bedenkt doch«, sagte Lenin, »was<br />
wäre, wenn Gutschkow anfangen wollte, Befehle zur Offensive zu erteilen, Regimenter<br />
aufzulösen, Soldaten zu verhaften, Kongresse zu verbieten, Soldaten mit "du" anzuschrei-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 410
en, sie "Feiglinge" zu nennen, und so weiter. Kerenski aber darf sich diesen "Luxus"<br />
noch erlauben, solange er das allerdings schwindelerregend schnell dahinsinkende<br />
Vertrauen, das ihm das Volk kreditierte, nicht vertan hat ... «<br />
Die Offensive, die Kerenskis Reputation in den Reihen <strong>der</strong> Bourgeoisie hob, untergrub<br />
endgültig seine Popularität im Volke. Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Offensive war im wesentlichen<br />
<strong>der</strong> Zusammenbruch Kerenskis in beiden Lagern. Aber eine erstaunliche Sache:<br />
»unentbehrlich« machte ihn von nun an gerade dies Kompromittiertsein auf beiden<br />
Seiten. Über Kerenskis Rolle bei Schaffung <strong>der</strong> zweiten Koalition äußert sich Miljukow<br />
folgen<strong>der</strong>maßen: »Der einzige Mensch, <strong>der</strong> möglich war«, aber lei<strong>der</strong> »nicht <strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />
notwendig war ...« Die führenden liberalen Politiker haben übrigens Kerenski niemals<br />
allzu erust genommen. Und die breiten Kreise <strong>der</strong> Bourgeoisie schoben ihm immer mehr<br />
die Verantwortung für alle Schicksalsschläge zu. »Die Ungeduld <strong>der</strong> patriotisch<br />
gestimmten Gruppen« zwang, nach Miljukows Zeugnis, einen starken Mann zu suchen.<br />
Eine Zeitlang war Admiral Koltschak für diese Rolle ausersehen. Die Besetzung des<br />
Steuers mit einem starken Manne »dachte man sich an<strong>der</strong>s als auf dem Wege <strong>der</strong><br />
Verhandlungen und Vereinbarungen«. Das ist nicht schwer zu glauben. »Die Hoffnungen<br />
auf Demokratie, auf Volkswillen, auf die Konstituierende Versammlung«, schreibt<br />
Stankewitsch über die Kadettenpartei, »waren bereits aufgegeben: hatten doch die<br />
Munizipalwahlen in ganz Rußland eine erdrückende Mehrheit <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> ergeben ...<br />
So begann das krampfhafte Suchen nach einer Macht, die imstande gewesen wäre, nicht<br />
zu überzeugen, son<strong>der</strong>n zu befehlen.« Genauer ausgedrückt: nach einer Macht, die die<br />
<strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Gurgel packen konnte.<br />
Es ist nicht leicht, in Kornilows Biographie und den Eigenschaften seiner Persönlichkeit<br />
Züge zu finden, die seine Kandidatur für den Posten des Retters rechtfertigten.<br />
General Martynow, <strong>der</strong> in Friedenszeit Kornilows Dienstvorgesetzter gewesen war und<br />
während des Krieges mit diesem in einem österreichischen Schloß die Gefangenschaft<br />
geteilt hatte, charakterisiert Kornilow mit folgenden Worten: »Sich durch beharrlichen<br />
Fleiß und großes Selbstvertrauen auszeichnend, war er seinen geistigen Fähigkeiten<br />
nach ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch, bar jedes breiteren Horizontes.«<br />
Martynow zeichnet in Kornilows Aktivum zwei Charakterzüge ein: persönlichen Mut<br />
und Uneigennützigkeit. In jenem Milieu, wo man vor allem um persönliche Sicherheit<br />
besorgt war und hemmungslos stahl, stachen solche Eigenschaften in die Augen. Von<br />
strategischen Fähigkeiten, vor allem <strong>der</strong> Fähigkeit, eine Situation in ihrer Gesamtheit, in<br />
ihren materiellen und moralischen Elementen einzuschätzen, besaß Kornilow nicht die<br />
Spur. »Es fehlte ihm außerdem organisatorische Begabung«, sagte Martynow, »und<br />
seines Jähzornes und <strong>der</strong> Unausgeglichenheit seines Charakters wegen war er für<br />
planmäßige Handlungen überhaupt wenig geeignet.« Brjussilow, <strong>der</strong> während des<br />
Weltkrieges die gesamte Kampftätigkeit seines Untergebenen beobachtet hatte, äußerte<br />
sich über ihn mit völliger Geringschätzung: »<strong>der</strong> Chef einer verwegenen Partisanenabteilung<br />
nichts weiter ...« Die offizielle Legende, die um die Kornilowsche Division<br />
geschaffen wurde, war diktiert von dem Bedürfnis <strong>der</strong> patriotischen öffentlichen<br />
Meinung, heile Flecke auf dem düsteren Hintergrunde zu finden. »Die 48. Division«,<br />
schreibt Martynow, »ist nur infolge <strong>der</strong> skandalösen Führung ... Kornilows umgekommen,<br />
<strong>der</strong> es nicht vermocht hatte, den Rückzug zu organisieren, und <strong>der</strong> vor allem seine<br />
Beschlüsse unablässig wechselte und Zeit verlor ...« Im letzten Augenblick überließ<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 411
Kornilow die von ihm in eine Falle hineingeführte Division ihrem Schicksal, um zu<br />
versuchen, selbst <strong>der</strong> Gefangenschaft zu entrinnen. Nachdem er jedoch vier Tage und<br />
Nächte herumgeirrt war, ergab sich <strong>der</strong> wenig erfolgreiche General den Österreichern<br />
und floh erst später aus <strong>der</strong> Gefangenschaft. »Nach Rußland zurückgekehrt, schmückte<br />
Kornilow in Gesprächen mit verschiedenen Zeitungskorrespondenten die <strong>Geschichte</strong><br />
seiner Flucht mit bunten Farben <strong>der</strong> Phantasie.« Bei den prosaischen Korrekturen zu<br />
verweilen, die gut informierte Zeugen in die Legende hineinbringen, haben wir keine<br />
Veranlassung. Offensichtlich gewinnt Kornilow in dieser Zeit Geschmack an Zeitungsreklame.<br />
Vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war Kornilow Monarchist von Schwarzhun<strong>der</strong>t-Schattierung. In<br />
<strong>der</strong> Gefangenschaft äußerte er beim Zeitungslesen wie<strong>der</strong>holt, »alle diese Gutschkows<br />
und Miljukows würde ich mit Vergnügen aufhängen«. Doch politische Ideen beschäftigten<br />
ihn, wie im allgemeinen Menschen dieses Schlages, nur, sofern sie ihn selbst unmittelbar<br />
berührten. Nach <strong>der</strong> Februarumwälzung proklamierte sich Kornilow sehr flink als<br />
Republikaner. »Er kannte sich«, nach Äußerung desselben Martynow, »herzlich schlecht<br />
aus in den sich kreuzenden Interessen <strong>der</strong> verschiedenen Schichten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Gesellschaft, kannte we<strong>der</strong> Parteigruppierungen noch einzelne Politiker.« Menschewiki,<br />
Sozialrevolutionäre und Bolschewiki verschwammen für ihn in eine einzige feindliche<br />
Masse, die die Kommandeure am Kommandieren, die Gutsbesitzer am Genuß <strong>der</strong> Güter,<br />
die Fabrikanten an <strong>der</strong> Produktion, die Kaufleute am Handeln hin<strong>der</strong>te.<br />
Das Komitee <strong>der</strong> Reichsduma verfiel bereits am 2. März auf General Kornilow und<br />
drängte, in einem von Rodsjanko unterzeichneten Telegramm, heim Hauptquartier auf<br />
die Ernennung »des ruhmreichen und ganz Rußland bekannten Helden« zum Hauptkommandierenden<br />
des Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirks. Auf dem Telegramm Rodsjankos<br />
vermerkte <strong>der</strong> Zar, <strong>der</strong> bereits aufgehört hatte Zar zu sein: »Ausführen«. So erhielt die<br />
revolutionäre Residenz ihren ersten roten General. Im Protokoll des Exekutivkomitees<br />
vom 10. März steht über Kornilow folgen<strong>der</strong> Satz: »Ein General vom alten Schlag, <strong>der</strong><br />
mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Schluß machen will.« In den ersten Tagen gab <strong>der</strong> General sich<br />
übrigens Mühe, im besten Lichte zu erscheinen, und führte nicht ohne Lärm das Ritual<br />
<strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Zarin durch: das wurde ihm als Plus angerechnet. Aus den Erinnerungen<br />
des von ihm zum Kommandanten von Zarskoje Selo ernannten Oberst Kobylinski<br />
ergibt sich jedoch, daß Kornilow auf zwei Fronten gesetzt hatte. »Nachdem er <strong>der</strong> Zarin<br />
vorgestellt worden war«, erzählt zurückhaltend Kobylinski, »sagte mir Kornilow:<br />
"Oberst, lassen Sie uns allein. Gehen Sie, und stellen Sie sich hinter die Tür." Ich ging<br />
hinaus. Nach etwa fünf Minuten rief mich Kornilow. Ich trat wie<strong>der</strong> ein. Die Kaiserin<br />
reichte mir die Hand.« Es ist klar: Kornilow hatte den Oberst als Freund empfohlen. Im<br />
weiteren Verlauf werden wir von den Umarmungsszenen zwischen dem Zaren und<br />
seinem "Gefängniswärter" Kobylinski erfahren. Als Administrator bewies Kornilow auf<br />
seinem neuen Posten völlige Untauglichkeit. »Seine nächsten Mitarbeiter in Petrograd«,<br />
schreibt Stankewitsch, »klagten ständig über seine Unfähigkeit zur Arbeit wie zur<br />
Leitung <strong>der</strong> Geschäfte.« Kornilow hielt sich jedoch in <strong>der</strong> Hauptstadt nicht auf. In den<br />
Apriltagen versuchte er, nicht ohne Miljukows Inspiration, an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den ersten<br />
A<strong>der</strong>laß vorzunehmen, stieß aber auf den Wi<strong>der</strong>stand des Exekutivkomitees, demissionierte,<br />
bekam das Kommando über eine Armee, später über die Südwestfront. Ohne die<br />
legale Einfiihrung <strong>der</strong> Todesstrafe abzuwarten, erteilte Kornilow den Befehl, Deserteure<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 412
zu erschießen und die Leichen mit entsprechenden Aufschriften an den Wegen aufzustellen,<br />
drohte den Bauern mit strengen Strafen wegen Verletzung <strong>der</strong> gutsherrlichen Besitzrechte,<br />
stellte Stoßbataillone auf und drohte bei je<strong>der</strong> passenden Gelegenheit Petrograd<br />
mit <strong>der</strong> Faust. Das umgab seinen Namen in den Augen <strong>der</strong> Offiziere und besitzenden<br />
Klassen sogleich mit einer Aureole. Aber auch viele Kommissare Kerenskis sagten sich:<br />
keine an<strong>der</strong>e Hoffnung außer Kornilow ist mehr geblieben. Einige Wochen später wurde<br />
<strong>der</strong> kriegerische General mit <strong>der</strong> kläglichen Erfahrung seines Divisionskommandos<br />
Oberbefehlshaber <strong>der</strong> in Auflösung befindlichen Vielmillionenarmee, die von <strong>der</strong><br />
Entente gezwungen werden sollte, sich bis zum vollen Siege zu schlagen.<br />
Kornilow schwindelte <strong>der</strong> Kopf. Politisches Analphabetentum und Enge des Horizonts<br />
machten ihn zur leichten Beute von Abenteurern. Eigensinnig seine persönlichen<br />
Vorrechte verteidigend, verfiel <strong>der</strong> »Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Gehirn<br />
eines Hammels«, sie General Alexejew und nach ihm Werchowski Kornilow charakterisierten,<br />
sehr leicht fremden Einflüssen, wenn sie nur <strong>der</strong> Stimme seines Ehrgeizes<br />
entsprachen. Der Kornilow freundlich gesinnte Miljukow vermerkt an ihm »kindliche<br />
Vertrauensseligkeit gegen Menschen, die ihm zu schmeicheln verstanden.« Vertrautester<br />
Inspirator des Höchstkommandierenden, im bescheidenen Range einer Ordonnanz, war<br />
irgendein Sawojko - eine dunkle Persönlichkeit aus einer ehemaligen<br />
Gutsbesitzerfamilie, Petroleumspekulant und Abenteurer -, <strong>der</strong> Kornilow beson<strong>der</strong>s<br />
durch seine Fe<strong>der</strong> imponierte: Sawojko besaß tatsächlich den flotten Stil eines vor nichts<br />
zurückschreckenden Hochstaplers. Die Ordonnanz war Reklameregisseur, Autor <strong>der</strong><br />
Kornilowschen "Volks"biographie, Verfasser von Denkschriften, Ultimata und überhaupt<br />
all jenen Dokumenten, die, nach dem Ausdruck des Generals, »starken, künstlerischen<br />
Stil« erfor<strong>der</strong>ten. Zu Sawojko gesellte sich ein zweiter Abenteurer, Aladjin, ehemaliger<br />
Deputierter <strong>der</strong> ersten Duma, <strong>der</strong> einige Jahre in <strong>der</strong> Emigration verbracht hatte, die<br />
englische Pfeife nicht aus dem Munde ließ und sich deshalb für einen Fachmann in internationalen<br />
Fragen hielt. Diese zwei standen zur Rechten Kornilows und verbanden ihn<br />
mit den Zentren <strong>der</strong> Konterrevolution. Seine linke Flanke deckten Sawinkow und<br />
Filonenko: während sie mit allen Mitteln die übertrieben hohe Seibsteinschätzung des<br />
Generals stützten, waren sie darum besorgt, daß er sich nicht vorzeitig bei <strong>der</strong> Demokratie<br />
unmöglich mache. »Zu ihm kamen Ehrliche und Ehrlose, Aufrichtige und Intriganten,<br />
politische Führer, Krieger und Abenteurer«, schreibt pathetisch General Denikin, »und<br />
alle riefen mit einer Stimme: Rette!.« Wie das Verhältnis von Ehrlichen und Ehrlosen<br />
war, ist nicht leicht festzustellen. Jedenfalls wähnte sich Kornilow ernstlich berufen, zu<br />
"retten", und wurde so direkter Konkurrent Kerenskis.<br />
Die Rivalen haßten einan<strong>der</strong> aufrichtig. »Kerenski hatte sich«, nach den Worten<br />
Martynows, »im Verkehr mit den älteren Generalen einen hochmütigen Ton angeeignet.<br />
Der bescheidene und arbeitsame Alexejew und <strong>der</strong> diplomatische Brjussilow duldeten die<br />
Geringschätzung, doch war diese Taktik unangebracht in bezug auf den selbstgefalligen<br />
und leicht verletzbaren Kornilow, <strong>der</strong> ... seinerseits von oben herab auf den Advokaten<br />
Kerenski blickte.« Der Schwächere von beiden war zu Konzessionen bereit und bot ernstliche<br />
Avancen. Mindestens sagte Ende Juli Kornilow zu Denikin, aus Regierungskreisen<br />
sei ihm vorgeschlagen worden, dem Kabinett beizutreten. »Aber nein! Diese Herren sind<br />
zu sehr mit den Sowjets verbunden ... Ich sagte ihnen: geben Sie mir die Macht, und ich<br />
werde einen entscheidenden Kampf führen.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 413
Unter Kerenskis Füßen schwankte <strong>der</strong> Boden wie Torfmoor. Einen Ausweg suchte er,<br />
wie immer, auf dem Gebiet <strong>der</strong> Wort-improvisationen: sammeln, verkünden, erklären.<br />
Der persönliche Erfolg am 21. Juli, <strong>der</strong> ihn in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Unersetzlichen über<br />
die kämpfrnden Lager <strong>der</strong> Demokratie und Bourgeoisie erhoben hatte, gab Kerenski die<br />
Idee <strong>der</strong> Staatsberatung in Moskau ein. Was im geschlossenen Saal des Winterpalais vor<br />
sich ging, sollte auf die offene Bühne übertragen werden. Möge das Land mit eigenen<br />
Augen sehen, daß alles auseinan<strong>der</strong>fällt, wenn Kerenski nicht Zügel und Peitsche in die<br />
Hand nimmt!<br />
Zur Teilnahme an <strong>der</strong> Staatsberatung wurden - nach <strong>der</strong> offiziellen Liste - hinzugezogen<br />
»Vertreter politischer, öffentlicher, demokratischer, nationaler Organisationen,<br />
Handels-, Industrie-und Kooperativverbände, Leiter <strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Demokratie, höhere<br />
Vertreter <strong>der</strong> Armee, wissenschaftliche Institutionen und Universitäten sowie die Mitglie<strong>der</strong><br />
aller vier Reichsdumas.« Man hatte mit etwa 1.500 Teilnehmern gerechnet, etwa<br />
2.500 versammelten sich, wobei die Erweiterung ausschließlich zugunsten des rechten<br />
Flügels erfolgt war. Die Moskauer Zeitung <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre schrieb vorwurfsvoll<br />
an die Adresse ihrer Regierung: »150 Vertretern <strong>der</strong> Arbeit stehen 120 Vertreter <strong>der</strong><br />
Handels- und Industrieklasse gegenüber. Auf 100 Bauerndeputierte werden 100 Vertreter<br />
<strong>der</strong> Bodenhesitzer eingeladen. Auf 100 Sowjetvertreter kommen 300 Reichsdumamitglie<strong>der</strong><br />
...« Die Zeitung <strong>der</strong> Partei Kerenskis äußerte Zweifel, daß eine solche Beratung<br />
<strong>der</strong> Regierung »jene Stütze, die sie sucht«, bieten könne.<br />
Die Versöhnler fuhren zur Beratung schweren Herzens: Man muß, trösteten sie einan<strong>der</strong>,<br />
den ehrlichen Versuch einer Verständigung machen. Aber was mit den Bolschewiki<br />
tun? Man mußte um jeden Preis ihre Einmischung in den Dialog <strong>der</strong> Demokratie mit den<br />
besitzenden Klassen verhin<strong>der</strong>n. Durch eine beson<strong>der</strong>e Verfügung des Exekutivkornitees<br />
wurden die Parteifraktionen des Rechts beraubt, ohne Zustimmung des Präsidiums aufzutreten.<br />
Die Bolschewiki hatten beschlossen, namens ihrer Partei eine Deklaration abzugeben<br />
und die Beratung zu verlassen. Das Präsidium, das jede ihrer Bewegungen scharf<br />
überwachte, verlangte von ihnen Verzicht auf dieses verbrecherische Vorhaben. Daraufhin<br />
gaben die Bolschewiki ohne Zau<strong>der</strong>n die Eintrittskarten zurück. Sie bereiteten eine<br />
an<strong>der</strong>e, eindrucksvollere Antwort vor: das Wort hatte das proletarische Moskau.<br />
Fast von den ersten <strong>Revolution</strong>stagen an stellten die Ordnungsanhänger bei je<strong>der</strong><br />
passenden Gelegenheit das ruhige "Land" dem unruhigen Petrograd gegenüber. Die<br />
Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung nach Moskau war eine <strong>der</strong> Parolen <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie. Der nationalliberale "Marxist" Potressow sandte Flüche gegen Petrograd,<br />
das sich einbilde, »ein neues Paris« zu sein. Als hätten nicht die Girondisten gegen das<br />
alte Paris gewettert und ihm nahegelegt, seine Rolle auf ein Dreiundachtzigstel zu<br />
beschränken Ein Provinzmenschewik sagte im Juni auf dem Sowjetkongreß: »Irgendein<br />
Nowotscherkassk spiegelt viel wahrheitsgetreuer die Lebensbedingungen des gesamten<br />
Rußland wi<strong>der</strong> als Petrograd.« Im Grunde suchten Versöhnler wie Bourgeoisie eine<br />
Stütze nicht in den wirklichen Stimmungen des "Landes" son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> von ihnen selbst<br />
geschaffenen tröstlichen Illusion. Jetzt, wo es bevorstand, den politischen Puls Moskaus<br />
zu prüfen, erwartete die Organisatoren <strong>der</strong> Beratung bitterste Enttäuschung.<br />
Die seit den ersten Augusttagen einan<strong>der</strong> ablösenden konterrevolutionären Beratungen,<br />
beginnend mit dem Kongreß <strong>der</strong> Bodenbesitzer bis zur Kirchenversammlung, hatten<br />
nicht nur die besitzenden Kreise Moskaus mobilisiert, son<strong>der</strong>n auch die Arbeiter und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 414
Soldaten auf die Beine gebracht. Rjabuschinskis Drohungen, Rodsjankos Aufrufe, die<br />
Verbrü<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kadetten mit den Kosakengeneralen - das alles spielte sich vor den<br />
Augen <strong>der</strong> unteren Schichten Moskaus ab, das alles wurde von den bolschewistischen<br />
Agitatoren nach den heißen Spuren <strong>der</strong> Zeitungsberichte ausgedeutet. Die Gefahr <strong>der</strong><br />
Konterrevolution nahm diesmal greifbare, sogar personelle Formen an. Durch Fabriken<br />
und Werkstätten ging eine Empörungswelle. »Wenn die Sowjets ohnmächtig sind«,<br />
schrieb das Moskauer Blatt <strong>der</strong> Bolschewiki, »dann muß sich das Proletariat um seine<br />
lebensfahigen Organisationen zusammenschließen.« Auf den ersten Platz rückten die<br />
Gewerkschaften, die bereits in ihrer Mehrheit unter bolschewistischer Leitung standen.<br />
Die Stimmung in den Betrieben war <strong>der</strong> Staatsberatung <strong>der</strong>art feindlich, daß <strong>der</strong> von<br />
unten aufgetauchte Gedanke des Generalstreiks in <strong>der</strong> Versammlung sämtlicher Zellenvertreter<br />
<strong>der</strong> Moskauer bolschewistischen Organisation fast wi<strong>der</strong>spruchslos angenommen<br />
wurde. Die Gewerkschaften ergriffen die Initiative. Der Moskauer Sowjet sprach<br />
sich mit einer Mehrheit von dreihun<strong>der</strong>tvierundsechzig zu dreihun<strong>der</strong>tvier Stimmen<br />
gegen den Streik aus. Da aber in den Fraktionssitzungen die menschewistischen und<br />
sozialrevolurionären Arbeiter für den Streik gestimmt und sich nur <strong>der</strong> Parteidisziplin<br />
unterworfen hatten, so konnte <strong>der</strong> Beschluß des seit langem nicht mehr neu gewählten<br />
Sowjets, überdies gegen den Willen <strong>der</strong> faktischen Mehrheit angenommen, die Moskauer<br />
Arbeiter am allerwenigsten zurückhalten. Eine Versammlung <strong>der</strong> Verwaltungsmitglie<strong>der</strong><br />
von einundvierzig Gewerkschaften beschloß, die Arbeiter zu einem eintägigen Proteststreik<br />
aufzurufen. Die Bezirkssowjets waren in <strong>der</strong> Mehrzahl auf seiten <strong>der</strong> Partei und<br />
<strong>der</strong> Gewerkschaften. Die Betriebe stellten sogleich die For<strong>der</strong>ung nach einer Neuwahl<br />
des Moskauer Sowjets, <strong>der</strong> nicht nur hinter den Massen zurückgeblieben, son<strong>der</strong>n auch<br />
in scharfen Gegensatz zu ihnen geraten war. Im Samoskworetzker Bezirkssowjet und den<br />
dortigen Fabrikkomitees vereinigte die For<strong>der</strong>ung nach Ersetzung <strong>der</strong> Deputierten, »die<br />
gegen den Willen <strong>der</strong> Arbeiterklasse« handelten, hun<strong>der</strong>tfünfundsiebzig gegen vier<br />
Stimmen bei neunzehn Stimmenthaltungen!<br />
Die Nacht vor dem Streik war für die Moskauer Bolschewiki nichtsdestoweniger eine<br />
unruhige Nacht. Das Land ging den Weg Petrograds, blieb aber hinter Petrograd zurück.<br />
Die Julidemonstration in Moskau hatte mit einem Mißerfolg geendet: die Mehrheit nicht<br />
nur <strong>der</strong> Garnison, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Arbeiter hatte nicht gewagt, gegen die Stimme des<br />
Sowjets auf die Straße zu gehen. Wie wird es diesmal werden? Der Morgen brachte die<br />
Antwort. Der Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Versöhnler hatte nicht verhin<strong>der</strong>n können, daß <strong>der</strong> Streik<br />
zu einer machtvollen Demonstration <strong>der</strong> Feindschaft gegen Koalition und Regierung<br />
wurde. Zwei Tage zuvor hatte die Zeitung <strong>der</strong> Moskauer Industriellen selbstsicher<br />
geschrieben: »Mag doch die Petrogra<strong>der</strong> Regierung so schnell wie möglich nach Moskau<br />
kommen, mag sie die Stimme <strong>der</strong> Heiligtümer, <strong>der</strong> Glocken <strong>der</strong> heiligen Kremltürme<br />
vernehmen« ... Heute war die Stimme <strong>der</strong> Heiligtümer übertönt von <strong>der</strong> Stille vor dem<br />
Sturm.<br />
Das Mitglied des Moskauer Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki Pjatnitzki, schrieb später: »Der<br />
Streik ... verlief großartig. Es gab kein Licht, keine Trambahn; Fabriken, Betriebe,<br />
Eisenbahnwerkstätten und -depots feierten, sogar die Kellner in den Restaurants streikten.«<br />
Miljukow brachte in das Bild einen grellen Strich hinein: »Die zur Beratung eingetroffenen<br />
Delegierten ... konnten we<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Tram fahren, noch im Restaurant<br />
frühstücken«: das gestattete ihnen, nach dem Geständnis des liberalen Historikers, um so<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 415
esser die Macht <strong>der</strong> zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki einzuschätzen. Die<br />
'Iswestja' des Moskauer Sowjets kennzeichnete erschöpfend die Bedeutung <strong>der</strong> Manifestation<br />
vom 12. August: »Entgegen dem Beschluß des Sowjets ... folgten die Massen den<br />
Bolschewiki.« Vierhun<strong>der</strong>ttausend Arbeiter streikten in Moskau und Umgebung auf<br />
Auffor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Partei, die seit fünf Wochen dauernd Schlägen ausgesetzt gewesen und<br />
<strong>der</strong>en Führer sich noch immer verborgen hielten o<strong>der</strong> in Gefängnissen saßen. Das neue<br />
Petrogra<strong>der</strong> Parteiorgan 'Proletarij' konnte noch, bevor es verboten wurde, an die<br />
Versöhnler die Frage richten: »Aus Petrograd nach Moskau, und aus Moskau wohin?«<br />
Die Herren <strong>der</strong> Lage mußten sich wohl selbst diese Frage stellen. In Kiew, Kostroma,<br />
Zarizyn wurden eintägige Proteststreiks, allgemeine o<strong>der</strong> Teilstreiks, durchgeführt. Die<br />
Agitation ergriff das ganze Land. Überall, auch in den entferntesten Winkeln, warnten<br />
die Bolschewiki, die Staatsberatung trage »den ausgesprochenen Charakter einer konterrevolutionären<br />
Verschwörung«: gegen Ende August offenbarte sich die Richtigkeit<br />
dieser Formel restlos vor den Augen des ganzen Volkes.<br />
Die Delegierten <strong>der</strong> Beratung sowie das bürgerliche Moskau erwarteten bewaffnete<br />
Massenaufmärsche, Zusammenstöße, Kämpfe, "Augusttage". Aber auf die Straße zu<br />
gehen, hätte für die Arbeiter geheißen, sich den Schlägen <strong>der</strong> Georgsritter, Offiziersabteilungen,<br />
Junker, einzelner Kavallerieteile auszusetzen, die vor Revancheverlangen wegen<br />
des Streiks brannten. Die Garnison auf die Straße zu rufen, hätte bedeutet, Spaltung in sie<br />
hineinzutragen und <strong>der</strong> Konterrevolution die Sache zu erleichtern, die mit gespanntem<br />
Hahn dastand. Die Partei rief nicht auf die Straße, und die Arbeiter, von einem richtigen<br />
Instinkt geleitet, mieden offene Zusammenstöße. Der eintägige Streik entsprach, wie es<br />
besser nicht möglich war, <strong>der</strong> Situation: man konnte ihn nicht unter das grüne Tuch<br />
verstecken, wie es die Beratung mit <strong>der</strong> Deklaration <strong>der</strong> Bolschewiki getan hatte. Als die<br />
Stadt sich in Dunkelheit hüllte, erkannte ganz Rußland die bolschewistische Hand am<br />
Stromschalter. Nein, Petrograd ist nicht isoliert »In Moskau, auf dessen patriarchalisches<br />
Wesen und dessen Demut so viele gehofft hatten, fletschten die Arbeiterbezirke ganz<br />
unerwartet die Zähne«, so kennzeichnete die Bedeutung des Tages Suchanow. In<br />
Abwesenheit <strong>der</strong> Bolschewiki, aber im Zeichen <strong>der</strong> gefletschten Zähne <strong>der</strong> proletarischen<br />
<strong>Revolution</strong> war die Koalitionsberatung zu tagen gezwungen.<br />
Die Moskauer spotteten: Kerenski sei zu ihnen »zur Krönung« gekommen. Doch am<br />
nächsten Tage traf aus dem Hauptquartier mit dem gleichen Ziele Kornilow ein, empfangen<br />
von zahlreichen Delegationen, darunter auch einer <strong>der</strong> Kirchenversammlung. Auf<br />
den Perron sprangen aus dem einlaufenden Zuge Tekiner in langen grellroten Mänteln<br />
mit gezückten Krummsäbeln und stellten sich in Doppelreihen auf. Begeisterte Damen<br />
bewarfen den Helden, <strong>der</strong> Wachen und Deputationen abschritt, mit Blumen. Der Kadett<br />
Roditschew schloß seine Begrüßungsrede mit dem Ruf: »Retten Sie Rußland, und das<br />
dankbare Volk wird Sie krönen.« Patriotische Schluchzer ertönten. Die vielfache Millionärin<br />
und Kaufmannsfrau Morosow fiel in die Knie. Offiziere trugen Kornilow auf den<br />
Händen zum Volke. Während <strong>der</strong> Höchstkommandierende die Front <strong>der</strong><br />
Georgskavaliere, Junker, Fähnrichsschüler, Kosakenhun<strong>der</strong>tschaft auf dem Platz vor dem<br />
Bahnhof abschritt, nahm Kerenski als Kriegsminister und Rivale die Truppenparade <strong>der</strong><br />
Moskauer Garnison ab. Vom Bahnhof begab sich Kornilow, den Spuren <strong>der</strong> Zaren<br />
folgend, zum Iwerschen Heiligenbild, vor dem ein Gottesdienst abgehalten wurde in<br />
Gegenwart einer Eskorte von muselmanischen Tekinern mit gigantischen kaukasischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 416
Pelzmützen. »Dieser Umstand«, schreibt über den Gottesdienst <strong>der</strong> Kosakenoffizier<br />
Grekow, »hat das gesamte gläubige Moskau noch mehr für Kornilow eingenommen.«<br />
Die Konterrevolution war unterdessen bemüht, die Straße für sich zu gewinnen. Aus<br />
Automobilen verteilte man großzügig Kornilows Biographie mit seinem Porträt. Die<br />
Mauern waren mit Plakaten beklebt, die das Volk zur Hilfeleistung für den Helden<br />
aufriefen. Wie ein Herrscher empfing Kornilow in seinem Waggon Politiker, Industrielle<br />
und Finanzleute. Vertreter <strong>der</strong> Banken erstatteten ihm Bericht über die Finanzlage des<br />
Landes. »Von allen Dumamitglie<strong>der</strong>n«, schreibt bedeutungsvoll <strong>der</strong> Oktobrist Schidlowski,<br />
»begab sich zu Kornilow in den Zug nur Miljukow, <strong>der</strong> mit ihm eine Unterredung<br />
hatte, <strong>der</strong>en Inhalt mir nicht bekannt ist.« Über dieses Gespräch werden wir später durch<br />
Miljukow selbst erfahren, was zu berichten er für notwendig halten wird.<br />
Die Vorbereitung <strong>der</strong> Militärumwälzung war zu dieser Zeit bereits in vollem Gange.<br />
Einige Tage vor <strong>der</strong> Beratung hatte Kornilow, unter dem Vorwand <strong>der</strong> Hilfeleistung für<br />
Riga, befohlen, für den Marsch auf Petrograd vier Kavalleriedivisionen in Bereitschaft zu<br />
halten. Das Orenburger Kosakenregiment war vom Hauptquartier nach Moskau entsandt<br />
worden »zur Sicherung <strong>der</strong> Ordnung«, wurde aber auf Kerenskis Befehl unterwegs<br />
aufgehalten. In seinen späteren Angaben vor <strong>der</strong> Untersuchungskommission in Sachen<br />
Kornilow sagte Kerenski aus: »Wir erhielten die Nachricht, daß während <strong>der</strong> Moskauer<br />
Beratung die Diktatur proklamiert werden würde.« So beschäftigten sich in den feierlichen<br />
Tagen <strong>der</strong> nationalen Einheit Kriegsminister und Höchstkommandieren<strong>der</strong> mit<br />
strategischen Truppenverschiebungen gegegeneinan<strong>der</strong>. Doch das Dekorum wurde nach<br />
Möglichkeit gewahrt. Die Beziehungen <strong>der</strong> beiden Lager schwankten zwischen offiziell<br />
freundschaftlichen Versicherungen und Bürgerkrieg.<br />
In Petrograd wurden trotz <strong>der</strong> Zurückhaltung <strong>der</strong> Massen - die Juli-erfahrung war nicht<br />
spurlos geblieben - von oben, aus Stäben und Redaktionen, mit toller Beharrlichkeit<br />
Gerüchte verbreitet über einen bevorstehenden Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Petrogra<strong>der</strong><br />
Parteiorganisationen wamten in einem offenen Aufruf die Massen vor <strong>der</strong> Möglichkeit<br />
provokatorischer Appelle seitens <strong>der</strong> Feinde. Der Moskauer Sowjet traf inzwischen<br />
seine Maßnahmen. Es wurde ein nichtöffentliches revolutionäres Komitee aus sechs<br />
Personen geschaffen, je zwei Delegierte von je<strong>der</strong> Sowjetpartei einschließlich <strong>der</strong><br />
Bolschewiki. Durch einen Geheimbefehl wurde verboten, auf dem Weg, den Kornilow<br />
zu passieren hatte, Spaliere aus Georgsrittern, Offizieren und Junkern aufzustellen. Den<br />
Bolschewiki, denen seit den Julitagen <strong>der</strong> Zutritt zu den Kasernen offiziell verboten war,<br />
stellte man jetzt bereitwillig Passierscheine aus: ohne Bolschewiki konnte man die Soldaten<br />
nicht gewinnen. Während auf offener Bühne Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
mit <strong>der</strong> Bourgeoisie über Schaffung einer festen Macht gegen die von den Bolschewiki<br />
geleiteten Massen verhandelten, bereiteten hinter den Kulissen die gleichen Menschewiki<br />
und Sozial-revolutionäre gemeinsam mit den von ihnen zur Beratung nicht zugelassenen<br />
Bolschewiki die Massen auf den Kampf gegen die Verschwörung <strong>der</strong> Bourgeoisie vor.<br />
Die Versöhnler, die sich noch gestern dem Demonstrationsstreik wi<strong>der</strong>setzt hatten, riefen<br />
heute die Arbeiter und Soldaten auf, zum Kampfe zu rüsten. Die verachtungsvolle<br />
Empörung <strong>der</strong> Massen hin<strong>der</strong>te diese nicht, auf die Auffor<strong>der</strong>ung mit einer Kampfbereitschaft<br />
zu reagieren, die die Versöhnler mehr erschreckte als erfreute. Die schreiend<br />
krasse Zwiespältigkeit, die den Charakter eines fast offenen Treubruches nach zwei<br />
Richtungen hin annahm, wäre unbegreiflich, würden die Versöhnler ihre Politik bewußt<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 417
getrieben haben; in Wirklichkeit hatten sie nur <strong>der</strong>en Folgen zu erdulden.<br />
Große Ereignisse hingen merklich in <strong>der</strong> Luft. Aber in den Tagen <strong>der</strong> Beratung war die<br />
Umwälzung offenbar von niemand geplant gewesen. Jedenfalls findet sich keine Bestätigung<br />
<strong>der</strong> Gerüchte, auf die sich Kerenski später berief, we<strong>der</strong> in Dokumenten, noch in<br />
<strong>der</strong> Versöhnlerliteratur, noch in den Memoiren des rechten Flügels. Es handelte sich<br />
einstweilen nur um die Vorbereitungen. Nach Miljukows Worten - und seine Angaben<br />
decken sich mit <strong>der</strong> weiteren Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse - hatte Kornilow selbst bereits<br />
vor <strong>der</strong> Beratung das Datum seines Vorgehens gewählt: den 27. August. Dieses Datum<br />
war selbstverständlich nur wenigen bekannt. Die Halbeingeweihten rückten, wie stets in<br />
solchen Fällen, den Tag <strong>der</strong> großen Ereignisse näher heran, und die vorauseilenden<br />
Gerüchte liefen von allen Seiten bei den Behörden ein: es schien, als müsse sich <strong>der</strong><br />
Schlag die nächste Stunde entladen.<br />
Aber gerade die erregte Stimmung <strong>der</strong> Bourgeoisie und Offizierskreise hätte in<br />
Moskau leicht, wenn nicht zum Versuch einer Umwälzung, so doch zu einer konterrevolutionären<br />
Demonstration zwecks Kraftprobe führen können. Noch wahrscheinlicher<br />
wäre <strong>der</strong> Versuch gewesen, aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Beratung heraus irgendein mit den Sowjets<br />
konkurrierendes Zentrum für die Rettung des Vaterlandes zu schaffen: davon sprach die<br />
rechte Presse ganz offen. Aber auch hierzu kam es nicht: die Massen verhin<strong>der</strong>ten es.<br />
Mochte auch manchem <strong>der</strong> Gedanke vorgeschwebt haben, die Entscheidungsstunde zu<br />
beschleunigen, so mußte man sich unter dem Schlag des Streiks doch sagen: die <strong>Revolution</strong><br />
zu überraschen, wird nicht gelingen, die Arbeiter und Soldaten sind auf <strong>der</strong> Hut, man<br />
muß es vertagen. Sogar die Volksprozession zum Iwerschen Heiligenbild, von Popen und<br />
Liberalen im Einverständnis mit Kornilow geplant wurde abgesagt.<br />
Sobald sie erkannten, daß keine unmittelbare Gefahr bestand, beeilten sich Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki so zu tun, als sei nichts Beson<strong>der</strong>es geschehen. Sie weigerten<br />
sich sogar, den Bolschewiki die Passierscheine für die Kasernen zu erneuern, obwohl<br />
man von dort dringend bolschewistische Redner verlangte. »Der Mohr hat seine Schuldigkeit<br />
getan«, dürften sich mit pfiffiger Miene Zeretelli, Dan und Chintschuk, <strong>der</strong><br />
damalige Vorsitzende des Moskauer Sowjets, gesagt haben. Die Bolschewiki gedachten<br />
aber gar nicht in die Lage des Mohren überzugehen. Sie waren erst daran, ihre Schuldigkeit<br />
zu tun.<br />
Jede Klassengesellschaft benötigt einen einheitlichen Regierungs~ willen. Die Doppelherrschaft<br />
ist dem Wesen nach das Regime <strong>der</strong> sozialen Krise: die höchste Zerklüftung<br />
einer Nation darstellend, birgt sie in sich den offenen o<strong>der</strong> potentiellen Bürgerkrieg<br />
Keiner wollte länger die Doppelherrschaft. Im Gegenteil, alle sehnten sich nach einer<br />
starken, einigen "eisernen" Macht. Die Juliregierung Kerenskis war ausgestattet mit<br />
unbeschränkten Vollmachten Die stille Absicht war, über Demokratie und Bourgeoisie,<br />
die einan<strong>der</strong> paralysierten, mit bei<strong>der</strong>seitigem Einverständnis eine "richtige" Macht zu<br />
stellen. Die Idee eines über den Klassen stehenden Schicksallenkers ist nichts an<strong>der</strong>es als<br />
die Idee des Bonapartismus<br />
Steckt man symmetrisch zwei Gabeln in einen Korken, dann kann er bei starken<br />
Schwankungen nach beiden Seiten sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten: das eben<br />
ist das mechanische Modell des bonapartistischen Superarbiters. Der Grad <strong>der</strong> Solidarität<br />
einer solchen Macht, sieht man von internationalen Bedingungen ab, wird bestimmt<br />
durch die Stabilität des Gleichgewichts <strong>der</strong> antagonistischen Klassen im Innern des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 418
Landes. Mitte Mai bezeichnete Trotzki in einer Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets<br />
Kerenski als den »mathematischen Punkt des <strong>russischen</strong> Bonapartismus«. Die Körperlosigkeit<br />
bei <strong>der</strong> Charakteristik beweist, daß dabei nicht die Person, son<strong>der</strong>n die Funktion<br />
gemeint war. Anfang Juli hatten, wie wir uns erinnern, sämtliche Minister auf Anweisung<br />
ihrer Parteien demissioniert und Kerenski die Schaffung einer neuen Regierung<br />
überlassen. Am 21. Juli wie<strong>der</strong>holte sich dieses Experiment in demonstrativer Form. Die<br />
feindlichen Parteien appellierten an Kerenski, jede sah in ihm einen Teil ihrer selbst,<br />
beide schworen ihm Treue. Trotzki schrieb aus dem Gefängnis: »Geleitet von Politikern,<br />
die vor je<strong>der</strong> Sache Angst haben, wagte <strong>der</strong> Sowjet nicht, die Macht zu übernehmen. Die<br />
Vertreterin aller Cliquen des Besitzes, die Kadettenpartei, konnte die Macht noch nicht<br />
ergreifen. Es blieb nur übrig, einen großen Versöhnler, Vermittler, Schiedsrichter zu<br />
suchen.«<br />
In dem von Kereriski im eigenen Namen veröffentlichten Manifest an das Volk wurde<br />
verkündet: »Ich, als Regierungshaupt ... glaube mich nicht berechtigt, davor zurückzuscheuen,<br />
daß Verän<strong>der</strong>ungen [in <strong>der</strong> Machtkonstruktion] ... meine Verantwortung in<br />
Sachen <strong>der</strong> obersten Verwaltung steigern würden.« Das ist die unverfälschliche Phraseologie<br />
des Bonapartismus. Und doch ging die Sache, trotz <strong>der</strong> Unterstützung von rechts<br />
und von links, über diese Phraseologie nicht hinaus. Was war <strong>der</strong> Grund?<br />
Damit <strong>der</strong> kleine Korse sich über die junge bürgerliche Nation erheben konnte, war es<br />
notwendig, daß die <strong>Revolution</strong> zuvor ihre grundlegende Aufgabe, Zuteilung von Land an<br />
die Bauern, löste und daß auf <strong>der</strong> neuen sozialen Basis eine siegreiche Armee entstand.<br />
Weiter konnte eine <strong>Revolution</strong> im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht gehen: sie konnte danach nur<br />
zurückrollen. Bei diesem Zurückrollen kamen allerdings ihre grundlegenden Eroberungen<br />
in Gefahr. Die mußten um jeden Preis geschützt werden. Der sich vertiefende, aber<br />
noch unreife Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat hielt die bis in ihre<br />
Festen erschütterte Nation in höchster Spannung. Ein nationaler "Richter" war unter<br />
diesen Umständen unentbehrlich. Napoleon sicherte dem Großbourgeois die Möglichkeit<br />
<strong>der</strong> Bereicherung, den Bauern ihren Bodenbesitz, den Bauernsöhnen und Landstreichern<br />
die Gelegenheit, im Kriege zu plün<strong>der</strong>n. Der Richter hielt in den Händen den Säbel und<br />
erfüllte selbst die Pflichten des Gerichtsvollziehers. Der Bonapartismus des ersten<br />
Bonaparte war solide fundiert.<br />
Die Umwälzung von 1848 gab den Bauern kein Land und konnte es ihnen nicht geben:<br />
es war nicht eine große <strong>Revolution</strong>, die ein soziales Regime durch ein an<strong>der</strong>es ablöste,<br />
son<strong>der</strong>n eine politische Umschichtung auf <strong>der</strong> Basis des gleichen sozialen Regimes.<br />
Napoleon III. hatte hinter sich keine siegreiche Armee. Die beiden wichtigsten Elemente<br />
des klassischen Bonapartismus waren nicht vorhanden. Doch es gab an<strong>der</strong>e günstige,<br />
nicht weniger wirksame Momente. Das während eines halben Jahrhun<strong>der</strong>ts herangewachsene<br />
Proletariat zeigte im Juni seine dräuende Kraft; jedoch zur Machtergreifung erwies<br />
es sich noch nicht fähig. Die Bourgeoisie fürchtete das Proletariat und fürchtete ihren<br />
blutigen Sieg über das Proletariat. Der bäuerliche Besitzer erschrak vor dem Juniaufstand<br />
und wollte durch den Staat gegen den Teiler geschützt sein. Scbließlich eröffnete <strong>der</strong><br />
mächtige Industrieaufstieg, <strong>der</strong> mit kleinen Stockungen sich über zwei Jahrzehnte<br />
erstreckte, <strong>der</strong> Bourgeoisie ungeahnte Bereicherungsquellen. Diese Bedingungen waren<br />
nicht ausreichend ftir den epigonenhaften Bonapartismus.<br />
Die Politik Bismarcks, <strong>der</strong> sich ebenfalls "über die Klassen" erhob, enthielt, worauf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 419
wie<strong>der</strong>holt hingewiesen wurde, zweifellos bonapartistische Züge, wenn auch unter <strong>der</strong><br />
Hülle des Legitimismus. Die Stabilität des Bismarckschen Regimes wurde dadurch<br />
gesichert, daß es, entstanden nach <strong>der</strong> impotenten <strong>Revolution</strong> zur Lösung o<strong>der</strong> Halblösung<br />
einer so großen nationalen Aufgabe wie <strong>der</strong> deutschen Einheit führte, in drei<br />
Kriegen Siege, Kontributinnen und die mächtige kapitalistische Blüte brachte. Dies<br />
genügte für Jahrzehnte.<br />
Das Unglück <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bonapartekandidaten bestand nicht darin, daß sie we<strong>der</strong><br />
dem ersten Napoleon noch auch nur Bismarck ähnelten: die <strong>Geschichte</strong> vermag sich auch<br />
mit Surrogaten zu begnügen. Aber sie hatten gegen sich eine große <strong>Revolution</strong>, die ihre<br />
Aufgaben noch nicht gelöst und ihre Kräfte noch nicht erschöpft hatte. Den Bauer, <strong>der</strong><br />
noch keinen Boden erhalten hatte, zwang die Bourgeoisie, für den gutsherrlichen Boden<br />
Krieg zu führen. Der Krieg brachte nur Nie<strong>der</strong>lagen. Von einem industriellen Aufstieg<br />
war nicht die Rede im Gegenteil, <strong>der</strong> Zerfall schuf immer neue Verwüstungen. Wenn das<br />
Proletariat zurückwich, dann nur, um seine Reihen fester zusammenzuschließen. Die<br />
Bauernschaft setzte sich erst in Schwung für den letzten Ansturm auf die Herren. Die<br />
unterdrückten Nationalitäten ergriffen die Offensive gegen den russifizierenden Despotismus.<br />
Auf <strong>der</strong> Suche nach Frieden schloß sich die Armee immer enger den Arbeitern<br />
und <strong>der</strong>en Partei an. Die unteren Schichten verschmolzen, die Spitzen wurden<br />
schwächer. Ein Gleichgewicht bestand nicht. Die <strong>Revolution</strong> blieb vollblütig. Da ist es<br />
nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß sich <strong>der</strong> Bonapartismus als blutarm erwies.<br />
Marx und Engels verglichen die Rolle des bonapartistischen Regimes im Kampfe<br />
zwischen Bourgeoisie und Proletariat mit <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> alten absolutistischen Monarchie<br />
im Kampfe zwischen Feudalen und Bourgeoisie. Ähnlichkeitszüge sind unbestreitbar,<br />
doch hören sie gerade dort auf, wo <strong>der</strong> soziale Inhalt <strong>der</strong> Macht hervortritt. Die Rolle des<br />
Schiedrichters zwischen den Elementen <strong>der</strong> alten und <strong>der</strong> neuen Gesellschaft konnte in<br />
einer gewissen Periode sich als nötig erweisen, insofern beide Ausbeutungsregime eines<br />
Schutzes gegen die Ausgebeuteten bedurften. Doch schon zwischen den Feudalen und<br />
den leibeigenen Bauern konnte es keine "unparteiische" Vermittlung geben. Zwischen<br />
den Interessen des gutsherrlichen Bodenbesitzes und des jungen Kapitalismus ausgleichend,<br />
trat das zaristische Selbstherrschertum in bezug auf die Bauern nicht als Vermittler<br />
auf, son<strong>der</strong>n als Bevollmächtigter <strong>der</strong> ausbeutenden Klassen.<br />
Auch <strong>der</strong> Bonapartismus war nicht Schiedsrichter zwischen Proletariat und Bourgeoisie:<br />
er war in Wirklichkeit die konzentrierteste Macht <strong>der</strong> Bourgeoisie über das Proletariat.<br />
Indem er mit den Stiefeln auf den Nacken <strong>der</strong> Nation steigt, kann <strong>der</strong> jeweilige<br />
Bonaparte keine an<strong>der</strong>e Politik verfolgen als die des Schutzes von Eigentum, Rente und<br />
Profit. Die Beson<strong>der</strong>heiten des Regimes erstrecken sich nur auf die Mittel des Schutzes.<br />
Der Wächter steht nicht am Tore, son<strong>der</strong>n sitzt auf dem Dache des Hauses; aber seine<br />
Funktion ist die gleiche. Die Unabhängigkeit des Bonapartismus ist im großen Maße eine<br />
äußerliche, zur Schau gestellte, dekorative: ihr Symbol ist <strong>der</strong> Imperatorenmantel.<br />
Wenngleich er geschickt die Angst des Bourgeois vor dem Arbeiter ausnutzte, blieb<br />
Bismarck in allen seinen politischen und sozialen Reformen unabän<strong>der</strong>lich Bevollmächtigter<br />
<strong>der</strong> besitzenden Klassen, denen er niemals untreu wurde. Dagegen erlaubte ihm <strong>der</strong><br />
wachsende Druck des Proletariats zweifellos, sich über Junkertum und Kapitalismus als<br />
gewichtiger bürokratischer Schiedsrichter zu erheben: darin eben bestand seine Funktion.<br />
Das Sowjetsystem duldet eine bedeutende Unabhängigkeit <strong>der</strong> Macht gegenüber Prole-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 420
tariat und Bauernschaft, folglich auch die "Vermittlung" zwischen ihnen, insofern bei<strong>der</strong><br />
Interessen, wenn sie auch Reibungen und Konflikte erzeugen, in ihrer Grundlage jedoch<br />
nicht unversöhnlich sind. Aber es wäre nicht leicht, einen "unparteiischen" Schiedsrichter<br />
zu finden zwischen Sowjetstaat und Bourgeoisie, zumindest in <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> grundlegenden<br />
Interessen bei<strong>der</strong> Parteien. Sich dem Völkerbund anzuschließen, hin<strong>der</strong>n die<br />
Sowjetunion in <strong>der</strong> internationalen Arena die gleichen sozialen Ursachen, die im nationalen<br />
Rahmen die Möglichkeit einer wirklichen, nicht bloß zur Schau gestellten "Unparteilichkeit"<br />
<strong>der</strong> Macht im Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausschließen.<br />
Ohne die Macht des Bonapartismus zu besitzen, besaß die Kerenskiade alle seine<br />
Laster. Sie erhob sich über die Nation nur, um sie durch die eigene Ohnmacht zu<br />
ersetzen. Wenn in Worten die Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie und <strong>der</strong> Demokratie auch versprachen,<br />
Kerenski zu "gehorchen", so gehorchte <strong>der</strong> allmächtige Schiedsrichter in Wirklichkeit<br />
Miljukow und beson<strong>der</strong>s Buchanan. Kerenski führte den imperialistischen Krieg,<br />
schützte den gutsherrlichen Besitz gegen Attentate, vertagte die sozialen Reformen auf<br />
bessere Zeiten. War seine Regierung schwach, so aus dem gleichen Grunde, aus dem die<br />
Bourgeoisie ihre eigenen Männer nicht an die Macht zu stellen vermochte. Doch bei aller<br />
Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> "Rettungsregierung" wuchs ihr konservativ-kapitalistischer<br />
Charakter sichtlich zugleich mit ihrer "Unabhängigkeit".<br />
Die Einsicht, daß das Kerenski-Regime die für die gegebene Periode unvermeidliche<br />
Form <strong>der</strong> bürgerlichen Herrschaft darstellte, schloß bei den bürgerlichen Politikern we<strong>der</strong><br />
höchste Unzufriedenlieit mit Kerenski aus, noch die Vorbereitung darauf, sich von ihm<br />
so schnell wie möglich zu befreien. Unter den besitzenden Klassen herrschten keine<br />
Meinungsverschiedenheiten darüber, daß dem von <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie<br />
emporgehobenen nationalen Schiedsrichter eine Figur aus den eigenen Reihen gegenübergestellt<br />
werden müsse. Weshalb gerade Kornilow? Der Kandidat für den Bonaparte<br />
mußte dem Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie, <strong>der</strong> verspäteten, vom Volke<br />
getrennten, verfallenden, talentlosen Bourgeoisie, entsprechen. In <strong>der</strong> Armee, die fast nur<br />
entwürdigende Nie<strong>der</strong>lagen kannte, war es nicht leicht, einen populären General zu<br />
finden. Kornilow wurde in den Vor<strong>der</strong>grund geschoben nach Ausscheidung <strong>der</strong> übrigen<br />
Kandidaten, die noch unfähiger waren.<br />
Somit konnten die Versöhnler sich mit den Liberalen we<strong>der</strong> ernsthaft in einer Koalition<br />
zusanimenschließen noch auf einen Retterkandidaten einigen: es hin<strong>der</strong>ten sie die<br />
ungelösten Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Die Liberalen trauten den Demokraten nicht. Die<br />
Demokraten trauten den Liberalen nicht. Kerenski öffnete zwar <strong>der</strong> Bourgeoisie weit<br />
seine Arme; aber Kornilow gab unzweideutig zu verstehen, daß er bei <strong>der</strong> ersten<br />
Gelegenheit <strong>der</strong> Demokratie das Genick umdrehen werde. Der Zusammenstoß zwischen<br />
Kornilow und Kerenski, <strong>der</strong> sich unabwendbar aus <strong>der</strong> vorangegangenen Entwicklung<br />
ergab, war die Übersetzung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> Doppelherrschaft in die explosive<br />
Sprache persönlichen Ehrgeizes.<br />
Wie sich in Petrograd Anfang Juli in Proletariat und Garnison eine ungeduldige, mit<br />
<strong>der</strong> zu vorsichtigen Politik <strong>der</strong> Bolschewiki unzufriedene Phalanx bildete, so häufte sich<br />
in den besitzenden Klassen Anfang August eine ungeduldige Stimmung gegen die<br />
abwartende Politik <strong>der</strong> kadettischen Leitung an. Diese Stimmung kam beispielsweise auf<br />
dem Kadettenkongreß zum Ausdruck wo For<strong>der</strong>ungen laut wurden, Kerenski zu stürzen.<br />
Noch schroffer äußerte sich die politische Ungeduld außerhalb des Rahmens <strong>der</strong> Kadet-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 421
tenpartei, in den Militärstäben, wo man in ständiger Angst vor den Soldaten lebte, in den<br />
Banken, wo man in Infiationswellen ertrank, auf den Gütern, wo über den adligen<br />
Häuptern die Dächer auflo<strong>der</strong>ten. »Es lebe Kornilow!« wurde die Parole <strong>der</strong> Hoffnung,<br />
Verzweiflung und Rachgier.<br />
In allem dem Programm Kornilows zustimmend, opponierte Kerenski bezüglich <strong>der</strong><br />
Fristen: »Es geht nicht alles auf einmal.« Die Notwendigkeit, sich Kerenskis zu entledigen,<br />
zugebend, erwi<strong>der</strong>te Miljukow den Ungeduldigen: »Jetzt ist es vielleicht noch zu<br />
früh.« Wie aus dem Drängen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Massen ein halber Aufstand im Juli<br />
erwuchs, so erwuchs aus <strong>der</strong> Ungeduld <strong>der</strong> Besitzenden <strong>der</strong> Kornilowsche Aufstand im<br />
August. Und wie sich die Bolschewiki gezwungen sahen, den Boden <strong>der</strong> bewaffneten<br />
Demonstration zu betreten, um, wenn möglich, <strong>der</strong>en Erfolg zu sichern und jedenfalls sie<br />
vor einer Zertrümmerung zu bewahren, sahen sich die Kadetten gezwungen, mit den<br />
gleichen Zielen Boden des Kornilowschen Aufstandes zu betreten. Innerhalb dieser<br />
Grenzen läßt sich eine erstaunliche Symmetrie beobachten. Aber im Rahmen dieser<br />
Symmetrie herrscht völliger Gegensatz <strong>der</strong> Ziele, Methoden und - Resultate. Er wird sich<br />
vor uns vollends im Laufe <strong>der</strong> Ereignisse entrollen.<br />
Die Staatsberatung in Moskau<br />
Bedeutet Symbol ein konzentriertes Bild, so ist die <strong>Revolution</strong> die größte Meisterin <strong>der</strong><br />
Symbole, denn sie bietet alle Erscheinungen und Beziehungen in konzentrierter Form<br />
dar. Nur ist die Symbolik <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu grandios und fügt sich schlecht in den<br />
Rahmen individueller Schöpfung. Daher die Armut an künstlerischer Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong><br />
massivsten Dramen <strong>der</strong> Menschheit.<br />
Die Moskauer Staatsberatung endete mit dem von vornherein sicheren Fiasko. Sie<br />
schuf nichts und löste nichts. Dafür aber hinterließ sie dem Historiker einen unschätzbaren,<br />
wenn auch negativen Abdruck <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, auf dem Licht aussieht wie Schatten,<br />
Schwäche als Kraft paradiert, Gier - als Selbsdosigkeit, Treubruch - als höchste Tugend.<br />
Die mächtigste Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die schon nach zehn Wochen zur Macht kommen<br />
sollte, wurde jenseits <strong>der</strong> Schwelle gelassen als eine nicht <strong>der</strong> Beachtung werte Größe.<br />
Dafür wurde ernst genommen die völlig unbekannte "Partei des evolutionären Sozialismus".<br />
Kerenski trat auf als Verkörperung von Macht und Willen. Von <strong>der</strong> Koalition, die<br />
sich in <strong>der</strong> Vergangenheit restlos erschöpft hatte, sprach man wie von einem Rettungsmittel<br />
<strong>der</strong> Zukunft. Der von den Soldatenmillionen gehaßte Kornilow wurde begrüßt als<br />
<strong>der</strong> beliebte Armee- und Volksführer. Monarchisten und Schwarzhun<strong>der</strong>t beteuerten ihre<br />
Liebe zur Konstituierenden Versammlung. Alle jene, denen bald bevorstand, aus <strong>der</strong><br />
politischen Arena zu verschwinden, hatten sich gleichsam verabredet, zum letztenmal<br />
ihre besten Rollen auf den Theaterbrettern zu spielen. Mit aller Kraft drängte es sie, zu<br />
sagen: dies möchten wir sein, dies wären wir, wenn man uns nicht hin<strong>der</strong>n würde. Aber<br />
man hin<strong>der</strong>te sie: Arbeiter, Soldaten, Bauern, unterdrückte Nationalitäten. Dutzende<br />
Millionen »meutern<strong>der</strong> Sklaven« wehrten ihnen, ihre Treue zur <strong>Revolution</strong> zu bekunden.<br />
In Moskau, wo sie Zuflucht suchten, folgte ihnen <strong>der</strong> Streik auf den Fersen. Gehetzt von<br />
"Finsternis", "Unbildung", "Demagogie", verpflichteten die zwejeinhalbtausend<br />
Menschen, die das Theater füllten, einan<strong>der</strong> stillschweigend, die Bühnenillusion nicht zu<br />
stören. Vom Streik wurde nicht gesprochen. Man war bemüht, die Bolschewiki nicht bei<br />
Namen zu nennen. Nur Plechanow gedachte so nebenbei »des Lenin traurigen Angeden-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 422
kens«, als wäre die Rede von einem völlig erledigten Gegner. Der Charakter des<br />
Negativs war somit restlos durchgehalten: im Reiche <strong>der</strong> Schatten, die halb schon dem<br />
Jenseits angehörten, sich aber als die »lebendigen Kräfte des Landes« ausgaben, konnte<br />
ein wirklicher Volksführer nicht an<strong>der</strong>s figurieren denn als politische Leiche.<br />
»Der glänzende Zuschauerraum«, schreibt Suchanow, »war ziemlich scharf in zwei<br />
Hälften geteilt, rechts Bourgeoisie, links Demokratie. Rechts, im Parterre und in den<br />
Logen, konnte man nicht wenig Generalsuniform sehen, links - Fähnriche und Gemeine.<br />
Der Bühne gegenüber, in <strong>der</strong> ehemaligen Zarenloge, saßen die höheren diplomatischen<br />
Vertreter <strong>der</strong> alliierten und befreundeten Mächte ... Unsere Gruppe, die äußerste<br />
Linke, nahm einen kleinen Winkel des Parterres ein.« Die äußerste Linke bildeten, bei<br />
Abwesenheit <strong>der</strong> Bolschewiki, die Gesinnungsgenossen Martows.<br />
Gegen vier Uhr erschien auf <strong>der</strong> offenen Bühne Kerenski in Begleitung zweier junger<br />
Offiziere, von Armee und Marine; Sinnbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stärke <strong>der</strong> revolutionären Macht,<br />
standen sie die ganze Zeit wie festgewurzelt, hinter dem Rücken des Vorsitzenden. Um<br />
die Rechten durch das Wort Republik nicht zu reizen - so war es vorher verabredet<br />
worden -, begrüßte Kerenski die »Vertreter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Erde« im Namen <strong>der</strong> Regierung<br />
des »<strong>russischen</strong> Reiches«. »Der Grundton <strong>der</strong> Rede«, schreibt ein liberaler Historiker,<br />
»war statt des Tones <strong>der</strong> Würde und Sicherheit, unter dem Einfluß <strong>der</strong> letzten Tage<br />
... <strong>der</strong> Ton schlecht verhüllter Angst, die <strong>der</strong> Redner gleichsam in seinem Innern durch<br />
hohe Töne <strong>der</strong> Drohung zu beschwichtigen suchte.« Ohne die Bolschewiki direkt zu<br />
nennen, begann Kerenski mit einer Warnung an ihre Adresse: Neue Versuche, die Macht<br />
anzutasten, »werden mit Eisen und Stahl unterdrückt werden«. Im stürmischen Beifall<br />
verschmolzen beide Flügel <strong>der</strong> Beratung. Die ergänzende Drohung an die Adresse des<br />
noch nicht eingetroffenen Kornilow: »Welche Seite mir auch Ultimata stellen sollte, ich<br />
werde in <strong>der</strong> Lage sein, sie dem Willen <strong>der</strong> obersten Staatsgewalt und mir, ihrem<br />
Oberhaupt, unterzuordnen«, fand zwar ebenso begeisteiten Beifall, doch jetzt ausschließlich<br />
bei <strong>der</strong> linken Hälfte <strong>der</strong> Beratung. Kerenski kommt immer wie<strong>der</strong> auf sich, als das<br />
»Oberhaupt«, zurück: er bedarf dieser Selbstbestätigung. »Euch da, die ihr von <strong>der</strong><br />
Front gekommen seid, euch sage ich, euer Kriegsminister und Oberster Führer ..., es gibt<br />
in <strong>der</strong> Armee keine Macht und keinen Willen, die höher sind als Wille und Macht <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung.« Die Demokratie ist begeistert über diese dräuenden Blindgänger,<br />
denn sie glaubt auf diese Weise <strong>der</strong> Notwendigkeit zu entgehen, zu Blei Zuflucht<br />
nehmen zu müssen.<br />
»Alle besten Kräfte des Volkes und <strong>der</strong> Armee«, versichert das Regierungshaupt,<br />
»haben den Triumph <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> mit unserem Triumph an <strong>der</strong> Front<br />
verknüpft. Aber unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde bespien.«<br />
Das ist das lyrische Fazit <strong>der</strong> Junioffensive. Er, Kerenski, beabsichtigt jedenfalls, bis zum<br />
Siege zu kämpfen. Angesichts <strong>der</strong> Gefahr eines Friedens auf Kosten <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Interessen<br />
- diesen Weg wies das Friedensangebot des Papstes vom 4. August - preist<br />
Kerenski die vornehme Treue <strong>der</strong> Alliierten. »Und ich kann im Namen des großen <strong>russischen</strong><br />
Volkes nur das eine sagen: an<strong>der</strong>es haben wir nicht erwartet und nicht erwarten<br />
können.« Die Ovation an die Adresse <strong>der</strong> Loge <strong>der</strong> alliierten Diplomaten stellt alle auf<br />
die Beine, außer einigen Internationalisten und jenen vereinzelten Bolschewiki, die als<br />
Vertreter <strong>der</strong> Gewerkschaften anwesend sind. Aus einer Offiziersloge erschallt <strong>der</strong> Ruf:<br />
»Martow aufstehen!« Martow, zu seiner Ehre sei's gesagt, blieb fest genug, vor <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 423
Selbstlosigkeit <strong>der</strong> Entente nicht in die Knie zu sinken.<br />
An die Adresse <strong>der</strong> unterdrückten Völker Rußlands, die ihr Schicksal auf eine neue<br />
Weise einzurichten strebten, richtete Kerenski mit Drohungen gespickte Moralpredigten.<br />
»Schmachtend und zugrunde gehend in den Ketten des zaristischen<br />
Selbstherrschertums«, prahlte er mit fremden Ketten, »haben wir nicht mit unserem Blut<br />
gegeizt für das Wohl aller Völker.« Den unterdrückten Nationalitäten wurde anempfohlen,<br />
aus Dankbarkeitsgefühl das Regime <strong>der</strong> Rechtlosigkeit zu erdulden.<br />
Wo <strong>der</strong> Ausweg? »... Fühlt ihr das große Brennen in euch ... fühlt ihr Kraft und Willen<br />
zu Ordnung, zu Opfern und Arbeit? werdet ihr hier den Anblick einer geschlossenen<br />
großen nationalen Kraft bieten? ... « Diese Worte wurden gesprochen am Tage des<br />
Moskauer Proteststreiks und in den Stunden <strong>der</strong> geheimnisvollen Verschiebung von<br />
Kornilows Reiterei. »Wir werden unsere Seele töten, aber den Staat retten.« Mehr<br />
vermochte dem Volke die Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht zu bieten.<br />
»Viele Provinzler in diesem Saale«, schreibt Miljukow, »sahen Kerenski zum erstenmal,<br />
- und sie gingen teils enttäuscht, teils empört fort. Vor ihnen stand ein junger<br />
Mensch mit zerquältern, blassem Gesicht in einer angelernten Schauspielerpose ...<br />
Dieser Mensch wollte gleichsam jemand einschüchtern und bei allen den Eindruck von<br />
Kraft und Macht im alten Stile erwecken. In Wirklichkeit erregte er nur Mitleid.«<br />
Das Auftreten <strong>der</strong> übrigen Regierungsmitglie<strong>der</strong> offenbarte weniger <strong>der</strong>en persönliche<br />
Unzulänglichkeit als den Bankrott des Versöhnlersystems. Die große Idee, die Innenminister<br />
Awksentjew vor das Forum des Landes stellte, war die Institution umherfahren<strong>der</strong><br />
Kommissare. Der Minister für Indusrrie redete den Unternehmern zu, sich auf bescheidene<br />
Gewinne zu beschränken. Der Finanzminister versprach Herabsetzung <strong>der</strong> direkten<br />
Besteuerung <strong>der</strong> besitzenden Klassen bei Erhöhung <strong>der</strong> indirekten Abgaben. Der rechte<br />
Flügel hatte die Unvorsichtigkeit, diese Worte mit stürmischem Applaus zu bedenken,<br />
den Zeretelli nicht ohne Verlegenheit als Mangel an Opfersinn enthüllte. Dem Ackerbauminister<br />
Tschernow war befohlen worden, überhaupt zu schweigen, um die Verbündeten<br />
von rechts nicht mit dem Gespenst <strong>der</strong> Bodenenteignung zu reizen. Im Interesse<br />
<strong>der</strong> nationalen Einheit hatte man beschlossen, zu tun, als existiere keine Agrarfrage. Die<br />
Versöhnler störten nicht. Die wahre Stimme des Muschiks wurde von <strong>der</strong> Tribüne herab<br />
nicht laut. Indes kam gerade in diesen Augustwochen die Agrarbewegung im ganzen<br />
Lande in Schwung, um sich im Herbst in einen unüberwindlichen Bauernkrieg zu<br />
verwandeln.<br />
Nach eintägiger Pause, die von beiden Seiten mit Auskundschaftung und Mobilisierung<br />
<strong>der</strong> Kräfte ausgefüllt war, wurde die Sitzung vom 14. in einer Atmosphäre äußerster<br />
Spannung eröffnet. Beim Erscheinen Kornilows in einer Loge bereitet ihm <strong>der</strong> rechte<br />
Teil <strong>der</strong> Beratung stürmischen Empfang. Der linke Teil bleibt fast vollzählig sitzen. Rufe<br />
»Aufstehen« werden durch rohe Schimpfworte aus <strong>der</strong> Offiziersloge ergänzt. Beim<br />
Erscheinen <strong>der</strong> Regierung bereitet die Linke Kerenski eine lange Ovation, an <strong>der</strong> sich,<br />
wie Miljukow bezeugt, »diesmal die Rechte, die sitzenblieb, demonstrativ nicht<br />
beteiligt«. In diesen feindlich zusammenstoßenden Beifallswellen konnte man die nahen<br />
Zusammenstöße des Bürgerkrieges vernehmen. Auf <strong>der</strong> Bühne aber saßen auch weiterhin<br />
unter dem Namen Regierung Vertreter bei<strong>der</strong> Hälften des gespaltenen Saales, indes <strong>der</strong><br />
Vorsitzende, <strong>der</strong> insgeheim Kriegsmaßnahmen gegen den Höchstkommandierenden traf,<br />
nicht für einen Augenblick vergaß, in seiner Figur »die Einheit des <strong>russischen</strong> Volkes« zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 424
verkörpern. Im Stil dieser Rolle verkündete Kerenski: »Ich schlage allen vor, in <strong>der</strong><br />
Person des hier anwesenden Höchstkommandierenden die für Freiheit und Heimat mutig<br />
sich opfernde Armee zu begrüßen.« An die Adresse <strong>der</strong> gleichen Armee war in <strong>der</strong> ersten<br />
Sitzung gesagt worden: »Unsere Hoffnungen wurden zertreten, und unser Glaube wurde<br />
bespien.« Aber gleich, wie, die rettende Phrase ist gefunden: <strong>der</strong> Saal erhebt sich und<br />
klatscht stürmisch Beifall, - Kornilow wie Kerenski. Die Einheit <strong>der</strong> Nation ist wie<strong>der</strong><br />
einmal gerettet!<br />
Von <strong>der</strong> historischen Ausweglosigkeit an <strong>der</strong> Gurgel gepackt, entschlossen sich die<br />
herrschenden Klassen, zu den Mitteln <strong>der</strong> historischen Maskerade zu greifen. Sie glaubten<br />
offenbar, wenn sie noch einmal in allen ihren Verwandlungen vor dem Volke<br />
erscheinen, dadurch bedeuten<strong>der</strong> und stärker zu werden. Als Sachverständige für nationales<br />
Gewissen wurden die Vertreter aller vier Reichsdumas auf die Bühne gebracht. Die<br />
ehemals so scharfen inneren Differenzen waren verschwunden, alle Parteien <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie vereinigten sich mühelos auf dem »über Parteien und Klassen stehenden<br />
Programm« <strong>der</strong> im öffentlichen Lehen tätigen Männer, die einige Tage zuvor ein Begrüßungstelegramm<br />
Kornilow gesandt hatten. Im Namen <strong>der</strong> ersten Duma - 1906! - wies <strong>der</strong><br />
Kadett Nabokow »schon den Gedanken an die Möglichkeit eines Separatfriedens« weit<br />
von sich. Das hin<strong>der</strong>te den liberalen Politiker nicht, in seinen Erinnerungen zu erzählen,<br />
daß er und mit ihm viele führende Kadetten im Separatfrieden den einzigen Rettungsweg<br />
gesehen hatten. Ebenso for<strong>der</strong>ten auch die Vertreter <strong>der</strong> übrigen Zaren-Dumas von <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> in erster Linie den Bluttribut.<br />
»Ihr Wort, General!« Die Sitzung nähert sich dem kritische Moment. Was wird <strong>der</strong><br />
Höchstkommandierende sagen, dem Kerenski beharrlich, aber vergeblich zuredet, sich<br />
lediglich auf eine Skizzierung <strong>der</strong> Kriegslage zu beschränken? Miljukow berichtet als<br />
Augenzeuge: »Die kleine, untersetzte, aber gedrunger Gestalt des Mannes mit <strong>der</strong><br />
Kalmückenphysiognomie, dem scharfen, durchdringenden Blick <strong>der</strong> kleinen, schwarzen<br />
Augen, denen böse Feuerchen auffiammten, erschien auf <strong>der</strong> Rampe. Der Saal erbebt von<br />
Applaus. Alle stehen, mit Ausnahme ... <strong>der</strong> Soldaten. An die Adresse <strong>der</strong> sitzengebliebenen<br />
Delegierte erschallen von rechts mit Schimpfworten vermischte Entrüstungsschreie.<br />
»Knoten! ... Aufstehen!« Von den Bänken, wo man nicht aufsteht, antworten Stimmen:<br />
»Knechte!« Der Lärm geht in Sturm über. Kerenski beantragt, »den Ersten Soldaten <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung« ruhig anzuhören. Scharf, kurz, befehlend, wie es sich für<br />
einen General geziemt, <strong>der</strong> im Begriff ist, ein Land zu retten, verliest Kornilow einen<br />
Zettel, den <strong>der</strong> Abenteure Sawojko unter dem Diktat des Abenteurers Filonenko für ihn<br />
nie<strong>der</strong>geschrieben hat. Nach dem aufgestellten Programm war <strong>der</strong> Zettel jedoch viel<br />
gemäßigter als jener Plan, zu dem er den Auftakt bilden sollte. Den Zustand <strong>der</strong> Armee<br />
und die Lage an <strong>der</strong> Front genierte Kornilow sich nicht in den düstersten Farben zu schil<strong>der</strong>n<br />
mit <strong>der</strong> durchsichtigen Berechnung, zu schrecken. Den Kernpunkt <strong>der</strong> Rede bildete<br />
die Kriegsprognose: »... Der Feind klopft bereits an Rigas Tore, und wenn nicht die<br />
Standhaftigkeit unserer Armee die Möglichkeit schafft, uns an <strong>der</strong> Rigaer Küste zu<br />
halten, wird <strong>der</strong> Weg nach Petrograd offen sein. Kornilow versetzt hier <strong>der</strong> Regierung<br />
einen wuchtigen Hieb »Durch eine ganze Reihe gesetzgeben<strong>der</strong> Maßnahmen, nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung durchgeführt von Menschen, denen <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Armee und das Verständnis<br />
für sie fremd, ist diese Armee in einen Haufen Wahnsinniger verwandelt worden, dem<br />
ausschließlich sein Leben wertvoll ist.« Es ist klar: für Riga gibt's keine Rettung, und <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 425
Höchstkommandierende sagt es offen, herausfor<strong>der</strong>nd, vor <strong>der</strong> ganzen Welt, gleichsam<br />
die Deutschen einladend, die schutzlose Stadt zu nehmen. Und Petrograd? Kornilows<br />
Gedanke ist <strong>der</strong>: Erhalte ich die Möglichkeit, mein Programm durchzuführen, so ist<br />
Petrograd vielleicht noch zu retten; aber sputet euch! Die Moskauer Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
schrieb: »Was ist das - Warnung o<strong>der</strong> Drohung? Die Tarnopoler Nie<strong>der</strong>lage hatte<br />
Kornilow zum Höchstkommandierenden gemacht. Die Preisgabe Rigas kann ihn zum<br />
Diktator machen.« Dieser Gedanke deckt sich mit <strong>der</strong> Absicht <strong>der</strong> Verschwörer vollständiger,<br />
als es <strong>der</strong> argwöhnischste Bolschewik ahnen konnte.<br />
Die Kirchenversammlung entsandte jetzt eines ihrer reaktionärsten Mitglie<strong>der</strong>, den<br />
Erzbischof Platon, dem Höchstkommandierenden zu Hilfe. »Ihr habt soeben ein mör<strong>der</strong>isches<br />
Bild von <strong>der</strong> Armee gesehen«, sagte dieser Vertreter <strong>der</strong> »lebendigen Kräfte«,<br />
»und ich bin hier heraufgekommen, um von dieser Stelle aus Rußland zuzurufen: Gerate<br />
nicht in Verwirrung, Teures, fürchte dich nicht, Geliebtes. Sollte für Rußlands Rettung<br />
ein Wun<strong>der</strong> nötig sein, dann wird auf die Gebete <strong>der</strong> Kirche hin Gott ein Wun<strong>der</strong> tun.«<br />
Zum Schutze <strong>der</strong> Kirchengüter bevorzugten die rechtgläubigen Herrscher Kosakenkommandos.<br />
Der Kern <strong>der</strong> Rede bestand jedoch nicht darin. Der Erzbischof beklagte sich<br />
darüber, »er habe in den Referaten <strong>der</strong> Regierungsmitglie<strong>der</strong> nicht ein einziges Mal,<br />
auch nicht versehentlich, das Wort Gott vernommen«. Wie Kornilow die <strong>Revolution</strong>sregierung<br />
<strong>der</strong> Zersetzung <strong>der</strong> Armee beschuldigte, so überführte Platon »jene, die heute<br />
unser gottliebendes Volk verkörpern«, des verbrecherischen Unglaubens. Die Kirchenmänner,<br />
die sich vor Rasputin im Staube gekrümmt hatten, wagten es jetzt öffentlich, <strong>der</strong><br />
Regierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Gott zu predigen.<br />
Eine Deklararion von zwölf Kosakenarmeen verlas General Kaledin, dessen Name in<br />
jener Periode beharrlich unter den gewichtigsten Namen <strong>der</strong> Militärpartei genannt wurde.<br />
Kaledin, <strong>der</strong>, nach den Worten eines seiner Panegyriker, »nicht mochte und nicht<br />
verstand, <strong>der</strong> Menge nach dem Mund zu reden«, »entzweite sich deshalb mit General<br />
Brjussilow und wurde als dem Geiste <strong>der</strong> Zeit nicht entsprechend seines Armeekommandos<br />
enthoben«. Anfang Mai nach dem Don zurückgekehrt, war <strong>der</strong> Kosakengeneral bald<br />
danach zum Ataman <strong>der</strong> Dontruppen gewählt worden. Er hatte als Haupt des ältesten und<br />
stärksten <strong>der</strong> Kosakenheere den Auftrag, das Programm <strong>der</strong> privilegierten Kosakenspitzen<br />
zu präsentieren. Den Verdacht, konterrevolutionär zu sein, zurückweisend, erinnerte<br />
die Deklaration unsere Minister-<strong>Sozialisten</strong> unhöflich daran, daß sie in <strong>der</strong> Minute <strong>der</strong><br />
Gefahr zu den Kosaken gekommen waren, Hilfe zu suchen gegen die Bolschewiki. Der<br />
barsche General bestach unerwartet die Herzen <strong>der</strong> Demokraten, indem er weit vernehmbar<br />
das Wort aussprach, das laut zu nennen Kerenski nicht gewagt hatte: Republik. Die<br />
Mehrheit des Saales und beson<strong>der</strong>s eifrig Mmister Tschernow applaudierte dem<br />
Kosakengeneral, <strong>der</strong> ganz ernstlich von <strong>der</strong> Republik das for<strong>der</strong>te, was zu geben das<br />
Selbstherrschertum nicht mehr die Kraft gehabt hatte. Einst prophezeite Napoleon,<br />
Europa werde kosakisch o<strong>der</strong> republikanisch sein. Kaledin war willens, Rußland republikanisch<br />
zu sehen unter <strong>der</strong> Bedingung, daß es nicht aufhöre, kosakisch zu sein. Nachdem<br />
er die Worte verlesen: »Für Defätisten darf es keinen Platz in <strong>der</strong> Regierung geben«,<br />
wandte sich <strong>der</strong> undankbare General dreist dem unglückseligen Tschernow zu. Der<br />
Bericht einer liberalen Zeitung vermerkt: »Alle Blicke sind auf den tief über den Tisch<br />
gebeugten Tschernow gerichtet.« Durch keinerlei offizielle Stellung gebunden, entwikkelte<br />
Kaledin das Kriegsprogramm <strong>der</strong> Reaktion restlos: Komitees abschaffen, Macht <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 426
Vorgesetzten wie<strong>der</strong>herstellen, Hinterland <strong>der</strong> Front angleichen, Soldatenrechte revidieren,<br />
das heißt zunichte machen. Beifall von rechts vermischt sich mit Protesten und sogar<br />
Pfeifen von links. Die Konstituierende Versammlung müsse »im Interesse ruhiger und<br />
planmäßiger Arbeit« nach Moskau einberufen werden. Die vor <strong>der</strong> Beratung ausgearbeitete<br />
Rede hielt Kaledin einen Tag nach dem Generalstreik, so daß <strong>der</strong> Satz von <strong>der</strong><br />
»ruhigen Arbeit« in Moskau wie Hohn klang. Das Auftreten des Kosakenrepublikaners<br />
brachte schließlich die Temperatur im Saale zur Siedehitze und bewog Kerenski, Autorität<br />
zu entwickeln: »Es steht in dieser Versammlung niemand zu, sich mit For<strong>der</strong>ungen an<br />
die Regierung zu wenden.« Weshalb aber war dann die Beratung einberufen worden?<br />
Purischkewitsch, ein populärer Schwarzhun<strong>der</strong>tler, schrie von seinem Platze aus: »Wir<br />
spielen die Rolle von Regierungsassistenten!« Zwei Monate zuvor hatte dieser Pogromheld<br />
noch nicht gewagt, den Kopf vorzustecken.<br />
Die offizielle Deklaration <strong>der</strong> Demokratie, ein endloses Dokument, das auf alle Fragen<br />
Antwort zu geben suchte, ohne auch nur eine einzige zu beantworten, verlas<br />
Tschcheidse, <strong>der</strong> von links mit heißem Beifall begrüßt wurde. Rufe: »Es lebe <strong>der</strong> Führer<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>!« mußten den bescheidenen Kaukasier verlegen machen, <strong>der</strong><br />
sich am wenigsten als Führer fühlte. Im Tone einer Selbstverteidigung verkündete die<br />
Demokratie, daß sie »die Macht nicht angestrebt, kein Monopol für sich gewollt« habe.<br />
Sie sei bereit, jede Regierung zu unterstützen, die fähig wäre, die Interessen des Landes<br />
und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu schützen. Doch man dürfe die Sowjets nicht abschaffen: nur sie<br />
hätten das Land vor Anarchie bewahrt. Man dürfe die Armeekomitees nicht abschaffen:<br />
nur sie wären fähig, die Fortsetzung des Krieges zu sichern, Die privilegierten Klassen<br />
müßten auf manches verzichten im Interesse <strong>der</strong> Gesamtheit. Jedoch seien die Interessen<br />
<strong>der</strong> Gutsbesitzer vor Expropriationen zu schützen. Die Lösung nationaler Fragen müsse<br />
man bis zur Konstituierenden Versammlung vertagen. Die unaufsehiebbarsten Reformen<br />
indes müsse man durchführen. Von aktiver Friedenspolitik sagte die Deklaration kein<br />
Wort. Überhaupt war das Dokument gleichsam speziell darauf berechnet, ohne die<br />
Bourgeoisie zufriedenzustellen, die Empörung <strong>der</strong> Massen hervorzurufen.<br />
In einer ausweichenden und farblosen Rede erinnerte <strong>der</strong> Vertreter des Bauern-Exekutivkomitees<br />
an die Parole "Land und Freiheit", unter <strong>der</strong> »unsere besten Streiter<br />
umgekommen sind«. Der Bericht einer Moskauer Zeitung vermerkt eine Episode, die aus<br />
dem offiziellen Stenogramm herausgeblieben ist: »Der ganze Saal erhebt sich und bringt<br />
eine stürmische Ovation den in einer Loge sitzenden Schlüsselburgern dar.« Eine<br />
merkwürdige Grimasse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>! »Der ganze Saal« ehrt jene ehemaligen politischen<br />
Katorgasträflinge, die Alexejews, Kornilows, Kaledins, die des Bischofs Platon,<br />
Rodsjankos, Gutschkows und im Grunde auch Miljukows Monarchie in ihren Gefängnissen<br />
zu erdrosseln noch nicht Zeit gefunden hatte. Die Henker o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Komplicen<br />
möchten sich mit <strong>der</strong> Märtyreraureole <strong>der</strong> eigenen Opfer schmücken.<br />
Fünfzehn Jahre zuvor hatten die Führer <strong>der</strong> rechten Saalhälfte das zweihun<strong>der</strong>tjährige<br />
Jubiläum <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Festung Schlüsselburg durch Peter 1. gefeiert. Die 'Iskra',<br />
das Blatt des revolutionären Flügels <strong>der</strong> Sozialdemokratie, schrieb in jenen Tagen:<br />
»Wieviel Empörung weckt in <strong>der</strong> Brust diese patriotische Feier auf <strong>der</strong> verfluchten Insel,<br />
die <strong>der</strong> Hinrichtungsplatz von Minakow, Myschkin, Rogatschew, Stromberg, Uljanow,<br />
Generalow, Ossipanow, Andrjuschkin und Schewyrew gewesen ist; angesichts <strong>der</strong><br />
steinernen Särge, in denen Klimenko sich mit einem Strick erdrosselte, Gratschewski sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 427
mit Petroleum begoß und verbrannte, Sofia Ginsburg sich mit einer Schere erstach;<br />
unter den Mauern, hinter denen Schtschedrin, Juwatschew Konaschewitseh, Pochitinow,<br />
lgnatij Iwanow, Arontschik und Tichonowitsch in die endlose Nacht des Wahnsinns<br />
versanken und Dutzende an<strong>der</strong>er vor Erschöpfung, Skorbut und Schwindsucht umkamen.<br />
Gebt euch patriotischen Bacchanalen hin, denn heute seid ihr noch die Herren in Schlüsselburg!«<br />
Das Motto <strong>der</strong> 'lskra' waren Worte aus einem Briefe <strong>der</strong> Katorga-Dekabristen<br />
an Puschkin: »Aus dem Funken wird die Flamme auflo<strong>der</strong>n.« Sie ist aufgelo<strong>der</strong>t. Sie hat<br />
die Monarchie und ihr Schlüsselburger Zuchthaus in Asche verwandelt. Und heute bereiten<br />
im Saale <strong>der</strong> Staatsberatung die gestrigen Zuchthauswärter eine Ovation den durch<br />
die <strong>Revolution</strong> ihren Krallen entrissenen Opfern. Doch das Paradoxeste war immerhin,<br />
daß Gefängniswärter und Arrestanten sich vereinen im Gefühl gemeinsamen Hasses<br />
gegen die Bolschewiki, gegen Lenin, den einstigen Inspirator <strong>der</strong> 'lskra', gegen Trotzki,<br />
den Autor <strong>der</strong> oben zitierten Zeilen, gegen die rebellischen Arbeiter und ungehorsamen<br />
Soldaten, die die Gefängnisse <strong>der</strong> Republik füllten.<br />
Der Nationalliberale Gutschkow, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> dritter Duma, <strong>der</strong> seinerzeit die<br />
Zulassung <strong>der</strong> linken Deputierten zur Kommission <strong>der</strong> Landesverteidigung verhin<strong>der</strong>t<br />
hatte und dafür von den Versöhnlern zum ersten Kriegsminister <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ernannt<br />
worden war, hielt die interessanteste Rede, in <strong>der</strong> Ironie allerdings erfolglos, mit<br />
Verzweiflung rang. »Weshalb aber ... weshalb«, sagte er, auf Kerenskis Worte anspielend,<br />
»kamen zu uns die Vertreter <strong>der</strong> Macht in "tödlicher Bangigkeit" und im "tödlichen<br />
Entsetzen", mit krankhaften, ich würde sagen hysterischen Verzweiflungsschreien,<br />
weshalb fmden diese Unruhe, dieses Entsetzen und diese Schreie, ja weshalb finden sie<br />
auch in unserer Seele den gleichen beklemmenden Schmerz <strong>der</strong> Todesangst?« Im Namen<br />
jener, die früher geherrscht, kommandiert, Gnade geübt und gestraft, beichtete <strong>der</strong><br />
Moskauer Großkaufmann öffentlich Gefühle <strong>der</strong> »Todesangst«. »Diese Macht«, rief er,<br />
»ist <strong>der</strong> Schatten einer Macht.« Gutschkow hatte recht. Auch er selbst, ehemaliger<br />
Partner Stolypins, war nur noch ein Schatten seiner selbst.<br />
Just am Eröffnungstage <strong>der</strong> Beratung erschien in Gorkis Zeitung eine Darstellung, wie<br />
Rodsjanko sich an <strong>der</strong> Lieferung unbrauchbarer Kolben für Gewehrschäfte bereichert<br />
hatte. Die unzeitgemäße Enthüllung, die von Karachan, dem damals noch ganz<br />
unbekannten späteren Sowjetdiplomaten, stammte, hin<strong>der</strong>te den Kammerherrn nicht, in<br />
<strong>der</strong> Beratung würdevoll zur Verteidigung des patriotischen Programms <strong>der</strong> Kriegslieferanten<br />
aufzutreten. Das ganze Unglück sei daher gekommen, weil die Proviiorische<br />
Regierung nicht Hand in Hand mit <strong>der</strong> Reichsduma, »<strong>der</strong> einzigen in Rußland völlig<br />
rechtmäßigen Volksvertretung«, gearbeitet hatte. Das schien zu viel. Auf den linken<br />
Bänken lachte man. Es ertönten Rufe: »Dritter Juni!« Einstmals brannte dieses Datum -<br />
<strong>der</strong> 3. Juni 1907, wo die oktroyierte Konstitution zertrümmert wurde - wie ein Zuchthausmal<br />
an <strong>der</strong> Stirn <strong>der</strong> Monarchie und <strong>der</strong> sie stützenden Parteien. Jetzt hatte es sich in<br />
eine blasse Erinnerung verwandelt. Aber auch <strong>der</strong> mit seinem Baß polternde Rodsjanko,<br />
riesig und imposant, schien auf <strong>der</strong> Tribüne eher ein lebendes Monument <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
zu sein als eine politische Figur.<br />
Den Attacken von innen stellt die Regierung die gerade zur rechten Zeit eingetroffene<br />
Ermunterung von außen entgegen. Kerenski verliest das Begrüßungstelegramm des<br />
amerikanischen Präsidenten Wilson, welcher verspricht, »jegliche materielle und moralische<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Regierung Rußlands für den Erfolg <strong>der</strong> beide Völker vereinigen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 428
den, gemeinsamen Sache, mit <strong>der</strong> sie keine egoistischen Ziele verfolgen«. Der neue<br />
Beifall vor <strong>der</strong> diplomatischen Loge kann die Sorge nicht verscheuchen, die das<br />
Washingtoner Telegramm in <strong>der</strong> rechten Saalhälfte hervorruft: das Loblied auf die<br />
Selbstlosigkeit bedeutete für die <strong>russischen</strong> Imperialisten nur zu klar das Rezept <strong>der</strong><br />
Hungerdiät.<br />
Im Namen <strong>der</strong> Versöhnlerdemokratie verteidigte Zeretelli, ihr anerkannter Führer, die<br />
Sowjets und die Armeekomitees, wie man ehrenhalber eine im voraus verlorene Sache<br />
verteidigt. »Man darf dieses Gerüst noch nicht entfernen, solange das Gebäude des<br />
freien revolutionären Rußland noch nicht fertiggebaut ist.« Nach <strong>der</strong> Umwälzung hätten<br />
»die Volksmassen eigentlich niemand außer sich selbst vertraut«: nur die Bemühungen<br />
<strong>der</strong> Versöhnlersowjets hätten den besitzenden Klassen ermöglicht, sich oben zu halten,<br />
wenn auch in <strong>der</strong> ersten Zeit ohne den gewohnten Komfort. Zeretelli rechnete den<br />
Sowjets die »Übergabe sämtlicher Staatsfunktionen an die Koalitionsregierung« als<br />
beson<strong>der</strong>es Verdienst an: war etwa dieses Opfer »<strong>der</strong> Demokratie mit Gewalt entrissen«?<br />
Der Redner ähnelte einem Festungskommandanten, <strong>der</strong> sich öffentlich rühmt, die ihm<br />
anvertraute Festung kampflos ausgeliefert zu haben ... Und in den Julitagen - »wer hat<br />
damals mit seiner Brust das Land gegen Anarchie verteidigt?« Von rechts ertönte eine<br />
Stimme: »Kosaken und Junker.« Wie ein Peitschenhieb durchschnitten diese zwei Worte<br />
den demokratischen Strom von Gememplätzen. Der bürgerliche Flügel <strong>der</strong> Beratung<br />
begriff sehr wohl den von den Versöhnlem erwiesenen rettenden Dienst. Doch Dankbarkeit<br />
ist kein politisches Gefühl. Die Bourgeoisie beeilte sich, ihre Schlußfolgerungen aus<br />
den von <strong>der</strong> Demokratie ihr erwiesenen Diensten zu ziehen: das Kapitel <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki war abgeschlossen; auf die Tagesordnung kam das Kapitel <strong>der</strong><br />
Kosaken und Junker.<br />
Mit beson<strong>der</strong>er Behutsamkeit ging Zeretelli an das Problem <strong>der</strong> Macht heran. In den<br />
letzten Monaten hatten auf <strong>der</strong> Basis des allgemeinen Wahlrechts Wahlen zu Stadtdumas<br />
und teilweise auch zu Semstwos stattgefunden. Und nun? Die Vertreter <strong>der</strong> demokratischen<br />
Selbstverwaltungen standen in <strong>der</strong> Staatsberatung bei <strong>der</strong> linken Gruppe, gemeinsam<br />
mit den Sowjets und unter Leitung <strong>der</strong> gleichen Parteien, <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki. Beabsichtigen die Kadetten auf <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung zu bestehen: jegliche<br />
Abhängigkeit <strong>der</strong> Regierung von <strong>der</strong> Demokratie zu liquidieren, wozu dann die Konstituierende<br />
Versammlung? Zeretelli entwarf hier nur die Konturen dieser Erwägung; denn,<br />
zu Ende geführt, verurteilte sie die Politik <strong>der</strong> Koalition mit den Kadetten als sogar <strong>der</strong><br />
formalen Demokratie wi<strong>der</strong>sprechend. Die <strong>Revolution</strong> wird des Mißbrauchs von Reden<br />
über den Frieden beschuldigt? Aber haben denn die besitzenden Klassen nicht begriffen,<br />
daß die Friedensparole gegenwärtig das einzige Mittel des Kriegführens ist? Die<br />
Bourgeoisie begriff es; sie wollte nur, zusammen mit <strong>der</strong> Macht, auch dieses Mittel in die<br />
eigene Hand nehmen. Zeretelli schloß nur einem Hyrunus zu Ehren <strong>der</strong> Koalition. In <strong>der</strong><br />
zerspaltenen Versammlung, die keinen Ausweg sah, ertönten die versöhnlerischen<br />
Gememplätze noch ein letztes Mal als Hoffnungsmotiv. Aber auch Zeretelli war im<br />
Grunde genommen bereits sein eigenes Gespenst.<br />
Im Namen <strong>der</strong> rechten Saalhälfte antwortete <strong>der</strong> Demokratie Miljukow, <strong>der</strong> hoffnungslos<br />
nüchterne Vertreter <strong>der</strong> Klassen, denen die <strong>Geschichte</strong> den Weg <strong>der</strong> nüchternen<br />
Politik abgeschnitten hatte. In seiner "<strong>Geschichte</strong>" gibt <strong>der</strong> Führer des Liberalismus<br />
genügend ausdrucksvoll die eigene Rede in <strong>der</strong> Staatsberatung wie<strong>der</strong>. »Miljukow gab ...<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 429
eine gedrängte, auf Tatsachen gestützte Übersicht <strong>der</strong> Fehler <strong>der</strong> "revolutionären<br />
Demokratie" und zog das Fazit: ... Kapitulation in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> "Demokratisierung <strong>der</strong><br />
Armee", begleitet von Gutschkows Rücktritt; Kapitulation in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> "Zimmerwal<strong>der</strong>"<br />
Außenpolitik, begleitet vom Rücktritt des Ministers des Auswärtigen (Miljukow);<br />
Kapitulation vor den utopischen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Arbeiterklasse, begleitet vom Rücktritt<br />
Konowalows (Minister für Handel und Industrie); Kapitulation vor den radikalen For<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Nationalitäten, begleitet vom Rücktritt <strong>der</strong> übrigen Kadetten. Die fünfte<br />
Kapitulation, vor den Expropriationshestrebungen <strong>der</strong> Massen in <strong>der</strong> Agrarfrage ...<br />
führte zum Rücktritt des ersten Vorsitzenden <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Fürsten<br />
Lwow.« Das ist keine üble Krankheitsgeschichte. Was die Kur betrifft, ging Miljukow<br />
über Polizeimaßnahmen nicht hinaus: man muß die Bolschewiki erdrosseln. »Angesichts<br />
<strong>der</strong> augenscheinlichen Tatsachen«, entlarvte er die Versöhnler, »waren diese gemäßigteren<br />
Gruppen gezwungen, zuzugeben, daß es unter den Bolschewiki Verbrecher und<br />
Verräter gibt. Doch wollen sie bis jetzt noch immer nicht zugeben, daß <strong>der</strong> Grundgedanke,<br />
<strong>der</strong> diese Anhänger anarcho-syndikalistischer Kampfhandlungen verbindet, an sich<br />
verbrecherisch ist.« (Beifall.)<br />
Der allerdemütigste Tschernow erschien noch immer als ein Bindeglied, das die Koalition<br />
mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zusammenhielt. Fast sämtliche Redner des rechten Flügels:<br />
Kaledin, die Kadetten Maklakow und Astrow, versetzten Tschernow Schläge, dem im<br />
voraus befohlen worden war, zu schweigen, und den niemand unter seinen Schutz nahm.<br />
Miljukow seinerseits erinnerte daran, daß <strong>der</strong> Ackerbauminister »selbst in Zimmerwald<br />
und in Kienthal gewesen und dort die schärfsten Resolutionen befürwortete«. Das traf<br />
nicht die Augenbraue, son<strong>der</strong>n das Auge: bevor er Minister des imperialistischen Krieges<br />
ward, hatte Tschernow tatsächlich seine Unterschrift unter einige Dokumente <strong>der</strong><br />
Zimmerwal<strong>der</strong> Linken, das heißt <strong>der</strong> Fraktion Lenins, gesetzt.<br />
Miljukow verheimlichte <strong>der</strong> Beratung nicht, daß er von Anfang an Gegner <strong>der</strong> Koalition<br />
gewesen, weil er <strong>der</strong> Ansicht war, sie »werde nicht stärker, son<strong>der</strong>n schwächer sein<br />
als die aus <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hervorgegangene Regierung«, das heißt die Regierung<br />
Gutschkow-Miljukow. Und auch jetzt befürchte er »sehr, daß die gegenwärtige Zusammensetzung<br />
<strong>der</strong> Exekutoren ... keine Garantie für die Sicherheit <strong>der</strong> Person und des<br />
Eigentums bietet«. Wie dem auch sei, er, Miljukow, verspreche <strong>der</strong> Regierung Unterstützung<br />
»freiwillig und ohne Streit«. Die Treubrüchigkeit dieses großmütigen Versprechens<br />
wird sich nach zwei Wochen vollends enthüllen. Im Augenblick rief die Rede bei<br />
niemand Begeisterung hervor, gab aber auch keine Veranlassung zu stürmischen Protesten.<br />
Der Redner wurde mit recht trockenem Beifall empfangen und entlassen.<br />
Die zweite Rede Zeretellis lief hinaus auf Versicherungen, Schwüre, Wehklagen: das<br />
alles ist doch für euch: Sowjets, Komitees, demokratische Programme, pazifistische<br />
Parolen - all das schützt euch: »Wem war es leichter, die Truppen des <strong>russischen</strong> revolutionären<br />
Staates in Bewegung zu setzen - dem Kriegsminister Gutschkow o<strong>der</strong> dem<br />
Kriegsminister Kerenski?« Zeretelli wie<strong>der</strong>holte fast wörtlich Lenin, nur sah <strong>der</strong> Führer<br />
des Versöhnlertums dort Verdienst, wo <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Verrat brandmarkte.<br />
Der Redner entschuldigte sich ferner wegen <strong>der</strong> übermäßigen Milde in bezug auf die<br />
Bolschewiki: »Ich sage euch: die <strong>Revolution</strong> war unerfahren im Kampfe mit <strong>der</strong><br />
Anarchie, die von links kam.« (Stürmischer Beifall rechts.) Aber nachdem »die ersten<br />
Lehren empfangen wurden«, hat die <strong>Revolution</strong> ihren Fehler korrigiert: »das Ausnahme-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 430
gesetz ist bereits durchgeführt«. In den gleichen Stunden wurde Moskau insgeheim vom<br />
Sechser-Komitee geleitet - zwei Menschewild, zwei Sozialrevolutionäre, zwei Bolschewiki<br />
-, das die Stadt vor <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Umwälzung seitens jener schützte, denen gegenüber<br />
die Versöhnler sich verpflichteten, die Bolschewiki nie<strong>der</strong>zuschlagen.<br />
Den Clou des letzten Tages bildete das Auftreten des Generals Alexejew, dessen<br />
Autorität die Unfähigkeit <strong>der</strong> alten Militärkanzlei verkörperte. Unter maßlosem Beifall<br />
von rechts sprach <strong>der</strong> ehemalige Stabschef Nikolaus' II. und Organisator <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lagen<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee von jenen Zerstörern, »in <strong>der</strong>en Taschen melodisch die deutsche<br />
Mark klingt«. Für die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Armee sei Disziplin nötig, für die Disziplin<br />
die Autorität <strong>der</strong> Vorgesetzten, wofür wie<strong>der</strong>um Disziplin nötig sei. »Nennen Sie die<br />
Disziplin die eiserne, nennen Sie sie die zielbewußte, nennen Sie sie die wahre ... die<br />
Fundamente dieser Disziplin sind die gleichen.« Für Alexejew endete die <strong>Geschichte</strong> mit<br />
dem Reglement des Innendienstes. »Ist es, meine Herren, tatsächlich so schwer, irgendein<br />
illusorisches Vorrecht - die Existenz von Organisationen [Lachen links] - für eine<br />
gewisse Zeit zu opfern.« (Lärm und Rufe links.) Der General redete gut zu, ihm die<br />
entwaffnete <strong>Revolution</strong> zur Benutzung auszuliefern, aber nicht für immer, Gott bewahre,<br />
nur »für eine gewisse Zeit«: nach Beendigung des Krieges wollte er den Gegenstand<br />
guterhalten zurückgeben. Doch Alexejew schloß mit einem nicht üblen Aphorismus:<br />
»Maßnahmen tun not, nicht halbe Maßnahmen.« Diese Worte trafen Tschcheidses<br />
Deklaration, die Provisorische Regierung, die Koalition, das gesamte Februarregime.<br />
Maßnahmen, nicht halbe Maßnahmen! - damit waren auch die Bolschewiki einverstanden.<br />
General Alexejew wurden sogleich Delegierte <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Moskauer<br />
linken Offiziere entgegengestellt, die »unseren höchsten Vorgesetzten, den Kriegsminister«,<br />
unterstützten. Nach ihnen sprach Leutnant Kutschin, ein alter Menschewik, als<br />
Redner »<strong>der</strong> Frontgruppe <strong>der</strong> Staatsberatung« im Namen <strong>der</strong> Soldatenmillionen, die sich<br />
jedoch wohl kaum im Spiegel des Versöhnlertums wie<strong>der</strong>erkannt haben dürften. »Wir<br />
alle haben das Interview des Generals Lukomski in den Zeitungen gelesen, wo es heißt:<br />
Wenn die Alliierten nicht helfen, wird Riga preisgegeben werden ...« Weshalb hat das<br />
höhere Kommando, das Mißerfolge und Nie<strong>der</strong>lagen stets verheimlichte, plötzlich das<br />
Bedürfnis verspürt, die Farben so düster aufzutragen? Die Zwischenrufe »Schande!« von<br />
links zielten auf General Kornilow, <strong>der</strong> am Vorabend in <strong>der</strong> Beratung den gleichen<br />
Gedanken entwickelt hatte. Kutschin berührte hier die empfindlichste Stelle <strong>der</strong> besitzenden<br />
Klassen: die Spitzen <strong>der</strong> Bourgeoisie, <strong>der</strong> Kommandobestand, die gesamte rechte<br />
Saalhälfte waren durch und durch von defätistischen Tendenzen durchdrungen, auf<br />
ökonomischem, politischem und militärischem Gebiet. Die Devise dieser soliden, ausgeglichenen<br />
Patrioten war geworden: je schlimmer je besser! Doch <strong>der</strong> Versöhnlerredner<br />
beeilte sich an dem Thema vorbeizugehen, das ihm selbst den Boden unter den Füßen<br />
entzog. »Ob wir die Armee retten werden, wissen wir nicht«, sagte Kutschin, »aber wenn<br />
wir sie nicht retten, wird auch das Kommando sie nicht retten ...« - »Es wird retten !«<br />
ruft man von den Offiziersbänken. Kutschin: »Nein, es wird nicht retten!« Beifallsausbruch<br />
bei <strong>der</strong> Linken. So tauschten Kommandeure und Komitees, auf <strong>der</strong>en Scheinsolidarität<br />
das Programm <strong>der</strong> Gesundung <strong>der</strong> Armee aufgebaut war, Feindseligkeiten aus. So<br />
tauschten die zwei Hälften <strong>der</strong> Beratung, die das Fundament <strong>der</strong> »ehrlichen Koalition«<br />
bildeten, gegeneinan<strong>der</strong> Rufe aus. Diese Zusammenstöße waren nur das schwache, unter-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 431
drückte, parlamentarisierte Echo jener Gegensätze, unter denen das Land erbebte.<br />
Der bonapartistischen Inszenierung gehorchend, wechselten Redner von rechts und<br />
links sich ab, nach Möglichkeit einan<strong>der</strong> ausgleichend. Wenn die Hierarchen <strong>der</strong> rechtgläubigen<br />
Kirchenversammlung Kornilow unterstützten, dann stellten sich die Vertreter<br />
<strong>der</strong> evangelischen Christen auf seiten <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. Die Delegierten <strong>der</strong><br />
Semstwos und <strong>der</strong> Stadtdumas traten paarweise auf: <strong>der</strong> eine, von <strong>der</strong> Mehrheit, schloß<br />
sich Tschcheidses Deklaration an, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Deklaration <strong>der</strong> Reichsduma.<br />
Die Wortführer <strong>der</strong> unterdrückten Nationalitäten beteuerten nacheinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Regierung<br />
ihren Patriotismus, flehten jedoch, sie nicht länger zu betrügen: allerorts herrschen<br />
die gleichen Beamten, die gleichen Gesetze und die gleiche Bedrückung. »Zögern ist<br />
unmöglich. Von bloßen Versprechungen kann kein Volk leben.« Das revolutionäre<br />
Rußland müsse zeigen, daß es »Mutter«, nicht »Stiefmutter aller Völker« sei. Die<br />
erschütternden Vorwürfe und demütigen Beschwörungen fanden fast keinen mitfühlenden<br />
Wi<strong>der</strong>hall, auch nicht bei <strong>der</strong> linken Saalhälfte. Der Geist des imperialistischen<br />
Krieges ist am wenigsten vereinbar mit einer ehrlichen Politik in <strong>der</strong> Nationalitätenfrage.<br />
»Bisher haben die Nationalitäten Transkaukasiens keinen einzigen Schritt zum Separatismus<br />
unternommen«, erklärte <strong>der</strong> Menschewik Tschenkeli im Namen <strong>der</strong> Georgier,<br />
»und sie werden es auch fernerhin nicht tnn.« Diese mit Beifall aufgenommene<br />
Verpflichtung wird sich bald als unhaltbar erweisen: mit dem Moment <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
wird Tschenkeli einer <strong>der</strong> Führer des Separatismus werden. Ein Wi<strong>der</strong>spruch ist<br />
hier jedoch nicht enthalten: <strong>der</strong> Patriotismus <strong>der</strong> Demokratie geht nicht über den Rahmen<br />
des bürgerlichen Regimes hinaus.<br />
Unterdes betreten neue, tragischste Gespenster des Vergangenen die Bühne. Die<br />
Kriegskrüppel erheben ihre Stimme. Auch die sind nicht einig. Armlose, Beinlose,<br />
Blinde besitzen ihre Aristokratie und ihren Plebs. Im Namen des "gewaltigen" und<br />
mächtigen Verbandes <strong>der</strong> Georgsritter, seiner hun<strong>der</strong>tachtundzwanzig Zweigverbände an<br />
allen Orten Rußlands, unterstützt ein in seinem Patriotismus beleidigter Offizier den<br />
General Kornilow (Zustimmung rechts). Der Allrussische Kriegsinvalidenverband<br />
schließt sich durch seinen Delegierten Tschcheidses Deklaration an (Zustimmung links).<br />
Das Exekutivkomitee des soeben gegründeten Eisenbahnerverbandes, dem es (unter<br />
dem abgekürzten Namen "Wikschel") beschieden sein wird, in den nächsten Monaten<br />
eine bedeutende Rolle zu spielen, gibt seine Stimme <strong>der</strong> Versöhnlerdeklaration. Der<br />
Vorsitzende des Verbandes, gemäßigter Demokrat und äußerster Patriot, entwarf ein<br />
grelles Bild <strong>der</strong> konterrevolutionären Ränke bei <strong>der</strong> Eisenbahn: böswillige Angriffe auf<br />
Arbeiter, Massenentlassungen, willkürliche Abschaffung des Acht-Stunden-Tages,<br />
gerichtliche Verfolgungen. Geheime Mächte, geleitet aus verborgenen, aber einflußreichen<br />
Zentren, sind offensichtlich bestrebt, die hungrigen Eisenbahner zum Kampfe<br />
herauszufor<strong>der</strong>n. Der Feind ist unfaßbar. »Die Konterspionage schlummert, die Staatsanwaltschaft<br />
schläft.« Und dieser Gemäßigte <strong>der</strong> Gemäßigten schloß mit <strong>der</strong> Drohung:<br />
»Wenn die Hydra <strong>der</strong> Konterrevolution ihr Haupt erheben sollte, wer<strong>der</strong> wir aufstehen<br />
und sie mit unseren Händen erwürgen.«<br />
Unverzüglich tritt eine gewichtige Eisenbahnerleuchte mit Gegenbeschuldigungen auf:<br />
»Die reine Quelle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist vergiftet worden.« Weshalb? »Weil die idealisti-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 432
schen Ziele <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch materielle ersetzt wurden.« (Beifall rechts.) Im<br />
gleichen Geiste entlarvt <strong>der</strong> Kadett und Gutsbesitzer Roditschew die Arbeiter, welche<br />
sich die aus Frankreich gekommene »beschämende Parole: bereichert euch!« zu eigen<br />
gemacht hätten. Die Bolschewiki werden <strong>der</strong> Formel Roditschews bald einen außergewöhnlichen<br />
Erfolg bereiten, wenn auch einen an<strong>der</strong>en als den, auf den <strong>der</strong> Redner hoffte.<br />
Professor Oserow, ein Mann <strong>der</strong> reinen Wissenschaft und Delegierter <strong>der</strong> Bodenbanken,<br />
ruft aus: »Der Soldat im Schützengraben hat an den Krieg zu denken und nicht an<br />
Landaufteilung.« Nicht verwun<strong>der</strong>lich: die Konfiskation des Privatbodens würde die<br />
Konfiskation des Bankkapitals bedeuten: am 1. Januar 1915 betrug die Verschuldung des<br />
privaten Bodenbesitzes über dreieinviertel Milliarden Rubel!<br />
Rechts marschierten auf: die Vertreter von hohen Stäben, Industrieverbänden, Handelskammern<br />
und Banken, von dem Bund <strong>der</strong> Gestütbesitzer und an<strong>der</strong>en Organisationen,<br />
die Hun<strong>der</strong>te namhafter Persönlichkeiten umfaßten. Links Vertreter von Sowjets, Armeekomitees,<br />
Gewerkschaften, demokratischen Munizipalitäten, Kooperativen, hinter denen<br />
auf dem weiten Fond namenlose Millionen und Abermillionen sichtbar wurden. Zu<br />
normaler Zeit war das Übergewicht ständig auf seiten des kurzen Armes vom Hebel.<br />
»Man kann«, beson<strong>der</strong>s in einem solchen Moment, belehrte Zeretelli, »das spezifische<br />
Gewicht und die Bedeutung jener, die durch das Gewicht ihres Besitzes stark sind, nicht<br />
bestreiten.« Ja, es handelte sich aber darum, daß dies Gewicht immer ... unwägbarer<br />
wurde. Wie die Schwere nicht eine innere Eigenschaft <strong>der</strong> einzelnen Gegenstände ist,<br />
son<strong>der</strong>n nur das gegenseitige Verhältnis zwischen ihnen, so ist das soziale Gewicht keine<br />
angeborene Eigenschaft einer Person, son<strong>der</strong>n nur jene Klasseneigenschaft, die an<strong>der</strong>e<br />
Klassen ihr zuzuerkennen gezwungen sind. Die <strong>Revolution</strong> war jedoch dicht an die<br />
Grenze herangekommen, wo die Aberkennung <strong>der</strong> "grundlegendsten" Eigenschaften <strong>der</strong><br />
herrschenden Klassen beginnt. Darum wurde die Lage <strong>der</strong> namhaften Min<strong>der</strong>heit auf<br />
dem kurzen Hebelarm so unbequem. Die Versöhnler waren aus allen Kräften bestrebt,<br />
das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Aber auch sie hatten nicht mehr die Kraft: zu<br />
ungestüm drückten die Massens auf den langen Hebelarm. Wie behutsam verteidigten die<br />
Großagrarier, Bankiers und Industriellen ihre Interessen. Ja, verteidigten sie sie<br />
überhaupt noch? Fast nicht mehr. Sie schützten die Rechte des Idealismus, die Interessen<br />
<strong>der</strong> Kultur, die Vorrechte <strong>der</strong> zukünftigen Konstituierenden Versammlung. Ein Führer<br />
<strong>der</strong> Schwerindustrie, von Ditmar, schloß sogar mit einem Hymnus auf "Freiheit, Gleichheit<br />
und Brü<strong>der</strong>lichkeit". Wo waren sie hin, die metallischen Baritone des Profits, die<br />
heiseren Bässe <strong>der</strong> Bodenrente? Von <strong>der</strong> Bühne flossen nur noch die süßesten Tenöre <strong>der</strong><br />
Selbstlosigkeit. Aber Achtung: wieviel Galle und Essig unter dem Honigseim! Wie<br />
unerwartet schlagen die lyrischen Rouladen in wütendes Falsett um. Der Vertreter <strong>der</strong><br />
All<strong>russischen</strong> Landwirtschaftskammer, Kapazinski, aus ganzer Seele für eine spätere<br />
Agrarreform, vergißt nicht, »unserem reinen Zeretelli« für das Zirkular zu danken,<br />
welches das Recht verteidigt gegen die Anarchie. Aber Landkomitees? Die doch die<br />
Macht unmittelbar den Bauern geben? lhm, »dem Finsteren, kaum des Schreibens und<br />
Lesens Kundigen, <strong>der</strong> vor Glück darüber, daß er endlich ... Boden erhält, den Verstand<br />
verliert, diesem Menschen wird die Rechtsausübung im Lande übertragen«? Wenn die<br />
Gutsbesitzer im Kampf mit dein finsteren Bauern das Eigentum verteidigen, so nicht aus<br />
Selbstsucht, bewahre, nur um es später auf den Altar <strong>der</strong> Freiheit zu legen.<br />
Es sollte nun scheinen, die soziale Symbolik hätte sich fast erschöpft. Doch hier<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 433
überkommt Kerenski eine glückliche Inspiration. Er schlägt vor, noch einer Gruppe das<br />
Wort zu erteilen, »<strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>, und zwar: Breschko-<br />
Breschkowskaja, Krapotkin und Plechanow«. Die russische sozialrevolutionäre<br />
Bewegung, <strong>der</strong> russische Anarchismus und die russische Sozialdemokratie treten in<br />
Person <strong>der</strong> alten Generation auf; Anarchismus und Marxismus in Person ihrer angesehensten<br />
Begrün<strong>der</strong>.<br />
Krapotkin bittet, seine Stimme »anzuschließen jenen Stimmen, die das gesamte russische<br />
Volk aufriefen, ein für allemal mit dem Zimmerwaldismus zu brechen«. Der Apostel<br />
<strong>der</strong> Gewaltlosigkeit verbindet sich sogleich mit dem rechten Flügel <strong>der</strong> Beratung. Die<br />
Nie<strong>der</strong>lage droht nicht nur mit dem Verlust großer Territorien und mit Kontributionen:<br />
»Wißt, Genossen, es gibt etwas noch Schlimmeres als all dies: das ist die Psychologie<br />
des besiegten Landes.« Der alte Internationalist zieht die Psychologie des besiegten<br />
Landes ... jenseits <strong>der</strong> Grenze vor. Daran erinnernd, wie das besiegte Frankreich sich vor<br />
dem <strong>russischen</strong> Zaren erniedrigte - er sieht nicht voraus, wie sich das siegreiche Frankreich<br />
vor den amerikanischen Bankiers erniedrigen wird -, ruft Krapotkin aus: »Sollen<br />
auch wir das durchmachen? Um keinen Preis!« Es antwortet ihm Beifall des ganzen<br />
Saales. Welch rosige Perspektiven eröffnet dagegen <strong>der</strong> Krieg: »Alle beginnen zu begreifen,<br />
daß <strong>der</strong> Aufbau eines neuen Lebens, auf neuen sozialistischen Grundlagen, nottut ...<br />
Lloyd George hält vom sozialistischen Geist durchdrungene Reden ... - In England, in<br />
Frankreich, in Italien entsteht ein neues Verständnis für das Dasein, durchdrungen vom<br />
Sozialismus, lei<strong>der</strong> vom Staatssozialismus.« Wenn auch Lloyd George und Poincaré sich<br />
»lei<strong>der</strong>« vom Staatsprinzip noch nicht losgesagt haben, so hat sich Krapotkin ihnen<br />
ziemlich offen genähert. »Ich glaube«, sagt er, »daß wir den Rechten <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung nichts vorwegnehmen - ich anerkenne vollauf, daß in dieser Frage<br />
<strong>der</strong> souveräne Beschluß ihr gehören muß -, wenn wir, die Versammlung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Erde, laut unseren Wunsch aussprechen, daß Rußland als Republik proklamiertwerden<br />
möge.« Krapotkin besteht auf einer fö<strong>der</strong>ativen Republik: »Wir brauchen eine Fö<strong>der</strong>ation,<br />
wie wir sie in den Vereinigten Staaten sehen.« Derart hat sich die bakuninsche<br />
"Fö<strong>der</strong>ation freier Gemeinden" verwandelt! »Versprechen wir nun einan<strong>der</strong>«, beschwört<br />
Krapotkin zum Schluß, »daß wir uns nicht mehr in eine linke Hälfte dieses Theaters und<br />
in eine rechte teilen wollen ... Wir alle haben doch die gleiche Heimat, und zu ihr müssen<br />
wir stehen und, wenn notwendig, für sie fallen, wir alle, Rechte und Linke.« Gutsbesitzer,<br />
Industrielle, Generale, Georgsritter, alle, die Zimmerwald nicht anerkennen, bereiten dem<br />
Apostel des Anarchismus die verdiente Ovation.<br />
Die Prinzipien des Liberalismus existieren in <strong>der</strong> Wirklichkeit nicht an<strong>der</strong>s als in<br />
Verbindung mit dem Polizeigeist. Der Anarchismus ist <strong>der</strong> Versuch, den Liberalismus<br />
von Polizeigeist zu säubern. Aber wie Sauerstoff im reinen Zustande für die Atmung<br />
unerträglich ist, so bedeuten die vom Polizeigeist gereinigten Prinzipien des Liberalismus<br />
den Tod <strong>der</strong> Gesellschaft. Als karikaturenhafter Schatten des Liberalismus teilt <strong>der</strong><br />
Anarchismus im allgemeinen dessen Schicksal. Die Entwicklung <strong>der</strong> Klassengegensätze,<br />
die den Liberalismus tötet, tötet auch den Anarchismus. Wie jede Sekte, die ihre Lehre<br />
nicht auf die wirkliche Entwicklung <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft stützt, son<strong>der</strong>n auf<br />
die ad-adsurdum-Führung einer ihrer Eigenschaften, verflüchtigt sich <strong>der</strong> Anarchismus<br />
wie eine Seifenblase in dem Augenblick in die Luft, wo die sozialen Gegensätze zu<br />
Krieg o<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> führen. Der von Krapotkin verkörperte Anarchismus war<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 434
vielleicht das gespensterhafteste von allen Gespenstern <strong>der</strong> Staatsberatung.<br />
In Spanien, dem klassischen Lande des Bakunismus, wie<strong>der</strong>holen die Anarchosyndikalisten<br />
und die sogenannten "spezifischen" o<strong>der</strong> reinen Anarchisten, während sie auf<br />
Politik verzichten, in Wirklichkeit die Politik <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Menschewiki. Die pathetischen<br />
Verneiner des Staates verbeugen sich ehrfurchtsvoll vor ihm, sobald er ein wenig<br />
seine Haut erneuert. Während sie das Proletariat vor den Versuchungen <strong>der</strong> Macht<br />
warnen, unterstützen sie selbstlos die Macht <strong>der</strong> "linken" Bourgeoisie. Während sie die<br />
Gangräne des Parlamentarismus verfluchen, spielen sie insgeheim ihren Anhängern die<br />
Wahlflugblätter <strong>der</strong> Vulgärrepublikaner in die Hand. Welche Lösung die spanische<br />
<strong>Revolution</strong> auch bringen wird, den Anarchismus wird sie jedenfalls ein für allemal<br />
erledigen.<br />
Durch den Mund des vom ganzen Saal stürmisch begrüßten Plechanow - die Linken<br />
ehrten den alten Lehrer, die Rechten den neuen Verbündeten sprach <strong>der</strong> frühe russische<br />
Marxismus, dessen Perspektive jahrzehntelang in <strong>der</strong> politischen Freiheit mündete. Wo<br />
für die Bolschewiki die <strong>Revolution</strong> erst begann, war sie für Plechanow abgeschlossen.<br />
Während er den Industriellen empfahl, »Annäherung an die Arbeiterklasse zu suchen«,<br />
suggerierte Plechanow den Demokraten: »Ihr müßt euch unbedingt mit den Vertretern<br />
<strong>der</strong> Handels- und Industrieklasse verständigen.« Als abschreckendes Beispiel führte<br />
Plechanow »Lenin traurigen Angedenkens« an, <strong>der</strong> so tief gesunken sei, daß er das Proletariat<br />
aufrufe, »die politische Macht sofort zu ergreifen«. Eben um vor dem Machtkampf<br />
zu warnen, brauchte die Beratung Plechanow, <strong>der</strong> auch das letzte Rüstzeug des <strong>Revolution</strong>ärs<br />
an <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> abgelegt hatte.<br />
Am Abend des Tages, an dem die Delegierten im Namen »<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong>«<br />
gesprochen hatten, erteilte Kerenski das Wort dem Vertreter <strong>der</strong> Landwirtschaftskammern<br />
und des Verbandes <strong>der</strong> Pferdezüchter, gleichfalls einem Krapotkin, einem an<strong>der</strong>en<br />
Mitghed <strong>der</strong> alten fürstlichen Familie, die, wenn man den Stammbaumlisten Glauben<br />
schenken soll, mehr Anrecht auf den <strong>russischen</strong> Thron besaß als die Romanows. »Ich bin<br />
kein Sozialist«, sagte <strong>der</strong> feudale Aristokrat, »doch ich achte den wahren Sozialismus.<br />
Wenn ich aber Expropriationen, Plün<strong>der</strong>ungen, Gewaltanmaßung sehe, dann muß ich<br />
sagen, daß die Regierung Menschen, die sich an den Sozialismus herangemacht haben,<br />
zwingen muß, <strong>der</strong> Sache des Aufhaus des Landes fernzubleiben.« Dieser zweite Krapotkin,<br />
<strong>der</strong> offen einen Pfeil gegen Tschernow abschoß, hatte gegen solche <strong>Sozialisten</strong> wie<br />
Lloyd George o<strong>der</strong> Poincaré nichts einzuwenden. Gemeinsam mit dem Antipoden aus<br />
seiner Familie, dem Anarchisten, verurteilte <strong>der</strong> Monarchist Krapotkin Zimmerwald,<br />
Klassenkampf, Landexpropriationen - ach, er war gewohnt, dies "Anarchie" zu nennen -,<br />
und er for<strong>der</strong>te gleichfalls Einigkeit und Sieg. Die Protokolle stellen lei<strong>der</strong> nicht fest, ob<br />
die Krapotkins einan<strong>der</strong> applaudierten.<br />
In <strong>der</strong> durch Haß zerspaltenen Beratung war so viel von Einigkeit gesprochen worden,<br />
daß sie sich, wenn auch für einen Augenblick, in dem unvermeidlichen symbolischen<br />
Händedruck verkörpern mußte. Über dieses Ereignis berichtete in beseelten Worten die<br />
Zeitung <strong>der</strong> Menschcwiki: »Während des Auftretens Bublikows spielt sich ein Vorfall ab,<br />
<strong>der</strong> einen tiefen Eindruck auf alle Teilnehmer <strong>der</strong> Beratung macht ... "Wenn gestern",<br />
erklärte Bublikow, "<strong>der</strong> edle Führer <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, Zeretelli, seine Hand <strong>der</strong> Industriewelt<br />
entgegengestreckt hat, so mag er wissen, daß diese Hand nicht in <strong>der</strong> Luft hängenbleiben<br />
wird ..." Als Bublikow schließt, geht Zeretelli an ihn heran und drückt ihm die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 435
Hand. Stürmische Ovationen.«<br />
Wieviel Ovationen! Zuviel Ovationen. Acht Tage vor <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>ten Szene hatte <strong>der</strong><br />
gleiche Bublikow, eine gewichtige Gestalt im Eisenbahnwesen, auf dem Industriellenkongreß<br />
an die Adresse <strong>der</strong> Sowjetführer geschrien: »Weg ihr Unehrlichen,<br />
Unwissenden, alle jene, die ... in den Abgrund gestoßen haben!«, und seine Worte waren<br />
in <strong>der</strong> Moskauer Atmosphäre noch nicht verklungen. Der alte Marxist Rjasanow, <strong>der</strong> als<br />
Mitglied einer Gewerkschaftsdelegation an <strong>der</strong> Beratung teilnahm, erinnerte sehr zur<br />
rechten Zeit an den Kuß des Lyoner Bischofs Lamourette: »an jenen Kuß, den zwei Teile<br />
<strong>der</strong> Nationalversammlung austauschten - nicht Arbeiter und Bourgeoisie, son<strong>der</strong>n zwei<br />
Teile <strong>der</strong> Bourgeoisie -, und ihr wißt, daß <strong>der</strong> Kampf niemals so wild entbrannte als nach<br />
diesem Kuß«. Mit ungewöhnlicher Offenheit gesteht Miljukow, die »Einigkeit war<br />
seitens <strong>der</strong> Industriellen unaufrichtig - aber praktisch notwendig für die Klasse, die<br />
soviel zu verlieren hatte. Eine solche Versöhnung mit Hintergedanken war auch <strong>der</strong><br />
berühmt gewordene Händedruck Bublikows.«<br />
Hat die Mehrheit <strong>der</strong> Teilnehmer an die Kraft von Händedruck und politischen Küssen<br />
geglaubt? Hat sie an sich selbst geglaubt? Ihre Gefühle waren wi<strong>der</strong>sprechend wie ihre<br />
Pläne. Zwar verspürte man in den einzelnen Reden, beson<strong>der</strong>s bei Sprechern <strong>der</strong> Randgebiete,<br />
noch das Zittern <strong>der</strong> ersten Begeisterungen, Hoffnungen und Illusionen. Jedoch<br />
ballten in <strong>der</strong> Versammlung, wo die linke Hälfte enttäuscht und demoralisiert, die rechte<br />
erbittert war, die Nachklänge <strong>der</strong> Märztage wie ein beim Scheidungsprozeß verlesener<br />
Briefwechsel von Verlobten. Die ins Reich <strong>der</strong> Gespenster entschwindenden Politiker<br />
versuchten mit gespensterhaften Mitteln ein gespenstisches Regime zu retten. Eine<br />
Todeskühle <strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit wehte über <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> »Lebendigen<br />
Kräfte«, über <strong>der</strong> Parade <strong>der</strong> Gezeichneten.<br />
Ganz am Schluß <strong>der</strong> Beratung ereignete sich ein Zwischenfall, <strong>der</strong> die tiefe Kluft auch<br />
in <strong>der</strong> Gruppe zeigte, die als Muster staatlicher Geschlossenheit galt: im Kosakentum.<br />
Nagajew, ein junger Kosakenoffizier, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Sowjetdelegation angehörte, erklärte, das<br />
werktätige Kosakentum gehe nicht mit Kaledin: die Frontkämpfer hätten kein Vertrauen<br />
zu den Kosakenspitzen. Das war richtig und traf die empfindlichste Stelle. Der Zeitungsbericht<br />
schil<strong>der</strong>t weiter die stürmischste aller Szenen <strong>der</strong> Beratung. Die Linke klatscht<br />
Nagajew begeistert Beifall. Es werden Stimmen laut: »Ehre dem revolutionären<br />
Kosakentum.« Entrüstete Proteste von rechts: »Ihr werdet dafür Rede stehen!« Eine<br />
Stimme aus <strong>der</strong> Offiziersloge: »Die deutsche Mark.« Unvermeidlich als letztes patriotisches<br />
Argument haben diese Worte die Wirkung einer geplatzten Bombe. Im Saal<br />
entsteht höllischer Lärm. Die Sowjetdelegierten springen von ihren Plätzen auf und<br />
drohen mit den Fäusten gegen die Offiziersloge. Rufe: »Provokateure!« ... Unaufhörlich<br />
tönt die Glocke des Vorsitzenden. »Es scheint - noch ein Augenblick, und ein Handgemenge<br />
beginnt.«<br />
Nach all dem Vorgefallenen versicherte Kerenski in seiner Schlußrede: »Ich glaube<br />
und weiß sogar ... es ist ein großes Verständnis füreinan<strong>der</strong> erreicht worden, es ist eine<br />
große Achtung füreinan<strong>der</strong> erreicht worden ...« Noch nie zuvor hatte sich das Doppelwesen<br />
des Februarregimes zu solch wi<strong>der</strong>licher und zweckloser Verlogenheit erhoben. Die<br />
Stimme des Redners, <strong>der</strong> selbst nicht imstande ist, diesen Ton durchzuhalten, schlägt<br />
plötzlich bei den letzten Sätzen um in einen Schrei <strong>der</strong> Verzweiflung und Drohung. »Mit<br />
versagen<strong>der</strong> Stimme, die vom hysterischen Schrei bis zum tragischen Flüstern sinkt,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 436
droht Kerenski«, nach Miljukows Schil<strong>der</strong>ung, »dem eingebildeten Gegner, den er mit<br />
flackerndem Blick im Saale sucht ...« In Wahrheit wußte Miljukow besser als sonst<br />
jemand, daß <strong>der</strong> Gegner kein eingebildeter war. »Heute, Bürger <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Erde, will<br />
ich nicht mehr träumen ... Mag das Herz steinern werden .. «, raste Kerenski, »mögen<br />
alle jene Blumen und Träume vom Menschen verdorren (eine Frauenstimme von oben:<br />
"Nicht doch!"), die man heute, von diesem Kathe<strong>der</strong> hinab, mit Füßen trat. So werde ich<br />
selbst zu treten beginnen. Sie sollen nicht mehr sein. (Eine Frauenstimme von oben: "Sie<br />
dürfen das nicht tun, Ihr Herz wird es Ihnen nicht erlauben!") Ich werde die Schlüssel<br />
zum Herzen, das die Menschen liebt, weit wegwerfen, ich werde nur an den Staat<br />
denken.«<br />
Im Saal stand ein Schau<strong>der</strong>, <strong>der</strong> diesmal beide Hälften erfaßt hatte. Die soziale Symbolik<br />
<strong>der</strong> Staatsberatung endete mit einem unerträglichen Monolog aus einem Melodrama.<br />
Die Frauenstimme, die sich zur Verteidigung <strong>der</strong> Blumen des Herzens erhob, erklang wie<br />
ein Notschrei, wie SOS-Rufe <strong>der</strong> friedlichen, sonnigen, unblutigen Februarrevolution.<br />
Über die Staatsberatung fiel endlich <strong>der</strong> Theatervorhang.<br />
Kerenskis Verschwörung<br />
Die Moskauer Beratung hatte die Lage <strong>der</strong> Regierung nur verschlechtert, indem sie,<br />
nach Miljukows richtiger Definierung, offenbarte, daß »das Land in zwei Lager geteilt<br />
ist, zwischen denen es dem Wesen nach keine Versöhnung und Verständigung geben<br />
kann.« Die Beratung hob das Selbstgefühl <strong>der</strong> Bourgeoisie und verschärfte ihre<br />
Ungeduld. An<strong>der</strong>erseits gab sie <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Massen neuen Anstoß. Der Moskauer<br />
Streik eröffnete eine Periode beschleunigter Umgruppierung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
nach links. Die Bolschewiki wachsen von nun an unaufhaltsam. In den Massen halten<br />
sich nur noch die linken Sozialrevolutionäre und teilweise die linken Menschewiki. Die<br />
Petrogra<strong>der</strong> Organisation <strong>der</strong> Menschewiki kennzeichnet ihre politische Wandlung durch<br />
Streichung Zeretellis von <strong>der</strong> Kandidatenliste für die Stadtduma. Am 16. August verlangt<br />
die Petrogra<strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre mit zweiundzwanzig gegen eine<br />
Stimme die Auseinan<strong>der</strong>jagung des Offiziersverbandes beim Hauptquartier und sonstige<br />
entschiedene Maßnahmen gegen die Konterrevolution. Am 18. August stellt <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet, trotz Wi<strong>der</strong>spruch seines Vorsitzenden Tschcheidse, die Frage <strong>der</strong><br />
Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe auf die Tagesordnung. Vor <strong>der</strong> Abstimmung über die<br />
Resolution fragt Zeretelli herausfor<strong>der</strong>nd: »Und wenn eurem Beschluß die Abschaffung<br />
<strong>der</strong> Todesstrafe nicht folgen wird, werdet ihr etwa die Menge auf die Straße rufen, um<br />
den Sturz <strong>der</strong> Regierung zu for<strong>der</strong>n? ... « - »Ja«, rufen als Antwort die Bolschewiki, »ja,<br />
wir werden die Menge aufrufen und werden den Sturz <strong>der</strong> Regierung herbeizuführen<br />
suchen.« - »Ihr tragt jetzt den Kopf hoch«, sagt Zeretelli. Die Bolschewiki trugen mit den<br />
Massen den Kopf hoch. Die Versöhnler ließen den Kopf hängen, wenn die Massen ihn<br />
erhoben. Die For<strong>der</strong>ung nach Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe wird mit allen Stimmen, etwa<br />
900 gegen 4 Stimmen angenommen. Diese vier sind; ZeretelL Tschcheidse, Dan, Liber!<br />
Vier Tage später, auf dem Vereinigungskongreß <strong>der</strong> Menschcwiki und <strong>der</strong> ihnen nahestehenden<br />
Gruppen, wo, bei Opposition Martows, in den grundlegenden Fragen Zeretellis<br />
Resolutionen durchgingen, wurde die For<strong>der</strong>ung nach sofortiger Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe<br />
ohne Debatte angenommen: Zeretelli schwieg, bereits ohnmächtig, sich dem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 437
Ansturm zu wi<strong>der</strong>setzen.<br />
In die sich verdichtende politische Atmosphäre schnitten die Ereignisse an <strong>der</strong> Front<br />
ein. Am 19. August durchbrachen die Deutschen die russische Linie bei Üxküll, am 21.<br />
besetzten sie Riga. Die Erfüllung <strong>der</strong> Kornilowschen Prophezeiung bildete, wie vorher<br />
verabredet, das Signal zur politischen Offensive <strong>der</strong> Bourgeoisie. Die Presse verzehnfachte<br />
die Kampagne gegen die »nichtarbeitenden Arbeiter« und »nichtkämpfenden<br />
Soldaten«. Die <strong>Revolution</strong> wird für alles verantwortlich gemacht: sie hat Riga übergeben,<br />
sie ist bereit, Petrograd preiszugeben. Die Hetze gegen die Armee, ebenso wütend wie<br />
an<strong>der</strong>thalb bis zwei Monate zuvor, hatte diesmal nicht den Schatten einer Berechtigung.<br />
Im Juni hatten sich die Soldaten tatsächlich geweigert, vorzugehen: sie wollten nicht die<br />
Front aufwühlen, die Deutschen aus <strong>der</strong> Passivität heraustreiben, Kämpfe aufleben<br />
lassen. Bei Riga jedoch gehörte die Initiative des Angriffs dem Feinde, und die Soldaten<br />
waren an<strong>der</strong>er Stimmung. Gerade die am meisten durchpropagierten Teile <strong>der</strong> 12. Armee<br />
erlagen Panikgefühlen am wenigsten.<br />
Der Armeekommandierende, General Parski, rühmte sich, und nicht ganz grundlos, <strong>der</strong><br />
Rückzug vollziehe sich "musterhaft" und könne mit dem Rückzug aus Galizien o<strong>der</strong><br />
Ostpreußen nickt verglichen werden. Der Kommissar Wojtinski berichtete: »Die ihnen<br />
aufgetragenen Aufgaben im Durchbruchsgebiet erfüllen unsere Truppen ehrlich und<br />
wi<strong>der</strong>spruchslos, doch sind sie nicht imstande, dem Ansturm des Feindes lange zu wi<strong>der</strong>stehen,<br />
und gehen unter furchtbaren Verlusten schrittweise zurück. Ich erachte für<br />
notwendig, auf den äußersten Heldenmut <strong>der</strong> lettischen Schützen hinzuweisen, <strong>der</strong>en<br />
Reste trotz völliger Erschöpfung wie<strong>der</strong> in den Kampf eingesetzt wurden« ... Noch<br />
gehobener klang <strong>der</strong> Bericht des Armeekomiteevorsitzenden, des Mensche-wiken<br />
Kutschin: »Die Stimmung <strong>der</strong> Soldaten ist bewun<strong>der</strong>nswert. Nach dem Zeugnis von<br />
Komiteemitgliedem und Offizieren ist die Standhaftigkeit so groß wie nie zuvor.« Ein<br />
an<strong>der</strong>er Vertreter <strong>der</strong> gleichen Armee berichtete einige Tage später in <strong>der</strong> Bürositzung<br />
des Exekutivkomitees: »In <strong>der</strong> Tiefe <strong>der</strong> Durchbruchslinie befand sich nur eine lettische<br />
Brigade, die fast durchweg aus Bolschewiki bestand .. . Als sie den Befehl erhielt,<br />
vorwärtszugehen, rückte [die Brigade] mit roten Bannem und Musikorchester vor und<br />
schlug sich außerordentlich tapfer.« Im gleichen Sinne, wenn auch zurückhalten<strong>der</strong>,<br />
schrieb später Stankewitsch: »Sogar im Armeestab, wo Personen saßen, die mit Vorbedacht<br />
eine Möghchkeit suchten, die Schuld auf die Soldaten abzuwälzen, konnte man mir<br />
keinen einzigen konkreten Fall von Nichterfüllung irgendeines Befehis, geschweige denn<br />
eines Kampfbefehls, nennen.« Bei <strong>der</strong> Mondsuner Operation bewiesen die Landungskommandos<br />
<strong>der</strong> Seeleute, wie aus offiziellen Dokumenten hervorgeht, bedeutende Standhaftigkeit.<br />
Für die Stimmung <strong>der</strong> Truppen, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> lettischen Schützen und baltischen<br />
Seeleute, war die Tatsache keineswegs gleichgültig, daß es diesmal unmittelbar um die<br />
Verteidigung zweier <strong>Revolution</strong>szentren ging: Riga und Petrograd. Die fortgeschritteneren<br />
Truppenteile waren inzwischen von jener boschewistischen Idee erfüllt, daß »das<br />
Bajonett in die Erde stecken« noch nicht bedeute, die Kriegsfrage lösen; daß <strong>der</strong> Kampf<br />
um den Frieden vom Kampf um die Macht unzertrennbar sei, das heißt von einer neuen<br />
<strong>Revolution</strong>.<br />
Wenn auch einzelne Kommissare, durch den Ansturm <strong>der</strong> Generale verängstigt, die<br />
Standhaftigkeit <strong>der</strong> Armee übertrieben, so bleibt immerhin die Tatsache bestehen, daß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 438
Soldaten und Matrosen die Befehle erfüllten und starben. Mehr konnten sie nicht tun.<br />
Doch eine Verteidigung im wahren Sinne des Wortes hat trotzdem nicht stattgefunden.<br />
So unwahrscheinlich es ist, die 12. Armee wurde völlig überrascht. Es fehlte an allem: an<br />
Menschen, Geschützen, Munition, Gasmasken. Der Nachrichtendienst funktionierte unter<br />
je<strong>der</strong> Kritik. Attacken mußten verschoben werden, weil man für die <strong>russischen</strong> Gewehre<br />
Patronen japanischen Musters geliefert hatte. Dabei handelte es sich nicht um einen<br />
zufälligen Frontabschnitt. Die Bedeutung des Verlustes von Riga war kein Geheimnis für<br />
das Oberkommando. Wie aber läßt sich <strong>der</strong> außerordentlich klägliche Zustand <strong>der</strong> Verteidigungskräfte<br />
und -mittel <strong>der</strong> 12. Armee erklären? »... Die Bolschewiki«, schreibt<br />
Stankewitsch, »verbreiteten bereits Gerüchte, wonach die Stadt den Deutschen absichtlich<br />
übergeben worden sei, da <strong>der</strong> Oberbefehl dieses Nest und diese Brutstätte des<br />
Bolschewismus loswerden wollte. Diese Gerüchte mußten Glauben finden in <strong>der</strong> Armee,<br />
die wußte, daß es eigentlich we<strong>der</strong> Verteidigung noch Wi<strong>der</strong>stand gegeben hatte.«<br />
Tatsächlich hatten sich bereits im Dezember 1916 die Generale Russki und Brjussilow<br />
darüber beklagt, Riga sei das »Unglück <strong>der</strong> Nordfront«, ein »durchpropagiertes Nest«,<br />
gegen das man nicht an<strong>der</strong>s als mit Erschießungen ankämpfen könne. Die Rigaer Arbeiter<br />
und Soldaten in die Lehre <strong>der</strong> deutschen Armeeokkupation zu geben, mußte <strong>der</strong><br />
geheime Traum vieler Generale <strong>der</strong> Nordfront sein. Selbstverständlich nahm niemand an,<br />
<strong>der</strong> Höchstkommandierende hätte Rigas Preisgabe befohlen. Doch alle Kommandeure<br />
hatten Kornilows Rede gelesen und das Interview seines Stabschefs Lukomski. Das<br />
ersetzte vollauf einen Befehl. Der Oberkommandierende <strong>der</strong> Nordfront, General<br />
Klembowski, gehörte zur engeren Verschwörerclique und erwartete mithin die Übergabe<br />
Rigas als das Signal zu rettenden Aktionen. Auch unter normaleren Verhältnissen hatten<br />
die <strong>russischen</strong> Generale Übergaben und Rückzüge bevorzugt. Jetzt, wo von ihnen die<br />
Verantwortung von vornherein durch das Hauptquartier abgenommen worden war und<br />
das politische Interesse sie auf den Weg des Defätismus stieß, unternahmen sie nicht<br />
einmal den Versuch einer Verteidigung. Ob <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e General passiver<br />
Sabotage <strong>der</strong> Verteidigung noch aktive Schädlingsarbeit hinzufügte, ist eine Frage<br />
zweiter Ordnung, ihrem Wesen nach schwer zu entscheiden. Es wäre jedoch naiv,<br />
anzunehmen, die Generale hätten sich gescheut, nach Kräften dem Schicksal in allen<br />
Fällen nachzuhelfen, wo ihre verräterischen Taten straflos bleiben konnten.<br />
Der amerikanische Joumalist John Reed, <strong>der</strong> zu sehen und zu hören verstand und <strong>der</strong><br />
ein unsterbliches Chronikbuch über die Tage <strong>der</strong> Oktoberrevolution hinterlassen hat, sagt<br />
geradeheraus daß ein großer Teil <strong>der</strong> besitzenden Klassen in Rußland den Sieg <strong>der</strong><br />
Deutschen einem Triumph <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorzog und sich nicht genierte, dies offen<br />
auszusprechen. »Ich hatte einmal Gelegenheit«, erzählt Reed unter an<strong>der</strong>en Beispielen,<br />
»einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns zu verbringen; beim Teetisch saßen<br />
elf Menschen. Der Gesellschaft wurde die Frage gestellt, wen sie vorzögen, Wilhelm<br />
o<strong>der</strong> die Bolschewiki? Zehn von elf entschieden sich für Wilhelm.« Der gleiche amerikanische<br />
Schriftsteller unterhielt sich an <strong>der</strong> Nordfront mit Offizieren, die »offen eine<br />
militärische Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen« 9 .<br />
Die von den Bolschewiki, und nicht von ihnen allein, erhobene politische Beschuldigung<br />
war vollauf begründet damit, daß die Übergabe Rigas dem Plan <strong>der</strong> Verschwörer<br />
entsprach und einen vorbestimmten Platz im Kalen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verschwörung einnahm. Das<br />
9 John Reed: "10 Tage, die die Welt erschütterten", (Auf <strong>der</strong> IS-CD-Rom), S. 17<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 439
schimmerte ganz klar zwischen den Worten <strong>der</strong> Moskauer Rede Kornilows hindurch. Die<br />
weiteren Ereignisse haben diese Seite <strong>der</strong> Sache restlos aufgehellt. Doch besitzen wir<br />
auch ein direktes Zeugnis, dem die Person des Zeugen eine für diesen Fall unbestreitbare<br />
Zuverlässigkeit verleiht. Miljukow erzählt in seiner "<strong>Geschichte</strong>": »In Moskau eben<br />
verwies Kornilow in seiner Rede auf jenen Moment, über den hinaus er entscheidende<br />
Schrittc zur "Rettung des Landes vor Untergang und <strong>der</strong> Armee vor Zerfall" nicht<br />
verschieben wollte. Diesen Moment bildete <strong>der</strong> von ihm vorausgesagte Fall Rigas. Diese<br />
Tatsache mußte, seiner Meinung nach, eine Flut patriotischer Erregung ... hervorrufen ...<br />
Wie Kornilow bei unserer Zusammenkunft in Moskau am 13. August mir persönlich<br />
sagte, wollte er dicse Gelegenheit nicht verpassen, und den Moment des offenen Konfliktes<br />
mit <strong>der</strong> Kerenski-Regierung stellte er sich im Geiste klar umrissen, bis auf das im<br />
voraus festgelegte Datum des 27. August, vor.« Kann man sich deutlicher ausdrücken?<br />
Zur Durchführung des Marsches auf Petrograd brauchte Kornilow die Übergabe Rigas<br />
einige Tage vor dem im voraus festgelegten Termin, Die Rigaer Positionen verstärken,<br />
ernste Verteidigungsmaßnahmcn treffen, hätte bedeutet, den Plan einer an<strong>der</strong>en, für<br />
Kornilow unermeßlich wichtigeren Kampagne zu stören. Wenn Paris eine Messe wert ist,<br />
so ist die Macht Riga wert.<br />
Während <strong>der</strong> Woche, die zwischen <strong>der</strong> Übergabe Rigas und Kornilows Aufstand<br />
verstrich, wurde das Hauptquartier Zentralreservoir für Verleumdung <strong>der</strong> Armee. Die<br />
Informationen des <strong>russischen</strong> Stabs und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Presse fanden sofort Wi<strong>der</strong>hall in<br />
<strong>der</strong> Ententepresse. Die <strong>russischen</strong> patriotischen Blätter ihrerseits druckten mit Entzücken<br />
Verhöhnungen und Beschinipfungen <strong>der</strong> 'Times', des 'Temps' o<strong>der</strong> des 'Matin' an die<br />
Adresse <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee nach. Die Soldatenfront erbebte vor Kränkung, Entrüstung<br />
und Abscheu. Kommissare und Komitees, durchwegs versöhnlerisch und patriorisch,<br />
fühlten sieh am empfindlichsten verletzt. Von allen Seiten kamen Proteste. Beson<strong>der</strong>s<br />
kraß war ein Schreiben des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Rumänischen Front, des Odessaer<br />
Militärbezirks und <strong>der</strong> Sebwarzmeerflotte, des sogenannten "Rumtscherods", das an das<br />
Zentral-Exekutivkoniitee die For<strong>der</strong>ung stellte: »Vor ganz Rußland den Heldenmut und<br />
die selbstlose Tapferkeit <strong>der</strong> Soldaten <strong>der</strong> Rumänischen Front anzuerkennen; die Pressehetze<br />
gegen die Soldaten einzustellen, welche täglich in Verteidigung des revolutionären<br />
Rußland zu Tausenden in erbitterten Kämpfeis ihr Leben lassen ...« Unter dem Einfluß<br />
<strong>der</strong> Proteste von unten traten die Versöhnlerspitzen aus ihrer Passivität heraus. »Es will<br />
scheinen, als existiere kein Schmutz, den die bürgerlichen Zeitungen nicht gegen die<br />
revolutionäre Armee schleu<strong>der</strong>ten«, schrieben die 'lswestja' über ihre Blockverbündeten.<br />
Aber nichts verfing. Die Hetze gegen die Armee bildete einen notwendigen Bestandteil<br />
jener Verschwörung, in <strong>der</strong>en Zentrum das Hauptquartier stand.<br />
Gleich nach <strong>der</strong> Räumung Rigas erteilte Kornilow telegraphisch Befehl, einige Soldaten<br />
vor den Augen <strong>der</strong> übrigen am Wege zu erschießen als warnendes Exempel.<br />
Kommissar Wojtinski und General Parski antworteten, daß sich ihrer Meinung nach aus<br />
dem Verhalten <strong>der</strong> Soldaten solche Maßnahmen keinesfalls rechtfertigen ließen. Außer<br />
sich erklärte Kornilow in <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> im Hauptquartier anwesenden Komiteevertreter,<br />
er werde Wojtinski und Parski vor Gericht stellen, weil sie keine wahrheitsgemäßen<br />
Berichte über die Lage in <strong>der</strong> Armee geben, das heißt, nach Stankewitschs<br />
Erläuterung, »die Schuld nicht auf die Soldaten abwälzen«. Zur Vervollständigung des<br />
Bildes muß hinzugefügt werden, daß Kornilow am gleichen Tage den Armeestäben<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 440
efohlen hatte, Listen <strong>der</strong> bolschewistischen Offiziere dem Hauptkomitee des Offizierverbandes<br />
einzuschicken, also <strong>der</strong> konterrevolutionären Organisation, an <strong>der</strong>en Spitze <strong>der</strong><br />
Kadett Nowossilzew stand und die <strong>der</strong> wichtigste Hebel <strong>der</strong> Verschwörung war. So <strong>der</strong><br />
Höehstkommandierende, »<strong>der</strong> Erste Soldat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«!<br />
Entschlossen, ein Zipfelehen des Vorhanges zu lüften, schrieben die 'Iswestja': »Eine<br />
finstere Clique, den höchsten Kommandostellen sehr nahestehend, leistet ungeheuerliche<br />
Provokationsarbeit« ... Mit »finstere Clique« war Kornilow und dessen Stab gemeint.<br />
Das Wetterleuchten des nahenden Bürgerkrieges erhellte in neuem Lichte nicht nur den<br />
heurigen, son<strong>der</strong>n auch den gestrigen Tag. lm Wege <strong>der</strong> Selbstverteidigung begannen die<br />
Versöhnler das verdächtige Verhalten des Kommandobestandes während <strong>der</strong> Junioffensive<br />
zu enthüllen. In die Presse drangen immer mehr Einzelheiten über die von den<br />
Stäben böswillig verleumdeten Divisionen und Regimenter. »Rußland hat das Recht, zu<br />
verlangen«, schrieben die 'Iswestja', »daß man ihm die ganze Wahrheit über unseren<br />
Julirückzug offenbart.« Diese Zeilen wurden von Soldaten, Matrosen, Arbeitern gierig<br />
gelesen, beson<strong>der</strong>s von jenen, die als angebliche Schuldige <strong>der</strong> Katastrophe an <strong>der</strong> Front<br />
noch immer die Gefängnisse füllten. Zwei Tage später sahen sich die 'lswestja' gezwungen,<br />
nunmehr offen zu erklären, »das Hauptquartier verfolgt mit seinen Meldungen ein<br />
bestimmtes politisches Spiel gegen die Provisorische Regierung und die revolutionäre<br />
Demokratie«. Die Regierung erschien in diesen Zeilen als unschuldiges Opfer <strong>der</strong> Ränke<br />
des Hauptquarriers. Dabei sollte man doch meinen, die Regierung hätte alle Möglichkeiten<br />
gehabt, die Generale in die Schranken zu weisen. Unterließ sie es, so deshalb, weil<br />
sie nicht wollte.<br />
In dem obenerwähnten Protest gegen die heimtückische Soldatenhetze wurde vom<br />
"Rumtscherod" mit beson<strong>der</strong>er Entrüstung darauf verwiesen, daß, »während die Berichte<br />
aus dem Hauptquartier ... den Heldenmut <strong>der</strong> Offiziere unterstreichen, sie offenbar<br />
absichtlich die Ergebenheit <strong>der</strong> Soldaten für die Sache <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
verkleinern«. Der Protest des "Rumtscherod" erschien in <strong>der</strong> Presse am 22. August, und<br />
am nächsten Tage wurde ein Son<strong>der</strong>befehl Kerenskis veröffentlicht, gewidmet <strong>der</strong><br />
Ehrung des Offiziersstandes, <strong>der</strong> »seit den ersten Tagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Schmälerung<br />
seiner Rechte erleben mußte« sowie unverdiente Kränkungen seitens <strong>der</strong> Soldatenmasse,<br />
»die ihre Feigheit mit ideologischen Parolen verhüllte«. Während seine nächsten Gehilfen,<br />
Stankewitsch, Wojtinski und an<strong>der</strong>e, gegen die Soldatenhetze protestierten, schloß<br />
sich Kerenski demonstrativ <strong>der</strong> Hetze an, die er durch den provokatorischen Befehl als<br />
Kriegsminister und Regierungshaupt noch krönte. Später hat Kerenski eingestanden, daß<br />
er bereits Ende Juli »genaue Mitteilungen« in Händen gehabt hätte über die Offiziersverschwörung,<br />
die sieh um das Hauptquartier gruppierte. »Das Hauptkomitee des Offiziersverbandes<br />
stellte«, nach Kerenskis Worten, »aus seiner Mitte die aktiven Verschwörer,<br />
seine Mitglie<strong>der</strong> waren lokale Agenten <strong>der</strong> Konspiration; sie gaben auch bei den legalen<br />
Aktionen des Verbandes den nötigen Ton an.« Das ist vollkommen richtig. Es muß nur<br />
hinzugefügt werden, daß <strong>der</strong> »nötige Ton« <strong>der</strong> Ton <strong>der</strong> Verleumdung gegen Armee,<br />
Konzitees und <strong>Revolution</strong> war, das heißt <strong>der</strong> gleiche Ton, von dem Kerenskis Befehl<br />
vom 23. August durchdrungen war.<br />
Wie ist dieses Rätsel zu erklären? Daß Kerenski keine überlegte und konsequente<br />
Politik trieb, ist unbestreitbar. Doch hätte er unzurechnungsfähig sein müssen, um, von<br />
<strong>der</strong> Offiziersverschwörung wissend, dein Säbel <strong>der</strong> Verschwörer den Kopf hinzuhalten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 441
und ihnen gleichzeitig zu helfen, sich zu maskieren. Die Lösung des auf den ersten Blick<br />
unfaßbaren Verhaltens Kerenskis ist in Wirklichkeit sehr einfach: er selbst war zu jener<br />
Zeit Teilnehmer <strong>der</strong> Verschwörung gegen das ausweglose Regime <strong>der</strong> Februarrevolution.<br />
Als die Zeit <strong>der</strong> Geständnisse gekommen war, bekundete Kerenski, daß man ihm aus<br />
Kosakenkreisen, aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Offiziere und bürgerlichen Politiker mehr als einmal<br />
die persönliche Diktatur angetragen hatte. »Aber das fiel auf unfruchtbaren Boden« ...<br />
Kerenskis Position warjedenfalls <strong>der</strong>art, daß die Führer <strong>der</strong> Konterrevolution die<br />
Möglichkeit hatten, ohne etwas zu riskieren, mit ihm Meinungen über einen Staatsstreich<br />
auszutausehen. »Die ersten Gespräche üher das Thema Diktatur in Form von behutsamen<br />
Sondierungen des Bodens« begannen, nach Denikins Worten, Anfang Juni, das<br />
heißt während <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front. An diesen Gesprächen beteiligte<br />
sich nicht selten auch Kerenski, wobei es sich in solchen Fällen von selbst verstand,<br />
insbeson<strong>der</strong>e für Kerenski, daß gerade er im Zentrum <strong>der</strong> Diktatur stehen werde. Suchanow<br />
sagt über Kerenski treffend: »Er war Kornilowianer - nur unter <strong>der</strong> Bedingung, daß<br />
an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Kornilowiade er selbst stände.« In den Tagen des Zusammenbruchs <strong>der</strong><br />
Offensive hatte Kerenski Kornilow und an<strong>der</strong>en Generalen viel mehr versprochen, als er<br />
zu halten vermochte. »Bei seinen Frontreisen«, erzählt General Lukomski, »pflegte<br />
Kerenski Mut zu fassen und mit seinen Begleitern wie<strong>der</strong>holt die Fragen <strong>der</strong> Schaffung<br />
einer festen Macht, <strong>der</strong> Bildung eines Direktoriums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Machtübertragung an einen<br />
Diktator zu diskutieren.« Seinem Charakter entsprechend brachte Kerenski in diese<br />
Unterhaltungen ein Element von Fornilosigkeit, Unordentlichkeit, Dilettantismus hinein.<br />
Die Generale hingegen neigten zu stabsmäßiger Formvollendung.<br />
Die zwanglose Teilnahme Kerenskis an den Unterhaltungen <strong>der</strong> Generale legalisierte<br />
sozusagen die Idee <strong>der</strong> Militärdiktatur, <strong>der</strong> man aus Vorsicht gegen die noch nicht<br />
erwürgte <strong>Revolution</strong> am häufigsten den Namen Direktorium verlieh. In welchem Maße<br />
hier historische Reminiszenzen an Frankreichs Regierung nach dem Thermidor eine<br />
Rolle spielten, ist schwer zu sagen. Aber neben <strong>der</strong> reinen Wortmaskierung bot das<br />
Direktorium für den Anfang die unbestreitbare Bequemlichkeit, daß es die Koordinierung<br />
persönlicher Ehrgeize erlaubte. Im Direktorium sollte sich nicht nur Platz für<br />
Kerenski und Kornilow, son<strong>der</strong>n auch für Sawinkow, sogar für Filonenko finden:<br />
überhaupt für Menschen von »eisernem Willen«, wie sich die Direktoriumskandidaten<br />
selbst ausdrückten. Je<strong>der</strong> von ihnen hätschelte im stillen den Gedanken, von <strong>der</strong> Kollektivdiktatur<br />
später zur persönlichen Diktatur übergehen zu können.<br />
Für das Verschwörergeschäft mit dem Hauptquartier hatte Kerenski folglich keinerlei<br />
schroffe Wendung nötig, es genügte, das einmal Begonnene zu entwickeln und fortzusetzen.<br />
Er glaubte dabei, er werde <strong>der</strong> Verschwörung <strong>der</strong> Generale die nötige Richtung<br />
geben können, indem er sie nicht nur auf die Bolschewiki, son<strong>der</strong>n in gewissen Grenzen<br />
auch auf die Köpfe <strong>der</strong> eigenen Verbündeten und lästigen Vormün<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong><br />
Versöhnler sausen lassen würde. Kerenski manövrierte so, daß er, ohne die Verschwörer<br />
restlos zu entlarven, sie gehörig schrecken und in seine Absichten einbeziehen konnte. Er<br />
ging dabei bis hart an jene Grenze, hinter <strong>der</strong> das Regierungshaupt sich bereits in einen<br />
illegalen Konspirator verwandelt. »Kerenski bedurfte eines energischen Druckes von<br />
rechts, seitens <strong>der</strong> kapitalistischen Cliquen, alliierten Gesandtschaften und beson<strong>der</strong>s<br />
des Hauptquartiers«, schrieb Trotzki Anfang September, »damit ihm geholfen werde,<br />
sich restlos die Hände frei zu machen. Kerenski wollte die Meuterei <strong>der</strong> Generale zur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 442
Festigung seiner Diktatur ausnutzen.«<br />
Einen Wendepunkt bildete die Staatsberatung. Nachdem er aus Moskau neben <strong>der</strong><br />
Illusion <strong>der</strong> unbeschränkten Möglichkeiten das erniedrigende Gefühl persönlicher<br />
Nie<strong>der</strong>lage mitgenommen hatte, entschloß sich Kerenski, endlich alle Zweifel beiseitezuschieben<br />
und sich ihnen in ganzer Größe zu zeigen. Welchen »ihnen«? Allen. In erster<br />
Linie den Bolschewiki, die unter die prächtige nationale Inszenierung die Mine des<br />
Generalstreiks gelegt hatten. Damit gleichzeitig ein für allemal die Rechten treffend, alle<br />
jene Gutschkow und Miljukow, die ihn nicht ernst nehmen. Schließlich auch »ihnen«<br />
gründlich Angst einjagen, den Versöhnlerschulmeistern von <strong>der</strong> Art des verhaßten<br />
Zeretelli, <strong>der</strong> ihn, den Auserwählten <strong>der</strong> Nation, sogar in <strong>der</strong> Staatsberatung zu korrigieren<br />
und zu belehren gewagt hat. Kerenski beschloß fest und endgültig, <strong>der</strong> ganzen Welt<br />
zu zeigen, daß er gar kein »Hysteriker«, kein »Harlekin«, keine »Ballerina« sei, wie<br />
immer offener ihn die Garde- und Kosakenoffiziere nannten, son<strong>der</strong>n ein eiserner Mann,<br />
<strong>der</strong> sein Herz fest verschloß und den Schlüssel ins Meer warf trotz allem Flehen <strong>der</strong><br />
schönen Unbekannten in <strong>der</strong> Theaterloge.<br />
Stankewitsch bemerkt bei Kerenski in jenen Tagen das »Bestreben«, irgendein neues<br />
Wort zu sagen, das <strong>der</strong> ganzen Unruhe und Verwirrung des Landes entsprechen könnte.<br />
Kerenski ... beschloß, Disziplinarstrafen in <strong>der</strong> Armee einzuführen. Wahrscheinlich war<br />
er bereit, <strong>der</strong> Regierung auch noch an<strong>der</strong>e entschiedene Maßnahmen vorzuschlagen ...<br />
Stankewitsch kannte nur jenen Teil <strong>der</strong> Absichten seines Chefs, den dieser ihm mitzuteilen<br />
für angebracht hielt. In Wirklichkeit gingen Kerenskis Absichten zu jener Zeit bereits<br />
viel weiter. Er hatte beschlossen, mit einem Schlag Kornilow den Boden unter den Füßen<br />
wegzuziehen, indem er dessen Programm durchführte und damit die Bourgeoisie an sich<br />
fesselte. Gutschkow hatte nicht vermocht, die Truppen für die Offensive in Bewegung zu<br />
setzen, er, Kerenski, hatte es vermocht. Kornilow kann Kornilows Programm nicht<br />
durchführen. Er, Kerenski, wird es können. Der Moskauer Streik hat allerdings daran<br />
erinnert, daß auf diesem Wege Hin<strong>der</strong>nisse erwachsen können. Doch die Julitage haben<br />
gezeigt, daß man auch damit fertigzuwerden vermag. Nur muß man diesmal ganze Arbeit<br />
machen und den Freunden von links nicht erlauben, einem in den Arm zu fallen. Vor<br />
allem ist es notwendig, die Petrogra<strong>der</strong> Garnison restlos zu erneuern: die revolutionären<br />
Regimenter durch »gesunde« Truppenteile zu ersetzen, die sich nicht nach Sowjets<br />
umschauen würden. Über diesen Plan sich mit dem Exekutivkomitee zu verständigen,<br />
besteht keine Möglichkeit, ist auch nicht nötig: die Regierung ist als unabhängig<br />
anerkannt und in diesem Zeichen in Moskau gekrönt worden. Allerdings verstehen die<br />
Versöhnler die Unabhängigkeit nur formal, als Mittel zur Versöhnung <strong>der</strong> Liberalen.<br />
Aber er, Kerenski, wird das Formale in Materielles umwandeln: hat er doch nicht<br />
umsonst in Moskau gesagt, er sei we<strong>der</strong> mit den Rechten, noch mit den Linken, und dies<br />
sei seine Stärke. Jetzt wird er es durch die Tat zeigen.<br />
Die Linien des Exekutivkomitees und Kerenskis gingen in den Tagen nach <strong>der</strong><br />
Beratung immer weiter auseinan<strong>der</strong>: die Versöhnler bekamen Angst vor den Massen,<br />
Kerenski - vor den besitzenden Klassen. Die Volksmassen for<strong>der</strong>ten die Abschaffung <strong>der</strong><br />
Todesstrafe an <strong>der</strong> Front. Kornilow, Kadetten und Ententegesandtschaften <strong>der</strong>en Einführung<br />
im Hinterlande.<br />
Am 19. August telegraphierte Kornilow an den Ministerpräsidenten: »Erkläre<br />
dringend für notwendig, den Petrogra<strong>der</strong> Bezirk mir zu unterstellen.« Das Hauptquartier<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 443
streckte offen die Hand nach <strong>der</strong> Hauptstadt aus. Am 24. August faßte das Exekutivkomitee<br />
Mut, in aller Öffentlichkeit zu for<strong>der</strong>n; die Regierung möge den »konterrevolutionären<br />
Machinationen« ein Ende machen und an die Verwirklichung <strong>der</strong> demokratischen<br />
Umgestaltungen herangehen. Das war eine neue Sprache. Kerenski hatte zu wählen<br />
zwischen <strong>der</strong> Anpassung an die demokratische Plattform, die bei all ihrer Dürftigkeit<br />
zum Bruch mit den Liberalen und den Generalen führen konnte, und Kornilows<br />
Programm, das unabwendbar zum Zusammenstoß mit den Sowjets führen mußte.<br />
Kerenski beschloß, Kornilow, Kadetten und Entente die Hand entgegenzustrecken. Den<br />
offenen Kampf gegen rechts wollte er um jeden Preis vermeiden.<br />
Zwar wurde am 21. August über die Großfürsten Michail Alexandrowitseh und Pawel<br />
Alexandrowitseh Hausarrest verhängt. Einige an<strong>der</strong>e Personen wurden dabei in Haft<br />
genommen. Doch war all das zu unerust, und die Verhafteten mußten gleich wie<strong>der</strong><br />
freigelassen werden: »... Es stellte sich heraus«, erklärte Kerenski bei seinen späteren<br />
Aussagen in Sachen Kornilow, »daß wir absichtlich auf eine falsche Fährte gelenkt<br />
worden waren,« Man hätte hinzufügen müssen: unter Mitwirkung Kerenskis. War es<br />
doch ganz offenkundig, daß es für die ernsten Verschwörer, das heißt für die gesamte<br />
rechte Hälfte <strong>der</strong> Moskauer Beratung, gar nicht um die Wie<strong>der</strong>errichtung <strong>der</strong> Monarchie<br />
ging, son<strong>der</strong>n um die Aufrichtung <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> Bourgeoisie über das Volk. In diesem<br />
Sinne hatten Kornilow und alle seine Gesinnungsgenossen nicht ohne Empörung die<br />
Anschuldigung »konterrevolutionärer«, das heißt monarchistischer Absichten zurückgewiesen.<br />
Allerdings tuschelten irgendwo in Hinterhöfen ehemalige Würdenträger, Flügeladjutanten,<br />
Hofdamen, Hofschwarzhun<strong>der</strong>t, Quacksalber, Mönche, Ballerinen. Doch<br />
dies war eine völlig belanglose Größe. Der Sieg <strong>der</strong> Bourgeoisie konnte nicht an<strong>der</strong>s<br />
kommen als in <strong>der</strong> Form einer Militärdiktatur. Die Frage <strong>der</strong> Monarchie hätte nur auf<br />
einer späteren Etappe entstehen können, wie<strong>der</strong>um jedoch auf Basis <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Konterrevolution, nicht aber Rasputinscher Hofdamen. Für die gegebene Periode war<br />
Realität <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Bourgeoisie gegen das Volk, unter Kornilows Banner. Während<br />
er mit diesem Lager ein Bündnis suchte, war Kerenski um so geneigter, sich durch die<br />
fiktive Verhaftung <strong>der</strong> Großfürsten gegen den Argwohn <strong>der</strong> Linken zu decken. Die<br />
Mechanik war <strong>der</strong>art durchsichtig, daß die Moskauer Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki bereits<br />
damals schrieb: »Einige himlose Puppen aus <strong>der</strong> Sippschaft <strong>der</strong> Romanows verhaften<br />
und ... die Militärclique aus den Kommandospitzen mit Kornilow voran in Freiheit belassen,<br />
das heißt, das Volk betrügen« ... Deshalb eben waren die Bolschewiki verhaßt, weil<br />
sie alles sahen und über alles laut sprachen.<br />
Inspirator und Leiter Kerenskis in jenen kritischen Tagen wird Sawinkow, Abenteurer<br />
von großem Format, <strong>Revolution</strong>är vom Sportlertyp, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Schule des individuellen<br />
Terrors Verachtung für die Masse mitgebracht hatte; ein Mann von Begabung und<br />
Willen, was ihn übrigens nicht hin<strong>der</strong>te, jahrelang ein Werkzeug in den Händen des<br />
berühmten Provokateurs Asew zu sein; Skeptiker und Zyniker, <strong>der</strong> sich, und nicht ohne<br />
Grund, für berechtigt hielt, auf Kerenski von oben herab zu blicken und, die rechte Hand<br />
am Mützenschirm, ihn mit <strong>der</strong> linken ehrerbietigst an <strong>der</strong> Nase herumzuführen. Dem<br />
Kerenski imponierte Sawinkow als Mann <strong>der</strong> Tat, dem Kornilow als waschechter<br />
<strong>Revolution</strong>är von historischem Namen. Miljukow gibt eine interessante Darstellung <strong>der</strong><br />
ersten Begegnung des Kommissars mit dem General wie<strong>der</strong>, nach Sawinkows eigenen<br />
Worten. »General«, sagte Sawinkow, »ich weiß, sollten sich die Verhältnisse so gestal-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 444
ten, daß Sie mich erschießen müßten, Sie werden mich erschießen.« Dann - nach einer<br />
Pause, fügte er hinzu: »Würden sich aber die Verhältnisse so gestalten, daß ich Sie<br />
erschießen müßte, ich würde es ebenfalls tun.« Sawinkow gehörte zur Literatur, kannte<br />
Corneille und Hugo und neigte zum erhabenen Genre. Kornilow plante, die <strong>Revolution</strong><br />
abzuschlachten, ohne Rücksicht auf die Formeln des Pseudoklassizismus und <strong>der</strong><br />
Romantik. Aber auch <strong>der</strong> General war nicht unzugänglich für den Zauber eines »starken<br />
künstlerischen Stils«: die Worte des ehemaligen Terroristen mußten das in dem ehemaligen<br />
Schwarzhun<strong>der</strong>tler lebende heroische Prinzip angenehm kitzeln.<br />
In einem später erschienen Zeitungsartikel, offenkundig von Sawinkow inspiriert,<br />
vielleicht auch von ihm geschrieben, wurden seine eigenen Pläne ziemlich durchsichtig<br />
erläutert. »Noch als er Kommissar war«, sagte <strong>der</strong> Artikel, »... kam Sawinkow zu <strong>der</strong><br />
Überzeugung, daß die Provisorische Regierung nicht imstande war, das Land aus <strong>der</strong><br />
schwierigen Lage herauszuführen. Hier mußten an<strong>der</strong>e Kräfte wirken. Jedoch konnte die<br />
gesamte Arbeit in dieser Richtung nur unter dem Banner <strong>der</strong> Provisorischeu Regierung,<br />
insbeson<strong>der</strong>e Kerenskis, vollbracht werden. Das wäre die revolutionäre Diktatur<br />
gewesen, verwirklicht durch eine eiserne Hand. Diese Hand sah Sawinkow bei ...<br />
General Kornilow.« Kerenski als »revolutionäre« Deckung, Kornilow die eiserne Hand.<br />
Die Rolle des Dritten verschweigt <strong>der</strong> Artikel. Es kann aber kein Zweifel bestehen, daß<br />
Sawinkow den Höchstkommandierenden mit dem Premier versöhnte, nicht ohne die<br />
Absicht, beide beiseite zu schieben. Eine Zeit lang begann dieser Hintergedanke <strong>der</strong>art<br />
nach außen zu drängen, daß Kerenski trotz Kornilows Protest just am Vorabend <strong>der</strong><br />
Beratung Sawinkow zwang, zu demissionieren. Aber, wie in diesem Kreise überhaupt<br />
alles, trug diese Demission keinen endgültigen Charakter. »Am 17. August«, sagte<br />
Filonenko aus, »zeigte es sich, daß Sawinkow und ich unsere Posten behalten sollten und<br />
daß <strong>der</strong> Ministerpräsident im Prinzip jenes Programm akzeptierte, das in dem von<br />
Kornilow, Sawinkow und mir vertretenen Bericht dargelegt war.« Sawinkow, dem<br />
Kerenski am 17. August »befahl, einen Gesetzentwurf über Maßnahmen im Hinterlande<br />
yorzubereiten«, schuf zu diesem Zwecke eine Kommission unter Vorsitz des Generals<br />
Apuschkin. Wenn er sich auch ernstlich vor Sawinkow fürchtete, beschloß Kerenski<br />
dennoch, ihn für seinen großen Plan auszunutzen, und beließ ihm nicht nur das Kriegsministerium,<br />
son<strong>der</strong>n schenkte ihm als Zugabe noch das Marineministerium, Das bedeutete,<br />
nach Miljukow, daß für die Regierung »die Zeit zum Handeln gekommen war, sogar auf<br />
das Risiko hin, die Bolschewiki auf die Straße herauszufor<strong>der</strong>n«. Wobei Sawinkow<br />
»offen davon sprach, es sei ein leichtes, mit zwei Regimentern den bolschewistischen<br />
Aufruhr nie<strong>der</strong>zuschlagen und die bolschewistischen Organisationen auseinan<strong>der</strong>zutreiben«.<br />
Sowohl Kerenski wie Sawinkow begriffen sehr gut, beson<strong>der</strong>s nach <strong>der</strong> Moskauer<br />
Beratung, daß die Versöhnlersowjets Kornilows Programm unter keinen Umständen<br />
annehmen würden. Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, <strong>der</strong> erst gestern die Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe<br />
an <strong>der</strong> Front gefor<strong>der</strong>t hat, wird sich morgen mit verdoppelten Kräften <strong>der</strong> Ausdehnung<br />
<strong>der</strong> Todesstrafe auf das Hinterland wi<strong>der</strong>setzen! Die Gefahr bestand folglich darin,<br />
daß an die Spitze <strong>der</strong> Bewegung gegen die von Kerenski geplante Umwälzung nicht die<br />
Bolschewiki, son<strong>der</strong>n die Sowjets zu stehen kämen. Doch auch davor durfte man nicht<br />
zurückschrecken: ging es doch um die Rettung des Landes!<br />
»Am 22. August«, schreibt Kerenski, »reiste Sawinkow ins Hauptquartier unter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 445
an<strong>der</strong>em [!] auch zu dem Zweck, um in meinem Auftrage vom General Kornilow die<br />
Abkommandierung eines Kavalleriekorps zur Disposition <strong>der</strong> Regierung zu for<strong>der</strong>n.«<br />
Sawinkow selbst charakterisiert diesen Auftrag, als er gezwungen ist, sich vor <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Meinung zu rechtfertigen, folgen<strong>der</strong>maßen: »vom General Kornilow ein Kavalleriekorps<br />
auszubitten zur realen Durchführung des Belagerungszustandes in Petrograd<br />
und zum Schutze <strong>der</strong> Provisorischen Regierung gegen jeglichen Anschlag, insbeson<strong>der</strong>e<br />
[!] gegen einen Anschlag seitens <strong>der</strong> Bolschewiki, <strong>der</strong>en Aktion ..., nach Angaben <strong>der</strong><br />
ausländischen Konterspionage, im Zusammenhang mit <strong>der</strong> deutschen Landung und dem<br />
Aufstand in Finnland in Vorbereitung war ...« Die phantastischen Angaben <strong>der</strong> Konterspionage<br />
sollten einfach die Tatsache verschleiern, daß die Regierung selbst, nach Miljukows<br />
Ausdruck, »das Risiko, die Bolschewiki auf die Straße herauszufordem«, einging,<br />
das heißt bereit war, den Aufstand zu provozieren. Da aber die Veröffentlichung <strong>der</strong><br />
Dekrete über die Militärdiktatur für die letzten Augusttage festgesetzt war, paßte Sawinkow<br />
auch die erwartete Meuterei diesem Termin an.<br />
Am 25. August wurde ohne jeglichen äußeren Anlaß das Organ <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
'Proletarij' verboten. Das Ersatzblatt 'Rabotschij' (Arbeiter) schrieb, sein Vorgänger sei<br />
»verboten worden einen Tag, nachdem er in Zusammenhang mit dem Durchbruch <strong>der</strong><br />
Rigaer Front die Arbeiter und Soldaten zu Ruhe und Besonnenheit aufgefor<strong>der</strong>t hat.<br />
Wessen Hand ist so besorgt, die Arbeiter nicht wissen zu lassen, daß die Partei sie vor<br />
Provokationen warnt?« Die Frage traf den Kern. Das Schicksal <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Presse befand sich in Sawinkows Händen. Das Zeitungverbot brachte zwei Vorteile: es<br />
reizte die Massen und hin<strong>der</strong>te die Partei, sie vor Provokation zu schützen, die diesmal<br />
direkt aus Regierungshöhen kam.<br />
Nach den protokollarischen Aufzeichnungen des Hauptquartiers, die, vielleicht etwas<br />
stilisiert, im allgemeinen jedoch Situation und handelnde Personen vollkommen richtig<br />
charakterisieren, hatte Sawinkow dem General Kornilow erklärt: »Ihre For<strong>der</strong>ungen,<br />
Lawr Georgjewitsch, werden in den nächsten Tagen erfüllt werden. Doch befürchtet<br />
dabei die Regierung, daß in Petrograd ernste Komplikationen entstehen könnten ... Die<br />
Veröffentlichung Ihrer For<strong>der</strong>ungen ... dürfte einen Anstoß für das Hervortreten <strong>der</strong><br />
Bolschewiki bilden ... Es ist nicht bekannt, wie sich die Sowjets zum neuen Gesetz verhalten<br />
werden. Die letzteren könnten ebenfalls gegen die Regierung sein .. . Deshalb bitte<br />
ich Sie, zu verfügen, daß das dritte Kavalleriekorps Ende August näher an Petrograd<br />
herangezogen und zur Disposition gestellt werde. Im Falle, daß außer den Bolschewiki<br />
die Sowjetmitglie<strong>der</strong> sich erheben sollten, wären wir gezwungen, auch gegen sie vorzugehen.«<br />
Kerenskis Bote fügte hinzu, die Maßnahmen müßten entschlossen und erbarmungslos<br />
sein, worauf Kornilow erwi<strong>der</strong>te: daß er »an<strong>der</strong>e Maßnahmen auch nicht<br />
verstehe« ... Später, als es galt, sich zu rechtfertigen, fügte Sawinkow hinzu: »Wenn im<br />
Augenblick des Aufstandes <strong>der</strong> Bolschewiki die Sowjets bolschewistisch gewesen wären<br />
...« Doch dies ist ein zu plumper Trick: die Dekrete, die Kerenskis Umwälzung ankündigten,<br />
sollten bereits in drei bis vier Tagen erscheinen. Folglich war die Rede nicht von<br />
Zukunftssowjets, son<strong>der</strong>n von denen, die Ende August bestanden.<br />
Um keine Mißverständnisse entstehen zu lassen und die Aktion <strong>der</strong> Bolschewiki nicht<br />
»vor <strong>der</strong> Zeit« zu provozieren, einigte man sich auf diese Reihenfolge <strong>der</strong> Handlungen:<br />
zuerst in Petrograd ein Kavalleriekorps zusammenzuziehen, daraufhin den Belagerungszustand<br />
in <strong>der</strong> Hauptstadt proklamieren und erst dann die neuen Gesetze erlassen, die den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 446
Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki hervorrufen sollten. Im Protokoll des Hauptquartiers ist dieser<br />
Plan schwarz auf weiß nie<strong>der</strong>gelegt: »Damit die Provisorische Regierung genau wisse,<br />
wann das Petrogra<strong>der</strong> Militärgouvernement in Belagerungszustand zu erklären und<br />
wann das neue Gesetz zu veröffentlichen sei, ist es notwendig, daß General Kornilow<br />
ihm, Sawinkow, telegraphisch die Zeit genau angebe, wann das Korps Petrograd erreichen<br />
werde.«<br />
Die Verschwörergenerale hatten, nach. Stankewitschs Worten, begriffen, »daß Sawinkow<br />
und Kerenski ... irgendeine Umwälzung mit Hilfe des Hauptquartiers beabsichtigten.<br />
Mehr war nicht nötig. Eiligst willigten sie in alle For<strong>der</strong>ungen und Bedingungen ein« ...<br />
Der Kerenski ergebene Stankewitsch entschuldigt sich, man habe im Hauptquartier<br />
Kerenski und Sawinkow »irrtümlich miteinan<strong>der</strong> verbunden«. Wie aber konnte man sie<br />
trennen, wenn Sawinkow mit präzis formulierten Aufträgen von Kerenski gekommen<br />
war? Kerenski selbst schreibt: »Am 25. August kehrt Sawinkow aus dem Hauptquartier<br />
zurück und berichtet mir, die Truppen würden laut Verabredung zur Verfügung <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung entsandt werden.« Am Abend des 26. soll die Regierung jenen<br />
Gesetzesentwurf über die Maßnahmen im Hinterlande annehmen, <strong>der</strong> zum Prolog des<br />
entscheidenden Vorgehens des Kavalleriekorps werden muß. Alles ist vorbereitet. Es<br />
bleibt nur auf den Knopf zu drücken.<br />
Die Ereignisse, Dokumente, Aussagen <strong>der</strong> Beteiligten, schließlich das Geständnis<br />
Kerenskis selbst bezeugen übereinstimmend, daß <strong>der</strong> Ministerpräsident, ohne Wissen<br />
eines Teiles <strong>der</strong> eigenen Regierung, hinter dem Rücken <strong>der</strong> Sowjets, die ihm die Macht<br />
verschafft hatten, geheim vor <strong>der</strong> Partei, zu <strong>der</strong> er sich zählte, einen Pakt mit <strong>der</strong> Generalspitze<br />
<strong>der</strong> Armee abschloß, zwecks radikaler Än<strong>der</strong>ung des Staatsregimes mit Hilfe<br />
bewaffneter Macht. In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Strafgesetagebung hat diese Handlungsweise eine<br />
ganz bestimmte Bezeichnung, mindestens für die Fälle, wo das Unternehmen nicht zum<br />
Siege führt. Der Wi<strong>der</strong>spruch zwischen dem "demokratischen" Charakter <strong>der</strong> Politik<br />
Kerenskis und dem Plan <strong>der</strong> Landesrettung mit Hilfe des Säbels kann nur dem oberflächlichen<br />
Blick unvereinbar scheinen. In Wirklichkeit ergab sich <strong>der</strong> Kavallerieplan<br />
vollständig aus <strong>der</strong> Versöhnlerpolitik. Beim Aufdecken dieser Gesetzmäßigkeit kann<br />
man in hohem Maße nicht nur von Kerenskis Person absehen, son<strong>der</strong>n auch von den<br />
Eigenarten des nationalen Milieus: es handelt sich um die objektive Logik des Versöhnlertums<br />
unter den Bedingungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Friedrich Ebert, Volksbeauftragter Deutschlands, Versöhnler und Demokrat, handelte<br />
nicht nur unter Leitung hohenzollernscher Generale hinter dem Rücken <strong>der</strong> eigenen<br />
Partei, son<strong>der</strong>n war bereits Anfang Dezember 1918 direkter Teilnehmer <strong>der</strong> militärischen<br />
Verschwörung, die die Verhaftung des obersten Räteorgans und die Proklamierung<br />
Eberts zum Präsidenten <strong>der</strong> Republik zum Ziel hatte. Nicht zufällig pflegte Kerenski<br />
später Ebert als das Ideal eines Staatsmannes zu bezeichnen.<br />
Als alle Pläne sowohl Kerenskis wie Sawinkows wie Kornilows zusammengebrochen<br />
waren, gab Kerenski, dem die nicht ganz leichte Arbeit <strong>der</strong> Spurenverwischung oblag,<br />
an: »Nach <strong>der</strong> Moskauer Beratung war es für mich klar, daß <strong>der</strong> nächste Versuch eines<br />
Anschlages von rechts und nicht von links kommen würde.« Es ist ganz unbestreitbar, daß<br />
Kerenski vor dem Hauptquartier und jener Sympathie, mit <strong>der</strong> die Bourgeoisie die<br />
Verschwörer umgab, Angst hatte. Aber gerade darum handelt es sich, daß Kerenski nicht<br />
mit einem Kavalleriekorps gegen das Hauptquartier zu kämpfen für notwendig erachtete,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 447
son<strong>der</strong>n mittels Verwirklichung von Kornilows Programm unter eigenem Namen. Der<br />
zweideutige Komplice des Premiers hatte nicht einfach einen geschäftlichen Auftrag<br />
erfüllt, für den ein chiffinertes Telegramm aus dem Winterpalais nach Mohilew genügt<br />
haben würde, - nein, er war als Vermittler erschienen, um Kornilow mit Kerenski auszusöhnen,<br />
das heißt um <strong>der</strong>en Pläne in Übereinstimmung zu bringen und damit <strong>der</strong> Umwälzung<br />
nach Möglichkeit ein legales Bett zu sichern. Kerenski wollte durch Sawinkow<br />
gleichsam sagen lassen: »Handeln Sie, aber in den Grenzen meines Planes. Sie werden<br />
dadurch das Risiko verineiden und fast alles, was Sie wünschen, erhalten.« Sawinkow<br />
machte von sich aus die Anspielung: »Gehen Sie nicht vorzeitig über die Grenzen <strong>der</strong><br />
Kerenskischen Pläne hinaus.« Dies war die eigenartige Gleichung mit drei Unbekannten.<br />
Nur in diesem Zusammenhang wird verständlich, daß Kerenski sich durch Sawinkow an<br />
das Hauptquartier mit dem Ersuchen um ein Kavalleriekorps wandte. An die Verschwörer<br />
wendet sich ein hochgestellter Komplice, <strong>der</strong> seine Legalität wahrt und bestrebt ist,<br />
die Verschwörung sich unterzuordnen.<br />
Unter den Sawinkow erteilten Aufträgen sah nur einer wie eine gegen die Verschwörung<br />
von rechts gerichtete Maßnahme aus: er betraf das Hauptkomitee <strong>der</strong> Offiziere,<br />
dessen Auflösung die Petrogra<strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Partei Kerenskis gefor<strong>der</strong>t hatte.<br />
Bemerkenswert jedoch ist die Formulierung des Auftrages: »Nach Möglichkeit den<br />
Offiziersverband liquidieren.« Noch hemerkenswerter ist es, daß Sawinkow diese<br />
Möglichkeit nicht nur nicht gefunden, son<strong>der</strong>n auch nicht gesucht hat. Die Frage wurde<br />
einfach als unzeitgemäß begraben. Der ganze Auftrag war nur erteilt worden, um eine<br />
Spur auf dem Papier zu haben als Rechtfertigung vor den Linken: die Worte »nach<br />
Möglichkeit« bedeuteten, die Erfüllung sei nicht erfor<strong>der</strong>lich. Gleichsam um den dekorativen<br />
Charakter des Auftrages noch greller zu unterstreichen, wurde er an die erste Stelle<br />
gesetzt.<br />
Bemüht, den nie<strong>der</strong>schmetternden Sinn <strong>der</strong> Tatsache irgendwie abzuschwächen, daß er<br />
in Erwartung eines Anschlages von rechts die Hauptstadt von revolutionären Regimentern<br />
entblößt und sich gleichzeitig an Kornilow um »zuverlässige« Truppen gewandt<br />
hatte, berief sich Kerenski später auf drei sakramentale Bedingungen, mit denen er die<br />
Anfor<strong>der</strong>ung des Kavalleriekorps ausgestattet hatte. So habe er seine Einwilligung,<br />
Kornilow den Petrogra<strong>der</strong> Militärbezirk zu unterstellen, abhängig gemacht von <strong>der</strong><br />
Bedingung, die Hauptstadt mit Umgebung aus diesem Bezirk auszuson<strong>der</strong>n, damit die<br />
Regierung nicht völlig in die Hände des Hauptquartiers gerate, denn - wie Kerenski im<br />
eigenen Kreise sich äußerte - »sonst wären wir hier verspeist worden«. Diese Bedingung<br />
beweist nur, daß, während Kerenski davon träumte, die Generale seinem eigenen Plane<br />
zu unterwerfen, ihm nichts zur Verfügung stand außer ohnmächtiger Ränkesehmie<strong>der</strong>ei.<br />
Kerenskis Unlust, verspeist zu werden, wird man ohne Beweisführung glauben. Die zwei<br />
an<strong>der</strong>en Bedingungen standen auf gleicher Höhe: Kornilow durfte in das Expeditionskorps<br />
nicht die sogenannte "wilde" Division aufnehmen, die aus kaukasischen Bergtruppen<br />
bestand, und nicht den General Krymow an die Spitze des Korps stellen. Vom<br />
Standpunkte des Schutzes <strong>der</strong> Interessen <strong>der</strong> Demokratie hieß das wahrhaftig, Kamele<br />
schlucken und Mücken durchseihen. Vom Standpunkte <strong>der</strong> Verschleierung des<br />
Anschlags auf die <strong>Revolution</strong> hingegen hatten Kerenskis Bedingungen einen unvergleichlich<br />
tieferen Sinn. Gegen die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter kaukasische Bergtruppen zu<br />
schicken, die kein Russisch sprachen, wäre zu unvorsichtig gewesen: dazu hatte sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 448
seinerzeit nicht einmal <strong>der</strong> Zar entschlossen! Die Unzweckmäßigkeit einer Ernennung<br />
Krymows, über den das Exekutivkomitee hinlänglich informiert war, motivierte Sawinkow<br />
dem Hauptquartier überzeugend mit den Interessen <strong>der</strong> gemeinsamen Sache: »Es<br />
wäre unerwünscht«, sagte er, »wenn einen eventuellen Aufstand in Petrograd gerade <strong>der</strong><br />
General Krymow unterdrücken sollte. Die öffentliche Meinung würde vielleicht mit<br />
seinem Namen Beweggründe verknüpfen, von denen er sich nicht leiten läßt« ... Schon<br />
die Tatsache, daß das Regierungshaupt bei dem Anfor<strong>der</strong>n eines Truppenteils für die<br />
Hauptstadt mit <strong>der</strong> seltsamen Bitte vorweg kommt: die "wilde" Division nicht zu schikken<br />
und Krymow nicht zu emennen - überführt Kerenski, wie es besser nicht möglich ist,<br />
dessen, daß er im voraus nicht nur das Gesamtschema <strong>der</strong> Verschwörung gekannt hat,<br />
son<strong>der</strong>n auch die Zusammensetzung <strong>der</strong> geplanten Strafexpedition und die Kandidaturen<br />
<strong>der</strong> wichtigsten Exekutoren.<br />
Aber wie es mit diesen nebensächhehen Umständen auch gewesen sein mag, ganz<br />
offenkundig ist, daß das Kornilowsche Kavalleriekorps sich keinesfalls für die Verteidigung<br />
<strong>der</strong> "Demokratie" eignen konnte. Dagegen mußte es für Kerenski unzweifelhaft<br />
sein, daß von allen Truppenteilen dieses Korps das zuverlässigste Werkzeug gegen die<br />
<strong>Revolution</strong> sein würde. Allerdings, vorteilhafter wäre gewesen, in Petrograd eine Abteilung<br />
zu haben, die Kerenski persönlich ergeben war, <strong>der</strong> ja über Rechts und Links stand.<br />
Wie jedoch <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> weiteren Ereignisse zeigen wird, hat es solche Truppen in<br />
Wirklichkeit nicht gegeben. Für den Kampf gegen die <strong>Revolution</strong> gab es niemand außer<br />
Kornilowanhängern; zu ihnen nahm Kerenski seine Zuflucht.<br />
Die militärischen Maßnahmen ergänzten nur die Politik. Der Gesamtkurs <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung während <strong>der</strong> nicht vollen zwei Wochen, die die Moskauer Beratung<br />
von Kornilows Aufitand trennten, wäre an sich ein genügen<strong>der</strong> Beweis dafür, daß<br />
Kerenski sich nicht zum Kampf gegen die Rechten anschickte, son<strong>der</strong>n zur Einheitsfront<br />
mit ihnen gegen das Volk. Die Proteste des Exekutivkomitees gegen ihre konterrevolutionäre<br />
Politik ignorierend, macht die Regierung am 26. August einen kühnen Schritt den<br />
Gutsbesitzern entgegen durch die plötzliche Verfügung über die Verdoppelung des<br />
Brotpreises. Der Charaktcr dieser verhaßten Maßnahme, überdies noch auf ein öffentliches<br />
Verlangen Rodsjankos hin getroffen, näherte sie einer bewußten Provokation gegen<br />
die hungernden Massen. Kerenski war offensichtlich bemüht, den äußersten rechten<br />
Flügel <strong>der</strong> Moskauer Beratung durch ein teures Präsent zu bestechen. »Ich bin euer!«<br />
sagt er dem Oftiziersverband in seinem schmeichlerischen Befehl, unterschrieben an dem<br />
Tage, als Sawinkow sich ins Hauptquartier begab. »Ich bin euer!« beeilte sich Kerenski<br />
den Gutsbesitzern zuzuschreien am Vorabend <strong>der</strong> Kavallerieattacke gegen alles, was von<br />
<strong>der</strong> Februarrevolution noch übriggeblieben war.<br />
Die Angaben Kerenskis vor <strong>der</strong> von ihm selbst ernannten Untersuchungskommission<br />
trugen einen würdelosen Charakter. In <strong>der</strong> Rolle eines Zeugen auftretend, fühlte sich das<br />
Regierungsoberhaupt eigentlich als Hauptangeklagter, dazu noch auf frischer Tat ertappt.<br />
Die erfahrenen Beamten, die die Mechanik <strong>der</strong> Ereignisse sehr wohl überblickten, gaben<br />
sich den Anschein, als glaubten sie im Ernst den Angaben des Regierungsoherhauptes.<br />
Doch die übrigen Sterbhehen, darunter auch die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Partei Kerenskis, staunten<br />
offen, wie denn ein und dasselbe Korps sowohl für die Durchführung <strong>der</strong> Umwälzung<br />
wie auch zu <strong>der</strong>en Abwendung sich eignen mochte. Es war denn doch allzu unbedacht<br />
seitens eines "Sozialrevolutionärs", Truppen in die Hauptstadt zu führen, die zu ihrer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 449
Abwürgung bestimmt waren. Gewiß, auch die Trojaner haben einst in die Mauern <strong>der</strong><br />
eigenen Stadt eine feindliche Abteilung hineingeschleppt; aber sie hatten wenigstens<br />
nicht gewußt, was im Bauche des hölzernen Pfrrdes sich verbarg. Und selbst da bestreitet<br />
ein alter Historiker die Version des Dichters: nach Pausanias' Meinung kann man Homer<br />
nur dann Glauben schenken, wenn man die Trojaner als »auch jedes Schattens von<br />
Verstand bare Dummköpfe« ansieht. Was würde <strong>der</strong> Alte zu den Zeugenaussagen<br />
Kerenskis gesagt haben?<br />
Kornilows Aufstand<br />
Bereits Anfang August hatte Kornilow unter dem Vorwand, eine Reserve für die<br />
Verteidigung Rigas zu schaffen, angeordnet, die "wilde" Division und das 3. Kavalleriekorps<br />
von <strong>der</strong> Südwestfront in das Gebiet des Eisenbahndreiecks: Nevel-Nowossokolniki-Welikije<br />
Luki, das eine günstige Angriffsbasis gegen Petrograd darstellte, zu verlegen.<br />
Gleichzeitig hatte <strong>der</strong> Höchstkommandierende befohlen, eine Kosakendivision im Bezirk<br />
zwischen Wyborg und Bjeloostrow zu konzentrieren; dieser direkt über dem Haupt <strong>der</strong><br />
Residenz - von Bjeloostrow bis Petrograd sind nur dreißig Kilometer! - erhobenen Faust<br />
wurde <strong>der</strong> Schein verliehen, eine Reserve für eventuelle Operationen in Finnland darzustellen.<br />
Somit waren noch vor <strong>der</strong> Moskauer Beratung vier Kavalleriedivisionen, die als<br />
die geeignetsten für den Kampf gegen die Bolschewiki galten, für den Anschlag auf<br />
Petrograd in Bereitschaft gestellt. In bezug auf die kaukasische Division sprach man in<br />
Kornilows Umgebung ohne Umschweife: »Den Bergtruppen ist es ja gleich, wen sie<br />
abschlachten.« Der strategisehe Plan war einfach. Die drei von Süden kommenden<br />
Divisionen beabsichtigte man mit <strong>der</strong> Eisenbahn bis vor Zarskoje Selo, Gatschina und<br />
Krassnoje Selo heranzubringen, um von dort »nach Empfang von Nachrichten über<br />
Unruhen in Petrograd, und nicht später als am Morgen des 1. September«, feldmarschmäßig<br />
am linken Newaufer entlang zur Besetzung des Südteils <strong>der</strong> Hauptstadt vorzurükken.<br />
Die in Finnland untergebrachte Division sollte zur gleichen Zeit den nördlichen Teil<br />
<strong>der</strong> Hauptstadt besetzen.<br />
Durch den Offiziersverband erhielt Kornilow Verbindung mit den Petrogra<strong>der</strong> patriotischen<br />
Gesellschaften, welche, nach ihren eigenen Angaben, über 2.000 glänzend bewaffnete<br />
Männer verfügten, die jedoch <strong>der</strong> Führung von erfahrenen Offizieren bedurften.<br />
Kornilow versprach, von <strong>der</strong> Front Kommandeure zu schicken unter <strong>der</strong> Maske von<br />
Urlaubern. Um die Stimmung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten und die Tätigkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre zu überwachen, wurde eine geheime Konterspionage eingerichtet und<br />
an <strong>der</strong>en Spitze <strong>der</strong> Oberst <strong>der</strong> "wilden" Division, Heimann, gestellt. Die Sache spielte<br />
sich im Rahmen <strong>der</strong> militärischen Dienstordnung ab. und die Verschwörung verfügte<br />
über den Apparat des Hauptquartiers.<br />
Die Moskauer Beratung hatte Kornilow in seinen Plänen nur bestärkt. Zwar riet Miljukow,<br />
laut eigener Erzählung, zu warten, denn Kerenski besäße in <strong>der</strong> Provinz noch<br />
Popularität. Aber ein solcher Rat konnte keinen Einfluß auf den schon sehr in Schwung<br />
geratenen General ausüben: letzten Endes ging es doch nicht um Kerenski, son<strong>der</strong>n um<br />
die Sowjets; außerdem war Miljukow kein Mann <strong>der</strong> Tat: Zivilist und, was noch schlimmer,<br />
Professor. Bankiers. Industrielle, Kosakengenerale trieben zur Eile, die Metropoliten<br />
gaben ihren Segen. Ordonnanz Sawojko bürgte für Erfolg. Von allen Seiten kamen<br />
Begrüßungstelegramme. Die Ententediplomatie nahm tätigen Anteil an <strong>der</strong> Mobilisierung<br />
<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte. Sir Buchanan hielt viele Fäden <strong>der</strong> Verschwörung in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 450
seinen Händen. Die militärischen Vertreter <strong>der</strong> Alliierten beim Hauptquartier versicherten<br />
ihre besten Gefühle. »Beson<strong>der</strong>s«, bezeugte Denikin, »tat es in rührendster Form <strong>der</strong><br />
britische Vertreter.« Hinter den Gesandtschaften standen <strong>der</strong>en Regierungen. In einem<br />
Telegramm vom 23. August berichtete <strong>der</strong> Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen Regierung im<br />
Auslande, Swatikow, aus Paris, daß Außenminister Ribot während <strong>der</strong> Abschiedsaudienz<br />
»sich äußent eifrig dafür interessierte, wer von den Kerenski umgebenden Menschen<br />
ein fester und energischer Mann sei«, während Präsident Poincaré »viel über ... Kornilow<br />
ausfragte«. Alles das war dem Hauptquartier bekannt. Kornilow sah keinen Grund zu<br />
Aufschub und Abwarten. Um den 20. herum wurden zwei Kavalleriedivisionen weiter in<br />
die Richtung auf Petrograd vorgeschoben. Am Tage als Riga fiel, wurden je vier<br />
Offiziere von jedem Regiment, insgesamt etwa viertausend, vom Hauptquartier angefor<strong>der</strong>t<br />
»zum Studium englischer Bombenwerfer«. Den Zuverlässigeren erklärte man<br />
sogleich. es handle sich darum, ein für allemal »das bolschewistische Petrograd« zu<br />
zermalmen. Am gleichen Tage wurde vom Hauptquartier befohlen, den Kavalleriedivisionen<br />
eiligst einige Kisten Handgranaten zuzustellen: sie konnten sich vortrefflich für<br />
Straßenkämpfe eignen. »Es war verabredet«, schreibt Stabschef Lukomski, »daß alles<br />
für den 26. August bereit sein sollte«.<br />
Sobald die Kornilowschen Truppen sich Petrograd genähert haben würden, sollte die<br />
innere Organisation »in Petrograd in Aktion treten, das Smolny-Institut besetzen und für<br />
die Verhaftung <strong>der</strong> bolschewistischen Anführer sorgen«. Zwar erschienen im Smolny die<br />
bolschewistischen Anführer nur zu den Sitzungen, dafür aber weilte dort unausgesetzt<br />
das Exekutivkomitee, welches die Minister stellte und fortfuhr, Kerenski als Gehilfen des<br />
Vorsitzenden anzusehen. ]edoch bei einer großen Sache gibt es we<strong>der</strong> Möglichkeit noch<br />
Notwendigkeit, Nuancen innezuhalten. Kornilow jedenfalls beschäftigte sich damit nicht.<br />
»Es ist Zeit«, sagte er zu Lukomski, »die deutschen Agenten und Spione mit Lenin an <strong>der</strong><br />
Spitze aufzuhängen und den Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten auseinan<strong>der</strong>zujagen,<br />
aber so auseinan<strong>der</strong>zujagen, daß er sich auch nirgendwo mehr versammeln<br />
kann.«<br />
Die Leitung <strong>der</strong> Operation war Kornilow fest entschlossen Krymow zu übertragen, <strong>der</strong><br />
in seinen Kreisen den Ruf eines kühnen, entschlossenen Generals genoß. »Krymow war<br />
damals lustig und lebensfroh«, äußert sich über ihn Denikin, »und sah gläubig in die<br />
Zukunft«. Im Hauptquartier blickte man gläubig auf Krymow. »Ich bin überzeugt«, sagte<br />
Kornilow, »daß er kein Bedenken tragen wird, wenn es notwendig sein sollte, den ganzen<br />
Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten aufzuhängen.« Die Wahl des »lustigen und<br />
lebensfrohen« Generals war mithin die allerglücklichste.<br />
Im Drange dieser Arbeit, die ein wenig von <strong>der</strong> deutschen Front ablenkte, traf im<br />
Hauptquartier Sawinkow ein, um das alte Abkommen durch einige nebensächliche<br />
Abän<strong>der</strong>ungen zu präzisieren. Für den Schlag gegen den gemeinsamen Feind nannte<br />
Sawinkow das gleiche Datum, das Kornilow schon längst für das Vorgehen gegen<br />
Kerenski vorgesehen hatte: das Halbjahrsjubiläum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Obwohl <strong>der</strong> Plan <strong>der</strong><br />
Umwälzung in zwei Arme sich teilte, waren beide Seiten bestrebt, mit gemeinsamen<br />
Elementen des Planes zu operieren: Kornilow - zur Maskierung, Kerenski zur Stützung<br />
<strong>der</strong> eigenen Illusionen. Sawinkows Angebot kam dem Hauptquartier höchst gelegen: die<br />
Regierung hielt selbst den Kopf hin, Sawinkow ging daran, die Schlinge zuzuziehen. Die<br />
Generale im Hauptquartier rieben sich die Hände: »Angebissen!« sagten sie, wie glückli-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 451
che Angler.<br />
Kornilow ging um so leichter auf Zugeständnisse ein, als sie ihn nichts kosteten.<br />
Welche Bedeutung hat eine Ausson<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison aus dem<br />
Kommandobereich des Hauptquartiers, wenn in die Hauptstadt Kornilowsche Truppen<br />
einmarschieren? Während er die beiden übrigen Bedingungen annahm, verletzte Kornilow<br />
sie sogleich: die "wilde" Division wurde als Avantgarde bestimmt und Krymow an<br />
die Spitze <strong>der</strong> gesamten Operation gestellt. Kornilow hielt es nicht für nötig, Mücken zu<br />
seihen.<br />
Die Kernfragen ihrer Taktik berieten die Bolschewiki in aller Öffentlichkeit: eine<br />
Massenpartei kann auch gar nicht an<strong>der</strong>s handeIn. Regierung und Hauptquartier mußten<br />
wissen, daß die Bolschewiki von Aktionen zurückhalten, nicht aber zu solchen auffor<strong>der</strong>n.<br />
Wie aber <strong>der</strong> Wunsch <strong>der</strong> Vater des Gedankens zu sein pflegt, so wird die politische<br />
Notwendigkeit Mutter <strong>der</strong> Prognose. Alle herrschenden Klassen sprachen vom<br />
bevorstehenden Aufstand, weil sie ihn um jeden Preis brauchten. Das Datum des<br />
Aufstandes wurde bald nähergerückt, bald um einige Tage verschoben. Die Presse<br />
berichtete, im Kriegsministerium, das heißt bei Sawinkow, beurteile man den bevorstehenden<br />
Aufstand »sehr ernst«. Die 'Rjetsch' meldete, die Initiative des Aufstandes sei<br />
durch die bolschewistische Fraktion des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets ergriffen worden. In seiner<br />
Eigenschaft als Politiker war Miljukow in Sachen des angeblichen Aufstandes <strong>der</strong><br />
Bolschewiki <strong>der</strong>maßen engagiert, daß er es für eine Ehrensache ansah, diese Version<br />
auch in seiner Eigenschaft als Historiker zu stützen. »Nach den später veröffentlichten<br />
Dokumenten <strong>der</strong> Konterspionage«, schreibt er, »kam gerade zu dieser Zeit neue Anweisung<br />
deutschen Geldes für "Trotzkis Unternehmungen".« Wie die russische Konterspionage,<br />
so vergißt auch <strong>der</strong> gelehrte Historiker, daß Trotzki, den <strong>der</strong> deutsche Stab zur<br />
Bequemlichkeit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Patrioten beim Namen nannte, »gerade zu dieser Zeit« -<br />
vom 23. Juli bis zum 4. September - sich im Gefängnis befand. Der Umstand, daß die<br />
Erdachse nur eine eingebildete Linie ist, hin<strong>der</strong>t bekanntlich die Erde nicht, ihren Kreislauf<br />
zu vollziehen. So drehte sich auch <strong>der</strong> Plan <strong>der</strong> Kornilowschen Operation um den<br />
eingebildeten Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki als um seine eigene Achse. Dieses konnte für<br />
die Vorhereitungsperiode vollauf genügen. Für die Lösung war jedoch immerhin etwas<br />
Materielles nötig.<br />
Einer <strong>der</strong> führenden militärischen Verschwörer, <strong>der</strong> Offizier Winberg, bestätigt in<br />
interessanten Aufzeichnungen, die hinter die Kulissen des ganzen Vorhabens führen,<br />
vollauf die Hinweise <strong>der</strong> Bolschewiki auf die umfassende Arbeit <strong>der</strong> militärischen Provokation.<br />
Miljukow war gezwungen, unter <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> Tatsachen und Dokumente zuzugeben,<br />
»daß die Verdächtigungen <strong>der</strong> linksradikalen Kreise richtig waren; Agitation in den<br />
Betrieben war sicherlich eine ... <strong>der</strong> Aufgaben, die die Offiziersorganisatio nen zu erfüllen<br />
hatten«. Doch auch das half nicht: die Bolschewiki hatten beschlossen, wie <strong>der</strong><br />
gleiche Historiker klagt, »sich nicht zu stellen«; die Massen hatten nicht die Absicht,<br />
ohne die Bolschewiki hervorzutreten. Allein auch dieses Hin<strong>der</strong>nis war im Plan vorgesehen<br />
und sozusagen von vornherein paralysiert. Das "republikanische Zentrum", wie das<br />
führende Organ <strong>der</strong> Verschwörer in Petrograd hieß, beschloß einfach, die Bolschewiki zu<br />
ersetzen: mit <strong>der</strong> Imitierung des revolutionären Aufstandes wurde <strong>der</strong> Kosakenoberst<br />
Dutow beauftragt. Im Januar 1918 antwortete Dutow auf die Frage seiner politischen<br />
Freunde: »was sollte am 18. August 1937 geschehen?« wörtlich folgendes: »Zwischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 452
28. August und 2. September sollte unter <strong>der</strong> Maske <strong>der</strong> Bolschewiki ich auftreten.« Alles<br />
war vorausgesehen. Nicht umsonst hatten den Plan Generalstabsoffiziere bearbeitet.<br />
Kerenski seinerseits war nach <strong>der</strong> Rückkehr Sawinkows aus Mohilew geneigt, zu<br />
glauben, die Mißverständnisse seien beseitigt und das Hauptquartier habe sich restlos<br />
seinem Plan angeschlossen. »Es gab Momente«, schreibt Stankewitsch, »wo sämtliche<br />
handelnden Personen glaubten, sie handelten nicht nur alle in einer Richtung, son<strong>der</strong>n<br />
sie sähen auf gleiche Art auch die Methode des Handelns!« Diese glücklichen Momente<br />
währten nicht lange. In die Sache mischte sich <strong>der</strong> Zufall, <strong>der</strong>, wie alle historischen<br />
Zufälle, <strong>der</strong> Notwendigkeit das Ventil öffnete. Zu Kerenski kam Lwow, ein Oktobrist,<br />
Mitglied <strong>der</strong> ersten Provisorischen Regierung, <strong>der</strong> gleiche, <strong>der</strong> als expansiver Oberprokurator<br />
des Heiligen Synods berichtet hatte, in dieser Institution säßen nur »Idioten und<br />
Schufte«. Lwow war vom Schicksal ausersehen, die Tatsache aufzudecken, daß unter<br />
dem Anschein eines Planes zwei feindlich gegeneinan<strong>der</strong> gerichtete Pläne bestanden.<br />
Als unbeschäftigter, aber redseliger Politiker nahm Lwow an den endlosen Gesprächen<br />
über Regierungsumbildung und Landesrettung teil, bald im Hauptquartier, bald im<br />
Winterpalais. Diesmal erschein er mit dem Anerbieten seiner Vermittlung bei <strong>der</strong><br />
Umgestaltung des Kabinetts auf nationaler Basis, wobei er Kerenski wohlwollend mit<br />
dem Donner und Blitz des unzufriedenen Hauptquartiers schreckte. Der beunruhigte<br />
Ministerpräsident beschloß, Lwow auszunutzen, um das Hauptquartier und wohl<br />
zugleich auch seinen Komplicen, Sawinkow, zu prüfen. Kerenski äußerte seine Sympathie<br />
für den Kurs auf die Diktatur, was keine Heuchelei war, und ermunterte Lwow zu<br />
weiterer Vermittlung, was eine Kriegslist bedeutete.<br />
Als Lwow wie<strong>der</strong> im Hauptquartier erschien, nunmehr mit Kerenskis Vollmachten<br />
beschwert, erblickten die Generale in seiner Mission einen Beweis dafür, daß die Regierung<br />
kapitulationsreif sei. Erst gestern hatte sich Kerenski durch Sawinkow verpflichtet,<br />
Kornilows Programm unter dem Schutze <strong>der</strong> Kosakenkorps durchzuführen; heute bot<br />
Kerenski dem Hauptquartier bereits an, gemeinsam die Macht umzugestalten. Man muß<br />
mit dem Knie nachdrücken, beschlossen folgerichtig die Generale. Kornilow erklärte<br />
Lwow, da <strong>der</strong> bevorstehende Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki »den Sturz <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung, den Friedensschluß mit Deutschland und die Auslieferung <strong>der</strong><br />
Baltischen Flotte an die Deutschen« zum Ziel habe, so bleibe kein an<strong>der</strong>er Ausweg, als<br />
die »unverzügliche Überleitung <strong>der</strong> Macht von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung in die<br />
Hände des Höchstkommandierenden«. Kornilow fügte dem hinzu: »Unbeschadet wer<br />
dieser auch sei.« Doch hatte er durchaus nicht die Absicht, seinen Platz an jemanden<br />
abzutreten. Seine Unabsetzbarkeit war von vornherein durch die Schwüre <strong>der</strong> Georgsritter,<br />
des Offiziersverbandes und des Sowjets <strong>der</strong> Kosakenheere bekräftigt. Im Interesse<br />
<strong>der</strong> "Sicherheit" Kerenskis und Sawinkows vor den Bolschewiki ersuchte Kornilow<br />
beide dringend, ins Hauptquartier unter seinen persönlichen Schutz zu kommen. Die<br />
Ordonnanz Sawojko machte Lwow eine unzweideutige Anspielung, worin dieser Schutz<br />
bestehen würde.<br />
Nach Moskau zurückgekehrt, redete Lwow »als Freund« Kerenski heiß zu, auf das<br />
Angebot Kornilows einzugehen »zur Rettung des Lebens <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung und vor allem seines eigenen«. Kerenski mußte nun endlich begreifen,<br />
daß das politische Spiel mit <strong>der</strong> Diktatur eine ernsthafte Wendung nahm und höchst<br />
mißlich enden konnte. Entschlossen, zu handeIn, ließ er zuallererst Kornilow an den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 453
Apparat holen, um nachzukontrollieren: hat Lwow den Auftrag auch richtig wie<strong>der</strong>gegeben?<br />
Kerenski stellte die Fragen nicht nur in seinem, son<strong>der</strong>n auch in Lwows Namen,<br />
obwohl dieser beim Gespräch nicht zugegen war. »Ein solcher Kniff«, bemerkt<br />
Martynow, »angebracht für einen Spitzel, war natürlich unschicklich für ein Regierungsoberhaupt.«<br />
Über seine Ankunft gemeinsam mit Sawinkow am nächsten Tage im Hauptquartier<br />
sprach Kerenski wie über eine beschlossene Sache. Der ganze Dialog am Draht<br />
mutet überhaupt unwahrscheinlich an: das demokratische Regierungshaupt und <strong>der</strong><br />
"republikanische" General verabreden, einer dem an<strong>der</strong>en die Macht abzutreten, als<br />
handle es sich um einen Platz im Schlafwagen!<br />
Miljukow hat vollkommen recht, wenn er in Kornilows For<strong>der</strong>ung, ihm die Macht<br />
auszuliefern, nur »die Fortsetzung all jener längst offen geführten Gespräche über Diktatur,<br />
Reorganisierung <strong>der</strong> Macht und so weiter« sieht. Doch geht Miljukow zu weit, wenn<br />
er deshalb versucht, die Sache so darzustellen, als habe es im Hauptquartier eigentlich<br />
überhaupt keine Verschwörung gegeben. Kornilow hätte zweifellos durch Lwow seine<br />
For<strong>der</strong>ungen nicht stellen können, würde er nicht vorher mit Kerenski eine Verschwörung<br />
gebildet haben. Aber das än<strong>der</strong>t nichts an <strong>der</strong> Tatsache, daß Kornilow mit <strong>der</strong> einen,<br />
<strong>der</strong> gemeinsamen Verschwörung die an<strong>der</strong>e, seine eigene, verdeckte. Während Kerenski<br />
und Sawinkow sich anschickten, die Bolschewiki und zum Teil auch die Sowjets auszuräuchern,<br />
gedachte Kornilow dazu auch noch die Provisorische Regierung<br />
auszuräuchern. Aber das gerade wollte Kerenski nicht.<br />
Am Abend des 26. konnte das Hauptquartier einige Stunden lang tatsächlich glauben,<br />
die Regierung werde kampflos kapitulieren. Doch bedeutete dies nicht, daß etwa keine<br />
Verschwörung existierte, son<strong>der</strong>n nur, daß sie dem Triumphe nahe schien. Eine siegreiche<br />
Verschwörung findet stets Mittel, sich zu legalisieren. »Ich sah General Kornilow<br />
bald nach diesem Gespräch«, bezeugt Fürst Trubetzkoi, ein Diplomat, <strong>der</strong> beim Hauptquartier<br />
das Außenministerium vertrat; »ein Seufzer <strong>der</strong> Erleichterung entrang sich<br />
seiner Brust, und auf meine Frage: also die Regierung kommt Ihnen in allem entgegen? -<br />
erwi<strong>der</strong>te er: "ja".« Kornilow irrte. Gerade in diesem Moment hatte die Regierung in <strong>der</strong><br />
Person Kerenskis aufgehört, ihm entgegenzukommen.<br />
Also hat das Hauptquartier seine eigenen Pläne? Also geht es nicht um die Diktatur<br />
überhaupt, son<strong>der</strong>n um die Diktatur Kornilows? Ihm, Kerenski, offeriert man wie zum<br />
Hohn den Posten des Justizministers? Kornilow hatte tatsächlich die Unvorsichtigkeit<br />
gehabt, Lwow eine solche Anspielung zu machen. Sich mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
verwechselnd, schrie Kerenski vor dem Finanzminister Nekrassow: »Ich werde Ihnen die<br />
<strong>Revolution</strong> nicht ausliefern.« Der uneigennützige Freund Lwow wurde sofort verhaftet<br />
und verbrachte eine schlaflose Nacht im Winterpalais mit zwei Posten zu seinen Füßen,<br />
während er zähneknirschend zuhören mußte, wie »nebenan hinter <strong>der</strong> Wand, im Zimmer<br />
Alexan<strong>der</strong>s III., <strong>der</strong> triumphierende Kerenski, zufrieden über den erfolgreichen Verlauf<br />
seiner Sache, endlos Opernmelodien sang.« In diesen Stunden empfand Kerenski einen<br />
außerordentlichen Zu strom an Energie.<br />
Petrograd lebte während jener Tage in doppelter Sorge. Die politische Spannung, von<br />
<strong>der</strong> Presse bewußt übertrieben, barg Explosionsgefahr in sich. Der Fall Rigas hatte die<br />
Front nähergerückt Die Frage <strong>der</strong> Evakuierung <strong>der</strong> Hauptstadt, durch die Kriegsereignisse<br />
bereits lange vor dem Sturz <strong>der</strong> Monarchie auf dit Tagesordnung gestellt, gewann<br />
jetzt neue Schärfe. Die bemittelteren Leute verließen die Stadt. Die Flucht <strong>der</strong> Bourgeoi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 454
sie nährtc sich viel mehr von <strong>der</strong> Angst vor einem neuen Aufstand als vor <strong>der</strong> Angst vor<br />
dem Einfall des Feindes. Am 26. August wie<strong>der</strong>holte das Zentralkomitee <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Partei nochmals »Von dunklen Persönlichkeiten ... wird provokatorische Agitation<br />
getrieben angeblich im Namen unserer Partei.« Die führenden Organe des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, <strong>der</strong> Gewerkschaften und <strong>der</strong> Betriebskomitees erklärten am<br />
gleichen Tage: keine einzige Arbeiter-organisation, keine einzige politische Partei for<strong>der</strong>t<br />
zu irgendwelchen Demonstrationen auf. Gerüchte von dem am folgen<strong>der</strong> Tag bevorstehenden<br />
Sturz <strong>der</strong> Regierung verstummten dennoch nicht eine Stunde. »In Regierungskreisen«,<br />
berichtet die Presse. »verweist man auf den einmütig gefaßten Entschluß, alle<br />
Aufstandsversuche zu unterdrücken.« Es seien sogar Maßnahmen getroffen, den<br />
Aufstand hervorzurufen, bevor man ihn unterdrückt.<br />
Die Morgenzeitungen des 27. berichteten noch immer nicht nur nichts über die Rebellionspläne<br />
des Hauptquartiers, son<strong>der</strong>n im Gegenteil, ein Interview mit Sawinkow versicherte,<br />
daß »General Kornilow das volle Vertrauen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
genießt«. Der Tag des Halbjahrsjubiläums verlief überhaupt ungewöhnlich ruhig. Die<br />
Arbeiter und Soldaten vermieden alles, was einer Demonstration ähnlich sehen konnte.<br />
Die Bourgeoisie, in Angst vor Unruhen, saß zu Hause. Die Straßen lagen leer. Die<br />
Gräber <strong>der</strong> Februaropfer auf dem Marsfelde schienen vergessen.<br />
Am Morgen des langerwarteten Tages, <strong>der</strong> dem Lande Rettung bringen sollte, erhielt<br />
<strong>der</strong> Höchstkommandierende vom Ministerpräsidenten den telegraphischen Befehl: seinen<br />
Posten dem Stabschef zu übergeben und sofort nach Petrograd abzureisen. Die Sache<br />
bekam jäh eine völlig unvorhergesehene Wendung. Der General begriff nach seinen<br />
eigenen Worten, daß »hier ein Doppelspiel gespielt wird«. Mit mehr Recht hätte er sagen<br />
können daß sein eigenes Doppelspiel aufgedeckt sei. Kornilow beschloß, nicht nachzugehen.<br />
Sawinkows Ermahnungen über den direkten Draht fruchteten nicht. »Gezwungen,<br />
offen hervorzutreten«, mit diesem Manifest wandte sich <strong>der</strong> Höchstkommandierende an<br />
das Volk, »erkläre ich, General Kornilow, daß die Provisorische Regierung unter dem<br />
Druck <strong>der</strong> bolschewistischen Sowjetmehrheit im völligen Einverständnis mit den Plänen<br />
des deutschen Generalstabs handelt, gleichzeitig mit <strong>der</strong> bevorstehenden Landung feindlicher<br />
Kräfte an <strong>der</strong> Rigaer Küste die Armee mordet und das Land im Innern<br />
erschüttert.« Nicht gewillt, die Macht Verrätern auszuhändigen, ziehe er, Kornilow, vor,<br />
»zu sterben auf dem Felde <strong>der</strong> Ehre und des Kampfes«. Über den Autor dieses Manifestes<br />
schrieb später Miljukow mit einem Anflug von Entzücken: »Ohne irgendwelche<br />
juristische Spitzfindigkeiten anzuerkennen, ging er entschlossen direkt auf das Ziel los,<br />
das er einmal für richtig erkannt hatte.« Ein Höchstkommandieren<strong>der</strong>, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Front<br />
Truppen zurückzieht, die eigene Regierung zu stürzen, kann tatsächlich nicht <strong>der</strong><br />
Vorliebe für »juristische Spitzfindigkeiten« beschuldigt werden.<br />
Kornilow wurde von Kerenski höchsteigenmächtig abgesetzt. Die Provisorische Regierung<br />
existierte zu dieser Zeit bereits nicht mehr: am Abend des 26. hatten die Herren<br />
Minister ihre Demission eingereicht, die durch eine glückliche Fügung <strong>der</strong> Dinge den<br />
Wünschen aller Parteien entsprach. Schon einige Tage vor dem Bruch des Hauptquartiers<br />
mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung hatte General Lukomski durch Aladjins Mund Lwow<br />
erklärt: »Es wäre gut, die Kadetten aufmerksam zu machen, sie mögen sämtlich vor dem<br />
27. August aus <strong>der</strong> Provisorischen Regierung austreten, um damit die Regierung in eine<br />
schwierige Lage zu bringen und sich selbst Unannehmlichkeiten zu entziehen.« Die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 455
Kadetten verfehlten nicht, diesen Rat zur Kenntnis zu nehmen. An<strong>der</strong>erseits hatte<br />
Kerenski <strong>der</strong> Regierung erklärt, er erachte den Kampf gegen Kornilows Rebellion für<br />
möglich »nur unter <strong>der</strong> Bedingung, daß die ganze Fülle <strong>der</strong> Macht ihm allein überlassen<br />
werde«. Die übrigen Minister hatten förmlich nur auf einen so glücklichen Vorwand<br />
gewartet, um die fällige Demission einzureichen. So wurde die Koalition einer erneuten<br />
Nachprüfung unterworfen. »Die Minister aus <strong>der</strong> Kadettenpartei«, schreibt Miljukow,<br />
»erklärten, sie nähmen im gegebenen Augenblick ihre Demission, ohne über die Frage<br />
ihrer späteren Beteiligung an <strong>der</strong> Provisorischen Regierung im voraus zu entscheiden.«<br />
Ihrer Tradition getreu wollten die Kadetten die Kampftage beiseitestehend abwarten, um<br />
je nach <strong>der</strong>en Ausgang Entschlüsse zu fassen. Sie zweifelten nicht, daß die Versöhnler<br />
ihnen ihre Plätze unangetastet aufbewahren würden. Nachdem sie sich <strong>der</strong> Verantwortung<br />
entledigt hatten, nahmen die Kadetten gemeinsam mit den übrigen verabschiedeten<br />
Ministern an einer Reihe von Regierungsberatungen teil, die »privaten Charakter«<br />
trugen. Zwei Lager, die zum Bürgerkrieg rüsteten, gruppierten sich »privat« um das<br />
Regierungshaupt, das mit allen möglichen Volimachten ausgestattet war, nur nicht mit<br />
<strong>der</strong> wirklichen Macht.<br />
Aufdas im Hauptquartier eingegangene Telegramm Kerenskis: »Alle auf dem Wege<br />
nach Petrograd und dessen Bezirk befindlichen Staffeln sind aufzuhalten und zu ihrem<br />
bisherigen letzten Standort zurückzuführen«, vermerkt Kornilow: »Diesen Befehl nicht<br />
ausführen, Truppen nach Petrograd vorrücken lassen.« Die Sache <strong>der</strong> bewaffneten<br />
Rebellion kam somit ins feste Geleise. Das ist buchstäblich zu verstehen: drei Kavalleriedivisionen<br />
rückter in Eisenbahnstaffeln gegen die Hauptstadt vor.<br />
Kerenskis Befehl an die Petrogra<strong>der</strong> Truppen lautete: »General Kornilow, <strong>der</strong> seinen<br />
Patriotismus und seine Treue zum Volke beteuerte ... nahm Regimenter von <strong>der</strong> Front<br />
und ... schickte sie gegen Petrograd.« Kerenski verschwieg wohlweislich, daß die<br />
Regimenter von <strong>der</strong> Front weggenommen worden waren nicht nur mit seinem Wissen,<br />
son<strong>der</strong>n auf seine direkte For<strong>der</strong>ung hin für ein Strafgericht über die gleiche Garnison,<br />
vor <strong>der</strong> er jetzt <strong>der</strong> Treubruch Kornilows entlarvte. Der rebellische Höchstkommandierende<br />
war selbstverständlich um eine Antwort nicht verlegen. »... Die Verräter weilen<br />
nicht unter uns«, heißt es in seinem Telegramm, »son<strong>der</strong>n dort, in Petrograd, wo unter<br />
ver-brecherischer Duldung <strong>der</strong> Regierung gegen deutsches Geld Rußland verkauft wurde<br />
und verkauft wird.« So bahnte sich die gegen die Bolschewiki erhobene Verleumdung<br />
immer neue und neue Wege.<br />
Jene gehobene nächtliche Stimmung, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorsitzende des verabschiedeten<br />
Ministerrates Opernarien sang, war schnell verflogen. Der Kampf gegen Kornilow,<br />
welche Wendung er auch nehmen mochte, drohte nut schwersten Folgen. »Schon in <strong>der</strong><br />
ersten Nacht des Aufstandes des Hauptquartiers«, schreibt Kerenski, »verbreitete sich in<br />
Sowjet-, Soldaten- und Arbeiterkreisen Petersburgs hartnäckig das Gerücht von <strong>der</strong><br />
Beteiligung Sawinkows an <strong>der</strong> Bewegung des Generals Kornilow.« Das Gerücht nannte<br />
Kerenski gleich hinter Sawinkow, und das Gerücht irrte nicht. Man mußte nuthin gefährlichste<br />
Enthüllungen befürchten.<br />
»Spät nächts zum 26. August«, erzählt Kerenski, »betrat in höchster Aufregung <strong>der</strong><br />
Leiter des Kriegsministeriums mein Zimmer. "Herr Minister", wandte Sawinkow, Frontstellung<br />
einnehmend, sich an mich, "ich bitte Sie, mich sofort zu verhaften als Mitschuldigen<br />
des Generals Kornilow. Falls Sie mir aber vertrauen, dann bitte ich Sie, mir die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 456
Möglichkeit zu geben, dem Volk durch die Tat zu beweisen, daß ich mit den Aufständischen<br />
nicht gemein habe ...« - »Als Antwort auf diese Erklärung«, fuhr Kerenski fort,<br />
»ernannte ich Sawinkow sogleich zum provisorischen Generalgonverneur von Petersburg<br />
und verlieh ihm weitestgehende Vollmachten für die Verteidigung Petersburgs<br />
gegen die Truppen des Generals Kornilow.« Mehr noch: Auf Sawinkow Bitte hin<br />
ernannte Kerenski Filonenko zu dessen Gehilfen. Die Sache des Aufstandes wie die<br />
Sache seiner Unterdrückung blieb somit im Kreise des "Direktoriums".<br />
Die so hastige Ernennung Sawinkows zum Generalgouverneur diktierte Kerenski <strong>der</strong><br />
Kampf um die politische Selbsterhaltung: hätte Kerenski Sawinkow den Sowjets ausgeliefert,<br />
dann hätte Sawinkow sogleich Kerenski ausgeliefert. Umgekehrt, nachdem<br />
Sawinkow nicht ohne Erpressung von Kerenski die Möglichkeit erhalten hatte, sich<br />
durch die zur Schau gestellte Beteiligung an den Operationen gegen Kornilow zu legalisieren,<br />
mußte er alles zur Reinwaschung Kerenskis aufbieten. Der "Generalgouverneur"<br />
war weniger für den Kampf gegen die Konterrevolution notwendig als für die Vernichtung<br />
<strong>der</strong> Spuren <strong>der</strong> Verschwörung. Die einmütige Zusammenarbeit <strong>der</strong> Komplicen in<br />
dieser Richtung begann unverzüglich.<br />
»Um 4 Uhr morgens, den 28. August«, bekundet Sawinkow, »kehrte ich einer Auffor<strong>der</strong>ung<br />
Kerenskis gemäß ins Winterpalais zurück und fand dort General Alexejew und<br />
Tereschtschenko vor. Alle vier waren wir uns einig, daß das Ultimatum Lwows nichts als<br />
ein Mißverständnis sei.« Die Vermittlerrolle bei dieser Beratung in <strong>der</strong> Morgendämmerung<br />
gehörte dem neuen Generalgouverneur. Hinter den Kulissen lenkte Miljukow: im<br />
Laufe des Tages wird er offen auf die Bühne treten. Alexejew, wiewohl er Kornibw<br />
einen Hammelkopf genannt hatte, gehörte mit ihm zum gleichen Lager. Die Verschwörer<br />
und ihre Sekundanten machten den letzten Versuch, alles Vorgefallene als ein "Mißverständnis"<br />
zu erklären, das heißt gemeinsam die öffentliche Meinung zu täuschen, um zu<br />
retten, was am gemeinsamen Plan noch zu retten war. Die "wilde" Division, General<br />
Krymow, die Kosakenstaffeln, Kornilows Weigerung, den Posten abzugeben, <strong>der</strong><br />
Marsch auf die Hauptstadt - das alles seien nichts weiter als Details eines "Mißverständnisses"!<br />
Erschrocken über die unheildrohende Verflechtung <strong>der</strong> Umstände, schrie<br />
Kerenski bereits nicht mehr: »Ich werde ihnen die <strong>Revolution</strong> nicht ausliefern!« Gleich<br />
nach <strong>der</strong> Verständigung mit Alexejew trat er in das Zimmer <strong>der</strong> Journalisten im Winterpalais<br />
und wandte sich an diese mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, aus allen Zeitungen seinen Aufruf,<br />
<strong>der</strong> Kornilow als Verräter erklärte, herauszunehmen. Als die Antworten <strong>der</strong> Journalisten<br />
ergaben, daß diese Aufgabe technisch undurchführbar war, rief Kerenski aus: »Sehr<br />
schade!.« Diese kleine, in den Zeitungsberichten des folgenden Tages festgehaltene<br />
Episode beleuchtet mit unerhörter Kraßheit die Figur des ganz durcheinan<strong>der</strong> geratenen<br />
Superarbiters <strong>der</strong> Nation; Kerenski verkörperte so vollendet in seiner Person Demokratie<br />
wie auch Bourgeoisie, daß er sich nun gleichzeitig als höchster Träger <strong>der</strong> Staatsmacht<br />
und als verbrecherischer Verschwörer gegen sie erwies.<br />
Gegen Morgen des 28. wurde <strong>der</strong> Bruch zwischen Regierung und Höchstkommandierendem<br />
als vollendete Tatsache dem ganzen Lande offenbar. In die Angelegenheit<br />
mischte sich sogleich die Börse ein. Hatte sie auf die Moskauer Rede Kornilows hin, die<br />
die Preisgabe Rigas androhte, mit dem Sinken <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Papiere geantwortet, so<br />
reagierte sie auf die Nachricht vom offenen Aufstand <strong>der</strong> Generale mit dem Steigen aller<br />
Werte. Mit ihrer herabwürdigenden Notierung des Februarregimes verlieh die Börse<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 457
einwandfreien Ausdruck den Hoffnungen und Stimmungen <strong>der</strong> besitzenden Klassen, die<br />
an dem Siege Kornilows nicht zweifelten.<br />
Stabschef Lukomski, dem Kerenski am Vorabend befohlen hatte, provisorisch das<br />
Kommando zu übernehmen, antwortete: »Betrachte es als unmöglich, General Kornilow<br />
das Amt abzunehmen, denn dann würde in <strong>der</strong> Armee eine Explosion erfolgen, die<br />
Rußland vernichten müßte.« Außer dem kaukasischen Oberkommandierenden, <strong>der</strong> nicht<br />
ohne Verspätung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung seine Treue bekundete, unterstützten die<br />
übrigen Oberkommandierenden in verschiedenen Tonarten Kornilows For<strong>der</strong>ungen. Von<br />
den Kadetten inspiriert, versandte das Hauptkomitee des Offiziersverbandes an alle Stäbe<br />
<strong>der</strong> Armee und Flotte folgendes Telegramm: »Die Provisorische Regierung, die uns<br />
bereits wie<strong>der</strong>holt ihre Staatsohnmacht bewies, hat ihren Namen nunmehr durch eine<br />
Provokation entehrt und kann nicht länger an <strong>der</strong> Spitze Rußlands bleiben ...« Ehrenvorsitzen<strong>der</strong><br />
des Offiziersverbandes war <strong>der</strong> gleiche Lukomski! General Krassnow, zum<br />
Kommandierenden des 3. Kavalleriekorps ernannt, erklärte im Hauptquartier: »Niemand<br />
wird Kerenski verteidigen. Das Ganze ist nur ein Spaziergang. Alles ist vorbereitet.«<br />
Von den optimistischen Berechnungen <strong>der</strong> Leiter und lnspiratoren <strong>der</strong> Verschwörung<br />
bekommt man keine üble Vorstellung nach dem chiffrierten Telegramm des uns bereits<br />
bekannten Fürsten Trubetzkoi an den Minister des Auswärtigen: »Nüchtern die Lage<br />
einschätzend«, schreibt er, »muß man gestehen, daß <strong>der</strong> gesamte Kommandobestand, die<br />
überwiegende Mehrzahl <strong>der</strong> Offiziere und die besten Fronttruppen mit Kornilow gehen<br />
werden. Auf seine Seite werden sich im Hinterlande das gesamte Kosakenturn, die<br />
meisten Kriegsschulen und wie<strong>der</strong>um dic besten Frontabteilungen stellen. Zu <strong>der</strong> physischen<br />
Macht muß man hinzurechnen ... die moralische Sympathie aller nichtsozialistischen<br />
Bevölkerungsschichten und, bei dem nie<strong>der</strong>en Volke ... die Gleichgültigkeit, die<br />
sich jedem Peitschenhieb unterwirft. Es ist außer Zweifel, daß ein großer Teil <strong>der</strong><br />
Märzsozialisten nicht zö~ gern wird, im Falle seines Sieges auf die Seite Kornilows<br />
überzugehen.« Trubetzkoi gab nicht nur die Hoffnungen des Hauptquartiers wie<strong>der</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n auch die Stimmungen <strong>der</strong> alliierten Missionen. In <strong>der</strong> zur Eroberung Petrograds<br />
vorrückenden Korinlowschen Abteilung befanden sich englische Panzerwagen mit englischer<br />
Bedienung: und dies war, wie anzunehmen ist, <strong>der</strong> zuverlässigste Teil. Das Haupt<br />
<strong>der</strong> englischen Militärmission in Rußland, General Knox, machte dem amerikanischen<br />
Oberst Robins zum Vorwurf, daß er Kornilow nicht unterstützte. »Ich bin an <strong>der</strong> Kerenski-Regierung<br />
desinteressiert«, sagte <strong>der</strong> britische General, »sie ist zu schwach; man<br />
braucht die Militärdiktatur, man braucht die Kosaken, dieses Volk braucht die Knute!<br />
Diktatur - das ist's, was not tut.«<br />
Alle diese Stimmen gelangten von verschiedenen Seiten ins Winterpalais und wirkten<br />
erschütternd auf seine Bewohner. Kornilows Erfolg schien unabwendbar. Der Minister<br />
Nekrassow berichtete seinen Freunden, die Sache sei restlos verloren, und es bleibe nur,<br />
ehrlich zu sterben. »Einige angesehene Sowjetführer«, behauptet Miljukow, »ihr Schicksal<br />
im Falle eines Sieges Kornilows ahnend, besorgten sich eiligst Auslandspässe.«<br />
Von Stunde zu Stunde trafen Nachrichten vom Nahen <strong>der</strong> Kornilowschen Truppen ein,<br />
eine bedrohlicher als die an<strong>der</strong>e. Die bürgerliche Presse griff sie gierig auf übertrieb sie,<br />
häufte sie an und schuf eine Atmosphäre <strong>der</strong> Panik.<br />
12. 30 Uhr des 28. August: »Die von General Kornilow ausgesandte Abteilung hat sich<br />
bei Luga konzentriert.« 2. 30 Uhr nachmittags: »Die Station Oredesch passieren neun<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 458
weitere Züge Kornilowscher Truppen. Im Kopfzug befindet sich ein Eisenbahnerbataillon.«<br />
3 Uhr nachmittags: »Die Lugaer Garnison hat sich den Truppen General Kornilows<br />
ergeben und die gesamten Waffen ausgeliefert. Station und sämtliche<br />
Regierungsgebäude Lugas sind von Kornilows Truppen besetzt.« 6 Uhr abends: »Zwei<br />
Staffeln Kornilowscher Truppen sind aus Narwa durchgebrochen und befinden sich eine<br />
halbe Werst von Gatschina entfernt. Zwei weitere Staffeln sind nach Gatschina unterwegs.«<br />
2 Uhr nachts zum 29. August: »Bei <strong>der</strong> Station Antropschino (33 Kilometer von<br />
Petrograd) hat ein Kampf zwischen Regierungs- und Kornilowtruppen begonnen. Auf<br />
beiden Seiten gibt es Tote und Verwundete.« In <strong>der</strong>selben Nacht kam die Nachricht,<br />
Kaledin drohe, Petrograd und Moskau vom brotreichen Süden Rußlands abzuschneiden.<br />
Hauptquartier, Oberbefehlshaber <strong>der</strong> Fronten, britische Militärmission, Offizierkorps,<br />
Staffeln, Fisenbahnerbataillone, Kosakentum, Kaledin - all das empfand man im<br />
Malachitsaal des Winterpalais als Posaunenklänge des Jüngsten Gerichts.<br />
Mit den unvermeidlichen Abschwächungen gibt es Kerenski selbst zu. »Der 28.<br />
August«, schreibt er, »war gerade die Zeit größter Schwankungen, größter Zweifel an <strong>der</strong><br />
Kraft <strong>der</strong> Gegner Kornilows, größter Nervosität bei <strong>der</strong> Demokratie selbst.« Es. ist nicht<br />
schwer, sich auszumalen, was sich hinter diesen Worten verbirgt. Das Regierungshaupt<br />
marterten Erwägungen nicht nur darüber, welches von beiden Lagern das stärkere,<br />
son<strong>der</strong>n auch, welches für ihn das schrecklichere sei. »Wir sind nicht mit euch, Rechts,<br />
und nicht mit euch, Links«, solche Worte klangen effektvoll von <strong>der</strong> Bühne des<br />
Moskauer Theaters. Doch übersetzt in die Sprache des aufflackernden Bürgerkrieges,<br />
bedeuteten sie, Kerenikis Kreis könnte sich den Rechten wie den Linken als überflüssig<br />
erweisen. »Wir alle«, schreibt Stankewitsch, »waren buchstäblich betäubt vor Verzweiflung<br />
darüber, daß ein Drama geschah, das alles vernichtet. Den Grad <strong>der</strong> Betäubung<br />
kann man danach beurteilen, daß sogar trotz dem angesichts des ganzen Volkes erfolgten<br />
Bruch des Hauptquartiers mit <strong>der</strong> Regierung Versuche unternommen wurden,<br />
irgendeine Versöhnung zu finden«<br />
»Der Gedanke an eine Vermittlung ... entstand in dieser Situation von selbst«, sagt<br />
Miljukow, <strong>der</strong> es vorzog, in dritter Person zu handeln. Am Abend des 28. erschien er im<br />
Winterpalais, um »Kerenski zu raten, von dem streng formalistischen Standpunkte <strong>der</strong><br />
Gesetzesverletzung abzugehen«. Der liberale Führer, <strong>der</strong> sehr gut wußte, daß man<br />
zwischen dem Kern <strong>der</strong> Nuß und ihrer Schale unterscheiden muß, war gleichzeitig die<br />
geeignetste Persönlichkeit für den Beruf des loyalen Vermittlers. Am 13. August hatte<br />
Miljukow unmittelbar von Kornilow erfahren, daß <strong>der</strong> Aufstand von diesem auf den 27.<br />
angesetzt war. Am nächsten Tage, dem 14., for<strong>der</strong>te Miljukow in seiner Rede vor <strong>der</strong><br />
Beratung, daß »die sofortige Ergreifung <strong>der</strong> vom Höchstkommandierenden vorgezeichneten<br />
Maßnahmen nicht zum Anlaß von Verdächtigungen, Drohungen o<strong>der</strong> gar Entlassungen<br />
dienen dürfen«. Bis zum 27. mußte Kornilow außerhalb jeden Verdachtes bleiben!<br />
Gleichzeitig versprach Miljukow seine Unterstützung »freiwillig und ohne Streit«. Wenn<br />
irgendwo, dann ist es hier angebracht, an die Galgenschlinge zu erinnern, die ja gleichfalls<br />
»ohne Streit« unterstützt.<br />
Kerenski seinerseits gesteht, daß <strong>der</strong> mit dem Vermittlungsangebot erschienene Miljukow<br />
»eine sehr passende Minute gewählt hatte, um mir zu beweisen, daß die reale Macht<br />
auf seiten Kornilows sei«. Die Unterhaltung verlief <strong>der</strong>art günstig, daß Miljukow danach<br />
seinen politischen Freunden General Alexejew als jene Stellvertreter Kerenskis nennen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 459
konnte, gegen den Kornilow nichts einzuwenden haben würde. Alexejew gab großmütig<br />
sein Zustimmung.<br />
Auf Miljukow folgte einer, <strong>der</strong> größer war als er. Spät abends händigte <strong>der</strong> britische<br />
Gesandte Buchanan dem Minister des Auswärtigen eine Deklaration ein, in <strong>der</strong> die<br />
Vertreter <strong>der</strong> alliierten Mächte einmütig ihre freundschaftlichen Dienste anboten, »im<br />
Interesse <strong>der</strong> Humanität und aus dem Wunsche heraus, ein nicht wie<strong>der</strong> gutzumachendes<br />
Unglück zu verhüten«. Die offizielle Vermittlung zwischen Regierung und rebellischem<br />
General war nichts an<strong>der</strong>es als Hilfe und Rückversicherung für die Rebellion. Als<br />
Antwort sprach Tereschtschenko im Namen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung »höchste<br />
Verwun<strong>der</strong>ung« aus über den Aufstand Kornilows, dessen Programm zum größten Teil<br />
von <strong>der</strong> Regierung akzeptiert worden war.<br />
Im Zustande <strong>der</strong> Vereinsamung und Büßerstimmung fand Kerenski nichts Besseres zu<br />
tun, als noch eine endlose Beratung mit seinem verabschiedeten Ministern zu veranstalten.<br />
Gerade während dieses uneigennützigen Zeitvertreibs trafen beson<strong>der</strong>s beunruhigende<br />
Nachrichten ein über Vorrücken <strong>der</strong> feindlichen Staffeln. Nekrassow mutmaßte,<br />
»die Kornilowschen Truppen werden wahrscheinlich in einigen Stunden bereits in Petrograd<br />
sein« ... Die ehemaligen Minister stellten nun Betrachtungen an: »Wie müßte sich<br />
unter diesen Umständen die Regierungsmacht gestalten.« Die Idee eines Direktoriums<br />
tauchte wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Oberfläche auf. Mit Sympathie begegnete <strong>der</strong> rechte wie <strong>der</strong> linke<br />
Teil dem Gedanken, in das "Direktorium" General Alexejew aufzunehmen. Der Kadett<br />
Kokoschkin meinte, Alexejew müsse an die Spitze <strong>der</strong> Regierung gestellt werden. Laut<br />
einigen Zeugenaussagen stammte <strong>der</strong> Vorschlag, die Macht einem an<strong>der</strong>en abzutreten,<br />
von Kerenski selbst, mit einem direkten Hinweis auf seine Unterredung mit Miljukow.<br />
Niemand erhob Wi<strong>der</strong>spruch. Die Kandidatur Alexejew versöhnte alle. Miljukows Plan<br />
schien <strong>der</strong> Verwirklichung ganz, ganz nahe. Aber da ertönte, wie es sich im Augenblick<br />
höchster Spannung geziemt, ein dramatisches Klopfen an <strong>der</strong> Türe: Im Nebenzimmer<br />
wartete eine Deputation vom Komitee zum Kampfe gegen die Konterrevolution. Sie war<br />
zur rechten Zeit erschienen: eines <strong>der</strong> gefährlichsten Nester <strong>der</strong> Konterrevolution war die<br />
klägliche, feige und treulose Beratung <strong>der</strong> Kornilowanhänger, Vermittler und Kapitulanten<br />
im Saale des Winterpalais.<br />
Das neue Sowjetorgan war in einer vereinigten Sitzung bei<strong>der</strong> Exekutivkomitees, <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldaten und <strong>der</strong> Bauern, am Abend des 27. geschaffen worden und<br />
bestand aus Son<strong>der</strong>delegierten <strong>der</strong> drei Sowjetparteien, <strong>der</strong> beiden Exekutivkomitees, des<br />
Gewerkschaftszentrums und des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Die Schaffung eines Kampfkomitees<br />
ad hoc war eigentlich ein Eingeständnis, daß die führenden Sowjetinstitutionen sich<br />
selbst gebrechlich fühlten und für die revolutionären Aufgaben neuen Blutzustrom<br />
brauchten.<br />
Gezwungen, gegen den General die Unterstützung <strong>der</strong> Massen zu suchen, beeilten sich<br />
die Versöhnler, ihre linke Schulter vorzurecken. Jäh vergessen waren die Reden davon,<br />
daß alle prinzipiellen Fragen bis zur Konstituierenden Versammlung vertagt werden<br />
müßten. Die Menschewiki erklärten, sie würden von <strong>der</strong> Regierung sofortige Proklamierung<br />
<strong>der</strong> demokratischen Republik, Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma und Durchführung von<br />
Agrarreformen for<strong>der</strong>n: dies ist <strong>der</strong> Grund, weshalb <strong>der</strong> Name Republik zum ersten Male<br />
in einer Regierungserklärung anläßlich des Verrates des Höehstkommandierenden<br />
auftaucht.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 460
In <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Macht sprachen sich die Exekutivkomitees für die Notwendigkeit aus:<br />
vorläufig die Regierung in alter Gestalt zu belassen und nur die ausgeschiedenen Kadetten<br />
durch demokratische Elemente zu ersetzen; für eine endgültige Beschlußfassung in<br />
dieser Frage in nächster Zeit eine Konferenz aller in Moskau auf <strong>der</strong> Plattform<br />
Tschcheidses vereinigten Organisationen einzuberufen. Nach den nächtlichen Verhandlungen<br />
wurde es aber klar, daß Kerenski sich gegen eine demokratische Kontrolle <strong>der</strong><br />
Regierung entschieden sträubte. Im Gefühl, daß ihm <strong>der</strong> Boden von rechts und links<br />
schwindet, klammert er sich mit allen Kräften an die Form des "Direktoriums", in <strong>der</strong> für<br />
ihn sich die noch nicht abgekühlten Träume von <strong>der</strong> starken Macht konzentrieren. Nach<br />
neuen, qualvollen und fruchtlosen Debatten im Smolny wurde beschlossen, sich<br />
nochmals an den einen und unersetzlichen Kerenski zu wenden mit <strong>der</strong> Bitte, dem<br />
ursprünglichen Entwurf des Exekutivkomitees zuzustimmen. Um 7½ Uhr morgens kehrt<br />
Zeretelli mit dem Bericht zurück, Kerenski gehe auf keine Zugeständnisse ein, son<strong>der</strong>n<br />
for<strong>der</strong>e »vorbehaltlose Unterstützung«, jedoch sei er bereit, »alle Kräfte des Staates« auf<br />
den Kampf gegen die Konterrevolution zu richten. Die vom nächtlichen Wachen<br />
erschöpften Exekutivkomitees ergeben sich schließlich in die wie Spreu leere Idee des<br />
"Direktoriums"<br />
Das von Kerenski feierlich gegebene Versprechen, »die Kräfte des Staates« in den<br />
Kampf gegen Kornilow zu werfen, hin<strong>der</strong>te ihn, wie wir bereits wissen, nicht, mit Miljukow,<br />
Alexejew und den verabschiedeten Ministern Verhandlungen zu führen über eine<br />
friedliche Kapitulation vor dem Hauptquartier, die durch das nächtliche Klopfen an <strong>der</strong><br />
Tür unterbrochen wurden. Einige Tage später erstattete <strong>der</strong> Menschewik Bogdanow,<br />
einer <strong>der</strong> Führer des Komitees <strong>der</strong> Verteidigung, in vorsichtigen, aber unzweideutigen<br />
Worten dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet Bericht über den Treubruch Kerenskis. »Als die Provisorische<br />
Regierung zu schwanken begann und es nicht klar war, womit das Kornilowsche<br />
Abenteuer enden würde, tauchten Vermittler auf von <strong>der</strong> Art Miljukows und Alexejews«<br />
... Das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung mischte sich ein und verlangte »mit aller Energie« den<br />
offenen Kampf »Unter unserem Einfluß«, fuhr Bogdanow fort, »brach die Regierung<br />
jegliche Verhandlungen ab und verwarf alle Vorschläge Kornilows« ...<br />
Nachdem das Regierungsoberhaupt, <strong>der</strong> gestrige Verschwörer gegen das linke Lager,<br />
dessen politischer Gefangener geworden war, erklärten die kadettischen Minister, die am<br />
26. nur in Form eines Präventivbedenkens demissioniert hatten, sie träten nunmehr<br />
endgültig aus <strong>der</strong> Regierung aus, da sie die Verantwortung für Kerenskis Handlungen bei<br />
<strong>der</strong> Unterdrückung eines so patriotischen, so loyalen, so rettenden Aufstandes nicht<br />
tragen wollten. Minister a. D., Berater, Freunde verließen, einer nach dem an<strong>der</strong>en, das<br />
Winterpalais. Das war, nach Kerenskis eigenen Worten, »ein Massenauszug aus dem<br />
offenkundig dem Untergange geweihten Ort«. Es gab eine Nacht, vom 28. auf den 29.,<br />
wo Kerenski im Winterpalais »fast in Einzahl spazierenging«. Die lustigen Arien waren<br />
ihm aus dem Sinn. »Die Verantwortung, die in diesen quälend sich hinschleppenden<br />
Tagen auf mir lastete, war eine wahrhaft übermenschliche.« Das war in erster Linie die<br />
Verantwortung für Kerenskis persönliches Schicksal: alles übrige vollzog sich bereits<br />
ohne ihn.<br />
Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit <strong>der</strong> Demokratie<br />
Am 28. August, als Angstfieber das Winterpalais schüttelte, meldete <strong>der</strong> Kommandeur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 461
<strong>der</strong> "wilden" Division, Fürst Bagration, telegraphisch Kornilow, »die Einheimischen<br />
erfüllen ihre Pflicht vor <strong>der</strong> Heimat und werden auf Befrhl ihres obersten Helden ...<br />
ihren letzten Tropfen Blut vergießen«. Schon wenige Stunden darauf kam <strong>der</strong> Vormarsch<br />
<strong>der</strong> "wilden" Division zum Stehen, und am 31. August versicherte eine Son<strong>der</strong>deputation<br />
mit demselben Bagration an <strong>der</strong> Spitze Kerenski, die Division unterwerfe sich völlig <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung. All das geschah nicht nur ohne Kampf, son<strong>der</strong>n ohne einen<br />
einzigen Schuß. Es kam nicht nur nicht bis zum letzten, son<strong>der</strong>n auch nicht zum ersten<br />
Blutstropfen. Kornilows Soldaten machten nicht einmal den Versuch, sich mit Waffengewalt<br />
den Weg nach Petrograd zu bahnen. Die Kommandeure hatten nicht gewagt, es<br />
ihnen zu befehlen. Die Regierungstruppen waren nirgends gezwungen, Gewalt anzuwenden,<br />
um den Vorstoß <strong>der</strong> Kornilowschen Abteilungen aufzuhalten. Die Verschwörung<br />
verfiel, zerbröckelte, verdampfte.<br />
Um dies zu erklären, genügt es, die Kräfte, die in den Kampf gegangen waren, näher<br />
zu betrachten. Wir werden dabei vor allem feststellen müssen - und diese Entdeckung<br />
wird für uns nicht überraschend sein -, daß <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> Verschwörung <strong>der</strong> alte zaristische<br />
Stab war, eine Kanzlei von Menschen ohne Köpfe, unfähig, in dem von ihnen<br />
begonnenen großen Spiel zwei, drei Züge im voraus zu überlegen. Obwohl Kornilow<br />
Wochen vorher den Tag <strong>der</strong> Umwälzung lestgelegt hatte, war nichts vorausgesehen und<br />
gebührend berechnet. Die rein militärische Vorbereitung des Aufstandes war<br />
ungeschickt, unordentlich, leichtfertig durchgeführt. Komplizierte Än<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />
Organisation und im Kommando wurden unmittelbar vor dem Ausmarsch, bereits im<br />
Gehen, getroffen. Die "wilde" Division, die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den ersten Schlag versetzen<br />
sollte, zählte insgesamt eintausenddreihun<strong>der</strong>tfünfzig Kämpfer, denen sechshun<strong>der</strong>t<br />
Gewehre, eintausend Lanzen und fünfhun<strong>der</strong>t Säbel fehlten. Fünf Tage vor Eröffnung<br />
<strong>der</strong> Kampfoperationen erließ Kornilow einen Befehl, die Division in ein Korps umzuformieren.<br />
Diese Maßnahme, schon von den Schulbüchern verurteilt, hielt man offenbar für<br />
nötig, um die Offiziere durch höhere Gehälter zu verlocken. »Das Telegramm, wonach<br />
die fehlenden Waffen in Pskow geliefert werden würden«, schreibt Martynow, »erhielt<br />
Bagration erst am 31. August, nach dem endgültigen Scheitern des ganzen Unternehmens.«<br />
Mit <strong>der</strong> Abkommandierung <strong>der</strong> Instrukteure von <strong>der</strong> Front nach Petrograd beschäftigte<br />
sich das Hauptquartier ebenfalls erst in allerletzter Minute. Die beauftragten Offiziere<br />
wurden ausgiebig mit Geld und Son<strong>der</strong>waggons ausgerüstet. Doch die patriotischen<br />
Herren beeilten sich vermutlich gar nicht sehr, das Vaterland zu retten. Nach zwei Tagen<br />
war die Eisenbahnverbindung zwischen Hauptquartier und Hauptstadt unterbrochen, und<br />
die Mehrzahl <strong>der</strong> Abkommandierten erreichte den Platz <strong>der</strong> beabsichtigten Heldentaten<br />
überhaupt nicht.<br />
In <strong>der</strong> Hauptstadt bestand jedoch eine eigene Organisation von Kornilow-Anhängern,<br />
die etwa zweitausend Mitgiie<strong>der</strong> zählte. Die Verschwörer wurden in Gruppen aufgeteilt<br />
mit speziellen Aufgaben: Erbeutung von Panzerautos, Verhaftung und Ermordung <strong>der</strong><br />
angesehensten Sowjetmitglie<strong>der</strong>, Verhaftung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Einnahme<br />
<strong>der</strong> wichtigsten Ämter. Nach den Worten des uns bereits bekannten Winberg, des Vorsitzenden<br />
des Verbandes <strong>der</strong> Kriegspflicht, »sollten beim Eintreffen <strong>der</strong> Truppen Krymows<br />
die wichtigsten Kräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bereits gebrochen, vernichtet o<strong>der</strong> unschädlich<br />
gemacht worden sein, so daß Krymow nur noch die Ordnung in <strong>der</strong> Stadt herzustellen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 462
hätte«. Allerdings hielt man in Mohilew dieses Aktionsprogramm für übertrieben und<br />
betraute mit <strong>der</strong> wesentlichsten Aufgabe Krymow, doch auch das Hauptquartier erwartete<br />
von den Abteilungen des republikanischen Zentrums sehr ernste Hilfe. Indes traten<br />
die Petrogra<strong>der</strong> Verschwörer in keiner Weise in Erscheinung, sie muckten nicht, rühren<br />
keinen Finger, taten, als wären sie überhaupt nicht auf <strong>der</strong> Welt. Winberg erklärt dieses<br />
Rätsel ziemlich einfach. Es stellte sich heraus, daß <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Konterspionage, Oberst<br />
Heimann, die entscheidendsten Stunden in einem Vorstadtrestaurant verbrachte, während<br />
Oberst Sidorin, <strong>der</strong> in unmittelbarem Auftrage Kornilows die Tätigkeit <strong>der</strong> gesamten<br />
patriotischen Gesellschaften <strong>der</strong> Hauptstadt vereinigen sollte, und Oberst Ducimétière,<br />
Leiter <strong>der</strong> militärischen Abteilung, »spurlos verschwanden und nirgendwo aufzufinden<br />
waren«. Der Kosakenoberst Dutow, <strong>der</strong> »unter <strong>der</strong> Maske <strong>der</strong> Bolschewiki« aufzutreten<br />
hatte, beschwerte sich später: »Ich lief herum ... auf die Straße zu rufen, aber niemand<br />
folgte mir«. Die für die Organisation bestimmten Geldbeträge wurden, nach den Worten<br />
Winbergs, von den höheren Mitglie<strong>der</strong>n entwendet o<strong>der</strong> verjubelt. Oberst Sidorin hatte<br />
sich, nach Denikins Behauptung, »in Finnland versteckt unter Mitnahme <strong>der</strong> letzten<br />
Reste <strong>der</strong> Organisationsgel<strong>der</strong>, etwa hun<strong>der</strong>tfünfzigtausend Rubel«. Lwow, den wir<br />
verhaftet im Winterpalais verlassen haben, erzählte später von einem Spen<strong>der</strong> hinter den<br />
Kulissen, <strong>der</strong> Offizieren eine beträchtliche Summe auszuhändigen hatte, aber, auf dem<br />
verabredeten Platz angelangt, die Verschwörer in einem <strong>der</strong>maßen betrunkenen Zustande<br />
vorfand, daß er sich nicht entschließen konnte, ihnen das Geld zu übergeben. Winberg<br />
selbst meint, ohne diese wahrhaft ärgerlichen »Zufälle« hätte <strong>der</strong> Plan durchaus von<br />
Erfolg gekrönt sein können. Doch bleibt die Frage: weshalb gruppierten sich um das<br />
patriotische Unternehmen vorwiegend Säufer, Defrandanten und Veräter? Vielleicht<br />
deshalb, weil jede historische Aufgabe die ihr adäquaten Ka<strong>der</strong> mobilisiert?<br />
Um die personelle Zusammensetzung <strong>der</strong> Verschwörer war es schlecht bestellt, beginnend<br />
mit <strong>der</strong> Spitze. »General Kornilow« war nach den Worten des rechten Kadetten<br />
Isgojew »<strong>der</strong> populärste General ... bei <strong>der</strong> friedlichen Bevölkerung, aber nicht bei den<br />
Truppen, wenigstens nicht bei jenen des Hinterlandes, die ich beobachten konnte.« Unter<br />
<strong>der</strong> friedlichen Bevölkerung versteht Isgojew das Publikum vom Newski-Prospekt. Den<br />
Volksmassen <strong>der</strong> Front wie des Hinterlandes war Kornilow fremd, feindlich, verhaßt.<br />
Der zum Kommandeur des 3. Kavalleriekorps ernannte General Krassnow,<br />
Monarchist, <strong>der</strong> bald danach versuchte, als Vasall bei Wilhelm II. unterzukommen,<br />
wun<strong>der</strong>te sich, daß »Kornilow, <strong>der</strong> eine so große Sache vorhatte, selbst in Mohilew blieb,<br />
im Schlosse, umgeben von den Turkmenen und Stoßbrigadlern, als glaubte er selbst nicht<br />
an den Erfolg«. Auf die Frage des französischen Journalisten Claude Anet: weshalb<br />
Kornilow im entscheidenden Moment nicht selbst gegen Petrograd gezogen sei, - antwortete<br />
das Haupt <strong>der</strong> Verschwörung: »Ich war krank, ich hatte einen heftigen<br />
Malariaanfall, und mir fehlte die übliche Energie.«<br />
Zuviel <strong>der</strong> unglücklichen Zufälle: so pflegt es stets zu gehen, wenn eine Sache von<br />
vornherein dem Untergang geweiht ist. In ihren Stimmungen schwankten die Verschwörer<br />
zwischen trunkenem Hochmut, dem das Meer bis zu den Knien reicht, und völligem<br />
Versagen vor dem ersten realen Hin<strong>der</strong>nis. Es ging nicht um Kornilows Malaria, son<strong>der</strong>n<br />
um eine weitaus tiefere, fatalere, unheilbare Krankheit, die den Willen <strong>der</strong> besitzenden<br />
Klassen paralysierte.<br />
Die Kadetten bestritten ernstlich Kornilows konterrevolutionäre Absichten, worunter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 463
sie die Restauration <strong>der</strong> Romanowschen Monarchie verstanden. Als handelte es sich<br />
darum! Der "Republikanismus" Kornilows hin<strong>der</strong>te in keiner Weise den Monarchisten<br />
Lukomski, mit ihm Hand in Hand zu gehen, und ebensowenig den Vorsitzenden des<br />
Verbandes Echt-russischer Leute, Rimskij-Korssakow, Kornilow am Tage des Aufstandes<br />
zu telegraphieren: »Ich bete heiß zu Gott, er möge Ihnen helfen, Rußland zu retten;<br />
stelle mich zu Ihrer vollen Verfügung.« Die Schwarzhun<strong>der</strong>tanhänger des Zarismus<br />
schreckte das billige republikanische Fähnchen nicht ab. Sie begriffen, daß das<br />
Programm Kornilows in ihm selbst lag, in seiner Vergangenheit, seinen Kosakenabzeichen,<br />
seinen Verbindungen und Finanzquellen und hauptsächlich seiner aufrichtigen<br />
Bereitschaft, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Kehle zu durchschneiden.<br />
Kornilow, <strong>der</strong> in seinen Aufrufen sich »Sohn eines Bauern« nannte, baute seinen<br />
Umwälzungsplan völlig auf Kosakentum und Bergtruppe. Unter den gegen Petrograd<br />
geworfenen Soldaten war nicht ein einziger Infanterietruppenteil. Zum Muschik hatte<br />
Kornilow keinerlei Wege, und er versuchte auch nicht, sie zu erschließen. Im Hauptquartier<br />
fand sich allerdings in <strong>der</strong> Person irgendeines "Professors" ein Agrarreformator, <strong>der</strong><br />
jedem Soldaten eine phantastische Zahl Deßjatinen zu versprechen bereit war. Doch <strong>der</strong><br />
zu diesem Thema entworfene Aufruf wurde nicht einmal veröffentlicht: von Agrardemagogie<br />
hielt die Generale die nicht unbegründete Angst zurück, die Gutsbesitzer zu<br />
schrecken und abzustoßen.<br />
Der Mohilewer Bauer Tadäusch, <strong>der</strong> in jenen Tagen die Umgebung des Hauprquartiers<br />
aus <strong>der</strong> Nähe beobachten konnte, erzählt, daß unter den Soldaten und in den Dörfern<br />
niemand den Manifesten des Generals Glauben schenkte: »die Macht will er, aber von<br />
Land kein Wort, von Beendigung des Krieges kein Wort«. Die Massen hatten in den<br />
sechs Monaten <strong>Revolution</strong> einigermaßen gelernt, sich in den lebenswichtigsten Fragen<br />
zurechtzufinden. Kornilow brachte dem Volk nur Krieg, Schutz <strong>der</strong> Generalsprivilegien<br />
und des gutsherrlichen Besitzes. Nichts an<strong>der</strong>es konnte er ihm geben, und nichts an<strong>der</strong>es<br />
erwartete es von ihm. In dieser für die Verschwörer im voraus offenkundigen Unmöglichkeit,<br />
sich auf die Bauerninfanterie, geschweige denn auf die Arbeiter stützen zu<br />
können, äußerte sich eben die soziale Verdammnis <strong>der</strong> Kornilowschen Clique.<br />
Das Bild <strong>der</strong> politischen Kräfte, das <strong>der</strong> Diplomat des Haupt-quartiers, Fürst Trubetzkoi,<br />
ausmalte, war in vielem richtig, aber falsch in einem: von jener Gleichgültigkeit, die<br />
bereit ist, »sich jedem Peitschenhieb zu unterwerfen«, war im Volke nicht die Spur; im<br />
Gegenteil, die Massen warteten gleichsam nur auf die Drohung mit <strong>der</strong> Peitsche, um zu<br />
zeigen, welche Quellen an Energie und Selbstlosigkeit sich in ihren Tiefen verbergen.<br />
Der Fehler in <strong>der</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Massenstimmung verwandelte alle übrigen Berechnungen<br />
in Staub.<br />
Die Verschwörung wurde von jenen Kreisen geleitet, die nicht gewohnt und außerstande<br />
waren, ohne die unteren Schichten etwas zu tun, ohne Arbeitskraft, ohne<br />
Kanonenfutter, ohne Offiziersburschen, Dienstboten, Schreiber, Chauffeure, Gepäckträger,<br />
Köchinnen, Waschfrauen, Weichensteller, Telegraphisten, Pferdeknechte, Kutscher.<br />
Indes, alle diese kleinen menschlichen Schrauben, diese unmerklichen, zahllosen, unentbehrlichen,<br />
waren für die Sowjets und gegen Kornilow. Die <strong>Revolution</strong> war allgegenwärtig.<br />
Sie drang überall hin, die Verschwörung überziehend. Sie hatte überall ihr Auge, ihr<br />
Ohr, ihren Arm.<br />
Das Ideal <strong>der</strong> militärischen Erziehung besteht darin, daß <strong>der</strong> Soldat hinter dem Rücken<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 464
des Vorgesetzten so handele wie vor dessen Augen. Indes erfaßten die <strong>russischen</strong> Soldaten<br />
und Matrosen im Jahre 1917, während sie die offiziellen Befehle auch unter den<br />
Augen <strong>der</strong> Kommandeure unausgeführt ließen, gierig im Fluge die Befehle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
und erfüllten sie noch häufiger aus eigener Initiative, ehe sie sie erreichten. Die<br />
zahllosen Diener <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong>en Agenten, Kundschafter, Kämpfer, brauchten<br />
we<strong>der</strong> Antreibung noch Aufsicht.<br />
Formell lag die Liquidierung <strong>der</strong> Verschwörung in den Händen <strong>der</strong> Regierung. Das<br />
Exekutivkomitee leistete Beistand. In Wirklichkeit ging <strong>der</strong> Kampf durch ganz an<strong>der</strong>e<br />
Kanäle. Während Kerenski, gebeugt unter <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> »übermenschlichen Verantwortung«,<br />
einsam das Parkett des Winterpalais durchmaß, entfaltete das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung,<br />
das auch Militärisches <strong>Revolution</strong>skomitee hieß, eine umfassende Tätigkeit. Seit<br />
dem Morgen ergingen telegraphische Instruktionen an die Eisenbahn-, Post- und Telegraphenangestellten<br />
sowie an die Soldaten. »Alle Truppenbewegungen erfolgen«, berichtete<br />
am selben Tage Dan, »auf Befehl <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, gegengezeichnet vom<br />
Komitee <strong>der</strong> Volksverteidigung«. Wirft man das Konventionelle beiseite, so bedeutet das:<br />
das Komitee <strong>der</strong> Volksverteidigung disponierte über die Truppen unter <strong>der</strong> Firma <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung. Gleichzeitig ging man an die Vernichtung <strong>der</strong> Kornilowschen<br />
Nester in Petrograd selbst, wo Haussuchungen und Verhaftungen in Militärschulen und<br />
Offiziersorganisationen durchgeführt wurden. Man fühlte die Hand des Komitees überall.<br />
Für den Generalgouvemeur interessierte sich kaum jemand.<br />
Die unteren Sowjetorganisationen ihrerseits warteten nicht erst auf Weisungen von<br />
oben. Die Hauptarbeit war in den Bezirken konzentriert. In den Stunden <strong>der</strong> größten<br />
Schwankungen <strong>der</strong> Regierung und <strong>der</strong> quälenden Verhandlungen des Exekutivkomitees<br />
mit Kerenski fanden sich die Bezirkssowjets enger zusammen und beschlossen: die<br />
Beratung <strong>der</strong> Bezirke in Permanenz zu erklären; eigene Vertreter dem vom Exekutivkomitee<br />
gebildeten Stab anzuglie<strong>der</strong>n; eine Arbeitermiliz zu schaffen; die Regierungskommissare<br />
unter Kontrolle <strong>der</strong> Bezirkssowjets zu stellen; fliegende Abteilungen zu<br />
organisieren zwecks Festnahme konterrevolutionärer Agitatoren. In ihrer Gesamtheit<br />
bedeuteten diese Maßnahmen nicht nur Aneignung von bedeutenden Funktionen <strong>der</strong><br />
Regierung, son<strong>der</strong>n auch von Funktionen des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Die Logik <strong>der</strong> Situation<br />
zwang die höheren Sowjetorgane, sich stark zusammenzudrängen, um den unteren<br />
Platz zu machen. Das Eintreten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Bezirke in die Arena des Kampfes verän<strong>der</strong>te<br />
jäh dessen Richtung und Schwung. Wie<strong>der</strong> bewies die Erfahrung die unerschöpfliche<br />
Lebensfähigkeit <strong>der</strong> Sowjetorganisation: von oben durch die Leitung <strong>der</strong> Versöhnler<br />
paralysiert, erwachte sie im kritischen Moment unter dem Vorstoß <strong>der</strong> Massen von unten<br />
zu neuem Leben.<br />
Für die die Bezirke inspirierenden Bolschewiki kam Kornilows Aufstand am wenigsten<br />
überraschend. Sie hatten ihn vorausgesehen, hatten gewarnt und waren als erste auf<br />
dem Posten. Schon in <strong>der</strong> Vereinigten Sitzung <strong>der</strong> Exekutiven vom 27. August teilte<br />
Sokolnikow mit, daß die bolschewistische Partei alle ihr möglichen Maßnahmen zur<br />
Informierung des Volkes über die Gefahr und zur Vorbereitung <strong>der</strong> Verteidigung getroffen<br />
habe; die Bolschewiki erklärten sich bereit, ihre Kampfarbeit mit den Organen des<br />
Exekutivkomitees in Übereinstimmung zu bringen. In <strong>der</strong> Nachtsitzung <strong>der</strong> Militärischen<br />
Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, unter Beteiligung von Delegierten zahlreicber Truppenteile,<br />
wurde beschlossen, die Verhaftung aller Verschwörer zu for<strong>der</strong>n, die Arbeiter zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 465
ewaffnen und für sie Instrukteure aus den Soldaten heranzuziehen, die Verteidigung <strong>der</strong><br />
Hauptstadt von unten her zu sichern und gleichzeitig sich auf die Schaffung einer revolutionären<br />
Macht aus Arbeitern und Soldaten vorzubereiten. Die Militärische Organisation<br />
veranstaltete in <strong>der</strong> ganzen Garnison Meetings. Die Soldaten wurden aufgerufen, unter<br />
Gewehr zu stehen, um beim ersten Alarm auszumarschieren.<br />
»Ungeachtet dessen, daß sie in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit waren«, schreibt Suchanow, »war es<br />
ganz klar: im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee gehörte die Hegemonie den<br />
Bolschewiki.« Er erklärt die Gründe dafür: »Wollte das Komitee ernstlich handeln, dann<br />
mußte es revolutionär handeln«, für revolutionäre Handlungen jedoch. »besaßen nur die<br />
Bolschewiki reale Mittel«, denn die Massen gingen mit ihnen. Die Gespanntheit des<br />
Kampfes rückte überall die aktivsten und kühnsten Elemente in den Vor<strong>der</strong>grund. Diese<br />
automatische Auslese hob die Bolschewiki unvermeidlich empor, festigte ihren Einfluß,<br />
konzentrierte die Initiative in ihren Händen und übertrug ihnen die faktische Leitung<br />
sogar in jenen Organisationen, wo sie in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit waren. Je näher zum Bezirk,<br />
Betrieb, zur Kaserne, um so unbestrittener und vollständiger die Herrschaft <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Alle Parteizellen sind auf die Beine gebracht. Bei den Fachgruppen <strong>der</strong> Großbetriebe<br />
ist ununterbrochener Wachdienst <strong>der</strong> Bolschewiki organisiert. Im Bezirkskomitee<br />
<strong>der</strong> Partei halten Vertreter kleinerer Betriebe Wache. Die Verbindung erstreckt sich von<br />
unten, von <strong>der</strong> Werkstatt, über die Bezirke bis zum Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei.<br />
Unter dem unmittelbaren Druck <strong>der</strong> Bolschewiki und <strong>der</strong> von ihnen geleiteten Organisationen<br />
erklärte das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung es für wünschenswert, einzelne Arbeitergruppen<br />
zu bewaffnen zum Schutze <strong>der</strong> Arbeiterviertel, Fabriken und Werkstätten. Diese<br />
Sanktion hatten die Massen nur gebraucht. In den Bezirken bildeten sich nach den<br />
Worten <strong>der</strong> Arbeiterpresse »lange Schlangen, die darauf harrten, in die Rote Garde<br />
einzutreten«. Es setzte die Ausbildung in Waffenhandhabung und Schießen ein. Als<br />
Instrukteure wurden erfahrene Soldaten hinzugezogen. Bereits am 29. entstanden in fast<br />
allen Bezirken Kampfmannschaften. Die Rote Garde meldete ihre Bereitschaft, unverzüglich<br />
eine Abteilung von vierzigtausend Mann unter Gewehr zu stellen. Die unbewaffneten<br />
Arbeiter formierten Mannschaften zum Auswerfen von Schützengräben,<br />
Errichtung von Unterständen und Stacheldrahtverhauen. Der neue Generalgouverneur,<br />
Paltschinski, <strong>der</strong> Sawinkow abgelöst hatte - Kerenski war es nicht gelungen, seinen<br />
Komplicen länger als drei Tage zu halten -, mußte in einer beson<strong>der</strong>en Erklärung<br />
zugeben, daß, als Not an Pionierarbeitern für die Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt eintrat,<br />
»tausende Arbeiter ... durch persönliche unentgeltliche Arbeit während weniger Stunden<br />
eine Riesenleistung vollbrachten, die ohne ihre Hilfe einige Tage erfor<strong>der</strong>t haben<br />
würde«. Das hin<strong>der</strong>te Paltschinski nicht, nach Sawinkows Beispiel die bolschewistische<br />
Zeitung zu verbieten, die einzige, die die Arbeiter als ihre Zeitung betrachteten.<br />
Der Putilower Gigant wird das Zentrum des Wi<strong>der</strong>standes im Petershofer Bezirk. In<br />
aller Eile werden Kampfmannschaften gebildet. Die Arbeit in den Betrieben geht Tag<br />
und Nacht: es werden neue Kanonen montiert zur Formierung proletarischer Artilleriedivisionen.<br />
Der Arbeiter Minitschew erzählt: »In jenen Tagen wurde sechzehn Stunden<br />
täglich gearbeitet ... Es wurden ungefähr hun<strong>der</strong>t Kanonen montiert.«<br />
Das kürzlich geschaffene Exekutivkomitee <strong>der</strong> Eisenbahner sollte sehr bald seine<br />
Kampftaufe empfangen. Die Eisenbahner hatten ihre beson<strong>der</strong>en Gründe, sich vor einem<br />
Sieg Kornilows zu fürchten, <strong>der</strong> in sein Programm die Militarisierung <strong>der</strong> Eisenbahnen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 466
aufgenommen hatte. Die unteren Schichten überholten auch hier ihre Spitzen bei weitem.<br />
Die Eisenbahner nahmen die Schienen auseinan<strong>der</strong> und sperrten die Wege, um die<br />
Kornilowschen Truppen aufzuhalten: die Kriegserfahrung kam ihnen zugute. Sie trafen<br />
auch Maßnahmen, den Herd <strong>der</strong> Verschwörung, Mohilew, zu isolieren durch Einstellung<br />
des Verkehrs nach und aus dem Hauptquartier. Die Post- und Telegraphenangestellten<br />
fingen Telegramme und Befehle aus dem Hauptquartier auf und sandten sie, o<strong>der</strong> Kopien<br />
davon, an das Komitee. Die Generale hatten sich in den Kriegsjahren daran gewöhnt, daß<br />
Eisenbahn und Post Fragen <strong>der</strong> Technik seien. Jetzt konnten sie sich über-zeugen, daß es<br />
Fragen <strong>der</strong> Politik waren.<br />
Die Gewerkschaften, am allerwenigsten zu politischer Neutralität neigend, warteten<br />
nicht auf beson<strong>der</strong>e Einladungen, um Kampfstellungen zu beziehen. Der Verband <strong>der</strong><br />
Eisenbahnarbeiter bewaffnete seine Mitglie<strong>der</strong>, entsandte sie auf die Strecken, die Wege<br />
zu beobachten, die Schienen auseinan<strong>der</strong>zunehmen, die Brücken zu bewachen, und so<br />
weiter; mit ihrem Eifer und ihrer Entschlossenheit trieben die Arbeiter die mehr bürokratische<br />
und gemäßigte Exekutive <strong>der</strong> Eisenbahner vorwärts. Der Metallarbeiterverband<br />
stellte dem Komitee <strong>der</strong> Verteidigung seine zahlreichen Angestellten zur Verfügung und<br />
wies ihm einen großen Geldbetrag für seine Ausgaben an. Der Chauffeurverband stellte<br />
dein Komitee seine Transport- und technischen Mittel zur Verfügung. Der Verband<br />
graphischer Arbeiter hatte in wenigen Stunden das Erscheinen <strong>der</strong> Zeitungen für den<br />
Montag gesichert, um die Bevölkerung über die Ereignisse auf dem laufenden zu halten,<br />
und führte gleichzeitig die wirksamste aller Kontrollen über die Presse aus. Der rebellische<br />
General hatte mit dem Fuß gestampft, - aus <strong>der</strong> Erde waren Legionen aufgetaucht:<br />
doch es waren Legionen des Feindes.<br />
Rings um Petrograd, m den Nachbargarnisonen, auf den großen Stationen, in <strong>der</strong> Flotte<br />
arbeitete man Tag und Nacht: die eigenen Reihen wurden überprüft, Arbeiter bewaffnet,<br />
an den Wegen entlang Wachabteilungen aufgestellt, Verbindungen mit den Nachbarpunkten<br />
und dem Smolny angeknüpft. Das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung mußte weniger<br />
wecken und appellieren als registrieren und lenken. Seine Pläne wurden stets übertroffen.<br />
Der Wi<strong>der</strong>stand gegen die Rebellion <strong>der</strong> Generale verwandelte sich in eine Volkstreibjagd<br />
auf die Verschwörer.<br />
In Helsingfors schuf eine Generalversamrulung sämtlicher Sewjetorganisationen ein<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee, das in das Generalgouvernement, die Kommaudantur, Konterspionage<br />
und in an<strong>der</strong>e wichtige Institutionen seine Kommissare entsandte. Von nun an hatte<br />
kein Befehl ohne <strong>der</strong>en Unterschrift Gültigkeit. Telegraph und Telephon werden unter<br />
Kontrolle gestellt. Die offiziellen Vertreter des in Helsingfors liegenden Kosakenregiments,<br />
hauptsächlich Offiziere, versuchen ihre Neutralität zu proklamieren: es sind<br />
geheime Kornilow-Anhänger. Am nächsten Tage erscheinen im Komitee gemeine<br />
Kosaken mit <strong>der</strong> Erklärung, das gesamte Regiment sei gegen Kornilow. Kosakenvertreter<br />
werden zum erstenmal in den Sowjet eingeführt. Wie stets, so auch jetzt, verschiebt <strong>der</strong><br />
scharfe Zusammenstoß <strong>der</strong> Klassen die Offiziere nach rechts, die Gemeinen nach links.<br />
Der Kronstädter Sowjet, <strong>der</strong> Zeit gefunden hatte, seine Juliwunden restlos zu heilen,<br />
sandte eine telegraphische Erklärung, daß »die Kronstädter Garnison wie ein Mann<br />
bereit ist, auf den ersten Ruf des Exekutivkomitees sich zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
zu erheben«. Die Kronstädter wußten in jenen Tagen noch nicht, in welchem Maße die<br />
Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Verteidigung ihrer selbst vor Vernichtung bedeutete: sie<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 467
konnten es nur ahnen.<br />
Schon bald nach den Julitagen war von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung beschlossen<br />
worden, die Kronstädter Festung als ein hol-schewistisches Nest aufzuheben. Die<br />
Maßnahme erklärte man in Übereinstimmung mit Kornilow offiziell mit »strategischen<br />
Gründen«. Böses ahnend, wi<strong>der</strong>setzten sich die Seeleute. »Die Legende vom Verrat im<br />
Hauptquartier«, schrieb Kerenski, nachdem er bereits selbst Kornilow des Verrats<br />
beschuldigt hatte, »faßte in Kronstadt so tiefe Wurzeln, daß je<strong>der</strong> Versuch, die Artillerie<br />
zu entfernen, dort direkt die Wut <strong>der</strong> Menge entfesselte.« Mit <strong>der</strong> Aufgabe, ein Mittel zur<br />
Liquidierung Kronstadts zu finden, betraute die Regierung Kornilow. Er hatte dieses<br />
Mittel gefunden: Sogleich nach <strong>der</strong> Zertrümmerung <strong>der</strong> Hauptstadt sollte Krymow eine<br />
Brigade mit Artillerie gegen Oranienbaum richten und unter <strong>der</strong> Mündung <strong>der</strong> Küstengeschütze<br />
von <strong>der</strong> Kronstädter Garnison Entwaffnung <strong>der</strong> Festung und Abzug auf das<br />
Festland for<strong>der</strong>n, wo man mit den Seeleuten eine Massenabrechnung vorzunehmen<br />
plante. Aber zur gleichen Zeit, als Krymow an die Ausführung <strong>der</strong> ihm von <strong>der</strong> Regierung<br />
übertragenen Aufgabe gehen wollte, sah sich die Regierung gezwungen, die<br />
Kronstädter um Rettung vor Krymow zu bitten.<br />
Das Exekutivkomitee ersuchte Kronstadt und Wyborg telephonisch, größere Truppenteile<br />
nach Petrograd zu schicken. Am Morgen des 29. begannen die Truppen<br />
einzutreffen. Das waren vorwiegend bolschewistische Abteilungen: damit <strong>der</strong> Aufruf des<br />
Exekutivkomitees Wirksamkeit erhalte, war die Bestätigung des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />
Bolschewiki erfor<strong>der</strong>lich. Etwas früher, um die Tagesmitte des 28., übernahmen, auf<br />
Kerenskis Befehl, <strong>der</strong> stark einer demütigen Bitte glich, die Verteidigung des Winterpalais<br />
Matrosen vom Kreuzer "Aurora", von dessen Kommando ein Teil noch immer im<br />
"Kresty" saß wegen Teilnahme an <strong>der</strong> Julidemonstration. In den vom Wachdienst freien<br />
Stunden besuchten die Seeleute die im Gefängnis sitzenden Kronstädter sowie Trotzki,<br />
Raskolnikow und an<strong>der</strong>e. »Ist es nicht Zeit, die Regierung zu verhaften?« fragten die<br />
Besucher. »Nein, es ist noch nicht Zeit«, vernehmen sie als Antwort, »legt das Gewehr<br />
auf Kerenskis Schulter und schießt auf Kornilow. Danach werden wir unsere Rechnung<br />
mit Kerenski machen.« Im Juni und im Juli waren diese Matrosen nicht beson<strong>der</strong>s<br />
geneigt gewesen, den Argumenten <strong>der</strong> revolutionären Strategie zu lauschen. In diesen<br />
nicht ganz vollen zwei Monaten haben sie vieles gelernt. Die Frage nach <strong>der</strong> Verhaftung<br />
<strong>der</strong> Regierung stellen sie eher, um sich selbst zu überprüfen und ihr Gewissen zu erleichtern.<br />
Sie erfassen selbst die unabwendbare Konsequenz <strong>der</strong> Ereignisse. In <strong>der</strong> ersten<br />
Julihälfte - geschlagen, verurteilt, verleumdet; Ende August - die verläßlichste Wache<br />
des Winterpalais gegen Kornilow, werden sie Ende Oktober das Winterpalais aus den<br />
Gesehützen <strong>der</strong> "Aurora" beschießen.<br />
Aber sind die Matrosen auch bereit, die Generalabrechnung mit dem Februarregime<br />
noch für eine bestimmte Zeit zu vertagen, so wollen sie keinen überflüssigen Tag länger<br />
die Kornilow-Offiziere über sich dulden. Die Vorgesetzten, die ihnen die Regierung nach<br />
den Julitagen aufgezwungen hatte, standen fast ausnahmslos auf Seiten <strong>der</strong> Verschwörer.<br />
Der Kronstädter Sowjet beseitigte unverzüglich den Regierungskommandanten und<br />
stellte einen eigenen. Jetzt schrien die Versöhnler nicht mehr über die Abson<strong>der</strong>ung einer<br />
Kronstädter Republik. Jedoch beschränkte sich die Sache durchaus nicht überall auf<br />
Absetzungen: an manchen Stellen kam es zu blutigem Strafgericht.<br />
»Es begann in Wyborg«, sagt Suchanow, »mit Nie<strong>der</strong>metzelungen von Generalen und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 468
Offizieren seitens <strong>der</strong> wutentbrannten und in Panik geratenen Matrosen- und Soldatenmengen.«<br />
Nein, das waren keine wutentbrannten Mengen, und man kann in diesem Falle<br />
wohl kaum von Panik sprechen. Am 29. morgens wurde vom Zentralkomitee <strong>der</strong> Flotte<br />
dem Kommandanten von Wyborg, General Oranowski, zur Weitergabe an die Garnison<br />
telegraphisch die Meldung vom Aufstand im Hauptquartier übermittelt. Der Kommandant<br />
hielt das Telegramm einen ganzen Tag zurück und antwortete auf Anfragen über die<br />
sich abspielenden Ereignisse, er habe keine Benachrichtigung erhalten. Bei einer von den<br />
Matrosen vorgenommenen Haussuchung wurde das Telegramm entdeckt. Auf frischer<br />
Tat ertappt, erklärte sich <strong>der</strong> General als Anhänger Kornilows. Die Matrosen erschossen<br />
den Kommandanten und mit ihm zwei weitere Offiziere, die sich als seine Gesinnungsgenossen<br />
ausgaben. Von den Offizieren <strong>der</strong> Baltischen Flotte verlangten die Matrosen ein<br />
schriftliches Treuegelöbnis für die <strong>Revolution</strong>, und als vier Offiziere des Linienschiffes<br />
"Petropawlowsk" sich sträubten, ihre Unterschrift zu geben, und sich als Kornilow-Anhänger<br />
bekannten, wurden sie auf Beschluß des Schiffskommandos an Ort und Stelle<br />
erschossen.<br />
Über Soldaten und Matrosen schwebte Todesgefahr. Blutige Säuberung stand nicht nur<br />
Petrograd und Kronstadt bevor, son<strong>der</strong>n sämtlichen Garnisonen des Landes. Nach dem<br />
Verhalten ihrer Offiziere, die neuen Mut gefaßt hatten, nach <strong>der</strong>en Ton, <strong>der</strong>en sehiefen<br />
Blicken konnten die Soldaten und Matrosen unfehlbar ihr Schicksal im Falle eines Sieges<br />
des Hauptquartiers voraussehen. Dort, wo die Atmosphäre beson<strong>der</strong>s erhitzt war, beeilten<br />
sie sich, dem Feinde den Weg abzuschneiden und <strong>der</strong> beabsichtigten Säuberungsaktion<br />
<strong>der</strong> Offiziere ihre, die Säuberungsaktion <strong>der</strong> Matrosen und Soldaten, entgegenzustellen.<br />
Der Bürgerkrieg hat bekanntlich seine Gesetze, und sie haben noch niemals als Gesetze<br />
<strong>der</strong> Humanität gegolten.<br />
Tschcheidse schickte sofort nach Wyborg und Helsingfors Telegramme, die die Selbstjustiz<br />
als »tödlichen Schlag gegen die <strong>Revolution</strong>« verurteilten. Kerenski seinerseits<br />
telegraphierte nach Helsingfors: »For<strong>der</strong>e sofortige Einstellung <strong>der</strong> abscheulichen<br />
Gewalttaten.« Sucht man die politische Verantwortung für die vereinzelten Fälle von<br />
Selbstjustiz - ohne dabei zu vergessen, daß die <strong>Revolution</strong> in ihrer Gesamtheit eine<br />
Selbstjustiz ist -, so trugen die Verantwortung in diesem Fall restlos Regierung und<br />
Versöhnler, die im Augenblick <strong>der</strong> Gefahr zu den revolutionären Massen flüchteten, um<br />
sie hierauf den konterrevolutionären Offizieren wie<strong>der</strong> auszuliefern.<br />
Wie während <strong>der</strong> Staatsberatung in Moskau, wo man von Stunde zu Stunde die<br />
Umwälzung erwartet hatte, so wandte sich Kerenski auch jetzt nach dem Bruch mit dem<br />
Hauptquartier an die Bolschewiki mit <strong>der</strong> Bitte, »die Soldaten zu beeinflussen, sich für<br />
die Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu erheben«. Während er die Matrosen-Bolschewiki zur<br />
Verteidigung des Winterpalais aufrief, entließ jedoch Kerenski seine Juligefangenen<br />
nicht aus dem Kerker. Suchanow schreibt darüber: »Die Situation, wo Alexejew mit<br />
Kerenski tuschelt und Trotzki im Gefängnis sitzt, war völlig unerträglich.« Es ist nicht<br />
schwer, sich jene Erregung vorzustellen, die in den Gefängnissen herrschte. »Wir<br />
kochten vor Empörung«, erzählt <strong>der</strong> Unterleutnant zur See Raskolnikow, »über die<br />
Provisorische Regierung, die in so unruhigen Tagen ... fortfuhr, solche <strong>Revolution</strong>äre<br />
wie Trotzki im "Kresty" verfaulen zu lassen ...« - »Welche Feiglinge, oh, welche Feiglinge«,<br />
sagte Trotzki während des Spazierganges im Kreise zu uns, »sie müßten sofort<br />
Kornilow außer Gesetz erklären, damit je<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ergebene Soldat in sich das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 469
Recht fühlt, mit ihm Schluß zu machen.«<br />
Der Einzug <strong>der</strong> Kornilowschen Truppen in Petrograd hätte vor allem die Vernichtung<br />
<strong>der</strong> inhaftierten Bolschewiki bedeutet. In dem Befehl an General Bagration, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />
Avantgarde in die Hauptstadt einziehen sollte, hatte Krymow nicht vergessen, beson<strong>der</strong>s<br />
zu betonen: »Eine Bewachung <strong>der</strong> Gefängnisse und Arresthäuser einrichten, die darin<br />
befindlichen Personen jedoch keinesfalls herauslassen.« Das war ein ganzes Programm,<br />
von Miljukow seit den Apriltagen inspiriert: »Keinesfalls herauslassen!« Es gab in jenen<br />
Tagen in Petrograd kein Meeting, wo man nicht die Freilassung <strong>der</strong> Juligefangenen<br />
gefor<strong>der</strong>t hätte. Delegation auf Delegation zog zum Exekutivkomitee, das seinerseits<br />
seine Führer zu Verhandlungen ins Winterpalais schickte. Vergeblich! Die Hartnäckigkeit<br />
Kerenskis in dieser Frage ist um so bemerkenswerter, als er während <strong>der</strong> ersten<br />
an<strong>der</strong>thalb bis zwei Tage die Lage <strong>der</strong> Regierung für hoffnungslos hielt und sich folglich<br />
selbst zu <strong>der</strong> Rolle des obersten Gefängniswärters verurteilte, <strong>der</strong> die Bolschewiki für<br />
den Galgen <strong>der</strong> Generale bewachte.<br />
Es ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß die von den Bolschewiki geleiteten Massen, gegen<br />
Kornilow kämpfend, nicht im mindesten Kerenski trauten. Es ging für sie nicht um die<br />
Verteidigung <strong>der</strong> Regierung, son<strong>der</strong>n um die Beschirmung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Um so<br />
entschlossener und opfermutiger war ihr Kampf. Der Wi<strong>der</strong>stand gegen die Meuterei<br />
erwuchs aus Schienen, Steinen, aus <strong>der</strong> Luft. Die Eisenbahner <strong>der</strong> Station Luga, wohin<br />
Krymow gekommen war, weigerten sich beharrlich, die Militärzüge abfahren zu lassen,<br />
mit dem Hinweis, es gäbe keine Lokomotiven. Die Kosakentaffeln waren im Augenblick<br />
von bewaffneten Soldaten <strong>der</strong> zwanzigtausend Mann starken Lugaer Garnison umringt:<br />
Ein kriegerischer Zusammenstoß fand nicht statt, doch etwas viel Gefährlicheres: ein<br />
Kontakt, eine Verbindung, ein gegenseitiges Durehdrungensein. Der Lugaer Sowjet hatte<br />
inzwischen die Regierungserklärung über Kornilows Entlassung abgedruckt, und dieses<br />
Dokument wurde jetzt in den Staffeln stark verbreitet. Die Offiziere redeten den Kosaken<br />
zu, den Agitatoren nicht zu trauen. Doch schon die Notwendigkeit des Zuredens war ein<br />
bedrohliches Vorzeichen.<br />
Nach Empfang des Kornilowschen Befehls, vorzurücken verlangte Krymow mit<br />
blankem Säbel, daß die Lokomotiven in einer halben Stunde fertig zu sein hätten. Die<br />
Drohung hatte scheinbar gewirkt: wenn auch mit neuen Verzögerungen, wurden die<br />
Lokomotiven schließlich gestellt; aber die Vorwärtsbewegung war trotzdem nicht<br />
möglich, denn <strong>der</strong> Weg nach vorn war zerstört und für gute vierundzwanzig Stunden<br />
verstopft. Um sich vor <strong>der</strong> zersetzenden Propaganda zu retten, führte Krymow am Abend<br />
des 28. seine Truppen einige Werst hinter Luga zurück. Aber die Agitatoren drangen<br />
sofort auch in die Dörfer ein: es waren Soldaten, Arbeiter, Eisenbahner, vor ihnen gab es<br />
keine Rettung, sie drangen überall durch. Die Kosaken versammelten sich sogar zu<br />
Meetings. Belagert von <strong>der</strong> Propaganda und seine Hilflosigkeit verfluchend, wartete<br />
Krymow vergeblich auf Bagration: die Eisenbahner hielten die Staffeln <strong>der</strong> "wilden"<br />
Division auf denen es ebenfalls bevorstand, in den nächsten Stunden <strong>der</strong> gefährlichen<br />
moralischen Attacke ausgesetzt zu sein.<br />
Wie willenlos, ja sogar feige die Versöhnlerdemokratie an sich auch gewesen sein<br />
mochte, so hatten ihr doch jene Massenkräfte, auf die sie sich im Kampfe gegen Kornilow<br />
halb und halb wie<strong>der</strong> stützen mußte, unerschöpfliche Wirkungsquellen eröffnet. Die<br />
Sozialrevolutionäre und Mensehewiki sahen ihre Aufgabe nicht darin, Kornilows<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 470
Truppen in offenem Kampfe zu besiegen, son<strong>der</strong>n darin, sie für sich zu gewinnen. Das<br />
war richtig. Gegen diese Linie des "Versöhnlertums" hatten selbstverständlich auch die<br />
Bolschewiki nichts einzuwenden: im Gegenteil, das war gerade ihre Grundmethode; die<br />
Bolschewiki verlangten nur, daß hinter den Agitatoren und Parlamentären bewaffnete<br />
Arbeiter und Soldaten bereitstanden. Für die moralische Einwirkung auf die Kornilowschen<br />
fand sich sogleich eine unbeschränkte Auswahl an Mitteln und Wegen. So<br />
wurde <strong>der</strong> "wilden" Division eine muselmanische Delegation entgegengeschickt, <strong>der</strong> die<br />
gleich an Ort und Stelle ausfindig gemachten einheimischen Autoritäten angeglie<strong>der</strong>t<br />
waren, beginnend mit dem Enkel des berühmten Chamil, des heldenhaften Verteidigers<br />
des Kaukasus gegen den Zarismus. Die Bergtruppen erlaubten ihren Offizieren nicht, die<br />
Delegation zu verhaften: das wi<strong>der</strong>spräche den jahrhun<strong>der</strong>tealten Traditionen <strong>der</strong><br />
Gastfreundschaft. Verhandlungen fanden statt und wurden sogleich <strong>der</strong> Anfang vom<br />
Ende. Die Kornilowschen Kornmandeure hatten sich zur Begründung des ganzen<br />
Marsches auf die in Petrograd ausgebrochenen Meutereien »deutscher Agenten« berufen.<br />
Die unmittelbar aus <strong>der</strong> Hauptstadt eingetroffenen Delegierten wi<strong>der</strong>legten nicht nur die<br />
Tatsache <strong>der</strong> Meuterei, son<strong>der</strong>n wiesen mit Dokumenten in <strong>der</strong> Hand nach, daß Krymow<br />
ein Rebell sei, <strong>der</strong> die Truppen gegen die Regierung führe. Was konnten darauf Kornilows<br />
Offiziere erwi<strong>der</strong>n?<br />
Auf dem Waggon des Stabes <strong>der</strong> "wilden" Division brachten die Soldaten eine rote<br />
Fahne an mit <strong>der</strong> Aufschrift: "Land und Freiheit". Der Stabskommandant befahl, die<br />
Fahne einzurollen: »nur zur Vermeidung einer Verwechslung mit dem Eisenbahnsignal«,<br />
wie <strong>der</strong> Herr Oberstleutnant erklärte. Das Kommando des Stabes gab sich mit <strong>der</strong> ängstlichen<br />
Erklärung nicht zufrieden und verhaftete den Oberstleutnant. Ob man sich im<br />
Hauptquartier nicht doch geirrt hatte, als man sagte, den Kaukasiern sei es gleich, wen<br />
sie abschlachten?<br />
Am nächsten Morgen traf von Kornilow ein Oberst bei Krymow ein mit dem Befehl:<br />
das Korps zusammenziehen, schnell gegen Petrograd vorrücken und es »überraschend«<br />
besetzen. Im Hauptquartier versuchte man offenkundig, die Augen vor <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />
noch zu verschließen. Krymow antwortete, das Korps sei auf verschiedenen Eisenbahnstrecken<br />
verstreut und werde an verschiedenen Stellen ausgeladen; unter seinem Befehl<br />
seien vorläufig nur acht Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften, die Eisenbahnlinien seien zerstört,<br />
versperrt, verbarrikadiert; Weiterkommen sei nur auf dem Marschwege möglich, und<br />
schließlich könne von einer überraschenden Besetzung Petrograds jetzt keine Rede sein,<br />
wo die Arbeiter und Soldaten in Hauptstadt und Umgebung unter Waffen ständen. Die<br />
Sache wurde dadurch noch komplizierter, daß die Möglichkeit endgültig verlorengegangen<br />
war, die Operation »überraschend« für die Truppen Krymows selbst durchzuführen:<br />
Böses ahnend, verlangten sie Aufklärung. Man war gezwungen, sie in den Konflikt<br />
zwischen Kornilow und Kerenski einzuweihen, das heißt offiziell Versammlungen auf<br />
die Tagesordnung zu stellen.<br />
Ein von Krymow in diesem Augenblick erlassener Befehl lautete: »Heute nacht erhielt<br />
ich vom Hauptquartier des Höchstkommandierenden und aus Petrograd die Mitteilung,<br />
daß in Petrograd Meutereien begonnen haben ...« Diese Lüge sollte den bereits völlig<br />
offenen Feldzug gegen die Regierung rechtfertigen. Kornilows persönlicher Befehl vom<br />
29. August lautet: »Die Konterspionage in Holland meldet: a) für die nächsten Tage<br />
wird gleichzeitig an <strong>der</strong> gesamten Front ein Schlag geplant zu dem Zwecke, unsere<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 471
auseinan<strong>der</strong>gefallene Armee zu erschüttern und zur Flucht zu zwingen, b) ein Aufstand in<br />
Finnland ist vorbereitet, c) es sind Brückensprengungen am Dnjepr und an <strong>der</strong> Wolga<br />
geplant, d) ein Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki in Petrograd wird organisiert.« Dies ist die<br />
gleiche Meldung, auf die Sawinkow schon am 23. sich berufen hatte: Holland wurde nur<br />
zur Ablenkung erwähnt, das Dokument war allen Anzeichen nach in <strong>der</strong> französischen<br />
Militärmission o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong>en Mitwirkung fabriziert worden.<br />
Kerenski telegraphierte am gleichen Tage an Krymow: »In Petrograd herrscht völlige<br />
Ruhe. Ein Aufstand wird nicht erwartet. Es besteht kein Bedürfnis nach Ihrem Korps.«<br />
Der Aufstand sollte durch die standrechtlichen Dekrete Kerenskis selbst hervorgerufen<br />
werden. Da die Regierung ihre Provokation vertagen mußte, durfte Kerenski berechtigterweise<br />
annehmen: »Ein Aufstand wird nicht erwartet.«<br />
Keinen Ausweg sehend, unternahm Krymow den sinnlosen Versuch, mit seinen acht<br />
Hun<strong>der</strong>tschaften gegen Petrograd zu marschieren. Das war mehr eine Geste zur Erleichterung<br />
des Gewissens, die selbstverständlich zu nichts führte. Einige Werst hinter Luga<br />
auf einen Wachschutz stoßend, kehrte Krymow um, ohne erst zu versuchen, den Kampf<br />
aufzunehmen. Über diese einzige, yöllig fiktive "Operation" schrieb später Krassnow,<br />
<strong>der</strong> Chef des 3. Kavalleriekorps: »Es wäre notwendig gewesen, den Schlag gegen Petrograd<br />
in einer Stärke von sechsundachtzig Schwadronen und Hun<strong>der</strong>tschaften zu führen,<br />
er wurde jedoch von einer Brigade aus acht schwachen Hun<strong>der</strong>tschaften, überdies zur<br />
Hälfte ohne Vorgesetzte, unternommen. Statt mit <strong>der</strong> Faust zuzuschlagen, schlug man mit<br />
einem Fingerchen: es war schmerzhaft für das Fingerchen und ganz unempfindlich für<br />
den, den man schlug.« Eigentlich war auch kein Schlag mit einem Fingerchen erfolgt.<br />
Einen Schmerz hat niemand verspürt.<br />
Die Eisenbahner taten unterdessen ihre Sache. Geheimnisvollerweise bewegten sich<br />
die Staffeln nicht in den Richtungen ihrer Bestimmungsorte. Die Regimenter trafen nicht<br />
bei ihren Divisionen ein, die Artillerie wurde in Sackgassen hineingetrieben, die Stäbe<br />
verloren die Verbindung mit ihren Truppenteilen. Auf allen größeren Stationen gab es<br />
eigene Sowjets, Eisenbahner- und Soldatenkomitees. Die Telegraphisten unterrichteten<br />
sie über alle Ereignisse, alle Verschiebungen, alle Verän<strong>der</strong>ungen. Die gleichen Telegraphisten<br />
hielten Kornilows Befehle auf. Für die Kornilowianer ungünstige Nachrichten<br />
wurden unverzüglich vervielfältigt, verbreitet, angeschlagen, von Mund zu Mund weitergegeben.<br />
Maschinist, Weichensteller, Wagenschmierer wurden zu Agitatoren. In dieser<br />
Atmosphäre bewegten sich, o<strong>der</strong> was noch schlimmer, standen auf einem Fleck die<br />
Kornilowschen Staffeln. Das Kommando, das die Hoffnungslosigkeit seiner Lage bald<br />
verspürte, drängte offensichtlich nicht nach vorn und erleichterte durch seine Passivität<br />
die Arbeit <strong>der</strong> Gegenverschwörer des Transportes. Die Teile <strong>der</strong> Krymowschen Armee<br />
waren auf diese Weise über Stationen, Rangierstellen und Sackgassen von acht Eisenbahnlinien<br />
verstreut. Verfolgt man auf <strong>der</strong> Karte das Schicksal <strong>der</strong> Kornilowschen<br />
Staffeln, kann man den Eindruck gewinnen, die Verschwörer hätten auf dem Eisenbahnnetz<br />
Blindekuh gespielt.<br />
»Fast überall«, schil<strong>der</strong>t General Krassnow seine Beobachtungen aus <strong>der</strong> Nacht zum<br />
30. August, »sahen wir das gleiche Bild. Bald auf den Geleisen, bald im Waggon, in den<br />
Sätteln, neben den mit den Köpfen zu ihnen geneigten schwarzen und dunkelbraunen<br />
Pferden saßen o<strong>der</strong> standen Dragoner und bei ihnen eine behende Persönlichkeit in<br />
Soldatenuniform.« Der Name dieser "behenden Persönlichkeit" wurde bald Legion. Aus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 472
<strong>der</strong> Richtung Petrograds trafen dauernd zahlreiche Regimentsdelegationen ein, die den<br />
Kornilow-Truppen entgegengesandt worden waren: alle wollten vor dem Treffen sich<br />
verständigen. Die revolutionären Truppen hegten die feste Zuversicht, daß es ohne Schlägerei<br />
ablaufen werde. Das bestätigte sich: die Kosaken kamen willig entgegen. Ein<br />
Kommando des Verbindungsdienstes des Korps ergriff Besitz von einer Lokomotive und<br />
schickte Delegierte aus über die ganze Linie. Je<strong>der</strong> Staffel wurde die entstandene Lage<br />
erklärt. Es fanden ununterbrochen Meetings statt, in denen <strong>der</strong> Schrei wuchs: Wir sind<br />
betrogen worden!<br />
»Nicht nur die Divisionschefs«, sagt <strong>der</strong>selbe Krassnow, »auch die Regimentskommandeure<br />
wußten nicht genau, wo ihre Schwadronen und Hun<strong>der</strong>tschaften waren ... Das<br />
Fehlen von Lebensmitteln und Futter erboste die Leute natürlich noch mehr. Die Leute<br />
sahen diesen ganzen Wirrwarr, <strong>der</strong> sich ringsherum abspielte, und begannen, Offiziere<br />
und Vorgesetzte zu verhaften.« Die Sowjetdelegation, die einen eigenen Stab gebildet<br />
hatte, meldete: »Die ganze Zeit finden Verbrü<strong>der</strong>ungen statt. Wir sind völlig überzeugt,<br />
daß man den Konflikt als liquidiert betrachten kann. Von allen Seiten kommen Delegationen<br />
...« Die Verwaltung <strong>der</strong> Truppenteile übernahmen an Stelle <strong>der</strong> Vorgesetzten die<br />
Komitees. Sehr bald wurde ein Sowjet <strong>der</strong> Korpsdeputierten einberufen, aus seiner Mitte<br />
eine Delegation, etwa vierzig Mann, ausgeson<strong>der</strong>t und zur Pruvisorischen Regierung<br />
entsandt. Die Kosaken begannen laut zu erklären, sie warteten nur auf den Befehl aus<br />
Petrograd, um Krymow und die übrigen Offiziere zu verhaften.<br />
Stankewitseh schil<strong>der</strong>t das Bild, das er unterwegs vorfand, als er am 30. zusammen mit<br />
Wojtinski in die Richtung nach Pskow reiste. In Petrograd batte man geglaubt, Zarskoje<br />
sei von Kornilow-Truppen besetzt - niemand war dort. »In Gatschina - niemand ...<br />
Unterwegs bis Luga - niemand. In Luga - alles still und ruhig ... Wir erreichten das Dorf,<br />
wo sich <strong>der</strong> Stab des Korps befinden sollte. Leer ... Es stellte sich heraus, daß die<br />
Kosaken am frühen Morgen aufgebrochen und in die Petrograd entgegengesetzte<br />
Richtung abmarschiert waren.« Der Aufstand rollte zurück, zersplitterte, versickerte in<br />
<strong>der</strong> Erde.<br />
Aber im Winterpalais fürchtete man sich noch immer ein wenig vor dem Gegner.<br />
Kerenski machte den Versuch, mit dem Kommandobestand <strong>der</strong> Rebellen in Verhandlungen<br />
einzutreten: dieser Weg schien ihm zuverlässiger als die "anarchische" Initiative <strong>der</strong><br />
unteren Schichten. Er schickte zu Krymow Delegierte und ließ ihn »im Namen <strong>der</strong><br />
Rettung Rußlands« bitten, nach Petrograd zu kommen, wobei er ihm ehrenwörtlich die<br />
persönliche Sicherheit garantierte. Der von allen Seiten bedrängte General, <strong>der</strong> den Kopf<br />
völlig verloren hatte, nahm selbstverständlich die Einladung an. Krymows Spuren<br />
folgend, reiste nach Petrograd eine Deputation <strong>der</strong> Kosaken.<br />
Die Fronten unterstützten das Hauptquartier nicht. Einen ernstlichen Versuch machte<br />
nur die Südwestfront. Denikins Stab hatte die Vorbereitungsmaßnahmen rechtzeitig<br />
getroffen. Die unzuverlässigen Wachen beim Stab waren durch Kosaken abgelöst<br />
worden. In <strong>der</strong> Nacht des 27. wurde die Druckerei besetzt. Der Stab versuchte die Rolle<br />
des selbstsicheren Herrn <strong>der</strong> Lage zu spielen und untersagte sogar dem Frontkomitee,<br />
den Telegraph zu henutzen. Doch die Illusion währte nicht einmal wenige Stunden.<br />
Delegierte verschiedener Truppenteile kamen zum Komitee und boten Hilfe an. Es tauchten<br />
Panzerautos, Maschinengewehre, Geschütze auf. Das Komitee unterstellte umgehend<br />
seiner Kontrolle die Tätigkeit des Stabes, dem die Initiative nur auf dem operativen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 473
Gebiet belassen wurde. Gegen 3 Uhr mittags des 28. war die Macht an <strong>der</strong> Südwestfront<br />
restlos in den Händen des Komitees konzentriert. »Noch niemals«, beklagte sich<br />
Denikin, »schien die Zukunft des Landes so finster, unsere Ohnmacht so beschämend<br />
und nie<strong>der</strong>drückend.«<br />
An den an<strong>der</strong>en Fronten spielte sich die Sache noch undramatischer ab: Die Oberkommandierenden<br />
brauchten sich nur umzuschauen, um ein Anwachsen freundlicher Gefühle<br />
für die Kommissare <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu verspüren. Am Morgen des 29.<br />
lagen im Winterpalais bereits telegraphische Treuebekundungen General Schtscherbatschews<br />
von <strong>der</strong> rumänischen Front, Wakujews von <strong>der</strong> West- und Prschewalskis von <strong>der</strong><br />
kaukasisehen Front vor. Für die Nordfront, wo Oberkommandieren<strong>der</strong> ein offener Kornilowianer,<br />
Klembowski, war, ernannte Stankewitseh zu seinem Vertreter einen gewissen<br />
Sawizki. »Der bis dahin nur wenigen bekannte, im Augenblick des Konfliktes telegraphisch<br />
ernannte Sawizki«, schreibt Stankewitsch, »hätte sich mit einem beliebigen<br />
Befehl, und sei es auch die Verhaftung des Oberkommandierenden, ruhig an eine beliebige<br />
Soldatengruppe - Infanterie, Kosaken, Ordonnanzen, sogar Junker -, wenden<br />
können, <strong>der</strong> Befehl wäre unbedenklich ausgeführt worden ...« Ohne alle Schwierigkeiten<br />
wurde Klembowski durch General Bontsch-Brujewitsch ersetzt, <strong>der</strong> später durch<br />
Vermittlung seines Bru<strong>der</strong>s, eines bekannten Bolschewiken, als einer <strong>der</strong> ersten in den<br />
Dienst <strong>der</strong> bolschewistischen Regierung trat.<br />
Nicht viel besser standen die Dinge bei <strong>der</strong> südlichen Säule <strong>der</strong> Militärpartei, dem<br />
Ataman <strong>der</strong> Dontruppen, Kaledin. In Petrograd sprach man davon, Kaledin mobilisiere<br />
die Kosakentruppen, und von <strong>der</strong> Front seien Staffeln zu ihm nach dem Don unterwegs.<br />
Währenddessen »reiste <strong>der</strong> Ataman«, nach dem Bericht eines seiner Biographen, »weitab<br />
von <strong>der</strong> Eisenbahn aus einer Kosakensiedlung in die an<strong>der</strong>e und unterhielt sich friedlich<br />
mit den Siedlungskosaken«. Kaledin operierte tatsächlich vorsichtiger, als man in den<br />
revolutionären Kreisen glaubte. Er wählte den Augenblick des offenen Aufstandes,<br />
dessen Stunde ihm vorher bekannt war, für eine "friedliche" Rundreise durch die<br />
Siedlungen, um in den kritischen Tagen außerhalb telegraphischer und je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Kontrolle zu sein und gleichzeitig die Stimmung des Kosakentums zu sondieren. Am 27.<br />
telegraphierte er von unterwegs an seinen Vertreter Bogajewski: »Man muß Kornilow mit<br />
allen Mitteln und Kräften unterstützen.« Aber gerade die Fühlungnahme mit den<br />
Siedlungskosaken hatte bewiesen, daß es eigentlich keine Mittel und Kräfte gab: die<br />
ackerbauenden Kosaken dachten nicht entfernt daran, sich zum Schutze Kornilows zu<br />
erheben. Als das Scheitern des Aufstandes immer offener zutage trat, beschloß die<br />
sogenannte "Heeresregierung" des Don, sich »bis zur Aufklärung des realen Kräfteverhälmisses«<br />
je<strong>der</strong> Meinungsäußerung zu enthalten. Dank diesem Manöver gelang es den<br />
Spitzen des Doner Kosakentums, rechtzeitig beiseitezuspringen.<br />
In Petrograd, Moskau, am Don, an <strong>der</strong> Front, auf dem Marschwege <strong>der</strong> Staffeln,<br />
überall hatte Kornilow Gesinnungsgenossen, Anhänger, Freunde. Ihre Zahl schien<br />
gewaltig, wollte man nach den Telegrammen, Begrüßungsadressen, Zeitungsartikeln<br />
urteilen. Doch seltsam: jetzt, wo für sie die Stunde gekommen war, sich zu zeigen, waren<br />
sie verschwunden. In vielen Fällen lag <strong>der</strong> Grund keinesfalls in persönlicher Feigheit.<br />
Unter den Kornilowschen Offizieren gab es nicht wenig mutige Menschen. Doch für<br />
ihren Mut fand sich kein Anwendungspunkt. In dem Moment, wo in die Bewegung die<br />
Massen eingriffen, gab es für den einzelnen keinen Zugang zu den Ereignissen. Nicht nur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 474
die schwerfälligen Industriellen, Bankiers, Professoren und Ingenieure, auch die Studenten<br />
und kampfbereiten Offiziere waren verdrängt, weggestoßen, zurückgeworfen. Sie<br />
betrachteten die sich vor ihnen entwickelnden Ereignisse wie von einem Balkon aus.<br />
Gemeinsam mit General Denikin blieb ihnen nichts an<strong>der</strong>es übrig, als ihre beschämende<br />
und nie<strong>der</strong>drückende Ohnmacht zu vertluchen.<br />
Am 30. August versandte das Exekutivkomitee an alle Sowjets die freudige Nachricht:<br />
»Unter den Truppen Kornilows herrscht völlige Zersetzung.« Es wurde für eine Weile<br />
vergessen, daß Kornilow für sein Unternehmen die patriotischsten, kampffähigsten gegen<br />
den Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki geschütztesten Truppenteile ausgewählt hatte. Der Zersetzungsprozeß<br />
bestand darin, daß die Soldaten endgültig aufgehört hatten, den Offizieren<br />
zu vertrauen, und in ihnen den Feind erkannten. Der Kampf für die <strong>Revolution</strong> und<br />
gegen Kornilow bedeutete die Vertiefung <strong>der</strong> Zersetzung <strong>der</strong> Armee, also gerade das,<br />
was den Bolschewiki zur Last gelegt wurde.<br />
Die Herren Generale erhielten endlich die Möglichkeit, die Wi<strong>der</strong>standskraft <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> nachzuprüfen, die ihnen so mürbe, hilflos, so zufällig als Siegerin über das<br />
alte Regime hervorgegangen zu sein schien. Seit den Februartagen war bei je<strong>der</strong><br />
Gelegenheit die Prahlerei <strong>der</strong> Soldateska laut geworden: Gebt mir einen festen Truppenteil,<br />
und ich will es ihnen zeigen. Aus den Erfahrungen General Chabalows und General<br />
Iwanows Ende Februar hatten die Heeresführer von jener Sorte, die nach <strong>der</strong> Schlägerei<br />
mit den Fäusten fuchtelt, nichts gelernt. Ihre Melodie sangen nicht selten auch Zivilstrategen.<br />
Der Oktobrist Schidlowski hatte versichert, wären im Februar in <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
erschienen »nicht son<strong>der</strong>lich große, aber durch Disziplin und militärischen Geist<br />
verschmolzene Truppenteile, die Februarrevolution ware in wenigen Tagen unterdrückt<br />
worden«. Der weit bekannte Eisenbahnfachmann Bublikow schrieb: »Eine disziplinierte<br />
Division von <strong>der</strong> Front hätte genügt, um den Aufstand im Keime zu ersticken.« Einige<br />
Offiziere, Teilnehmer <strong>der</strong> Ereignisse, erklärten Denikin, »ein festes Bataillon mit einem<br />
Vorgesetzten an <strong>der</strong> Spitze, <strong>der</strong> wußte, was er wollte, wäre imstande gewesen, die Lage<br />
von unten nach oben zu kehren«. Während Gutschkows Amtstätigkeit als Kriegsminister<br />
war von <strong>der</strong> Front General Krymow bei ihm eingetroffen und hatte sich erboten, »mit<br />
einer Division Petrograd zu säubern, - natürlich nicht ohne Blutvergießen«. Die Sache<br />
war nur nicht zustande gekommen, weil »Gutschkow nicht einwilligte«. Endlich hatte<br />
Sawinkow, als er für das künftige Direktorium dessen eigenen "27. August" vorbereitete,<br />
versichert, zwei Regimenter würden vollständig genügen, um die Bolschewiki in Staub<br />
und Asche zu verwandeln. Nun lieferte das Schicksal all diesen Herren in <strong>der</strong> Person des<br />
»frohen, lebenslustigen« Generals die absolute Möglichkeit, die Untrüglichkeit ihrer<br />
heroischen Berechnungen nachzuprüfen. Ohne einen Schlag geführt zu haben, reuigen<br />
Hauptes, entehrt und erniedrigt erschien Krymow im Winterpalais. Kerenski versäumte<br />
die Gelegenheit nicht, eine pathetische Szene mit ihm aufzuführen, <strong>der</strong>en billige Effekte<br />
im voraus gesichert waren. Vom Premier ins Kriegsministerium zurückgekehrt, erschoß<br />
sich Krymow mit einem Revolver. So hatte sich <strong>der</strong> Versuch, die <strong>Revolution</strong> »nicht ohne<br />
Blutvergießen« zu zähmen, gewendet.<br />
Im Winterplalais atmete man erleichtert auf, kam zu dem Schluß, die an Komplikationen<br />
so reiche Angelegenheit gehe ihrem glücklichen Ende entgegen, und beeilte sich,<br />
schnellstens zur Tagesordnung überzugehen, das heißt zur Fortsetzung des Unterbrochenen.<br />
Zum Höchstkommandierenden ernannte Kerenski sich selbst: zur Aufrechterhaltung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 475
des politischen Bündnisses mit <strong>der</strong> alten Generalität hätte er tatsächlich schwer eine<br />
geeignetere Figur finden können. Zum Generalstabschef des Hauptquartiers erwählte er<br />
Alexejew, <strong>der</strong> zwei Tage zuvor fast - fast Premier geworden war. Nach Schwankungen<br />
und Beratungen nahm <strong>der</strong> General nicht ohne verächtliche Grimasse die Ernennung an,<br />
um, wie er den Seinen erklärte, den Konflikt friedlich zu liquidieren. Der ehemalige<br />
Generalstabschef des Höchstkommandierenden Nikolai Romanow gelangte unter<br />
Kerenski auf den gleichen Posten. Es gab was zu staunen! »Nur Alexejew war imstande,<br />
dank seiner Nähe zum Hauptquartier und seinem gewaltigen Einfluß auf die höheren<br />
Militärkreise«, so versuchte später Kerenski diese ungeheuerliche Ernennung zu<br />
erklären, »die Aufgabe <strong>der</strong> schmerzlosen Übergabe des Kommandos aus Kornilows<br />
Hände in neue Hände erfolgreich durchzuführen«. Gerade umgekehrt! Die Ernennung<br />
Alexejews, das heißt eines Mannes aus ihren eigenen Kreisen, mußte die Verschwörer,<br />
blieb ihnen auch nur die geringste Möglichkeit, zu weiterem Wi<strong>der</strong>stand errnutigen. In<br />
Wirklichkeit wurde Alexejew von Kerenski nach <strong>der</strong> Liquidierung des Aufstandes aus<br />
dem gleichen Grunde vorgeschoben, aus dem Sawinkow zu Beginn des Aufstandes<br />
hinzugezogen worden war: man mußte um jeden Preis die Brücken nach rechts beschützen.<br />
Die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Freundschaft mit den Generalen betrachtete <strong>der</strong> neue<br />
Höchstkommandierende jetzt als beson<strong>der</strong>s unerläßlich: nach <strong>der</strong> Aufrüttelung wird man<br />
ja strenge Ordnung herbeiführen müssen und folglich eine doppelt feste Macht nötig<br />
haben.<br />
Im Hauptquartier war nichts mehr von dem Optimismus geblieben, <strong>der</strong> noch zwei Tage<br />
zuvor dort geherrscht hatte. Die Verschwörer suchten Rückzugswege. Das an Kerenski<br />
gerichtete Telegramm lautete, Kornilow sei geneigt, »<strong>der</strong> strategischen Situation<br />
Rechnung tragend« das Kommando friedlich nie<strong>der</strong>zulegen, falls erklärt werden sollte,<br />
daß »eine starke Regierung geschaffen wird«. Diesem großen Ultimatum des Kapitulanten<br />
folgte ein kleines: Er, Kornilow, halte »Verhaftungen von Generalen und an<strong>der</strong>en,<br />
vor allem <strong>der</strong> Armee unentbehrlichen Personen überhaupt für unzulässig«. Der erfreute<br />
Kerenski kam dem Gegner sofort einen Schritt näher, indem er mittels Radio kundtat,<br />
daß die operativen Befehle General Kornilows für alle bindend seien. Kornilow selbst<br />
schrieb hierzu am gleichen Tage an Krymow: »Es entstand eine Episode - einzig in <strong>der</strong><br />
Weltgeschichte: ein des Landes- und Hochverrats beschuldigter und straftechtlich<br />
verfolgter Höchstkommandieren<strong>der</strong> erhält den Befehl, das Armeekommando weiterzuführen...«<br />
Der neue Beweis <strong>der</strong> Waschlappigkeit Kerenskis ermutigte sofort die Verschwörer,<br />
die noch immer darauf bedacht waren, es nicht zu billlg zu tun. Trotz dem vor<br />
wenigen Stunden abgesandten Telegramms über die Unzulässigkeit des inneren Kampfes<br />
»in diesem schrecklichen Augenblick« schickte <strong>der</strong> halb und halb wie<strong>der</strong> in seine Rechte<br />
eingesetzte Kornilow zwei Mann zu Kaledin mit <strong>der</strong> Bitte um »Nachdruck« und empfahl<br />
gleichzeitig Krymow: »Falls die Situation es erlaubt, handeln Sie selbständig im Geist<br />
<strong>der</strong> Ihnen von mir erteilten Instruktion.« Der Geist <strong>der</strong> Instruktion war: Die Regierung<br />
stürzen und die Sowjetmitglie<strong>der</strong> aufhängen.<br />
General Alexejew, <strong>der</strong> neue Generalstabschef, begab sich zur Einnahme des Hauptquartiers.<br />
Im Winterpalais nahm man diese Operation immer noch ernst. In Wirklichkeit<br />
standen Kornilow zu unmittelbarer Verfügung: ein Bataillon Georgsritter, das "Kornilowsche"<br />
Infanterieregiment und das Tekiner Kavallerieregiment. Ein Bataillon <strong>der</strong><br />
Georger hatte sich von Anfang an auf die Seite <strong>der</strong> Regierung gestellt. Das Kornilowsche<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 476
und das Teltiner Regiment galten als zuverlässig, aber auch von ihnen hatte sich ein Teil<br />
abgespalten. Über Artillerie verfügte das Hauptquartier überhaupt nicht. Unter diesen<br />
Umständen konnte von einem Wi<strong>der</strong>stand nicht die Rede sein. Alexejew begann seine<br />
Mission mit <strong>der</strong> Abstattung zeremonieller Besuche bei Kornilow und Lukomski, wobei<br />
beide Parteien, wie anzunehmen ist, sich einmütig ihres Soldatenvokabulars an die<br />
Adresse Kerenskis, des neuen Höchstkommandierenden, bedienten. Für Kornilow wie<br />
auch für Alexejew war offenkundig, daß man die Rettung des Landes jedenfalls für<br />
einige Zeit vertagen müsse.<br />
Aber während im Hauptquartier <strong>der</strong> Friede ohne Sieger und Besiegte so glücklich im<br />
Entstehen war, erhitzte sich in Petrograd die Atmosphäre außerordentlich, und im<br />
Winterpalais erwartete man ungeduldig beruhigende Nachrichten aus Mohilew, um sie<br />
dem Volke zu präsentieren. Alexejew wurde dauernd mit Anfragen geplagt. Oberst<br />
Baranowski, eine Vertrauensperson Kerenskis, beklagte sich über die direkte Leitung:<br />
»Die Sowjets lärmen, man kann die Atmosphäre nur dadurch entspannen, daß man<br />
Energie zeigt und Kornilow und an<strong>der</strong>e verhaftet ...« Das entsprach durchaus nicht den<br />
Aksichten Alexejews. »Mit tiefem Bedauern ersehe ich«, erwi<strong>der</strong>t <strong>der</strong> General, »daß<br />
meine Befürchtungen, wir seien zur Zeit restlos in die rauhen Tatzen des Sowjets geraten,<br />
unbestreitbare Tatsache geworden sind.« Mit dem familiären Pronomen "wir" ist<br />
Kereuskis Gruppe gemeint, <strong>der</strong> Alexejew sich, um den Stich zu mil<strong>der</strong>n, bedingt<br />
anschließt. Oberst Baranowski antwortet ihm im gleichen Tone: »Mit Gottes Hille<br />
werden wir aus den rauhen Tatzen des Sowjets, in die wir geraten sind, herauskommen.«<br />
Kaum haben die Massen Kerenski aus den Tatzen Kornilows gerettet, als <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong><br />
Demokratie eilt, mit Alexejew einen Pakt gegen die Massen zu schließen: »Wir werden<br />
aus den rauhen Tatzen des Sowjets herauskommen.« Alexejew war dennoch gezwungen,<br />
sich <strong>der</strong> Notwendigkeit zu fügen und das Ritual <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Hauptverschwörer<br />
durchzuführen. Kornilow trat ohne Wi<strong>der</strong>stand den Hausarrest an, vier Tage, nachdem er<br />
dem Volke erklärt hatte: »Ich ziehe den Tod meiner Enthebung vorn Posten des<br />
Höchstkommandierenden vor.« Die in Mohilew eingetroffene Außerordentliche Untersuchungskommission<br />
verhaftete ihrerseits den Gehilfen des Eisenbahnministers, einige<br />
Generalstabsoffiziere, den nicht zur Vollendung gekommenen Diplomaten Aladjin wie<br />
auch die anwesenden Mitglie<strong>der</strong> des Hauptkomitees des Offiziersverbandes.<br />
In den ersten Stunden nach dem Siege gestikulierten die Versöhnler heftig. Sogar<br />
Awksentjew sprühte Blitze. Drei Tage lang hatten die Meuterer die Front ohne jegliche<br />
Anweisung gelassen! »Tod den Verrätern!« schrien die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Exekutive.<br />
Awksentjew kam diesen Stimmen entgegen: jawohl, die Todesstrafe ist auf Verlangen<br />
Kornilows und <strong>der</strong> Seinen eingeführt worden, »um so entschiedener wird sie gegen sie<br />
selbst angewandt werden«. Stürmischer und anhalten<strong>der</strong> Beifall.<br />
Die Moskauer Kirchenversamminug, die zwei Wochen zuvor sich vor Kornilow als<br />
dem Wie<strong>der</strong>hersteller <strong>der</strong> Todesstrafe verbeugt hatte, flehte jetzt telegraphisch die Regierung<br />
an, »im Namen Gottes und <strong>der</strong> christlichen Nächstenliebe« das Leben des Generals,<br />
<strong>der</strong> sich verrechnet hatte, zu schonen. Es wurden auch an<strong>der</strong>e Hebel in Bewegung<br />
gesetzt. Jedoch die Regierung dachte gar nicht an ein blutiges Strafgericht. Als eine<br />
Delegation <strong>der</strong> "wilden" Division sich im Winterpalais Kerenski vorstellte und einer <strong>der</strong><br />
Soldaten auf die allgemeinen Phrasen des neuen Höchstkommandierenden antwortete,<br />
daß »die verräterischen Kommandeure erbarmungslose Strafe treffen muß«, unterbrach<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 477
ihn Kerenski mit den Worten: »Eure Sache ist es jetzt, euren Vorgesetzten zu gehorchen,<br />
alles, was nötig ist, werden wir selbst tun.« Wahrhaftig, dieser Mann glaubte, die Massen<br />
haben auf <strong>der</strong> Bühne zu erscheinen, wenn er mit dem linken Fuß stampft, und zu<br />
verschwinden, wenn er mit dem rechten stampft!<br />
»Alles, was nötig ist, werden wir selbst tun.« Aber alles, was sie taten, schien den<br />
Massen unnötig, wenn schon nicht verdächtig und ver<strong>der</strong>bnisbringend. Die Massen irrten<br />
sich nicht: oben war man am meisten mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung jener Lage beschäftigt,<br />
aus <strong>der</strong> <strong>der</strong> Kornilowsche Feldzug erwachsen war. »Nach den ersten von den Mitglie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Untersuchungskommission angestellten Vernehmungen zeigte sich«, erzählt Lukomski,<br />
»daß sie alle sich höchst wohlwollend gegen uns verhielten.« Es waren im wesentlichen<br />
alles Mitverschworene und Hehler. Der Staatsanwalt des Ktiegsgerichts,<br />
Schablowski, gab den Angeklagten Unterweisungen in Täuschung <strong>der</strong> Justiz. Die<br />
Frontorganisationen schickten Proteste. »Die Generale und <strong>der</strong>en Mitschuldige werden<br />
nicht als Verbrecher am Staate und am Volke behandelt ... Die Rebellen besitzen volle<br />
Freiheit im Verkehr mit <strong>der</strong> Außenwelt.« Lukomski bestätigt: »Der Stab des Höchstkommandierenden<br />
informierte uns über alle uns interessierenden Fragen.« Die empörten<br />
Soldaten versuchten mehr als einmal, selbst Gericht zu halten über die Generale, und vor<br />
diesem Strafgericht rettete die Verhafteten nur die in Bychow, dein Orte ihrer Inhaftierung,<br />
stationierte konterrevolutionäre polnische Division.<br />
Am 12. September schrieb General Alexejew aus dem Hauptquartier an Miljukow<br />
einen Brief, <strong>der</strong> die gerechte Empörung <strong>der</strong> Verschwörer über das Verhalten <strong>der</strong><br />
Großbourgeoisie ausdrückte, die sie zuerst aufgestachelt und nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage ihrem<br />
Schicksal überlassen hätte. »Es dürfte Ihnen bis zu einem gewissen Grade bekannt sein«,<br />
schrieb nicht ohne Gift <strong>der</strong> General, »daß bestimmte Kreise unserer Gesellschaft nicht<br />
nur alles gewußt, nicht nur mit altem geistig sympathisiert, son<strong>der</strong>n auch Kornilow nach<br />
Kräften geholfen haben ...« Im Namen des Verbandes <strong>der</strong> Offiziere verlangte Alexejew<br />
von Wyschnegradski, Putilow und an<strong>der</strong>en Großkapitalistcn, die den Besiegten den<br />
Rücken gekehrt hatten, unverzüglich dreihun<strong>der</strong>ttausend Rubel zu sammeln für die<br />
»hungernden Familien jener, mit denen sie durch Gemeinsamkeit <strong>der</strong> Idee und <strong>der</strong><br />
Vorbereitung verbunden waren ...« Der Brief schloß mit einer direkten Drohung: »wenn<br />
die ehrliche Presse nicht sofort an eine energische Aufklärung <strong>der</strong> Sache gehen sollte ...,<br />
würde General Kornilow gezwungen sein, vor Gericht die ganze Vorbereitung, alle<br />
Verhandlungen mit den Personen und Gesellschaftskreisen und <strong>der</strong>en Teilnahme weitgehend<br />
zu entwickeln«, und so weiter. Über die praktischen Resultate dieses traurigen<br />
Ultimatums erzählt Denikin: »Erst Ende Oktober brachte man Kornilow aus Moskau<br />
etwa vierzigtausend Rubel.« Miljukow war zu dieser Zeit von <strong>der</strong> politischen Arena<br />
überhaupt abwesend: nach <strong>der</strong> offiziellen Version <strong>der</strong> Kadetten war er »zur Erholung in<br />
die Krim« abgereist. Nach allen Aufregungen hatte <strong>der</strong> liberale Führer tatsächlich<br />
Erholung nötig.<br />
Die Untersuchungskomödie dauerte bis zur bolschewistischen Umwälzung, wonach<br />
Kornilow und seine Mitverschworenen nicht nur in Freiheit gesetzt, son<strong>der</strong>n von<br />
Kerenskis Hauptquartier mit allen notwendigen Dokumenten versehen wurden. Diese<br />
flüchtigen Generale haben später den Bürgerkrieg begonnen. Im Namen <strong>der</strong> heiligen<br />
Ziele, die Kornilow nut dem Liberalen Miljukow und dem Schwarzhun<strong>der</strong>t Rimskij-<br />
Korssakow verbanden, wurden Hun<strong>der</strong>ttausende ermordet, <strong>der</strong> Süden und <strong>der</strong> Osten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 478
Rußlands ausgeplün<strong>der</strong>t und verwüstet, die Wirtschaft des Landes endgültig erschüttert,<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>der</strong> rote Terror aufgezwungen. Der Kerenskis Justiz glücklich entronnene<br />
Kornilow fiel bald an <strong>der</strong> Bürgerkriegsfront von einem bolschewistischen Geschoß.<br />
Kaledins Schicksal gestaltete sich nicht viel an<strong>der</strong>s. Die Doner "Heeresregierung"<br />
verlangte nicht nur die Aufhebung des Befehls zur Verhaftung Kaledins, son<strong>der</strong>n auch<br />
dessen Wie<strong>der</strong>einsetzung in das Amt des Atamans. Kerenski versäumte auch hier nicht,<br />
einen Rückzug anzutreten. Skobeljew reiste nach Nowotscherkassk, um sich bei den<br />
Kosakentruppen zu entschuldigen. Der demokratische Minister mußte die ausgesuchtesten<br />
Verhöhnungen, die von Kaledin selbst geleitet wurden, über sich ergehen lassen.<br />
Der Triumph des Kosakengenerals war allerdings nicht von langer Dauer. Durch die<br />
bolschewistische <strong>Revolution</strong> am eigenen Don von allen Seiten bedrängt, beging Kaledin<br />
wenige Monate später Selbstmord. Kornilows Banner ging danach in die Hände des<br />
Generals Denikin und des Admirals Koltschak über, mit <strong>der</strong>en Namen die Hauptperiode<br />
des Bürgerkriegs verbunden ist. Doch gehört das alles bereits in das Jahr 1918 und die<br />
folgenden Jahre.<br />
Die Massen unter den Schlägen<br />
Unmittelbare Ursachen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sereignisse sind Verän<strong>der</strong>ungen im Bewußtsein<br />
<strong>der</strong> kämpfenden Klassen. Die materiellen Beziehungen <strong>der</strong> Gesellschaft bestimmen nur<br />
das Flußbett dieser Prozesse. Ihrer Natur nach besitzen die Verän<strong>der</strong>ungen des Kollektivbewußtseins<br />
einen halb unterirdischen Charakter; erst wenn sie eine bestimmte<br />
Spannungskraft erreicht haben, drängen die neuen Stimmungen und Gedanken an die<br />
Oberfläche als Massenaktionen, die ein neues, wenn auch sehr unbeständiges gesellschaftliches<br />
Gleichgewicht herstellen. Der Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entblößt an je<strong>der</strong> neuen<br />
Etappe das Machtproblem, um es sogleich wie<strong>der</strong> zu verschleiern - bis zu einer neuen<br />
Entblößung. Genauso ist auch <strong>der</strong> Mechanismus <strong>der</strong> Konterrevolution, mit dem Unterschiede,<br />
daß hier <strong>der</strong> Film in umgekehrter Richtung abrollt.<br />
Was in den Regierungs- und Sowjetspitzen geschieht, bleibt keinesfalls ohne Bedeutung<br />
für den Gang <strong>der</strong> Ereignisse. Doch den wirklichen Sinn einer politischen Partei<br />
begreifen und die Manöver <strong>der</strong> Führer dechiffrieren kann man nur in Verbindung mit <strong>der</strong><br />
Aufdeckung <strong>der</strong> tiefen Molekularprozesse im Bewußtsein <strong>der</strong> Massen. Im Juli hatten die<br />
Arbeiter und Soldaten eine Nie<strong>der</strong>lage erlitten, aber schon im Oktober eroberten sie in<br />
unüberwindlichem Ansturm die Macht. Was hat sich in diesen vier Monaten in ihren<br />
Köpfen abgespielt? Wie haben sie die Schläge, die auf sie von oben nie<strong>der</strong>prasselten,<br />
empfunden? Mit welchen Gedanken und Gefühlen begegneten sie dem offenen<br />
Machteroberungsversuch <strong>der</strong> Bourgeoisie? Der Leser wird zu <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>lage zurückkehren<br />
müssen. Man muß häufig zurückweichen, um besseren Anlauf zu haben. Und <strong>der</strong><br />
Oktobersprung steht bevor.<br />
In <strong>der</strong> offiziellen Sowjethistoriographie hat sich die zur gewissen Schablone erstarrte<br />
Meinung herausgebildet, als sei <strong>der</strong> Julivorstoß gegen die Partei - Repressalien in<br />
Verbindung mit <strong>der</strong> Verleumdung - fast spurlos an den Arbeiterorganisationen vorbeigegangen.<br />
Das ist ganz falsch. Allerdings währte die Nie<strong>der</strong>geschlagenheit in den Reihen<br />
<strong>der</strong> Partei und das Abfluten <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten aus ihr nicht lange, nur einige<br />
Wochen. Die Wie<strong>der</strong>auferstehung erfolgte so schnell und vor allem so stürmisch, daß sie<br />
allein schon die Erinnerung an die Tage des Druckes und <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>geschlagenheit halb<br />
verwischte: ein Sieg zeigt überhaupt die Nie<strong>der</strong>lagen, die ihn vorbereiteten, in an<strong>der</strong>em<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 479
Lichte. Doch je mehr Protokolle lokaler Parteiorganisationen veröffentlicht werden,<br />
desto krasser tritt das Juliabflauen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> hervor, das in jenen Tagen um so<br />
schmerzlicher empfunden wurde, je dauerhafter <strong>der</strong> Charakter des vorangegangenen<br />
Aufstieges gewesen war.<br />
Jede Nie<strong>der</strong>lage - Ergebnis eines bestimmten Kräfteverhältnisses - verän<strong>der</strong>t ihrerseits<br />
dieses Verhältnis zuungunsten <strong>der</strong> besiegten Partei, denn beim Sieger steigt das Selbstvertrauen,<br />
bei dem Besiegten aber sinkt <strong>der</strong> Glaube an sich. Indes bildet diese o<strong>der</strong> jene<br />
Einschätzung <strong>der</strong> eigenen Kraft ein äußerst wichtiges Element des objektiven Kräfteverhältnisses.<br />
Unmittelbar hatten eine Nie<strong>der</strong>lage die Arbeiter und Soldaten Petrograds erlitten,<br />
die bei ihrem Vordringen einerseits auf das Unklare und Wi<strong>der</strong>spruchsvolle ihres<br />
eigenen Zieles, an<strong>der</strong>erseits auf die Rückständigkeit <strong>der</strong> Provinz und <strong>der</strong> Front gestoßen<br />
waren. In <strong>der</strong> Hauptstadt zeigten sich deshalb die Folgen <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage zuallererst und<br />
am schärfsten. Ganz falsch jedoch sind die in <strong>der</strong> gleichen offiziellen Literatur so häufigen<br />
Behauptungen, als sei für die Provinz die Julinie<strong>der</strong>lage fast unbemerkt geblieben.<br />
Das ist theoretisch unwahrscheinlich und wird durch das Zeugnis <strong>der</strong> Tatsachen und<br />
Dokumente wi<strong>der</strong>legt. War die Rede von großen Frage, wandte jedesmal das ganze Land<br />
unwillkürlich den Kopf in die Richtung Petrograds. Die Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Soldaten in <strong>der</strong> Hauptstadt mußte gerade auf die fortgeschrittensten Schichten <strong>der</strong><br />
Provinz ungeheuren Eindruck machen. Schrecken, Enttäuschung, Apathie durchströmten<br />
verschiedene Teile des Landes auf verschiedene Art, waren aber allerorts zu beobachten.<br />
Der Abstieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kündigte sich zuallererst im starken Nachlassen des Wi<strong>der</strong>standes<br />
<strong>der</strong> Massen gegen die Feinde an. Während die nach Petrograd gebrachten<br />
Truppen offizielle Entwaffnungsexekutionen gegen Soldaten und Arbeiter vornahmen,<br />
verübten unter ihrer Deckung halbfreiwillige Banden straflos Überfälle auf Arbeiterorganisationen.<br />
Nach <strong>der</strong> Zertrümmerung <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Prawda' und <strong>der</strong> Druckerei <strong>der</strong><br />
Bolschewiki wurde das Gewerkschaftshaus <strong>der</strong> Metallarbeiter verwüstet. Die nächsten<br />
Schläge richten sich gegen die Bezirkssowjets. Auch die Versöhnler bleiben nicht<br />
verschont: am 10. ist eine Institution jener Partei einem Überfall augesetzt, an <strong>der</strong>en<br />
Spitze Innenminister Zeretelli steht. Dan hatte keine geringe Selbstentäußerung nötig, um<br />
anläßlich <strong>der</strong> eingetroffenen Truppen zu schreiben: »Statt des Unterganges <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
sind wir jetzt Zeugen ihres neuen Triumphes.« Der Triumph ging so weit, daß nach<br />
den Worten des Menschewiken Pruschitzki, Straßenpassanten, sahen sie Arbeitern<br />
ähnlich und wurden sie des Bolschewismus verdächtigt, Gefahr drohte, grausam<br />
mißhandclt zu werden. Welch unfehlbares Symptom einer schroffen Wandlung <strong>der</strong><br />
Gesamtsituation!<br />
Das Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> bolschewistischen Komitees, Lazis, in <strong>der</strong> Folge bekannter<br />
Mitarbeiter <strong>der</strong> "Tscheka", vermerkte in seinem Tagebuch: »9. Juli. In <strong>der</strong> Stadt sind<br />
alle unsere Druckereien zerstört. Niemand wagt, unsere Zeitungen und Flugblätter zu<br />
drucken. Wir nehmen Zuflucht zur Installierung einer illegalen Druckerei. Der Wyborger<br />
Bezirk ist ein Asyl für alle gewordeo. Hierher sind das Petrogra<strong>der</strong> Komitee und die<br />
verfolgten Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees übergesiedelt. Im Wächterhäuschen <strong>der</strong><br />
Renoschen Fabrik finden Beratungen des Komitees mit Lenin statt. Es geht um die Frage<br />
des Generalstreiks. Bei uns im Komitee sind die Stimmen geteilt. Ich war für den Aufruf<br />
zum Streik. Lenin, nachdem er die Lage beleuchtet hatte, schlug vor, darauf zu verzichten<br />
... 12. Juli. Die Konterrevolution siegt. Die Sowjets sind machtlos. Die losgelassenen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 480
Junker gehen bereits auch gegen die Menschewiki vor. In einem Teil <strong>der</strong> Partei herrscht<br />
Unsicherheit. Der Zustrom von Mitglie<strong>der</strong>n hat aufgehört Doch eine Flucht aus unseren<br />
Reihen gibt es noch nicht.« Nach den Julitagen »herrschte in den Petrogra<strong>der</strong> Betrieben<br />
starker sozialrevolutionärer Einfluß«, schreibt <strong>der</strong> Arbeiter Sissko. Die Isolierung <strong>der</strong><br />
Bolschewiki steigerte automatisch Gewicht und Selbstbewußtsein <strong>der</strong> Versöhnler. Am<br />
16. Juli berichtet in <strong>der</strong> bolsehewistischen Stadtkonferenz <strong>der</strong> Delegierte des Wassiliiostrower<br />
Bezirkes, die Stimmung dort sei mit Ausnahme einiger Betriebe »im<br />
allgemeinen« gut. »Im Baltischen Werk schlagen uns die Sozialrevolutionäre und<br />
Menschewiki.« Hier war es sehr weit gekommen: das Betriebskomitee verfügte, daß die<br />
Bolschewiki an <strong>der</strong> Beerdigung <strong>der</strong> getöteten Kosaken teilzunehmen hätten, was sie auch<br />
taten ... Der offizielle Mitglie<strong>der</strong>abgang <strong>der</strong> Partei ist allerdings nicht groß: im ganzen<br />
Bezirk traten von den viertausend Mitglie<strong>der</strong>n etwa hun<strong>der</strong>t offen aus. Bedeutend größer<br />
war die Zahl <strong>der</strong>er, die in den ersten Tagen schweigend beiseitetraten. »Die Julitage«,<br />
erinnerte sich später <strong>der</strong> Arbeiter Minitschew, »bewiesen, daß in unseren Reihen<br />
Menschen waren, die aus Angst um ihre Haut die Parteimitgliedskarte "verschluckten"<br />
und <strong>der</strong> Partei abschworen. Doch solcher gab es nicht viele ...« fügt er beruhigend<br />
hinzu. »Die Juliereignisse«, schreibt Schljapnikow, »und die gesamte mit ihnen verbundene<br />
Kampagne <strong>der</strong> Gewaltakte und Verleumdung gegen unsere Organisationen haben<br />
das Wachsen unseres Einflusses, <strong>der</strong> Anfang Juli riesige Kraft erreicht hatte, unterbrochen<br />
... Unsere Partei war halblegal und führte einen Verteidigungskampf, gestützt<br />
hauptsächlich auf Gewerkschaften und Fabrikkomitees.«<br />
Die Beschuldigung gegen die Bolschewiki, in Deutschlands Dienst zu sein, konnte<br />
sogar auf die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter, mindestens auf einen großen Teil, nicht ohne<br />
Eindruck bleiben. Wer schwankend war, prallte zurück. Wer daran war, sich anzuschließen,<br />
wurde schwankend. Sogar von jenen, die sich bereits angeschlossen hatten, gingen<br />
nicht wenige weg. An <strong>der</strong> Julidemonstration hatten neben den Bolschewiki breiten Anteil<br />
auch Arbeiter genommen, die den Sozialrevolutionären und Menschewiki angehörten.<br />
Nach dem Schlage sprangen sie als erste unter ihr Parteibanner zurück: jetzt schien es<br />
ihnen, sie hätten tatsächlich mit <strong>der</strong> Disziplinverlerzung einen Fehler begangen. Eine<br />
breite Schicht parteiloser Arbeiter und Parteimitläufer rückte ebenfalls ab unter dem<br />
Eindruck <strong>der</strong> offiziell verkündeten und juristisch aufgemachten Verleumdung.<br />
In dieser verän<strong>der</strong>ten politischen Atmosphäre übten die Schläge <strong>der</strong> Repressalien<br />
doppelte Wirkung aus. Olga Rawitsch, eine <strong>der</strong> alten und aktiven Parteiarbeiterinnen,<br />
Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees, sagte später in ihrem Bericht: »Die Julitage hatten<br />
die Organisation <strong>der</strong>art zerschlagen, daß von irgendeiner Arbeit in den folgenden drei<br />
Weichen nicht die Rede sein konnte.« Rawitsch meint damit hauptsächlich die offene<br />
Parteiarbeit. Längere Zeit konnte man die Herausgabe <strong>der</strong> Parteizeitung nicht bewerkstelligen:<br />
es fand sich keine Druckerei, die für die Bolschewiki arbeiten wollte. Nicht immer<br />
ging dabei <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand von den Besitzern aus: in einer Druckerei drohten die Arbeiter<br />
mit Streik, falls die bolschewistische Zeitung gedruckt würde, und so mußte <strong>der</strong> Besitzer<br />
von dein bereits abgeschlossenen Vertrag zurücktreten. Eine Zeitlang wurde Petrograd<br />
mit <strong>der</strong> Kronstädter Zeitung versorgt.<br />
Als äußerster linker Flügel in <strong>der</strong> offenen Arena erwies sich in diesen Tagen die<br />
Gruppe <strong>der</strong> Menschewiki-lnternationalisten. Die Arbeiter besuchten gern die Vorträge<br />
Martows, in dem während <strong>der</strong> Rückzugsperiode <strong>der</strong> Instinkt des Kämpfers erwachte, als<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 481
es hieß, nicht für die <strong>Revolution</strong> neue Wege zu bahnen, son<strong>der</strong>n für die Reste ihrer<br />
Eroberungen zu kämpfen. Martows Mut war <strong>der</strong> Mut des Pessimismus. »Hinter <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>«, sagte er in einer Sitzung des Exekutivkomitees, »ist wohl ein Punkt<br />
gestellt... Wenn es schon so weit gekommen ist ... daß... für die Stimme <strong>der</strong> Bauernschaft<br />
und <strong>der</strong> Arbeiter in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> kein Raum bleibt, dann wollen wir ehrlich<br />
von <strong>der</strong> Bühne abtreten und diese Herausfor<strong>der</strong>ung nicht unter schweigendem Verzicht<br />
hinnehmen, son<strong>der</strong>n in ehrlichem Kampfe.« Mit ehrlichem Kampfe von <strong>der</strong> Bühne<br />
abzutreten, schlug Martow jenen seiner Parteigenossen vor, die, wie Dan und Zeretelli,<br />
den Sieg <strong>der</strong> Generale und Kosaken über die Arbeiter und Soldaten als einen Sieg <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> über die Anarchie einschätzten. Auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> entfesselten Hetze<br />
gegen die Bolschewiki und <strong>der</strong> iedrigen Kriecherei <strong>der</strong> Versöhnler vor den Kosakenstreifen<br />
ließ Martows Haltung während jener schweren Wochen ihn hoch in den Augen <strong>der</strong><br />
Arbeiter steigen.<br />
Beson<strong>der</strong>s vernichtend traf die Julikrise die Petrogra<strong>der</strong> Garnison. Die Soldaten<br />
blieben politisch weit hinter den Arbeitern zurück. Die Soldatensektion des Sowjets war<br />
noch immer die Stütze <strong>der</strong> Versöhnler, während die Arbeitersektion bereits mit den<br />
Bolschewiki ging. Dem wi<strong>der</strong>sprach die Tatsache nicht, daß die Soldaten beson<strong>der</strong>e<br />
Bereitschaft zeigten, mit den Waffen zu klirren. Bei Demonstrationen spielten sie eine<br />
aggressivere Rolle als die Arbeiter, aber unter den Schlägen prallten sie weit zurück. Die<br />
Welle <strong>der</strong> Feindseligkeit gegen die Bolschewiki schlug in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sehr<br />
hoch empor. »Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage«, erzählt <strong>der</strong> ehemalige Soldat Mitrewitsch, »gehe<br />
ich nicht zu meiner Kompanie, denn man könnte dort erschlagen werden, solange <strong>der</strong><br />
Sturm nicht vorüber ist.« Gerade in den revolutionärsten Regimentern, die während <strong>der</strong><br />
Julitage in den vor<strong>der</strong>sten Reihen gegangen und deshalb unter die wütendsten Schläge<br />
geraten waren, sank <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong>art, daß dort die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong><br />
Organisation auch nach drei Monaten nicht möglich war: unter dem allzu starken Stoß<br />
zerbröckelten diese Truppenteile gleichsam moralisch. »Nach <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>lage«,<br />
schreibt <strong>der</strong> ebengenannte Minitschew, »blickten nicht nur Genossen, die zur Spitze<br />
unserer Partei zählten, son<strong>der</strong>n auch einige Bezirkskomitees nicht mit großer Freundlichkeit<br />
auf die militärische Organisation.«<br />
In Kronstadt verlor die Partei zweihun<strong>der</strong>tfünfzig Mitglie<strong>der</strong>. Die Stimmung in <strong>der</strong><br />
Garnison <strong>der</strong> bolschewistischen Festung war sehr gesunken. Die Reaktion ergriff auch<br />
Helsingfors. Awksentjew, Bunakow, <strong>der</strong> Advokat Sokolow trafen ein, um die bolschewistischen<br />
Schiffe zur Reue zu bewegen. Einiges konnten sie erreichen. Durch Verhaftung<br />
führen<strong>der</strong> Bolschewiki, Ausnutzung <strong>der</strong> offiziellen Verleumdung und Drohungen gelang<br />
es, eine Loyalitätserklärung zu erhalten, sogar seitens des bolschewistischen Panzerkreuzers<br />
"Petropawlowsk". Die For<strong>der</strong>ung, die Anstifter auszuliefern, wurde jedoch von<br />
sämtlichen Schiffen abgelehnt.<br />
Nicht viel an<strong>der</strong>s verlief die Sache in Moskau. »Die Hetze <strong>der</strong> bürgerlichen Presse«,<br />
schreibt Pjatnitzki, »wirkte sogar auf einige Mitglie<strong>der</strong> des Moskauer Komitees panisch.«<br />
Die Organisation wurde nach den Julitagen zahlenmäßig schwächer. »Niemals werde<br />
ich«, schreibt <strong>der</strong> Moskauer Arbeiter Ratechin, »einen mör<strong>der</strong>isch schweren Augenblick<br />
vergessen. Es versammelt sich das Plenum (des Samoskworezker Bezirkssowjets) ... Ich<br />
sehe mich um, unserer bolschewistischen Genossen sind nur wenige ... Steklow, einer <strong>der</strong><br />
energischen Genossen, kommt dicht an mich heran und fragt, die Worte kaum hervor-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 482
ingend: ist es wahr, daß man Lenin und Sinowjew im plombierten Wagen gebracht hat,<br />
ist es wahr, daß sie für deutsches Geld ...? Das Herz erstarrt vor Schmerz, während ich<br />
diese Fragen höre. Ein an<strong>der</strong>er Genosse kommt hinzu, Konstantinow: Wo ist Lenin?<br />
Man sagt, er sei weggeflogen ... Was wird jetzt werden? und so weiter.« Diese lebendige<br />
Szene führt uns lückenlos in die damaligen Erlebnisse <strong>der</strong> fortgeschrittenen Arbeiter ein.<br />
»Das Erscheinen <strong>der</strong> von Alexinski veröffentlichten Dokumente«, schreibt <strong>der</strong> Moskauer<br />
Artillerist Dawydowski, »rief furchtbare Verwirrung in <strong>der</strong> Brigade hervor. Sogar<br />
unsere Batterie, die bolsehewistischste, geriet unter dem Vorstoß <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>trächtigen<br />
Lüge ebenfalls ins Schwanken ... Es schien, als hätten wir jedes Vertrauen verloren.«<br />
»Nach den Julitagen«, schreibt W. Jakowlewa, die damals Mitglied des Zentralkomitees<br />
war und die Arbeit des umfangreichen Moskauer Distriktes leitete, »betonten alle<br />
Berichte aus <strong>der</strong> Provinz einstimmig nicht nur das schroffe Sinken <strong>der</strong> Stimmung in den<br />
Massen, son<strong>der</strong>n sogar eine gewisse Feindseligkeit bei ihnen für unsere Partei. Häufig<br />
kam es vor, daß unsere Redner verprügelt wurden. Die Mitglie<strong>der</strong>zahl nahm stark ab,<br />
einige Organisationen, hauptsächlich in den südlichen Gouvernements, hörten<br />
überhaupt zu existieren auf« Gegen Mitte August fanden noch keine merklichen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
statt. Es geht eine Arbeit unter den Massen um die Erhaltung des Einflusses,<br />
ein Wachsen <strong>der</strong> Organisation ist nicht wahrzunehmen. In den Gouvernements Rjasan<br />
und Tambow gelingt es nicht, neue Verbindungen anzuknüpfen, es entstehen keine<br />
bolschewistischen Zellen, im allgemeinen bleiben sie das Reich <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki.<br />
Jewreinow, <strong>der</strong> im proletarischen Kineschma arbeitete, erinnert sich, welch schwere<br />
Situation nach den Julitagen entstand, als in einer starkbeschickten Beratung sämtlicher<br />
öffentlicher Organisationen die Frage nach dem Ausschluß <strong>der</strong> Bolschewiki aus dem<br />
Sowjet gestellt wurde. Der Abgang aus <strong>der</strong> Partei nahm mitunter solche Dimensionen an,<br />
daß die Organisation erst nach einer neuen Mitglie<strong>der</strong>registrierung ein reguläres Leben<br />
beginnen konnte. In Tula erlitt die Organisation dank <strong>der</strong> vorangegangenen ernsten<br />
Auslese <strong>der</strong> Arbeiter keinen Verlust an Mitglie<strong>der</strong>n, doch nahm ihre Verbundenheit mit<br />
den Massen ab. In Nischnij Nowgorod trat nach <strong>der</strong> unter Leitung des Obersten<br />
Werschowski und des Menschewiken Chintschuk vorgenommenen Exekutionskampagne<br />
em schroffer Nie<strong>der</strong>gang ein: bei den Wahlen zur Stadtduma vermochte die Partei nur<br />
vier Deputierte durchzubringen. In Kaluga rechnete die bolschewistische Fraktion mit<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit ihres Ausschlusses aus dem Sowjet. An einigen Punkten des Moskauer<br />
Distrikts waren die Bolschewiki gezwungen, nicht nur aus den Sowjets auszuscheiden,<br />
son<strong>der</strong>n auch aus den Gewerkschaften.<br />
In Saratow, wo die Bolschewiki mit den Versöhnlern sehr friedliche Beziehungen<br />
unterhielten und noch Ende Juni sich angeschickt hatten, bei den Wahlen zur Stadtduma<br />
gemeinsame Listen aufzustellen, waren die Soldaten nach dem Julisturm <strong>der</strong>art gegen die<br />
Bolschewiki aufgehetzt, daß sie in Wahlversammlungen eindrangen, die bolschewistischen<br />
Flugblätter den Händen entrissen und die Agitatoren verprügelten. »Es wurde uns<br />
schwer«, schreibt Lebedjew, »in Wahlversammlungen aufzutreten. Häufig schrie man<br />
uns entgegen: deutsche Spione, Provokateure!« In den Reihen <strong>der</strong> Saratower Bolschewiki<br />
fanden sich nicht wenig Kleinmütige: »Viele erklärten ihren Austritt, an<strong>der</strong>e<br />
versteckten sich.«<br />
In Kiew, das von jeher den Ruhm eines Schwarzhun<strong>der</strong>tzentrums genoß, nahm die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 483
Hetze gegen die Bolschewiki einen beson<strong>der</strong>s zügellosen Charakter an und griff bald<br />
auch auf die Mensehewiki und Sozialrevolutionäre über. Der Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> revolutionären<br />
Bewegung war hier beson<strong>der</strong>s stark zu verspüren: bei den Wahlen zur Stadtduma<br />
erhielten die Bolschewiki insgesamt nur sechs Prozent <strong>der</strong> Stimmen. In <strong>der</strong> Stadtkonferenz<br />
klagten die Berichterstatter, daß »überall sich Apathie und Untätigkeit bemerkbar<br />
machen«. Das Parteiblatt war gezwungen, vom täglichen zum wöchentlichen Erscheinen<br />
überzugehen.<br />
Auflösungen und Versetzungen revolutionärer Regimenter mußten an sich nicht nur<br />
das politische Niveau <strong>der</strong> Garnisonen hinabdrücken, son<strong>der</strong>n auch entmutigend auf die<br />
Arbeiter im Orte wirken, die sich sicherer fühlten, wenn hinter ihnen befreundete<br />
Truppenteile standen. So verän<strong>der</strong>te die Entfernung des 57. Regimentes aus Twer schroff<br />
die politische Situation, sowohl bei den Soldaten wie bei den Arbeitern: sogar in den<br />
Gewerkschaften wurde <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki gering. In noch stärkerem Maße<br />
zeigte sich dies in Tiflis, wo die Menschewiki Hand in Hand mit dem Stab die bolschewistischen<br />
Truppenteile durch vollkommen farblose Regimenter ersetzten.<br />
An einigen Punkten nahm die politische Reaktion, je nach Zusammensetzung <strong>der</strong><br />
Garnison, Niveau <strong>der</strong> Arbeiter und an<strong>der</strong>en zufälligen Gründen, einen paradoxen<br />
Ausdruck an. In Jaroslawl zum Beispiel wurden im Juli die Bolschewiki aus dem Arbeitersowjet<br />
fast restlos verdrängt, während sie in den Sowjets <strong>der</strong> Soldatendeputierten<br />
dominierenden Einfluß behielten. An einzelnen Stellen hinterließen die Juliereignisse<br />
tatsächlieh fast keine Spuren und hielten das Anwachsen <strong>der</strong> Partei nicht auf. Soweit man<br />
beurteilen kann, war dies in den Fällen zu verzeichnen, wo <strong>der</strong> allgemeine Rückzug<br />
zusammentraf mit dem Eintreten neuer rückständiger Schichten in die revolutionäre<br />
Arena. So konnte man in einigen Textilbezirken im Juli einen bedeutenden Zustrom von<br />
Arbeiterinnen zu den Organisationen beobachten. Doch das Gesamtbild des Rückflutens<br />
wird davon nicht berührt.<br />
Die nicht wegzuleugnende sogar übertriebene Schärfe des Reagierens auf die Teilnie<strong>der</strong>lage<br />
war eine Art Tribut <strong>der</strong> Arbeiter und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Soldaten für ihren allzu leichten,<br />
allzu schnellen, allzu unaufhaltsamen Zustrom zu den Bolschewiki in den<br />
vorangegangenen Monaten. Die schroffe Wendung <strong>der</strong> Massenstimmungen vollzog eine<br />
automatische und dabei uniehlbare Auslese in den Parteika<strong>der</strong>n. Auf jene, die in diesen<br />
Tagen nicht schwankend geworden waren, konnte man sich auch fernerhin verlassen. Sie<br />
bildeten den Kern in Werkstätten, Betrieben, Bezirken. Am Vorabend des Oktobers<br />
blickten die Organisatoren bei Ernennungen und Aufträgen mehr als einmal um sich,<br />
daran zurückdenkend, wie sich ein je<strong>der</strong> in den Julitagen gehalten hatte.<br />
An <strong>der</strong> Front, wo alle Beziehungen unverhüllter sind, nahm die Julireaktion beson<strong>der</strong>s<br />
erbitterten Charakter an. Das Hauptquartier benutzte die Ereignisse vor allein zur Schaffung<br />
beson<strong>der</strong>er Truppenteile <strong>der</strong> »Pflicht vor <strong>der</strong> freien Heimat«. Bei den Regimentern<br />
wurden eigene Stoßkommandos organisiert. »Ich habe die Stoßtruppler wie<strong>der</strong>holt<br />
gesehen«, erzählt Denikin »-sie waren stets nachdenklich düster. In den Regimentern<br />
stand man zu ihnen zurückhaltend o<strong>der</strong> sogar frindselig.« Nicht ohne Grund sahen die<br />
Soldaten in den »Truppenteilen <strong>der</strong> Pflicht« Zellen einer Prätorianergarde. »Die Reaktion<br />
zögerte nicht«, berichtet über die rückständige rumänische Front <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />
Degtjarjew, <strong>der</strong> sich später den Bolschewiki anschloß. »Viele Soldaten wurden als<br />
Deserteure verhaftet. Die Offiziere erhoben den Kopf und begannen die Armeekomitees<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 484
zu mißachten, hie und da versuchten die Offiziere sogar zur Ehrenbezeigung zurückzukehren.«<br />
Die Kommissare betrieben die Säuberung <strong>der</strong> Armee. »Fast jede Division«,<br />
schreibt Stankewitsch, »hatte ihren Bolschewik, mit einem Namen, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Armee<br />
bekannter war als <strong>der</strong> Name des Divi-sionschefs ... Allmählich entfernten wir eine<br />
Berühmtheit nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.« Gleichzeitig wurden an <strong>der</strong> ganzen Front Entwaffnungen<br />
ungehorsamer Truppenteile vorgenommen. Kommandeure und Kommissare stützten<br />
sich dabei auf Kosaken und die den Soldaten verhaßten Son<strong>der</strong>kommandos.<br />
An dem Tage, als Riga fiel, beschloß eine Konferenz von Kommissaren <strong>der</strong> Nordfront<br />
und Vertretern von Armeeorganisationen die Notwendigkeit einer systematischeren<br />
Anwendung strenger Repressalien. Es kamen Fälle von Erschießungen vor wegen<br />
Verbrü<strong>der</strong>ung mit den Deutschen. Viele Kommissare, erhitzt durch wirre Bil<strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />
Französischen <strong>Revolution</strong>, versuchten die eiserne Hand zu zeigen. Sie begriffen nicht,<br />
daß die jakobinischen Kommissare sich auf die unteren Schichten stützten, Aristokraten<br />
und Bourgeois nicht schonten und daß nur die Autorität <strong>der</strong> plebejischen Unnachsichtigkeit<br />
ihnen das Anpflanzen strenger Disziplin in <strong>der</strong> Armee erlaubte. Kerenskis Kommissare<br />
hatten keine Volksstütze unter sich, keine sittliche Aureole über ihrem Haupt. Sie<br />
waren in den Augen <strong>der</strong> Soldaten Agenten <strong>der</strong> Bourgeoisie, Antreiber <strong>der</strong> Entente und<br />
nichts mehr. Sie vermochten für eine Weile die Armee einzuschüchtern dies gelang ihnen<br />
bis zu einem gewissen Grade tatsächlich -, doch sie zu neuem Leben zu er-wecken,<br />
waren sie zu ohnmächtig.<br />
Im Büro des Exekutivkomitees in Petrograd berichtete man Anfang August, daß in <strong>der</strong><br />
Stiinniung <strong>der</strong> Armee eine günstige Wendung eingetreten sei. Exerzierübungen fänden<br />
statt; an<strong>der</strong>erseits aber sei das Steigen <strong>der</strong> Rechtlosigkeit, <strong>der</strong> Willkür, des Druckes zu<br />
beobachten. Beson<strong>der</strong>e Schärfe gewann die Offiziersfrage: »Sie sind völlig isoliert und<br />
bilden eigene, abgeschlossene Organisationen.« Auch an<strong>der</strong>e Angaben bestätigen, daß<br />
äußerlich an <strong>der</strong> Front größere Ordnung eingetreten war, die Soldaten hatten aufgehört,<br />
kleinlicher und zufälliger Anlässe wegen zu meutern. Aber um so konzentrierter wurde<br />
ihre Unzufriedenheit mit <strong>der</strong> Gesamtlage. Aus <strong>der</strong> vorsichtigen und diplomatischen Rede<br />
des Menschewiken Kutschin in <strong>der</strong> Staatsberatung klang hinter beruhigenden Noten<br />
besorgte Warnung. »Zweifellos ist eine Wendung, zweifellos eine Beruhigung vorhanden,<br />
aber, Bürger, vorhanden ist auch etwas an<strong>der</strong>es, vorhanden ist das Gefühl irgendeiner<br />
Enttäuschung, und dieses Gefühl macht uns ebenfalls außerordentliche Sorge ...« Der<br />
vorübergehende Sieg über die Bolschewiki war vor allem ein Sieg über die neuen<br />
Hoffnungen <strong>der</strong> Soldaten, über ihren Glauben an eine bessere Zukunft. Die Massen<br />
wurden vorsichtiger, die Disziplin nahm gleichsam zu. Aber zwischen den Regierenden<br />
und den Soldaten vertiefte sich <strong>der</strong> Abgrund. Wen und was wird er morgen<br />
verschlingen?<br />
Die Julireaktion zieht gewissermaßen den endgültigen Trennungsstrich zwischen<br />
Februar- und Oktoberrevolution. Arbeiter, Hinterlandgarnisonen, Front und teilweise<br />
sogar, wie sich später zeigen wird, Bauern wichen aus, prallten zurück, wie von einem<br />
Schlag auf die Brust getroffen. Der Schlag hatte in Wirklichkeit mehr einen psychischen<br />
als einen physischen Charakter, doch machte das ihn nicht weniger wirksam. In den<br />
ersten vier Monaten hatten alle Massenprozesse nur die eine Richtung gehabt: nach links.<br />
Der Bolschewismus wuchs, erstarkte, wurde kühner. Nun aber stieß die Bewegung auf<br />
eine Schwelle. Tatsächlich zeigte sich, daß die Wege <strong>der</strong> Februarrevolution nicht weiter-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 485
führten. Vielen schien es, die <strong>Revolution</strong> habe sich überhaupt erschöpft. In Wirklichkeit<br />
hatte sich nur die Februarrevolution bis zur Neige erschöpft. Diese innere Krise des<br />
Massenbewußtseins in Verbindung mit Repression und Verleumdung führte zu Verwirrung<br />
und Rückzügen, manchmal panischer Art. Die Gegner wurden kühner. In den<br />
Massen selbst kam alles Rückständige, Träge, mit den Erschütterungen und Entbehrungen<br />
Unzufriedene nach oben. Diese rückflutenden Wellen im Strome <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
zeigen unüberwindliche Kraft: es scheint, als unterstehen sie Gesetzen sozialer Hydrodynamik.<br />
Eine solche Gegenwelle mit <strong>der</strong> Brust zu überwinden ist unmöglich, - es bleibt<br />
nur übrig, ihr standzuhalten, sich nicht wegspülen zu lassen, standzuhalten, bis die<br />
Reaktionswelle sich erschöpft hat, und gleichzeitig Stützpunkte für eine neue Offensive<br />
vorzubereiten.<br />
Betrachtete man die einzelnen Regimenter, die am 3. Juli unter bolschewistischen<br />
Plakaten gegangen waren und eine Woche später strenge Strafen gegen die Agenten des<br />
Kaisers for<strong>der</strong>ten, dann schien es, die gebildeten Skeptiker könnten einen Sieg feiern:<br />
Das sind eure Massen, das ist ihre Beständigkeit und ihr Begriffsvermögen! Doch dies ist<br />
ein billiger Skeptizismus. Würden die Massen tatsächlich ihre Gefühle und Gedanken<br />
unter dein Einfluß zufälliger Umstände wechseln, unerklärlich wäre die gewaltige<br />
Gesetzmäßigkeit, die die Entwicklung großer <strong>Revolution</strong>en charakterisiert. Je tiefer die<br />
Volksmillionen erfaßt werden, um so planmäßiger die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, mit<br />
um so größerer Sicheiheit kann man die Kontinuität <strong>der</strong> weiteren Etappen voraussagen.<br />
Man darf dabei nur nicht vergessen, daß die politische Entwicklung <strong>der</strong> Massen nicht in<br />
einer Geraden, son<strong>der</strong>n in einer komplizierten Kurve verläuft: ist doch dies im wesentlichen<br />
die Bahn aller materiellen Prozesse. Die objektiven Bedingungen stießen Arbeiter,<br />
Soldaten und Bauern gebieterisch unter das Banner <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch beschritten<br />
die Massen diesen Weg im Kampfe mit ihrer eigenen Vergangenheit, mit ihrem gestrigen<br />
und teilweise auch noch heutigen Glauben. An schweren Wendepunkten, in Augenblikken<br />
von Mißerfolg und Enttäuschung, schwimmen die alten, noch nicht verkohlten<br />
Vorurteile an die Oberfläche, und die Gegner greifrn naturgemäß danach wie nach einem<br />
Rettungsanker. Alles, was an den Bolschewiki unklar, ungewohnt, rätselhaft war -<br />
Neuheit <strong>der</strong> Gedanken, Vermessenheit, Verleugnung aller alten und neuen Autoritäten -,<br />
all das fand nun plötzlich eine einfache, sogar in ihrem Unsinn noch überzeugende<br />
Deutung: deutsche Spione! Die gegen die Bolschewiki erhobene Beschuldigung war im<br />
Grunde <strong>der</strong> Einsatz auf die sklavische Vergangenheit des Volkes, auf das Erbe <strong>der</strong><br />
Finsternis, Barberei, des Aberglaubens, - und dieser Einsatz war kein leerer. Die große<br />
patriotische Lüge blieb während <strong>der</strong> Monate Juli und August ein politischer Faktor ersten<br />
Grades und bildete die Begleititrig zu allen Tagesfragen. Die Kreise <strong>der</strong> Verleumdung<br />
verbreiteten sich im Lande zusammen mit <strong>der</strong> Kadettenpresse, erfaßten Provinz und<br />
Randgebiete, drangen in die entlegensten Winkel. Ende Juli for<strong>der</strong>te die Iwanowo-Wosnessensker<br />
Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki immer noch die Eröffnung einer energischeren<br />
Kampagne gegen die Hetze! Die Frage nach dem spezifischen Gewicht <strong>der</strong> Verleumdung<br />
im politischen Kampfe <strong>der</strong> zivilisierten Gesellschaft harrt noch ihres Soziologen.<br />
Und doch war die Reaktion bei den Arbeitern und Soldaten, eine nervöse und stürmische,<br />
we<strong>der</strong> tief noch von Dauer. Die fortgeschrittenen Betriebe Petrograds begannen<br />
schon in den ersten Tagen nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung sich zu erholen, sie protestierten<br />
gegen Verhaftungen und Verleumdung, rüttelten an den Türen des Exekutivkomitees,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 486
stellten Verbindungen wie<strong>der</strong> her. In dem Sestrorezker Waffenwerk, das eine Erstürmung<br />
und Entwaffnung erlitten hatte, nahmen die Arbeiter bald wie<strong>der</strong> das Steuer in ihre<br />
Hände: eine allgemeine Versammlung am 20. Juli beschloß, den Arbeitern die Demonstrationstage<br />
zu bezahlen, um den Betrag restlos auf Literatur für die Front zu<br />
verwenden. Die offene Agitationsarbeit <strong>der</strong> Bolschewiki in Petrograd wird, nach dem<br />
Zeugnis von Olga Rawitsch, um den 20. Juli herum wie<strong>der</strong> aufgenommen. In den<br />
Versammlungen, die von nicht mehr als zwei- bis dreihun<strong>der</strong>t Menschen besucht werden,<br />
sprechen in verschiedenen Stadtteilen drei Personen: Slutzki, später in <strong>der</strong> Krim von<br />
Weißen ermordet, Wolodarski, ermordet von Sozialrevolutionären in Petrograd, und<br />
Jewdokimow, ein Petrogra<strong>der</strong> Metallarbeiter, einer <strong>der</strong> hervorragendsten Redner <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Im August nimmt die Agitationstätigkeit <strong>der</strong> Partei breitere Ausmaße an.<br />
Nach einer Aufzeichnung Raskolnikows gab <strong>der</strong> am 23. Juli verhaftete Trotzki im<br />
Gefängnis folgendes Bild von <strong>der</strong> Lage in <strong>der</strong> Stadt: »Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
... setzen die wütende Hetze gegen die Bolschewiki fort. Verhaftungen unserer<br />
Genossen dauern an. Jedoch in den Kreisen <strong>der</strong> Partei herrscht keine Nie<strong>der</strong>geschlagenheit.<br />
Im Gegenteil, alle blicken hoffnungsvoll in die Zukunft und sind <strong>der</strong> Ansicht, die<br />
Repressalien könnten die Popurarität <strong>der</strong> Partei nur stärken. Auch in den Arbeitervierteln<br />
ist keine Entmutigung wahrzunehmen.« In <strong>der</strong> Tat, sehr bald nahm eine Arbeiterversammlung<br />
von siebenundzwanzig Betrieben des Peterhofer Bezirks eine<br />
Protestresolution an gegen die unverantwortliche Regierung und <strong>der</strong>en konterrevolutionäre<br />
Politik Die proletarischen Bezirke lebten auf.<br />
Während man oben, im Winterpalais und im Taurischen Palais, eine neue Koalition<br />
zimmerte, sich einigte, trennte und wie<strong>der</strong> zusammenkleisterte, vollzog sich in den<br />
gleichen Tagen und sogar Stunden, vom 21.-22. Juli, in Petrograd ein höchst bedeutsames,<br />
in <strong>der</strong> offiziellen Welt kaum beachtetes Ereignis, das aber die Festigung einer<br />
an<strong>der</strong>en, soli<strong>der</strong>en Koalition anzeigte: die <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter mit den Soldaten <strong>der</strong><br />
aktiven Armee. In die Hauptstadt kamen Frontdelegierte mit Protesten ihrer Truppenteile<br />
gegen die Erdrosselung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Front. Etliche Tage klppften sie vergebens<br />
an die Türe des Exekutivkomitees. Man ließ sie nicht vor, wies sie ab, versuchte sie<br />
loszuwerden. Unterdessen trafen neue Delegierte ein und machten den gleichen Weg<br />
durch. Die Abgewiesenen stießen in Korridoren und Wartezimmern aufeinan<strong>der</strong>, beklagten<br />
sich, schimpften und suchten gemeinsam einen Ausweg. Dabei halfen ihnen die<br />
Bolschewiki. Die Delegierten beschlossen, ihre Gedanken auszutauschen mit den hauptstädtischen<br />
Arbeitern, Soldaten, Matrosen, die sie mit offenen Armen empfingen, ihnen<br />
Unterkunft und Verpflegung besorgten. An <strong>der</strong> Beratung, die niemand von oben einberufrn<br />
hatte, die von unten erwachsen war, beteiligten sich Vertreter von neunundzwanzig<br />
Frontregimentern, neunzig Petrogra<strong>der</strong> Betrieben, von Kronstädter Seeleuten und den<br />
umliegenden Garnisonen. Im Zentrum <strong>der</strong> Beratung standen die Delegierten <strong>der</strong> Schützengräben,<br />
unter ihnen waren auch einige jüngere Offiziere. Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />
hörten mit Gier den Frontlem zu, bemüht, kein Wort davon zu verlieren. Diese erzählten,<br />
wie die Offensive und <strong>der</strong>en Folgen die <strong>Revolution</strong> auffraßen. Graue Soldaten, nicht im<br />
mindesten Agitatoren, schil<strong>der</strong>ten in ungekünstelten Reden den Alltag des Frontdaseins.<br />
Diese Details wirkten erschütternd, denn sie zeigten anschaulich, wie sich das Alte,<br />
Vor-revolutionäre, Verhaßte wie<strong>der</strong> einschlich. Der Kontrast zwischen gestrigen<br />
Hoffnungen und heutiger Wirklichkeit traf die Herzen und stimmte sie auf einen Ton.<br />
Wenn auch bei den Frontsoldaten allem Anschein nach Sozialrevolutionäre überwogen,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 487
wurde eine scharfe bolschewistische Resolution fast einstimmig angenommen: nur vier<br />
Mann enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung. Die angenommene Resolution wird kein toter<br />
Buchstabe bleiben: zurückgekehrt, werden die Delegierten die Wahrheit erzählen, wie sie<br />
von den Versöhnlerführern zurückgestoßen und wie sie von den Arbeitern aufgenommen<br />
wurden, - den eigenen Berichterstattern werden die Schützengräben Glauben schenken,<br />
sie betrügen nicht.<br />
In <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison selbst zeigte sich <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Wendung am Ende des<br />
Monats, beson<strong>der</strong>s nach dem Meeting mit den Frontvertretern. Zwar konnten sich die<br />
Regimenter, die am schwersten gelitten hatten, von <strong>der</strong> Apathie noch immer nicht<br />
erholen. Dafür aber stieg in jenen Regimentern, die die patriotischen Positionen am<br />
längsten gehalten und die Disziplin über die ersten <strong>Revolution</strong>smonate hinweg bewahrt<br />
hatten, <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Partei zusehends. Es begann auch die Militärische Organisation<br />
sich zu erholen, die beson<strong>der</strong>s grausam unter den Schlägen gelitten hatte. Wie stets nach<br />
Nie<strong>der</strong>lagen, sah man in Parteikreisen wenig wohlwollend auf die Leiter <strong>der</strong> militärischen<br />
Arbeit und stellte ihnen die wirklichen wie die vermeintlichen Fehler und Übersteigerungen<br />
in Rechnung. Das Zentralkomitee zog die Militärische Organisation näher an<br />
sich heran, errichtete über sie durch Swerdlow und Dserschinski eine unmittelbarere<br />
Kontrolle, und die Arbeit kam wie<strong>der</strong> in Fluß, langsamer als früher, aber zuverlässiger.<br />
Ende Juli war die frühere Lage <strong>der</strong> Bolschewiki in den Petrogra<strong>der</strong> Betrieben bereits<br />
wie<strong>der</strong> hergestellt: die Arbeiter schlossen sich unter dem gleichen Banner zusammen,<br />
doch waren es nun an<strong>der</strong>e Arbeiter, reifere, das heißt vorsichtigere, aber auch entschlossenere.<br />
»In den Betrieben genießen wir einen kolossalen, uneingeschränkten Einfluß«,<br />
berichtete Wolodarski am 27. Juli auf dem Parteitag <strong>der</strong> Bolschewiki. »Die Parteiarbeit<br />
wird hauptsächlich von den Arbeitern selbst geleistet ... Die Organisation ist von unten<br />
erwachsen, und wir haben deshalb allen Grund zu glauben, daß sie nicht auseinan<strong>der</strong>fallen<br />
wird.« Der Jugendverband zählte zu jener Zeit annähernd fünfzigtausend Mitglie<strong>der</strong><br />
und geriet immer mehr unter bolschewistischen Einfluß. Am 7. August nahm die Arbeitersektion<br />
des Sowjets eine Resolution über Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafr an. Zum<br />
Zeichen des Protestes gegen die Staatsberatung überwiesen die Putilowarbeiter einen<br />
Tageslohn <strong>der</strong> Arbeiterpresse. In <strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees wird einstimmig eine<br />
Resolution angenommen, die die Moskauer Beratung als »den Versuch einer Organisierung<br />
<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte« kennzeichnet<br />
Auch Kronstadt heilte seine Wunden. Am 20. Juli for<strong>der</strong>t ein Meeting auf dem Ankerplatz<br />
Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets, Abtransport <strong>der</strong> Kosaken wie <strong>der</strong> Gendarmen<br />
und Schutzleute an die Front, Abschaffung <strong>der</strong> Todesstrafe, Zulassung <strong>der</strong> Kronstädter<br />
Delegierten nach Zarskoje Selo, um sich davon zu überzeugen, ob Nikolaus II. hinreichend<br />
streng gehalten werde, Auflösung des Todesbataillons, Konfiszierung <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Zeitungen, und so weiter. Zur gleichen Zeit befahl <strong>der</strong> neue Admiral Tyrkow, nach<br />
Übernahme des Festungskommandos, die roten Fahnen von den Kriegsschiffen einzuziehen<br />
und die die Andreasfahne zu hissen. Offiziere und ein Teil <strong>der</strong> Soldaten legten die<br />
Achselstücke wie<strong>der</strong> an. Die Kronstädter protestierten. Eine Regierungskommission zur<br />
Untersuchung <strong>der</strong> Ereignisse des 3. bis 5. Juli mußte unverrichteter Sache aus Kronstadt<br />
nach Petrograd zurückkehren: sie war mit Pfiffen, Protestrufen und sogar Drohungen<br />
empfangen worden.<br />
Ein Ruck vollzog sich in <strong>der</strong> gesamten Flotte. »Ende Juli und Anfang August«, schreibt<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 488
einer <strong>der</strong> finnländischen Führer, Saleschski, »spürte man klar, daß es <strong>der</strong> Reaktion nicht<br />
nur nicht gelungen war, Helsingfors' revolutionäre Kräfte zu brechen, son<strong>der</strong>n - im<br />
Gegenteil - es zeigte sich hier ein scharfer Ruck nach links und ein weitgehendes<br />
Anwachsen <strong>der</strong> Sympathien für die Bolschewiki.« Die Matrosen waren in hohem Maße<br />
die Inspiratoren <strong>der</strong> Julidemonstration gewesen, ohne und zum Teil gegen die Partei, die<br />
sie <strong>der</strong> Lauheit und fast des Versöhnlertums verdächtigten. Die Erfahrung des bewaffneten<br />
Hervortretens hatte ihnen gezeigt, daß die Frage <strong>der</strong> Macht nicht so einfach zu lösen<br />
ist. Die halbanarchistischew Stimmungen machten Platz dem Vertrauen zur Partei.<br />
Höchst interessant in dieser Hinsicht ist <strong>der</strong> Bericht eines Helsingforser Delegierten von<br />
Ende Juli: »Auf den kleinen Schiffen überwiegt <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, auf<br />
den größeren Kampfschiffen, Kreuzern und Panzerkreuzern sind alle Matrosen Bolschewiki<br />
o<strong>der</strong> Sympathisierende. Ähnlich war (auch früher) die Stimmung <strong>der</strong> Matrosen auf<br />
dem "Petropawlowsk" und <strong>der</strong> "Republik, und nach dem 3.-5. Juli sind auch "Gangut",<br />
"Sewastopol", "Rjurik", "Andrej Perwoswany", "Diana", "Gromoboj" und "Indien" zu<br />
uns übergegangen. Somit befindet sich in unseren Händen eine gewaltige Kampfmacht ...<br />
Die Ereignisse des 3-5. Juli haben die Matrosen vieles gelehrt, indem sie ihnen zeigten,<br />
daß zur Erreichung des Zieles Stimmung allein nicht genügt.«<br />
Hinter Petrograd zurückbleibend, geht Moskau den gleichen Weg. »Allmählich<br />
verflüchtigt sich die Betäubung«, erzählt <strong>der</strong> Artillerist Dawydowski, »die Soldatenmasse<br />
kommt zu sich, und wir gehen auf <strong>der</strong> ganzen Front wie<strong>der</strong> zum Angriff äber. Die Lüge,<br />
die eine Weile die Linksentwicklung <strong>der</strong> Massen aufhielt, hat danach den Zustrom zu uns<br />
nur verstärkt.« Unter den Schlägen festigte sich stärker die Freundschaft <strong>der</strong> Betriebe mit<br />
den Kasernen. Der Moskauer Arbeiter Strelkow erzählt von den engen Beziehungen, die<br />
sich allmählich zwischen <strong>der</strong> Fabrik Michelson und einem benachbarten Regiment<br />
entwickelten. Die Arbeiter- und Soldatenkomitees entschieden häufig gemeinsam über<br />
praktische Fragen im Leben <strong>der</strong> Fabrik und des Regiments. Die Arbeiter veranstalteten<br />
für die Soldaten kulturelle Bildungsabende, kauften für sie bolschewistische Zeitungen,<br />
kamen ihnen überhaupt auf jede Weise zu Hilfe. »Läßt man einen ins Gewehr treten«,<br />
erzählt Strelkow, »kommen sie sofort zu uns gelaufen, sich zu beklagen ... Wird bei einem<br />
Straßenmeeting ein Michelsonarbeiter irgendwie gekränkt, braucht es nur ein Soldat zu<br />
erfahren, und ganze Gruppen eilen zu Hilfe. Und Kränkungen gab es damaIs in Hülle<br />
und Fülle, man hetzte mit dem deutschen Gold, mit Verrat und <strong>der</strong> ganzen versöhnlerischen<br />
nie<strong>der</strong>trächtigen Lüge.«<br />
Die Moskauer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees Ende Juli begann in gemäßigten Tönen,<br />
rückte aber während <strong>der</strong> acht Tage ihrer Arbeit stark nach links und nahm am Schluß<br />
eine offenkundig von Bolschewismus gefärbte Resolution an. In jenen Tagen berichtete<br />
<strong>der</strong> Moskauer Delegierte Podbielski auf dem Parteitag: »Sechs Bezirkssowjets von zehn<br />
befinden sich in unseren Händen ... Bei <strong>der</strong> gegenwärtigen organisierten Hetze rettet uns<br />
nur die Arbeitermasse, die standhaft den Bolschewismus stützt.« Anfang August<br />
kommen bei den Wahlen in den Moskauer Betrieben an Stelle <strong>der</strong> Menschewiki und<br />
Soziatrevolurionäre bereits Bolschewiki durch. Das Wachsen des Parteieinflusses zeigte<br />
sich stürmisch im Generalstreik am Vorabend <strong>der</strong> Beratung. Die offiziellen Moskauer<br />
'Iswestja' schrieben: »Es ist endlich an <strong>der</strong> Zeit zu begreifen, daß die Bolschewiki keine<br />
unverantwortlichen Gruppen sind, son<strong>der</strong>n eine <strong>der</strong> Abteilungen <strong>der</strong> organisierten<br />
revolutionären Demokratie, hinter <strong>der</strong> breite Massen stehen, vielleicht nicht immer diszi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 489
plinierte, dafür aber rückhaltlos <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ergebene.«<br />
Die Julischwächung <strong>der</strong> Positionen des Proletariats machte den Industriellen Mut. Der<br />
Kongreß <strong>der</strong> dreizehn wichtigsten Unter-nehmerorganisationen, darunter auch <strong>der</strong><br />
Banken, schuf ein Komitee zum Schutze <strong>der</strong> Industrie, das die Leitung <strong>der</strong> Aussperrungen<br />
wie überhaupt <strong>der</strong> gesamten Offensivpolitik gegen die <strong>Revolution</strong> übernahm. Die<br />
Arbeiter antworteten mit Wi<strong>der</strong>stand. Das ganze Land durchrollte eine Welle größerer<br />
Streiks und an<strong>der</strong>er Zusammenstöße. Übten die erfahrensten Abteilungen des Proletariats<br />
Vorsicht, so traten um so entschiedener in den Kampf die neuen, frischen Schichten.<br />
Warteten die Metallarbeiter ab, um zu rüsten, stürzten sich auf das Kampffeld die Arbeiter<br />
<strong>der</strong> Textil-, Gummi-, Papier-, Le<strong>der</strong>industrie. Es erhoben sich die rückständigsten und<br />
gehorsamsten Schichten <strong>der</strong> Werktätigen. Kiew war aufgewühlt durch einen stürmischen<br />
Streik <strong>der</strong> Hausdiener und Portiers: sie gingen von Haus zu Haus, löschten das Licht aus,<br />
nahmen die Schlüssel von den Aufzügen weg, öffneten die Entree-türen, und so weiter.<br />
Je<strong>der</strong> Konflikt, aus welchem Anlaß auch immer entstanden, hatte die Tendenz, sich über<br />
einen ganzen Industriezweig zu verbreitern und prinzipiellen Charakter zu gewinnen. Mit<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Arbeiter des gesamten Landes begannen im August die Le<strong>der</strong>arbeiter<br />
Moskaus einen langen und hartnäckigen Kampf um das Recht <strong>der</strong> Fabrikkomitees auf<br />
Anstellung und Entlassung von Arbeitern. In vielen Fällen, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Provinz,<br />
nahmen die Streiks dramatischen Charakter an und führten zu Verhaftungen <strong>der</strong> Unternehmer<br />
und Administratoren durch die Streikenden. Die Regierung predigte den Arbeitern<br />
Selbstbescheidung, trat mit den Industriellen in Koalition, entsandte Kosaken in das<br />
Donezgebiet und erhöhte um das Doppelte die Preise für Brot und Kriegslieferungen.<br />
Während sie die Empörung <strong>der</strong> Arbeiter zur Weißglut steigerte, brachte diese Politik<br />
auch den Untemehmern nichts ein. »Skobeljews Erleuchtung«, klagt Auerbach, einer <strong>der</strong><br />
Kapitäne <strong>der</strong> Schwerindustrie, »hat noch nicht den Arbeitskommissaren in <strong>der</strong> Provinz<br />
Erleuchtung gebracht ... Im Ministerium ... traute man den eigenen Agenten in <strong>der</strong><br />
Provinz nicht ... Man ließ Arbeitervertreter nach Petrograd kommen, redete im Marmorpalais<br />
auf sie ein, beschimpfte sie und suchte sie mit den Industriellen und Ingenieuren<br />
zu versöhnen.« Doch alles führte zu nichts: »die Arbeitermassen gerieten zu jener Zeit<br />
bereits immer mehr unter den Einfluß entschiedener und in ihrer Demagogie unbedenklieher<br />
Anführer«.<br />
Okonomischer Defätismus war die Hauptwaffe <strong>der</strong> Unternehmer gegen die Doppelherrschaft<br />
in den Betrieben. Auf einer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees in <strong>der</strong> ersten<br />
Augusthälfte wurde die auf Desorganisierung und Einstellung <strong>der</strong> Produktion gerichtete<br />
Schädlingspolitik <strong>der</strong> Industriellen in allen Details enthüllt. Außer Finanzmachinationen<br />
wandte man weitgehend Verstecken von Material, Schließung von Werkzeug-, Reparaturabteilungen<br />
und so weiter an. Krasse Beweise für Sabotage <strong>der</strong> Unternehmer gibt John<br />
Reed, <strong>der</strong> als amerikanischer Korrespondent Zutritt zu den verschiedensten Kreisen hatte,<br />
vertrauliche Nachrichten <strong>der</strong> diplematischen Ententeagenten bekam und offene Geständnisse<br />
russischer bürgerlicher Politiker anhörte. »Der Sekretär <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Organisation<br />
<strong>der</strong> Kadettenpartei«, schreibt Reed, »sagte mir, daß <strong>der</strong> ökonomische Zerfall ein<br />
Teil <strong>der</strong> zur Diskreditierung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durchgeführten Kampagne sei. Ein Ententediplomat,<br />
dessen Namen nicht zu nennen ich mich verpflichtet habe, bestätigte mir dies<br />
aus eigener Kenntnis. Es sind mir Kohlengruben bei Charkow bekannt, die von den<br />
Besitzern in Brand gesteckt o<strong>der</strong> unter Wasser gesetzt wurden. Ich kenne Moskauer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 490
Textilfabriken, <strong>der</strong>en Ingenieure die Arbeit einstellten und die Maschinen unbrauchbar<br />
machten. Ich kenne Eisenbahnbeamte, die von Arbeitern bei Beschädigung von Lokomotiven<br />
ertappt wurden.« Dies war die grausame ökonomische Realität. Sie entsprach nicht<br />
den Versöhnlerillusionen, nicht <strong>der</strong> Koalitionspolitik, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vorbereitung des<br />
Kornilowschen Aufstandes.<br />
An <strong>der</strong> Front konnte sich die heilige Allianz ebensowenig durchsetzen wie im Hinterlande.<br />
Verhaftungen einzelner Bolschewiki, klagt Stankewitsch, lösten die Frage nicht.<br />
»Das Verbrecherische lag in <strong>der</strong> Luft, aber seine Konturen zeigten sich nicht klar umrissen,<br />
weil die ganze Masse infiziert war.« Wenn die Soldaten zurückhalten<strong>der</strong> geworden<br />
waren, so nur deshalb, weil sie gelernt hatten, bis zu einem gewissen Grade ihren Haß zu<br />
disziplinieren. Ging er aber mit ihnen durch, dann kamen ihre wirklichen Gefühle um so<br />
krasser zum Vorschein. Eine Kompanie des Dubensker Regimentes, die wegen <strong>der</strong><br />
Weigerung, einen neu ernannten Kompanieführer anzuerkennen, aufgelöst werden sollte,<br />
brachte noch einige Kompanien und schließlich das ganze Regiment zur Meuterei, und<br />
als <strong>der</strong> Regimentiommandeur den Versuch unternahm, die Ordnung mit Waffengewalt<br />
wie<strong>der</strong> herzustellen, wurde er mit Kolben erschlagen. Das geschah am 31. Juli. Kam es in<br />
an<strong>der</strong>en Regimentern nicht so weit, so konnte es, nach dem inneren Gefühl des<br />
Konimandobestandes, stets dahin kommen.<br />
Mitte August berichtete General Schtscherbatschew ins Hauptquartier: »Die Stimmung<br />
<strong>der</strong> Infanterietruppenteile, mit Ausnahme <strong>der</strong> Todesbataillone, ist völlig unbeständig -<br />
manchmal än<strong>der</strong>t sie sich in wenigen Tagen bei einigen Infanterietruppenteilen schroff in<br />
diametral entgegengesetzter Richtung.« Viele Kommissare fingen an zu begreifen, daß<br />
die Julimethoden keinen Ausweg boten. »Die Praxis <strong>der</strong> Anwendung von revolutionären<br />
Feldgerichten an <strong>der</strong> Westfront«, meldete am 22. August <strong>der</strong> Kommissar Jamandt,<br />
»bringt schreckliche Uneinigkeit zwischen Kommandobestand und Bevölkerungsmasse<br />
und diskreditiert die idee dieser Gerichte an sich ...« Das Kornilowsche Rettungsprogramm<br />
war bereits vor dem Aufstand des Hauptquartiers hinreichend ausprobiert worden<br />
und hatte in die gleiche Sackgasse geführt.<br />
Mehr als alles an<strong>der</strong>e fürchteten die besitzenden Klassen Anzeichen <strong>der</strong> Zersetzung des<br />
Kosakentums: von dort drohte <strong>der</strong> Zusammenbruch <strong>der</strong> letzten Schutzwehr. Kosakenregimenter<br />
hatten im Februar in Petrograd die Monarchie wi<strong>der</strong>standslos ausgeliefert. Zwar<br />
hatten die Kosakenbehörden bei sich daheim, in Nowotscherkassk, versucht, die telegraphische<br />
Nachricht von <strong>der</strong> Umwälzung zu verheimlichen, und am 1. März mit üblicher<br />
Feierlichkeit die Messe für Alexan<strong>der</strong> II. abgehalten. Letzten Endes aber war das<br />
Kosakentum bereit, ohne Zaren auszukommen, und entdeckte sogar in seiner Vergangenheit<br />
republikanische Traditionen. Doch darüber hinaus wollte es nicht gehen. Die<br />
Kosaken hatten sich von Anfang an geweigert, Deputierte in den Petrogra<strong>der</strong> Sowjet zu<br />
entsenden, um sich nicht den Arbeitern und Soldaten anzugleichen, und einen Sowjet <strong>der</strong><br />
Kosakenheere gebildet, <strong>der</strong> alle zwölf Kosakenheere in <strong>der</strong> Person ihrer Hinterlandspitzen<br />
umfaßte. Die Bourgeoisie war bestrebt, und nicht ohne Erfolg, sich auf die Kosaken<br />
gegen die Arbeiter und Bauern zu stützen.<br />
Die politische Rolle des Kosakentums war durch seine beson<strong>der</strong>e Lage im Staat<br />
bestimmt. Das Kosakentum bildete von jeher einen eigenartigen privilegierten unteren<br />
Stand. Der Kosak zahlte keinerlei Steuern und verfügte über einen bedeutend größeren<br />
Bodenanteil als <strong>der</strong> Bauer. In drei benachbarten Distrikten, Don, Kuban und Terek, hatte<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 491
eine Bevölkerung von drei Millionen Kosaken dreiundzwanzig Millionen Deßjatinen<br />
Land in ihren Händen, während auf 4,3 Millionen Seelen <strong>der</strong> bäuerlichen Bevölkerung<br />
<strong>der</strong> gleichen Distrikte nur sechs Millionen Deßjatinen entfielen: pro Kopf eines Kosaken<br />
durchschnittlich fünfmal mehr als auf einen Bauern. Unter dem Kosakentum selbst war<br />
<strong>der</strong> Boden natürlich äußerst ungleichmäßig verteilt. Hier gab es Gutsbesitzer und<br />
Kulaken, mächtigere als im Norden; es gab auch arme Bauern. Je<strong>der</strong> Kosak war<br />
verpflichtet, auf den ersten Ruf des Staates hin mit eigenem Pferd und eigener Ausrüstung<br />
zu erscheinen. Die reichen Kosaken deckten diese Ausgaben in Überfluß durch die<br />
Steuerfreiheit. Die unteren Schichten krümmten sich unter dem Joch <strong>der</strong> Kosakenpflichten.<br />
Diese grundlegenden Hinweise erklären zur Genüge die wi<strong>der</strong>spruchsvolle Lage des<br />
Kosakentums. Seine unteren Schichten berührten sich nahe mit <strong>der</strong> Bauernschaft, die<br />
Spitzen mit den Gutsbesitzern. Gleichzeitig vereinigte die oberen und unteren Schichten<br />
das Bewußtsein ihrer Son<strong>der</strong>stellung und Auserwähltheit, und sie waren gewohnt, nicht<br />
nur auf den Arbeiter, son<strong>der</strong>n auch auf den Bauern von oben hinabzublicken. Dies eben<br />
machte den Durchschnittskosaken so tauglich für die Rolle des Exekutors.<br />
Während <strong>der</strong> Kriegsjahre, als die jungen Generationen an den Fronten waren, hatten in<br />
den Kosakensiedlungen die Alten, die Träger konservativer Traditionen, eng verbunden<br />
mit ihren Offizieren, das Heft in den Händen. Unter dem Schein <strong>der</strong> auferstandenen<br />
Kosakendemokraue versammelten die Kosakengutsbesitzer in den ersten <strong>Revolution</strong>smonaten<br />
die sogenannten Heeresverbände, welche die Atamane, eine Art von Präsidenten,<br />
und die "Heeresregierungen" zu wählen hatten. Die offiziellen Kommissare und Sowjets<br />
<strong>der</strong> nichtkosakischen Bevölkerung besaßen in den Kosakendistrikten keine Macht, denn<br />
die Kosaken waren stärker, reicher und besser bewaffnet. Die Sozialrevolutionäre<br />
versuchten gemeinsame Sowjets aus Bauern- und Kosakendeputierten zu bilden, doch<br />
die Kosaken zeigten kein Entgegenkommen, da sie nicht ohne Grund befürchteten, daß<br />
die Agrarrevolution ihnen einen Teil ihres Bodens wegnehmen würde. Nicht zufällig<br />
entschlüpfte Tschernow in seiner Eigenschaft als Ackerbauminister <strong>der</strong> Satz: »Die<br />
Kosaken werden sich auf ihrem Boden ein wenig zusammendrängen müssen.« Wichtiger<br />
noch war, daß die dortigen Bauern und die Soldaten <strong>der</strong> Infanterieregimenter immer<br />
häufiger den Kosaken sagten: »Wir werden schon an euer Land herankommen, Schluß<br />
mit eurer Herrschaft.« So sah es im Hinterlande, im Kosakendorf aus, teilweise auch in<br />
<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison, dem Mittelpunkt <strong>der</strong> Politik. Dies erklärt auch das Verhalten<br />
<strong>der</strong> Kosakenregimenter bei <strong>der</strong> Julidemonstration.<br />
An <strong>der</strong> Front war die Lage wesentlich an<strong>der</strong>s. Insgesamt befanden sich im Sommer<br />
1917 bei den aktiven Kosakenheeren hun<strong>der</strong>tzweiundsechzig Regimenter und hun<strong>der</strong>teinundsiebzig<br />
Einzelhun<strong>der</strong>tschaften. Von ihren Dörfern getrennt, teilten die Frontkosaken<br />
die Prüfungen des Krieges mit <strong>der</strong> gesamten Armee, machten, wenn auch mit<br />
beträchtlicher Verspätung, die Evolution <strong>der</strong> Infanterie durch, verloren den Glauben an<br />
den Sieg, ergrimmten über die Unordnung, murrten wi<strong>der</strong> die Vorgesetzten, sehnten sich<br />
nach Frieden und dem Heim. Zur Ausübung des Polizeidienstes an <strong>der</strong> Front und im<br />
Hinterlande wurden allmählich aus dem Heere fünfundvierzig Regimenter und etwa<br />
fünfundsechzig Hun<strong>der</strong>tschaften herausgezogen! Die Kosaken verwandelten sich wie<strong>der</strong><br />
in Gendarmen. Soldaten, Bauern und Arbeiter wetterten gegen sie und erinnerten sie an<br />
ihre Henkerarbeit vom Jahre 1905. Vielen Kosaken, die auf ihr Verhalten im Februar<br />
stolz zu werden begonnen hatten, ward es unbehaglich. Der Kosak fing an, seine Nagaika<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 492
zu verfluchen, und weigerte sich häufig, sie zu tragen. Unter Don- und Kubankosaken<br />
gab es wenig Deserteure: sie fürchteten ihre Alten in <strong>der</strong> Siedlung. Im allgemeinen<br />
blieben die Kosakentruppen viel länger in den Händen <strong>der</strong> Vorgesetzten als die<br />
Infanterie.<br />
Vom Don und vom Kuban kamen Nachrichten an die Front, daß die Kosakenspitzen<br />
gemeinsam mit den Alten ihre eigene Macht errichtet hätten, ohne erst die Frontkosaken<br />
zu fragen. Das weckte den schlummernden sozialen Antagonismus: »Wenn wir heimkommen,<br />
werden wir's ihnen zeigen«, sagten mehr als emmal die Frontler. Der Kosakengeneral<br />
Krassnow, einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Doner Konterrevolution, schil<strong>der</strong>t malerisch, wie die<br />
festgefügten Kosakentruppenteile an <strong>der</strong> Front auseinan<strong>der</strong>krochen: »Es begannen<br />
Meetings, wildeste Resolutionen wurden angenommen ... Die Kosaken hörten auf, die<br />
Pferde zu putzen und regelmäßig zu fürtern. An irgendwelche Übungen war nicht zu<br />
denken. Die Kosaken schmückten sich mit Purpurschleifen, staffierten sich mit roten<br />
Bän<strong>der</strong>n aus und wollten von einer Achtung vor Offizieren nichts hören.« Ehe er jedoch<br />
endgültig in diesen Zustand geraten war, hatte <strong>der</strong> Kosak lange geschwankt, sich den<br />
Kopf gekratzt und gesucht, nach welcher Richtung er sich wenden solle. Es war deshalb<br />
nicht leicht, im kritischen Moment vorauszusehen, wie sich <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Kosakentruppenteil verhalten würde.<br />
Am 8. August schloß <strong>der</strong> Heeresverband am Don einen Block mit den Kadetten für die<br />
Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die Kunde davon drang sofort in die<br />
Armee. »Bei den Kosaken«, schreibt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Janow, »wurde <strong>der</strong> Block<br />
durchwegs ablehnend aufgenommen. Die Kadettenpartei hatte in <strong>der</strong> Armee keine<br />
Wurzeln.« Tatsächlich haßte die Armee die Kadetten und identifizierte sie mit allem, was<br />
die Volksmassen würgte. »Die Alten haben euch an die Kadetten verkauft«, höhnten die<br />
Soldaten. - »Wir werden's ihnen zeigen!« erwi<strong>der</strong>ten die Kosaken. An <strong>der</strong> Südwestfront<br />
kennzeichneten Kosakentruppenteile in einer beson<strong>der</strong>en Verfügung die Kadetten als die<br />
»geschworenen Feinde und Bedrücker des werktätigen Volkes« und verlangten den<br />
Ausschluß aller jener aus dem Heeresverband, die es gewagt hatten, das Bündnis mit den<br />
Kadetten einzugehen.<br />
Kornilow, selbst Kosak, rechnete stark auf die Hilfe des Kosakentums, beson<strong>der</strong>s des<br />
Doner, und durchsetzte mit Kosakentruppen die für die Umwälzung bestimmte<br />
Abteilung. Doch die Kosaken rührten sich nicht, »dem Bauernsohn« zu Hilfe zu<br />
kommen. Die Kosakensiedler waren bereit, daheim wütend ihr Land zu verteidigen,<br />
hatten jedoch keine Lust, an fremden Prügeleien teilzunehmen. Auch das dritte Kavalleriekorps<br />
enttäuschte die Hoffnungen. Verhielten sich die Kosaken feindselig gegen die<br />
Verbrü<strong>der</strong>ung mit den Deutschen, kamen sie an <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Front willig den Soldaten<br />
und Matrosen entgegen: diese Verbrü<strong>der</strong>ung sprengte Kornilows Plan ohne Blutvergießen.<br />
So erlahmte und barst in <strong>der</strong> Gestalt des Kosakentums die letzte Stütze des alten<br />
Rußland.<br />
Unterdessen wurde weit hinter den Landesgrenzen, auf Frankreichs Territorium, im<br />
Laboratoriumsmaßstabe ein "Erneuerungs"versuch <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen<br />
unternommen, außer Reichweite <strong>der</strong> Bolschewiki und darum um so überzeugen<strong>der</strong>.<br />
Während des Sommers und des Herbstes drangen in die russische Presse im Trubel <strong>der</strong><br />
Ereignisse jedoch fast unbeachtet gebliebene Nachrichten von einer unter den <strong>russischen</strong><br />
Truppen in Frankreich entbrannten bewaffneten Meuterei. Soldaten zweier russischer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 493
Brigaden in Frankreich hätten, nach den Worten des Offiziers Lissowski, schon gegen<br />
Januar 1917, folglich vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, »die leste Überzeugung gewonnen, sie seien<br />
alle um den Preis von Geschossen an die Franzosen verkauft worden«. Die Soldaten<br />
hatten sich gar nicht so sehr geirrt. Für ihre Entente-Wirtsherren hegten sie »nicht die<br />
geringsten Sympathien«, für ihre Offiziere - nicht das geringste Vertrauen. Die Kunde<br />
von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erreichte die Exportbrigaden politisch nicht ganz unvorbereitet - aber<br />
doch überraschend. Von den Offizieren waren keine Erklärungen über die Umwälzung<br />
zu erwarten: die Verwirrung zeigte sich um so stärker, je höher <strong>der</strong> Offizier in <strong>der</strong><br />
Rangliste stand. In den Lagern tauchten aus <strong>der</strong> Emigration demokratische Patrioten auf.<br />
»Mehr als einmal konnte man beobachten«, schreibt Lissowski, »wie einige Diplomaten<br />
und Offiziere <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>egimenter... diensteifrig früheren Emigranten Stühle heranrückten.«<br />
Bei den Regimentern entstanden aus Wahlen hervorgegangene Institutionen, wobei<br />
an <strong>der</strong> Spitze des Komitees bald ein lettischer Soldat hervorragte. Es fand sich folglich<br />
auch hier <strong>der</strong> "Fremdstämmige". Das erste Regiment, in Moskau formiert und fast völlig<br />
aus Arbeitern, Kommis und Büroangestellten, überhaupt aus proletarischen und halbproletarischen<br />
Elementen zusammengesetzt, hatte vor einem Jahr als erstes Frankreichs Erde<br />
betreten und sich während des Winters auf den Schlachtfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Champagne gut<br />
geschlagen. Aber - die »Zersetzungskrankheit befiel zuallererst gerade dieses Regiment«.<br />
Das zweite Regiment mit einem viel höheren Prozentsatz an Bauern blieb länger ruhig.<br />
Die zweite Brigade, fast restlos aus sibirischen Bauern bestehend, schien absolut zuverlässig.<br />
Schon bald nach <strong>der</strong> Februarumwälzung verweigerte die erste Brigade den Gehorsam.<br />
Sie wollte we<strong>der</strong> um Elsaß noch um Lothringen kämpfen. Sie wollte nicht für das<br />
schöne Frankreich sterben. Sie wollte probieren, im neuen Rußland zu leben. Die<br />
Brigade wurde nach dem Hinterland zurückgeführt und im Zentrum Frankreichs untergebracht,<br />
im Lager von La Courtine. »Inmitten <strong>der</strong> stillen Bourgeoissiedlungen«, erzählt<br />
Lissowski, »begann in dem Riesenlager ein beson<strong>der</strong>es, ungewöhnliches Leben <strong>der</strong><br />
annähernd zehntausend aufrührerischen, bewaffneten <strong>russischen</strong> Soldaten, die keine<br />
Offiziere über sich hatten und sich absolut keinem unterwerfen wollten.« Kornilow<br />
erhielt die seltene Möglichkeit, seine Ertüchtigungsmethoden unter Beihilfe <strong>der</strong> mit ihm<br />
leidenschaftlich sympathisierenden Poincaré und Ribot anzuwenden. Der Höchstkommandierende<br />
befahl telegraphisch, die Courtiner »zum Gehorsam« zu zwingen und sie<br />
nach Saloniki abzutransportieren. Doch die Meuterer wollten sich nicht ergeben. Am 1.<br />
September wurde schwere Artillerie herangefahren, und im Lager wurden Plakate mit<br />
dem strengen Telegramm Kornilows angeschlagen. Doch da schnitt eine neue Komplikation<br />
in die Ereignisse ein: in <strong>der</strong> französischen Presse erschien die Nachricht, Kornilow<br />
selbst sei als Verräter und Konterrevolutionär erklärt worden. Die meuternden Soldaten<br />
kamen endgültig zu dem Entschluß, daß sie keine Ursache hätten, in Saleniki zu sterben,<br />
noch dazu auf Befehl eines verräterischen Generals. Die für Geschosse verkauften Arbeiter<br />
und Bauern beschlossen, für sich einzustehen. Sie weigerten sich, mit einem Fremden,<br />
wer immer es sei, zu sprechen. Kein Soldat verließ das Lager.<br />
Die zweite russische Brigade wurde gegen die erste geschickt. Artillerie bezog<br />
Stellung auf den nächsten Bergabhängen, Infanterie warf nach allen Regeln <strong>der</strong> Pionierkunst<br />
Schützengräben und Zugänge nach La Courtine aus. Die Umgebung wurde durch<br />
Alpenschützen fest abgeriegelt, damit kein Franzose auf den Kriegsschauplatz <strong>der</strong> zwei<br />
<strong>russischen</strong> Brigaden eindringen könne. So inszenierten die Militärbehörden Frankreichs<br />
auf dessen Terntonum einen <strong>russischen</strong> Bürgerkrieg, ihn umsichtig mit einer Mauer von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 494
Bajonetten absperrend. Das war die Generalprobe. In <strong>der</strong> Folge organisierte das regierende<br />
Frankreich den Bürgerkrieg auf Rußlands Territorium selbst, es mit einem stacheligen<br />
Blocka<strong>der</strong>ing absperrend.<br />
»Eine regelrechte, methodische Beschießung des Lagers begann.« Aus dem Lager<br />
traten einige hun<strong>der</strong>t Soldaten heraus, bereit, sich zu ergeben. Sie wurden abgeführt, und<br />
das Artilleriefeuer sofort wie<strong>der</strong> aufgenommen. So ging es vier Tage und vier Nächte.<br />
Die Courtiner ergaben sich gruppenweise. Am 6. September waren insgesamt nur etwa<br />
zweihun<strong>der</strong>t Mann übriggeblieben, entschlossen, sich lebend nicht zu ergeben. An ihrer<br />
Spitze stand <strong>der</strong> Ukrainer Globa, Baptist und Fanatiker: in Rußland würde man ihn<br />
Bolschewik genannt haben. Unter <strong>der</strong> Deckung von Geschütz-, Maschinengewehr- und<br />
Gewehrfeuer, das zu einem einzigen Getöse verschmolz, begann eine regelrechte Erstürmung.<br />
Schließlich waren die Meuterer erdrückt. Die Zahl <strong>der</strong> Opfer ist unbekannt geblieben.<br />
Die Ordnung war jedenfalls wie<strong>der</strong> hergestellt. Aber bereits nach wenigen Wochen<br />
wurde die zweite Brigade, die auf die erste gefeuert hatte, von <strong>der</strong> gleichen Krankheit<br />
erfaßt<br />
Die schreckliche Seuche hatten die <strong>russischen</strong> Soldaten über Meere mitgebracht in<br />
ihren Leinwandsäcken, in den Falten ihrer Mäntel, in den Tiefen ihrer Seelen. Darum ist<br />
diese dramatische Episode von La Courtine so bemerkenswert, weil sie einen, gleichsam<br />
unter <strong>der</strong> Glocke <strong>der</strong> Luftpumpe absichthch konstruierten idealen Versuch darstellt zum<br />
Studium <strong>der</strong> von <strong>der</strong> gesamten Vergangenheit des Landes vorbereiteten inneren Prozesse<br />
in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee.<br />
Die Brandung<br />
Das starkwirkende Mittel <strong>der</strong> Verleumdung erwies sich als zweischneidige Waffe. Sind<br />
die Bolschewiki deutsche Spione, weshalb geht dann diese Kunde hauptsächlich von<br />
Menschen aus, die dem Volke am verhaßtesten sind? Weshalb beschuldigt gerade die<br />
kadettische Presse, die Arbeitern und Soldaten bei jenem Anlasse niedrigste Motive<br />
unterschiebt, die Bolschewiki am lautesten und entschiedensten? Weshalb erhebt <strong>der</strong><br />
reaktionäre Ingenieur o<strong>der</strong> Meister, seit <strong>der</strong> Umwälzung still geworden, jetzt plötzlich<br />
den Kopf und flucht offen auf die Bolschewiki? Weshalb fassen in den Regimentern die<br />
reaktionärsten Offiziere Mut und fuchteln, während sie Lenin und die Seinen entlarven,<br />
mit den Fäusten vor <strong>der</strong> Nase <strong>der</strong> Soldaten herum, als wären diese die Verräter?<br />
Je<strong>der</strong> Betrieb hatte seine Bolschewiki. »Sehe ich einem deutschen Spion ähnlich,<br />
Jungens, he ?« fragte <strong>der</strong> Schlosser und Dreher, dessen geheimstes Tun die Arbeiter in<br />
allen Einzelheiten kannten. Nicht selten gingen die Versöhnler selbst im Kampfe gegen<br />
den Vorstoß <strong>der</strong> Konterrevolution weiter, als es ihre Absicht war, und bahnten gegen<br />
ihren Willen den Bolschewiki den Weg. Der Soldat Pirejko erzählt, wie <strong>der</strong> Militärarzt<br />
Markowitseh, Anhänger Plechanows, in einem Soldatenmeeting die Beschuldigung,<br />
Lenin sei ein Spion, zurückwies, um desto entschiedener dessen politische Absichten als<br />
falsch und ver<strong>der</strong>blich zu bekämpfen. Vergeblich! »Wenn Lenin klug und kein Spion ist,<br />
kein Verräter, und Frieden schließen will, dann werden wir mit ihm gehen«, sagten die<br />
Soldaten nach <strong>der</strong> Versammlung.<br />
Der zeitweilig in seinem Wachstum zurückgehaltene Bolschewismus beginnt wie<strong>der</strong><br />
sicher seine Flügel zu recken. »Die Vergeltung läßt nicht auf sich warten«, schrieb<br />
Trotzki Mitte August. »Gejagt, verfolgt, verleumdet, ist unsere Partei niemals so schnell<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 495
gewachsen wie in <strong>der</strong> letzten Zeit. Und dieser Prozeß wird nicht versäumen, von <strong>der</strong><br />
Hauptstadt auf die Provinz überzugreifen, von den Städten auf das Land und die Armee<br />
... Alle werktätigen Massen des Landes werden lernen, in neuen Prüfungen ihr Schicksal<br />
mit dem Schicksal unserer Partei zu verknüpfen.«<br />
Petrograd schritt in alter Weise voran. Es schien, ein allmächtiger Besen arbeite in den<br />
Betrieben, den Einfluß <strong>der</strong> Versöhnler aus allen Ecken und Winkeln auskehrend. »Es<br />
stürzen die letzten Festen <strong>der</strong> Landesverteidiger ein ...«, berichtete die bolschewistische<br />
Zeitung. »Wie lang ist es her, daß die Herren Landesverteidiger im Obuchower Riesenbetrieb<br />
uneingeschränkt herrschten? ... jetzt dürfen sie sich dort nicht sehen lassen.« Bei<br />
den Wahlen zur Petrogra<strong>der</strong> Stadtduma am 20. August wurden etwa fünihun<strong>der</strong>tundfünfzigtausend<br />
Stimmen abgegeben, bedeutend weniger als bei den Juliwahlen zu den<br />
Bezirksdumas. Obwohl sie dreihun<strong>der</strong>tundfünfundsiebzigtausend Stimmen verloren,<br />
brachten es die Sozialrevolutionäre immer noch auf über zweihun<strong>der</strong>tausend Stimmen<br />
o<strong>der</strong> auf 37 Prozent <strong>der</strong> Gesamtzahl Auf die Kadetten entfiel ein Fünftel. »Klägliche<br />
dreiundzwanzigtausend Stimmen«, schreibt Suchanow, »brachte unsere menschewistische<br />
Liste auf« Überraschend für alle erhielten die Bolschewiki fast zweihun<strong>der</strong>ttausend<br />
Stimmen, etwa ein Drittel <strong>der</strong> Gesamtzahl.<br />
Die Distriktkonferenz <strong>der</strong> Uralgewerkschaften, die Mitte August stattfand und hun<strong>der</strong>tundfünfzigtausend<br />
Arbeiter repräsentierte, nahm zu allen Fragen Beschlüsse bolschewistischen<br />
Charakters an. In Kiew wurde auf <strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees vom 20.<br />
August die Resolution <strong>der</strong> Bolschewiki mit einer Mehrheit von einhun<strong>der</strong>tundeinundsechzig<br />
gegen fünfunddreißig Stimmen angenommen, bei dreizehn Stimmenthaltungen.<br />
Bei den demokratischen Wahlen zu <strong>der</strong> Iwanowo-Wosnessensker Stadtduma, gerade im<br />
Augenblick des Kornilow-Aufstandes, erhielten die Bolschewiki achtundfünfzig von<br />
einhun<strong>der</strong>tundzwei Sitzen, Sozialrevolutionäre - vierundzwanzig, Menschewiki - vier. In<br />
Kronstadt wird <strong>der</strong> Bolschewik Brekmann zum Vorsit zenden des Sowjets gewählt, zum<br />
Oberbürgermeister <strong>der</strong> Bolschewik Pokrowski. Bei weitem nicht überall so kraß,<br />
manchen-Orts nachhinkend, wächst <strong>der</strong> Bolschewismus während des August fast im<br />
ganzen Lande.<br />
Kornilows Aufstand gibt <strong>der</strong> Radikalisierung <strong>der</strong> Massen einen mächtigen Antrieb.<br />
Slutzki erinnerte bei diesem Anlasse an Marxens Worte: die <strong>Revolution</strong> hat es mitunter<br />
nötig, daß die Konterrevolution sie anpeitseht. Die Gefahr weckte nicht nur die Energie,<br />
son<strong>der</strong>n auch die Einsicht. Der Kollektivgedanke arbeitete unter Hochspannung. An<br />
Material für Schlußfolgerungen fehlte es nicht. Die Koalition hatte man als notwendig<br />
zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erklärt, ein Koalitionspartner indes stand auf seiten <strong>der</strong><br />
Konterrevolution. Die Moskauer Beratung war als Heerschau <strong>der</strong> nationalen Einheit<br />
proklamiert worden. Nur das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki hatte gewarnt: »Die<br />
Beratung ... wird sich unabwendbar in ein Verschwörungsorgan <strong>der</strong> Konterrevolution<br />
verwandeln.« Die Ereignisse hatten die Nachprüfung erbracht. Nun erklärte auch<br />
Kerenski: »Die Moskauer Beratung ... das ist <strong>der</strong> Prolog zum 27. August ... Hier wurde<br />
die Kräfteberechnung vorgenommen ... Hier wurde Rußland erstmalig sein künftiger<br />
Diktator Kornilow vorgestellt ... Als wäre nicht Kerenski Initiator, Organisator und<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> dieser Beratung gewesen, und als hätte nicht er Kornilow als den »ersten<br />
Soldaten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>« vorgestellt. Als hätte nicht die Provisorische Regierung Kornilow<br />
mit <strong>der</strong> Todesstrafe gegen die Soldaten ausgerüstet. Und als wären nicht die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 496
Warnungen <strong>der</strong> Bolschewiki als Demagogie erklärt worden.<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Garnison erinnerte sich ferner, daß zwei Tage vor Kornilows Aufitand<br />
die Bolschewiki in <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Soldatensektion den Verdacht ausgesprochen hatten,<br />
ob nicht die fortgeschrittenen Regimenter mit konterrevolutionären Absichten aus <strong>der</strong><br />
Hauptstadt entfernt würden? Das hatten die Vertreter <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
mit <strong>der</strong> drohenden For<strong>der</strong>ung beantwortet: über Kriegsbefehle des Generals<br />
Kornilow nicht zu diskutieren, In diesem Geiste war eine Resolution angenommen<br />
worden. »Die Bolschewiki verlieren wohl keine Worte in den Wind!«, das mußte sich<br />
jetzt <strong>der</strong> parteilose Arbeiter o<strong>der</strong> Soldat sagen.<br />
Lag bei den Verschwörer-Generalen, nach <strong>der</strong> eigenen verspäteten Anklage <strong>der</strong><br />
Versöhnler, nicht nur die Schuld an <strong>der</strong> Übergabe Rigas, son<strong>der</strong>n auch am Julidurchbruch,<br />
weshalb hatte man dann gegen Bolschewiki gehetzt und Soldaten erschossen?<br />
Haben die militärischen Provokateure versucht, Arbeiter und Soldaten am 27. August auf<br />
die Straße zu locken, so haben sie vielleicht auch bei den blutigen Zusammenstößen vom<br />
4. Juli eine Rolle gespielt? Welcher Platz gehört dann Kerenski in dieser ganzen Angelegenheit?<br />
Gegen wen hat er das 3. Kavalleriekorps angefor<strong>der</strong>t? Weshalb hat er Sawinkow<br />
zum Gencralgouverneur und Filonenko zu dessen Gehilfen ernannt? Wer ist<br />
überhaupt Filonenko, <strong>der</strong> Kandidat für das Direktorium? Überraschend ertönt die<br />
Antwort <strong>der</strong> Panzerdivision: Filonenko, <strong>der</strong> bei ihnen als Fähnrich gedient, hat Soldaten<br />
schlimmsten Emiedrigungen und Verhöhnungen ausgesetzt. Woher stammt <strong>der</strong> dunkle<br />
Geschäftemacher Sawojko? Was bedeutet überhaupt diese Auslese von Hochstaplern an<br />
<strong>der</strong> obersten Spitze?<br />
Die Tatsachen waren einfach, klar, vielen in Erinnerung, allen zugänglich unwi<strong>der</strong>legbar,<br />
vernichtend. Die Staffeln <strong>der</strong> "wilden" Division, die gelockerten Schienen, die<br />
gegenseitigen Beschuldigungen zwischen Winterpalais und Hauptquartier, die Zeugenaussagen<br />
Sawinkows und Kerenskis sprachen für sich selbst. Welch unumstößlicher<br />
Anklageakt gegen die Versöhnler und ihr Regime! Der Sinn <strong>der</strong> Bolsehewikenhetze<br />
wurde endgültig klar: sie bildete ein notwendiges Element in <strong>der</strong> Vorbereitung des<br />
Staatsstreiches.<br />
Der sehend gewordenen Arbeiter und Soldaten bemächtigte sich ein heftiges Gefühl<br />
<strong>der</strong> Scham über sich selbst. Also verbirgt sich Lenin nur deshalb, weil er nie<strong>der</strong>trächtig<br />
verleumdet wurde? Also sitzen die übrigen im Gefängnis, den Kadetten, Generalen,<br />
Bankiers und Ententediplomaten zum Gefallen? Also jagen die Bolschewiki nicht nach<br />
Pöstchen, und man haßt sie oben gerade dafür, weil sie sich <strong>der</strong> Aktiengesellschaft,<br />
Koalition genannt, nicht anschließen wollen! Dies war es, was Werktätige, einfache<br />
Menschen, Unterdrückte begriffen. Und aus diesen Stimmungen heraus, zusammen mit<br />
dem Gefühl <strong>der</strong> Schuld vor den Bolschewiki, erwuchsen unverbrüchliche Treue zur<br />
Partei und Vertrauen zu <strong>der</strong>en Führern.<br />
Bis in die allerletzten Tage hinein nahmen sich die alten Soldaten, Ka<strong>der</strong>elemente <strong>der</strong><br />
Armee, Artilleristen und Unteroffiziere, mit aller Kraft zusammen. Sie wollten nicht ein<br />
Kreuz setzen über ihre Kampfmühen, Heldentaten, Opfer: soll das alles wirklich sinnlos<br />
vergeudet sein? Als aber <strong>der</strong> letzte Halt unter ihren Füßen schwand, machten sie schroff<br />
kehrt - linksum! - und wandten das Gesicht den Bolschewiki zu. Jetzt gingen sie restlos<br />
in die <strong>Revolution</strong> hinein, mit ihren Unteroffizierstressen, mit <strong>der</strong> Stählung alter Soldaten<br />
und mit fest zusammengebissenen Kiefern: sie haben sich mit dem Kriege verrechnet,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 497
dafür werden sie diesmal ganze Arbeit tun.<br />
In Berichten lokaler Behörden, <strong>der</strong> militärischen wie <strong>der</strong> zivilen, wird unterdessen <strong>der</strong><br />
Bolschewismus Synonym überhaupt jeglicher Massenaktion, entschiedener For<strong>der</strong>ung,<br />
Abwehr gegen Ausbeutung, Vorwärtsschreitens, kurz, ein zweiter Name für <strong>Revolution</strong>.<br />
Also das ist Bolschewismus? sagen sich Streikende, protestierende Matrosen, unzufriedene<br />
Soldatenfrauen, meuternde Bauern. Die Massen wurden von oben förmlich<br />
gezwungen, ihre verborgensten Gedanken und For<strong>der</strong>ungen mit den Losungen des<br />
Bolschewismus zu identifizieren. So machte sich die <strong>Revolution</strong> die Waffe dienstbar, die<br />
gegen sie gerichtet war. In <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> wird nicht nur Vernunft Unsinn, son<strong>der</strong>n,<br />
wenn <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Ereignisse es erfor<strong>der</strong>t, wird auch Unsinn Vernunft.<br />
Der Wechsel <strong>der</strong> politischen Atmosphäre zeigte sich sehr anschaulich in <strong>der</strong> vereinigten<br />
Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees, am 30. August, als die Delegierten Kronstadts die<br />
For<strong>der</strong>ung erhoben, ihnen einen Platz in dieser hohen Institution einzuräumen. Ist das<br />
denkbar? Hier, wo die zügellosen Kronstädter in Acht und Bann getan wurden, sollen<br />
nunmehr ihre Vertreter sitzen? Aber wie es abschlagen? Gestern erst waren zur Verteidigung<br />
Petrograds Kronstädter Seeleute und Soldaten gekommen. Matrosen <strong>der</strong> "Aurora"<br />
tun Wachtdienst im Winterpalais. Nachdem sie eine Weile untereinan<strong>der</strong> getuschelt<br />
hatten, boten die Führer den Kronstädtern vier Sitze mit beraten<strong>der</strong> Stimme an. Das<br />
Zugeständnis wurde trocken entgegengenommen, ohne Dankesergüsse.<br />
»Nach Kornilows Aufstand«, erzählt Tschinenow, ein Soldat <strong>der</strong> Moskauer Garnison,<br />
»bekamen bereits alle Truppenteile bolschewistische Färbung ... Alle waren darüber<br />
erstaunt, wie die Worte [<strong>der</strong> Bolschewiki] ..., General Kornilow werde bald vor den<br />
Mauern Petrograds stehen, in Erfüllung gegangen waren.« Mitrewitsch, Soldat einer<br />
Panzerdivision, erinnert sich <strong>der</strong> heroischen Legenden, die von Mund zu Mund gingen<br />
nach dem Siege über die aufständischen Generale: »Es gab Erzählungen von nichts<br />
an<strong>der</strong>em als von Mut und Heldentaten. Ja, bei solchem Mut könne man sich mit <strong>der</strong><br />
ganzen Welt schlagen. Da lebten die Bolschewiki auf«<br />
Der in den Kornilow-Tagen aus dem Gefängnis entlassene Antonow-Owssejenko<br />
reiste sofort nach Helsingfors. »Ein gewaltiger Umschwung vollzog sich in den Massen.«<br />
Auf <strong>der</strong> finnländischen Distriktkonferenz <strong>der</strong> Sowjets waren die rechten Sozialrevolutionäre<br />
in unbedeuten<strong>der</strong> Zahl vertreten, die Leitung lag bei den Bolschewiki, in Koalition<br />
mit den linken Sozialrevolutionären. Zum Vorsitzenden des Distriktkomitees <strong>der</strong> Sowjets<br />
wurde Smilga gewählt, <strong>der</strong> trotz seiner großen Jugend Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />
Bolschewiki war, stark nach links zog und bereits in den Apriltagen Neigung gezeigt<br />
hatte, die Provisorische Regierung gründlich beim Kragen zu packen. Zum Vorsitzenden<br />
des Helsingforser Sowjets, <strong>der</strong> sich auf die Garnison und die <strong>russischen</strong> Arbeiter stützte,<br />
wurde <strong>der</strong> Bolschewik Scheinmann gewählt, <strong>der</strong> spätere Staatsbankdirektor, ein Mann<br />
von vorsichtiger und bürokratischer Geistesverfassung, <strong>der</strong> aber damals mit den an<strong>der</strong>en<br />
Führern gleichen Schritt hielt. Die Provisorische Regierung hatte den Finnlän<strong>der</strong>n verboten,<br />
den von ihr aufgelösten Sejm einzuberufen. Das Distriktkomitee schlug dem Sejm<br />
vor, sich zu versammeln, und übernahm seinen Schutz. Befehle <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung, verschiedene Truppenteile aus Finnland abzuberufen, weigerte sich das<br />
Komitee auszuführen. Tatsächlich hatten die Bolschewiki in Finnland die Sowjetdiktatur<br />
errichtet.<br />
Anfang September schreibt die bolschewistische Zeitung: »Aus einer ganzen Reihe<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 498
ussischer Städte kommen Nachrichten, daß die Organisationen unserer Partei in <strong>der</strong><br />
letzten Periode stark zugenommen haben. Was aber noch größere Bedeutung hat, ist die<br />
Zunahme unseres Einflusses in den breitesten demokratischen Arbeiter- und Soldatenmassen.«<br />
- »Sogar in jenen Betrieben, wo man uns anfangs nicht anhören wollte«,<br />
schreibt <strong>der</strong> Jekaterinoslawer Bolschewik Awerin, »waren in den Tagen <strong>der</strong> Kornilowiade<br />
die Arbeiter auf unserer Seite.« - »Als Gerüchte laut wurden, Kaledin mobilisiere<br />
Kosaken gegen Zarizyn und Saratow«, schreibt Antonow, einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Saratower<br />
Bolschewiki, »als diese Gerüchte sich bestätigten und durch Kornilows Aufstand<br />
feststanden, überwand die Masse in wenigen Tagen ihre früheren Vorurteile.«<br />
Die Kiewer bolschewistische Zeitung schreibt am 19. September: »Bei den Neuwahlen<br />
von Vertretem des Arsenals zum Sowjet sind zwölf Genossen gewählt, sämtlich Bolschewiki.<br />
Alle Kandidaten <strong>der</strong> Menschewiki sind durchgefallen; dasselbe geschieht in einer<br />
Reihe an<strong>der</strong>er Fabriken.« Ähnliche Mitteilungen finden sich von nun an täglich auf den<br />
Seiten <strong>der</strong> Arbeiterpresse; feindliche Zeitungen sind vergeblich bemüht, das Anwachsen<br />
des Bolschewismus zu verschweigen o<strong>der</strong> zu verkleinern. Die sich wie<strong>der</strong>aufrichtenden<br />
Massen sind gleichsam bestrebt, die infolge früherer Schwankungen, Stockungen und<br />
vorübergehen<strong>der</strong> Rückzüge verlorene Zeit einzuholen. Es beginnt ein allgemeines,<br />
beharrliches, unaufhaltsames Ansteigen <strong>der</strong> Brandung.<br />
Das Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki, Warwara J akowljewa, die uns im<br />
Juli/August von einer äußersten Schwächung <strong>der</strong> Bolschewiki im gesamten Moskauer<br />
Distrikt Mitteilung machte, bezeugt jetzt die schroffe Wendung. »In <strong>der</strong> zweiten Septemberhälfte«,<br />
berichtet sie auf <strong>der</strong> Konferenz, »bereisten Mitglie<strong>der</strong> des Distriktbüros den<br />
Distrikt ... Ihre Eindrücke waren völlig einheitlich: überall, in allen Gouvernements,<br />
vollzog sich ein durchgreifen<strong>der</strong> Bolschewisierungsprozeß <strong>der</strong> Massen. Und alle betonten<br />
auch, daß das Dorf nach dem Bolschewik verlangte ...« Dort, wo nach den Julitagen<br />
die Parteiorganisationen zerfallen waren, leben sie nun wie<strong>der</strong> auf und wachsen schnell.<br />
In Bezirken, wo Bolschewiki nicht hineingelassen wurden, entstehen jetzt spontan<br />
bolschewistische Zellen. Sogar in den rückständigen Gouvernements Tambow und<br />
Rjasan, diesen Hochburgen <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre und Menschewiki, wo Bolschewiki<br />
bei früheren Rundreisen wegen völliger Aussichtslosigkeit <strong>der</strong> Lage sich nicht blicken<br />
ließen, vollzieht sich nun eine wahrhafte Umwälzung: <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
festigt sich mit jedem Tage, die Versöhnlerorganisationen zerfallen.<br />
Die Reden <strong>der</strong> Delegierten auf <strong>der</strong> bolschewistischen Konferenz des Moskauer<br />
Distrikts, einen Monat nach dem Kornilowschen Aufstand, einen Monat vor dem<br />
Aufitand <strong>der</strong> Bolschewiki, atmen Zuversicht und Mut. In Nischnij-Nowgorod erwacht<br />
die Partei nach zwei Monaten Nie<strong>der</strong>geschlagenheit wie<strong>der</strong> zu vollem Leben. Sozialrevolutionäre<br />
Arbeiter gehen zu Hun<strong>der</strong>ten in die Reihen <strong>der</strong> Bolschewiki über. In Twer<br />
entwickelt sich eine ausgedehnte Parteiarbeit erst nach den Kornilowtagen. Die<br />
Versöhn1er fallen durch, man hört nicht auf sie, jagt sie davon. Im Gouvernement Wladimir<br />
hat sich die Lage <strong>der</strong> Bolschewiki <strong>der</strong>art gefestigt, daß auf dem Gouvernementskongreß<br />
<strong>der</strong> Sowjets nur fünf Menschewiki zu entdecken sind und drei Sozialrevolutionäre.<br />
In Iwanowo-Wosnessensk, dem <strong>russischen</strong> Manchester, fällt die gesamte Arbeit in<br />
Sowjet, Duma und Semstwo den Bolschewiki als den alleinigen Herren zu.<br />
Es wachsen die Organisationen <strong>der</strong> Partei, doch unermeßlich rascher wächst <strong>der</strong>en<br />
Anziehungskraft. Das Mißverhältnis zwischen den technischen Hilfsquellen <strong>der</strong> Bolsche-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 499
wiki und ihrem politischen spezifischen Gewicht findet seinen Ausdruck in <strong>der</strong> verhältnismäßig<br />
geringen Zahl <strong>der</strong> Parteimitglie<strong>der</strong> bei gewaltiger Zunahme des<br />
Parteieinflusses. Die Ereignisse ziehen so schnell und gebieterisch die Massen in ihren<br />
Strudel herein, daß den Arbeitern und Soldaten nicht Zeit bleibt, sich in einer Partei zu<br />
organisieren. Es fehlt ihnen sogar die Zeit, um die Notwendigkeit einer beson<strong>der</strong>en<br />
Parteiorganisation zu begreifen. Sie nehmen die bolschewistischen Parolen ebenso narurnotwendig<br />
in sich auf, wie sie Luft einatmen. Daß die Partei ein kompliziertes Laboratorium<br />
ist, wo die Parolen durch Kollektiverfahrung ausgearbeitet werden, ist ihnen noch<br />
unklar. Hinter den Sowjets stehen mehr als zwanzig Millionen Menschen. Die Partei, die<br />
sogar am Vorabend <strong>der</strong> Oktoberumwälzung in ihren Reihen nicht mehr als zweihun<strong>der</strong>tundvierzigtausend<br />
Mitglie<strong>der</strong> zählt, führt durch Gewerkschaften, Fabrikkomitees und<br />
Sowjets immer sicherer Millionen hinter sich.<br />
In dem bis auf den Grund erschütterten unermeßlichen Lande mit einer unerschöpflichen<br />
Mannigfaltigkeit lokaler Bedingungen und politischer Niveaus finden tagtäglich<br />
irgendwelche Wahlen statt: zu Dumas, Semstwos, Sowjets, Gewerkschaften, Fabrik-,<br />
Armee- o<strong>der</strong> Landkomitees. Und durch alle diese Wahlen zieht sich wie ein roter Faden<br />
die eine unabän<strong>der</strong>liche Tatsache: das Anwachsen <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Wahlen zu den<br />
Moskauer Bezirksdumas haben durch den schroffen Wechsel <strong>der</strong> Stimmung in den<br />
Massen das Land beson<strong>der</strong>s verblüfft. Die "große" Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre behielt<br />
von den Dreihun<strong>der</strong>fünfundsiebzigtausend, die sie im Juni aufwies, Ende September nur<br />
Vierundfünfzigtausend. Die Menschewiki sanken von Sechsundsiebzigtausend auf<br />
Sechzehntausend. Die Kadetten behielten Hun<strong>der</strong>tundeintausend, sie verloren nur etwa<br />
Achttausend. Dagegen stiegen die Bolschewiki von Fünfundsiebzigtausend auf Hun<strong>der</strong>tachtundneunzigtausend.<br />
Hatten die Sozialrevolutionäre im Juni etwa 58 Prozent <strong>der</strong><br />
Stimmen gesammelt, so vereinigten im September die Bolschewiki 52 Prozent auf sich.<br />
Die Garnison stimmte zu 90 Prozent, in einigen Truppenteilen zu mehr als 95 Prozent für<br />
Bolschewiki: in den Werkstätten <strong>der</strong> schweren Artillerie erhielten die Bolschewiki von<br />
zweitausenddreihun<strong>der</strong>tsiebenundvierzig [2.347] Stimmen<br />
zweitausendzweihun<strong>der</strong>tsechsundachtzig [2.286]. Die große Zahl <strong>der</strong> Nichtwähler entfiel<br />
hauptsächlich auf jenes kleinere Stadtvolk, das sich im Taumel <strong>der</strong> ersten Illusionen den<br />
Versöhn1cm angeschlossen hatte, um bald wie<strong>der</strong> ins Nichts zurückzukehren. Die<br />
Menschewiki schmolzen völlig zusammen. Die Sozialrevolutionäre erhielten halb soviel<br />
Stimmen wie die Kadetten, die Kadetten - halb soviel wie die Bolschewiki. Die Septemberstimmen<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki waren erobert in erbittertem Kampfe gegen alle an<strong>der</strong>en<br />
Parteien. Das waren zuverlässige Stimmen. Auf sie konnte man bauen. Das Wegspülen<br />
<strong>der</strong> Zwischengruppen, die beträchtliche Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit des bürgerlichen Lagers<br />
und das gigantische Anwachsen <strong>der</strong> verhaßten und verfolgten proletarischen Partei - all<br />
das waren untrügliche Symptome einer revolutionären Krise. »Ja, die Bolschewiki arbeiteten<br />
emsig und beharrlich«, schreibt Suchanow, <strong>der</strong> selbst zur geschlagenen Partei <strong>der</strong><br />
Menschewiki gehörte, »sie waren bei den Massen, an den Werkbänken, täglich, ständig<br />
... sie gehörten zu ihnen, weil sie stets da waren - in Kleinigkeiten wie im Wichtigsten das<br />
Leben <strong>der</strong> Betriebe und <strong>der</strong> Kaserne leitend ... Die Masse lebte und atmete gemeinsam<br />
mit den Bolschewiki. Sie war in den Händen <strong>der</strong> Partei von Lenin und Trotzki.«<br />
Die politische Karte <strong>der</strong> Front zeichnete sich durch höchste Buntheit aus. Es gab<br />
Regimenter und Divisionen, die noch niemals einen Bolschewiken gehört und gesehen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 500
hatten; viele von ihnen waren aufrichtig erstaunt, wenn man sie selbst des Bolschewismus<br />
beschuldigte. An<strong>der</strong>erseits traf man Truppenteile, die ihre eigenen anarchistischen<br />
Stimmungen mit einem Anflug von Schwarzhun<strong>der</strong>ttum für reinsten Bolschewismus<br />
hielten. Die Stimmungen <strong>der</strong> Front glichen sich nach einer Richtung aus. Aber im<br />
grandiosen politischen Strom, dessen Flußbett die Schützengräben darstellten, gab es<br />
nicht selten Gegenströmungen, Wasserwirbel und nicht wenig Schlamm.<br />
Im September durchbrachen die Bolschewiki den Kordon und erhielten Zutritt zur<br />
Front, von <strong>der</strong> sie zwei Monate lang ernstlich abgeschnitten waren. Das Verbot war<br />
offiziell auch jetzt nicht aufgehoben. Die Versöhnlerkomitees taten alles, um das<br />
Eindringen <strong>der</strong> Bolschewiki in ihre Truppenteile zu verhin<strong>der</strong>n; aber alle Bemühungen<br />
blieben erfolglos. Die Soldaten hatten so viel von ihrem eigenen Bolschewismus vernommen,<br />
daß alle ausnahmslos darauf brannten, einen lebendigen Bolschewiken zu sehen<br />
und zu hören. Formale Hin<strong>der</strong>nisse, Verschleppung und Verzögerung, von den Komiteeführern<br />
ausgeklügelt, wurden durch das Andrängen <strong>der</strong> Soldaten hinweggeschwemmt,<br />
sobald nur die Nachricht von <strong>der</strong> Ankunft eines Bolschewiken sie erreichte. Die alte<br />
<strong>Revolution</strong>ärin Jewgenja Bosch, die in <strong>der</strong> Ukraine große Arbeit geleistet hat, hinterließ<br />
grelle Erinnerungen an ihre kühnen Exkursionen in das unberührte Soldatendickicht.<br />
Besorgte Warnungen echter und falscher Freunde wurden allemal wi<strong>der</strong>legt. Bei <strong>der</strong><br />
Division, die man als den Bolschewiki erbittert-feindselig charakterisiert hatte,<br />
überzeugte sich die sehr behutsam an das Thema herangehende Rednerin sehr bald, daß<br />
die Hörer mit ihr waren. »Kein Spucken, Husten, Schnäuzen, erste Anzeichen <strong>der</strong><br />
Ermüdung eines Soldatenauditoriums, nein - völlige Stille und Ruhe.« Die Versammlung<br />
endete mit einer srürmischen Apotheose zu Ehren <strong>der</strong> kühnen Agitatorin. Die gesamte<br />
Reise Jewgenja Boschs durch die Front war in ihrer Art ein Triumphzug. Weniger<br />
heroisch, weniger effektvoll, aber im wesentlichen ähnlich verlief die Sache auch bei den<br />
Agitatoren von geringerem Format.<br />
Neue o<strong>der</strong> auf neue Art überzeugende Ideen, Parolen und Verallgemeinerungen<br />
drangen in das abgestandene Leben <strong>der</strong> Schützenggräben. Millionen Soldatenköpfe<br />
verarbeiteten die Ereigmsse, Schlußfolgerungen ziehend aus <strong>der</strong> politischen Erfahrung.<br />
»... Liebe Arbeiter und Soldatengenossen«, schreibt ein Frontler an eine Zeitungsredaktion,<br />
»laßt diesem bösen Buchstaben K, <strong>der</strong> die ganze Welt an die blutige Schlächterei<br />
verraten hat, nicht seinen Willen. Da ist <strong>der</strong> oberste Mör<strong>der</strong> Koljka (Nikolaus II.),<br />
Kerenski, Kornilow, Kaledin, Kadetten und überall <strong>der</strong> Buchstabe K. Die Kosaken sind<br />
für uns auch gefährliche Leute ... Sidor Nikolajew.« Man braucht nicht Aberglauben<br />
darin zu suchen; es ist nur ein Verfahren politischer Mnemotechnik.<br />
Der aus dem Hauptquartier hervorgegangene Aufstand mußte jede Soldatenfiber<br />
erschüttern. Die äußere Disziplin, für <strong>der</strong>en Wie<strong>der</strong>herstellung so viel Mühen und Opfrr<br />
verausgabt worden waren, riß wie<strong>der</strong> in allen Nähten. Der Kriegskommissar <strong>der</strong><br />
Westfront, Schdanow, berichtet: »Die Stimmung ist im allgemeinen nervös ... mißtrauisch<br />
gegen Offiziere, lauernd: Nichterfüllung von Befehlen wird damit erklärt, daß es<br />
Kornilowsche Befehle seien, die man nicht ausführen dürfe.« Im gleichen Sinne schreibt<br />
Stankewitsch, <strong>der</strong> Filonenko auf dem Posten des Oberkommissars abgelöst hatte: »Die<br />
Soldatenmasse ... fühlte sich von allen Seiten von Verrat umgeben ... Wer es ihr auszureden<br />
suchte - schien ihr ebenfalls ein Verräter.«<br />
Für die Ka<strong>der</strong>offiziere bedeutete <strong>der</strong> Zusammenbruch des Kornilowschen Abenteuers<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 501
den Zusammenbruch <strong>der</strong> letzten Hoffnungen. Das Selbstgefühl des Kommandobestandes<br />
war auch vorher nicht glänzend gewesen. Wir haben Ende August die militärischen<br />
Verschwörer in Petrograd beobachtet: versoffen, prahlerisch, willenlos. Jetzt fühlte sich<br />
<strong>der</strong> Offizierstand völlig ausgestoßen und verurteilt. »Dieser Haß, diese Hetze«, schreibt<br />
einer von ihnen, »das absolute Nichtstun und die ewige Erwartung einer Verhaftung<br />
o<strong>der</strong> eines schmachvollen Todes trieb die Offiziere in Restaurants, Chambres separees,<br />
Hotels ... In diesem Säuferrausche ertranken die Offiziere.« Im Gegensatz dazu lebten<br />
Soldaten und Matrosen nüchterner denn je: sie waren von neuer Hoffnung erfaßt.<br />
»Die Bolschewiki«, schreibt Stankewitsch, »erhoben die Köpfe und fühlten sich völlig<br />
als Herren in <strong>der</strong> Armee ... Die unteren Komitees begannen sich in bolschewistische<br />
Zellen zu verwandeln. Alle Wahlen bei <strong>der</strong> Armee ergaben erstaunliche Zunahmen an<br />
bolschewistischen Stimmen. Es kann dabei nicht außer acht gelassen werden, daß die<br />
beste, strammste Armee nicht nur <strong>der</strong> Nordfront, son<strong>der</strong>n vielleicht <strong>der</strong> gesamten <strong>russischen</strong><br />
Front, die fünfte, als erste ein bolschewistisches Armeekomitee gestellt hat.«<br />
Noch krasser, sichtbarer, farbiger bolschewisierte sich die Flotte. Die baltischen Matrosen<br />
zogen am 8. September auf allen Schiffen Gefechtsflaggen hoch, als Ausdruck ihrer<br />
Bereitschaft, für den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft<br />
zu kämpfen. Die Flotte for<strong>der</strong>te den sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten,<br />
Übergabe des Bodens an die Bauernkomitees und Errichtung einer Arbeiterkontrolle<br />
über die Produktion. Drei Tage später erhob das Zentralkomitee <strong>der</strong> rückständigeren und<br />
gemäßigteren Schwarzmeerflotte, die Balten unterstützend, die Losung <strong>der</strong> Übergabe <strong>der</strong><br />
Macht an die Sowjets. Für die gleiche Losung erheben Mitte September ihre Stimmen<br />
dreiundzwanzig sibirische und lettische Infanterieregimenter <strong>der</strong> 12. Armee. Ihnen folgen<br />
immer neue Truppenteile. Die For<strong>der</strong>ung, die Macht den Sowjets, verschwindet in<br />
Armee und Flotte nicht mehr von <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />
»Die Matrosenversammlungen«, erzählt Stankewitseh, »bestanden zu neun Zehnteln<br />
aus Bolschewiki.« Der neue Kommissar beim Hauptquartier hatte in Reval vor den<br />
Seeleuten die Provisorische Regierung zu verteidigen. Bei den ersten Worten verspürte<br />
er das Vergebliche seiner Bemühungen. Schon bei dem Wort "Regierung" grenzte sich<br />
<strong>der</strong> Saal feindselig ab: »Wellen <strong>der</strong> Empörung, des Hasses und des Mißtrauens erfaßten<br />
jäh die gesamte Menge. Das war grell, machtvoll, leidenschaftlich, unüberwindlich und<br />
verschmolz in dem einmütigen Schrei: Nie<strong>der</strong>!« Man muß dem Erzähler Gerechtigkeit<br />
wi<strong>der</strong>fahren lassen, <strong>der</strong> es nicht versäumte, die Schönheit des Vorstoßes <strong>der</strong> ihm<br />
todfeindlichen Massen zu verzeichnen.<br />
Die Friedensfrage, für zwei Monate in die Illegalität verjagt, tritt mit verzehnfaehter<br />
Kraft an die Oberfläche. In <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets erklärte <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Front eingetroffene Offizier Dubassow: »Was ihr hier auch sagen möget, die Soldaten<br />
werden nicht mehr Krieg führen.« Zwischenrufe: »Das sagen nicht einmal die Bolschewiki!«<br />
... Doch <strong>der</strong> Offizier, Nichtbolschewik, parierte: »Ich berichte nur das, was ich<br />
weiß und was mich die Soldaten zu sagen beauftragt haben.« Ein an<strong>der</strong>er Frontler, ein<br />
düsterer Soldat, dessen Rock vom Schmutz und Gestank <strong>der</strong> Schützengräben strotzte,<br />
erklärte in den gleichen Septembertagen vor dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, die Soldaten<br />
brauchten Frieden, welcher immer es sei, und wenn auch »irgendeinen unflätigen«. Diese<br />
<strong>der</strong>ben Soldatenworte machten den Sowjet erschauern. So weit also ist es gekommen!<br />
Die Soldaten an <strong>der</strong> Front waren keine kleinen Kin<strong>der</strong>. Sie begriffen sehr wohl, daß bei<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 502
<strong>der</strong> gegebenen "Kriegskarte" <strong>der</strong> Frieden nur ein Gewaltfrieden sein konnte. Um dieses<br />
Verständnis zu dokumentieren, wählte <strong>der</strong> Schützengrabendelegierte das gröbste Wort,<br />
das die ganze Kraft seines Ekels vor dem Hohenzollernschen Frieden ausdrückte. Aber<br />
gerade durch diese entblößende Bewertung zwang <strong>der</strong> Soldat seine Hörer, zu begreifen,<br />
daß es einen an<strong>der</strong>en Weg nicht gibt, daß <strong>der</strong> Krieg <strong>der</strong> Armee die Seele ausgepumpt hat,<br />
daß <strong>der</strong> Frieden sofort und um jeden Preis notwendig ist. Die Worte des Redners aus dem<br />
Schützengraben wurden von <strong>der</strong> bürgerlichen Presse schadenfroh aufgegriffen und den<br />
Bolschewiki zugeschoben. Das Wort vom unflätigen Frieden verschwand nun nicht mehr<br />
von <strong>der</strong> Tagesordnung, als äußerster Ausdruck <strong>der</strong> Verwil<strong>der</strong>ung und Ver<strong>der</strong>btheit des<br />
Volkes!<br />
In <strong>der</strong> Regel waren die Versöhnler keineswegs geneigt, gleich dem politischen Dilettanten<br />
Stankewitsch die Prächtigkeit <strong>der</strong> Flut zu bewun<strong>der</strong>n, die sie aus <strong>der</strong> revolutionären<br />
Arena wegzuspülen drohte. Mit Staunen und Entsetzen überzeugten sie sich<br />
tagtäglich, daß sie über keine Wi<strong>der</strong>standskraft verfügten. Im Grunde hatte sich unter<br />
dem Vertrauen <strong>der</strong> Massen für die Versöhnler von den ersten Stunden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an<br />
ein historisch unvermeidliches, aber nicht langandauerndes Mißverständnis verborgen:<br />
zu seiner Aufdeckung waren nur wenige Monate erfor<strong>der</strong>lich. Die Versöhnler sahen sich<br />
gezwungen, mit den Arbeitern und Soldaten eine ganz an<strong>der</strong>e Sprache zu sprechen als im<br />
Exekutivkomitee und beson<strong>der</strong>s im Winterpalais. Verantwortliche Führer <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki wagten es von Woche zu Woche immer weniger, auf<br />
offenem Platze zu erscheinen. Agitatoren zweiter und dritter Ordnung paßten sich mit<br />
Hilfe zweideutiger Redensarten dem sozialen Radikalismus des Volkes an o<strong>der</strong> aber<br />
wurden aufrichtig von den Stimmungen <strong>der</strong> Betriebe, Zechen und Kasernen angesteckt,<br />
sprachen <strong>der</strong>en Sprache und lösten sich von den eigenen Parteien los.<br />
Der Matrose Chowrin berichtet in seinen Erinnerungen, wie die Seeleute, die sich zu<br />
den Sozialrevolutionären zählten, in Wirklichkeit für die bolschewistische Plättform<br />
kämpften. Dies wurde überall und allerorts beobachtet. Das Volk wußte, was es wollte,<br />
wußte aber nicht, dies beim Namen zu nennen. Das <strong>der</strong> Februarrevolution innerlich<br />
anhaftende "Mißverständnis" hatte Massen- und Volkscharakter, beson<strong>der</strong>s auf dem<br />
Lande, wo es länger anhielt als in <strong>der</strong> Stadt. Ordnung in das Chaos hineinzubringen,<br />
vermochte nur die Erfahrung. Ereignisse, große und kleine, durchrüttelten unermüdlich<br />
die Massenparteien und brachten ihren Bestand in Einklang mit ihrer Politik, nicht aber<br />
mit dem Aushängeschild.<br />
Ein bemerkenswertes Muster des qui pro quo 10 zwischen den Versöhnlern und den<br />
Massen bietet ein Schwur, den Anfang Juli zweitausend Bergleute des Donezbeckens<br />
kniend mit entblößten Häuptern, in Anwesenheit und unter Teilnahme einer fünftausendköpfigen<br />
Menge, ablegten. »Wir schwören bei unseren Kin<strong>der</strong>n, bei Gott, Himmel und<br />
Erde und allem Heiligen, was wir auf Erden haben, daß wir niemals die am 28. Februar<br />
blutig errungene Freiheit preisgeben werden; im Glauben an die Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki schwören wir, niemals auf die Leninisten zu hören, weil sie, die<br />
Bolschewiki-Leninisten, durch ihre Agitation Rußland dem Untergang entgegenführen,<br />
während Sozialrevolutionäre und Menschewiki, vereint in einem Bunde, sagen: den<br />
Boden dem Volke, Boden ohne Ablösung, das kapitalistische Regime muß nach dem<br />
Kriege zosammenstürzen, und statt des Kapitalismus muß das sozialistische Regime sein<br />
10 Verwechslung einer Person mit einer an<strong>der</strong>en.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 503
... Wir leisten den Schwur, diesen Parteien zu folgen, ohne vor dem Tode zurückzuschrecken.«<br />
Der gegen die Bolschewiki gerichtete Schwur <strong>der</strong> Bergarbeiter führte in<br />
Wirklichkeit direkt zur bolschewistischen Umwälzung. Die Februarhülle und <strong>der</strong><br />
Oktoberkern treten in dieser naiven und leidenschaftlichen Charte mit solcher Anschaulichkeit<br />
hervor, daß sie in ihrer Art das Problem <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> erschöpfen.<br />
Im September bereits kehrten die Donez-Bergleute, ohne sich o<strong>der</strong> ihrem Schwur<br />
untreu zu werden, den Versöhnlem den Rücken. Das gleiche machten auch die allerrückständigsten<br />
Abteilungen <strong>der</strong> Uraler Bergleute durch. Ein Mitglied des Exekutivkomitees,<br />
<strong>der</strong> Sozialrevolutionär Oschegow, Vertreter vom Ural, besuchte Anfang August seinen<br />
Ischewsker Betrieb. »Ich war furchtbar erstaunt«, schreibt er in seinem wehmütigen<br />
Bericht, »über die schroffen Verän<strong>der</strong>ungen, die in meiner Abwesenheit stattgefunden<br />
hatten: Jene Parteiorganisation <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre, die sowohl ihrer Zahl (achttausend<br />
Menschen) wie ihrer Tätigkeit nach dem gesamten Uraler Distrikt bekannt war ...<br />
erwies sich als zersetzt und bis auf fünfhun<strong>der</strong>t Mann geschwächt, dank verantwortungsloser<br />
Agitatoren.«<br />
Oschegows Bericht brachte dem Exekutivkomitee nichts Überraschendes: das gleiche<br />
Bild war auch in Petrograd zu beobachten. Wenn nach <strong>der</strong> Julizertrümmerung die Sozialrevolutionäre<br />
in den Betrieben vorübergehend sich erholt und hier und dort ihren Einfluß<br />
sogar verbreitert hatten, so wird ihr Hinschwinden in <strong>der</strong> Folge desto unaufhaltsamer.<br />
»Zwar hatte Kerenskis Regierung damals gesiegt« schrieb später <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />
W. Sensinow, »die bolschewistischen Demonstranten wurden zerstreut, die Häupter <strong>der</strong><br />
Bolschewiki verhaftet, aber das war ein Pyrrhussieg.« Ganz richtig: Wie <strong>der</strong> König von<br />
Epirus bezahlten die Versöhnler ihren Sieg mit dem Preise ihrer Armee. »Konnten die<br />
Menschewiki und Sozialrevolutionäre vor dem 3. - 5. Juli«, schreibt <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Arbeiter Skorinko, »manchmal vor Arbeitern erscheinen, ohne ausgepfiffen zu werden,<br />
so besaßen sie jetzt diese Garantie nicht« ... Garantien blieben ihnen überhaupt nicht<br />
mehr.<br />
Die Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre verlor nicht nur ihren Einfluß, son<strong>der</strong>n verän<strong>der</strong>te<br />
auch ihren sozialen Bestand. Die revelutionären Arbeiter waren entwe<strong>der</strong> bereits zu den<br />
Bolschewiki übergegangen o<strong>der</strong> machten vor dem Abmarsch eine innere Krise durch.<br />
Dagegen hatten die Söhne <strong>der</strong> Krämer, Kulaken und kleineren Beamten, die sich<br />
während des Krieges in den Fabriken vor dem Schützengraben gedrückt hatten, Zeit<br />
gefunden, sich davon zu überzeugen, daß ihr Platz gerade in <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />
Partei war. Jedoch im September wagten auch sie bereits nicht mehr, sich Sozialrevolutionäre<br />
zu nennen, wenigstens nicht in Petrograd. Arbeiter, Soldaten, in einigen Gouvernements<br />
auch Bauern, verließen die Partei, es verblieben in ihr konservative Beamtenund<br />
Kleinbürgerschichten.<br />
Als die durch die Umwälzung erwachten Massen ihr Vertrauen noch den Sozialrevolutionären<br />
und Menschewiki entgegenbrachten, waren beide Parteien nicht müde, die hohe<br />
Aufgeklärtheit des Volkes zu rühmen. Als die gleichen Massen, nachdem sie die Schule<br />
<strong>der</strong> Ereignisse passiert hatten, sich schroff in die Richtung <strong>der</strong> Bolschewiki wandten,<br />
schoben die Versöhnler die Schuld an ihrem Zusammenbruch auf die Finsternis des<br />
Volkes. Die Massen jedoch mochten nicht glauben, daß sie finsterer geworden waren, im<br />
Gegenteil, ihnen schien es, als begriffen sie jetzt, was sie früher nicht begriffen hatten.<br />
Während sie ausblich und erschlaffte, spaltete sich die sozialrevolutionäre Partei<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 504
darüber hinaus auf <strong>der</strong> sozialen Linie, wobei ihre Mitglie<strong>der</strong> in verschiedene sich<br />
bekämpfende Lager geworfen wurden. In Regimentern und Dörfern verblieben jene<br />
Sozialrevolutionäre, die gemeinsam mit den Bolschewiki, und in <strong>der</strong> Regel unter <strong>der</strong>en<br />
Leitung, sich gegen die Schläge <strong>der</strong> Regierungssozialrevolutionäre wehrten. Die Zuspitzung<br />
des Kampfes <strong>der</strong> Flügel rief eine Zwischengruppierung ins Leben. Unter Tschernows<br />
Leitung versuchte sie die Einheit zwischen Verfolgern und Verfolgten herzustellen,<br />
stand störend im Wege, geriet in verzweifelte, häufig lächerliche Wi<strong>der</strong>sprüche und<br />
kompromittierte die Partei noch stärker. Um sich die Möglichkeit zu verschaffen, vor<br />
einem Massenauditorium aufzutreten, mußten sich die sozialrevolutionären Redner<br />
beharrlich als "Linke", als Internationalisten empfehlen, die nichts gemein hätten mit <strong>der</strong><br />
Clique <strong>der</strong> März-Sozialrevolutionäre. Nach den Julitagen gingen die linken Sozialrevolutionäre<br />
in offene Opposition über und übernahmen, ohne formell schon mit <strong>der</strong> Partei zu<br />
brechen, mit Verspätung Argumente und Parolen <strong>der</strong> Bolschewiki. Am 21. September<br />
erklärte Trotzki in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets nicht ohne pädagogischen Hintergedanken,<br />
es werde den Bolschewiki »immer leichter, sich mit den linken Sozialrevolutionären<br />
zu verständigen«. Endlich trennten sie sich als eine selbständige Partei ab, um in<br />
das Buch <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>lichsten Seiten einzutragen. Es war das letzte<br />
Aufflackern des selbstgenügsamen Intelligenzler-Radikalismus, und wenige Monate nach<br />
dem Oktober war von ihm nur ein kleines Häuflein Asche übrig geblieben.<br />
Die Differenzierung erfaßte tiefgehend auch die Menschewiki. Ihre Petrogra<strong>der</strong><br />
Organisation befand sich in scharfer Opposition zum Zentralkomitee. Der von Zeretelli<br />
geführte Grundkern schmolz, ohne über Bauernreserven zu verfügen wie die Sozialrevolutionäre,<br />
noch rapi<strong>der</strong> als die letzteren. Die sozialdemokratischen Zwischengruppen, die<br />
sich keinem <strong>der</strong> beiden Hauptlager angeschlossen hatten, versuchten noch immer die<br />
Bolschewiki mit den Menschewiki zu vereinigen: sie verbrauchten noch die Reste jener<br />
Illusionen vom März, wo sogar Stalin die Vereinigung mit Zeretelli als wünschenswert<br />
erachtet und gehofft hatte, daß »wir innerhalb <strong>der</strong> Partei die kleinen Meinungsverschiedenheiten<br />
austragen werden«. Um den 20. August herum fand die Vereinigung <strong>der</strong><br />
Menschewiki mit den Vereinigern selbst statt. Das bedeutende Übergewicht lag bei dem<br />
Vereinigungsparteitag auf seiten des rechten Flügels, und Zeretellis Resolution für Krieg<br />
und für Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie wurde mit einhun<strong>der</strong>tundsiebzehn Stimmen gegen<br />
neunundsiebzig angenommen. Zeretellis Sieg in <strong>der</strong> Partei beschleunigte die Nie<strong>der</strong>lage<br />
<strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> Arbeiterklasse. Die äußerst kleine Petrogra<strong>der</strong> Organisation <strong>der</strong> Arbeiter-Menschewiki<br />
ging mit Martow, ihn vorwärtsstoßend, gereizt durch seine Unentschlossenheit<br />
und im Begriff, zu den Bolschewiki überzugehen. Gegen Mitte September<br />
trat die Wassiliostrower Organisation fast vollzählig in die bolschewistische Partei ein.<br />
Das beschleunigte die Gärung in den an<strong>der</strong>en Bezirken und in <strong>der</strong> Provinz. Die Führer<br />
verschiedener Strömungen des Menschewismus beschuldigten in gemeinsamen Sitzungen<br />
einan<strong>der</strong> wütend <strong>der</strong> Parteizerstörung. Gorkis Zeitung, die dem linken Flügel <strong>der</strong><br />
Mensehewiki nahestand, berichtete Ende September, die Petrogra<strong>der</strong> Parteiorganisation,<br />
die noch kurz zuvor annähernd zehntausend Mitglie<strong>der</strong> zählte, habe »faktisch aufgehört<br />
zu existieren ... Die letzte Stadtkonferenz konnte wegen fehlen<strong>der</strong> Präsenzstärke nicht<br />
zusammentreten«.<br />
Plechanow griff die Menschewiki von rechts an: »Zeretelli und seine Freunde bahnten,<br />
ohne es zu wollen und ohne sich dessen bewußt zu sein, den Weg für Lenin.« Die politi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 505
sche Verfassung Zeretellis in den Tagen <strong>der</strong> Septemberflut ist grell festgehalten in den<br />
Erinnerungen des Kadetten Nabokow: »Der charakteristischste Zug seiner damaligen<br />
Stimmung war Angst vor <strong>der</strong> wachsenden Macht des Bolschewismus. Ich erinnere mich,<br />
wie er in einer Unterhaltung mit mir unter vier Augen von <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Machtergreifung<br />
durch die Bolschewiki sprach. "Gewiß", sagte er, "sie werden nicht mehr als<br />
zwei, drei Wochen bleiben, aber bedenken Sie nur, welche Verwüstungen es geben wird<br />
... Das muß um jeden Preis vermieden werden." In seiner Stimme klang unverfälsehte<br />
panische Furcht.« Vor dem Oktober machte Zeretelli die gleichen Stimmungen durch,<br />
die Nabokow bereits in den Februartagen gut gekannt hatte.<br />
Die Arenta, wo die Bolschewiki Seite an Seite mit den Sozialrevolutionären und<br />
Menschewiki wirkten, wenn auch in ständigem Kampfe gegen sie, waren die Sowjets.<br />
Verän<strong>der</strong>ungen im Kräfteverhälmis <strong>der</strong> Sowjetparteien fanden, wenn allerdings auch<br />
nicht sogleich, son<strong>der</strong>n mit unvermeidlichem Nachhinken und künstlichen Verzögerungen,<br />
ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Zusammensetzung <strong>der</strong> Sowjets und in <strong>der</strong>en öffentlicher<br />
Funktion.<br />
Viele Provinzsowjets, so in Iwanowo-Wosnessensk, Lugansk, Zarizyn, Cherson,<br />
Tomsk, Wladiwostok, stellten bereits vor den Julitagen Machtorgane dar, wenn nicht<br />
formell, so doch faktisch, wenn nicht dauernd, so doch episodisch. Der Krasnojarsker<br />
Sowjet führte eigenmächtig das Kartensystem für Gegenstände des persönlichen Bedarfs<br />
ein. Der Versöhnler-Sowjet in Saratow war gezwungen, sich in ökonomische Konflikte<br />
einzumischen, zu Verhaftungen von Unternehmern zu schreiten, den Belgiern die<br />
Trambahn wegzunehmen, Arbeiterkontrollen einzuführen und in stillgelegten Betrieben<br />
die Produktion zu organisieren. Im Ural, wo seit 1905 <strong>der</strong> Bolschewismus dominierenden<br />
politischen Einfluß genoß, übten die Sowjets häufig über Bürger sogar Justiz und Strafgericht<br />
aus, schufen in etlichen Betrieben eigene Miliz, bezahlten sie aus <strong>der</strong> Fabrikskasse,<br />
organisierten Arbeiterkontrolle, die den Betrieb mit Rohstoff und Heizmaterial<br />
versorgte, überwachten den Absatz <strong>der</strong> Fabrikate und bestimmten Tarifsätze. In einigen<br />
Bezirken des Urals nahmen die Sowjets für öffentliche Anbauzwecke den Gutsbesitzern<br />
Boden weg. In den Situsker Bergwerken organisierten die Sowjets eine Kreisbetriebsverwaltung,<br />
<strong>der</strong> die gesamte Administration, Kasse, Buchhalterei und Annahme von Aufträgen,<br />
unterstellt wurde. Mit diesem Akt wurde im groben die Nationalisierung des<br />
Simsker Bergwerkbezirks durchgeführt. »Schon im Monat Juli«, schreibt B. Elzin, dem<br />
wir diese Angaben entnehmen, »war in den Uraler Werken nicht nur alles in den Händen<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki, son<strong>der</strong>n die Bolschewiki erteilten bereits Anschauungsunterricht für die<br />
Lösung politischer, agrarischer und wirtschaftlicher Fragen.« Diese Lehren waren<br />
primitiv, nicht systematisiert, nicht von einer Theorie erhellt, doch in vielem bestimmten<br />
sie die späteren Wege voraus.<br />
Der Juliumschwung traf viel unmittelbarer die Sowjets als die Partei o<strong>der</strong> die Gewerkschaften,<br />
denn <strong>der</strong> Kampf jener Tage ging vor allem um Leben und Tod <strong>der</strong> Sowjets.<br />
Partei und Gewerkschaften behalten ihre Bedeutung in "friedlichen" Perioden wie in<br />
Zeiten schwerer Reaktion; es verändem sich Aufgaben und Methoden, nicht aber die<br />
grundlegenden Funktionen. Die Sowjets dagegen können nur auf <strong>der</strong> Basis einer revolutionären<br />
Situation bestehen und verschwinden zusammen mit ihr. Die Mehrheit <strong>der</strong><br />
Arbeiterklasse vereinigend, stellen sie diese unmittelbar vor eine Aufgabe, die sich über<br />
alle lokalen, Gruppen- und Fachbedürfnisse; über Flick-, Korrektur- und Reformpro-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 506
gramme überhaupt erhebt, das heißt vor die Aufgabe <strong>der</strong> Machteroberung. Die Losung<br />
"Alle Macht den Sowjets" schien jedoch zusammen mit <strong>der</strong> Julidemonstration <strong>der</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten zerschlagen. Die Nie<strong>der</strong>lage, die die Bolschewiki in den Sowjets<br />
geschwächt hatte, hatte unermeßlich stärker die Sowjets im Staate geschwächt. Die<br />
"Rettungsregierung" bedeutete das Wie<strong>der</strong>aufleben <strong>der</strong> Unabhängigkeit <strong>der</strong> Bürokratie.<br />
Der Verzicht <strong>der</strong> Sowjets auf die Macht bedeutete Erniedrigung vor den Kommissaren,<br />
Siechtum, Hinwelken.<br />
Das Sinken <strong>der</strong> Bedeutung des Zentral-Exekutivkomitees fand einen krassen äußeren<br />
Ausdruck: die Regierung stellte an die Versöhnler das Ansinnen, das Taurische-Palais zu<br />
räumen, da es für die Ansprüche <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung reparaturbedürftig<br />
sei. Den Sowjets wurde in <strong>der</strong> zweiten Julihälfte das Gebäude des Smolny-lnstituts<br />
angewiesen, wo bis dahin die Töchter des vornehmen Adels erzogen worden waren. Die<br />
bürgerliche Presse schrieb nun von <strong>der</strong> Übergabe des Hauses <strong>der</strong> »weißen Täubchen« an<br />
die Sowjets beinahe im gleichen Tone wie früher über die Besetzung des Kschessinskaja-<br />
Palais durch die Bolschewiki. Verschiedene revolutionäre Organisationen, darunter auch<br />
Gewerkschaften, die requirierte Gebäude innehatten, wurden auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />
Wohnungsfrage einer einheitlichen Attacke ausgesetzt. Es ging um nichts an<strong>der</strong>es, als<br />
um das Hinausdrängen <strong>der</strong> Arbeiterrevolution aus den von ihr auf Kosten <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Gesellschaft angeeigneten übermäßig großen Wohnräumen. Die Kadettenpresse<br />
kannte keine Grenze <strong>der</strong> allerdings verspäteten Empörung über das vandalenhafte<br />
Eindringen des Volkes in die Rechte des Privat- und Staatseigentums. Ende Juli jedoch<br />
wurde durch die graphischen Arbeiter eine überraschende Tatsache aufgedeckt: die um<br />
das berüchtigte Komitee <strong>der</strong> Reichsduma gruppierten Parteien haben, wie sich herausstellt,<br />
schon längst für ihre Bedürfnisse sich die außerordentlich reiche Staatsdruckerei,<br />
<strong>der</strong>en Expedition und <strong>der</strong>en Recht auf Literaturversand angeeignet. Agitationsbroschüren<br />
<strong>der</strong> Kadettenpartei werden nicht nur unentgeltlich gedruckt, son<strong>der</strong>n auch tonnenweise,<br />
und zwar außerhalb <strong>der</strong> Reihe, im ganzen Lande portofrei versandt. Das Exekutivkomitee,<br />
vor die Notwendigkeit gestellt, die Beschuldigung nachzuprüfen, mußte sie bestätigen.<br />
Die Kadettenpartei fand allerdings einen neuen Anlaß zur Entrüstung: könne man<br />
denn tatsächlich auch nur für eine Minute Besetzungen von Staatsgebäuden zu zerstörerischen<br />
Zwecken auf eine Stufe stellen mit <strong>der</strong> Ausnutzung staatlichen Eigentums zum<br />
Zwecke des Schutzes höherer Werte? Mit einem Wort, wenn auch diese Herren den Staat<br />
ein wenig bestahlen, so doch in dessen eigenem Interesse. Aber dieses Argument schien<br />
nicht allen überzeugend. Die Bauarbeiter meinten, sie besäßen mehr Rechte auf einen<br />
Raum für ihre Gewerkschaft als die Kadetten auf die Staatsdruckerei. Die Meinungsverschiedenlieit<br />
war keine zufällige: sie eben führte zur zweiten <strong>Revolution</strong>. Die Kadetten<br />
waren jedenfalls gezwungen, sich ein wenig auf die Zunge zu beißen.<br />
Einer <strong>der</strong> Instruktoren des Exekutivkomitees, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> zweiten Augusthälfte die<br />
Sowjets Südrußlands bereiste, wo die Bolschewiki bedeutend schwächer waren als im<br />
Norden, berichtete über seine wenig tröstlichen Beobachtungen: »Die politische<br />
Stimmung verän<strong>der</strong>t sich merklich ... Bei den Spitzen <strong>der</strong> Massen nimmt die revolutionäre<br />
Stimmung zu, hervorgerufen durch den Ruck in <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung ... In den Massen selbst spürt man Müdigkeit und Gleichgültigkeit für die<br />
<strong>Revolution</strong>. Es läßt sich eine starke Abkühlung gegen die Sowjets beobachten ... Die<br />
Funktionen <strong>der</strong> Sowjets werden allmählich abgebaut ... « Daß die Massen des Hin und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 507
Her <strong>der</strong> demokratischen Vermittler müde geworden waren, ließ sich nicht bestreiten.<br />
Abgekühlt jedoch waren sie nicht gegen die <strong>Revolution</strong>, son<strong>der</strong>n gegen die Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki. Die Lage wurde beson<strong>der</strong>s dort unerträglich, wo die Macht,<br />
allen Programmen zuwi<strong>der</strong>, in den Händen <strong>der</strong> Versöhnlersowjets konzentriert war:<br />
durch die endgültige Kapitulation des Exekutivkomitees vor <strong>der</strong> Bürokratie gebunden,<br />
wagten sie nicht, ihre Macht zu gebrauchen, und kompromittierten so die Sowjets bei den<br />
Massen. Ein beträchtlicher Teil <strong>der</strong> laufenden Alltagsarbeit ging überdies von den<br />
Sowjets an die demokratischen Munizipalitäten über. Ein noch größerer Teil an die<br />
Gewerkschaften und Fabrikkomitees. Immer unklarer gestaltete es sich: werden die<br />
Sowjets leben bleiben? und was harrt ihrer morgen?<br />
In den ersten Monaten ihres Daseins hatten die Sowjets, die alle an<strong>der</strong>en Organisationen<br />
weit übefflügelten, den Aufbau <strong>der</strong> Gewerkschaften, Fabrikkomitees und Klubs wie<br />
die Leitung <strong>der</strong>en Arbeit auf sich genommen. Inzwischen gerieten jedoch die Arbeiterorganisationen,<br />
die bereits auf eigenen Füßen standen, immer mehr unter Führung <strong>der</strong><br />
Bolschewiki. »Die Fabrikkomitees ...«, schrieb Trotzki im August, »entstehen nicht auf<br />
fliegenden Meetings. Die Masse zeichnet bei <strong>der</strong>en Zusammensetzung jene aus, die an<br />
Ort und Stelle, im Alltagsleben <strong>der</strong> Fabrik, ihre Standhaftigkeit, Sachlichkeit und<br />
Ergebenheit für die Arbeiterinteressen bewiesen haben. Und diese Fabrikkomitees ...<br />
bestehen in überwiegen<strong>der</strong> Mehrheit aus Bolschewiki.« Von Bevormundung <strong>der</strong> Fabrikkomitees<br />
und Gewerkschaften seitens <strong>der</strong> Versöhnlersowjets konnte nicht mehr die Rede<br />
sein, im Gegenteil, hier eröffnete sich ein Feld erbitterten Kampfes. In Fragen, wo die<br />
Massen an ihrem Lebensnerv getroffen wurden, vermochten die Sowjets immer weniger<br />
sich den Gewerkschaften und Fabrikkomitees zu wi<strong>der</strong>setzen. So hatten die Moskauer<br />
Gewerkschaften entgegen dem Sowjetbeschluß den Generalstreik durchgeführt. In<br />
weniger krasser Form fanden ähnliche Konflikte allerorts statt, und in <strong>der</strong> Regel gingen<br />
nicht die Sowjets als Sieger aus ihnen hervor.<br />
Durch den eigenen Kurs in eine Sackgasse getrieben, waren die Versöhnler<br />
gezwungen, für die Sowjets Nebenbeschäftigungen zu "erfinden", sie auf den Weg des<br />
Kulturträgertums überzuleiten, eigentlich Zerstreuung für sie zu suchen. Vergebens: die<br />
Sowjets waren geschaffen für den Kampf um die Macht; für an<strong>der</strong>e Aufgaben existierten<br />
an<strong>der</strong>e, geeignetere Organisationen. »Die gesamte Arbeit, die auf dem menschewistischsozialrevolutionären<br />
Geleise rollte«, schreibt <strong>der</strong> Saratower Bolschewik Antonow,<br />
»verlor jeglichen Sinn ... In <strong>der</strong> Sitzung des Exekutivkomitees gähnten wir bis zur<br />
Unschicklichkeit vor Langerweile: nichtig und leer war die sozialrevolutionär-menschewistische<br />
Schwatzbude.«<br />
Die hinsiechenden Sowjets vermochten immer weniger Stütze ihres Petrogra<strong>der</strong><br />
Zentrums zu sein. Die Korrespondenz zwischen dem Smolny und <strong>der</strong> Provinz schlief<br />
allmählich ein: es gab nichts zu schreiben, nichts vorzuschlagen, es blieben keine<br />
Perspektiven, keine Aufgaben mehr. Die Losgelöstheit von den Massen nahm die äußerst<br />
empfindliche Form einer Finanzkrise an. Die Versöhnlersowjets in <strong>der</strong> Provinz waren<br />
selbst mittellos und konnten ihren Stab im Smolny nicht unterstützen; linke Sowjets<br />
verweigerten demonstrativ die Finanzhille dem Exekutivkomitee, das sich durch die<br />
Beteiligung an <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> Konterrevolution befleckt hatte.<br />
Der Welkungsprozeß <strong>der</strong> Sowjets kreuzte sich aber mit Prozessen an<strong>der</strong>er, teilweise<br />
entgegengesetzter Art. Es erwachten die fernen Randgebiete, rückständigen Bezirke,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 508
entlegensten Winkel und schufen ihre Sowjets, die anfangs revolutionäre Frische entwikkelten,<br />
solange sie nicht unter den zersetzenden Einfluß des Zentrums o<strong>der</strong> unter Regierungsrepressalien<br />
gerieten. Die Gesamtzahl <strong>der</strong> Sowjets stieg rapid. Ende August zählte<br />
die Kanzlei des Exekutivkomitees etwa sechshun<strong>der</strong>t Sowjets, hinter denen dreiundzwanzig<br />
Millionen Wähler standen. Das offizielle Sowjetsystem erhob sich über den<br />
Menschenozean, <strong>der</strong> mächtig wogte und seine Wellen nach links trieb.<br />
Die politische Wie<strong>der</strong>auferstehung <strong>der</strong> Sowjets, die mit <strong>der</strong>en Bolschewisierung<br />
zusammenfiel, begann von unten. In Petrograd erhoben als erste die Bezirke die Stimme.<br />
Am 21. Juli präsentierte die Konferenzdelegation <strong>der</strong> vereinigten Bezirkssowjets dem<br />
Exekutivkomitee eine Liste von For<strong>der</strong>ungen: Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma, Bestätigung<br />
<strong>der</strong> Unantastbarkeit <strong>der</strong> Armeeorganisationen durch Regierungsdekret, Wie<strong>der</strong>herstellung<br />
<strong>der</strong> linken Presse, Abbruch <strong>der</strong> Arbeiterentwaffnungen, Einstellung <strong>der</strong> Massenverhaftungen,<br />
Zügelung <strong>der</strong> rechten Presse, Schluß mit dem Auflösen von Regimentern und<br />
den Todesstrafen an <strong>der</strong> Front. Das Hinabschrauben <strong>der</strong> politischen For<strong>der</strong>ungen im<br />
Vergleich zu <strong>der</strong> Julidemonstration ist ganz offensichtlich; doch war es nur <strong>der</strong> erste<br />
Schritt eines Genesenden. Während sie die Losungen beschnitten, waren die Bezirke<br />
bestrebt, die Basis zu verbreitern. Die Führer des Exekutivkomitees begrüßten diplomatisch<br />
die "Feinfühligkeit" <strong>der</strong> Bezirkssowjets, kamen aber dann darauf hinaus, alles<br />
Unheil komme vom Juliaufstande. Die Parteien trennten sich höflich, aber kühl.<br />
Das Programm <strong>der</strong> Bezirkssowjets eröffnet eine eindrucksvolle Kampagne. Die<br />
'Iswestja' drucken tagtäglich. Resolutionen von Sowjets, Gewerkschaften, Betrieben,<br />
Kriegsschiffen und Truppenteilen, die die Auflösung <strong>der</strong> Reichsduma, Einstellung <strong>der</strong><br />
Repressalien gegen die Bolschewiki und Ausmerzung <strong>der</strong> Nachsicht mit <strong>der</strong> Konterrevolution<br />
for<strong>der</strong>n. Von diesem Grundtone hoben sich auch radikalere Stimmen ab. Am 22.<br />
Juli nahm <strong>der</strong> Moskauer Gouvernementssowjet, <strong>der</strong> den Moskauer Sowjet selbst bedeutend<br />
überholt hatte, eine Resolution an für die Machtübergabe an die Sowjets. Am 26.<br />
Juli »brandmarkt mit Verachtung« <strong>der</strong> lwanowo-Wosnessensker Sowjet die Kampfesart<br />
gegen die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki und entbietet seinen Gruß Lenin, »dem ruhmvollen<br />
Führer des revolutionären Proletariats«.<br />
Neuwahlen, die Ende Juli und in <strong>der</strong> ersten Augusthälfte an vielen Punkten des Landes<br />
stattfanden, brachten in <strong>der</strong> Regel eine Stärkung <strong>der</strong> bolschewistischen Sowjetfraktionen.<br />
Im geschlagenen und in ganz Rußland berühmt gewordenen Kronstadt zählte <strong>der</strong> neue<br />
Sowjet hun<strong>der</strong>t Bolschewiki, fünfundsiebzig linke Sozialrevolutionäre, zwölf Menschewiki-Internationalisten,<br />
sieben Anarchisten und über neunzig Parteilose, von denen<br />
keiner es wagte, seine Sympathien für die Versöhnler offen zu bekunden. Auf dem am<br />
18. August eröffneten Distriktkongreß <strong>der</strong> Ural-sowjets gab es sechsundachtzig Bolschewiki,<br />
vierzig Sozialrevolutionäre, dreiundzwanzig Menschewiki. Gegenstand beson<strong>der</strong>en<br />
Hasses <strong>der</strong> bürgerlichen Presse wird Zarizyn, wo nicht nur <strong>der</strong> Sowjet bolschewistisch<br />
ward, son<strong>der</strong>n außerdem zum Oberbürgermeister ein dortiger Führer <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />
Minin, gewählt wurde. Gegen Zarizyn, das dem Doner Ataman Kaledin ein Dorn im<br />
Auge war, schickte Kerenski, ohne jeglichen ernsthaften Vorwand, eine Strafexpedition<br />
mit dem einzigen Ziel: das revolutionäre Nest zu zerstören. In Petrograd, Moskau und<br />
allen Industriebezirken erheben sich für die bolschewistischen Anträge von Mal zu Mal<br />
immer mehr Hände.<br />
Das Augustende unterwarf die Sowjets einer Prüfung. Unter den Schlägen <strong>der</strong> Gefahr<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 509
vollzog sich die innere Umgruppierung zusehends schnell, allgemein und mit verhältnismäßig<br />
gering Reibungen. In <strong>der</strong> Provinz wie in Petrograd rückten an die erste Stelle die<br />
Bolschewiki, Stiefsöhne des offiziellen Sowjetsystems. Aber auch im Bestand <strong>der</strong><br />
Versöhnlerparteien werden die "Märzsozialisten", Politiker <strong>der</strong> Minister- und Beamtenwartezimmer,<br />
von kampffähigeren Elementen illegaler Stählung zeitweilig zurückgedrängt.<br />
Die neue Kräftegruppierung erfor<strong>der</strong>te eine neue Organisationsform. Nirgendwo<br />
lag die Leitung <strong>der</strong> revolutionären Verteidigung in Händen <strong>der</strong> Exekutivkomitees: in <strong>der</strong><br />
Form, in <strong>der</strong> sie <strong>der</strong> Aufstand vorfand, waren sie für Kampfhandlungen wenig geeignet.<br />
Überall wurden beson<strong>der</strong>e Verteidigungskomitees, <strong>Revolution</strong>skomitees und Stäbe<br />
geschaffen. Sie stützten sich auf die Sowjets, legten ihnen Rechenschaft ab, stellten aber<br />
eine neue Auslese <strong>der</strong> Elemente und neue Aktionsmethoden dar, entsprechend dem<br />
revolutionären Charakter <strong>der</strong> Aufgaben.<br />
Der Moskauer Sowjet gründete, wie in den Tagen <strong>der</strong> Staatsberatung, einen Sechserkampfausschuß,<br />
dem allein das Recht zustand, über die bewaffneten Kräfte zu verfügen<br />
und Verhaftungen vorzunehmen. Der Ende August in Kiew eröffnete Distriktkongreß<br />
empfahl den Lokalsowjets, vor <strong>der</strong> Absetzung verhaßter. Vertreter <strong>der</strong> Macht, militärischer<br />
wie ziviler, nicht zurückzuschrecken und Maßnahmen zu treffen zur sofortigen<br />
Verhaftung von Konterrevolutionären und zur Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter. In Wjatka<br />
eignete sich das Sowjetkomitee beson<strong>der</strong>e Vollmachten an, einschließlich <strong>der</strong> Verfügung<br />
über die Militärgewalt. In Zarizyn ging die gesamte Macht an den Sowjetstab über. In<br />
Nischnij-Nowgorod errichtete das <strong>Revolution</strong>skomitee eigene Wachen in Post- und<br />
Telegraphenamt. Der Krassnojarsker Sowjet konzentrierte in seinen Händen Zivil- und<br />
Militärmacht.<br />
Mit den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, mitunter wesentlichen Abweichungen wie<strong>der</strong>holte sich<br />
das Bild fast überall. Und das war keinesfalls einfache Nachahmung Petrograds: <strong>der</strong><br />
Massencharakter <strong>der</strong> Sowjets verlieh ihrer inneren Evolution außerordentliche Gesetzmäßigkeit<br />
und löste bei ihnen einheitliche Reaktion auf die großen Ereignisse aus. Während<br />
zwischen den beiden Hälften <strong>der</strong> Koalition die Front des Bürgerkrieges hindurchging,<br />
versammelten die Sowjets um sich tatsächlich alle lebendigen Kräfte <strong>der</strong> Nation. Gegen<br />
diese Mauer anprallend, zerstob <strong>der</strong> Angriff <strong>der</strong> Generale zu Asche. Eine anschaulichere<br />
Lehre konnte man nicht verlangen. »Trotz allen Bemühungen <strong>der</strong> Regierung, die Sowjets<br />
zu verdrängen und zu entmachten«, lautet eine diesbezügliche Deklaration <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />
»bewiesen die Sowjets die ganze Unerschütterlichkeit ... <strong>der</strong> Macht und Initiative<br />
<strong>der</strong> Volksmassen in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>zwingung des Kornilowschen Aufstandes ...<br />
Nach dieser neuen Prüfung, die nichts mehr aus dem Bewußtsein <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten<br />
und Bauern auslöschen wird, wurde <strong>der</strong> zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von unserer Partei<br />
erhobene Ruf- "Alle Macht den Sowjets" - die Stimme des gesamten revolutionären<br />
Landes.«<br />
Die Stadtdumas, die mit den Sowjets zu rivalisieren versucht hatten, verblaßten und<br />
verkrochen sich in den Tagen <strong>der</strong> Gefahr. Die Petrogra<strong>der</strong> Duma schickte demütig eine<br />
Delegation in den Sowjet "zur Aufklärung über die Gesamtlage und Herstellung eines<br />
Kontaktes". Es sollte scheinen, daß die von einem Teile <strong>der</strong> Stadtbevölkerung gewählten<br />
Sowjets weniger Einfluß und Macht haben mußten als die von <strong>der</strong> gesamten Bevölkerung<br />
gewählten Dumas. Doch die Dialektik des revolutionären Prozesses bewies, daß<br />
unter gewissen historischen Bedingungen ein Teil unermeßlich mehr ist als das Ganze.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 510
Wie in <strong>der</strong> Regierung gingen die Versöhnler auch in <strong>der</strong> Duma im Block mit den Kadetten<br />
gegen die Bolschewiki, und dieser Block paralysierte Duma wie Regierung. Dagegen<br />
erwies sich <strong>der</strong> Sowjet als die natürliche Form zur gemeinsamen Abwehrarbeit <strong>der</strong><br />
Versöhnler und Bolschewiki gegen den Angriff <strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />
Nach den Kornilowtagen begann für die Sowjets ein neues Kapitel. Obwohl den<br />
Versöhnlern, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Garnison, immer noch reichlich warme Plätzchen geblieben<br />
waren, zeigte <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet eine <strong>der</strong>art scharfe bolschewistische Kurve, daß<br />
es beide Lager verblüffte: das rechte wie das linke. In <strong>der</strong> Nacht zum 1. September nahm<br />
<strong>der</strong> Sowjet, noch immer unter Vorsitz Tschcheidses, eine Abstimmung über die Macht<br />
<strong>der</strong> Arbeiter und Bauern vor. Die einfachen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Versöhnlerfraktionen unterstützten<br />
fast ausnahmslos die bolschewistische Resolution. Der konkurrierende Antrag<br />
Zeretellis bekam etwa fünfzehn Stimmen. Das Versöhnlerpräsidium traute seinen Augen<br />
nicht. Rechts verlangte man namentliche Abstimmung, die sich bis 3 Uhr nachts hinzog.<br />
Um nicht offen gegen ihre Partei stimmen zu müssen, entfernten sich viele Delegierte.<br />
Und doch erhielt die Resolution <strong>der</strong> Bolschewiki trotz allen Druckmitteln bei <strong>der</strong> endgültigen<br />
Abstimmung zweihun<strong>der</strong>tundneunundsiebzig Stimmen gegen einhun<strong>der</strong>tundfünfzehn.<br />
Dies war eine bedeutsame Tatsache. Es war <strong>der</strong> Anfang vom Ende. Das betäubte<br />
Präsidium legte seine Vollmachten nie<strong>der</strong>.<br />
Am 2. September nahm die vereinigte Sitzung russischer Sowjetorgane in Finnland mit<br />
siebenhun<strong>der</strong>t Stimmen gegen dreizehn bei sechsunddreißig Stimmenthaltungen eine<br />
Resolution für die Sowjetmacht an. Am 5. betrat <strong>der</strong> Moskauer Sowjet den Weg Petrograds:<br />
mit dreihun<strong>der</strong>tundfünftindfünfzig gegen zweihun<strong>der</strong>tundvierundfünfzig Stimmen<br />
sprach er nicht nur <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, als einem Werkzeug <strong>der</strong> Konterrevolution,<br />
das Mißtrauen aus, son<strong>der</strong>n verurteilte auch die Koalirionspolitik des Exekutivkomitees.<br />
Das von Chintschuk geführte Präsidium trat zurück; Der am 5. September in<br />
Krassnojarsk eröffnete Sowjetkongreß Mittelsibiriens verläuft im Zeichen des Bolschewismus.<br />
Am 8. wird im Kiewer Sowjet <strong>der</strong> Arbeiterdeputierten mit einhun<strong>der</strong>tunddreißig<br />
Stimmen gegen sechsundsechzig eine bolschewistische Resolution angenommen, obwohl<br />
die offizielle bolschewistische Fraktion nur fünfundneunzig Mitglie<strong>der</strong> zählt. Auf dem<br />
am 10. eröffneten Sowjetkongreß Finnlands sind einhun<strong>der</strong>tundfünfzigtausend Matrosen,<br />
Sldaten und russische Arbeiter vertreten durch neunundsechzig Bolschewiki, achtundvierzig<br />
Sozialrevolutionäre und einige Parteilose. Der Sowjet <strong>der</strong> Bauerndeputierten des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Gouvernements wählte als Delegierten zur Demokratischen Beratung den<br />
Bolschewik Sergejew. Wie<strong>der</strong> zeigte es sich, daß dort, wo es <strong>der</strong> Partei gelang, durch<br />
Arbeiter o<strong>der</strong> Soldaten mit dem Dorfe unmittelbare Verbindungen anzuknüpfen, die<br />
Bauernschaft sich gern unter das Banner <strong>der</strong> Partei stellte.<br />
Die Vorherrschaft <strong>der</strong> bolschewistischen Partei im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet ist dramatisch<br />
festgehalten in <strong>der</strong> historischen Sitzung vom 9. September: Alle Fraktionen trommelten<br />
eifrig ihre Mitglie<strong>der</strong> zusammen: »es geht um das Schicksal des Sowjets« Es versammelten<br />
sich etwa tausend Arbeiter- und Soldatendeputierte. War die Abstimmung vom<br />
1. September eine einfache Episode, hervorgerulen durch eine zufällige Zusammensetzung<br />
<strong>der</strong> Versammlung, o<strong>der</strong> ist sie für den völligen Wandel <strong>der</strong> Sowjetpolitik bezeichnend?<br />
- so stand die Frage. Aus <strong>der</strong> Befürchtung heraus, keine Mehrheit gegen das<br />
Präsidium, dem alle Versöhnlerführer: Tschcheidse, Zeretelli, Tschernow, Goz, Dan,<br />
Skobeljew angehörten, zusammenzubekommen, schlug die bolschewistische Fraktion<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 511
vor, ein Proportionalpräsidium zu wählen: dieser Vorschlag, <strong>der</strong> bis zu einem gewissen<br />
Grade die prinzipielle Schärfe des Zusammenstoßes verwischte und deshalb eine leidenschaftliche<br />
Verurteilung durch Lenin erfuhr, hatte jenen taktischen Vorzug, daß er den<br />
schwankenden Elementen eine Stütze sicherte. Jedoch wies Zeretelli diesen Kompromiß<br />
zurück. Das Präsidium wolle wissen, ob <strong>der</strong> Sowjet tatsächlich die Richtung geän<strong>der</strong>t<br />
hat: »Die Taktik <strong>der</strong> Bolschewiki zu verfolgen, sind wir außerstande.« Der von rechts<br />
vorgeschlagene Resolutionsentwuif lautete, die Abstimmung vom 1. September entspräche<br />
nicht <strong>der</strong> politischen Linie des Sowjets, <strong>der</strong> nach wie vor seinem Präsidium vertraue.<br />
Den Bolschewiki blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig, als die Herausfor<strong>der</strong>ung anzunehmen, und<br />
sie taten dies mit restloser Bereitwilligkeit. Trotzki, zum ersten Male nach <strong>der</strong> Befreiung<br />
aus dem Gefängnis im Sowjet erschienen und von einem beträchtlichen Teil <strong>der</strong><br />
Versammlung heiß empfangen (beide Seiten wogen in Gedanken den Beifall: die<br />
Mehrheit o<strong>der</strong> nicht die Mehrheit?), verlangte vor <strong>der</strong> Abstimmung eine Aufklärung:<br />
gehört Kerenski in alter Weise dem Präsidium an? Nach einem Moment des Schwankens<br />
gab das ohnehin von Sünden beschwerte Präsidium bejahende Antwort und hing sich<br />
damit selbst ein schweres Bleigewicht an die Beine. Der Gegner hatte nur dies noch nötig<br />
gehabt. »Wir waren zutiefst überzeugt«, erklärte Trotzki, »... daß Kerenski dem Präsidium<br />
nicht angehört. Wir haben uns geirrt. Nun sitzt zwischen Dan und Tschcheidse das<br />
Gespenst Kerenskis ... Wenn man euch vorschlägt, die politische Linie des Präsidiums<br />
gutzuheißen vergeßt nicht, daß man euch damit vorschlägt, Kerenskis Politik gutzuheißen.«<br />
Die Sitzung verlief unter äußerster Spannung. Die Ordnung wurde aufrechterhalten<br />
durch das Bestreben aller, es nicht zur Explosion kommen zu lassen. Alle wollten<br />
schnellstens zur Zählung von Freund und Gegner schreiten. Alle wußten, daß es um aie<br />
Frage <strong>der</strong> Macht, des Krieges, um das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geht. Es wurde beschlossen,<br />
durch Hammelsprung abzustimmen. Hinausgehen möge, wer für die Demission des<br />
Präsidiums stimme, es sei für die Min<strong>der</strong>heit bequemer hinauszugehen als für die<br />
Mehrheit. In allen Saalecken geht heiße Agitation, jedoch mit halblauter Stimme. Altes<br />
Präsidium o<strong>der</strong> neues? Koalition o<strong>der</strong> Sowjctmacht? Zu den Türen ziehen viele<br />
Menschen, zu viele, nach Ansicht des Präsidiums. Die Führer <strong>der</strong> Bolschewiki waren <strong>der</strong><br />
Meinung, daß ihnen an die hun<strong>der</strong>t Stimmen zur Mehrheit fehlen würden: »auch das<br />
wäre schon schön«, trösteten sie sich im voraus. Arbeiter und Soldaten ziehen und ziehen<br />
zu den Türen. Verhaltenes Stimmengewirr, kurze Streitausbrüche. Von <strong>der</strong> einen Seite<br />
bricht eine Stimme durch: »Kornilowianer«, von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en: »Julihelden«. Die Prozedur<br />
währt fast eine Stunde. Es schwanken die Schalen <strong>der</strong> unsichtbaren Waage. Das<br />
Präsidium, in kaum zu meistern<strong>der</strong> Erregung, bleibt die ganze Zeit über auf dem Podium.<br />
Endlich ist das Resultat gezählt und verkündet: Für Präsidium und Koalition vierhun<strong>der</strong>tundvierzehn<br />
Stimmen, dagegen fünfhun<strong>der</strong>tundneunzehn, Stimmenthaltungen siebenundsechzig!<br />
Die neue Mehrheit applaudiert stürmisch, begeistert, rasend. Sie ist dazu<br />
berechtigt: <strong>der</strong> Sieg ist nicht billig erkauft. Ein gut Teil Weges liegt zurück.<br />
Noch bevor sie sich von dem Schlag erholen konnten, steigen die entthronten Führer<br />
mit langen Gesichtern vom Podium. Zeretelli kann sich einer dräuenden Prophezeiung<br />
nicht enthalten: »Wir verlassen diese Tribüne«, schreit er im Gehen halb zum Saal<br />
gewendet, »im Bewußtsein, daß wir ein halbes Jahr lang das Banner <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
hoch und in Ehren gehalten haben. Jetzt ist das Banner in eure Hände übergegangen.<br />
Wir können nur den Wunsch aussprechen, daß ihr es in gleicher Weise mindestens halb<br />
so lange halten möget !« Zeretelli irrte bitter sowohl in bezug auf die Fristen wie auch<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 512
auf alles übrige.<br />
Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, Stammvater aller übrigen Sowjets, stand von nun ab unter <strong>der</strong><br />
Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki, gestern noch eines »verschwindenden Häufleins von Demagogen«.<br />
Trotzki erinnerte von <strong>der</strong> Präsidententribüne herab daran, daß von den Bolschewiki<br />
noch nicht die Beschuldigung genommen sei, im Dienste des deutschen Stabes zu stehen.<br />
»Mögen doch die Miljukow und Gutschkow Tag für Tag ihr Leben erzählen. Sie werden<br />
dies nicht tun, wir aber sind jeden Tag bereit, Rechenschaft über unsere Handlungen<br />
abzulegen, wir haben vor dem <strong>russischen</strong> Volke nichts zu verbergen ...« Der Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet nahm eine beson<strong>der</strong>e Entschließung an, die »die Autoren, Verbreiter und Helfershelfer<br />
<strong>der</strong> Verleumdung mit Verachtung brandmarkt«.<br />
Die Bolschewiki traten die Erbschaft an. Sie erwies sich als grandios und äußerst<br />
kläglich zugleich. Das Zentral-Exekutivkomitee beraubte rechtzeitig den Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet <strong>der</strong> beiden von ihm geschaffenen Zeitungen, sämtlicher Verwaltungsabteilungen,<br />
aller finanziellen und technischen Mittel, einschließlich <strong>der</strong> Schreibmaschinen und<br />
Tintenfässer. Die zahlreichen Automobile, die seit den Februartagen dem Sowjet zur<br />
Verfügung gestellt worden waren, wurden bis auf das letzte dem Versöhnlerolymp<br />
überwiesen. Die neuen Leiter besaßen keine Kasse, keine Zeitungen, keinen Kanzleiapparat,<br />
keine Verkehrsmittel, keine Bleistifte. Nichts außer nackten Wänden und - dem<br />
flammenden Vertrauen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Dies erwies sich als völlig<br />
ausreichend.<br />
Nach dem grundlegenden Umschwung in <strong>der</strong> Sowjetpolitik begannen die Versöhnlerreihen<br />
noch rascher hinzuschmelzen. Am 11. September, als Dan vor dein Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet die Koalition verteidigte und Trotzki für die Macht <strong>der</strong> Sowjets sprach, wurde die<br />
Koalition mit allen gegen zehn Stimmen, bei sieben Stimmenthaltungen, abgelehnt! Am<br />
gleichen Tage verurteilte <strong>der</strong> Moskauer Sowjet einstimmig die Repressalien gegen die<br />
Bolschewiki. Die Versöhnler sahen sich bald in einen schmalen Sektor nach rechts<br />
zurückgeworfen, ähnlich dem, wie ihn die Bolschewiki zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> links<br />
innegehabt hatten. Doch welcher Unterschied! Die Bolschewiki waren stets stärker unter<br />
den Massen als in den Sowjets. Die Versöhnler dagegen behielten noch immer einen<br />
größeren Platz in den Sowjets als unter den Massen. Die Bolschewiki hatten in <strong>der</strong><br />
Periode ihrer Schwäche eine Zukunft. Den Versöhnlern blieb nur die Vergangenheit, auf<br />
die stolz zu sein sie keinen Grund hatten.<br />
Zusammen mit <strong>der</strong> Kursän<strong>der</strong>ung verän<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet sein äußeres Bild.<br />
Die Versöhnlerführer verschwanden restlos vom Horizont, indem sie sich im Exekutivkomitee<br />
vergruben; sie wurden im Sowjet durch Sterne zweiten und dritten Grades<br />
ersetzt. Gemeinsam mit Zeretelli, Tschnernow, Awksenjew, Skobeljew verschwanden<br />
die Freunde und Verehrer <strong>der</strong> demokratischen Minister von <strong>der</strong> Bildfläche, radikale<br />
Offiziere und Damen, halbsozialistische Schriftsteller, gebildete und namhafte<br />
Menschen. Der Sowjet wurde einheitlicher, grauer, düsterer, ernster.<br />
Die Bolschewiki und die Sowjets<br />
Mittel und Werkzeuge <strong>der</strong> bolschewistischen Agitation scheinen bei näherer Betrachtung<br />
nicht nur in keinem Verhälmis zu dem politischen Einfluß des Bolschewismus zu<br />
stehen, son<strong>der</strong>n verblüffen geradezu durch ihre Geringfügigkeit. Bis zu den Julitagen<br />
besaß die Partei einundvierzig Presseorgane, Wochen- und Monatsschriften mitgezählt,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 513
mit einer Gesamtauflage von nicht über dreihun<strong>der</strong>tundzwanzigtausend; nach <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung<br />
verringerte sich die Auflageziffer um die Hälfte. Ende August wurde das<br />
Zentralorgan <strong>der</strong> Partei in fünfzigtausend Exemplaren gedruckt. In den Tagen, als sich<br />
die Partei des Petrogra<strong>der</strong> und des Moskauer Sowjets hemächtigte, betrug <strong>der</strong> Kassenbestand<br />
des Zentralkomitees annähernd dreißigtausend Papierrubel.<br />
Aus <strong>der</strong> Intelligenz hatte die Partei fast gar keinen Zustrom. Die breite Schicht <strong>der</strong><br />
sogenannten "alten Bolschewiki" aus Studenten-kreisen, die zur <strong>Revolution</strong> von 1905<br />
gekommen waren, hatte sich in prosperierende Ingenieure, Ärzte und Beamten verwandelt<br />
und zeigte <strong>der</strong> Partei ungeniert feindliche Rückenumrisse. Selbst in Petrograd<br />
gebricht es auf Schritt und Tritt an Journalisten, Rednern, Agitatoren. Die Provinz bleibt<br />
völlig benachteiligt. Es fehlen Führer, es fehlen politisch aufgeklärte Menschen, die dem<br />
Volke begreiflich machen können, was die Bolschewiki wollen! - das ist <strong>der</strong> Schrei aus<br />
Hun<strong>der</strong>ten entlegener Winkel und beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> Front. Auf dem Lande gibt es fast<br />
überhaupt keine bolschewistischen Zellen. Die Postverbindungen sind völlig desorganisiert:<br />
sich selbst überlassen, beschuldigten die Lokalorganisationen mitunter nicht zu<br />
Unrecht das Zentralkomitee, es beschäftige sich nur mit <strong>der</strong> Leitung Petrograds.<br />
Wie konnten nun bei einem <strong>der</strong>art schwachen Apparat und so geringer Presseauflage<br />
Ideen und Losungen des Bolschewismus vom Volke Besitz ergreifen? Die Erklärung ist<br />
sehr einfach: Losungen, die dem akuten Bedürfnis <strong>der</strong> Klasse und Epoche entsprechen,<br />
schaffen sich tausende Kanäle. Die glühende revolutionäre Atmosphäre ist ein vorzüglicher<br />
Ideenleiter. Bolschewistische Zeitungen wurden laut vorgelesen, bis auf Fetzen<br />
zerlesen, die wichtigsten Artikel auswendig gelernt, wie<strong>der</strong>erzählt, abgeschrieben und,<br />
wo möglich, nachgedruckt. "Die Stabsdruckerei", erzählt Pirejko, »hat <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> einen großen Dienst geleistet: wie viele einzelne Artikel aus <strong>der</strong> 'Prawda' und<br />
kleine, den Soldaten zugängliche und verständliche Broschüren wurden in unserer<br />
Druckerei nachgedruckt! Und all das durch Flugpost, Fahrrad und Motorrad eiligst an<br />
die Front geschickt ...« Gleichzeitig fand die bürgerliche Presse, in Millionen von<br />
Exemplaren unentgeltlich an die Front geliefert, keinen Leser. Schwere Säcke blieben<br />
unausgepackt liegen. Der Boykott <strong>der</strong> "patriotischen" Presse nahm häufig demonstrative<br />
Formen an. Vertreter <strong>der</strong> 18. sibirischen Division faßten einen Beschluß, die bürgerlichen<br />
Parteien aufzufor<strong>der</strong>n, die Sendungen von Literatur einzustellen, da sie »unfruchtbar<br />
verbraucht wird zum Kochen des Teewassers«. Ganz an<strong>der</strong>e Anwendung fand die<br />
bolschewistische Presse. Deshalb war <strong>der</strong> Koeffizient ihrer nützlichen o<strong>der</strong>, wenn man<br />
will, schädlichen Wirkung unermeßlich höher.<br />
Die übliche Erklärung <strong>der</strong> Erfolge des Bolschewismus besteht in dem Hinweis auf die<br />
"Schlichtheit" seiner Parolen, die den Wünschen <strong>der</strong> Massen entsprachen. Darin liegt ein<br />
Teil Wahrheit. Die Geschlossenheit <strong>der</strong> bolschewistischen Politik war dadurch bedingt,<br />
daß sie im Gegensatz zu jener <strong>der</strong> "demokratischen" Parteien frei war von unausgesprochenen<br />
o<strong>der</strong> halbausgesprochenen Geboten, die letzten Endes auf den Schutz des Privateigentums<br />
hinausliefen. Jedoch dieser Unterschied allein erschöpft die Frage nicht. Stand<br />
rechts von den Bolschewiki die "Demokratie", so versuchten sie von links bald Anarchisten,<br />
bald Maximalisten, bald linke Sozialrevolutionäre abzudrängen. Indes kamen alle<br />
diese Gruppen aus dem Zustand <strong>der</strong> Ohnmacht nicht heraus. Der Unterschied des<br />
Bolschewismus bestand darin, daß er das subjektive Ziel: die Verteidigung <strong>der</strong> Interessen<br />
<strong>der</strong> Volksmassen, den Gesetzen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, als einem ohjektiv bedingten Prozeß,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 514
unterordnete. Die wissenschaftliche Aufdeckung dieser Gesetze, vor allem jener, die die<br />
Bewegung <strong>der</strong> Volksmassen lenken, bildete die Basis <strong>der</strong> bolschewistischen Strategie. In<br />
ihrem Kampfe werden die Werktätigen nicht nur von ihren Bedürfnissen geleitet,<br />
son<strong>der</strong>n auch von ihrer Lebenserfahrung. Dem Bolschewismus war die aristokratische<br />
Verachtung für die selbständige Erfahrung <strong>der</strong> Massen absolut fremd. Im Gegenteil, die<br />
Bolschewiki gingen von dieser aus und bauten auf ihr. Darin lag einer ihrer großen<br />
Vorzüge.<br />
<strong>Revolution</strong>en sind stets redselig, und von diesem Gesetz wichen auch die Bolschewiki<br />
nicht ab. Während aber die Agitation <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre zerfahrenen,<br />
wi<strong>der</strong>sprechenden, am häufigsten ausweichenden Charakter trug, zeichnete sich die<br />
Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki durch Überlegung und Konzentriertheit aus. Die Versöhnler<br />
suchten durch Geschwätz sich <strong>der</strong> Schwierigkeiten zu entledigen, die Bolschewiki<br />
gingen diesen entgegen. Dauernde Analyse <strong>der</strong> Situation, Nachprüfung <strong>der</strong> Parolen an<br />
den Tatsachen, ernsthaftes Verhalten dem Gegner, sogar dem wenig ernsten, gegenüber,<br />
verliehen <strong>der</strong> bolschewistischen Agitation beson<strong>der</strong>e Stärke und Überzeugungskraft.<br />
Die Parteipresse übertrieb nicht die Erfolge, verfälschte nicht das Kräfteverhälmis,<br />
versuchte nicht, durch Geschrei zu wirken. Lenins Schule war die Schule des revolutionären<br />
Realismus. Die Angaben <strong>der</strong> bolschewistischen Presse für das Jahr 1917 erwiesen<br />
sich im Lichte <strong>der</strong> Zeitdokumente und <strong>der</strong> historischen Kritik als unermeßlich wahrheitsgetreuer<br />
als die Angaben aller übrigen Zeitungen. Die Wahrhaftigkeit ergab sich aus <strong>der</strong><br />
revolutionären Kraft <strong>der</strong> Bolschewiki und stärkte gleichzeitig <strong>der</strong>en Kraft. Das Aufgeben<br />
dieser Tradition wurde später eine <strong>der</strong> bösartigsten Eigenschaften des Epigonentums.<br />
»Wir sind keine Scharlatane«, sagte Lenin gleich nach seiner Ankunft, »wir dürfen nur<br />
auf dem Bewußtsein <strong>der</strong> Massen basieren. Und sollte es auch heißen, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit<br />
zu bleiben wohlan ... wir dürfen uns nicht fürchten, in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit zu bleiben ... Wir<br />
leisten die Arbeit <strong>der</strong> Kritik, um die Massen vor Betrug zu bewahren ... Unsere Linie<br />
wird sich als die richtige erweisen. Zu uns wird je<strong>der</strong> Unterdrückte kommen ... Einen<br />
an<strong>der</strong>en Ausweg hat er nicht.« Die restlos verstandene bolschewistische Politik ersteht<br />
vor uns als direkter Gegensatz zu Demagogie und Abenteurertum!<br />
Lenin ist illegal. Mit Spannung verfolgt er die Zeitungen, liest, wie stets, zwischen den<br />
Zeilen und lauscht in den wenigen persönlichen Gesprächen dem Echo <strong>der</strong> nicht zu Ende<br />
gedachten Gedanken und unausgesprochenen Absichten. In den Massen herrscht Ebbe.<br />
Martow, <strong>der</strong> die Bolschewiki gegen Verleumdungen verteidigt, ironisiert gleichzeitig<br />
wehmütig die Partei, die »so schlau war«, sich selbst eine Nie<strong>der</strong>lage zuzufügen. Lenin<br />
errät - bald erreichen ihn positive Gerüchte -, daß auch manchem <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
Bußetöne nicht fremd sind und daß <strong>der</strong> sensible Lunatscharski nicht einsam ist. Lenin<br />
schreibt über das Gejammer <strong>der</strong> Kleinbourgeois und über das »Renegatentum« jener<br />
Bolschewiki, die diesem Gejammer so viel Mitgefühl entgegenbringen. Die Bolschewiki<br />
in Bezirk und Provinz greifen diese grimmigen Worte zustimmend auf. Sie überzeugen<br />
sich noch fester: <strong>der</strong> "Alte" verliert den Kopf nicht, läßt den Mut nicht sinken, gibt sich<br />
nicht zufälligen Stimmungen hin.<br />
Ein Mitglied des Zentralkomitees - ist es nicht Swerdlow? -schreibt in die Provinz:<br />
»Wir sind vorübergehend ohne Zeitung... Die Organisation ist nicht zerschlagen ... Der<br />
Parteitag wird nicht vertagt.« Lenin verfolgt aufmerksam, soweit seine unfreiwillige<br />
Isolierung es ihm erlaubt, die Vorbereitungen zum Parteitag und entwirft dessen grundle-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 515
gende Beschlüsse: es geht um den Plan des weiteren Angriffs. Der Parteitag wird im<br />
voraus als Vereinigungsparteitag bezeichnet, da dort die Aufnahme einiger autonomer<br />
revolutionärer Gruppen in die Partei erfolgen soll, vor allem <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> interrayonellen<br />
Organisation, welcher Trotzki, Joffe, Uritzki, Rjasanow, Lunatscharski, Pokrowski,<br />
Manuilski, Karachan, Jurenjew und einige an<strong>der</strong>e, aus <strong>der</strong> Vergangenheit bekannte<br />
o<strong>der</strong> ihrem Bekanntwerden erst entgegengehende <strong>Revolution</strong>äre angehören.<br />
Am 2. Juli, gerade am Vorabend <strong>der</strong> Demonstration, fand eine Konferenz <strong>der</strong> Interrayonisten<br />
statt, die etwa viertausend Arbeiter vertrat. »Die Mehrzahl«, schreibt <strong>der</strong> im<br />
Zuhörerraum anwesende Suchanow, »waren mir unbekannte Arbeiter und Soldaten ...<br />
Die Arbeit wurde fieberhaft geleistet, und ihre Resultate waren allen greifbar. Es störtejedoch<br />
die Frage: Worin unterscheidet ihr euch von den Bolschewiki, und weshalb seid<br />
ihr nicht mit ihnen?«<br />
Um die Vereinigung zu beschleunigen, die einzelne Organisations-leiter zu verschleppen<br />
suchten, veröffentlichte Trotzki in <strong>der</strong> 'Prawda' eine Erklärung: »Keinerlei prinzipielle<br />
o<strong>der</strong> taktische Meinungsverschiedenheiten existieren, meiner Ansicht nach,<br />
gegenwärtig zwischen Interrayonisten und <strong>der</strong> bolschewistischen Organisation. Es gibt<br />
folglich keine Gründe, die das getrennte Bestehen dieser Organisationen rechtfertigen.«<br />
Am 26. Juli begann <strong>der</strong> Vereinigungsparteitag, <strong>der</strong> sechste Parteitag <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />
<strong>der</strong> halbillegal verlief und sich abwechselnd in zwei Arbeiterbezirken verbergen mußte.<br />
Hun<strong>der</strong>tfünfundsiebzig Delegierte, davon hun<strong>der</strong>tsiebenundfünfzig mit beschließen<strong>der</strong><br />
Stimme, vertraten hun<strong>der</strong>tundzwölf Organisationen, die<br />
einhun<strong>der</strong>tsechsundsiebzigtausendsiebenhun<strong>der</strong>tundfünfzig Mitglie<strong>der</strong> umfaßten. Petrograd<br />
zählte einundvierzigtausend Mitglie<strong>der</strong>: seehsunddreißigtausend in <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Organisation, viertausend Interrayonisten und etwa tausend in <strong>der</strong> Militärischen<br />
Organisation. Im Zentralindustriedistrikt mit Moskau als Zentrum hatte die Partei<br />
zweiundvierzigtausend Mitglie<strong>der</strong>, im Ural fünfundzwanzigtausend, im Donezbecken<br />
etwa fünfzehntausend. Im Kaukasus existierten starke bolschewistische Organisationen<br />
in Baku, Grosny und Tiflis; die beiden ersteren bestanden fast ausschließlich aus Arbeitern,<br />
in Tiflis überwogen Soldaten.<br />
Die personelle Zusammensetzung des Parteitages barg in sich die vorrevolutionäre<br />
Vergangenheit <strong>der</strong> Partei. Von den hun<strong>der</strong>t-einundsiebzig Delegierten, die Enqueten<br />
ausfüllten, hatten hun<strong>der</strong>tzehn zweihun<strong>der</strong>tfiinfundvierzig Jahre im Gefängnis gesessen,<br />
zehn Mann einundvierzig Jahre in <strong>der</strong> Katorga verbracht, vierundzwanzig waren für<br />
dreiundsiebzig Jahre zur Ansiedlung in Sibirien verurteilt, insgesamt waren fünfundfünfzig<br />
Menschen hun<strong>der</strong>tsiebenundzwanzig Jahre in Verbannung gewesen; siebenundzwanzig<br />
Menschen hatten neunundachtzig Jahre in Emigration verbracht; hun<strong>der</strong>tundfünfzig<br />
Menschen waren fünthun<strong>der</strong>tundneunundvierzigmal verhaftet gewesen.<br />
»Auf diesem Parteitag«, erinnerte sich später Pjatnitzki, einer <strong>der</strong> heutigen Sekretäre<br />
<strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>, »waren we<strong>der</strong> Lenin, noch Trotzki, noch Sinowjew,<br />
noch Kamenjew anwesend ... Wenn auch die Frage des Parteiprogramms von <strong>der</strong> Tagesordnung<br />
abgesetzt worden war, verlief <strong>der</strong> Parteitag ohne Parteiführer sachlich und gut<br />
...« Die Basis <strong>der</strong> Arbeiten bildeten Lenins Thesen. Als Referenten traten Bucharin und<br />
Stalin auf. Stalins Referat ist kein schlechter Gradmesser <strong>der</strong> Strecke, die <strong>der</strong> Referent<br />
selbst, gemeinsam mit allen Parteika<strong>der</strong>n, während <strong>der</strong> vier Monate seit Lenins Ankunft<br />
zurückgelegt hatte. Theoretisch unsicher, aber politisch entschieden versuchte Stalin jene<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 516
Züge aufzuzeigen, die »den tiefen Charakter einer sozialistischen Arbeiterrevolution«<br />
bestimmen. Die Einmütigkeit des Parteitages im Vergleich zur Aprilkonferenz springt in<br />
die Augen.<br />
Über die Wahl des Zentralkomitees berichtet das Parteitagsprotokoll: »Es werden die<br />
Namen <strong>der</strong> vier Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees verlesen, die die meisten Stimmen erhielten:<br />
Lenin - hun<strong>der</strong>tdreiunddreißig von hun<strong>der</strong>tvierunddreißig, Sinowjew - hun<strong>der</strong>tzweiunddreißig,<br />
Kamenjew - hun<strong>der</strong>teinunddreißig Trotzki - hun<strong>der</strong>teinunddreißig; außer<br />
ihnen sind in das Zentralkomitee gewählt: Nogin, Kollontay, Stalin, Swerdlow, Rykow,<br />
Bucharin, Artem, Joffe, Uritzki, Miljutin, Lomow.« Diese Zusammensetzung des Zentralkomitees<br />
muß man sich merken: unter seiner Leitung wird die Oktoberumwälzung<br />
vollbracht werden. Martow begrüßte den Parteitag durch ein Schreiben, in dem er wie<strong>der</strong><br />
seine »tiefe Entrüstung über die verleum<strong>der</strong>ische Kampagne« zum Ausdruck brachte, in<br />
den grundlegenden Fragen aber an <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> Tat stehenblieb. »Es darf nicht<br />
geduldet werden«, schrieb er, »daß <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Machteroberung durch die Mehrheit<br />
<strong>der</strong> revolutionären Demokratie unterschoben wird die Aufgabe <strong>der</strong> Machteroberung im<br />
Kampfe gegen diese Mehrheit und im Wi<strong>der</strong>spruch zu ihr.« Unter Mehrheit <strong>der</strong> revolutionärer<br />
Demokratie verstand Martow noch immer die den Boden untei den Füßen verlierende<br />
offizielle Sowjetvertretung. »Martow verbindet mit den Sozialpatrioten nicht eine<br />
leere fraktionelle Tradition«, schrieb Trotzki damals, »son<strong>der</strong>n die tief opportunistischc<br />
Einstellung zur sozialen <strong>Revolution</strong> als zu einem fernen Ziel, das nicht die Festlegung<br />
<strong>der</strong> gegenwärtigen Aufgaben bestimmen kann. Und gerade dies trennt ihn von uns.«<br />
Nur ein kleiner Teil linker Mensehewiki mit Larin an <strong>der</strong> Spitze näherte sich in jener<br />
Periode endgültig den Bolschewiki. Jurenjew, künftiger Sowjetdiplomat, kam auf dem<br />
Parteitag als Berichterstatter zur Frage <strong>der</strong> Vereinigung mit den Internationalisten zu <strong>der</strong><br />
Schlußfolgerung: Es bleibt nur übrig, sich zu vereinigen mit »<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong><br />
Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Menschewiki ...« Der breite Zustrom ehemaliger Menschewiki in die<br />
Partei begann erst nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung: indem sie sich nicht dem proletarischen<br />
Aufstande, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> aus ihm hervorgegangenen Macht anschlossen, bewiesen die<br />
Menschewiki die Grundeigenschaft des Opportunismus: die Anbetung <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Macht. Lenin, <strong>der</strong> sieh in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Parteizusammensetzung sehr empfindlich<br />
verhielt, stellte bald die For<strong>der</strong>ung, neunundneunzig Prozent <strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
eingetretenen Menschewiki wie<strong>der</strong> hirfauszujagen. Dies zu erreichen, gelang<br />
ihm bei weitem nicht. In <strong>der</strong> Folge sind die Tore vor den Mensehewiki und Sozialrevolutionären<br />
weit geöffnet worden, und die ehemaligen Versöhnler wurden eine <strong>der</strong> Stützen<br />
des Stalinschen Parteiregimes. Aber all das gehört schon in eine spätere Zeit.<br />
Swerdlow, <strong>der</strong> praktische Organisator des Parteitages, berichtete: »Trotzki war bereits<br />
vor dem Parteitag in die Redaktion unseres Organs eingetreten, aber die Einkerkerung<br />
verhin<strong>der</strong>te seine faktische Mitarbeit.« Erst auf dem Juliparteitag wurde Trotzki formell<br />
Mitglied <strong>der</strong> bolschewistischen Partei. Es wurde das Fazit gezogen unter die Jahre <strong>der</strong><br />
Meinungsverschiedenheiten und des fraktionellen Kampfes. Trotzki kam zu Lenin wie zu<br />
einem Lehrer, dessen Kraft und Bedeutung er später als viele an<strong>der</strong>e, aber vielleicht<br />
besser als sie begriffen hatte. Raskolnikow, <strong>der</strong> mit Trotzki seit dessen Ankunft aus<br />
Kanada in naher Berührung stand und dann Seite an Seite mit ihm einige Wochen im<br />
Gefängnis verbrachte, schreibt in seinen Erinnerungen: »Mit großer Verehrung stand<br />
Trotzki zu Wladimir Iljitsch [Lenin]. Er stellte ihn über alle Zeitgenossen, mit denen er in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 517
Rußland und im Auslande zusammengetroffen war. Aus dem Tone, in dem Trotzki von<br />
Lenin sprach, fühlte man die Ergebenheit des Schülers: zu jener Zeit blickte Lenin auf<br />
eine dreißigjährige Erfahrung im Dienste des Proletariats zurück, Trotzki auf eine<br />
zwanzigjährige. Das Echo einstiger Meinungsverschiedenheiten in <strong>der</strong> Vorkriegsperiode<br />
war restlos verhallt. Zwischen den taktischen Linien von Lenin und Trotzki bestand kein<br />
Unterschied. Diese bereits während des Krieges wahrnehmbare Annäherung offenbarte<br />
sich völlig mit dem Moment <strong>der</strong> Rückkehr Lew Dawidowitschs [Trotzkis] nach Rußland;<br />
nach seinen ersten Reden fühlten wir alte Leninisten alle, daß er unser ist.« Allein schon<br />
die für Trotzki bei <strong>der</strong> Wahl zum Zentralkomitee abgegebene Stimmenzahl zeigte, daß<br />
niemand im bolschewistischen Lager zur Zeit seines Eintritts in die Partei in ihm einen<br />
Fremdling erblickte.<br />
Unsichtbar dem Parteitag beiwohnend, trug Lenin in dessen Arbeiten den Geist <strong>der</strong><br />
Verantwortlichkeit und Kühnheit hinein. Der Schöpfer und Erzieher <strong>der</strong> Partei duldete in<br />
Theorie wie Politik keine Schlamperei. Er wußte, daß eine falsche ökonomische Formel<br />
o<strong>der</strong> unaufmerksame politische Beobachtung sich im Moment <strong>der</strong> Aktion bitter rächt.<br />
Sein nörgelnd-aufmerksames Verhalten gegenüber jeglichem Parteitext, selbst einem<br />
nebensächlichen, verteidigend, pflegte Lenin zu sagen: »Das sind keine Lappalien, man<br />
braucht Exaktheit: Unser Agitator wird es auswendig lernen und vom Text nicht abweichen<br />
... Wir haben eine gute Partei«, fügte er hinzu, indem er gerade dieses ernsthafte,<br />
anspruchsvolle Verhalten des einfachen Agitators zu dem, was er zu sagen und wie er es<br />
zu sagen hat, meinte.<br />
Die Kühnheit <strong>der</strong> bolschewistischen Losungen rief nicht selten den Eindruck von<br />
Phantasterei hervor: so waren Lenins Aprilthesen aufgenommen worden. In Wirklichkeit<br />
ist in einer revolutionären Epoche das Phantastischste die Knickrigkeit; dagegen ist<br />
Realismus undenkbar außerhalb einer Politik auf ferne Sicht. Es genügt nicht zu sagen,<br />
dem Bolschewismus war Phantasterei fremd: Lenins Partei war die einzige Partei des<br />
politischen Realismus in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Im Juni und Anfang Juli sagten die bolschewistischen Arbeiter wie<strong>der</strong>holt, sie seien<br />
nicht selten gezwungen, den Massen gegenüber die Rolle einer Feuerlöschspritze zu<br />
spielen, und zwar nicht immer mit Erfolg. Der Juli brachte zusammen mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage<br />
die teuer erkaufte Erfahrung. Die Massen begannen aufmerksamer die Warnungen <strong>der</strong><br />
Partei zu beachten und <strong>der</strong>en taktische Erwägung zu erfassen. Der Juliparteitag hatte<br />
bestätigt: »Das Proletariat darf auf die Provokation <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht hineinfallen,<br />
<strong>der</strong> es sehr erwünscht wäre, es in diesem Augenblick zu einem vorzeitigen Kampf herauszufor<strong>der</strong>n.«<br />
Der ganze August, beson<strong>der</strong>s seine zweite Hälfte, ist von ständigen Warnungen<br />
seitens <strong>der</strong> Partei an die Adresse <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten gefärbt: nicht auf die<br />
Straße gehen. Die bolschewistischen Führer scherzten selbst nicht selten über die<br />
Ähnlichkeit ihrer Warnungen mit dem politischen Leitmotiv <strong>der</strong> alten deutschen Sozialdemokratie,<br />
die die Massen von jeglichem ernsten Kampfe zurückhielt, indem sie<br />
unablässig auf Provokationsgefahr und Notwendigkeit <strong>der</strong> Kräftesammlung hinwies.<br />
Tatsächlich war die Ähnlichkeit nur scheinbar. Die Bolschewiki wußten sehr wohl, daß<br />
die Kräfte im Kampfe gesammelt werden und nicht im passiven Ausweichen vor ihm.<br />
Das Studium <strong>der</strong> Wirklichkeit betrachtete Lenin als nur theoretische Auskundschaftung<br />
im Interesse <strong>der</strong> Aktion. Bei <strong>der</strong> Bewertung <strong>der</strong> Situation sah er stets in <strong>der</strong>en Mittelpunkt<br />
die Partei als aktive Kraft. Mit beson<strong>der</strong>er Feindseligkeit, richtiger, mit Ekel stand<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 518
er zum Austro-Marxismus (Otto Bauer, Hilferding und so weiter), für den die theoretische<br />
Analyse nur einen gelehrten Kommentar <strong>der</strong> Passivität bedeutet. Vorsicht ist<br />
Bremse und nicht Motor. Auf einer Bremse hat noch niemand Reisen gemacht, wie auf<br />
<strong>der</strong> Vorsicht niemand etwas Großes geschaffen. Doch gleichzeitig wußten die Bolschewiki<br />
genau, daß Kampf Kräfteberechnung erfor<strong>der</strong>t; daß man vorsichtig sein muß, um<br />
das Recht zu haben, kühn zu sein.<br />
Die Resolution des VI. Parteitags, die vor verfrühten Zusammenstößen warnte, wies im<br />
gleichen Atem darauf hin, daß man den Kampf werde annehmen müssen, »sobald die<br />
nationale Krise und <strong>der</strong> tiefgehende Aufschwung <strong>der</strong> Massen günstige Bedingungen<br />
geschaffen haben werden für den Übergang <strong>der</strong> Armut in Stadt und Land auf die Seite<br />
<strong>der</strong> Arbeiter«. Bei dem Tempo <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ging es nicht um Jahrzehnte, auch nicht<br />
um Jahre, son<strong>der</strong>n um wenige Monat.<br />
Während er die Aufklärung <strong>der</strong> Massen über die Notwendigkeit, sich für den bewaffneten<br />
Aufstand vorzubereiten, auf die Tagesordnung setzte, beschloß <strong>der</strong> Parteitag<br />
gleichzeitig, die Zentrallosung <strong>der</strong> vorangegangenen Periode: Ubergang <strong>der</strong> Macht an die<br />
Sowjets, zurückzustellen. Das eine war mit dem an<strong>der</strong>en verbunden. Den Parolenwechsel<br />
hatte Lenin durch seine Artikel, Briefe und persönliche Gespräche vorbereitet.<br />
Der Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets bedeutete unmittelbar den Übergang <strong>der</strong><br />
Macht an die Versöhnler. Das konnte sich friedlich abspielen, durch einfache Entlassung<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Regierung, die sich durch den guten Willen <strong>der</strong> Versöhnler und die<br />
Reste des Vertrauens <strong>der</strong> Massen zu diesen hielt. Die Diktatur <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
war Tatsache seit dem 27. Februar. Aber Arbeiter und Soldaten legten sich über diese<br />
Tatsache nicht die nötige Rechenschaft ab. Sie vertrauten die Macht den Versöhnlern an,<br />
die ihrerseits diese <strong>der</strong> Bourgeoisie übergaben. Das Kalkül <strong>der</strong> Bolschewiki auf eine<br />
friedliche Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> beruhte nicht darauf, daß die Böurgeoisie freiwillig<br />
die Macht den Arbeitern und Soldaten abtreten würde, son<strong>der</strong>n darauf, daß die Arbeiter<br />
und Soldaten rechtzeitig die Versöhnler hin<strong>der</strong>n würden, <strong>der</strong> Bourgeoisie die Macht<br />
auszuliefrrn.<br />
Die Konzentrierung <strong>der</strong> Macht in den Sowjets unter dem Regime <strong>der</strong> Sowjetdemokratie<br />
hätte den Bolschewiki die volle Möglichkeit gegeben, die Mehrheit in den Sowjets zu<br />
werden und folglich auch eine Regierung auf <strong>der</strong> Basis ihres Programms zu schaffen. Ein<br />
bewaffneter Aufstand war für dieses Ziel nicht erfor<strong>der</strong>lich. Die Ablösung <strong>der</strong> Parteien<br />
an <strong>der</strong> Macht hätte sich auf friedlichem Wege vollziehen können. Alle Bemühungen <strong>der</strong><br />
Partei waren von April bis Juli darauf gerichtet, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch die Sowjets eine<br />
friedliche Entwicklung zu sichern. "Geduldig aufklären" - das war <strong>der</strong> Schlüssel <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Politik.<br />
Die Julitage verän<strong>der</strong>ten die Lage radikal. Von den Sowjets ging die Macht in die<br />
Hände militärischer Cliquen über, die sich mit den Kadetten und Gesandtschaften<br />
verbanden und Kerenski nur als demokratisches Aushängeschild, bis zur gelegenen Zeit,<br />
duldeten. Wäre es dem Exekutivkomitee jetzt eingefallen, einen Beschluß zu fassen über<br />
den Übergang <strong>der</strong> Macht in seine Hände, das Resultat wäre ein ganz an<strong>der</strong>es gewesen als<br />
drei Tage zuvor: in das Taurische Palais wäre wahrscheinlich ein Kosakenregiment<br />
zusammen mit den Junkerschulen eingerückt und hätte einfach versucht, die "Usurpatoren"<br />
zu verhaften. Die Losung "alle Macht den Sowjets" setzte von nun an den bewaffneten<br />
Aufstand gegen die Regierung und die hinter ihrem Rücken stehenden Militärcliquen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 519
voraus. Aber einen Aufstand im Namen <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Sowjets zu proklamieren, die<br />
diese Macht nicht wollten, wäre offensichtlicher Unsinn gewesen.<br />
An<strong>der</strong>erseits war es von nun an zweifelhaft - manche meinten sogar wenig wahrscheinlich<br />
-, ob die Bolschewiki durch friedliche Neuwahlen die Mehrheit in diesen machtlosen<br />
Sowjets erobern könnten: indem sie sich durch die Julinie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Bauern gebunden hatten, würden die Menschewiki und Sozialrevolutionäre selbstverständlich<br />
auch fernerhin alle Gewalttaten gegen die Bolschewiki decken Versöhnlerisch<br />
bleibend, müßten sich die Sowjets in eine willenlose Opposition <strong>der</strong> konterrevolutionären<br />
Regierung verwandeln, um bald ihr Dasein überhaupt auszuhauchen.<br />
Von einem friedlichen Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände des Proletariats konnte unter<br />
diesen Umständen nicht mehr die Rede sein. Für die bolschewistische Partei bedeutete<br />
das: sich vorzubereiten auf den bewaffneten Aufstand. Unter welcher Parole? Unter <strong>der</strong><br />
offenen Parole <strong>der</strong> Machteroberung durch das Proletariat und die Bauernarmut. Man muß<br />
die revolutionäre Aufgabe in ihrer unverhüllten Form stellen. Aus <strong>der</strong> zweideutigen<br />
Sowjetform den Klasseninhalt freimachen. Das ist kein Verzicht auf die Sowjets als<br />
solche. Nach <strong>der</strong> Machteroberung wird das Proletariat den Staat nach dem Sowjettypus<br />
organisieren müssen. Doch werden dies an<strong>der</strong>e Sowjets sein, die eine <strong>der</strong> Schutzfunktion<br />
<strong>der</strong> Versöhnlersowjets direkt entgegengesetzte historische Arbeit erfüllen.<br />
»Die Losung des Überganges <strong>der</strong> Macht an die Sowjets«, schrieb Lenin unter dem<br />
ersten Dröhnen <strong>der</strong> Hetze und Verleumdung, »würde jetzt wie Donquichotterie o<strong>der</strong><br />
Hohn klingen. Diese Losung wäre objektiv Volksbetrug, Suggerierung <strong>der</strong> Illusion, als<br />
genüge es auch jetzt noch, daß die Sowjets die Machtübernahme wünschen o<strong>der</strong> diese<br />
beschließen, um die Macht zu erhalten, - als seien im Sowjet noch Parteien, die sich<br />
nicht durch Henkerdienste befleckt hätten, - als könne man das Geschehene ungeschehen<br />
machen.«<br />
Auf die For<strong>der</strong>ung des Überganges <strong>der</strong> Macht an die Sowjets verzichten? Im ersten<br />
Moment verblüffte dieser Gedanke die Partei, richtiger gesagt, ihre agitatorischen Ka<strong>der</strong>,<br />
die im Laufe <strong>der</strong> vorangegangenen drei Monate mit dieser populären Losung <strong>der</strong>art<br />
verwachsen waren, daß sie fast den gesamten Inhalt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> mit ihr<br />
identifizierten. In Parteikreisen begann eine Diskussion. Viele angesehene Parteiarbeiter,<br />
wie Manuilski, Jurenjew und an<strong>der</strong>e, versuchten zu beweisen, daß die Absetzung <strong>der</strong><br />
Losung "Alle Macht den Sowjets", die Gefahr <strong>der</strong> Isolierung des Proletariats von <strong>der</strong><br />
Bauernschaft in sich berge. Dieser Einwand unterschob den Klassen Institutionen.<br />
Fetischismus <strong>der</strong> Organisationsform bildet, so seltsam das auf den ersten Blick auch<br />
scheinen mag, eine häufige Krankheit gerade im revolutionären Milieu. »Insofern wir in<br />
diesen Sowjets bleiben«, schrieb Trotzki, »... werden wir dahin streben, daß die Sowjets,<br />
die den gestrigen Tag <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wi<strong>der</strong>spiegeln, die Kraft gewinnen, sich auf die<br />
Höhe <strong>der</strong> Aufgaben des morgigen Tages zu erheben. Doch so wichtig die Frage nach<br />
Rolle und Schicksal <strong>der</strong> Sowjets auch sein mag, sie bleibt für uns restlos untergeordnet<br />
<strong>der</strong> Frage des Kampfes des Proletariats und <strong>der</strong> halbproletarischen Massen <strong>der</strong> Stadt,<br />
<strong>der</strong> Armee und des Dorfes um die politische Macht, um die revolutionäre Diktatur.«<br />
Die Frage, welche Massenorganisation <strong>der</strong> Partei bei Leitung des Aufstandes am<br />
besten dienen könnte, ließ keine aprioristische und noch weniger eine kategorische<br />
Entscheidung zu. Zweckdienliche Aufstandorgane konnten die Fabrikkomitees und<br />
Gewerkschaften werden, die bereits unter Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki standen, wie auch in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 520
Einzelfällen die Sowjets, soweit sie sich von dem Joche <strong>der</strong> Versöhnler befreit hatten.<br />
Lenin sagte beispielsweise zu Ordschonikidse: »Wir müssen das Schwergewicht auf die<br />
Fabrikkomitees verlegen. Aufstandsorgane müssen die Fabrikkomitees werden.«<br />
Nachdem die Massen im Juli mit den Sowjets anfangs als einem passiven Gegner und<br />
später als aktivem Feind zusammengestoßen waren, fand <strong>der</strong> Losungswechsel in ihrem<br />
Bewußtsein vollkommen vorbereiteten Boden. Das eben war Lenins ständige Sorge: mit<br />
markanter Einfachheit das auszudrücken, was sich einerseits aus den objektiven Bedingungen<br />
ergibt und an<strong>der</strong>erseits die subjektive Erfahrung <strong>der</strong> Massen formt. Nicht den<br />
zeretellischen Sowjets muß man jetzt die Macht antragen - fühlten die fortgeschrittenen<br />
Arbeiter und Soldaten -, wir selbst müssen sie in die Hand nehmen!<br />
Die Moskauer Streikdemonstration gegen die Staatsberatung hatte sich nicht nur wi<strong>der</strong><br />
den Willen des Sowjets entwickelt, son<strong>der</strong>n sie erhob auch nicht die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong><br />
Sowjetmacht. Die Massen hatten sich inzwischen bereits die von den Ereignissen erteilte<br />
und von Lenin ausgedeutete Lehre zu eigen gemacht. Gleichzeitig hatten die Moskauer<br />
Bolschewiki keinen Augenblick gezögert, Kampfpositionen einzunehmen, sobald nur die<br />
Gefahr entstand, die Konterrevolution könnte versuchen, die Versöhnlersowjets zu<br />
zertreten. Die bolschewistische Politik verband stets revolutionäre Unversöhnlichkeit mit<br />
höchster Elastizität, und gerade aus dieser Verbindung schöpfte sie ihre Kraft.<br />
Die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz unterwarfen bald die Politik <strong>der</strong> Partei einer<br />
sehr scharfen Prüfung unter dem Gesichtspunkte eines Internationalismus. Nach dem Fall<br />
von Riga traf die Frage nach dem Schicksal Petrograds die Arbeiter und Soldaten am<br />
Lebensnerv. In einer Versammlung <strong>der</strong> Fabrikkomitees im Smolny erstattete <strong>der</strong><br />
Menschewik Masurenko, ein Offizier, <strong>der</strong> vor kurzem die Entwaffnung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Arbeiter geleitet hatte, einen Bericht über die Petrograd drohende Gefahr und hob die<br />
praktischen Fragen <strong>der</strong> Verteidigung hervor. »Worüber könnten Sie sich mit uns unterhalten«,<br />
rief einer <strong>der</strong> bolschewistischen Redner, »...unsere Führer sitzen im Gefängnis,<br />
und sie for<strong>der</strong>n uns au, über Fragen zu diskutieren, die mit <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
verbunden sind.« Als Industriearbeiter, als Bürger einer bourgeoisen Republik<br />
beabsichtigten die Proletarier des Wyborger Bezirks keinesfalls, die Verteidigung <strong>der</strong><br />
revolutionären Hauptstadt zu sabotieren. Als Bolschewiki jedoch, als Parteimitglie<strong>der</strong>,<br />
wollten sie keinen Augenblick niit den Regierenden die Verantwortung für den Krieg vor<br />
dem <strong>russischen</strong> Volke und vor den Völkern an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong> teilen. In Besorgnis, die<br />
Landesverteidigungsstimmungen könnten in Landesverteidigungspolitik umschlagen,<br />
schrieb Lenin: »Wir werden Landesverteidiger werden erst nach dem Übergang <strong>der</strong><br />
Macht an das Proletariat ...We<strong>der</strong> die Einnahme Rigas noch die Einnahme Petrograds<br />
werden uns zu Landesverteidigern machen. Bis dahin sind wir für die proletarische<br />
<strong>Revolution</strong>, sind wir gegen den Krieg, sind wir keine Landesverteidiger.« - »Der Fall<br />
Rigas«, schrieb Trotzki aus dem Gefängnis, »ist ein harter Schlag. Petrograds Fall wäre<br />
ein Unglück. Aber <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> internationalen Politik des <strong>russischen</strong> Proletariats wäre<br />
eine Katastrophe.« Doktrinarismus von Fanatikern? Aber in den gleichen Tagen, als<br />
bolschewistische Schützen und Matrosen bei Riga umkamen, zog die Regierung Truppen<br />
zusammen zur Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, und <strong>der</strong> Höchstkommandierende bereitete<br />
sich vor auf den Krieg gegen die Regierung. Für diese Politik, an <strong>der</strong> Front wie im<br />
Hinterlande, für die Verteidigung wie für den Angriff, durften und wollten die Bolschewiki<br />
auch nicht einen Schatten von Verantwortung tragen. Hätten sie an<strong>der</strong>s gehandelt,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 521
sie wären keine Bolschewiki gewesen.<br />
Kerenski und Kornilow bedeuteten zwei Varianten <strong>der</strong> gleichen Gefahr; doch diese<br />
Varianten, die schleichende und die akute, standen Ende August einan<strong>der</strong> feindselig<br />
gegenüber. Man mußte vor allem die akute Gefahr abwenden, um später mit <strong>der</strong> schleichenden<br />
fertigzuwerden. Die Bolschewiki gingen nicht nur in das Verteidigungskomitee<br />
hinein, obwohl sie dort zu <strong>der</strong> Rolle einer kleinen Min<strong>der</strong>heit verurteilt waren, son<strong>der</strong>n<br />
sie erklärten auch, daß sie bereit seien, im Kampfe gegen Kornilow ein "kriegstechnisches<br />
Bündnis" sogar mit dem Direktorium einzugehen. Darüber schreibt Suchanow:<br />
»Die Bolschewiki bewiesen äußersten Takt und politische Weisheit ... Allerdings,<br />
während sie sich auf ein - für sie ungewöhnliches - Kompromiß einließen, verfolgten sie<br />
gewisse beson<strong>der</strong>e, ihren Verbündeten undurchsichtige Ziele. Um so größer war ihre<br />
Weisheit in dieser Sache.« Nichts dem Bolschewismus "Ungewöhnliches" war an dieser<br />
Politik: Im Gegenteil, sie entsprach durchaus dem Charakter <strong>der</strong> Partei. Die Bolschewiki<br />
waren <strong>Revolution</strong>äre <strong>der</strong> Tat und nicht <strong>der</strong> Geste, des Inhalts und nicht <strong>der</strong> Form. Ihre<br />
Politik wurde durch die reale Kräftegruppierung bestimmt und nicht durch Sympathien<br />
und Antipathien. Der von Sozialrevolunonären und Menschewiki gehetzte Lenin schrieb:<br />
»Gröbster Fehler wäre es, zu glauben, das revolutionäre Proletariat sei fähig, sozusagen<br />
aus "Rache" gegen die Sozialrevolutionäre und Menschewiki für <strong>der</strong>en Unterstützung bei<br />
<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, bei Erschießungen an <strong>der</strong> Front und Entwaffnung<br />
<strong>der</strong> Arbeiter ihnen die "Unterstützung" gegen die Konterrevolution zu versagen.«<br />
Technische Unterstützung, nicht aber politische. Vor einer politischen Unterstützung<br />
warnte Lenin entschieden in einem Briefe an das Zentralkomitee: »Kerenskis Regierung<br />
unterstützen dürfen wir sogar jetzt nicht. Das wäre Prinziplosigkeit. Man wird fragen:<br />
soll man nicht gegen Kornilow kämpfen? Gewiß soll man. Doch ist das nicht dasselbe,<br />
hier gibt es eine Grenze: manche Bolschewiki übertreten sie, indem sie in "Versöhnlertum"<br />
verfallen und sich vom Strome <strong>der</strong> Ereignisse mitreißen lassen.«<br />
Lenin verstand es, Schattierungen politischer Stimmungen von weitem zu erkennen.<br />
Am 29. August erklärte in <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong> Kiewer Stadtduma einer <strong>der</strong> dortigen bolschewistischen<br />
Leiter, Pjatakow: »In dieser ernsten Stunde müssen wir alle alten Rechnungen<br />
vergessen ... uns mit allen revolutionären Parteien, die für den entscheidenden Kampfgegen<br />
die Konterrevolution stehen, vereinigen. Ich for<strong>der</strong>e zur Einheit auf«, und so<br />
weiter. Das eben war jener falsche politische Ton, vor dein Lenin warnte. »Alte Rechnungen<br />
vergessen« bedeutete, den Bankrottkandidaten neue Kredite eröffnen. »Wir werden<br />
kämpfen, und wir kämpfen gegen Kornilow«, schrieb Lenin, »aber wir unterstützen nicht<br />
Kerenski, son<strong>der</strong>n entlarven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied ... Gegen Phrasen<br />
... von Unterstützung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, und so weiter und so weiter, muß<br />
man erbarmungslos kämpfen, gerade als gegen Phrasen.«<br />
Die Arbeiter machten sich keine Illusionen in bezug auf den Charakter ihres "Blocks"<br />
mit dem Winterpalais. »Während es gegen Kornilow kämpft, kämpft das Proletariat nicht<br />
für Kerenskis Diktatur, son<strong>der</strong>n für die Errungenschaften <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«, so äußerte<br />
sich eine Fabrik nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en in Petrograd, Moskau, in <strong>der</strong> Provinz. Ohne die geringsten<br />
politischen Zugeständnisse an die Versöhnler, ohne Organisationen o<strong>der</strong> Banner zu<br />
verwechseln, waren die Bolschewiki wie stets bereit, ihre Handlungen dem einen Gegner<br />
und Feind anzupassen, wenn dieses die Möglichkeit gab, einem an<strong>der</strong>en, im gegebenen<br />
Augenblick gefährlicheren Feind einen Schlag zuzufügen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 522
Im Kampf gegen Kornilow verfolgten die Bolschewiki ihre »beson<strong>der</strong>en Ziele«,<br />
Suchanow spielt darauf an, daß sie sich schon in jener Zeit die Aufgabe gestellt hätten,<br />
das Verteidigungskomitee in ein Werkzeug <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung zu verwandeln.<br />
Daß die revolutionären Komitees <strong>der</strong> Kornilowtage bis zu einem gewissen Grade<br />
Vorbil<strong>der</strong> jener Organe wurden, die später den Aufstand des Proletariats leiteten, ist<br />
unbestreitbar. Trotzdem mißt Suchanow den Bolschewiki einen zu großen Weitblick bei,<br />
wenn er glaubt, sie hätten dieses Organisationsmoment vorausgesehen. Die »beson<strong>der</strong>en<br />
Ziele« <strong>der</strong> Bolschewiki bestanden darin, die Konterrevolution zu zerschmettern, wenn<br />
angängig die Versöhnler von den Kadetten zu trennen, möglichst große Massen unter die<br />
eigene Leitung zu sammeln, eine möglichst hohe Zahl revolutionärer Arbeiter zu bewaffnen.<br />
Aus diesen ihren Zielen machten die Bolschewiki kein Hehl. Die verfolgte Partei<br />
rettete die Regierung <strong>der</strong> Repressalien und <strong>der</strong> Verleumdung; doch errettete sie vor <strong>der</strong><br />
militärischen Vernichtung, um sie desto sicherer politisch zu erschlagen.<br />
Die letzten Augusttage brachten wie<strong>der</strong> eine scharfe Verschiebung im Kräfteverhältnis,<br />
diesmal von rechts nach links. Die zum Kampfe aufgerufenen Massen stellten mühelos<br />
jene Lage wie<strong>der</strong> her, die die Sowjets vor <strong>der</strong> Julikrise innehatten. Von nun an ist das<br />
Schicksal <strong>der</strong> Sowjets wie<strong>der</strong> in ihren eigenen Händen. Die Macht kann von den Sowjets<br />
kampflos ergriffen werden. Dazu brauchen die Versöhnler nur das zu befestigen, was in<br />
<strong>der</strong> Wirklichkeit entstanden war. Die Frage ist nur: werden sie es wollen? ... In <strong>der</strong> Hitze<br />
erklären die Versöhnler, eine Koalition mit den Kadetten sei nicht mehr denkbar. Wenn<br />
dem so ist, so ist sie überhaupt undenkbar. Die Ablehnung einer Koalition kann jedoeh<br />
nichts an<strong>der</strong>es bedeuten als den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Versöhnler.<br />
Lenin erfaßt sofort das Wesen <strong>der</strong> neuen Situation, um aus ihm notwendige Schlußfolgerungen<br />
zu ziehen. Am 3. September schreibt er einen hervorragenden Artikel "Über<br />
Kompromisse". Die Rolle <strong>der</strong> Sowjets habe sich wie<strong>der</strong>um verän<strong>der</strong>t, stellt er fest:<br />
Anfang Juli waren sie Kampforgane gegen das Proletariat, Ende August wurden sie<br />
Kampforgane gegen die Bourgeoisie. Die Sowjets haben wie<strong>der</strong> Truppen zu ihrer Verfügung<br />
erhalten. Die <strong>Geschichte</strong> bietet wie<strong>der</strong>um die Möglichkeit einer friedlichen<br />
Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Das sei eine ausnahmsweise seltene und wertvolle<br />
Möglichkeit: man müsse den Versuch machen, sie zu verwirklichen. Lenin verspottet<br />
nebenbei jene Phraseure, die jegliche Kompromisse als unzulässig betrachten: die<br />
Aufgabe bestehe darin, ȟber alle Kompromisse hinweg, insofern sie unvermeidlich<br />
sind«, die eigenen Ziele und Aufgaben durchzuführen. »Ein Kompromiß unsererseits<br />
ist«, sagt er, »unsere Rückkehr zu den Vor-Julifor<strong>der</strong>ungen: alle Macht den Sowjets, eine<br />
den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki. Jetzt,<br />
und nur jetzt, vielleicht nur im ganzen während einiger Tage o<strong>der</strong> einer bis zwei Wochen,<br />
könnte eine solche Regierung vollständig friedlich geschaffen und gefestigt werden.«<br />
Diese kurze Frist sollte die ganze Schärfe <strong>der</strong> Situation charakterisieren: den Versöhnlern<br />
sind gezählte Tage geblieben, ihre Wahl zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu treffen.<br />
Die Versöhnler beeilten sich, den Leninschen Vorschlag als eine arglistige Falle<br />
abzuwehren. In Wirklichkeit enthielt <strong>der</strong> Vorschlag nicht eine Spur von List: überzeugt,<br />
daß seine Partei berufen sei, sich an die Spitze des Volkes zu stellen, macht Lenin einen<br />
offenen Versuch, den Kampf zu mil<strong>der</strong>n durch Abschwächung des Wi<strong>der</strong>standes <strong>der</strong><br />
Feinde angesichts <strong>der</strong> Unvermeidlichkeit.<br />
Die kühnen Wendungen Lenins, die sich stets aus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Situation selbst<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 523
ergeben und unabän<strong>der</strong>lich die Einheit <strong>der</strong> strategischen Absicht bewahren, bilden eine<br />
unschätzbare Akademie für revolutionäre Strategie. Der Kompromißvorschlag hatte die<br />
Bedeutung eines Anschauungsunterrichts in erster Linie für die bolschewistische Partei<br />
selbst. Er zeigte, daß es für die Versöhnler trotz <strong>der</strong> Erfahrung mit Kornilow keine<br />
Rückkehr auf dem Weg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gab. Die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki fühlte sich<br />
nunmehr endgültig als die einzige Partei <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Die Versöhnler lehnten es ab, die Rolle einer Transmission zu erfüllen, die die Macht<br />
aus den Händen <strong>der</strong> Bourgeoisie in die Hände des Proletariats überleitet, wie sie im März<br />
die Rolle einer Transmission gespielt hatten, die die Macht aus den Händen des Proletariats<br />
in die Hände <strong>der</strong> Bourgeoisie übertrug. Damit allein schon blieb die Losung, "die<br />
Macht den Sowjets", wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Luft hängen. Jedoch nicht für lange: bereits in den<br />
nächsten Tagen erhielten die Bolschewiki die Mehrheit im Petrogra<strong>der</strong> und danach in<br />
einer Reihe an<strong>der</strong>er Sowjets. Die Losung: "Die Macht den Sowjets", wurde deshalb nicht<br />
zum zweitenmal von <strong>der</strong> Tagesordnung abgesetzt, son<strong>der</strong>n erhielt einen neuen Sinn: Alle<br />
Macht den bolschewistischen Sowjets. In dieser ihrer Form hörte die Losung endgültig<br />
aul, eine Losung friedlicher Entwicklung zu sein. Die Partei betritt den Weg des bewaffneten<br />
Aufstandes durch die Sowjets und im Namen <strong>der</strong> Sowjets.<br />
Zum Verständnis des weiteren Entwicklungsganges muß man die Frage stellen: Wie<br />
hatten die Versöhnlersowjets Anfang September die Macht, die sie im Juli verloren<br />
hatten, wie<strong>der</strong> erlangt? Durch die Resolution des VI. Parteitages zieht sich wie ein roter<br />
Faden die Behauptung, als sei im Resultat <strong>der</strong> Juliereignisse die Doppelherrschaft liquidiert<br />
und von <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> Bourgeoisie abgelöst worden. Die neuesten Sowjethistoriker<br />
schreiben diesen Gedanken von einem Buch ins an<strong>der</strong>e ab, ohne auch nur zu<br />
versuchen, ihn nochmals im Lichte <strong>der</strong> nachfolgenden Ereignisse zu überprüfen. Sie<br />
stellen sich nicht einmal die Frage: Wenn im Juli die Macht restlos in die Hände einer<br />
Militärclique übergegangen war, weshalb mußte dann im August diese Militärclique zum<br />
Aufstand greifen? Den riskanten Weg <strong>der</strong> Verschwörung beschreitet nicht, wer die<br />
Macht besitzt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>, <strong>der</strong> sie ergreifen will.<br />
Die Formel des VI. Parteitages war zumindest unpräzis. Bezeichneten wir mit Doppelherrschaft<br />
jenes Regime, unter dem in den Händen <strong>der</strong> offiziellen Regierung wesentlich<br />
eine Fiktion <strong>der</strong> Macht, die reale Macht aber in den Händen des Sowjets war, so besteht<br />
kein Grund, zu behaupten, die Doppelherrschaft sei mit dem Augenblick liquidiert<br />
gewesen, wo ein Teil <strong>der</strong> realen Macht vom Sowjet zur Bourgeoisie überging. Vom<br />
Standpunkt <strong>der</strong> Kampfaufgaben des Augenblicks konnte man und durfte man die<br />
Konzentrietung <strong>der</strong> Macht in den Händen <strong>der</strong> Konterrevolution überschätzen. Politik ist<br />
nicht Mathematik. Praktisch war es unermeßlich gefährlicher, die Bedeutung <strong>der</strong> stattgefundenen<br />
Verän<strong>der</strong>ung zu unterschätzen als sie zu überschätzen. Die histotische Analyse<br />
jedoch bedarf nicht <strong>der</strong> Übertreibungen <strong>der</strong> Agitation.<br />
Den Gedanken Lenins versimpelnd, sagte Stalin auf dem Parteitag: »Die Lage ist klar.<br />
Von Doppelherrschaft spricht jetzt niemand. Haben die Sowjets früher eine reale Macht<br />
dargestellt, so sind es jetzt nur Organe des Massenzusammenschlusses, die über keine<br />
Macht verfügen.« Einige Delegierte wi<strong>der</strong>sprachen in dem Sinne, daß im Juli die<br />
Reaktion triumphiert, aber die Konterrevolution nicht gesiegt habe. Stalin antwortete<br />
darauf mit einem überraschenden Aphorismus: »Während einer <strong>Revolution</strong> gibt es keine<br />
Reaktion.« In Wirklichkeit siegt die <strong>Revolution</strong> nur über eine Reihe sich ablösen<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 524
Reaktionen: sie macht stets einen Schritt rückwärts nach zwei Schritten vorwärts. Die<br />
Reaktion verhält sich zur Konterrevolution wie die Reform zur Umwälzung. Als Siege<br />
<strong>der</strong> Reaktion kann man solche Verän<strong>der</strong>ungen im Regime bezeichnen, die dieses den<br />
Bedürfnissen <strong>der</strong> konterrevolutionären Klasse annähern, ohne indes den Träger <strong>der</strong><br />
Macht zu wechseln. Der Sieg <strong>der</strong> Konterrevolution hingegen ist undenkbar ohne<br />
Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände einer an<strong>der</strong>en Klasse. Ein solch entscheiden<strong>der</strong><br />
Ubergang fand im Juli nicht statt.<br />
»Wenn <strong>der</strong> Juliaufstand ein halber Aufstand war«, schrieb mit Recht einige Monate<br />
später Bucharin, <strong>der</strong> es jedoch nicht vermocht hatte, aus seinen eigenen Worten die<br />
notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen, »so war bis zu einem gewissen Grade auch<br />
<strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Konterrevolution ein halber Sieg.« Doch <strong>der</strong> halbe Sieg konnte <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie die Macht nicht bringen. Die Doppelherrschaft hatte sich umgestaltet und<br />
verwandelt, war aber nicht verschwunden. In <strong>der</strong> Fabrik konnte man wie früher nichts<br />
gegen den Willen <strong>der</strong> Arbeiter unternehmen. Die Bauern hatten so viel Macht behalten,<br />
um den Gutsbesitzer am Genuß seiner Eigentumsrechte zu hin<strong>der</strong>n. Die Kommandeure<br />
fühlten sich vor den Soldaten unsicher. Was aber ist Macht, wenn nicht die materielle<br />
Möglichkeit, über Militärgewalt und Eigentum zu verfügen? Am 13. August schrieb<br />
Trotzki über die stattgefundenen Verschiebungen: »Nicht darum handelt es sich, daß<br />
neben <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong> Sowjet stand, <strong>der</strong> eine ganze Reihe von Regierungsfunktionen<br />
erfüllte... Wesentlich ist, daß hinter Sowjet und Regierung zwei verschiedene Regimes<br />
standen, die sich auf verschiedene Klassen stützten ... Das von oben angepflanzte Regime<br />
<strong>der</strong> kapitalistischen Republik und das von unten herangewachsene Regime <strong>der</strong> Arbeiterdemokratie<br />
paralysierten einan<strong>der</strong>.«<br />
Es ist ganz unzweifelhaft, daß das Zentral-Exekutivkomitee den Löwenanteil seiner<br />
Bedeutung verloren hatte. Doch wäre es falsch zu glauben, die Bourgeoisie hätte alles<br />
gewonnen, was die Versöhnlerspitzen eingebüßt hatten. Die letzteren verloren nicht nur<br />
an rechts, son<strong>der</strong>n auch an links, nicht nur zugunsten <strong>der</strong> Militärcliquen, son<strong>der</strong>n auch<br />
zugunsten <strong>der</strong> Fabrik- und Regimentskomitees. Die Macht dezentralisierte sich, zerbrökkelte,<br />
verkroch sich teilweise unter die Erde wie jene Waffe, die <strong>der</strong> Arbeiter nach <strong>der</strong><br />
Julinie<strong>der</strong>lage versteckte. Die Doppelherrschaft hörte auf, "friedlich", "kontaktierend",<br />
regulierend zu sein. Sie wurde unterirdischer, dezentralisierter, polarer und explosiver.<br />
Ende August verwandelte sich die verborgene Doppelherrschaft wie<strong>der</strong> in eine aktive.<br />
Wir werden sehen, welche Bedeutung diese Tatsache im Oktober gewonnen hat.<br />
Letzte Koalition<br />
Traditionsgemäß unfähig, einem ernsthafteren Stoß standzuhalten, fiel die Provisorische<br />
Regierung, wie wir uns erinnern, in <strong>der</strong> Nacht auf den 26. August auseinan<strong>der</strong>. Es<br />
traten die Kadetten aus um Kornilow die Arbeit zu erleichtern. Es traten die <strong>Sozialisten</strong><br />
aus, um Kerenski die Arbeit zu erleichtern. Eine neue Regierungskrise begann. Vor allem<br />
ging die Frage um Kerenski selbst: das Regierungshaupt hatte sich als Mitbeteiligter an<br />
<strong>der</strong> Verschwörung entpuppt. Die Empörung gegen ihn war so groß, daß bei Erwähnung<br />
seines Namens die Versöhnlerführer jeden Augenblick zum bolschewistischen Vokabular<br />
greifen mußten. Tschernow, soeben in voller Fahrt aus dem Ministerzug hinausgesprungen,<br />
schrieb im Zentralorgan seiner Partei über den »Wirrwarr, bei dem man nicht<br />
klug wird, wo Kornilow aufhört und Filonenko und Sawinkow beginnen, wo Sawinkow<br />
aufhört und die Provisorische Regierung als solche beginnt«. Die Anspielung war klar<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 525
genug: »die Provisorische Regierung als solche« - das war ja Kerenski, <strong>der</strong> mit Tschernow<br />
einer Partei angehörte.<br />
Doch während sie ihre Seele durch starke Ausdrücke erleichterten, kamen die<br />
Versöhnler zu dem Schluß, ohne Kerenski nicht auskommen zu können. Hatten sie<br />
Kerenski gehin<strong>der</strong>t, Kornilow zu amnestieren, so beeilten sie sich selbst, Kerenski<br />
Amnestie zu erteilen. Als Kompensation erklärte er sich zu einer Konzession in <strong>der</strong> Frage<br />
<strong>der</strong> Regierungsform Rußlands bereit. Noch gestern galt, daß diese Frage nur die Konstituierende<br />
Versammlung lösen könne. Jetzt traten die juristischen Hin<strong>der</strong>nisse jäh zurück.<br />
Kornilows Absetzung wurde in <strong>der</strong> Regierungsproklamation mit <strong>der</strong> Notwendigkeit »<strong>der</strong><br />
Rettung <strong>der</strong> Heimat, <strong>der</strong> Freiheit und des republikanischen Regimes« erklärt. Der nur in<br />
Worten vollzogene und außerdem verspätete Ruck nach links konnte selbstverständlich<br />
die Autorität <strong>der</strong> Regierung nicht festigen, um so weniger, als auch Kornilow sich für<br />
einen Republikaner ausgegeben hatte.<br />
Am 30. August mußte Kerenski Sawinkow entlassen, den man einige Jage später sogar<br />
aus <strong>der</strong> allumfassenden sozialrevolutionären Partei ausschloß. Jedoch wurde zum<br />
Generalgouverneur <strong>der</strong> politisch Sawinkow gleichwertige Paltschinski ernannt, <strong>der</strong> damit<br />
begann, daß er die Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki verbot. Die Exekutivkomitees protestierten.<br />
Die 'Iswestja' bezeichneten den Akt als »gröblichste Provokation«. Paltschinski mußte<br />
nach drei Tagen entfernt werden. Wie wenig Kerenski die Absicht hatte, überhaupt<br />
seinen politischen Kurs zu än<strong>der</strong>n, beweist die Tatsache, daß er bereits am 31. an die<br />
Formierung einer neuen Regierung unter Hinzuziehung <strong>der</strong> Kadetten schritt. Darauf<br />
konnten sogar die Sozialrevolutionäre nicht eingehen: sie drohten, ihre Vertreter abzuberufen.<br />
Ein neues Regierungsrezept wurde von Zeretelli entdeckt: »Die Idee <strong>der</strong> Koalition<br />
aufrechterhalten, aber alle Elemente, die als schwere Last die Regierung bedrücken,<br />
hinweg-fegen.« - »Die Koalitionsidee hat sich gefestigt«, stimmte Skobeljew ein, »doch<br />
kann es in <strong>der</strong> Regierung keinen Platz geben für jene Partei, die mit Kornilows<br />
Verschwörung verknüpft war.« Kerenski war mit dieser Einschränkung nicht einverstanden,<br />
und er hatte auf seine Art recht.<br />
Eine Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie, doch unter Ausschluß <strong>der</strong> führenden bürgerlichen<br />
Partei, war offensichtlicher Unsinn. Darauf verwies Kamenjew, als er bei <strong>der</strong> vereinigten<br />
Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees in dem ihm eigenen Tone <strong>der</strong> Ermahnung Schlußfolgerungen<br />
aus den frischen Ereignissen zog. »Ihr wollt uns auf den noch gelährlicheren Weg<br />
einer Koalition mit unverantwortlichen Gruppen werfen. Doch ihr habt eine Koalition<br />
vergessen, die sich gesammelt und gefestigt hat durch die verhängnisvollen Ereignisse<br />
<strong>der</strong> letzten Tage - die Koalition zwischen revolutionärem Proletariat, Bauernschaft und<br />
revolutionärer Armee.« Der bolschewistische Redner erinnerte an die von Trotzki am 26.<br />
Mai zur Verteidigung <strong>der</strong> Kronstädter gegen Zeretellis Anklagen gesprochenen Worte:<br />
»Wenn ein konterrevolutionärer General versuchen sollte, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine Schlinge<br />
um den Hals zu werfen, werden Kadetten den Strick einseifen, Kronstädter Matroscn<br />
aber werden kommen, um mit euch zusammen zu kämpfen und zu sterben.« Diese Erwähnung<br />
traf den Kern. Auf das Gerede von »Einheit <strong>der</strong> Demokratie« und »ehrlicher Koalition«<br />
antwortete Kamenjew: »Die Einheit <strong>der</strong> Demokratie hängt davon ab, ob ihr eine<br />
Koalition mit dem Wyborger Bezirk eingehen werdet o<strong>der</strong> nicht ... Jede an<strong>der</strong>e Koalition<br />
ist ehrlos.« Kamenjews Rede machte unleugbar Eindruck, den Suchanow mit den<br />
Worten registriert: »Sehr klug und taktisch sprach Kamenjew.« Doch über einen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 526
Eindruck ging die Sache nicht hinaus. Die Wegc bei<strong>der</strong> Parteien waren vorausbestimmt.<br />
Der Bruch <strong>der</strong> Versöhnler mit den Kadetten hatte im wesentlichen von Anfang an rein<br />
demonstrativen Charakter. Die liberalen Kornilowianer begriffen selbst, daß es für sie<br />
besser war, den nächsten Tagen sich im Schatten zu halten. Hinter den Kulissen wurde in<br />
offensichtlicher Übereinstimmung mit den Kadetten beschlossen, eine sich <strong>der</strong>art über<br />
sämtliche realen Kräfte <strong>der</strong> Nation erhebende Regierung zu schaffen, daß ihr provisorischer<br />
Charakter bei niemand Zweifel hervorrufen könnte. Außer Kerenski gehörten dem<br />
fünfgliedrigen Direktorium an: Außenminister Tereschtschenko, <strong>der</strong> wegen seiner<br />
Verbindung mit <strong>der</strong> Ententediplomatie bereits unersetzbar geworden war; <strong>der</strong> Moskauer<br />
Kreiskommandierende Werschowski, zu diesem Zwecke schleunigst vom Oberst zum<br />
General beför<strong>der</strong>t; Admiral Wer<strong>der</strong>ewski, zu diesem Zwecke schleunigst aus dem<br />
Gefängnis befreit; schließlich <strong>der</strong> zweifelhafte Menschewik Nikitin, den seine Partei kurz<br />
darauf als reif für den Ausschluß aus ihren Reihen erkannte.<br />
Nachdem Kerenski mit fremden Händen Kornilow besiegt hatte, schien es, als sei er<br />
einzig darum besorgt, dessen Programm in die Wirklichkeit durchzusetzen. Kornilow<br />
hatte die Macht des Höchstkommandierenden mit <strong>der</strong> Macht des Regierungsoberhauptes<br />
vereinigen wollen. Kerenski verwirklichte das. Kornilow hatte beabsichtigt, die persönliche<br />
Diktatur durch ein fünfgliedriges Direktorium zu verschleiern. Kerenski führte das<br />
durch. Tschernow, dessen Absetzung die Bourgeoisie gefor<strong>der</strong>t hatte, wurde von<br />
Kerenski aus dem Winterpalais hinausgesetzt. General Alexejew, Held <strong>der</strong> Kadettenpartei<br />
und <strong>der</strong>en Kandidat für den -Posten des Ministerpräsidenten, ernannte er zum<br />
Generalstabschef des Hauptquartiers, das heißt faktisch zum Haupt <strong>der</strong> Armee. In einem<br />
Befehl an Armee und Flotte verlangte Kerenski Einstellung des politischen Kampfes bei<br />
den Truppen, das heißt Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ausgangsposition. Aus seinem Versteck<br />
charakterisierte Lenin die Lage mit <strong>der</strong> ihm eigenen höchsten Einfachheit: »Kerenski ist<br />
Kornilowianer, <strong>der</strong> sich zufällig mit Kornilow verzankt hat und mit den übrigen Kornilowianern<br />
weiter im intimsten Bunde bleibt.« Aber ein Pech: <strong>der</strong> über die Konterrevolution<br />
errungene Sieg ist viel tiefer, als es für Kerenskis persönliche Pläne nötig war.<br />
Das Direktorium beeilte sich, den früheren Kriegsminister Gutschkow, <strong>der</strong> als einer <strong>der</strong><br />
Verschwörerinspiratoren galt, aus dem Gefängnis zu befreien. Gegen die Inspiratoren aus<br />
den Reihen <strong>der</strong> Kadetten erhob die Justiz den Arm überhaupt nicht. Die Bolschewiki<br />
weiter hinter Schloß und Riegel zu halten, wurde unter diesen Umständen immer schwieriger.<br />
Die Regierung fand einen Ausweg: ohne die Anklage aufzuheben, die Bolschewiki<br />
gegen Kaution zu entlassen. Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Gewerkschaften übernahm »die<br />
Ehre, für den verdienstvollen Führer des revolutionären Proletariats die Kaution zu<br />
stellen«: am 4. September wurde Trotzki gegen die bescheidene, im wesentlichen fiktive<br />
Kaution von dreitausend Rubel enthaftet. In seiner "<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirren"<br />
schreibt General Denikin pathetisch: »Am 1. September wurde General Kornilow verhaftet,<br />
am 4. September von <strong>der</strong> gleichen Provisorischen Regierung Bronstein-Trotzki in<br />
Freiheit gesetzt. Diese zwei Daten muß Rußland im Gedächtnis behalten.« Entlassungen<br />
von Bolschewiki gegen Bürgschaft dauerten während <strong>der</strong> nächsten Tage an. Die aus dem<br />
Gefängnis Befreiten verloren keine Zeit: die Massen warteten und riefen, die Partei<br />
brauchte Menschen.<br />
Am Tage <strong>der</strong> Freilassung Trotzkis veröffentlichte Kerenski einen Erlaß, in welchem er<br />
eingestand, die Komitees hätten »<strong>der</strong> Regierungsmacht recht wesentliche Hilfe geleistet«,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 527
gleichzeitig diesen Komitees aber befahl, die weitere Tätigkeit einzustellen. Sogar die<br />
'Iswestja' mußten zugeben, daß <strong>der</strong> Autor des Erlasses ein »recht schwaches<br />
Verständnis« für die Situation bewiesen habe. Die Konferenz <strong>der</strong> Bezirkssowjets Petrograds<br />
beschloß: »die revolutionären Organisationen zum Kampfe gegen die Konterrevlution<br />
nicht aufzulösen«. Der Vorstoß von unten war so stark, daß das versöhnlerische<br />
Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee entschied, Kerenskis Verfügung nicht anzuerkennen,<br />
und seine Lokalorgane aufrief, »angesichts <strong>der</strong> fortdauernd besorgniserregenden Lage<br />
mit bisheriger Energie und Ausdauer zu arbeiten«. Kerenski schwieg: etwas an<strong>der</strong>es zu<br />
tun blieb ihm auch nicht übrig.<br />
Das allmächtige Oberhaupt des Direktoriums mußte bei jedem Schritt gewahr werden,<br />
daß die Situation sich gewandelt hatte, <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gewachsen war und man gezwungen<br />
sei, manches, wenigstens in Worten, zu än<strong>der</strong>n. Am 7. September gab Werschowski<br />
eine Erklärung an die Presse, das vor Kornilows Meuterei ausgearbeitete Programm zur<br />
Gesundung <strong>der</strong> Armee müsse im gegenwärtigen Augenblick verworfen werden, denn bei<br />
<strong>der</strong> »gegebenen psychischen Verfassung <strong>der</strong> Armee« würde es nur zu ihrer noch größeren<br />
Zersetzung führen. Zur Kennzeichnung <strong>der</strong> neuen Ära trat <strong>der</strong> Kriegsminister im Exekutivkomitee<br />
auf, man möge ohne Sorge sein: General Alexejew werde gehen und mit ihm<br />
alle, die an dem Kornilowaufstande so o<strong>der</strong> so beteiligt waren. Gesunde Prinzipien<br />
müßten <strong>der</strong> Armee eingeimpft werden »nicht mit Maschinengewehren und Nagaikas,<br />
son<strong>der</strong>n durch Suggerierung von Ideen des Rechts, <strong>der</strong> Gerechtigkeit und strenger Disziplin«.<br />
Das roch ganz nach den Frühlingstagen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Aber draußen war<br />
September, es nahte <strong>der</strong> Herbst. Alexejew wurde nach einigen Tagen wirklich abgesetzt<br />
und durch General Duehonin ersetzt: <strong>der</strong> Vorzug dieses Generals bestand darin, daß man<br />
ihn nicht kannte.<br />
Als Entschädigung für die Zugeständnisse verlangten Kriegs- und Marineminister vom<br />
Exekutivkomitee sofortige Hilfe: die Offiziere gingen unter dem Damoklesschwert<br />
herum, am schlimmsten stehe die Sache bei <strong>der</strong> Baltischen Flotte, man müsse die Matrosen<br />
beschwichtigen. Nach langen Debatten wurde, wie üblich, beschlossen, zur Flotte<br />
eine Delegation zu schicken, wobei die Versöhnler darauf drängten, daß Bolschewiki,<br />
vor allem Trotzki, ihr angehören müßten: nur unter dieser Bedingung könne die Delegation<br />
auf Erfolg rechnen. »Wir lehnen entschieden jene Form <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit <strong>der</strong><br />
Regierung ab«, erwi<strong>der</strong>te Trotzki, »die Zeretelli befürwortete ... Die Regierung verfolgt<br />
eine in den Wurzeln falsche, volksfeindliche und unkontrollierbare Politik; wenn aber<br />
diese Politik in eine Sackgasse gerät o<strong>der</strong> zu einer Katastrophe geführt hat, dann werden<br />
die revolutionären Organisationen mit <strong>der</strong> groben Arbeit beauftragt, die unabwendbaren<br />
Folgen heizulegen ... Eine <strong>der</strong> Aufgaben dieser Delegation besteht, nach Ihrer Formulierung,<br />
in <strong>der</strong> Aufdeckung von "dunklen Kräften" in den Garnisonen, das heißt von Provokateuren<br />
und Spionen ... Haben Sie es wirklich vergessen, daß ich selbst unter <strong>der</strong><br />
Anklage des Paragraphen 108 stehe? ... Im Kampfe gegen Selbstjustiz gehen wir unseren<br />
eigenen Weg ... nicht Hand in Hand mit Staatsanwalt und Konterspionage, sondem als<br />
revolutionäre Partei, die zu überzeugen, zu organisieren und zu erziehen sucht.«<br />
Die Einberufung <strong>der</strong> Demokratischen Beratung war in den Tagen des Kornilowaufstandes<br />
beschlossen worden. Sie sollte noch einmal die Stärke <strong>der</strong> Demokratie zeigen,<br />
ihren Gegnern von rechts und links Achtung einflößen und - nicht zuletzt - dem ungebärdigen<br />
Kerenski Zügel anlegen. Die Versöhnler gedachten ernstlich, die Regierung vor<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 528
Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung irgendeiner improvisierten Vertretung<br />
unterzuordnen. Die Bourgeoisie verhielt sich zur Beratung von vornherein feindlich, da<br />
sie in ihr einen Versuch erblickte, die Positionen zu festigen, die die Demokratie durch<br />
den Sieg über Kornilow zurückerlangt hatte. »Zeretellis Vorhaben«, schreibt Miljukow<br />
in seiner "<strong>Geschichte</strong>t" »war im wesentlichen völlige Kapitulation vor Lenins und Trotzkis<br />
Plänen.« Ganz im Gegenteil: Zeretellis Vorhaben war darauf gerichtet, den Kampf<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki um die Macht <strong>der</strong> Sowjets zu paralysieren. Die Demokratische Beratung<br />
sollte dem Sowjetkongreß entgegengestellt werden. Die Versöhnler wollten sich eine<br />
neue Basis schaffen, indem sie versuchten, die Sowjets durch künstlichen Zusammenschluß<br />
verschiedenster Organisationen zu erdrosseln. Die Demokraten verteilten die<br />
Stimmen nach eigenem Ermessen, geleitet von <strong>der</strong> einen Sorge: sich die unbestreitbare<br />
Mehrheit zu sichern. Die Spitzenorganisationen waren unvergleichlich zahlreicher vertreten<br />
als die unteren. Die Selbstverwaltungsorgane, darunter auch die nicht demokratisierten<br />
Semstwos, erhielten ein gewaltiges Übergewicht über die Sowjets. Den<br />
Genossenschaften fiel die Rolle <strong>der</strong> Schicksallenker zu.<br />
Sie, die früher in <strong>der</strong> Politik keinen Platz innehatten, taten sich in den Tagen <strong>der</strong><br />
Moskauer Beratung zum ersten Mal in <strong>der</strong> politischen Arena hervor und begannen seit<br />
dieser Zeit nicht an<strong>der</strong>s aufzutreten als im Namen von zwanzig Millionen ihrer Mitglie<strong>der</strong><br />
o<strong>der</strong>, noch einfacher, im Namen »<strong>der</strong> halben Bevölkerung Rußlands«. Die Genossenschaften<br />
waren im Dorfe verwurzelt durch dessen obere Schichten, die einer "gerechten"<br />
Expropriierung des Adels unter <strong>der</strong> Bedingung zustimmten, daß ihre eigenen, häufig<br />
nicht unbeträchtlichen Besitzungen nicht nur Schutz, son<strong>der</strong>n auch Zuwachs erhielten.<br />
Die Genossenschaftsführer wurden geworben aus <strong>der</strong> liberal-volkstümlerisehen, zum<br />
Teil auch aus <strong>der</strong> liberal-marxistischen Intelligenz, die eine natürliche Brücke zwischen<br />
Kadetten und Versöhnlern schuf. Den Bolschewiki gegenüber verhielten sich die Genossenschaftler<br />
mit dem gleichen Haß, mit dem sich <strong>der</strong> Kulak dem ungehorsamen Tagelöhner<br />
gegenüber verhält. Die Versöhnler klammerten sich mit Gier an die ihrer<br />
Neutralitätsrnaske entblößten Genossenschaften, um gegen die Bolschewiki Verstärkung<br />
zu gewinnen. Lenin brandmarkte hart die Köche <strong>der</strong> demokratischen Küche. »Zehn<br />
überzeugte Soldaten o<strong>der</strong> Arbeiter einer rückständigen Fabrik«, schrieb er, »sind<br />
tausendmal mehr wert als hun<strong>der</strong>t untergeschobene Delegierte.« Trotzki wies im Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet nach, daß die Genossenschaftsbeamten ebensowenig den politischen<br />
Willen <strong>der</strong> Bauern ausdrücken wie etwa <strong>der</strong> Arzt den politischen Willen seiner Patienten<br />
o<strong>der</strong> ein Postbeamter die Anschauungen <strong>der</strong> Absen<strong>der</strong> und Empfänger von Briefen.<br />
»Genossenschaftler müssen gute Organisatoren, Kaufleute, Buchhalter sein, doch die<br />
Verteidigung ihrer Klassenrechte übertragen Bauern wie Arbeiter ihren Sowjets.« Das<br />
hin<strong>der</strong>te die Genossensehaftler nicht, hun<strong>der</strong>tfünfzig Plätze zu erhalten und gemeinsam<br />
mit den nicht reformierten Semstwos und allerhand an<strong>der</strong>en bei den Haaren herbeigezogenen<br />
Organisationen den Charakter <strong>der</strong> Vertretung <strong>der</strong> Massen völlig zu verfälschen.<br />
Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet nahm in die Liste seiner Delegierten zur Beratung Lenin und<br />
Sinowjew auf. Die Regierung erließ einen Befehl, beide beim Betreten des Theatergebäudes<br />
zu verhaften, aber nicht im Sitzungssaal selbst: das war wohl ein Kompromiß<br />
zwischen Versöhnlern und Kerenski. Doch beschränkte sich die Sache auf eine politische<br />
Demonstration seitens des Sowjets: we<strong>der</strong> Lenin noch Sinowjew hatten vor, in <strong>der</strong><br />
Beratung zu erscheinen. Lenin war <strong>der</strong> Ansicht, die Bolschewiki hätten dort überhaupt<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 529
nichts zu suchen.<br />
Die Beratung wurde eröffnet am 14. September, genau einen Monat nach <strong>der</strong> Staatsberatung,<br />
im Zuschauersaal des Alexandrinski-Theaters. Die Zahl <strong>der</strong> zugelassenen Vertreter<br />
erreichte 1.775. Etwa 1.200 wolmten <strong>der</strong> Eröffnung bei. Die Bolschewiki waren<br />
selbstverständlich in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Aber trotz allen Kunstgriffen des Wahlsystems<br />
bildeten sie eine sehr imposante Gruppe, die in gewissen Fragen über ein Drittel <strong>der</strong><br />
gesamten Stimmen auf sich vereinigte.<br />
Ist es einer starken Regierung würdig, vor einer "privaten" Beratung aufzutreten?<br />
Diese Frage war Gegenstand großer Schwankungen im Winterpalais, die sich in Aufregungen<br />
im Alexandrinski-Theater wi<strong>der</strong>spiegelten. Endlich beschloß das<br />
Regierunghaupt, sich <strong>der</strong> Demokratie zu zeigen. »Mit Beifall empfangen«, erzählt<br />
Schljapnikow über Kerenskis Erscheinen, »begab er sich zum Präsidium, um den am<br />
Tische Sitzenden die Hand zu drükken. Es kam die Reihe an uns [Bolschewiki], die wir in<br />
<strong>der</strong> Nähe beieinan<strong>der</strong> saßen. Wir sahen uns an und verabredeten schnell, ihm die Hand<br />
nicht zu reichen. Eine theatralische Geste über den Tisch hinweg, - ich wich <strong>der</strong> mir<br />
dargebotenen Hand aus, und Kerenski ging mit vorgestreckter Hand, ohne unsere Hände<br />
zu finden, weiter.« Die gleiche Behandlung fand das Regierungsoberhaupt auch am<br />
entgegengesetzten Flügel: bei den Kornilowianern. Aber außer Bolschewiki und Kornilowianern<br />
waren keine realen Kräfte mehr geblieben.<br />
Aus <strong>der</strong> ganzen Situation heraus gezwungen, Erklärungen über seine Rolle bei <strong>der</strong><br />
Verschwörung abzugeben, verließ sich Kerenski auch diesmal zu sehr auf Improvisation.<br />
»Ich weiß, was sie wollten«, versprach er sich, »denn ehe sie Kornilow aufsuchten,<br />
kamen sie zu mir und schlugen mir diesen Weg vor.« Rufe links: »Wer kam? ... Wer<br />
schlug vor?« Erschrocken über die Resonanz seiner eigenen Worte, wurde Kerenski<br />
schnell zurückhalten<strong>der</strong>. Die politische Unterlage <strong>der</strong> Verschwörung enthüllte sich<br />
jedoch auch den weniger Weisen. Der ukrainische Versöhnler Porsch berichtete nach<br />
seiner Rückkehr in <strong>der</strong> Kiewer Rada: »Kerenski mißlang, seine Nichtbeteiligung am<br />
Kornilowaufstand zu beweisen.« Aber das Regierungshaupt fügte sich mit seiner Rede<br />
noch einem an<strong>der</strong>en, nicht min<strong>der</strong> schweren Schlag zu. Als man in Beantwortung <strong>der</strong><br />
allen überdrüssig gewordenen Phrasen - »Im Moment <strong>der</strong> Gefahr werden alle zusammenkommen<br />
und sich verständigen«, und so weiter - ihm zurief: »Und die Todesstrafe?«,<br />
verlor <strong>der</strong> Redner das Gleichgewicht und schrie zur Überraschung für alle und wohl auch<br />
für sich selbst: »Wartet zuerst ab, bis auch nur ein Todesurteil von mir, dem Oberkommandierenden,<br />
unterschrieben sein wird, und erst dann werde ich euch erlauben, mich<br />
zu verfluchen.« An die Tribüne tritt ein Soldat heran und schreit ihm ins Gesicht: »Sie<br />
sind das Unglück <strong>der</strong> Heimat.« So?! Wo doch er, Kerenski, bereit ist, den hohen Rang zu<br />
vergessen, den er einnimmt, um sich als Mensch mit <strong>der</strong> Beratung auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />
»Aber <strong>der</strong> Mensch wird hier nicht von allen verstanden.« Darum sagt er in <strong>der</strong> Sprache<br />
<strong>der</strong> Macht: »Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> es wagen sollte ... « Ach, das hat man bereits in Moskau gehört,<br />
und Komibw hat es dennoch gewagt.<br />
»War die Todesstrafe eine Notwendigkeit gewesen«, fragte in seiner Rede Trotzki,<br />
»wie wagt er, Kerenski, zu sagen, er werde von ihr keinen Gebrauch machen? Hält er es<br />
aber für möglich, sich vor <strong>der</strong> Demokratie zu verpflichten, die Todesstrafe nicht<br />
anzuwenden, so ... verwandelt er <strong>der</strong>en Wie<strong>der</strong>herstellung in einen Leichtsinnsakt, <strong>der</strong><br />
jenseits <strong>der</strong> Grenze des Verbrecherischen steht.« Damit war <strong>der</strong> ganze Saal einverstan-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 530
den, die einen schweigend, die an<strong>der</strong>en stürmisch. »Kerenski hatte durch sein Geständnis<br />
sowohl sich wie die Provisorische Regierung damals stark diskreditiert«, sagt sein<br />
Kollege und Verehrer, <strong>der</strong> Gehilfe des Justizministers, Demjanow<br />
Nicht einer <strong>der</strong> Minister konnte etwas darüber aussagen, womit sich eigentlich die<br />
Regierung außer mit <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Fragen des eigenen Daseins beschäftigte.<br />
Wirtschaftliche Maßnahmen? Man konnte nicht eine einzige anführen. Friedenspolitik?<br />
»Ich weiß nicht«, sagte <strong>der</strong> ehemalige Justizminister Sarudny, einer <strong>der</strong> Offenherzigsten,<br />
»ob die Provisorische Regierung in dieser Hinsicht etwas unternommen hatte, ich habe<br />
dies nicht gesehen.« Verwun<strong>der</strong>t beschwerte sich Sarudny darüber, daß »die ganze<br />
Macht in die Hand eines einzelnen Menschen geriet«, auf dessen Wink Minister kamen<br />
und gingen. Zeretelli griff unvorsichtiger-weise dieses Thema auf: »Die Demokratie mag<br />
sich bei sich beklagen, wenn ihrem Vertreter auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Kopf zu schwindeIn<br />
begann.« Aber gerade Zcretelli verkörperte in sich am vollständigsten jene Züge <strong>der</strong><br />
Demokratie, die bonapartistische Machttendenzen erzeugten. »Warum hat Kerenski jenen<br />
Platz eingenommen, den er jetzt einnimmt?« erwi<strong>der</strong>te Trotzki, »die Vakanz für Kerenski<br />
wurde geschaffen durch die Schwäche und Unentschlossenheit <strong>der</strong> Demokratie ... Ich<br />
habe hier nicht einen Redner gehört, <strong>der</strong> die wenig beneidenswerte Ehre auf sich genommen<br />
hätte, das Direktorium o<strong>der</strong> dessen Vorsitzenden zu verteidigen ...« Nach einem<br />
Protestausbruch fährt <strong>der</strong> Redner fort: »Ich bedaure sehr, daß <strong>der</strong> Standpunkt, <strong>der</strong> jetzt<br />
im Saale so stürmischen Ausdruck findet, nicht seinen artikulierten Ausdruck auf dieser<br />
Tribüne gefunden hat. Nicht ein Redner ist hierhergekommen und hat uns gesagt: warum<br />
streitet ihr euch um eine verflossene Koalition, warum sorgt ihr euch um die Zukunft?<br />
Wir haben Kerenski, und dies genügt ...« Die bolschewistische Fragestellung verband<br />
fast automatisch Zeretelli mit Sarudny und beide mit Kerenski. Darüber schrieb treffend<br />
Miljukow: Sarudny mochte über Kerenskis Selbstherrlichkeit klagen, Zeretelli mochte<br />
darauf anspielen, daß dem Regierungsoberhaupt <strong>der</strong> Kopf zu schwindeln begann, - »das<br />
waren Worte«; als aber Trotzki konstatierte, in <strong>der</strong> Beratung hätte niemand die offene<br />
Verteidigung Kerenskis auf sich genommen, »fühlte die Versammlung jäh, daß da ein<br />
gemeinsamer Feind sprach«.<br />
Über die Macht redeten die Menschen, die sie repräsentierten, nicht an<strong>der</strong>s als über<br />
eine Last und ein Unglück. Kampf um die Macht? Minister Peschechondw belehrte: »Die<br />
Macht stellt sich jetzt als eine Sache dar, vor <strong>der</strong> sich alle wie vor dem Teufel bekreuzigen.«<br />
War dem so? Kornilow bekreuzigte sich nicht. Aber die ganz frische Lektion war<br />
bereits zur Hälfte vergessen. Zeretelli wetterte gegen die Bolschewiki, die selbst die<br />
Macht nicht übernehmen, son<strong>der</strong>n die Sowjets zur Macht drängen. Zeretellis Gedanken<br />
griffen an<strong>der</strong>e auf. Ja, die Bolschewiki müssen die Macht übeinehmen! sprach man<br />
halblaut am Präsidiumstisch. Awksentjew wandte sich an den in seiner Nähe sitzenden<br />
Schljapnikow: »Nehmt die Macht, mit euch gehen die Massen.« Dem Nachbar im<br />
gleichen Tone antwortend, schlug Schljapnikow vor, die Macht zuerst auf den Präsidiumstisch<br />
nie<strong>der</strong>zulegen. Halbironische Herausfor<strong>der</strong>ungen an die Adresse <strong>der</strong> Bolschewiki,<br />
sowohl in den Reden von <strong>der</strong> Tribüne herab wie in Couloirgesprächen, waren teils<br />
Hohn, teils Rekognoszierung. Was gedenken diese Menschen, die an die Spitze des<br />
Petrogra<strong>der</strong>, Moskauer und vieler Provinzsowjets geraten sind, weiter zu tun? Werden<br />
sie es tatsächlich wagen, die Macht zu ergreifen? Daran glaubte man nicht. Zwei Tage<br />
vor Zeretellis herausfor<strong>der</strong>ndem Auftreten schrieb die 'Rjetsch', das beste Mittel, den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 531
Bolschewismus für viele Jahre loszuwerden, wäre, seinen Führern die Geschicke des<br />
Landes auszuliefern; aber »diese traurigen Helden des Tages streben in Wirkliclikeit<br />
nicht danach, die ganze Macht zu ergreifen ... praktisch kann ihre Position von keinem<br />
Standpunkt aus in Rechnung gestellt werden«. Diese stolze Schlußfolgerung war zumindest<br />
übereilt.<br />
Ein riesiger Vorteil <strong>der</strong> Bolschewiki, bisher wohl noch nicht voll bewertet, war, daß sie<br />
ihre Gegner sehr gut verstanden, man kann sagen, ganz durchschauten. Dazu verhalf<br />
ihnen sowohl die materialistische Methode wie die Leninsche Schule <strong>der</strong> Klarheit und<br />
<strong>der</strong> Einfachheit wie die scharfe Wachsamkeit von Menschen, die entschlossen sind, bis<br />
ans Ende zu gehen. Die Liberalen und die Versöhnler hingegen konstruierten sich<br />
Bolschewiki je nach den Bedürfnissen des Augenblicks. An<strong>der</strong>s konnte es auch nicht<br />
sein: Parteien, denen die Entwicklung keinen Ausweg gelassen, haben niemals die Fähigkeit<br />
bewiesen, <strong>der</strong> Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, wie ein hoffnungslos Kranker nicht<br />
fähig ist, seiner Krankheit ins Gesicht zu sehen.<br />
Aber ohne an den Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki zu glauben, fürchteten die Versöhnler ihn.<br />
Das drückte am besten Kerenski aus. »Irret euch nicht«, schrie er plötzlich während<br />
seiner Rede heraus, »glaubt nicht, daß, wenn mich die Bolschewiki hetzen, hinter mir<br />
keine Kräfte <strong>der</strong> Demokratie stehen. Glaubt nicht, daß ich in <strong>der</strong> Luft hänge. Merkt euch,<br />
wenn ihr irgend etwas unternehmen solltet, werden die Eisenbahnen stehenbleiben,<br />
Depeschen nicht beför<strong>der</strong>t werden ...« Ein Teil des Saales applaudiert, ein Teil schweigt<br />
verlegen, <strong>der</strong> bolschewistische Teil lacht offen. Schlimm steht es mit einer Diktatur, die<br />
gezwungen ist, nachzuweisen, daß sie nicht in <strong>der</strong> Luft hängt!<br />
Auf ironische Herausfor<strong>der</strong>ungen, Vorwürfe <strong>der</strong> Feigheit und sinnlose Drohungen<br />
antworteten die Bolschewiki in ihrer Deklaration: »Kämpfend um die Macht, im Namen<br />
<strong>der</strong> Verwirklichung ihres Programms, strebte und strebt unsere Partei nicht danach, sich<br />
die Macht gegen den organisierten Willen <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> werktätigen Massen des<br />
Landes anzueignen.« Das hieß:<br />
Wir werden die Macht übernehmen als Partei <strong>der</strong> Sowjetmehrheit. Die Worte vom<br />
»organisierten Willen <strong>der</strong> Werktätigen« bezogen sich auf den bevorstehenden Sowjetkongreß.<br />
»Nur jene Beschlüsse und Anträge dieser Beratung ...«, sagte die Deklaration,<br />
»können den Weg <strong>der</strong> Verwirklichung finden, die die Zustimmung des All<strong>russischen</strong><br />
Sowjetkongresses finden werden ...«<br />
Während <strong>der</strong> Verlesung <strong>der</strong> bolschewistischen Deklaration durch Trotzki löste die<br />
Erwähnung <strong>der</strong> Notwendigkeit einer sofortigen Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter auf den Bänken<br />
<strong>der</strong> Mehrheit heharrliche Zwischenrufe aus: »Wozu, wozu?« Das war noch die gleiche<br />
Note von Unruhe und Provokation. Wozu? »Um eine wirkliche Schutzwehr gegen die<br />
Konterrevolution zu schaffen«, antwortet <strong>der</strong> Redner. Aber nicht nur dazu. »Ich sage<br />
Ihnen im Namen unserer Partei und <strong>der</strong> mit ihr gehenden proletarischen Massen, daß<br />
die bewaffneten Arbeiter ... das Land <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> gegen die Truppen des Imperialismus<br />
mit solchem Heroismus verteidigen werden, wie ihn die russische <strong>Geschichte</strong> noch<br />
nicht gekannt hat ...« Zeretelli charakterisierte dieses Versprechen, das den Saal scharf<br />
teilte, als hohle Phrase. Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Roten Armee hat ihn später wi<strong>der</strong>legt.<br />
Jene heißen Stunden, da die Versöhnlerhäupter eine Koalition mit den Kadetten<br />
verworfen hatten, lagen weit zurück: ohne Kadetten erwies sich eine Koalition als<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 532
unmöglich. Man wird doch nicht etwa selbst die Macht übernehmen! »Wir hätten die<br />
Macht bereits am 27. Februar ergreifen können«, philosophierte Skobeljew, »doch wir<br />
verwandten die ganze Kraft unseres Einflusses darauf, den bürgerlichen Elementen zu<br />
helfen, sich von <strong>der</strong> Verwirrung zu erholen ... und zur Macht zu kommen.« Weshalb<br />
haben dann diese Herren die von <strong>der</strong> Verwirrung erholten Kornilowianer gehin<strong>der</strong>t, die<br />
Macht zu ergreifen? Eine rein bürgerliche Macht, erklärte Zeretelli, ist noch nicht<br />
möglich: das würde den Bürgerkrieg hervorrufen. Kornilow mußte man nie<strong>der</strong>schlagen,<br />
damit er durch sein Abenteuer die Bourgeoisie nicht hin<strong>der</strong>te, etappenweise zur Macht zu<br />
kommen. »Jetzt, wo die revolutionäre Demokratie als Siegerin hervorgegangen, ist <strong>der</strong><br />
Augenblick für eine Koalition beson<strong>der</strong>s günstig.«<br />
Die politische Philosophie des Genossenschaftlertums drückte dessen Haupt, Berkenheim,<br />
aus: »Ob wir wollen o<strong>der</strong> nicht, die Bourgeoisie ist jene Klasse, <strong>der</strong> die Macht<br />
gehören wird.« Der alte Volkstümler-<strong>Revolution</strong>är Minor flehte die Beratung an, einen<br />
einmütigen Beschluß zugunsten <strong>der</strong> Koalition anzunehmen. An<strong>der</strong>nfalls, »darüber darf<br />
man sich nicht täuschen: werden wir schlachten«. »Wen?« schrie man von den linken<br />
Plätzen. »Wir werden einan<strong>der</strong> schlachten«, schloß, von düsterem Schweigen begleitet,<br />
Minor. Aber nach Meinung <strong>der</strong> Kadetten war ja <strong>der</strong> Regierungsblock notwendig für den<br />
Kampf gegen das »anarchistische Holliganentum« <strong>der</strong> Bolschewiki: »darin eigentlich<br />
bestand das Wesen <strong>der</strong> Koalitionsidee«, erklärte Miljukow ganz offenherzig. Während<br />
Minor hoffte, die Koalition würde gestatten, einan<strong>der</strong> nicht abzuschlachten, rechnete im<br />
Gegenteil Miljukow ganz fest damit, die Koalition würde die Möglichkeit schaffen, mit<br />
vereinten Kräften die Bolschewiki abzuschlachten.<br />
Bei den Debatten über die Koalition verlas Rjasanow jenen Leitartikel <strong>der</strong> 'Rjetsch'<br />
vom 29. August, den Miljukow im letzten Moment zurückgezogen hatte, wodurch in <strong>der</strong><br />
Zeitung ein weißer Fleck entstand: »Jawohl, wir fürchten uns nicht zu sagen, daß<br />
General Kornilow die gleichen Ziele verfolgte, die wir für die Rettung <strong>der</strong> Heimat als<br />
notwendig erachten.« Das Zitat machte Eindruck. »Oh, die werden retten!« tönte es aus<br />
<strong>der</strong> linken Hälfte <strong>der</strong> Versammlung. Doch die Kadetten finden Verteidiger: <strong>der</strong> Leitartikel<br />
war ja nicht gedruckt worden! Außerdem seien nicht alle Kadetten für Kornilow, man<br />
müsse die Sün<strong>der</strong> von den Gerechten unterscheiden können.<br />
»Es wird gesagt, man dürfe nicht die gesamte Kadettenpartei beschuldigen, sie sei<br />
Komplicin <strong>der</strong> Kornilowschen Meuterei gewesen«, antwortete Trotzki. »Nicht zum ersten<br />
Male hat hier Snamenski uns Bolschewiki gesagt: ihr habt protestiert, als wir eure<br />
gesamte Partei für die Bewegung des 3. bis 5. Juli verantwortlich machten; wie<strong>der</strong>holt<br />
nicht die gleichen Fehler, macht nicht alle Kadetten für Kornilows Meuterei verantwortlich.<br />
Doch dieser Vergleich beruht meiner Ansicht nach auf einem kleinen Rechenfehler:<br />
als man die Bolschewiki beschuldigte, sie hätten die Bewegung vom 3. bis 5. Juli hervorgerufen,<br />
ging es nicht darum, sie ins Ministerium, son<strong>der</strong>n sie ins "Kresty" einzuladen.<br />
Den Unterschied wird, hoffe ich, auch (Justizminister) Sarudny nicht bestreiten. Wir<br />
sagen ebenfalls: Wollt ihr die Kadetten wegen <strong>der</strong> Kornilowbewegung ins Gefängnis<br />
schleppen, dann tut es nicht in Bausch und Bogen, son<strong>der</strong>n untersucht jeden Kadetten<br />
einzeln von allen Seiten.« (Lachen; Rufe: »Bravo !«) »Handelt es sich aber darum, die<br />
Kadettenpartei ins Ministerium einzuführen, so ist nicht die Tatsache entscheidend, ob<br />
<strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kadett hinter den Kulissen mit Kornilow im Bunde war - nicht, daß<br />
Maklakow am Telegraphenapparat stand, als Sawinkow mit Kornilow verhandelte; nicht,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 533
daß Roditschew an den Don reiste und politische Unterhaltungen mit Kaledin führte,<br />
nicht das ist wesentlich; wesentlich ist, daß die gesamte bürgerliche Presse entwe<strong>der</strong><br />
offen Kornilow begrüßte o<strong>der</strong> aus Vorsicht schwieg, um Kornilows Sieg abzuwarten ...<br />
Und deshalb sage ich, ihr habt keine Konter-Agenten für eine Koalition.«<br />
Am nächsten Tag sprach <strong>der</strong> Vertreter von Helsingfors und Sweaborg, <strong>der</strong> Matrose<br />
Schischkin, zum gleichen Thema kürzer und eindrucksvoller: »Ein Koalitionsministerium<br />
wird bei den Seeleuten <strong>der</strong> Baltischen Flotte und bei <strong>der</strong> Garnison von Finnland<br />
we<strong>der</strong> Vertrauen noch Unterstützung genießen ... Gegen die Schaffung eines Koalitionsministeriuins<br />
haben die Matrosen die Kampffahne gehißt.« Argumente <strong>der</strong> Vernunft<br />
blieben wirkungslos. Der Matrose Schischkin erhob das Argument <strong>der</strong> Seegeschütze.<br />
Ihm stimmten die an<strong>der</strong>en Matrosen durchaus bei, die an den Saaleingängen Wache<br />
standen. Bucharin erzählte später, wie die »von Kerenski zum Schutze <strong>der</strong> Demokratischen<br />
Beratung gegen uns, Bolschewiki, aufgestellten Matrosen sich an Trotzki wenden<br />
und mit den Bajonetten fuchtelnd fragen: "Nun, gibt es bald für dies Ding Arbeit?« Das<br />
war nur eine Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> Frage, die die Matrosen <strong>der</strong> "Aurora" bei dem Besuch im<br />
"Kresty" gestellt hatten. Doch nun näherte sich <strong>der</strong> Zeitpunkt.<br />
Sieht man von Nuancen ab, kann man in <strong>der</strong> Beratung mit Leichtigkeit drei Gruppierungen<br />
feststellen: das umfangreiche, aber äußerst labile Zentrum, das nicht wagt, die<br />
Macht zu ergreifen, einer Koalition zustimmt, aber die Kadetten nicht will; <strong>der</strong> schwache<br />
rechte Flügel, <strong>der</strong> für Kerenski und eine Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie ohne Einschränkungen<br />
ist; <strong>der</strong> doppelt so starke linke Flügel, <strong>der</strong> für die Macht <strong>der</strong> Sowjets o<strong>der</strong> eine<br />
sozialistische Regierung eintritt. In <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Sowjetdelegierten <strong>der</strong><br />
Demokratischen Beratung sprach Trotzki für die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets,<br />
Martow - für ein einheitliches sozialistisches Ministerium. Die erste Formel sammelte auf<br />
sich sechsundachtzig Stimmen, die zweite - siebenundneunzig. Formell vertraten die<br />
Bolschewiki in diesem Augenblick bloß etwa die Hälfte <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatensowjets,<br />
die an<strong>der</strong>e Hälfte schwankte zwischen Bolschewiki und Versöhnlern. Doch<br />
sprachen die Bolschewiki im Namen <strong>der</strong> mächtigen Sowjets <strong>der</strong> größten industriellen<br />
und kulturellen Zentren des Landes; in den Sowjets waren sie unermeßlich stärker als in<br />
<strong>der</strong> Beratung, in Proletariat und Armee unermeßlich stärker als in den Sowjets. Die<br />
rückständigen Sowjets glichen sich ununterbrochen den fortgeschrittenen an.<br />
Für die Koalition stimmten in <strong>der</strong> Beratung siebenhun<strong>der</strong>tundsechsundsechzig<br />
Deputierte gegen sechshun<strong>der</strong>tundachtundachtzig bei achtunddreißig<br />
Stimmenthaltungen. Beide Lager befanden sich fast im Gleichgewicht! Die Korrektur,<br />
die die Kadetten aus einer Koalition ausschloß, versammelte eine Mehrheit: fünfhun<strong>der</strong>tundfünfundneunzig<br />
Stimmen gegen vierhun<strong>der</strong>tunddreiundneunzig bei zweiundsiebzig<br />
Stimmenthaltungen. Jedoch machte die Beseitigung <strong>der</strong> Kadetten die Koalition gegenstandlos.<br />
Darum wurde die Resolution in ihrer Gesamtheit mit einer Mehrheit von<br />
achthun<strong>der</strong>tunddreizehn Stimmen zu Fall gebracht, das heißt vom Block <strong>der</strong> äußersten<br />
Flügel, <strong>der</strong> entschiedenen Anhänger und <strong>der</strong> unversöhniichen Gegner einer Koalition,<br />
gegen das Zentrum, dessen Stimmen auf einhun<strong>der</strong>tunddreiundachtzig zusammenschmolzen<br />
bei achtzig Stimmenthaltungen. Das war die einmütigste von allen Abstimmungen;<br />
doch war sie ebenso hohl wie die Idee einer Koalition ohne Kadetten, die von<br />
ihr abgelehnt worden war. »In <strong>der</strong> Kernfrage«, bemerkt mit Recht Miljukow, »blieb die<br />
Beratung somit ohne Meinung und ohne Formel.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 534
Was konnten die Führer nun noch tun? Den Willen <strong>der</strong> "Demokratie" ignorieren, die<br />
ihren eigenen Willen abgelehnt hatte. Es wird das Präsidium mit Vertretern von Parteien<br />
und Gruppen einberufen, um erneut über die vom Plenum bereits entschiedene Frage zu<br />
entscheiden. Resultat: fünfzig Stimmen für die Koalition, sechzig dagegen. Nun scheint's<br />
klar? Die Frage <strong>der</strong> Verantwortlichkeit <strong>der</strong> Regierung vor einem ständigen Organ <strong>der</strong><br />
Demokratischen Beratung wird vom selben erweiterten Präsidium einstimmig bejaht. Für<br />
die Ergänzung dieses Organs durch Vertreter <strong>der</strong> Bourgeoisie erheben sich sechsundfünfzig<br />
gegen achtundvierzig Hände bei zehn Stimmenthaltungen. Kerenski erscheint, um zu<br />
erklären: an einer rein sozialistischen Regierung sich zu beteiligen, lehne er ab. Danach<br />
läuft die Aufgabe darauf hinaus, die unglückselige Beratung nach Hause zu schicken und<br />
sie durch eine Institution zu ersetzen, in <strong>der</strong> Anhänger <strong>der</strong> bedingungslosen Koalition in<br />
Mehrheit wären. Uni das nötige Resultat zu erreichen, ist nur die Kenntnis <strong>der</strong> arithmetischen<br />
Elementarregeln erfor<strong>der</strong>lich. Namens des Präsidiums bringt Zeretelli in <strong>der</strong><br />
Beratung eine Resolution ein, wonach das Vertretungsorgan berufen sei, »bei <strong>der</strong> Schaffung<br />
einer Regierung ruitzuhelfen«, und die Regierung müsse »dieses Organ sanktionieren«;<br />
die Träume von <strong>der</strong> Zähmung Kerenskis sind somit ins Archiv getan. Der in<br />
erfor<strong>der</strong>licher Proportion durch Bourgeoisievertreter ergänzte künftige Sowjet <strong>der</strong><br />
Republik, o<strong>der</strong> das Vorparlament, wird die Aufgabe haben, eine Koalitionsregierung mit<br />
Kadetten zu sanktionieren. Zeretellis Resolution bedeutet das gerade Gegenteil davon,<br />
was die Beratung gewollt und das Präsidium soeben beschlossen hat. Doch sind Zusammenbruch,<br />
Zerfall, Demoralisation so groß, daß die Versammlung die ihr angebotene,<br />
etwas verschleierte Kapitulation mit achthun<strong>der</strong>tundneunundzwanzig gegen einhun<strong>der</strong>tundsechs<br />
Stimmen bei neunundsechzig Stimmenthaltungen annimmt. »Also vorläufig<br />
habt ihr gesiegt, ihr Herren Versöhnler und Kadetten«, schrieb die Zeitung <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
»Macht euer SpieL Geht an die neue Erfahrung. Sie wird die letzte sein - dafür<br />
bürgen wir euch.«<br />
»Die Demokratische Beratung«, sagt Stankewitseh, »verblüffte durch äußersten<br />
Wirrwarr <strong>der</strong> Gedanken sogar ihre eigenen Initiatoren.« Bei den Versöhnlerparteien<br />
»völlige Uneinigkeit«; Rechts, bei <strong>der</strong> Bourgeoisie, »Murren des Unwillens, flüsternd<br />
weiter getragene Verleumdung, langsames Unterwühlen <strong>der</strong> letzten Reste <strong>der</strong> Regierungsautorität<br />
... Und nur links Konsolidierung <strong>der</strong> Kräfte und <strong>der</strong> Stimmung«. Das sagt<br />
ein Gegner, das bezeugt ein Feind, <strong>der</strong> im Oktober auf die Bolschewiki schießen wird.<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Parade <strong>der</strong> Demokratie erwies sich für die Versöhn1er als das, was für<br />
Kerenski die Moskauer Parade <strong>der</strong> nationalen Einheit gewesen war: öffentliches<br />
Bekenntnis <strong>der</strong> Unzulänglichkeit, eine Truppenschau des politischen Marasmus. Hatte<br />
die Staatsberatung den Anstoß zu Kornilows Aufstand geliefert, so säuberte die<br />
Demokratische Beratung endgültig den Weg für den Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Bevor sie auseinan<strong>der</strong>ging, son<strong>der</strong>te die Beratung aus ihrer Mitte ein ständiges Organ<br />
ab durch Delegierung von 15 Prozent <strong>der</strong> Gesamtstärke jener Gruppe, insgesamt etwa<br />
dreihun<strong>der</strong>tundfünfzig Delegierte. Die Institutionen <strong>der</strong> besitzenden Klassen sollten<br />
außerdem einhun<strong>der</strong>tundzwanzig Plätze erhalten. Die Regierung machte von sich aus<br />
eine Zugabe von zwanzig Plätzen für die Kosaken. Alles zusammen sollte den Rat <strong>der</strong><br />
Republik o<strong>der</strong> das Vorparlament bilden, dem es oblag, bis zur Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung die Nation zu vertreten.<br />
Die Stellung <strong>der</strong> Bolschewiki zum Rat <strong>der</strong> Republik verwandelte sich für sie sogleich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 535
in eine akute taktische Frage: hineingehen o<strong>der</strong> nicht hineingehen? Der Boykott parlamentarischer<br />
Institutionen durch Anarchisten und Halbanarchisten ist von dem Bestreben<br />
diktiert, die eigene Ohnmacht nicht einer Nachprüfung seitens <strong>der</strong> Massen auszusetzen<br />
und somit das Anrecht zu wahren auf passiven Hochmut, von dem we<strong>der</strong> dem Feinde<br />
kalt noch dem Freunde warm ist. Dem Parlament darf eine revolutionäre Partei nur dann<br />
den Rücken kehren, wenn sie sich zur unmittelbaren Aufgabe den Sturz des bestehenden<br />
Regimes stellt. In den Jahren zwischen den zwei <strong>Revolution</strong>en hatte Lenin mit großer<br />
Gründlichkeit die Probleme des revolutionären Parlamentarismus untersucht.<br />
Das auf höchsten Privilegien beruhende Parlament kann Ausdruck <strong>der</strong> tatsächlichen<br />
Kräfteverhältnisse <strong>der</strong> Klassen sein und war es in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> mehr als einmal: dies<br />
waren zum Beispiel die Reichsdumas nach <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>geschlagenen <strong>Revolution</strong> von 1903<br />
bis 1907. Solche Parlamente boykottieren heißt das wirkliche Kräfteverhältuis boykottieren,<br />
statt es zugunsten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu verän<strong>der</strong>n. Zeretelli-Kerenskis Vorparlament<br />
entsprach aber nicht im geringsten dem Kräfteverhältuis. Es war geboren aus Ohnmacht<br />
und List <strong>der</strong> Spitzen, aus dem Glauben an die Mystik <strong>der</strong> Institutionen, dem Fetischismus<br />
<strong>der</strong> Form, und aus <strong>der</strong> Hoffnung, diesem Fetischismus den unermeßlich stärkeren Feind<br />
zu unterwerfen und ihn damit zu disziplinieren.<br />
Um die <strong>Revolution</strong> zu zwingen, mit gebeugtem Rücken und gesenktem Haupt gehorsam<br />
in das Joch des Vorparlaments zu gehen, mußte man sie vorher, wenn nicht nie<strong>der</strong>schlagen,<br />
so doch mindestens ihr eine ernsthafte Nie<strong>der</strong>lage zufügen. Tatsächlich aber<br />
hatte drei Wochen zuvor die Ayantgarde <strong>der</strong> Bourgeoisie eine Nie<strong>der</strong>lage erlitten. Die<br />
<strong>Revolution</strong> dagegen hatte einen Kräftezustrom erfahren. Ihr Ziel war nicht eine bürgerliche<br />
Republik, son<strong>der</strong>n die Republik <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern, und sie brauchte nicht<br />
durch das Joch des Vorparlaments hindurchzukriechen, während sie sich immer breiter in<br />
den Sowjets entfaltete.<br />
Am 20. September rief das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki die bolschewistischen<br />
Delegierten <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, die Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees selbst und<br />
des Petrogra<strong>der</strong> Komitees zu einer Parteiberatung zusahmen. Als Berichterstatter des<br />
Zentralkomitees stellte Trotzki die Losung auf - Boykott des Vorparlaments! Der<br />
Vorschlag fand entschiedenen Wi<strong>der</strong>stand bei den einen (Kamenjew, Rykow, Rjasanow)<br />
und Zustimmung bei den an<strong>der</strong>en (Swerdlow, Joffe, Stalin). Das in <strong>der</strong> strittigen Frage in<br />
zwei Hälften geteilte Zentralkomitee sah sich gezwungen, entgegen Statuten und Tradition<br />
<strong>der</strong> Partei, die Entscheidung <strong>der</strong> Beratung zu überlassen. Zwei Referenten, Trotzki<br />
und Rykow, sprachen als Vertreter <strong>der</strong> entgegengesetzten Standpunkte. Es konnte scheinen,<br />
und <strong>der</strong> Mehrheit schien es auch, als trügen die heißen Debatten rein taktischen<br />
Charakter. In Wirklichkeit weckte <strong>der</strong> Streit die Meinungsversehiedenheiten des April<br />
wie<strong>der</strong> auf und bereitete die des Oktober vor. Die Frage war: paßt die Partei ihre Aufgaben<br />
<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> bürgerlichen Republik an, o<strong>der</strong> stellt sie sich wirklich die<br />
Machteroberung als Ziel. Mit siebenundzwanzig Stimmen gegen fünfzig lehnte die<br />
Parteiberatung die Boykottlosung ab. Am 22. September konnte Rjasanow <strong>der</strong> Demokratischen<br />
Beratung im Namen <strong>der</strong> Partei erklären, die Bolschewiki würden ihre Vertreter<br />
ins Vorparlament schicken, um »in dieser neuen Bastion des Versöhnlertums alle Versuche<br />
einer neuen Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie zu entlarven«. Das klang radikal. Im<br />
Wesen aber bedeutete dies, <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> revelutionären Tat die Politik oppositioneller<br />
Entlarvung zu unterschieben.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 536
Lenins Aprilthesen waren formell von <strong>der</strong> gesamten Partei akzeptiert worden; aber bei<br />
je<strong>der</strong> großen Frage schlugen wie<strong>der</strong> nach außen die Märzstimmungen, noch sehr stark in<br />
<strong>der</strong> oberen Parteischieht, die an vielen Punkten des Landes sich erst jetzt von den<br />
Menschewiki zu trennen begann. Lenin konnte in den Streit nur nachträglich eingreifen.<br />
Am 23. September schrieb er: »Man muß das Vorparlament boykottieren. Man muß in<br />
die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten gehen, in die Gewerkschaften,<br />
überhaupt zu den Massen. Man muß sie in den Kampf rufen. Man muß ihnen die<br />
richtige und klare Losung geben: die bonapartistische Bande Kerenskis mit dessen<br />
verfälschtem Vorparlament davonjagen ... Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
haben, sogar nach <strong>der</strong> Kornilowiade, unser Kompromiß nicht angenommen ... Unbarmherzigen<br />
Kampf gegen sie. Unbarmherzig sie aus allen revolutionären Organisationen<br />
vertreiben ... Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki! Die Boykottlosung ist<br />
in <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung zusammengekommen<br />
war, besiegt worden. Es lebe <strong>der</strong> Boykott!«<br />
Je tiefer die Frage in die Partei eindrang, um so entschiedener verän<strong>der</strong>te sich das<br />
Kräfteverhältuis zugunsten des Boykotts. Fast in sämtlichen Lokalorganisationen bilden<br />
sich Mehrheit und Min<strong>der</strong>heit. Im Kiewer Komitee zum Beispiel sind die Boykottanhänger<br />
mit Ewgenia Bosch an <strong>der</strong> Spitze anfangs eine schwache Min<strong>der</strong>heit. Jedoch bereits<br />
nach wenigen Tagen wird in <strong>der</strong> Stadtkonferenz mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit ein Beschluß<br />
angenommen, das Vorparlament zu boykortieren. »Man darf keine Zeit mit Geschwätz<br />
und Säen von Illusionen vergeuden.« Die Partei eilte, ihre Spitzen zu korrigieren.<br />
Unterdessen war Kerenski, <strong>der</strong> die welken Prätensionen <strong>der</strong> Demokratie von sich<br />
geworfen, aus allen Kräften bestrebt, vor den Kadetten feste Hand zu zeigen. Am 18.<br />
September erteilte er unerwartet einen Befehl zur Auflösung des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />
Kriegsflotte. Die Matrosen antworteten: »Der Befehl zur Auflösung des Zentroflott ist,<br />
weil gesetzwidrig, als ungültig zu betrachten und seine sofortige Aufhebung zu for<strong>der</strong>n.«<br />
In die Sache mischte sich das Exekutivkomitee ein und lieferte Kerenski einen formellen<br />
Vorwand, seine Verfügung nach drei Tagen aufzuheben. In Taschkent ergriff <strong>der</strong> Sowjet,<br />
in einer Mehrheit aus Soziatrevolutionären bestehend, die Macht und setzte die alten<br />
Beamten ab. Kerenski schickte dem nach Taschkent zur Herstellung <strong>der</strong> Ordnung<br />
entsandten General ein Telegramm: »In keinerlei Verhandlungen mit den Meuterern<br />
treten ... Entschiedenste Maßnahmen sind notwendig.« Die eintreffenden Truppen<br />
besetzten die Stadt und verhafteten die Vertreter <strong>der</strong> Sowjetmacht. Sogleich begann ein<br />
Generalstreik unter Beteiligung von vierzig Gewerkschaftsverbänden; eine Woche lang<br />
erschienen keine Zeitungen, in <strong>der</strong> Garnison gärte es. So säte die Regierung auf <strong>der</strong> Jagd<br />
nach dem Ordnungsgespenst bürokratische Anarchie.<br />
Am gleichen Tage, als die Beratung den Beschluß gegen eine Koalition mit Kadetten<br />
gefaßt hatte, empfahl das Zentralkomitee <strong>der</strong> Kadettenpartei seinen Mitglie<strong>der</strong>n Konowalow<br />
und Kischkin, Kerenskis Angebot, in das Kabinett einzutreten, anzunehmen. Die<br />
Regie ging, wie es hieß, von Buchanan aus. Dies ist wohl nicht allzu wörtlich aufzufassen.<br />
Wenn nicht Buchanan selbst, so führte sein Schatten die Regie: man mußte eine den<br />
Alliierten genehme Regierung schaffen. Die Moskauer Industriellen und Börsenmänner<br />
zeigten sich wi<strong>der</strong>spenstig, schraubten den Preis hoch, stellten Ultimaten. Die Demokratische<br />
Beratung erschöpfte sich in Abstimmungen und tat, als hätten sie reale Bedeutung.<br />
In Wirklichkeit wurde die Frage im Winterpalais, in vereinigten Sitzungen <strong>der</strong> Regie-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 537
ungssplitter mit den Vertretern <strong>der</strong> Koalitionsparteien, entschieden. Die Kadetten<br />
entsandten dorthin ihre offenherzigsten Kornilowianer. Alle versuchten einan<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit <strong>der</strong> Einheit zu überzeugen. Zeretelli, ein unerschöpflicher Born von<br />
Gemeinplätzen, entdeckte, daß das Haupthin<strong>der</strong>nis für eine Verständigung »bislang im<br />
gegenseitigen Mißtrauen bestand ... Dieses Mißtrauen muß beseitigt werden«. Außenminister<br />
Tereschtschenko errechnete, daß von den einhun<strong>der</strong>tundsiebenundneunzig<br />
Lebenstagen des Bestehens <strong>der</strong> revolutionären Regierung sechsundfünfzig auf Krisen<br />
verbraucht worden waren. Worauf die übrigen Tage verbraucht wurden, erklärte er nicht.<br />
Ehe noch die Demokratische Beratung die ihren Absichten zuwi<strong>der</strong>laufende Resolution<br />
Zeretellis schlucken konnte, hatten Korrespondenten englischer und amerikanischer<br />
Blätter telegraphisch berichtet, die Koalition mit den Kadetten sei gesichert, und nannten<br />
mit Bestimmtheit die Namen <strong>der</strong> neuen Minister. Seinerseits beglückwünschte <strong>der</strong><br />
Moskauer "Rat <strong>der</strong> im öffentlichen Leben tätigen Männer", unter Vorsitz des unvermeidlichen<br />
Rodsjanko, sein Mitglied Tretjakow anläßlich dessen Berufung in die Regierung.<br />
Am 9. August hatten diese Herren an Kornilow telegraphiert: »In <strong>der</strong> furchtbaren Stunde<br />
schwerer Prüfung blickt das gesamte denkende Rußland mit Hoffnung und Glauben auf<br />
Sie.«<br />
Kerenski erklärte sich gnädigst mit dem Bestehen des Vorparlaments einverstanden<br />
unter Bedingung, »daß Organisierung <strong>der</strong> Gewalt und Ergänzung <strong>der</strong> Regierungszusammensetzung<br />
ausschließlich <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zustehen«. Diese beschämende<br />
Bedingung hatten die Kadetten diktiert. Die Bourgeome mußte natürlich begreifen, daß<br />
die Zusammensetzung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung für sie unvergleichlich<br />
weniger günstig sein würde als jene des Vorparlaments: »Die Wahlen zur Konstituierenden<br />
Versammlung dürften«, nach Miljukows Worten, »ein ganz zufälliges, vielleicht<br />
auch unheilvolles Resultat ergeben.« Wenn nichtsdestoweniger die Kadettenpartei, die<br />
noch kurz vorher versucht hatte, die Regierung <strong>der</strong> Zarenduma unterzuordnen, dem<br />
Vorparlament gesetzgebende Rechte rundweg verweigerte, so einzig und allein deshalb,<br />
weil sie die Hoffnung nicht aufgab, die Konstituierende Versammlung verhin<strong>der</strong>n zu<br />
können.<br />
»Entwe<strong>der</strong> Kornilow o<strong>der</strong> Lenin«, formulierte Miljukow die Alternative. Lenin seinerseits<br />
schrieb: »Entwe<strong>der</strong> Sowjetmacht o<strong>der</strong> Kornilowiade. Ein Mittelding gibt es nicht.«<br />
Soweit stimmten Lenin und Miljukow in <strong>der</strong> Einschätzung <strong>der</strong> Lage überein, und nicht<br />
zufällig: im Gegensatz zu den Helden <strong>der</strong> Versöhnlerphrase waren das zwei ernste<br />
Vertreter <strong>der</strong> grundlegenden Gesellschaftsklassen. Schon die Moskauer Staatsberatung<br />
hatte, nach Miljukows Worten, anschaulich gezeigt: »das Land ist in zwei Lager gespalten,<br />
zwischen denen es im wesentlichen keine Versöhnung und keine Verständigung<br />
geben kann«. Wo aber zwisehen zwei gesellschaftlichen Lagern keine Verständigung<br />
möglich ist, dort entscheidet die Sache <strong>der</strong> Bürgerkrieg.<br />
We<strong>der</strong> Kadetten noch Bolschewiki gaben jedoch die Losung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung preis. Die Kadetten brauchten sie als höchste Appellationsinstanz gegen<br />
sofortige soziale Reformen, gegen Sowjets, gegen Revorution. Den Schatten, den die<br />
Demokratie in Form <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung vorauswarf, benutzte die<br />
Bourgeoisie als Gegenwirkung wi<strong>der</strong> die lebendige Demokratie. Offen die Konstituierende<br />
Versammlung abzulehnen, hätte die Bourgeoisie nur nach Zermalmung <strong>der</strong><br />
Bolschewiki vermocht. Bis dahin war es weit. Auf <strong>der</strong> gegebenen Etappe waren die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 538
Kadetten bestrebt, <strong>der</strong> Regierung die Unabhängigkeit von den mit den Massen verbundenen<br />
Organisationen zu sichern, um sie später desto leichter sich restlos unterwerfen zu<br />
können.<br />
Aber auch die Bolschewiki, die auf den Pfaden <strong>der</strong> formalen Demokratie keinen<br />
Ausweg erblickten, verzichteten noch nicht auf die Idee <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung.<br />
Sie hätten dies auch nicht tun können, ohne mit dem revolutionären Realismus zu<br />
brechen. Ob <strong>der</strong> weitere Gang <strong>der</strong> Ereignisse die Bedingungen für einen vollen Sieg des<br />
Proletariats bringen würde, war mit absoluter Bestimmtheit nicht vorauszusehen. Aber<br />
außerhalb <strong>der</strong> Sowjetdiktatur und bis zu dieser Diktatur mußte die Konstituierende<br />
Versammlung als höchste Errungenschaft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> erscheinen. Ebenso wie die<br />
Bolschewiki Versöhnlersowjets und demokratische Munizipalitäten gegen Kornilow<br />
verteidigt hatten, waren sie bereit, die Konstituierende Versammlung gegen Attentate <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie zu verteidigen.<br />
Die dreißigtägige Krise wurde endlich durch Schaffung einer neuen Regierung<br />
beendet. Die Hauptrolle darin zu spielen, war neben Kerenski <strong>der</strong> schwerreiche<br />
Moskauer Industrielle Konowalow berufen, <strong>der</strong> zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Gorkis<br />
Zeitung finanziert hatte, dann Mitglied <strong>der</strong> ersten Koalitionsregierung gewesen war, nach<br />
dem ersten Sowjetkongreß unter Protest demissioniert hatte, <strong>der</strong> Kadettenpartei beitrat,<br />
als diese für die Kornilowiade reif wurde, und nun als Premiervertreter und Minister für<br />
Handel und Industrie in die Regierung zurückkehrte. Neben Konowalow besetzten<br />
Ministerposten: Tretjakow, Vorsitzen<strong>der</strong> des Moskauer Börsenkomitees, und Smirnow,<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> des Moskauer Kriegsindustriekomitees. Der Kiewer Zuckerfabrikant<br />
Tereschtschenko blieb Minister des Auswärtigen. Die übrigen Minister, einschließlich<br />
<strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong>, besaßen keine beson<strong>der</strong>en Merkmale, aber völlige Bereitwilligkeit, die<br />
Harmonie nicht zu stören. Die Entente konnte mit <strong>der</strong> Regierung um so zufriedener sein,<br />
als in Eigenschaft des Gesandten in London <strong>der</strong> alte diplomatische Beamte Nabokow<br />
verblieb, Gesandter in Paris <strong>der</strong> Kadett Maklakow wurde, Verbündeter Kornilows und<br />
Sawinkows, in Bern - <strong>der</strong> "Progressist" Jefremow: <strong>der</strong> Kampf um den demokratischen<br />
Frieden war zuverlässigen Händen übergeben worden.<br />
Die Deklaration <strong>der</strong> neuen Regierung bildete eine böse Parodie auf die Moskauer<br />
Deklaration <strong>der</strong> Demokratie. Der Sinn <strong>der</strong> Koalition lag jedoch nicht in einem Umgestaltungsprogramm,<br />
son<strong>der</strong>n in dem Versuch, die Sache <strong>der</strong> Julitage zu Ende zu führen: die<br />
<strong>Revolution</strong> durch Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu enthaupten. Hier aber erinnerte<br />
<strong>der</strong> 'Rabotschjy Putj' (Arbeiter-Weg), eine <strong>der</strong> Verwandlungen <strong>der</strong> 'Prawda', dreist die<br />
Alliierten: »Ihr habt vergessen, Bolschewiki - das sind jetzt die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter- und<br />
Soldatendeputierten.« Die Erinnerung traf eine schmerzhafte Stelle. »Von selbst«, gesteht<br />
Miljukow, »erhob sich die schicksalsvolle Frage: ist es nicht zu spät? Ist es nicht zu spät,<br />
den Bolschewiki den Krieg zu erklären ...?«<br />
Es ist wohl wirklich zu spät. Am Tage <strong>der</strong> Formierung <strong>der</strong> neuen Regierung aus sechs<br />
bürgerlichen und zehn halbsozialistischen Ministern wurde auch die Formierung des<br />
neuen Exekutivkomitees des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets aus dreizehn Bolschewiki, sechs<br />
Sozialrevolutionären und drei Menschewiki beendet. Die Regierungskoalition begtüßte<br />
<strong>der</strong> Sowjet mit einer von seinem Vorsitzenden Trotzki eingebrachten Resolution: »Die<br />
neue Regierung ... wird in die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> als eine Regierung des Bürgerkrieges<br />
eingehen ... Die Kunde von <strong>der</strong> neuen Regierungsmacht wird seitens <strong>der</strong> gesam-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 539
ten revolutionären Demokratie die eine Antwort finden: zurücktreten! Gestützt auf diese<br />
einmütige Stimme <strong>der</strong> echten Demokratie wird <strong>der</strong> Allrussische Sowjetkongreß eine<br />
wahrhaft revolutionäre Macht schaffen.« Die Gegner wollten gerne in dieser Resolution<br />
nur das übliche Mißtrauensvotum sehen. In Wirklichkeit war sie das Programm <strong>der</strong><br />
Umwälzung. Zu seiner Erfüllung wird genau ein Monat erfor<strong>der</strong>lich sein.<br />
Die Wirtschaftskurve fuhr fort, sich scharf nach unten zu neigen. Regierung, Zentralexekutivkomitee<br />
und bald auch das neugeschaffene Vorparlament registrierten Tatsachen<br />
und Symptome des Verfalls als Argumente gegen Anarchie, Bolschewiki, <strong>Revolution</strong>.<br />
Aber sie besaßen auch nicht den Schimmer eines Wirtschaftsplanes. Das <strong>der</strong> Regierung<br />
angeschlossene Organ zur Wirtschaftsregulierung unternahm keinen einzigen ernsthaften<br />
Schritt. Die Industriellen schlossen die Betriebe. Der Eisenbahnverkehr wurde wegen<br />
Kohlenmangel eingeschränkt. In den Städten verstummten die Elektrizitätswerke. Die<br />
Presse heulte über die Katastrophe. Die Preise stiegen. Die Arbeiter streikten Schicht um<br />
Schicht, trotz den Warnungen seitens Partei, Sowjets und Gewerkschaften. Konflikte<br />
vermieden nur jene Schichten <strong>der</strong> Arbeiterklasse, die bereits bewußt <strong>der</strong> Umwälzung<br />
entgegengingen. Am ruhigsten blieb wohl Petrograd.<br />
Durch Ignorierung <strong>der</strong> Massen, leichtfertige Gleichgültigkeit für <strong>der</strong>en Nöte, herausfor<strong>der</strong>nde<br />
Phrasen als Antwort auf Protest und Verzweiflungsschreie brachte die Regierung<br />
alle gegen sich auf Es schien, als suche sie absichtlich Konflikte. Die Arbeiter und<br />
Angestellten <strong>der</strong> Eisenbahn for<strong>der</strong>ten nun fast seit <strong>der</strong> Februarumwälzung Gehaltserhöhung.<br />
Kommissionen lösten einan<strong>der</strong> ab, niemand gab Antwort, man zerrte den Eisenbahnern<br />
die Seele aus dem Leib. Die Versöhnler beschwichtigten, die<br />
Eisenbahnerexekutive bremste. Doch am 24. September kam die Explosion zum<br />
Ausbruch. Nun erst besann sich die Regierung, den Eisenbahnern wurden einige<br />
Zugeständnisse gemacht, und <strong>der</strong> Streik, <strong>der</strong> bereits große Teile des Eisenbahnnetzes<br />
erfaßt hatte, wurde am 27. September abgebrochen.<br />
August und September gestalteten sich zu Monaten rapi<strong>der</strong> Verschlechterung des<br />
Verpflegungszustandes. Schon in den Kornilowtagen war die Brotration in Moskau und<br />
Petrograd bis auf ein halbes Pfund täglich gekürzt worden. Im Moskauer Kreis gab es<br />
nicht über zwei Pfund pro Woche. Wolgagebiet, Süden, Front und näheres Hinterland -<br />
alle Landesteile machten eine scharfe Lebensmittelkrise durch. Im Textilbezirk bei<br />
Moskau fingen einige Fabriken bereits im bochstäblichen Sinne des Wortes zu hungern<br />
an. Arbeiter und Arbeiterinnen <strong>der</strong> Smirnowfabrik - <strong>der</strong> Besitzer war gerade in jenen<br />
Tagen als Staatskontrolleur in das neue Koalitionsministerium berufen worden - demonstrierten<br />
im benachbarten Orechowo-Sujewo mit Plakaten: "Wir hungern." "Unsere<br />
Kin<strong>der</strong> hungern." "Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns." Die Arbeiter von Orechowo und<br />
die Soldaten des örtlichen Kriegslazaretts teilten mit den Demonstranten ihre spärlichen<br />
Rationen: das war eine an<strong>der</strong>e, gegen die <strong>der</strong> Regierung sich anbahnende Koalition.<br />
Die Zeitungen registrierten täglich immer neue und neue Herde von Zusammenstößen<br />
und Meutereien. Es protestierten Arbeiter, Soldaten, das kleine Stadtvolk. Die Soldatenfrauen<br />
verlangten Erhöhung <strong>der</strong> Unterstützungen, Wohnungen, Holz für den Winter. Die<br />
Schwarzhun<strong>der</strong>t-Agitation suchte im Hunger <strong>der</strong> Massen Nahrung zu finden. Das<br />
Moskauer Kadettenblatt 'Russkije Wedomosti' (Russische Nachrichten), in alter Zeit eine<br />
Mischung von Liberalismus und Volkstümlerei, blickte jetzt mit Haß und Ekel auf das<br />
echte Volk. »Über ganz Rußland hat sich eine breite Welle von Unruhen ergossen ...«,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 540
schrieben die liberalen Professoren. »Das Elementare und Sinnlose <strong>der</strong> Pogrome... -<br />
erschwert am meisten den Kampf gegen sie ... Zu Unterdrükkungsmaßnahmen zu greifen,<br />
die bewaffnete Macht einzusetzen ... aber gerade diese bewaffnete Macht, in Person von<br />
Soldaten <strong>der</strong> Lokalgarnisonen, spielt die Hauptrolle bei den Pogromen... Der Haufe ...<br />
geht auf die Stra& und beginnt sich als Herr <strong>der</strong> Lage zu fühlen.«<br />
Der Saratower Staatsanwalt berichtete dem Justizminister Maljantowitsch, <strong>der</strong> sich in<br />
<strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> zu den Bolschewiki gezählt hatte: »Das Hauptübel,<br />
gegen das anzukämpfen man keine Kräfte besitzt, sind die Soldaten ... Selbstjustiz, eigenmächtige<br />
Verhaftungen und Haussuchungen, allerhand Requisitionen, all das wird in<br />
den meisten Fällen durchgeführt, entwe<strong>der</strong> ausschließlich von Soldaten o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong>en<br />
unmittelbarer Beteiligung.« In Saratow selbst, in den Kreisstädten, Dörfern »von keiner<br />
Seite Hilfe für die Gerichtsbehörde«. Der Staatsanwaltschaft reicht die Zeit nicht, die<br />
Verbrechen zu registrieren, die das Volk begeht.<br />
Die Bolschewiki machten sich keine Illusionen über jene Schwierigkeiten, die ihnen<br />
zugleich mit <strong>der</strong> Machtübernahme entstehen würden. »Indem wir die Losung "Alle Macht<br />
den Sowjets" aufstellen«, sagte <strong>der</strong> neue Vorsitzende des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, »wissen<br />
wir, daß sie nicht alle Wunden im Handumdrehen heilen wird. Wir brauchen eine Macht,<br />
geschaffen nach dem Muster <strong>der</strong> Gewerkschaftsleitung, die den Streikenden alles gibt,<br />
was sie kann, nichts verheimlicht und, wenn sie nichts geben kann, es offen eingesteht ...«<br />
Eine <strong>der</strong> ersten Regierungssitzungen war <strong>der</strong> "Anarchie" in <strong>der</strong> Provinz, beson<strong>der</strong>s auf<br />
dem Lande, gewidmet. Wie<strong>der</strong> wurde als notwendig erkannt, »vor entschiedensten<br />
Maßnahmen nicht zurückzuschrecken«. So nebenbei entdeckt die Regierung, daß<br />
Ursache <strong>der</strong> Erfolglosigkeit des Kampfes gegen Unruhen die »ungenügende Popularität«<br />
<strong>der</strong> Regierungskommissare unter den Massen <strong>der</strong> Bauernbevölkerung sei. Um <strong>der</strong> Sache<br />
abzuhelfen, wird beschlossen, in allen von Unruhen erfaßten Gouvernernents eiligst<br />
»beson<strong>der</strong>e Komitees <strong>der</strong> Provisorischen Regierung« zu organisieren. Von nun an wird<br />
die Bauernschaft Exekutionsabteilungen mit Willkommensrufen empfangen müssen.<br />
Unüberwindliche historische Kräfte zogen die Herrschenden hinab. Niemand glaubte<br />
ernstlich an den Erfolg <strong>der</strong> neuen Regierung. Kerenskis Isoliertheit war unabän<strong>der</strong>lich.<br />
Seinen Verrat an Kornilow konnten die besitzenden Klassen nicht vergessen. »Wer bereit<br />
war, gegen die Bolschewiki zu kämpfen«, schreibt <strong>der</strong> Kosakenoffizier Kakljugin, »wollte<br />
dies nicht im Namen und zur Verteidigung <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
tun.« An die Macht sich klammernd, hatte Kerenski Angst, von ihr irgendeinen Gebrauch<br />
zu mächen. Die wachsende Kraft des Wi<strong>der</strong>standes paralysierte schließlich seinen Willen<br />
völlig. Er wich allen Entschließungen aus und mied das Winterpalais, wo ihn die Situatiön<br />
zu Taten verpflichtete. Unmittelbar nach Bildung <strong>der</strong> neuen Regierung schob er den<br />
Vorsitz Konowalow zu und reiste selbst ins Hauptquartier ab, wo man ihn am allerwenigsten<br />
brauchte. Nach Petrograd kehrte er nur zurück, um das Vorparlament zu eröffnen.<br />
Obwohl die Minister ihn aufzuhalten suchten, reiste er am 14. wie<strong>der</strong> an die Front ab.<br />
Kerenski floh vor dem Geschick, das ihm auf dön Fersen folgte.<br />
Konowalow, Kerenskis nächster Mitarbeiter und Stellvertreter, geriet, nach Nabokows<br />
Worten, in Verzweiflung über Kerenskis Unbeständigkeit und völlige Unmöglichkeit,<br />
sich auf seine Worte zu verlassen. Doch die Stimmung <strong>der</strong> übrigen Kabinettsmitglie<strong>der</strong><br />
unterschied sich wenig von <strong>der</strong> seines Hauptes. Die Minister blickten besorgt um sich,<br />
horchten, warteten ab, halfen sich mit leeren Schreibereien und beschäftigten sich mit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 541
Lappalien. Justizminister Maljantowitsch war, nach Nabokows Erzählung, äußerst<br />
besorgt darüber, daß die Senatoren sich weigerten, Sokolow im schwarzen Gehrock als<br />
ihren neuen Kollegen aufzunehmen. »Was glauben Sie, was ist zu tun?« fragte besorgt<br />
Maljantowitsch. Nach dem von Kerenski eingeführten Ritual wurde strengstens darauf<br />
geachtet, daß Minister einan<strong>der</strong> nicht mit Namen und Vatersnamen, wie gewöhnliche<br />
Sterbliche, nannten, son<strong>der</strong>n nach dem Posten, den sie bekleideten: »Herr Minister so<br />
und so«, wie es sich eben für Vertreter einer starken Macht geziemt. Die Erinnerungen<br />
<strong>der</strong> Beteiligten klingen wie eine Satire. Über seinen Kriegsminister schrieb später<br />
Kerenski selbst: »Das war die mißlungenste aller Ernennungen: Werschowski trug in<br />
seine Tätigkeit etwas unfaßbar Komisches hinein.« Doch liegt das Unglück darin, daß ein<br />
Anflug unfreiwilliger Komik auf <strong>der</strong> gesamten Tätigkeit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung<br />
lag: diese Menschen wußten nicht, was zu tun und wie sich zu drehen. Sie regierten<br />
nicht, son<strong>der</strong>n spielten Regierer, wie Scbuljungen Soldaten spielen, nur viel weniger<br />
unterhaltsam.<br />
Als Zeuge auftretend, charakterisierte Miljukow in sehr bestimmten Zügen den<br />
Zustand des Regierungsoberhauptes in jener Periode: »lndem er den Boden unter den<br />
Füßen verlor, offenbarte Kerenski je weiter desto mehr alle Anzeichen jener pathologischen<br />
Seelenverfassung, die man in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Medizin als "psychische Neurasthenie"<br />
bezeichnen kann. Dem intimen Freundeskreis war längst bekannt, daß Kerenski,<br />
nach Augenblicken äußersten Energieverfalls am Vormittag, in <strong>der</strong> zweiten Tageshälfte<br />
unter dem Einfluß medizinischer Mittel, die er einnahm, in einen Zustand äußerster<br />
Erregung geriet.« Miljukow erklärt den beson<strong>der</strong>en Einfluß des Kadetten-Ministers<br />
Kischkin, Psychiaters von Beruf, mit dessen Geschicklichkeit, den Patienten zu behandeln.<br />
Die Verantwortung für diese Informationen überlassen wir vollständig dem liberalen<br />
Historiker, <strong>der</strong> zwar alle Möglichkeiten besaß, die Wahrheit zu kennen, aber bei<br />
weitem nicht immer dieWahrheit zu seinem höchsten Kriterium erwählte.<br />
Die Angaben eines Kerenski so nahestehenden Menschen wie Stankewitsch bestätigen,<br />
wenn nicht die psychiatrische, so doch die psychologische Charakteristik, die Miljukow<br />
gegeben hat. »Kerenski machte auf mich«, schreibt Stankewitsch, »Eindruck durch die<br />
seltsame Ode seiner Umgebung und die merkwürdige, ungewöhnliche Ruhe. Um ihn<br />
herum waren nur seine unvermeidlichen "Adjutantchen". Doch gab es we<strong>der</strong> die Menge,<br />
von <strong>der</strong> er früher stets umgeben gewesen war, noch Delegationen noch Scheinwerfer ...<br />
Es entstanden irgendwelche eigenartigen Mußestunden, und ich hatte die seltene<br />
Möglichkeit, mich mit ihm stundenlang zu unterhalten, wobei er eine merkwürdige<br />
Saumseligkeit an den Tag legte.«<br />
Jede neue Regierungsumbildung vollzog sich im Namen einer starken Macht, und<br />
jedes neue Ministerium begann mit Dur-Tönen, um schon nach wenigen Tagen in Mutlosigkeit<br />
zu versinken. Es wartete dann auf einen Stoß von außen, um auseinan<strong>der</strong>zufallen.<br />
Den Stoß gab jedesmal die Bewegung <strong>der</strong> Massen. Die Regierungsumbildung, läßt man<br />
den trügerischen Schein beiseite, erfolgte immer in einer <strong>der</strong> Massenbewegung entgegengesetzten<br />
Richtung. Den Übergang von <strong>der</strong> einen Regierung zur an<strong>der</strong>en füllten Krisen<br />
aus, die jedesmal einen immer schleppen<strong>der</strong>en und schmerzhafteren Charakter<br />
annahmen. Jede neue Krise vergeudete einen Teil <strong>der</strong> Staatsmacht, schwächte die<br />
<strong>Revolution</strong>, demoralisierte die Regierenden. Das Exekutivkomitee <strong>der</strong> ersten zwei<br />
Monate vermochte alles, sogar die Bourgeoisie nominell zur Macht zu berufen. In den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 542
folgenden zwei Monaten vermochte die Provisorische Regierung gemeinsam mit dein<br />
Exekutivkomitee noch vieles, sogar die Offensive an <strong>der</strong> Front zu beginnen. Die dritte<br />
Regierung, unter dem geschwächten Exekutivkomitee, hatte noch die Fähigkeit, mit <strong>der</strong><br />
Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki zu beginnen, war jedoch unfähig, diese zu Ende zu<br />
führen. Die vierte Regierung, entstanden nach <strong>der</strong> längsten Krise, war bereits zu nichts<br />
fähig. Kaum geboren, lag sie im Sterben und harrte mit offenen Augen ihres Totengräbers.<br />
Die Bauernschaft vor dem Oktober<br />
Die Zivilisation machte den Bauern zu ihrem Lastesel. Die Bourgeoisie verän<strong>der</strong>te<br />
letzten Endes nur die Form <strong>der</strong> Last. Kaum geduldet an <strong>der</strong> Schwelle des nationalen<br />
Lebens, bleibt die Bauernschaft auch in <strong>der</strong> Wissenschaft eigentlich hinter <strong>der</strong>en Schwelle.<br />
Der Historiker interessiert sich gewöhnlich für die Bauernschaft ebensowenig wie <strong>der</strong><br />
Theaterkritiker für jene grauen Gestalten, die die Bühne fegen, Himmel und Erde auf<br />
dem Rücken tragen und die Gar<strong>der</strong>obe <strong>der</strong> Schauspieler sauberhalten. Die Teilnahme <strong>der</strong><br />
Bauernschaft an <strong>Revolution</strong>en <strong>der</strong> Vergangenheit blieb bis auf den heutigen Tag kaum<br />
beleuchtet.<br />
»Die fanzösische Bourgeoisie begann mit <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> Bauern«, schrieb Marx im<br />
Jahre 1848, »mit den Bauern eroberte sie Europa. Die preußische Bourgeoisie war so<br />
sehr in ihren engsten, nächstliegenden Interessen befangen, daß sie selbst diesen<br />
Bundesgenossen sich verscherzte und zu einem Werkzeuge in <strong>der</strong> Hand <strong>der</strong> feudalen<br />
Konterrevolution machte.« In dieser Gegenüberstellung ist richtig, was sich auf die<br />
deutsche Bourgeoisie bezieht; jedoch die Behauptung, »die französische Bourgeoisie<br />
begann mit <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> Bauern«, ist ein Wi<strong>der</strong>hall <strong>der</strong> französischen offiziellen<br />
Legende, die zu ihrer Zeit sogar Marx beeinflußte. In Wirklichkeit wi<strong>der</strong>setzte sich die<br />
Bourgeoisie im eigentlichen Sinne des Wortes, soweit ihre Kräfte reichten, <strong>der</strong> Bauernrevolution.<br />
Schon in den Landinstruktionen von 1789 warfen die örtlichen Führer des<br />
Dritten Standes, unter vorgeblicher Redigierung, die schärfsten und kühnsten For<strong>der</strong>ungen<br />
hinaus. Die viel zitierten Beschlüsse, vom 4. August, von <strong>der</strong> Nationalversammlung<br />
angenommen unter dein Feuerschein <strong>der</strong> Brände auf dem Lande, blieben lange pathetische<br />
Formel ohne Inhalt. Die Bauern, die sich mit dein Betrug nicht abfinden wollten,<br />
beschwor die Konstituierende Versammlung, »zurückzukehren zur Erfüllung ihrer<br />
Pflichten und sich mit gebühren<strong>der</strong> Achtung gegen das Eigentum [das feudale!] zu<br />
verhalten«. Die Zivilgarde wandte sich mehr als einmal gegen die Dörfer, um die Bauern<br />
zu unterdrücken. Die städtischen Arbeiter, welche Partei für die Aufständischen nahmen,<br />
empfingen die bürgerlichen Exekutoren mit Steinen und Dachziegeln.<br />
Fünf Jahre lang erhoben sich die französischen Bauern in allen kritischen Momenten<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, um den Schacher <strong>der</strong> Feudalen mit den bürgerlichen Eigentümern zu<br />
verhin<strong>der</strong>n. Die Pariser Sansculotten, die ihr Blut für die Republik vergossen, befreiten<br />
die Bauern aus den feudalen Fesseln. Die französische Republik von 1792 bedeutete ein<br />
neues soziales Regime, zum Unterschiede von <strong>der</strong> deutschen Republik von 1918 o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
spanischen Republik von 1931, die das alte Regime minus Dynastie bedeuten. Im Kern<br />
dieses Unterschiedes ist nicht schwer, die Agrarfrage zu entdecken.<br />
Der französische Bauer dachte nicht unmittelbar in die Republik: er wollte den Gutsbesitzer<br />
abwerfen. Die Pariser Republikaner vergaßen gewöhnlich das Dorf. Aber nur <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 543
Bauerndruck gegen die Gutsbesitzer sicherte die Schaffung <strong>der</strong> Republik, indem er für<br />
sie den Boden vom feudalen Gerümpel säuberte. Eine Republik mit Adel ist keine<br />
Republik. Das hatte sehr gut <strong>der</strong> alte Machiavelli begriffen, <strong>der</strong> vierhun<strong>der</strong>t Jahre vor<br />
Eberts Präsidentschaft, in seiner florentinischen Verbannung, zwischen Drosseljagd und<br />
Tricktrackspiel mit dem Fleischer, die Erfahrung demokratischer Umwälzungen verallgemeinerte:<br />
»Wer eine Republik in einem Lande schaffen will, wo viele Adlige sind, wird es<br />
nicht machen können, ohne diese zuerst alle auszurotten.« Die <strong>russischen</strong> Muschiks<br />
waren eigentlich <strong>der</strong> gleichen Meinung, und sie bewiesen das offen, ohne jeden "Machiavellismus".<br />
Spielten Petrograd und Moskau die leitende Rolle in <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Soldaten, so gehörte <strong>der</strong> erste Platz in <strong>der</strong> Bauernbewegung dem rückständigen groß<strong>russischen</strong><br />
Agrarzentrum und dem mittleren Wolgagebiet. Hier waren von den Überresten<br />
<strong>der</strong> Leibeigenschaft beson<strong>der</strong>s tiefe Wurzeln erhalten geblieben, das adlige Eigentum an<br />
Boden trug einen beson<strong>der</strong>s scharf ausgeprägten parasitären Charakter, die Differenzierung<br />
<strong>der</strong> Bauernschaft war zurückgeblieben und entblößte um so stärker die Armut des<br />
Dorfes. In diesem Landstrich lo<strong>der</strong>t die Bewegung bereits im März auf und erhält<br />
sogleich Terrorfarbung. Durch Bemühungen <strong>der</strong> regierenden Parteien aber wird sie bald<br />
in das Bett <strong>der</strong> Versöhnlerpolitik geleitet.<br />
In <strong>der</strong> industriell rückständigen Ukraine gewann die für Export arbeitende Landwirtschaft<br />
fortgeschritteneren, folglich kapitalisti-scheren Charakter. Die Schichtung <strong>der</strong><br />
Bauernschaft war hier weit stärker als in Großrußland. Der Kampf um nationale Befreiung<br />
bremste unvermeidlich, wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkt, alle an<strong>der</strong>en<br />
Formen des sozialen Kampfes. Jedoch die Unterschiede <strong>der</strong> territorialen und sogar nationalen<br />
Bedingungen äußerten sich letzten Endes nur in den Unterschieden <strong>der</strong> Fristen.<br />
Gegen Herbst wird fast das gesamte Land zum Gebiet des Bauernaufstandes. Von sechshun<strong>der</strong>tvierundzwanzig<br />
Kreisen, die das alte Rußland bildeten, werden von <strong>der</strong><br />
Bewegung vierhun<strong>der</strong>tzweiundachtzig Kreise o<strong>der</strong> siebenundsiebzig Prozent erfaßt; ohne<br />
die Randgebiete, die sich durch beson<strong>der</strong>e Agrarverhältnisse auszeichnen: Norddistrikt,<br />
Transkaukasien, Steppengebiet und Sibirien, sind von vierhun<strong>der</strong>teinundachtzig Kreisen<br />
vierhun<strong>der</strong>meununddreißig Kreise o<strong>der</strong> einundneunzig Prozent in den Bauernaufstand<br />
hineingezogen.<br />
Die Kampfarten unterscheiden sich je nachdem, ob es sich um Feld, Wald o<strong>der</strong> Weideland,<br />
um Pacht o<strong>der</strong> Lohnarbeit handelt. Der Kampf än<strong>der</strong>t Formen und Methoden an<br />
verschiedenen Etappen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Aber im allgemeinen läuft die Bewegung auf<br />
dem Lande, mit unvermeidlichem Nachhinken, durch die gleichen zwei großen Stadien<br />
wie die Bewegung <strong>der</strong> Städte. Auf <strong>der</strong> ersten Etappe paßt sich die Bauernschaft noch<br />
dem neuen Regime an und versucht, ihre Aufgaben vermittels <strong>der</strong> neuen Institutionen zu<br />
lösen. Jedoch es geht auch hier mehr um die Form als um den Inhalt. Eine Moskauer<br />
liberale Zeitung, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in volkstümierischen Farben schillerte, gab mit<br />
lobenswerter Unmittelbarkeit den Gefühlen <strong>der</strong> Gutshesitzerkreise im Sommer 1917<br />
Ausdruck: »Der Muschik blickt um sich; noch tut er nichts, doch betrachtet genau seine<br />
Augen, und die Augen werden euch sagen, daß das ganze Land um ihn herum - sein<br />
Land ist.« Einen unersetzbaren Schlüssel zur "friedlichen" Politik <strong>der</strong> Bauernschaft bildet<br />
das Apriltelegramm eines <strong>der</strong> Tambower Dörfer an die Provisorische Regierung:<br />
»Wollen im Interesse <strong>der</strong> errungenen Freiheiten Ruhe bewahren, verbietet deshalb, über<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 544
Gutsbesitzerboden zu verfügen vor <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung, an<strong>der</strong>nfalls<br />
werden wir Blut fließen lassen, aber verhin<strong>der</strong>n, daß ihn an<strong>der</strong>e beackern.«<br />
Der Muschik konnte um so eher den Ton ehrerbietiger Drohung einhalten, als er beim<br />
Pochen auf seine historischen Rechte fast niemals unmittelbar mit dem Staat zusammenstieß.<br />
Am Orte fehlten Organe <strong>der</strong> Regierungsmacht. Über die Miliz verfügten die<br />
Gemeindekomitees. Die Gerichte waren desorganisiert. Die örtlichen Kommissare<br />
ohnmächtig. »Wir haben dich gewählt«, schrien die Bauern, »wir werden dich auch<br />
davonjagen.«<br />
Indem sie den Kampf <strong>der</strong> vorangegangenen Monate steigert, nähert sich die Bauernschaft<br />
während des Sommers immer mehr dem Bürgerkrieg und überschreitet mit ihrem<br />
linken Flügel dessen Schwelle. Laut Bericht <strong>der</strong> Bodenbesitzer des Taganroger Kreises<br />
ergreifen die Bauern eigenmächtig Besitz von <strong>der</strong> Heuernte, nehmen den Boden an sich,<br />
verhin<strong>der</strong>n das Pflügen, bestimmen eigenmächtig Pachtpreise, entfernen Besitzer und<br />
Verwalter. Laut Meldung des Nischegoro<strong>der</strong> Kommissars häuften sich im Gouvernement<br />
Gewaltakte und Aneignungen von Acker und Wald. Die Kreiskommissare fürchten, in<br />
den Augen <strong>der</strong> Bauern als Verteidiger <strong>der</strong> Großgrundbesitzer zu erscheinen. Die Dorfmiliz<br />
ist unzuverlässig: »Es geschahen Fälle, wo Milirbeamte sich gemeinsam mit <strong>der</strong><br />
Menge an Gewaltakten beteiligten.« Im Schlüsselburger Kreis untersagt das Gemeindekomitee<br />
den Bodenbesitzern, ihren eigenen Wald zu fällen. Der Gedanke <strong>der</strong> Bauern ist<br />
einfach: Keine Konstituierende Versammlung wird aus den Baumstümpfen die<br />
abgeschlagenen Bäume wie<strong>der</strong> aufleben lassen können. Der Kommissar des Hofministeriums<br />
beschwert sich über Wegnahme <strong>der</strong> Heuernte: Heu für die Schloßpferde muß<br />
gekauft werden! Im Kursker Gouvernement verteilen die Bauern unter sich<br />
Tereschtschenkos gedüngte Brachfel<strong>der</strong>: <strong>der</strong> Eigentümer ist Minister des Auswärtigen.<br />
Dem Pferdezüchter des Orlower Gouvernements, Schnei<strong>der</strong>, erklärten die Bauern, sie<br />
würden nicht nur den Klee auf seinem Gut abmähen, son<strong>der</strong>n ihn selber »zu den Soldaten<br />
stecken«. Dem Verwalter des Rodsjankoschen Gutes befahl das Gemeindekomitee, die<br />
Ernte den Bauern abzutreten: »Wenn Sie dem Landkomitee nicht gehorchen, wird an<strong>der</strong>s<br />
mit Ihnen verfahren, Sie werden verhaftet werden.« Unterschrift und Siegel.<br />
Aus allen Ecken strömen Beschwerden und Geschrei: von den Betroffenen, von den<br />
Lokalbehörden, von edlen Zeugen. Die Telegramme <strong>der</strong> Bodenbesitzer stellen die<br />
glänzendste Wi<strong>der</strong>legung aller plumpen Klassenkampftheorien dar. Namhafte Gutsbesitzer,<br />
Eigentümer von Latifundien, geistliche und weltliche Leibeigenschaftsanhänger sind<br />
ausschließlich um das allgemeine Wohl besorgt. Feind ist nicht <strong>der</strong> Bauer, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
Bolschewik, manchmal <strong>der</strong> Anarchist. Die eigenen Güter interessieren die Lanlords<br />
einzig vom Standpunkte des Gedeihens des Vaterlandes.<br />
Dreihun<strong>der</strong>t Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kadettenpartei, aus dem Gouvernement Tschernigow,<br />
erklären: angestiftet von den Bolschewiki, vertreiben die Bauern die Kriegsgefangenen<br />
von <strong>der</strong> Arbeit und gehen zum eigenmächtigen Einholen <strong>der</strong> Ernte über: als Folge droht<br />
»die Unmöglichkeit, Steuern zu zahlen«. Den Sinn des Daseins erblickten die liberalen<br />
Gutsbesitzer in <strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> Staatskasse! Die Staatsbankfiliale in Podolien<br />
beschwert sich über das eigenmächtige Vorgehen <strong>der</strong> Gemeindekomitees, »<strong>der</strong>en Vorsitzende<br />
kriegsgefangene Österreicher sind«. Hier spricht verletzter Patriotismus! Im<br />
Gouvernement Wladimir, auf dem Gutshof des Notars Odinzow, wird das »für wohltätige<br />
Institutionen angefrrtigte Baumaterial« weggenommen. Notare leben ausschließlich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 545
für die Taten <strong>der</strong> Menschenliebe! Podoliens Bischof meldet die eigenmächtige<br />
Wegnahme von Wald, <strong>der</strong> dem bischöflichen Hause gehört. Der Oberprokurator beklagt<br />
sich über die Enteignung von Wiesenland des Alexan<strong>der</strong>-Newski-Klosters. Die Vorsteherin<br />
des Kislarsker Klosters beschwört alle Donner gegen die Mitglie<strong>der</strong> des Lokalsowjets:<br />
sie mischen sich in die Kloster-angelegenheiten, konfiszieren zu eigenem Nutzen<br />
die Pachtgel<strong>der</strong>, »hetzen die Nonnen gegen die Obrigkeit auf«. In all diesen Fällen sind<br />
unmittelbar die Interessen <strong>der</strong> Kirche betroffen. Graf Tolstoi, einer <strong>der</strong> Söhne Leo<br />
Tolstois, berichtet im Namen des Bundes <strong>der</strong> Landwirte des Ufaer Gouvernements, daß<br />
die Übergabe des Bodens an die Landkomitees, »ohne den Beschluß <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung abzuwarten ... einen Ausbruch von Unzufriedenheit ... unter den<br />
bäuerlichen Eigentümern hervorrufen wird, <strong>der</strong>en es im Gouvernement über zweihun<strong>der</strong>ttausend<br />
gibt«. Der vornehme Gutsbesitzer ist ausschließlich um den kleinen Bru<strong>der</strong><br />
besorgt. Senator Belgardt, Bodenbesitzer im Gouvernement Twer, ist bereit, sich mit dem<br />
Waldfällen abzufinden, trauert aber, daß die Bauern »sich <strong>der</strong> bürgerlichen Regierung<br />
nicht unterwerfen wollen«. Der Tambower Gutsbesitzer Weljaminow for<strong>der</strong>t die Rettung<br />
zweier Güter, die »den Bedürthissen <strong>der</strong> Armee dienen«. Zufällig sind es seine eigenen<br />
Güter. Für Philosophen des Idealismus sind die gutsherrlichen Telegramme aus dem<br />
Jahre 1917 ein wahrer Schatz. Der Materialist wird in ihnen eher eine Musterschau des<br />
Zynismus erblicken. Er wird vielleicht hinzufügen, daß große <strong>Revolution</strong>en die Besitzenden<br />
sogar <strong>der</strong> Fähigkeit einer geziemenden Heuchelei berauben.<br />
Die Appelle <strong>der</strong> Leidtragenden an Kreis und Gouvernementsbehörden, den Innenminister,<br />
den Vorsitzenden des Ministerrats bleiben gewöhnlich resultatlos. Bei wem nun<br />
Hilfe suchen? Bei Rodsjanko, dem Vorsitzenden aer Reichsduma. Zwischen den Julitagen<br />
und dem Kornilowaufstand fühlt sich <strong>der</strong> Kammerherr wie<strong>der</strong> als einflußreiche<br />
Figur: vieles geschieht auf seinen telephonischen Anruf hin.<br />
Beamte des Innenministeriums versenden Zirkulare an die Ortsbehörden, wonach die<br />
Schuldigen dem Gericht zu übergeben seien. Waschechte Samaraer Gutsbesitzer telegraphieren<br />
zurück: »Telegramme ohne Unterschrift <strong>der</strong> Minister-<strong>Sozialisten</strong> haben keine<br />
Kraft.« So zeigt sich <strong>der</strong> Nutzen des Sozialismus. Zeretelli muß seine Schüchternheit<br />
überwinden: am 8. Juli schickt er eine wortreiche Verfügung über Ergreifung »schneller<br />
und entschiedener Maßnahmen«. Wie die Gutsbesitzer ist auch Zeretelli nur um Armee<br />
und Staat besorgt. Den Bauern jedoch scheint es, Zeretelli schütze die Gutsbesitzer.<br />
In den Unterdrückungsmethoden <strong>der</strong> Regierung tritt ein Umschwung ein. Bis Juli war<br />
vorwiegend gutes Zureden angewandt worden. Entsandte man auch Truppen in die<br />
Unruheherde, so doch nur als Deckung für den Redner <strong>der</strong> Regierung. Nach dem Sieg<br />
über die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten werden Kavalleriekommandos, nun ohne<br />
Beschwichtiger, den Gutsbesitzern zur unmittelbaren Verfügung gestellt. Im Kasaner<br />
Gouvernement, einem <strong>der</strong> unruhigsten, gelang es - nach den Worten des jungen Historikers<br />
Jugow - nur »durch Verhaftungen, Einquartierung bewaffneter Kommandos in den<br />
Dörfern, sogar Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> Prügelstrafe ... die Bauern eine Weile zu zwingen,<br />
Ruhe zu halten«. Auch an an<strong>der</strong>en Stellen bleiben die Repressalien weht ohne Wirkung.<br />
Die Zahl <strong>der</strong> in Mitleidenschaft gezogenen Güter vermin<strong>der</strong>te sich ein wenig im Juli: von<br />
fünfhun<strong>der</strong>tsechzehn auf fünfhun<strong>der</strong>tdrei. Im August gelang es <strong>der</strong> Regierung, weitere<br />
Erfolge zu erringen: die Zahl <strong>der</strong> unruhigen Kreise fiel von dreihun<strong>der</strong>tfünfundzwanzig<br />
auf zweihun<strong>der</strong>tundachtzig, um elf Prozent; die Zahl <strong>der</strong> von Unruhen erfaßten Güter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 546
sank sogar um dreiunddreißig Prozent.<br />
Einige <strong>der</strong> bisher unruhigsten Gebiete verstummen o<strong>der</strong> treten in den Hintergrund.<br />
Dagegen beschreiten Gebiete, gestern noch zuverlässig, den Weg des Kampfes. Vor noch<br />
kaum einem Monat entwarf <strong>der</strong> Pensaer Kommissar ein tröstliches Bild: »Das Dorf ist<br />
mit dem Einbringen <strong>der</strong> Ernte beschäftigt ... Man bereitet sich für die Wahlen zu den<br />
Gemeindesemstwos vor. Die Periode <strong>der</strong> Regierungskrise ist ruhig verlaufen. Die<br />
Bildung <strong>der</strong> neuen Regierung ist mit großer Befriedigung aufgenommen worden.« Im<br />
August bleibt von diesem Idyll bereits keine Spur: »Massenplün<strong>der</strong>ung von Gärten und<br />
Waldfrevel ... Zur Liquidierung <strong>der</strong> Unruhen muß Waffengewalt angewandt werden.«<br />
Dem Gesamtcharakter nach gehört die Sommerbewegung noch immer zur<br />
"friedlichen" Periode. Doch kann man an ihr bereits zwar schwache, aber untrügliche<br />
Radikalisierungssymptome beobachten: nehmen in den ersten vier Monaten direkte<br />
Überfälle auf Gutshöfe ab, so beginnen sie im Juli sich wie<strong>der</strong> zu mehren. Die Forscher<br />
stellen im allgemeinen folgende Klassifizierung <strong>der</strong> Julizusammenstöße in sinken<strong>der</strong><br />
Reihe fest: Aneignungen von Wiesen, Ernten, Lebensmitteln und Viehfütter, Ackerland<br />
und Inventar; Kampf um die Verdingungsmodahtäten; Plün<strong>der</strong>ungen von Gütern. Im<br />
August Aneignungen von Ernten, Lebensmitteln und Futtervorräten, Wiesen und Heu,<br />
Land und Wald; Agrarterror.<br />
Anfang September wie<strong>der</strong>holt Kerenski, in seiner Eigenschaft als Höchstkomrnandieren<strong>der</strong>,<br />
in einem Son<strong>der</strong>befrhl die kürzlichen Argumente und Drohungen seines Vorgängers<br />
Kornilow gegen "Gewaltakte" <strong>der</strong> Bauern. Einige Tage später schreibt Lenin:<br />
»Entwe<strong>der</strong> ... den gesamten Boden sofort den Bauern ... O<strong>der</strong> aber die Gutsbesitzer und<br />
Kapitalisten ... werden die Sache zu einem unendlich grausamen Bauernaufstand<br />
treiben.« Im Laufe des folgenden Monats wurde das Tatsache.<br />
Die Zahl <strong>der</strong> von Agrarunruhen erfaßten Güter stieg im September im Vergleich zum<br />
August um dreißig Prozent; im Oktober im Vergleich zum September um dreiundvierzig<br />
Prozent. Auf September und die drei ersten Oktoberwochen entfällt über ein Drittel aller<br />
seit dem März registrierten Agrarkonflikte. Ihre Schärfe war jedoch unermeßlich stärker<br />
angewachsen als ihre Zahl. In den ersten Monaten hatte man sogar offenen Aneignungen<br />
irgendwelcher Grundstücke noch die Form von Abmachungen verliehen, gemil<strong>der</strong>t und<br />
gedeckt durch die Versöhnlerorgane. Jetzt fällt die legale Maskierung weg. Je<strong>der</strong> Zweig<br />
<strong>der</strong> Bewegung nimmt herausfor<strong>der</strong>nden Charakter an. Von verschiedenen Arten und<br />
Graden des Druckes schreiten die Bauern zu gewaltsamen Enteignungen von Teilen <strong>der</strong><br />
gutsherrlichen Wirtschaft, zu Plün<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Adelsnester, Brandlegung auf den<br />
Gutshöfen, sogar zum Morden <strong>der</strong> Besitzer und Verwalter.<br />
Der Kampf um Abän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pachtbedingungen, <strong>der</strong> im Juni die Zahl <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ungen<br />
übersteigt, beträgt im Oktober nicht mal ein Vierzigstel <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ungen,<br />
wobei auch die Pächterbewegung ihren Charakter än<strong>der</strong>t, indem sie nur eine an<strong>der</strong>e<br />
Form zur Vertreibung <strong>der</strong> Gutsbesitzer wird. Das Verbot des Kaufs und Verkaufs von<br />
Boden und Wald macht <strong>der</strong> direkten Aneignung Platz. Massenfälle von Abholzen und<br />
Abweiden nehmen den Charakter planmäßiger Vernichtung des gutsherrlichen Eigentums<br />
an. Fälle offener Gutsplün<strong>der</strong>ungen sind im September zweihun<strong>der</strong>tneunundsiebzig<br />
registriert; sie bilden bereits über ein Achtel sämtlicher Konflikte. Der Oktober weist<br />
zweiundvierzig Prozent aller Plün<strong>der</strong>ungsfälle auf; von <strong>der</strong> Miliz zwischen Februar- und<br />
Oktoberumwälzung registriert.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 547
Beson<strong>der</strong>s erbitterten Charakter nahm <strong>der</strong> Kampf um den Wald an. Dörfer brannten<br />
häufig bis auf den Boden nie<strong>der</strong>. Bauholz wurde stark bewacht und teuer verkauft. Der<br />
Bauer war ausgehungert nach Holz. Überdies nahte die Zeit, Holzvorräte für den Winter<br />
zu sichern. Aus den Gouvernements Moskau, Nischegorod, Petrograd, Orel, Wolhynien,<br />
von allen Enden des Landes kommen Klagen über Waldplün<strong>der</strong>ungen und gewaltsamen<br />
Raub fertiger Holzvorräte. »Die Bauern fällen eigenmächtig und unbarmherzig Wald.« -<br />
»Durch die Bauern sind zweihun<strong>der</strong>t Deßjatinen gutsherrlichen Waldes<br />
nie<strong>der</strong>gebrannt.« - »Die Bauern <strong>der</strong> Kreise Klimowitsch und Tscherikow vernichten den<br />
Wald und zerstören die Wintersaat.« ... Die Waldwachen retten sich durch Flucht. Es<br />
stöhnt <strong>der</strong> Adelswald, Holzspäne fliegen durchs ganze Land. Das Bauernbeil schlägt<br />
während des Herbstes einen fieberhaften <strong>Revolution</strong>stakt.<br />
In den Brot importierenden Bezirken verschlimmerte sich die Ernährungsfrage auf dem<br />
Lande noch schärfer als in den Städten. Es fehlten nicht nur Lebensmittel, son<strong>der</strong>n auch<br />
Samen. In den exportierenden Städten ist die Lage infolge des intensiven Hinauspumpens<br />
<strong>der</strong> Lebensmittdbestände nicht viel besser. Das Steigen <strong>der</strong> festen Preise für Getreide<br />
trifft hart die Armut. In einer Reihe von Gouvernements beginnen Hungerrevolten,<br />
Plün<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Getreidespeicher, Überfälle auf Organe <strong>der</strong> Lebensmittelverteilung.<br />
Die Bevölkerung greift zu Brotsurrogaten. Es kommen Berichte über Skorbut- und<br />
Typhuserkrankungen, über Selbstmorde aus Verzweiflung. Hunger o<strong>der</strong> dessen Gespenst<br />
machen die Nachbarschaft von Wohlstand und Luxus beson<strong>der</strong>s unerträglich. Die von<br />
<strong>der</strong> Not am meisten betroffenen Dorfschichten rücken in die vor<strong>der</strong>sten Reihen.<br />
Die Wellen <strong>der</strong> Erbitterung tragen aus <strong>der</strong> Tiefe nicht wenig Schlamm empor. Im<br />
Gouvernement Kostroma kann man »Schwarzhun<strong>der</strong>t- und antijüdische Agitation<br />
beobachten. Das Verbrechertum wächst ... Es läßt sich ein Schwinden des Interesses für<br />
das politische Leben des Landes wahrnehmen«. Der letzte Satz im Bericht des Kommissares<br />
bedeutet: die gebildeten Klassen kehren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den Rücken. Plötzlich<br />
ertönt aus dem Podoler Gouvernement eine Stimme des Sehwarzhun<strong>der</strong>tmonarchismus:<br />
Das Komitee des Dorfes Demidowka anerkennt die provisorische Regierung nicht und<br />
betrachtet als »treusten Führer des <strong>russischen</strong> Volkes« Kaiser Nikolai Alexandrowitseh:<br />
falls die Provisorische Regierung nicht abtritt, »schließen wir uns dem Deutschen an«.<br />
So kühne Geständnisse bleiben jedoch vereinzelt: die Monarchisten unter den Bauern<br />
hatten sich zusammen mit den Gutsbesitzem längst umgefärbt. Stellenweise, wie im<br />
gleichen Podolien, plün<strong>der</strong>n die Truppen vereint mit den Bauern Schnapsbrennereien.<br />
Der Kommissar meldet Anarchie. »Es gehen Dörfer und Menschen zugrunde, die<br />
<strong>Revolution</strong> geht zugrunde.« Nein, die <strong>Revolution</strong> ist weit vom Zugrundegehen. Sie bahnt<br />
sich nur ein tieferes Bett. Ihre rasende Wasser nähern sich <strong>der</strong> Mündung.<br />
In <strong>der</strong> Nacht auf den 8. Oktober rufen die Bauern des Dorfes Sytschewka im Gouvernement<br />
Tambow, mit Knütteln und Heugabeln von Hof zu Hof gehend, groß und klein<br />
zusammen, um den Gutsbesitzer Romanow zu plün<strong>der</strong>n. In <strong>der</strong> Gemeindeversammlung<br />
schlägt eine Gruppe vor, das Gut auf geordnetem Wege wegzunehmen, das Inventar<br />
unter die Bevölkerung zu verteilen und die Gebäude für Kulturzwecke zu erhalten. Die<br />
Armut for<strong>der</strong>t, den Gutshof nie<strong>der</strong>zubrennen, daß kein Stein auf dem an<strong>der</strong>en bleibt. Die<br />
Armut ist in Mehrzahl. In <strong>der</strong> gleichen Nacht erfaßte ein Flammenmeer die Güter <strong>der</strong><br />
ganzen Gemeinde. Es wurde alles eingeäschert, was nicht feuerfest war, sogar das<br />
Versuchsfeld; das Zuchtvieh wurde abgeschlachtet, »man soff bis zum Wahnsinn«. Das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 548
Feuer griff von Dorfgemeinde auf Dorfgemeinde über. Das bastbeschuhte Heer begnügt<br />
sich bereits nicht mehr mit den patriarchalischen Heugabeln und Sensen. Der Gouvernementskommissar<br />
telegraphiert »Bauern und unbekannte Personen, bewaffnet mit Revolvern<br />
und Handgranaten, plün<strong>der</strong>n die Güter im Ranenburger und Rjaschker Kreise.«<br />
Die hohe Technik hat <strong>der</strong> Krieg in den Bauernaufstand hineingebracht. Der Bund <strong>der</strong><br />
Bodenbesitzer meldet, in drei Tagen seien vierundzwanzig Güter nie<strong>der</strong>gebrannt worden.<br />
»Die Lokalbehörden sind ohnmächtig, die Ordnung wie<strong>der</strong> herzustellen.« Mit Verspätung<br />
trifft eine vom Armeebefehlshaber abkommandierte Militärabteilung ein, Belagerungszustand<br />
wird verhängt, Versammlungen werden verboten, die Verhaftung <strong>der</strong><br />
Rädelsführer geht vor sich. Die Gräben sind angefüllt mit Sachen aus Gutshäusern, die<br />
Flüsse verschlingen nicht wenig Geraubtes.<br />
Der Pensaer Bauer Begischew erzählt: »Im September führen alle, das Gut Logwin zu<br />
plün<strong>der</strong>n (es war auch schon 1905 geplün<strong>der</strong>t worden), zum Gut, und vom Gute zogen<br />
sich Karawanen von Gespannen, Hun<strong>der</strong>te von Bauern und Dorfweibern trieben und<br />
führten Vieh weg, fuhren mit Getreide und so weiter davon.« Die von <strong>der</strong> Semstwoverwaltung<br />
angefor<strong>der</strong>te Soldatenabteilung versuchte einiges von dem Geplün<strong>der</strong>ten zu<br />
retten, aber es versammelten sich in <strong>der</strong> Gemeinde etwa fünfhun<strong>der</strong>t Weiber und Bauern,<br />
und die Abteilung »entfernte sich«. Die Soldaten waren offenbar gar nicht so darauf<br />
erpicht, die verletzten Gutsherrenrechte wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />
Seit Ende September begannen die Bauern im Taurischen Gouvernement nach den<br />
Erinnerungen des Bauern Haponenko »Ökonomien zu plün<strong>der</strong>n, Inspektoren<br />
wegzujagen, Korn aus den Speichern, Arbeitsvieh, totes Inventar wegzuholen ... Sogar<br />
Fensterläden, Türen <strong>der</strong> Göbäude, Fußböden aus den Zimmern, Zinkdächer wurden<br />
abgerissen und weggenommen« ... »Anfangs kam man nur zu Fuß, nahm und trug<br />
davon«, erzählt <strong>der</strong> Minsker Bauer Grunjko, »dann spannte Pferde an, wer welche hatte,<br />
und ganze Wagenzüge führten Ladungen weg. Unermüdlich ... So, wie man um 12 Uhr<br />
mittags begann, fuhr und trug man zwei Tage und Nächte ohne Rast. In diesen achtundvierzig<br />
Stunden säuberte man alles restlos.« Die Aneignung von Gut und Habe wurde,<br />
nach den Worten des Moskauer Bauern Kusmitschew, folgen<strong>der</strong>maßen verteidigt: »Das<br />
war unser Gutsbesitzer, wir haben für ihn gearbeitet, und das Vermögen, das er hatte,<br />
muß uns allein gehören.« Ehemals sagte <strong>der</strong> Adlige dem Leibeigenen: »Ihr seid mein,<br />
und was ihr habt, ist mein.« Jetzt hallte es von den Bauern wi<strong>der</strong>: »Unser <strong>der</strong> Herr, und<br />
unser sein Hab und Gut.«<br />
»In einigen Orten begann man, die Gutsbesitzer nachts aufzustören«, erinnert sich ein<br />
an<strong>der</strong>er Minsker Bauer, Nowikow. »Immer häufiger brannten Gutshöfe.« Die Reihe kam<br />
an das Gut des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, des ehemaligen Höchstkommandierenden.<br />
»Als man alles weggenommen hatte, was wegzunehmen war, ging man daran,<br />
die Öfen abzureißen, die Ofenklappen runterzuholen, Fußböden und Bretter rauszutragen<br />
und all das heimzuschleppen« ... Hinter diesen Demolierungstaten stand die uralte,<br />
Jahrtausende alte Berechnung aller Bauernkriege: bis auf den Boden die befestigten<br />
Positionen des Feindes vernichten, keinen Platz übriglassen, wo er sein Haupt hinlegen<br />
könnte. »Die Vernünfrigeren«, erinnert sich <strong>der</strong> Kursker Bauer Zygankow, »sagten:<br />
"Man darf die Gebäude nicht vernichten, wir werden sie nötig haben ... für Schulen und<br />
Krankenhäuser", in <strong>der</strong> Mehrzahl aber gab es solche, die schrien, daß man alles<br />
vernichten müsse, damit für jeden Fall unsern Feinden kein Versteck bleibt.« - »Die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 549
Bauern eigneten sich die gesamte gutsherrliche Habe an«, erzählt <strong>der</strong> Orlower Bauer<br />
Sawtschenko, »jagten die Gutsbesitzer von den Gütern, rissen aus den gutsherrlichen<br />
Häusern Fenster, Türen, Fußböden, Decken heraus ... Die Soldaten sagten, wenn man<br />
die Wolfshöhlen aushebt, muß man auch den Wölfen den Garaus machen. Solcher<br />
Drohungen wegen hielten sich die vornehmsten und größten Gutsbesitzer versteckt,<br />
darum hat es Morde an Gutsbesitzern nicht gegeben.«<br />
Im Dorfe Salessje, Gouvernement Witebsk, brannte man Speicher voll Korn und Heu<br />
nie<strong>der</strong> auf dem Gut, das dem Franzosen Bernard gehörte. Die Muschiks zeigten um so<br />
weniger Lust, einen Unterschied in <strong>der</strong> Staatszugehörigkeit zu machen, als viele Gutsbesitzer<br />
sich beeilt hatten, ihren Grund und Boden auf privilegierte Auslän<strong>der</strong> zu<br />
überschreiben. »Die französische Gesandtschaft bittet, Maßnahmen zu ergreifen.« In den<br />
an <strong>der</strong> Front gelegenen Landstrichen war es Mitte Oktober schwer, "Maßnahmen" zu<br />
ergreifen, sogar wenn man <strong>der</strong> französischen Gesandtschaft gefällig sein wollte.<br />
Die Plün<strong>der</strong>ung eines großen Gutes bei Rjasan dauerte vier Tage, »an den Plün<strong>der</strong>ungen<br />
nahmen sogar Kin<strong>der</strong> teil«. Der Bund <strong>der</strong> Bodenbesitzer brachte dem Ministerium<br />
zur Kenntnis, daß, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden sollten, »Lynchjustiz,<br />
Hunger und Bürgerkrieg entstchen müssen«. Unverständlich, weshalb die Gutsbesitzer<br />
vom Bürgerkrieg noch immer in Zukunftsform sprechen.<br />
Auf dem Genossenschaftskongreß Anfang September sagte Ber-kenheim, einer <strong>der</strong><br />
Führer <strong>der</strong> starken Handelsbauernschaft: »Ich bin überzeugt, daß noch nicht ganz<br />
Rußland sich in ein Irrenhaus verwandelt hat und vorläufig hauptsächlich die Bevölkerung<br />
<strong>der</strong> Großstädte den Verstand verlor.« Diese selbstzufriedene Stimme des soliden<br />
und konservativen Teils <strong>der</strong> Bauernschaft kam hoffnungslos spät: gerade in diesem<br />
Monat fiel das Dorf völlig aus allen Vernunftsangeln und ließ an Wildheit des Kampfes<br />
alle »Irrenhäuser« <strong>der</strong> Städte weit zurück.<br />
Im April hatte Lenin es noch für möglich gehalten, daß die patriotischen Genossenschaftler<br />
und Kulaken die Hauptmasse <strong>der</strong> Bauernschaft auf den Weg <strong>der</strong> Versöhnung<br />
mit Bourgeoisie und Gutsbesitzern mitreißen könnten. Um so unermüdlicher drängte er<br />
auf Schaffung beson<strong>der</strong>er Sowjets <strong>der</strong> Landarheiterdeputierten und selbständiger Organisationen<br />
<strong>der</strong> ärmsten Bauern. Ein Monat nach dem an<strong>der</strong>n zeigte jedoch, daß dieser Teil<br />
<strong>der</strong> bolschewistischen Politik keine Wurzeln schlug. Wenn man von den Ostseeprovinzen<br />
absieht, existierten absolut keine Landarbeitersowjets. Auch die Bauernarmut fand<br />
keine eigene Organisationsform. Dies nur mit <strong>der</strong> Rückständigkeit <strong>der</strong> Landarbeiter und<br />
<strong>der</strong> ärmsten Dorfschichten zu erklären, hieße dem Kern <strong>der</strong> Sache ausweichen. Der<br />
Hauptgrund wurzelte in dem Wesen <strong>der</strong> historischen Aufgabe selbst: in <strong>der</strong> demokratischen<br />
Agrarumwälzung.<br />
An den zwei wichtigsten Fragen: <strong>der</strong> Pacht und <strong>der</strong> Lohnarbeit, zeigt sich am überzeugendsten,<br />
wie die Gesamtinteressen des Kampfes gegen die Überbleibsel <strong>der</strong> Leibeigenschaft<br />
nicht nur <strong>der</strong> Bauernarmut, son<strong>der</strong>n auch den Landarbeitern den Weg zu einer<br />
selbständigen Politik abschnitten. Die Bauern hatten von den Gutsbesitzern im europäischen<br />
Rußland siebenundzwanzig Deßjatinen gepachtet, nahezu sechzig Prozent des<br />
gesamten in Privatbesitz befindlichen Bodens, und dafür einen jährlichen Pachttribut von<br />
vierhun<strong>der</strong>t Millionen Rubel gezahlt. Der Kampf gegen die Sklavenbedingungen <strong>der</strong><br />
Pacht wurde nach dcr Februarumwälzung Hauptelement <strong>der</strong> Bauernbewegung. Einen<br />
kleineren, aber doch sehr bedeutenden Platz nahm <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Landarbeiter ein, <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 550
diese in einen Gegensatz brachte nicht nur zur gutsherrlichen, son<strong>der</strong>n auch zur bäuerlichen<br />
Ausbeutung. Der Pächtcr kämpfte für die Erleichterung <strong>der</strong> Pachtbedingungen, <strong>der</strong><br />
Landarbeiter für die Verbesserung <strong>der</strong> Arbeitsbedingungen. Beide gingen, je<strong>der</strong> auf seine<br />
Art, von <strong>der</strong> Anerkennung des Guts-besitzers als des Eigentümers und Herrn aus. Aber<br />
von dem Moment an, wo sich die Möglichkeit eröffnete, die Sache zu Ende zu führen,<br />
das heißt den Boden wegzunehmen und sich darauf selbst zu setzen, hörte das Interesse<br />
<strong>der</strong> Bauernarmut für Pachtfragen auf, und für den Landarbeiter begann die Gewerkschaft<br />
ihre Anziehungskraft einzubüßen. Gerade die Landarbeiter und armen Pächter verliehen<br />
durch ihren Anschluß an die Gesamtbewegung dem Bauernkrieg die letzte Entschlossenheit<br />
und Unwi<strong>der</strong>ruflichkeit.<br />
Nicht mit <strong>der</strong> gleichen Wucht erfaßte <strong>der</strong> Feldzug gegen die Gutsbesitzer auch den<br />
entgegengesetzten Pol des Dorfes. Solange es noch nicht zu einem offenen Aufstand<br />
gekommen war, spielten die obcren Schichten <strong>der</strong> Bauernschaft in <strong>der</strong> Bewegung eine<br />
beträchtliche, zuweilen auch führende Rolle. Doch in <strong>der</strong> Herbstperiode blickten die<br />
wohlhabenden Bauern mit stetig wachsendem Mißtrauen auf den sich ausbreitenden<br />
Bauerrikrieg: sie wußten nicht, wie es enden würde, sie hatten etwas zu verlieren, sie<br />
rückten beiseite. Aber vollends beiseitezubleiben vermochten sie doch nicht: das Dorf<br />
ließ es nicht zu.<br />
Verschlossener und feindseliger als die "eigenen", die Gemeindekulaken, verhielten<br />
sich die außerhalb <strong>der</strong> Gemeinde stehenden kleinen Bodenbesitzer. Bauerngehöfte von<br />
nicht über fünfzig Deßjatinen Umfang zählte man im ganzen Lande sechshun<strong>der</strong>ttausend.<br />
Sie bildeten an vielen Orten das Rückgrat <strong>der</strong> Genossenschaften und neigten beson<strong>der</strong>s<br />
im Süden politisch zum konservativen Bauernbund, <strong>der</strong> bereits eine Brücke zu den<br />
Kadetten darstellte. »Die aus <strong>der</strong> Gemeinde ausgeschiedenen und die reichen Bauern<br />
unterstützten«, nach den Worten des Minsker Bauern Gulis, »die Gutsbesitzer und waren<br />
bemüht, die Bauernschaft durch Zureden zu beschwichtigen.« An manchen Stellen hatte<br />
<strong>der</strong> Kampf innerhalb <strong>der</strong> Bauernschaft unter Einfluß lokaler Verhältnisse schon vor dem<br />
Oktoberumsturz grimmigen Charakter angenommen. Beson<strong>der</strong>s scharf litten darunter die<br />
aus <strong>der</strong> Gemeinde ausgeschiedenen. »Fast sämtliche Vorwerke« erzählt <strong>der</strong> Nischegoro<strong>der</strong><br />
Bauer Kusmitschew, »waren nie<strong>der</strong>gebrannt, die Habe teils vernichtet, teils von den<br />
Bauern weggeschleppt.« Der Vorwerkbesitzer war »gutsherrlicher Diener, Bevollmächtigter<br />
für mehrere gutsherrliche Waldreviere; Liebling <strong>der</strong> Polizei, Gendarmerie und<br />
seiner Herren.« Die reichsten Bauern und die Kaufleute in manchen Gemeinden des<br />
Nischegoro<strong>der</strong> Kreises flohen im Herbst und kehrten erst zwei, drei Jahre später in ihre<br />
Dörfer zurück.<br />
Doch im größten Teil des Landes erreichten die inneren Beziehungen im Dorfe bei<br />
weitem noch nicht diese Schärfe. Die Kulaken verhielten sich diplomatisch, bremsten<br />
und hemmten, waren aber bemüht, nicht allzu sehr ihre Gegnerschaft zum "Mir" (<strong>der</strong><br />
Gemeinde) hervorzukehren. Das Dorf im allgemeinen beobachtete seinerseits sehr eifersüchtig<br />
das Kulakentum und verhin<strong>der</strong>te dessen Vereinigung mit den Gutsbesitzern. Der<br />
Kampf zwischen den Adligen und den Bauern um den Einfluß auf den Kulaken geht<br />
durch das ganze Jahr 1917 in verschiedensten Formen, von "freundschaftlicher" Beeinflussung<br />
bis zum erbitterten Terror.<br />
Während die Latifundienbesitzer die herrschaftlichen Türen <strong>der</strong> Adelsversammlung<br />
vor den reichen Bauern umsehmeichelnd öffneten, suchten die kleinen Bodenbesitzer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 551
sich demonstrativ gegen die Adligen abzugrenzen, um nicht mit ihnen zusammen unterzugehen.<br />
In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Politik äußerte es sich darin, daß die Gutsbesitzer, die vor<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> den Parteien <strong>der</strong> äußersten Rechten angehörten, sich jetzt die Farbe des<br />
Liberalismus zulegten, weil sie aus alter Erinnerung diese als Schutzfarbe betrachteten;<br />
indes die bäuerlichen Bodenbesitzer, die früher häufig die Kadetten unterstützt hatten,<br />
jetzt nach links rückten.<br />
Der Kongreß <strong>der</strong> kleinen Bodenbesitzer im Gouvernement Perm grenzte sich im<br />
September scharf ab vom Moskauer Kongreß <strong>der</strong> Gutsbesitzer, an dessen Spitze »Grafen,<br />
Fürsten und Barone« standen. Der Besitzer von fünfzig Deßjatinen sagte: »Die Kadetten<br />
haben nie Schafpelze und Bastschuhe getragen und werden daher niemals unsere Interessen<br />
vertreten.« Während sie von den Liberalen abrückten, suchten die werktätigen<br />
Bodenbesitzer solche "<strong>Sozialisten</strong>", die für das Eigentum eintraten. Einer <strong>der</strong> Delegierten<br />
sprach sich für die Sozialdemokratie aus. »... Der Arbeiter? Gebt ihm Boden, er kommt<br />
ins Dorf und hört auf, Blut zu spucken. Die Sozialdemokraten werden uns den Boden<br />
nicht wegnehmen.« Es handelte sich selbstverständlich um die Menschewiki. »Unseren<br />
Boden geben wir an keinen weg. Nur <strong>der</strong> kann sich leicht von ihm trennen, <strong>der</strong> ihn leicht<br />
erworben hat, wie zum Beispiel <strong>der</strong> Gutsbesitzer. Der Bauer aber hat sein Land schwer<br />
erworben.«<br />
Während dieser Herbstperiode kämpfte das Dorf gegen die Kulaken, ohne sie von sieh<br />
zu stoßen, im Gegenteil, es zwang sie, sich <strong>der</strong> Gesamtbewegung anzuschließen und<br />
diese gegen die Schläge von rechts zu decken. Es gab sogar Fälle, wo die Weigerung, an<br />
einer Plün<strong>der</strong>ung teilzunehmen, mit dem Tode des Wi<strong>der</strong>spenstigen gesühnt wurde. Der<br />
Kulak wich aus solange er konnte, doch im letzten Augenblick spannte er, sich noch<br />
einmal am Hinterkopf kratzend, seine satten Gäule vor den eisenbeschlagenen Wagen<br />
und fuhr, seinen Anteil zu holen. Nicht selten erwies dieser sich als <strong>der</strong> Löwenanteil.<br />
»Ausgenutzt haben es hauptsächlich die wohlhabenden Bauern«, erzählt <strong>der</strong> Pensaer<br />
Bauer Begischew, »die über Pferde und freie Kräfte verfügten.« Fast dieselben Worte<br />
gebraucht auch <strong>der</strong> Orlower Bauer Sawtschenko: »Ausgenutzt haben es in <strong>der</strong> Hauptsache<br />
die Kulaken, die satt waren und Fuhrwerk hatten, den Wald abzufahren ...«<br />
Nach <strong>der</strong> Berechnung von Wermenitschew kamen auf viertausendneunhun<strong>der</strong>tvierundfünfzig<br />
Agrarkonflikte mit Gutsbesitzern während Februar-Oktober nur dreihun<strong>der</strong>tvierundzwanzig<br />
Konflikte mit <strong>der</strong> bäuerlichen Bourgeoisie. Ein auffallend krasses<br />
Zahlenverhältnis! Es stellt unbestreitbar fest, daß die Bauernbewegung von 1917 in<br />
ihrem sozialen Kern nicht gegen den Kapitalismus gerichtet war, son<strong>der</strong>n gegen die<br />
Überbleibsel <strong>der</strong> Leibeigenschaft. Der Kampf gegen das Kulakentum entwickelt sich erst<br />
später, im Jahre 1918, nach <strong>der</strong> endgültigen Liquidierung <strong>der</strong> Gutsbesitzer.<br />
Der rein demokratische Charakter <strong>der</strong> Bauernbewegung, <strong>der</strong>, wie es scheinen könnte,<br />
<strong>der</strong> offiziellen Demokratie unerschütterliche Macht verliehen haben sollte, offenbarte am<br />
vollständigsten <strong>der</strong>en ganze Fäulnis. Von oben gesehen, standen überall an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong><br />
Bauernschaft Sozialrevolutionäre, die Bauernschaft wählte sie, ging mit ihnen,<br />
verschmolz beinahe mit ihnen. Auf dem Maikongreß <strong>der</strong> Bauernsowjets bekam Tschernow<br />
bei den Wahlen zum Exekutivkomitee achthun<strong>der</strong>tzehn Stimmen, Kerenski achthun<strong>der</strong>tvier,<br />
während Lenin es alles in allem auf zwanzig Stimmen brachte. Nicht umsonst<br />
nannte sich Tschernow Bauernminister! Doch nicht umsonst auch trennte sich die Strategie<br />
<strong>der</strong> Bauern bald schroff von Tschernows Strategie.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 552
Die wirtschaftliche Zersplitterung macht die Bauern, die so entschlossen im Kampf<br />
gegen den konkreten Gutsbesitzer sind, ohnmächtig gegenüber dem verallgemeinerten<br />
Gutsbesitzer, dem Staate. Daher das organische Bedürfnis des Muschiks, sich an den<br />
Märchenstaat gegen den realen zu klammern. In alten Zeitenr schuf er sich falsche Zaren,<br />
schloß sich zusammen um den "goldenen Zarenschutzbrief" o<strong>der</strong> um die Legende von<br />
<strong>der</strong> "gerechten Erde". Nach <strong>der</strong> Februarrevolution vereinigte er sich um das sozialrevolutionäre<br />
Banner "Land und Freiheit" und suchte bei ihm Hilfe gegen den liberalen, jetzt<br />
Kommissar gewordenen Gutsbesitzer. Das Narodnikiprogramm verhielt sich zur realen<br />
Kerenskiregierung wie <strong>der</strong> falsche Zarenschutzbrief zum realen Selbstherrscher.<br />
Das Programm <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre hatte stets viel Utopisches enthalten: sie<br />
wollten den Sozialismus auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> kleinen Warenwirtschaft errichten. Doch die<br />
Grundlage ihres Programms war demokratisch-revolutionär: Enteignung des Bodens <strong>der</strong><br />
Gutsbesitzer. Vor die Notwendigkeit gestellt, das Programm zu erfüllen, verstrickte sieh<br />
die Partei in Koalitionen. Gegen eine Bodenkonfiskation erhoben sich unversöhnlich<br />
nicht nur die Gutsbesitzer, son<strong>der</strong>n auch die kadettischen Bankiers: im Bodenbesitz<br />
waren nicht weniger als vier Milliarden Rubel <strong>der</strong> Banken investiert. Da sie planten, in<br />
<strong>der</strong> Konstituierenden Versamnilung mit den Gutsbesitzern um den Preis zwar zu handeln,<br />
aber friedlich abzuschließen, waren die Sozialrevolutionäre eifrigst bemüht, den Muschik<br />
nicht an den Boden heranzulassen. Sie scheiterten somit nicht an dem utopischen<br />
Charakter ihres Sozialismus, son<strong>der</strong>n an ihrer demokratischen Unzulänglichkeit.<br />
DieNachprüfung ihres Utopismus hätte Jahre erfor<strong>der</strong>t. Ihr Verrat am Agrardemokratismus<br />
offenbarte sich im Laufe weniger Monate: unter einer Regierung <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre<br />
mußten die Bauern den Weg des Aufstandes beschreiten, um das Programm <strong>der</strong><br />
Sozialrevolutionäre zu verwirklichen.<br />
Im Juli, als die Regierung gegen das Dorf mit Repressalien losschlug, beeilten sieh die<br />
Bauern in <strong>der</strong> ersten Hitze, Deckung zu suchen bei denselben Sozialrevolutionären: bei<br />
Pontius dem Jüngeren suchten sie Schutz vor Pilatus dem Älteren. Der Monat <strong>der</strong><br />
größten Schwächung <strong>der</strong> Bolschewiki in <strong>der</strong> Stadt wird <strong>der</strong> Monat <strong>der</strong> größten Expansion<br />
<strong>der</strong> Sozialrevolutionäre im Dorfe. Wie es in <strong>der</strong> Regel zu sein pflegt, beson<strong>der</strong>s in<br />
revolutionären Epochen, fiel das Maximum <strong>der</strong> organisatorischen Erfassung mit dem<br />
Beginn politischen Nie<strong>der</strong>gangs zusammen. Während sie bei den Sozialrevolutionären<br />
Schutz suchten vor den Schlägen <strong>der</strong> sozialrevolutionären Regierung, verloren die<br />
Bauern immer mehr das Vertrauen zu Regierung und Partei. So wurde die Aufschwemmung<br />
<strong>der</strong> sozialrevolutionären Organisationen auf dem Lande todbringend für diese<br />
universelle Partei, die von unten her meuterte und von oben unterdrückte.<br />
In <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Militärischen Organisation vom 30. Juli in Moskau sagte ein<br />
Frontdelegierter, selbst Sozialrevolutionär: Wenn auch die Bauern sich noch immer zu<br />
den Sozialrevolutionären zählen, zwischen ihnen und <strong>der</strong> Partei ist dennoch bereits ein<br />
Riß entstanden. Die Soldaten bestätigten: unter dem Einfluß <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />
Agitation verhalten sich die Bauern noch immer feindlich gegen die Bolschewiki, doch<br />
die Fragen des Bodens und <strong>der</strong> Macht entscheiden sie in Wirklichkeit auf bolschewistische<br />
Art. Der Bolschewik Powolschski, <strong>der</strong> im Wolgagebiet arbeitete, bezeugt, daß die<br />
achtbarsten Sonalrevolutionäre, Teilnehmer <strong>der</strong> Bewegung von 1905, sich immer mehr<br />
zurückgedrängt fühlten: »die Bauern nannten sie "die Alten", bezeigten ihnen äußerlich<br />
Achtung, stimmten jedoch ab nach eigenem Kopf«. Abzustimmen und zu handeln »nach<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 553
eigenem Kopf« lehrten das Dorf Arbeiter und Soldaten.<br />
Die Einschätzung des sozialrevolutionären Einflusses <strong>der</strong> Arbeiter auf die Bauernschaft<br />
ist nicht möglich: er hatte einen ständigen, molekularen, alles durchdringenden<br />
und deshalb unwägbaren Charakter. Das gegenseitige Durchdringen wurde dadurch<br />
erleichten, daß ein bedeuten<strong>der</strong> Teil industrieller Unternehmen in ländlichen Gegenden<br />
untergebracht war. Aber sogar die Arbeiter Petrograds, <strong>der</strong> europäischsten <strong>der</strong> Städte,<br />
bewahrten nahe Beziehungen zu den heimatlichen Dörfern. Die während <strong>der</strong> Sommermonate<br />
angewachsene Arbeitslosigkeit und die Aussperrungen <strong>der</strong> Unternehmer warfen<br />
viele Tausende Arbeiter aufs Land hinaus: ihre Mehrzahl wurde Agitatoren und<br />
Anführer.<br />
Im Mai-Juni entstehen in Petrograd Arbeiter-Landsmannschaften nach Gouvernements,<br />
Kreisen und sogar Dorfgemeinden. Ganze Spalten <strong>der</strong> Arbeiterpresse sind Ankündigungen<br />
von Landsmannschaftsversammlungen gewidmet, wo Berichte über Fahrten ins Dorf<br />
gegeben, den Delegierten Anweisungen entworfen, Geldmittel für die Agitation gesammelt<br />
werden. Kurz vor dein Umsturz vereinigten sich die Landsmannschaften um ein<br />
beson<strong>der</strong>es Zentralbüro unter Leitung <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Landsmannschaftsbewegung<br />
dehnte sich bald auf Moskau, Twer und wohl auch auf eine Reihe an<strong>der</strong>er Industriestädte<br />
aus.<br />
Jedoch im Sinne <strong>der</strong> unmittelbaren Beeinflussung des Dorfes hatten noch größere<br />
Bedeutung die Soldaten. Erst unter den künstlichen Bedingungen <strong>der</strong> Front o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Stadtkaserne kamen die jungen Bauern, bis zu einem gewissen Grade ihre Abgeson<strong>der</strong>theit<br />
überwindend, in unmittelbare Berührung mit Problemen von nationalem Maßstabe.<br />
Jedoch machte sich die politische Unselbständigkeit auch hier fühlbar. Während sie<br />
unausweichbar unter Leitung patriotischer und konservativer Intellektueller gerieten und<br />
bestrebt waren, sich von ihnen zu befreien, versuchten die Bauern, in <strong>der</strong> Armee sich<br />
geson<strong>der</strong>t von den übrigen sozialen Gruppen zusammenzuschließen. Die Behörden sahen<br />
solche Bestrebungen ungern, das Kriegsministerium setzte Hin<strong>der</strong>nisse entgegen, die<br />
Sozialrevolutionäre kamen ihnen nicht zu Hilfe, - die Sowjets <strong>der</strong> Bauerndeputierten<br />
gewannen in <strong>der</strong> Armee schwer Boden. Selbst unter den gütistigsten Bedingungen<br />
vermag <strong>der</strong> Bauer nicht seine erdrückende Quantität in politische Qualität umzusetzen!<br />
Nur in den großen revolutionären Zentren, unter direkter Einwirkung <strong>der</strong> Arbeiter,<br />
gelang es den Sowjets <strong>der</strong> Bauernsoldaten, eine nennenswerte Tätigkeit zu entwickeln.<br />
So schickte <strong>der</strong> Bauernsowjet in Petrograd von April 1917 bis zum 1. Januar 1918<br />
neunzehnhun<strong>der</strong>tfünfunddreißig Agitatoren aufs Land, die mit beson<strong>der</strong>en Mandaten<br />
ausgestattet waren; etwa ebensoviele reisten ohne Mandate. Die Delegierten besuchten<br />
fün fünfundsechzig Gouvernements. In Kronstadt entstanden unter den Matrosen und<br />
Soldatten, nach dem Beispiel <strong>der</strong> Arbeiter, Landsmannschaften, die den Delegierten<br />
"Berechtigungs"-scheine für Freifahrt auf Eisenbahn und Schiff ausstellten. Privatbahnen<br />
anerkannten diese Scheine wi<strong>der</strong>spruchslos, auf den Staatsbahnen ergaben sich<br />
Konflikte.<br />
Die offiziellen Delegierten <strong>der</strong> Organisationen waren immerhin nur Tropfen im Bauernozean.<br />
Unermeßlich größer war die Arbeit jener Hun<strong>der</strong>ttausende und Millionen Soldaten,<br />
die die Front- und Hinterlandgarnisonen eigenmächtig verließen und in ihren Ohren<br />
die kräftigen Parolen <strong>der</strong> Meetingsreden davontrugen. Die Schweiger an <strong>der</strong> Front<br />
wurden zu Hause auf dem Dorfe zu Sprechern. An begierigen Zuhörern fehlte es nicht.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 554
»Unter <strong>der</strong> Bauernschaft um Moskau«, erzählt einer <strong>der</strong> Moskauer Bolschewiki,<br />
Muralow, »vollzog sich ein gewaltiger Ruck nach links ... In den um Moskau gelegenen<br />
Dörfern und Marktflecken wimmelte es von Frontdeserteuren; auch <strong>der</strong> großstädtische<br />
Proletarier, <strong>der</strong> seine Beziehungen zum Dorfe noch nicht zerrissen hatte, ließ sich dort<br />
sehen.« Das schlummernde Kalugaer Dorf erzählt <strong>der</strong> Bauer Naumtschenkow, »weckten<br />
die Soldaten, die in <strong>der</strong> Periode Juni-Juli aus verschiedenen Gründen von <strong>der</strong> Front<br />
kamen«. Der Nischegoro<strong>der</strong> Kommissar meldete, »alle Rechtsbeugungen und Ungesetzlichkeiten<br />
im Gouvernement stehen im Zusammenhang mit dem Auftauchen von Desertenren,<br />
Urlaubern o<strong>der</strong> Delegierten <strong>der</strong> Regimentskomitees«. Der obere Gutsverwalter<br />
<strong>der</strong> Fürstin Barjatinski, im Kreise Solotonosch, klagt im August über Eigenmächtigkeit<br />
des Landkomitees mit dem Kronstädter Matrosen Gatran als Vorsitzenden. »Die auf<br />
Urlaub kommenden Soldaten und Matrosen«, meldet <strong>der</strong> Kommissar des Bugulminsker<br />
Kreises, »treiben Agitation mit <strong>der</strong> Absicht, Anarchie und Pogromstimmung herbeizuführen.«<br />
- »Im Dorfe Belogosch, Kreis Mglin, untersagte <strong>der</strong> eingetroffene Matrose eigenmächtig<br />
das Bearbeiten und Abfahren von Holz und Schwellen aus dem Walde.« Wenn<br />
auch nicht die Soldaten den Kampf begannen, so führten sie ihn zu Ende. Im Nischegoro<strong>der</strong><br />
Kreis bedrängten die Bauern das Frauenkloster, mähten Wiesen ab, rissen Zäune<br />
nie<strong>der</strong>, behelligten die Nonnen. Die Vorsteherin trat energisch auf, Milizionäre führten<br />
die Bauern zur Exekution ab. »So ging es«, schreibt <strong>der</strong> Bauer Arbekow, »bis zur<br />
Ankunft <strong>der</strong> Soldaten. Die Frontler faßten sofort den Stier bei den Hörnern«: das Kloster<br />
wurde geräumt. »Im Gouvernement Mohilew«, erzählt <strong>der</strong> Bauer Bobkow, »waren die<br />
von <strong>der</strong> Front heimgekehrten Soldaten die ersten Anführer in den Komitees und leiteten<br />
die Vertreibung <strong>der</strong> Gutsbesitzer.«<br />
Die Frontler brachten in die Sache die wuchtige Entschlossenheit von Leuten hinein,<br />
die gewohnt sind, mit Flinte und Bajonett gegen Menschen vorzugehen. Selbst die Soldatenfrauen<br />
übernahmen von den Männern die kriegerische Stimmung. »Im September«,<br />
erzählt <strong>der</strong> Pensaer Bauer Begischew, »gab es eine starke Bewegung unter den Soldatenfrauen,<br />
in den Dorfversammlungen traten sie für Plün<strong>der</strong>ungen ein.« Dasselbe wurde in<br />
an<strong>der</strong>en Gouvemements beobachtet. Die Soldatenfrauen waren auch in den Städten nicht<br />
selten das Gärungselement.<br />
Fälle, wo an <strong>der</strong> Spitze von Bauernunruhen Soldaten standen, gab es nach Wermenitschews<br />
Zählung im März ein Prozent, im April acht, im September dreizen, im Oktober<br />
siebzehn Prozent. Diese Statistik kann keinen Anspruch auf Genauigkeit erheben, zeigt<br />
aber lückenlos die Gesamttendenz. Die abwiegelnde Führung <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />
Lehrer, Gemeindeschreiber und Beamten wurde durch die Führung <strong>der</strong> vor nichts<br />
zurückschrekkenden Soldaten abgelöst.<br />
Der einstmals hervorragende deutsche marxistische Schriftstel1er Parvus, <strong>der</strong> es im<br />
Kriege verstand, Reichtümer zu erwerben und Prinzipien und Scharfsinn zu verlieren,<br />
verglich die <strong>russischen</strong> Soldaten mit mittelalterlichen Landsknechten, Plün<strong>der</strong>ern,<br />
Räubern. Um dies zu behaupten, mußte man blind sein für die Tatsache, da die <strong>russischen</strong><br />
Soldaten bei alt ihren Exzessen lediglich ausübendes Organ <strong>der</strong> in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
größten Agrarrevolution waren.<br />
Solange die Bewegung noch nicht endgültig mit <strong>der</strong> Legalität gebrochen hatte, trug die<br />
Entsendung von Truppen aufs Land mehr symbolischen Charakter. Zur Unterdrückung<br />
<strong>der</strong> Bewegung konnte man in Wirklichkeit fast nur Kosaken verwenden. »Nach dem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 555
Serdober Kreis sind vierhun<strong>der</strong>t Kosaken entsandt... Diese Maßregel wirkte beruhigend.<br />
Die Bauern erklären, sie würden die Konstituierende Versammlung abwarten«, schreibt<br />
am 11. Oktober das liberale 'Russkoje Slowo'. Vierhun<strong>der</strong>t Kosaken - zweifellos ein<br />
Argument für die Konstituierende Versammlung! Aber die Zahl <strong>der</strong> Kosaken reichte<br />
nicht hin, überdies werden auch sie schwankend. Inzwischen sah sich die Regierung<br />
immer häufiger gezwungen, zu »entschiedenen Maßnahmen« zu greifen. In den ersten<br />
vier Monaten zählt Wermenitschew siebzehn Fälle von Truppenentsendung gegen<br />
Bauern; Juli und August neununddreißig, September und Oktober einhun<strong>der</strong>tundfünf<br />
Fälle.<br />
Gegen dir Bauern mit Waffengewalt vorzugehen, hieß, den Brand mit Öl löschen. In<br />
den meisten Fällen gingen die Soldaten auf die Seite <strong>der</strong> Bauern über. Der Kreiskominissar<br />
des Podoler Gouvernements meldet: »Armeeorganisationen, sogar ganze Truppenteile<br />
treffen Entscheidungen in sozialen und ökonomischen Fragen, zwingen (?) die<br />
Bauern zu Enteignung und Abholzung des Waldes, beteiligen sich zum Teil selbst an<br />
Plün<strong>der</strong>ungen ... Die örtlichen Truppenteile weigern sich gegen die Gewalttaten einzuschreiten«<br />
... So zerstörte <strong>der</strong> Aufstand des Dorfes den letzten Zusammenhalt in <strong>der</strong><br />
Armee. Es konnte nicht die Rede davon sein, daß die Armee unter den Bedingungen des<br />
Bauernkrieges, an dessen Spitze die Arbeiter standen, es dulden würde, gegen den<br />
Aufstand in den Städten sich verwenden zu lassen.<br />
Erst von den Arbeitern und Soldaten erfahren die Bauern über die Bolschewiki das<br />
Neue, was ihnen die Soziatrevolutionäre nicht gesagt hatten. Lenins Parolen und sein<br />
Name dringen ins Dorf. Die sich häufenden Beschwerden über die Bolschewiki tragen<br />
jedoch in vielen Fällen erdichteten und aufgebauschten Charakter: die Gutsbesitzer<br />
hoffen dadurch eher Hilfe zu bekommen. »Im Ostrower Kreise herrscht völlige Anarchie<br />
infolge <strong>der</strong> Propaganda des Bolschewismus.« Aus dem Ufaer Gouvernement: »Das<br />
Mitglied des Dorfkomitees, Wassiljew, verbreitet das Programm <strong>der</strong> Bolschewiki und<br />
erklärt offen, die Gutsbesitzer würden gehängt werden.« Der Nowgoro<strong>der</strong> Gutsbesitzer<br />
Polonnik, <strong>der</strong> um »Schutz gegen Plün<strong>der</strong>ungen« nachsucht, unterläßt hinzuzufügen: »Die<br />
Exekutivkomitees sind überfüllt mit Bolschewiki«, das bedeutet: mit Feinden <strong>der</strong> Gutsbesitzer.<br />
»Im August«, erzählt <strong>der</strong> Simbirsker Bauer Sumorin, »reisten durch die Dörfer<br />
Arbeiter, agitierten für die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki, erzählten <strong>der</strong>en Programm.« Der<br />
Untersuchungsrichter des Sebescher Kreises leitet ein Strafverfahren ein gegen die aus<br />
Petrograd eingetroffene Weberin Tatjana Michajlowa, sechsundzwanzig Jahre alt, die in<br />
ihrem Dorfr aufrief »zur Nie<strong>der</strong>werfung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung und Lenins Taktik<br />
verherrlichte«. Im Smolensker Gouvernement begann man Ende August, wie <strong>der</strong> Bauer<br />
Kotow berichtet. »sich für Lenin zu interessieren und auf Lenins Stimme zu horchen« ...<br />
Doch in die Gemeindesemstwos werden noch immer in gewaltiger Überzahl Sozialrevolutionäre<br />
gewählt.<br />
Die bolschewistische Partei ist bemüht, an den Bauer näher heranzugehen. Am 10.<br />
September for<strong>der</strong>t Newski vom Petrogra<strong>der</strong> Komitee die Herausgabe einer Bauernzeitung:<br />
»Die Sache muß so angefaßt werden, daß man nicht dasselbe erlebt, was die<br />
französische Kommune erlebt hat, als die Bauernschaft Paris nicht verstand, Paris nicht<br />
die Bauernschaft.« Die Zeitung 'Bednota'. (Armut) begann bald zu erscheinen. Aber die<br />
direkte Parteiarbeit unter <strong>der</strong> Bauernschaft blieb noch immer geringfügig. Die Stärke <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei lag nicht in technischen Mitteln, nicht im Apparat, son<strong>der</strong>n in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 556
<strong>der</strong> richtigen Politik. Wie die Luftströme den Samen überallhin tragen, so trugen die<br />
<strong>Revolution</strong>sstürme überallhin Lenins Ideen.<br />
»Gegen September«, erinnert sich <strong>der</strong> Twerer Bauer Worobjew, »treten in den<br />
Versammlungen immer häufiger und kühner zur Verteidigung <strong>der</strong> Bolschewiki nicht<br />
mehr nur Frontler, son<strong>der</strong>n auch arme Bauern selbst auf« ... »Unter <strong>der</strong> Armut und<br />
einigen Mittelbauern«, bestätigt <strong>der</strong> Simbirsker Bauer Sumorin, »verschwindet Lenins<br />
Name nicht von den Lippen; nur von Lenin wird gesprochen.« Der Nowgoro<strong>der</strong> Bauer<br />
Grigorjew erzählt, wie ein Sozialrevolutionär in <strong>der</strong> Gemeinde die Bolschewiki »Expropriateure«<br />
und »Verräter« nannte. »Wie tobten da die Bauern: "Nie<strong>der</strong> mit dem Hund,<br />
steinigt ihn! Erzähl uns keine Märchen, - wo ist <strong>der</strong> Boden? Genug! Her mit den<br />
Bolschewiken!"« Es ist allerdings möglich, daß diese Episode - und solcher und ähnlicher<br />
gab es nicht wenig - bereits in die Zeit nach dem Oktober fällt: im Gedächtnis <strong>der</strong> Bauern<br />
sitzen Tatsachen fest, ist aber die Chronologie schwach.<br />
Den Soldaten Tschinenow, <strong>der</strong> sein Dorf im Orlower Gouvernement eine Kiste<br />
bolschewistischer Literatur brachte, hatte das Heimatdorf unfreundlich empfangen:<br />
sicherlich deutsches Gold. Im Oktober jedoch »zählte die Gemeindezelle siebenhun<strong>der</strong>t<br />
Mitglie<strong>der</strong>, viele Gewehre erhoben sich stets zur Verteidigung <strong>der</strong> Sowjetmacht«. Der<br />
Bolschewik Wratschew erzählt, wie die Bauern des rein agrarischen Woronescher<br />
Gouvernements, »erwacht aus dem sozialrevolutionären Rausch, begannen, sich für<br />
unsere Partei zu interessieren, infolgedessen hatten wir bereits nicht wenig Dorf- und<br />
Gemeindezellen, Abonnenten für unsere Zeitungen und empfingen viele Bauernabgesandte<br />
im engen Raum unseres Komitees«. Im Smolensker Gouvernement waren, nach<br />
Erinnerungen von Iwanow, »in den Dörfern Bolschewiki sehr rar, auch in den Kreisen<br />
waren ihrer sehr wenig, bolschewistische Zeitungen gab es nicht, Flugblätter erschienen<br />
sehr selten ... Und dennoch, je näher an den Oktober, um so mehr wandte sich das Dorf<br />
den Bolschewiki zu«<br />
In den Kreisen, wo schon vor dem Oktober <strong>der</strong> bolschewistische Einfluß in den Sowjets<br />
bestand«, schreibt <strong>der</strong>selbe Iwanow, »trat die elementare Welle <strong>der</strong> Güterplün<strong>der</strong>ungen<br />
gar nicht o<strong>der</strong> in schwachem Maße in Erscheinung.« Allerdings verhielt es. sich nicht<br />
überall gleich »Die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bolschewiki, den Boden den Bauern zu übergeben«,<br />
erzählt beispielsweise Tadejusch, »wurde beson<strong>der</strong>s schnell von <strong>der</strong> Bauernmasse des<br />
Mohilewer Kreises aufgenommen, die die Güter plün<strong>der</strong>te, manche nie<strong>der</strong>brannte,<br />
Wiesen und Wäl<strong>der</strong> wegnahm.« Ein Wi<strong>der</strong>spruch zwischen diesen Zeugnissen besteht<br />
eigentlich nicht. Die gesamte Agitation <strong>der</strong> Bolschewiki nährte zweifellos den Bürgerkrieg<br />
im Dorfe. Doch dort, wo es den Bolschewiki gelungen war, festere Wurzel zu<br />
fassen, waren sie naturgemäß bestrebt, ohne den Bauerndruck abzuschwächen, seine<br />
Formen in geordnetere Bahnen zu lenken und die Verwüstungen einzudämmen.<br />
Die Bodenfrage stand nicht isoliert da. Der Bauer litt, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> letzten<br />
Kriegsperiode als Verkäufer wie als Käufer: das Getreide wurde ihm zu festgesetzten<br />
Preisen abgenommen, die Industrieprodukte wurden für ihn immer unerschwinglicher.<br />
Das Problem <strong>der</strong> ökonomischen Wechselbeziehungen zwischen Dorf und Stadt, das<br />
später unter dem Namen "Schere" zum Zentralproblem <strong>der</strong> Sowjetwirtschaft werden soll,<br />
zeigt bereits sein bedrohliches Antlitz. Die Bolschewiki sagten den Bauern: Die Sowjets<br />
müssen die Macht übernehmen, dir Boden geben, den Krieg beenden, die Industrie<br />
demobilisieren, Arbeiterkontrolle in den Betrieben einführen, das Verhältnis <strong>der</strong> Preise<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 557
zwischen Industrie-und Landwirtschaftsprodukten regulieren. So summarisch das auch<br />
klang, aber es bezeichnete den Weg. »Zwischen uns und <strong>der</strong> Bauernschaft«, sagte<br />
Trotzki am 10. Oktober in <strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees, »stehen als Scheidewand<br />
die Awksentjewschen Sowjetgestalten. Wir müssen diese Wand durchbrechen. Wir<br />
müssen im Dorfe erklären, daß alle Versuche <strong>der</strong> Arbeiter, dem Bauern durch Belieferung<br />
des Dorfes mit landwirtschaftlichen Geräten zu helfen, so lange resultatlos bleiben<br />
müssen, wie nicht die Produktion organisiert und unter Arbeiterkontrolle gestellt ist.« In<br />
diesem Sinne erließ die Konferenz ein Manifest an die Bauern.<br />
Die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter schufen währenddessen in den Fabriken eigene Kommissionen,<br />
die Metall sammelten, Bruch und Ausschuß, und es einer beson<strong>der</strong>en Zentrale "Der<br />
Arbeiter dem Bauern", zur Verfügung stellten. Der Abfall wurde verwandt zur Herstellung<br />
einfachster landwirtschaftlicher Geräte und Ersatzteile. Dieser erste planwirtschaftliche<br />
Einbruch <strong>der</strong> Arbeiter in die Produktion, noch unbedeutend dem Umfange nach, mit<br />
dem Übergewicht agitatorischer Ziele vor ökonomischen, eröffnete jedoch die Perspektive<br />
<strong>der</strong> nahen Zukunft. Erschrocken durch das Eindringen <strong>der</strong> Bolschewiki in das geheiligte<br />
Gebiet des Dorfes, machte das Bauernexekutivkomitee einen Versuch, sich des euen<br />
Beginnens zu bemächtigen. Doch mit den Bolschewiki in <strong>der</strong> städtischen Arena sich zu<br />
messen ging bereits über die Kräfte <strong>der</strong> altersschwachen Versöhnler, die auch auf dem<br />
Lande immer mehr den Boden unter den Füßen verloren.<br />
Das Echo <strong>der</strong> bolschewistischen Agitation »brachte die arme Bauernschaft <strong>der</strong>art in<br />
Aufruhr«, schrieb später <strong>der</strong> Twerer Bauer Worobjew, »daß man bestimmt sagen kann:<br />
Wäre <strong>der</strong> Oktober nicht im Oktober, er wäre im November gekommen.« Diese plastische<br />
Charakteristik <strong>der</strong> politischen Macht des Bolschewismus steht keineswegs im Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zu <strong>der</strong> Tatsache seiner organisatorischen Schwäche. Nur durch solch scharfe<br />
Disproportionen kann sich eine <strong>Revolution</strong> den Weg bahnen. Gerade deshalb läßt sich,<br />
nebenbei gesagt, ihr Lauf nicht in die Rahmen <strong>der</strong> formalen Demokratie zwängen. Damit<br />
die Agrarumwälzung geschehen könne, im Oktober o<strong>der</strong> November, blieb <strong>der</strong> Bauernschaft<br />
nichts an<strong>der</strong>es übrig, als das zerfallende Gewebe <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei<br />
auszunutzen. Deren linke Elemente gruppieren sich hastig und ungeordnet unter dem<br />
Druck <strong>der</strong> Bauernbewegung, streben den Bolschewiki nach, rivalisieren mit diesen.<br />
Während <strong>der</strong> nächsten Monate vollzieht sich die politische Verschiebung <strong>der</strong> Bauernschaft<br />
hauptsächlich unter dem zerfetzten Banner <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre: diese<br />
ephemere Partei wird zur reflektierenden und schwankenden Form des Dorfbolschewismus,<br />
provisorische Brücke vom Bauernkrieg zur proletarischen Umwälzung.<br />
Die Agrarrevolution bedurfte eigener lokaler Organe. Wie sahen diese aus? Auf dem<br />
Lande existierten Organisationen verschiedener Typen: staatliche, wie die Gemeinde-,<br />
Land- und Verpflegungsexekutivkomitees; gesellschaftliche, wie die Sowjets; rein politische,<br />
wie die Parteien, und schließlich Organe <strong>der</strong> Selbstverwaltung, in Gestalt <strong>der</strong><br />
Gemeindesemstwos. Bauernsowjets vermochten sich zu entwickeln nur im Maßstabe des<br />
Gouvernements, teilweise des Kreises; Gemeindesowjets gab es nur vereinzelt. Gemeindesemstwos<br />
faßten schwer Fuß. Dagegen wurden die Land- und Exekutivkomitees, dem<br />
Plane nach Staatsorgane, so seltsam das auf den ersten Blick scheinen mag, zu Organen<br />
<strong>der</strong> Bauernrevolution.<br />
Das oberste Landkomitee, bestehend aus Beamten, Gutsbesitzern, Professoren, gelehrten<br />
Agronomen, sozialrevolutioriären Politikern; mit einer Beimischung zweifelhafter<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 558
Bauern, war seinem Wesen nach die Zentralbremse <strong>der</strong> Agrarrevolution. Die Gouvernementskomitees<br />
hörten nicht auf, Leiter <strong>der</strong> Regierungspolitik zu sein. Die Komitees in<br />
den Kreisen schaukelten zwischen den Bauern und <strong>der</strong> Obrigkeit. Dagegen wurden die<br />
Gemeindekomitees, von den Bauern gewählt und an Ort und Stelle vor den Augen des<br />
Dorfes arbeitend, Werkzeuge <strong>der</strong> Agrarbewegung. Der Umstand, daß die Komiteemitglie<strong>der</strong><br />
sich gewöhnlich zu den Sozialrevolutionären zählten, än<strong>der</strong>te nichts an <strong>der</strong><br />
Sache: sie richteten sieh nach <strong>der</strong> Muschikhütte und nicht nach dem Adelsgutshof. Die<br />
Bauern schätzen beson<strong>der</strong>s hoch den staatlichen Charakter ihrer Landkomitees, da sie in<br />
ihm eine Art Freibrief auf den Bürgerkrieg erblickten.<br />
»Die Bauern sagen, sie anerkennen niemand außer dem Gemeindekomitee«, klagt<br />
bereits im Mai einer <strong>der</strong> Milizchefs des Saransker Kreises, »alle Kreis- und Staatskomitees<br />
hingegen arbeiten angeblich den Bodenbesitzern in die Hand.« Nach den Worten<br />
des Nischegoro<strong>der</strong> Kommissars »enden die Versuche einiger Gemeindekomitees, gegen<br />
die eigenmächtigen Handlungen <strong>der</strong> Bauern anzukämpfen, fast immer mit Mißerfolg und<br />
führen zur Absetzung <strong>der</strong> gesamten Mitglie<strong>der</strong>« ... »Die Komitees waren stets«, nach den<br />
Worten des Pskower Bauern Denisow, »auf seiten <strong>der</strong> Bauernbewegung gegen die<br />
Gutsbesitzer, da man in sie den revolutionärsten Teil <strong>der</strong> Bauernschaft und Frontsoldaten<br />
hineinwählte.«<br />
Die Kreis- und beson<strong>der</strong>s die Gouvernementskomitees wurden von <strong>der</strong><br />
Beamten-"Intelligenz" geleitet, die danach strebte, friedliche Beziehungen zu den<br />
Gutsbesitzern aufrechtzuerhalten. »Die Bauern sahen«, schreibt <strong>der</strong> Moskauer Bauer<br />
Jurkow, »daß es <strong>der</strong> gleiche Pelz ist, nur gewendet, die gleiche Macht, nur unter neuem<br />
Namen.« »Man kann«, meldet <strong>der</strong> Kursker Kommissar, »die Neigung ... zu Neuwahlen<br />
jener Kreiskomitees beobachten, die unentwegt die Verfügungen <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung durchführen.« Aber an das Kreiskomitee zu gelangen war dem Bauern sehr<br />
schwer gemacht: die politische Verbindung <strong>der</strong> Dörfer und Gemeinden sicherten Sozialrevolutionäre,<br />
so daß die Bauern gezwungen waren, sich <strong>der</strong> Partei zu bedienen, <strong>der</strong>en<br />
Hauptmission im Wenden des alten Pelzes bestand.<br />
Die auf den ersten Blick erstaunliche Kühle <strong>der</strong> Bauernschaft für die Märzsowjets hatte<br />
in Wirklichkeit tiefe Ursachen. Der Sowjet repräsentiert im Gegensatz zum Landkomitee<br />
keine Spezial-, son<strong>der</strong>n eine Universalorganisation <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Doch auf dem Gebiet<br />
<strong>der</strong> allgemeinen Politik ist <strong>der</strong> Bauer nicht imstande, auch nur einen Schritt ohne<br />
Führung zu tun. Die Frage ist, woher sie kommt. Die bäuerlichen Gouvernements- und<br />
Kreissowjets wurden errichtet auf Initiative und zum großen Teil mit Mitteln <strong>der</strong> Genossenschaft,<br />
nicht als Organe <strong>der</strong> Bauernrevolution, son<strong>der</strong>n als Werkzeuge zur konservativen<br />
Bevormundung <strong>der</strong> Bauernschaft. Das Dorf duldete über sich die<br />
rechtssozialrevolutionäre Sowjets, als Schild gegen die Regierung. Zu Hause bei sich zog<br />
es die Landkomitees vor.<br />
Um das Dorf zu hin<strong>der</strong>n, sich im Kreise »rein bäuerlicher Interessen« zu bewegen,<br />
drängte die Regierung auf Schaffung demokratischer Semstwos. Schon dies allein mußte<br />
den Bauern Grund sein, die Ohren zu spitzen. Die Wahlen mußte man häufig geradezu<br />
aufzwingen. »Es kämen Fälle von Ungesetzlichkeiten vor«, meldet <strong>der</strong> Pensaer Kommissar,<br />
»die zur Sprengung <strong>der</strong> Wahlen führten.« Im Gouvernement Minsk verhafteten die<br />
Bauern den Vorsitzenden <strong>der</strong> Gemeindewahlkommission, Fürsten Druzki-Lubezki, den<br />
sie <strong>der</strong> Wahllistenschiebung beschuldigten: es fiel den Bauern nicht leicht, sich mit dem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 559
Fürsten über die demokratische Lösung des jahrhun<strong>der</strong>tealten Streites zu verständigen.<br />
Der Bugulminsker Kreiskommissar meldet: »Die Wahlen zu den Gemeindesemstwos sind<br />
im Kreise nicht ganz planmäßig verlaufen ... Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Gemeindeabgeordneten<br />
ist rein bäuerlich, es läßt sich eine Entfremdung <strong>der</strong> Ortsintelligenz feststellen,<br />
beson<strong>der</strong>s den Bodenbesitzern gegenüber.« Somit unterschieden sich die Semstwos<br />
wenig von den Komitees. »Zur Intelligenz, beson<strong>der</strong>s zu den Bodenbesitzern«, klagt <strong>der</strong><br />
Minsker Gouvernementskommissar, »verhält sich die Bauernmasse ablehnend.« In <strong>der</strong><br />
Mohilewer Zeitung vom 23. September ist zu lesen: »Die Arbeit <strong>der</strong> Intelligenz auf dem<br />
Lande ist mit Gefahren verbunden, verspricht man nicht kategorisch, die sofortige<br />
Übergabe des gesamten Bodens an die Bauern zu unterstützen.« Wo eine Verständigung<br />
und sogar ein Verkehr zwischen den Hauptklassen unmöglich wird, verschwindet <strong>der</strong><br />
Boden für Institutionen <strong>der</strong> Demokratie. Die Totgeburt <strong>der</strong> Gemeindesemstwos kündete<br />
unfehlbar den Zusammenbruch <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an.<br />
»Unter <strong>der</strong> hiesigen Bauernschaft«, meldet <strong>der</strong> Nischegoro<strong>der</strong> Kommissar, »hat sich<br />
<strong>der</strong> Glaube gefestigt, alle bürgerlichen Gesetze hätten ihre Kraft verloren und alle<br />
Rechtsbegriffe müßten jetzt durch die Bauernorganisationen reguliert werden.« Die örtliche<br />
Miliz zu ihrer Verfügung, erließen die Gemeindekomitees lokale Gesetze, bestimmten<br />
Pachtpreise, regulierten den Arbeitslohn, setzten eigene Verwalter auf den Gütern<br />
ein, nahmen Boden, Wiesen, Wäl<strong>der</strong>, Inventar in eigene Hand, holten dem Gutsbesitzer<br />
die Waffen weg, nahmen Haussuchungen und Verhaftungen vor. Die Stimme <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>te und die frische <strong>Revolution</strong>serfahrung sagten dem Bauern in gleicher Weise,<br />
daß die Bodenfrage die Frage <strong>der</strong> Macht sei. Für die Agrarumwälzung waren Organe <strong>der</strong><br />
Bauerndiktatur notwendig. Der Muschik wußte um dieses lateinische Wort noch nicht.<br />
Aber <strong>der</strong> Muschik wußte, was er wollte. Jene "Anarchie", über die Gutsbesitzer, liberale<br />
Kommissare und versöhnlerische Politiker klagten, war in Wirklichkeit die erste Etappe<br />
<strong>der</strong> revolutionären Diktatur auf dem Lande.<br />
Die Notwendigkeit <strong>der</strong> Schaffung beson<strong>der</strong>er, rein bäuerlicher lokaler Organe für die<br />
Agrarumwälzung verteidigte Lenin schon während <strong>der</strong> Ereignisse von 1905/06: »<strong>Revolution</strong>äre<br />
Bauernkomitees«, bewies er auf dem Stockholmer Parteikongreß, »sind <strong>der</strong><br />
einzige Weg, den die Bauernbewegung gehen kann.« Der Muschik las Lenin nicht. Dafür<br />
aber las Lenin die Gedanken des Muschiks gut.<br />
Das Dorf än<strong>der</strong>t sein Verhalten zu den Sowjets erst gegen Herbst, wo die Sowjets<br />
selbst ihren politischen Kurs än<strong>der</strong>n. Die bolschewistischen und linkssozialrevolutionären<br />
Sowjets in den Kreis- o<strong>der</strong> Gouvernementsstädten halten jetzt die Bauern nicht mehr<br />
zurück, im Gegenteil, sie stoßen sie vorwärts. Hatte das Dorf in den ersten Monaten bei<br />
den Versöhnlersowjets legale Deckung gesucht, um später in feindliche Konflikte mit<br />
ihnen zu geraten, so fand es jetzt zum erstenmal in den revolutionären Sowjets eine<br />
wirkliche Führung. Saratower Bauern schrieben im September: »Die Macht muß in ganz<br />
Rußland in die Hände ... <strong>der</strong> Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputiertensowjets übergehen.<br />
So wird es sicherer sein.« Erst gegen Herbst beginnt die Bauernschaft ihr Bodenprogramm<br />
mit <strong>der</strong> Parole Sowjetmacht zu verbinden. Aber auch dabei weiß sie noch nicht,<br />
wie und durch wen diese Sowjets geführt werden sollen.<br />
Agrarunruhen hatten in Rußland ihre große Tradition, ihr einfaches, aber grelles<br />
Programm, ihre Lokalmärtyrer und Helden. Die gewaltige Erfahrung von 1905 war auch<br />
für das Dorf nicht spurlos vorbeigegangen. Hierbei ist noch die Arbeit <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 560
Sektiererideen, die Millionen Bauern erfaßten, in Betracht zu ziehen. »Ich kannte«,<br />
schreibt ein unterrichteter Autor, »viele Bauern ..., die die Oktoberrevolution als direkte<br />
Erfüllung ihrer religiösen Hoffnungen aufnahmen.« Von allen Bauernaufständen, die die<br />
<strong>Geschichte</strong> kennt, war die Bewegung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bauernschaft von 1917 zweifellos<br />
die am meisten von politischen Gedanken befruchtete. Und hat sie sich dennoch als<br />
unfähig erwiesen, sich eine selbständige Führung zu schaffen und die Macht in die<br />
eigenen Hände zu nehmen, so sind die Gründe dafür in <strong>der</strong> organischen Natur <strong>der</strong> isolierten<br />
herkömmlichen Kleinwirtschaft zu suchen: diese sog aus dem Bauer alle Säfte, ohne<br />
ihn dafür mit <strong>der</strong> Fähigkeit zu Verallgemeinerungen auszustatten.<br />
Die politische Freiheit des Bauern bedeutet in <strong>der</strong> Praxis die Freiheit, zwischen den<br />
verschiedenen städtischen Parteien zu wählen. Doch auch diese Wahl vollzieht sich nicht<br />
a priori. Durch ihren Aufstand stößt die Bauernschaft die Bolschewiki an die Macht.<br />
Aber erst nach <strong>der</strong> Machteroberung werden die Bolschewiki die Bauernschaft erobern<br />
können, indem sie die Agrarrevolution zum Gesetz des Arbeiterstaates erheben.<br />
Eine Forschergruppe unter Jakowlews Leitung nahm eine sehr wertvolle Klassifizierung<br />
<strong>der</strong> Materialien vor, die die Evolution <strong>der</strong> Agrarbewegung vom Februar bis Oktober<br />
charakterisieren. Die Zahl <strong>der</strong> unorganisierten Zusammenstöße mit einhun<strong>der</strong>t pro Monat<br />
zugrunde legend, berechneten die Forscher, daß an "organisierten" Konflikten auf den<br />
April dreiunddreißig, auf den Juni sechsundachtzig, auf Juli hun<strong>der</strong>tundzwanzig<br />
entfielen. Das war <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> höchsten Blüte <strong>der</strong> sozialrevolutionären Organisationen<br />
auf dem Lande. Im August kommen auf hun<strong>der</strong>t unorganisierte Konflikte bereits<br />
nur zweiundsechzig organisierte, im Oktober insgesamt vierzehn. Aus diesen bei all ihrer<br />
Bedingtheit höchst lehrreichen Zahlen zieht Jakowlew jedoch eine ganz überraschende<br />
Schlußfolgerung: wenn die Bewegung bis zum August immer »organisiertere« Formen<br />
annahm, so gewinnt sie im Herbst dagegen einen immer »elementareren Charakter«. Zur<br />
gleichen Formel gelangt ein an<strong>der</strong>er Forscher, Wermenitschew: »Das Sinken des organisierten<br />
Teiles <strong>der</strong> Bewegung in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Voroktoberwelle beweist das Elementare<br />
<strong>der</strong> Bewegung in diesen Monaten.« Stellt man das Elementare dem Bewußten, wie Blindheit<br />
dem Sehvermögen, gegenüber und das wäre die einzige wissenschaftliche Gegenüberstellung<br />
-, dann müßte man zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung kommen, daß das Bewußte in<br />
<strong>der</strong> Bauernbewegung bis August steigt, dann zu fallen beginnt, um im Moment des<br />
Oktoberaufstandes gänzlich zu verschwinden. Dieses haben unsere Forscher offenbar<br />
nicht sagen wollen. Bei einem einigermaßen nachdenklichen Verhalten zu <strong>der</strong> Frage ist<br />
es unschwer zu begreifen, daß zum Beispiel die Bauernwahlen zur Konstituierenden<br />
Versammlung, trotz all ihrer äußerlichen »Organisiertheit«, einen unvergleichlich<br />
»elementareren«, das beißt unvernünftigeren, herdenmäßigeren blin<strong>der</strong>en Charakter<br />
gehabt hatten als <strong>der</strong> »unorganisierte« Bauernfeldzug gegen die Gutsbesitzer, wo je<strong>der</strong><br />
Bauer klar wußte, was er wollte.<br />
Auf dem Herbstgipfel brach die Bauernschaft nicht mit dem Bewußten zugunsten des<br />
Elementaren, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Versöhnlerführung zugunsten des Bürgerkriegs. Der<br />
Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Organisiertheit hatte wesentlich äußerlichen Charakter: die Versöhnlerorganisationen<br />
kommen in Wegfall; aber sie hinterlassen keinesfalls einen leeren Platz. Das<br />
Beschreiten des neuen Weges vollzog sich unter unmittelbarer Führung <strong>der</strong> revolutionärsten<br />
Elemente: Soldaten, Matrosen und Arbeiter. Vor entscheidenden Taten riefen die<br />
Bauern häufig allgemeine Versammlungen ein, sorgten sogar dafür, daß Beschlüsse von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 561
allen Dorfgenossen unterzeichnet wurden. »In <strong>der</strong> Herbstperiode <strong>der</strong> Bauernbewegung<br />
mit ihren Zerstörungsformen«, schreibt <strong>der</strong> dritte Forscher, Schestakow, »tritt häufig die<br />
alte "Dorfversammlung" <strong>der</strong> Bauern in Erscheinung ... In <strong>der</strong> Dorfversammlung verteilt<br />
die Bauernschaft das enteignete Hab und Gut, durch die Dorfversammlung verhandelt<br />
sie mit den Gutsbesitzern und Gutsadministrationen, den Kreiskommissaren und den<br />
Beschwichtigern an<strong>der</strong>er Art« ...<br />
Weshalb die Gemeindekomitees, die den Bauern dicht an den Bürgerkrieg herangeführt<br />
hatten, vom Schauplatz verschwanden, darüber enthalten die Materialien keine<br />
direkten Angaben. Aber die Erklärung drängt sich von selbst auf. Die <strong>Revolution</strong><br />
verbraucht rapid ihre Organe und Werkzeuge. Schon deshalb, weil die Landkomitees die<br />
halb friedlichen Handlungen geleitet hatten, mußten die sich für den direkten Sturm als<br />
wenig geeignet erweisen. Der allgemeine Grund wird durch beson<strong>der</strong>e, aber nicht<br />
weniger schwerwiegende Ursachen ergänzt. Indem sie den Weg des offenen Krieges<br />
gegen die Gutsbesitzer beschritten, wußten die Bauern nur allzu gut, was ihnen im Falle<br />
einer Nie<strong>der</strong>lage drohte. Nicht wenige Landkomitees saßen ohnehin bereits bei Kerenski<br />
hinter Schloß und Riegel. Die Verantwortung zu dekonzentieren, wurde unerläßliche<br />
For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Taktik. Die geeignetste Form dafür war <strong>der</strong> "Mir". In gleicher Richtung<br />
wirkte außerdem zweifellos das übliche Mißtrauen <strong>der</strong> Bauern untereinan<strong>der</strong>: es ging<br />
jetzt um direkte Aneignung und Teilung <strong>der</strong> Gutsbesitzerhabe, je<strong>der</strong> wollte selbst daran<br />
teilnehmen, ohne seine Rechte einem an<strong>der</strong>en anzuvertrauen. So führte die höchste<br />
Kampfverschärfung zu vorübergehendem Beiseiteschieben <strong>der</strong> Vertretungsorgane durch<br />
die urwüchsige bäuerliche Demokratie von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Dorfversammlung und des<br />
Mirspruchs.<br />
Die grobe Unklarheit im Deuten des Charakters <strong>der</strong> Bauernbewegung muß beson<strong>der</strong>s<br />
überrasehend erscheinen aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> bolschewistischer Forscher. Doch darf man nicht<br />
vergessen, daß es sich um Bolschewiki neuen Schlages handelt. Bürokratisierung des<br />
Denkens führt unvermeidlich zur Überschätzung <strong>der</strong> Organisationsformen, die <strong>der</strong><br />
Bauernschaft von oben aufgezwungen waren, und zur Unterschätzung jener, die die<br />
Bauernschaft sich selbst gab. Der aufgeklärte Beamte betrachtet zusammen mit dem<br />
liberalen Professor gesellschaftliche Prozesse unter dem Gesichtswinkel <strong>der</strong> Verwaltung.<br />
Als Volkskommissar für Landwirtschaft bewies Jakowlew später das gleiche summarisch-bürokratische<br />
Herangehen an die Bauernschaft, nur auf einem unermeßlich weiteren<br />
und verantwortlicheren Gebiet, nämlich bei <strong>der</strong> Durchführung <strong>der</strong> "durchgehenden<br />
Kollektivisierung". Theoretische Oberflächlichkeit rächt sich grausam, wenn es um die<br />
Praxis im großen Maßstabe geht!<br />
Jedoch bis zu den Fehlern <strong>der</strong> durchgehenden Kollektivisierung bleiben noch gute<br />
dreizehn Jahre. Jetzt handelt es sich vorerst um die Expropriierung des Bodeneigentums.<br />
Hun<strong>der</strong>tvierunddreißigtausend Gutsbesitzer zittern noch um ihre achtzig Millionen<br />
Deßjatinen. Am gefährdetsten ist die Lage <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> dreißigtausend Herren des alten<br />
Rußland, die über siebzig Millionen Deßjatinen verfügen, durchschnittlich mehr als<br />
zweitausend Deßjatinen pro Besitzer. Der Adelige Boborykin schreibt an den Kammerherrn<br />
Rodsjanko: »Ich bin Gutsbesitzer, und es will mir nicht in den Kopf, daß ich<br />
meinen Boden verlieren soll, noch dazu für den unwahrscheinlichsten Zweck: für ein<br />
Experiment <strong>der</strong> sozialistischen Lehren.« Aber eine <strong>Revolution</strong> hat eben zur Aufgabe, zu<br />
vollziehen, was den Regierenden nicht in den Kopf will.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 562
Weiterblickende Gutsbesitzer kommen jedoch zu <strong>der</strong> Einsicht, daß sie ihre Güter nicht<br />
werden behalten können. Sie streben es auch schon gar nicht mehr an: je schneller sie<br />
den Boden loswerden, um so besser. In <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung sehen sie vor<br />
allem die große Verrechnungskammer, wo <strong>der</strong> Staat sie nicht nur für den Boden, son<strong>der</strong>n<br />
auch für ihre Unannehmlichkeiten entschädigen wird.<br />
Die Bauerneigentümer schlossen sich von links diesem Programm an. Sie waren nicht<br />
abgeneigt, mit dem parasitären Adel Schluß zu machen, fürchteten aber, den Begriff des<br />
Bodeneigentums zu erschüttern. Der Staat sei reich genug, erklärten sie auf ihren<br />
Kongressen, um den Gutsbesitzern die Kleinigkeit von zwölf Milliarden Rubel zu bezahlen.<br />
In ihrer Eigenschaft als "Bauern" hofften sie dabei, unter bevorrechteten Bedingungen<br />
auf Kosten des Volkes zu gutsherrlichem Boden zu kommen.<br />
Die Besitzer erkannten, daß die Höhe <strong>der</strong> Ablösungen eine politische Größe ist, die<br />
bestimmt wird vom Kräfteverhältnis im Augenblick <strong>der</strong> Abfindung. Bis August blieb<br />
Hoffnung, daß die nach Kornilow-Methoden einzuberufende Konstituierende Versammlung<br />
die Agrarreform auf einer mittleren Linie zwischen Rodsjanko und Miljukow durchführen<br />
würde. Kornilows Zusammenbruch bedeutete, daß die besitzenden Klassen das<br />
Spiel verloren haben.<br />
Im September und Oktober warteten die Gutsbesitzer auf die Lösung, wie ein<br />
hoffnungsloser Kranker auf den Tod. Der Herbst ist die Zeit <strong>der</strong> Muschikpolitik. Die<br />
Fel<strong>der</strong> sind abgeerntet, die Illusionen zerstreut, die Geduld erschöpft. Es ist Zeit, Schluß<br />
zu machen! Die Bewegung tritt aus den Ufern, erfaßt alle Bezirke, verwischt lokale<br />
Beson<strong>der</strong>heiten, reißt alle Dorfschichten mit, spült Rücksichten auf Gesetz und Vorsicht<br />
weg, wird offensiv, erbittert, ungestüm, rasend, bewaffnet sich mit Eisen und Feuer,<br />
Revolver und Granaten, vernichtet und brennt Gutshöfe nie<strong>der</strong>, verjagt die Gutsbesitzer,<br />
säubert den Boden, tränkt ihn manchenorts mit Blut.<br />
Zugrunde gehen die Adelsnester, einst besungen von Puschkin, Turgenjew und Tolstoi.<br />
In Rauch geht das alte Rußland auf Die liberale Presse sammelt das Stöhnen und Klagen<br />
über die Vernichtung von englischen Gärten, Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> leibeigenen Pinsel, Familienbibliotheken,<br />
Tambower Parthenons, Rennpferden, alten Gravüren, Zuchtstieren. Bürgerliche<br />
Historiker versuchen die Verantwortung für diesen "Vandalismus" des<br />
Bauernstrafgerichts über die Adels"kultur" den Bolschewiki zuzuschieben. In Wirklichkeit<br />
führte <strong>der</strong> russische Muschik eine Jahrhun<strong>der</strong>te vor dem Auftreten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
begonnene Sache zu Ende. Seine fortschrittliche historische Aufgabe löste er mit den<br />
einzigen Mitteln, über die er verfügte: Mit Hilfe <strong>der</strong> revolutionären Barbarei rottete er die<br />
Barbarei des Mittelalters aus. Hinzu kommt, daß we<strong>der</strong> er selbst; noch seine Großväter<br />
und Urgroßväter jemals Gnade o<strong>der</strong> Nachsicht erfahren hatten.<br />
Als die Feudalen gesiegt hatten über die Jacquerie, die <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> französischen<br />
Bauern um viereinhalb Jahrhun<strong>der</strong>te voranging, schrieb ein gottesfürchtiger Mönch in<br />
seine Chronik: »Sie haben dem Lande so viel Böses zugefügt, daß zur Vernichtung des<br />
Königtums es des Kommens <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> nicht mehr bedurfte; diese hätten Frankreich<br />
niemals das antun können, was die Adligen Frankreich angetan haben.« Erst die<br />
Bourgeoisie - im Mai 1871 - übertraf an Grausamkeit die französischen Adligen. Die<br />
<strong>russischen</strong> Bauern entgingen dank <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> Arbeiter, die <strong>russischen</strong> Arbeiter<br />
dank <strong>der</strong> Hilfe <strong>der</strong> Bauern dieser doppelten Lehre <strong>der</strong> Beschirmer von Kultur und<br />
Menschlichkeit.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 563
Die Wechselbeziehungen zwischen den Hauptklassen Rußlands fanden ihr Abbild im<br />
Dorfe. Wie die Arbeiter und Soldaten, den Plänen <strong>der</strong> Bourgeoisie zuwi<strong>der</strong>, gegen die<br />
Monarchie kämpften, so erhob sich, ohne auf die Warnung des Kulaken zu hören, gegen<br />
die Gutsbesitzer am kühnsten die Dorfarmut. Wie die Versöhnler glaubten, die <strong>Revolution</strong><br />
könne nur von dem Moment an fest auf den Beinen stehen, wo Miljukow sie<br />
anerkennt, so meinte <strong>der</strong> nach rechts und links blickende Mittelbauer, die Unterschrift<br />
des Kulaken legitimiere die Aneignungen. Schließlich, wie die <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> feindliche<br />
Bourgeoisie ohne Bedenken sich die Macht aneignete, so verzichteten die den Plün<strong>der</strong>ungen<br />
wi<strong>der</strong>strebenden Kulaken nicht auf <strong>der</strong>en Früchte. Die Macht in den Händen des<br />
Bourgeois wie die gutsherrliche Habe in den Händen des Kulaken waren nicht von<br />
Dauer: in beiden Fällen aus gleichgearteten Gründen.<br />
Die Stärke <strong>der</strong> agrardemokratischen, dem Wesen nach bürgerlichen <strong>Revolution</strong> hatte<br />
sich darin geäußert, daß sie vorübergehend die Klassenwi<strong>der</strong>sprüche des Dorfes<br />
überwand: <strong>der</strong> Landarbeiter plün<strong>der</strong>te den Gutsbesitzer, wobei er dem Kulak half Das<br />
XVII., XVIII. und XIX. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Geschichte</strong> erhob sich auf den Schultern<br />
des XX. und drückte es nie<strong>der</strong> zur Erde. Die Schwäche <strong>der</strong> verspäteten bürgerlichen<br />
<strong>Revolution</strong> hatte sich darin geäußert, daß <strong>der</strong> Bauernkrieg die bürgerlichen <strong>Revolution</strong>äre<br />
nicht vorwärtsstieß, son<strong>der</strong>n im Gegenteil sie endgültig ins Lager <strong>der</strong> Reaktion zurückwarf;<br />
<strong>der</strong> gestrige Zuchthäusler Zeretelli beschützte den gutsherrlichen Boden vor<br />
Anarchie! Die von <strong>der</strong> Bourgeoisie zurückgeworfne Bauernrevolution vereinigte sich mit<br />
dem Industrieproletariat Dadurch befreite sich das XX. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht nur von den auf<br />
ihm lastenden früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten, son<strong>der</strong>n erhob sich auf <strong>der</strong>en Schultern zu einer<br />
neuen historischen Höhe. Damit <strong>der</strong> Bauer den Boden säubern und von Zäunen befreien<br />
konnte, mußte an die Spitze des Staates <strong>der</strong> Arbeiter treten: dies ist die einfachste Formel<br />
<strong>der</strong> Oktoberrevolution.<br />
Die nationale Frage<br />
Die Sprache ist das wichtigste Instrument <strong>der</strong> Verbindung zwischen Mensch und<br />
Mensch, folglich auch - <strong>der</strong> Wirtschaft. Sie wird zur nationalen Sprache gleichzeitig mit<br />
dem Siege des Warenverkehrs, <strong>der</strong> eine Nation zusanimenfaßt. Auf dieser Basis entsteht<br />
<strong>der</strong> nanonale Staat als bequemste, vorteilhafteste und normalste Arena kapitalistischer<br />
Beziehungen in Westeuropa begann die Epoche <strong>der</strong> Formierung bürgerlicher Normen,<br />
läßt man den Unabhängigkeitskampf <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lande und das Schicksal des Insel-<br />
England außer acht, mit <strong>der</strong> Großen Französischen <strong>Revolution</strong> und wurde im wesentlichen<br />
abgeschlossen etwa im Verlaufe eines Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> Gründung des<br />
Deutschen Reiches.<br />
Aber in jener Periode, wo <strong>der</strong> nationale Staat in Europa bereits aufgehört hatte, die<br />
Produktivkräfte aufzunehmen, und in den imperialistischen Staat hineinzuwachsen<br />
begann, hob im Osten - in Persien, auf dem Balkan, in China, Indien - erst die Ära <strong>der</strong><br />
nationaldemokratischen <strong>Revolution</strong>en an, zu denen die russische <strong>Revolution</strong> von 1905<br />
Anstoß gab. Der Balkankrieg Von 1912 bildete den Abschluß <strong>der</strong> Formierung von Nationalstaaten<br />
im Südosten Europas. Der darauf folgende imperialistische Krieg vollendete<br />
beiläufig in Europa die nicht abgeschlossene Arbeit <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong>en, indem<br />
er zur Zerglie<strong>der</strong>ung Österreich-Ungarns führte, zur Schaffung eines unabhängigen Polen<br />
und <strong>der</strong> Randstaaten, die sich von dem Zarenreiche abgetrennt hatten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 564
Rußland entstand nicht als nationaler Staat, son<strong>der</strong>n als Staat von Nationalitäten. Das<br />
entsprach seinem verspäteten Charakter. Auf <strong>der</strong> Grundlage von extensiver Landwirtschaft<br />
und Heimindustrie entwickelte sich das Handeiskapital nicht in die Tiefe, nicht<br />
vermittels einer Umbildung <strong>der</strong> Produktion, son<strong>der</strong>n in die Breite, durch Vergrößerung<br />
seines Operationsradius. Händler, Gutsbesitzer und Beamter rückten vom Zentrum zur<br />
Peripherie vor, hinter den siedelnden Bauern her, die auf <strong>der</strong> Suche nach neuem Land<br />
und Befreiung von Abgabenlasten in neue Territorien mit noch rückständigeren Stämmen<br />
vordrangen. Die Expansion des Staates war in ihrem Kern eine Expansion <strong>der</strong> Landwirtschaft,<br />
die bei all ihrer Primitivität den Nomaden des Südens und Ostens überlegen war.<br />
Der auf dieser unermeßlichen und sich dauernd verbreiternden Basis erwachsene ständisch-bürokratische<br />
Staat wurde stark genug, um sich im Westen einzelne Nationen von<br />
höherer Kultur zu unterwerfen, die infolge zahlenmäßiger Schwäche o<strong>der</strong> innerer Krisen<br />
unfähig waren, ihre Selbständigkeit zu verteidigen (Polen, Litauen, die Baltischen<br />
Provinzen, Finnland).<br />
Zu den siebzig Millionen Großrussen, die den Grundstock des Landes bildeten, kamen<br />
allmählich noch neunzig Millionen "Fremdstämmiger" hinzu, die sich scharf in zwei<br />
Gruppen teilten: die westlichen, durch ihre Kultur Großrußland üherlegen, und die östlichen,<br />
auf einem tieferen Niveau stehend. So bildete sich das Reich heraus, dessen<br />
herrschende Nationalität nur 43 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung betrug, während 57 Prozent,<br />
darunter 17 Prozent Ukrainer, 6 Prozent Polen, 4½ Prozent Weißrussen, auf Nationalitäten<br />
von verschiedenen Stufen <strong>der</strong> Kultur und <strong>der</strong> Rechtlosigkeit entfielen.<br />
Die habsüchtige Begehrlichkeit des Staates und die Dürftigkeit <strong>der</strong> bäuerlichen Basis<br />
<strong>der</strong> herrschenden Klassen schufen erbittenste Formen <strong>der</strong> Ausbeutung. Die nationale<br />
Unterdrückung war in Rußland viel größer als in den Nachbarstaaten, nicht nur jenseits<br />
<strong>der</strong> westlichen, son<strong>der</strong>n auch jenseits <strong>der</strong> östlichen Grenze. Die große Zahl <strong>der</strong> rechtlosen<br />
Nationen und die Schärfe <strong>der</strong> Rechtlosigkeit verliehen dem nationalen Problem im<br />
zaristischen Rußland gewaltige Explosivkraft.<br />
Wenn in national-einheitlichen Staaten die bürgerliche <strong>Revolution</strong> erst mächtige zentripetale<br />
Tendenzen entwickelte, da sie im Zeichen <strong>der</strong> Überwindung des Partikularismus<br />
vedief, wie in Frankreich, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> nationalen Zersplitterung, wie in Italien und Deutschland,<br />
so entfesselte in national heterogenen Staaten, wie <strong>der</strong> Türkei, Rußland, Österreich-<br />
Ungarn, umgekehrt die verspätete bürgerliche <strong>Revolution</strong> die zentrifugalen Kräfte. Trotz<br />
scheinbarer Gegensätzlichkeit dieser in den Termini ausgedrückten Prozesse ist ihre<br />
historische Funktion die gleiche, soweit es sich in beiden Fällen darum handelt, die nationale<br />
Einheit als das wichtigste Wirtschaftsreservoir auszunutzen: Deutschland mußte<br />
man zu diesem Zwecke vereinigen. Österreich-Ungarn dagegen - zerglie<strong>der</strong>n.<br />
Die Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Entwicklung zentrifugaler Nationalbewegungen in Rußland<br />
hatte Lenin rechtzeitig in Betracht gezogen und während einer Reihe von Jahren hartnäkkig,<br />
im beson<strong>der</strong>en gegen Rosa Luxemburg, gekämpft um den berühmten Paragraphen 9<br />
des alten Parteiprogramms, <strong>der</strong> das Recht <strong>der</strong> Nationen auf Selbstbestimmung, das heißt<br />
auf völlige staatliche Loslösung, formulierte. Damit nahm die bolschewistische Partei<br />
noch keinesfalls auf sich; Separatismus zu predigen. Sie übernahm nur die Verpflichtung,<br />
jeglicher Art von nationaler Unterdrükkung, auch <strong>der</strong> gewaltsamen Festhaltung irgendeiner<br />
Nationalität in den Grenzen des Gesamtstaates, unversöhnlichen Wi<strong>der</strong>stand zu<br />
leisten. Nur dadurch konnte das russische Proletariat allmählich das Vertrauen <strong>der</strong> unter-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 565
drückten Völker gewinnen.<br />
Doch war dies nur die eine Seite <strong>der</strong> Sache. Die Politik des Bolschewismus auf nationalem<br />
Gebiet hatte noch eine an<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> ersten gleichsam wi<strong>der</strong>sprechende, in Wirklichkeit<br />
aber sie ergänzende Seite. Im Rahmen <strong>der</strong> Partei und <strong>der</strong> Arbeiterorganisationen<br />
überhaupt verfolgte <strong>der</strong> Bolschewismus strengsten Zentralismus, bei unversöhnlichem<br />
Kampfgegen jede Art nationalistischer Seuche, die fähig wäre, die Arbeiter zueinan<strong>der</strong> in<br />
Gegensatz zu bringen o<strong>der</strong> sie zu trennen. Indem er dem bürgerlichen Staat entschieden<br />
das Recht absprach, einer nationalen Min<strong>der</strong>heit gewaltsames Zusammenleben o<strong>der</strong> auch<br />
nur die Staatssprache aufzuzwingen, betrachtete <strong>der</strong> Bolschewismus es gleichzeitig als<br />
seine wahrhaft heiligste Aufgabe, die Werktätigen verschiedenster Nationalitäten durch<br />
freiwillige Klassendisziplin so eng wie möglich zu einer Einheit zu verbinden. Deshalb<br />
lehnte er das national-fö<strong>der</strong>ative Priiizip des Parteiaufbaues rundweg ab. Die revolutionäre<br />
Organisation ist kein Prototyp des Zukunftsstaates, son<strong>der</strong>n nur das Instruinent zu<br />
seiner Schaffung. Das Instrument muß zweckmäßig <strong>der</strong> Herstellung eines Erzeugnisses<br />
entsprechen, keinesfalls jedoch dieses in sich bergen. Nur die zentralistische Organisation<br />
kann den Erfolg des revolutionären Kampfes sichern, - auch dann, wenn es um die<br />
Vernichtung des zentralistischen Joches über Nationen geht.<br />
Der Sturz <strong>der</strong> Monarchie mußte für Rußlands unterdrückte Nationen notwendigerweise<br />
auch <strong>der</strong>en nationale <strong>Revolution</strong> bedeuten. Doch zeigte sich hier das gleiche wie auf<br />
allen an<strong>der</strong>en Gebieten des Februarregirnes: die offizielle Demokratie, gebunden durch<br />
ihre politische Abhängigkeit von <strong>der</strong> imperialistischen Bourgeoisie, war absolut unfähig,<br />
die alten Ketten zu zerreißen. Indem sie ihr Recht, über das Schicksal aller übrigen<br />
Nationen zu bestimmen, als unbestreitbar betrachtete, verteidigte sie eifersüchtig weiter<br />
jene Reichtums-, Macht- und Einflußquellen, die <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bourgeoisie die<br />
Vorherrschaft gesichert hatten. Die Versöhnler-Demokratie übersetzte nur die Traditionen<br />
<strong>der</strong> nationalen Politik des Zarismus in die Sprache <strong>der</strong> Befreiungsrhetorik: jetzt<br />
handelte es sich um die Verteidigung <strong>der</strong> Einigkeit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Doch die herrschende<br />
Koalition hatte ein an<strong>der</strong>es, schärferes Argument: Erwägungen <strong>der</strong> Kriegszeit. Das<br />
bedeutet: die Befreiungsbestrebungen einzelner Nationalitäten wurden hingestellt als<br />
Gebilde von <strong>der</strong> Hand des deutsch-österreichischen Stabes. Erste Geige spielten auch<br />
hier die Kadetten, die Versöhnler die Begleitung.<br />
Die neue Macht konnte natürlicherweise den wi<strong>der</strong>lichen Knäuel mittelalterlicher<br />
Verhöhnung <strong>der</strong> Fremdstämmigen nicht unangetastet lassen. Doch hoffte und versuchte<br />
sie, sich lediglich auf die Abschaffung von Ausnahmegesetzen gegen einzelne Nationen<br />
zu beschränken, das heißt auf die Herstellung <strong>der</strong> bloßen Gleichheit aller Teile <strong>der</strong><br />
Bevölkerung vor <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Staatsbürokratie.<br />
Die formelle Gleichberechtigung brachte am meisten den Juden ein: die Zahl <strong>der</strong> ihre<br />
Rechte einschränkenden Gesetze betrug sechshun<strong>der</strong>tundfünfzig. Außerdem konnten die<br />
Juden, als eine rein städtische und verstreutere Nationalität, we<strong>der</strong> Anspruch erheben äuf<br />
staatliche Selbständigkeit noch auf territoriale Autonomie. Was den Plan einer sogenannten<br />
"national-kulturellen Autonomie" betrifft, die die Juden des ganzen Landes um<br />
Schulen und an<strong>der</strong>e Institutionen vereinigen sollte, so zerrann diese von verschiedenen<br />
jüdischen Gruppen dem österreichischen Theoretiker Otto Bauer entlehnte reaktionäre<br />
Utopie mit dem ersten Tage <strong>der</strong> Freiheit wie Wachs unter Sonnenstrahlen.<br />
Doch ist die <strong>Revolution</strong> gerade deshalb <strong>Revolution</strong>, weil sie sich nicht mit Almosen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 566
und Ratenzahlungen begnügt. Die Beseitigung <strong>der</strong> beschämendsten Beschränkungen<br />
brachte die formelle Gleichberechtigung <strong>der</strong> Bürger unabhängig von ihrer Nationalität;<br />
aber um so schärfer enthüllte sie die fehlendc Gleichberechtigung <strong>der</strong> Nationen selbst,<br />
die sie zum größten Teil in <strong>der</strong> Lage von Stief- und Pflegekin<strong>der</strong>n des groß<strong>russischen</strong><br />
Staates beließ.<br />
Die bürgerliche Gleichberechtigung brachte vor allem nichts den Finnen, die nicht<br />
Gleichstellung mit den Russen anstrebten, son<strong>der</strong>n Unabhängigkeit von Rußland. Sie<br />
brachte nichts Neues den Ukrainern ein, die auch früher keine Einschränkungen gekannt<br />
hatten, weil man sie zwangsweise für Russen erklärte. Sie än<strong>der</strong>te nichts an <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong><br />
von deutschem Gutshof und deutsch-russischer Stadt bedrückten Letten und Esten. Sie<br />
erleichterte nicht das Schicksal <strong>der</strong> rückständigen Völker und Stämme Asiens, die nicht<br />
durch jutistische Beschränkungen, son<strong>der</strong>n durch die Ketten des ökonomischen und<br />
kulturellen Joches am Boden <strong>der</strong> Rechtlosigkeit gehalten wurden. Alle diese Fragen<br />
wollte die liberal-versölmlerische Koalition nicht einmal anschneiden. Der demokratische<br />
Staat blieb <strong>der</strong> gleiche Staat des groß<strong>russischen</strong> Beamten, <strong>der</strong> keinerlei Anstalten<br />
trat, seinen Platz an jemand abzutreten.<br />
Je tiefere Massen die <strong>Revolution</strong> in den Randgebieten erfaßte, um so krasser zeigte<br />
sich, daß die Staatssprache dort die Sprache <strong>der</strong> besitzenden Klassen war. Das Regime<br />
<strong>der</strong> formalen Demokratie, mit Presse- und Versammlungsfreiheit, ließ die rückständigen<br />
und unterdrückten Nationalitäten noch schmerzlicher empfinden, wie sehr sie <strong>der</strong><br />
elementarsten Mittel kultureller Entwicklung beraubt waren: eigener Schulen, eigener<br />
Gerichte, eigenen Beamtentums. Die Hinweise auf die künftige Konstituierende<br />
Versammlung reizten nur: in dieser Versammlung würden ja doch die gleichen Parteien<br />
herrschen, die die Provisorische Regierung geschaffen haben, und fortfahren, die Traditionen<br />
<strong>der</strong> Russifizierung zu verteidigen, mit eifriger Gier jene Grenze offenbarend, über<br />
die die regierenden Klassen nicht hinausgehen wollen.<br />
Finnland ward sogleich ein Splitter im Körper des Februarregimes. Dank <strong>der</strong> Schärfe<br />
<strong>der</strong> Agrarfrage, die in Finnland eine Frage <strong>der</strong> kleinen, in leibeigener Hörigkeit stehenden<br />
Pächter war (<strong>der</strong> Torpars), führten die Industriearbeiter, die insgesamt 14 Prozent <strong>der</strong><br />
Bevölkerung ausmachten, das Dorf hinter sich. Der finnländische Sejm war das einzige<br />
Parlament <strong>der</strong> Welt, wo die Sozialdemokratie die Mehrheit erlangt hatte: einhun<strong>der</strong>tdrei<br />
von zweihun<strong>der</strong>t Sitzen. Nachdem sie durch das Gesetz vom 5. Juni den Sejm für souverän<br />
erklärt hatte, ausgenommen in Fragen <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> Außenpolitik, wandte sich<br />
die fmnländische Sozialdemokratie »an die Bru<strong>der</strong>parteien Rußlands« um Beistand. Der<br />
Appell aber war an eine ganz falsche Adresse gerichtet. Die Provisorische Regierung trat<br />
anfangs beiseite und überließ es den »Bru<strong>der</strong>parteien«, zu handeln. Eine Ermahnungsdelegation<br />
mit Tschcheidse an <strong>der</strong> Spitze kehrte aus Helsingfors unverrichteter Dinge<br />
zurück. Nun beschlossen die sozialistischen Minister Petrograds Kerenski, Tschernow,<br />
Skobeljew, Zeretelli, die sozialistische Regierung in Helsingfors gewaltsam zu liquidieren.<br />
Der Generalstabschef des Hauptquartiers, Monarchist Lukomski, warnte die Zivilbehörden<br />
und die Bevölkerung Finnlands, daß »ihre Städte und in erster Reihe Helsingfors<br />
vernichtet werden würden im Falle irgendeines Vorgehens gegen die russische Armee«.<br />
Nach solcher Einleitung löste die Regierung durch ein feierliches Manifest, das sogar in<br />
stilistischer Hinsicht ein Plagiat an <strong>der</strong> Monarchie war, den Sejm auf und stellte am Tage<br />
des Beginns <strong>der</strong> Offensive an <strong>der</strong> Front vor die Tore des finnländischen Parlaments aus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 567
<strong>der</strong> Front herausgezogene russische Soldaten. So bekamen die revolutionären Massen<br />
Rußlands auf dem Wege zum Oktober keine üble Lektion hinsichtlich dessen, welch<br />
bedingten Platz die Prinzipien <strong>der</strong> Demokratie im Kampfe <strong>der</strong> Klassenkräfte einnehmen.<br />
Angesichts <strong>der</strong> nationalistischen Zügellosigkeit <strong>der</strong> Regierenden nahmen die revolutionären<br />
Truppen in Finnland eine würdige Position ein. Der in <strong>der</strong> ersten Septemberhälfte<br />
in Helsingfors tagende Distriktkongreß <strong>der</strong> Sowjets erklärte: »Sollte es die finnländische<br />
Demoratie als notwendig erachten, die Tagung des Sejm wie<strong>der</strong> aufzunehmen, wird <strong>der</strong><br />
Kongreß jeden Versuch, dies zu verhin<strong>der</strong>n, als konterrevolutionären Akt betrachten.«<br />
Das bedeutete ein direktes Angebot militärischer Hilfe. Aber den Weg des Aufstandes zu<br />
betreten, dazu war die finnländische Sozialdemokratie, in <strong>der</strong> versöhnlerische Tendenzen<br />
überwogen, nicht geneigt. Neuwahlen, die unter Androhung einer abermaligen Auflösung<br />
erfolgten, sicherten den bürgerlichen Parteien, mit <strong>der</strong>en Zustimmung die Regierung<br />
den Sejm aufgelöst hatte, eine kleine Mehrheit: einhun<strong>der</strong>tundacht von<br />
zweihun<strong>der</strong>t.<br />
Nun aber rücken auf den ersten Platz innere Fragen, die in dieser Schweiz des<br />
Nordens, dem Lande <strong>der</strong> Granitberge und habgierigen Besitzer, unabwendbar zum<br />
Bürgerkrieg führen. Die finnländische Bourgeoisie bereitet halboffen ihre Militärka<strong>der</strong><br />
vor. Gleichzeitig werden geheime Zellen <strong>der</strong> Roten Armee geschaffen. Die Bourgeoisie<br />
wendet sich um Waffen und Instrukteure an Schweden und Deutschland. Die Arbeiterschaft<br />
findet Unterstützung bei den <strong>russischen</strong> Truppen. Zugleich verstärkt sich in den<br />
bürgerlichen Kreisen, gestern noch zu Verständigung mit Petrograd geneigt, die<br />
Bewegung für vollständige Lostrennung von Rußland. Die führende Zeitung<br />
'Huvudstatsbladet' schrieb: »Das russische Volk ist von anarchistischer Zügellosigkeit<br />
besessen ... Müssen wir nicht unter diesen Umständen ... uns gegen dieses Chaos<br />
möglichst abgrenzen?« Die Provisorische Regierung sah sich gezwungen, auf Konzessionen<br />
einzugehen, ohne die Konstituierende Versammlung abzuwarten: Am 23. Oktober<br />
wurden »im Prinzip« die Leitsätze über die Unabhängigkeit Finnlands, ausgenommen in<br />
militärischen und außenpolitischen Angelegenheiten, beschlossen. Doch die "Unabhängigkeit"<br />
aus Kerenskis Händen war nicht mehr viel wert: bis zu seinem Sturze blieben<br />
zwei Tage.<br />
Ein zweiter, unvergleichlich gewaltigerer Splitter wurde die Ukraine. Anfang Juni<br />
verbot Kerenski den von <strong>der</strong> Rada einberufenen ukrainischen Armeekongreß. Die Ukrainer<br />
unterwarfen sich nicht. Um das Ansehen <strong>der</strong> Regierung zu retten, legalisierte<br />
Kerenski nachträglich den Kongreß und schickte ein vielverheißendes Telegramm, das<br />
von den Versammelten mit unehrerbietigem Lachen aufgenommen wurde. Die bittere<br />
Erfahrung hin<strong>der</strong>te Kercnski nicht, drei Wochen später den muselmanischen Militärkongreß<br />
in Moskau zu verbieten. Die demokratische Regierung hatte es anscheinend eilig,<br />
den unzufriedenen Nationen zu suggerieren: Ihr bekommt nur, was ihr entreißt.<br />
In ihrem am 10. Juni erschienenen ersten 'Universal' klagte die Rada Petrograd des<br />
Wi<strong>der</strong>standes gegen die nationale Selbständigkeit an und verkündete: »Von nun an<br />
werden wir uns unser Leben selbst gestalten.« Die ukrainischen Führer wurden von den<br />
Kadetten wie deutsche Agenten behandelt. Die Versöhnler wandten sich an die Ukrainer<br />
mit sentimentalen Ermahnungen. Die Provisorische Regierung entsandte nach Kiew eine<br />
Delegation. In <strong>der</strong> erhitzten ukrainischen Atmosphäre waren Kerenski, Zeretelli und<br />
Tereschtschenko gezwungen, <strong>der</strong> Rada einige Schritte entgegenzukommen. Aber nach<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 568
<strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten drehte die Regierung auch in <strong>der</strong><br />
ukrainischen Frage das Steuer nach rechts. Am 5. August beschuldigte die Rada mit<br />
erdrücken<strong>der</strong> Stimmenmehrheit die Regierung, sie habe, »durchdrungen von imperialistischen<br />
Tendenzen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie«, das Abkommen vom 3. Juli verletzt. »Als<br />
die Regierung ihren Wechsel einlösen sollte«, erklärte das Haupt <strong>der</strong> ukrainischen Regierung,<br />
Winnitschenko, »stellte sich heraus, daß die Provisorische Regierung ein kleiner<br />
Mogler ist, <strong>der</strong> durch einen Gaunertrick ein großes historisches Problem beseitigen<br />
wollte.« Diese unzweideutige Sprache charakterisiert zur Genüge die Autorität <strong>der</strong><br />
Regierung sogar in jenen Kreisen, die ihr politisch nahestehen mußten: Letzten Endes<br />
unterschied sich <strong>der</strong> ukrainische Versöhnler Winnitschenko von Kerenski nur so, wie<br />
sich ein mittelmäßiger Romancier von einem mittelmäßigen Advokaten unterscheidet.<br />
Allerdings veröffentlichte die Regierung schließlich im September eine Urkunde, die<br />
den Nationalitäten Rußlands das Recht auf "Selbstbestimmung" - in den von <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung festzulegenden Grenzen - zuerkannte. Aber dieser durch mchts<br />
garantierte und innerlich wi<strong>der</strong>spruchsvolle, in allem, außer in seinen Einschränkungen,<br />
höchst unbestimmte Wechsel auf die Zukunft flößte niemand Vertrauen ein: Die Taten<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung schrien schon zu laut gegen sie.<br />
Am 2. September beschloß <strong>der</strong> Senat, <strong>der</strong> gleiche, <strong>der</strong> zu seinen Sitzungen neue<br />
Mitglie<strong>der</strong> nicht ohne die alte Uniform zulassen wollte, die Veröffentlichung <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Regierung bestätigten Instruktion an das ukrainische Generalsekretariat, das heißt an das<br />
Kiewer Ministerkabinett, zu verweigern. Begründung: über ein Sekretariat existiere kein<br />
Gesetz, einer illegalen Institution aber dürfe man keine Instruktionen erteilen. Die<br />
hervorragenden Juristen verheimlichten nicht, daß das ganze Abkommen <strong>der</strong> Regierung<br />
mit <strong>der</strong> Rada eine Usurpation <strong>der</strong> Rechte <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung sei:<br />
unbeugsamste Anhänger <strong>der</strong> reinen Demokratie waren inzwischen die zaristischen<br />
Senatoren geworden. Indem sie so viel Mut an den Tag legten, riskierten die Oppositionellen<br />
von rechts durchaus nichts: sie wußten; daß ihre Opposition den Regierern aus <strong>der</strong><br />
Seele gesprochen war. Wenn sich die russische Bourgeoisie abzufinden vermochte mit<br />
einer gewissen Selbständigkeit Finnlands, das mit Rußland nur durch schwache ökonomische<br />
Bande verknüpft war, so konnte sie sich jedoch niemals einverstanden erklären<br />
mit <strong>der</strong> "Autonomie" des ukrainischen Getreides, <strong>der</strong> Donezkohle und des Kriworoger<br />
Eisenerzes.<br />
Am 19. Oktober befahl Kerenski telegraphisch den General-sekretären <strong>der</strong> Ukraine,<br />
»unverzüglich nach Petrograd abzureisen zur persönlichen Aussprache« über die von<br />
ihnen eingeleitete verbrecherische Agitation für eine Ukrainische Konstituierende<br />
Versammlung. Gleichzeitig wurde <strong>der</strong> Kiewer Staatsanwaltschaft nahegelegt, ein Verfahren<br />
gegen die Rada zu eröffnen. Doch die Donner an die Adresse <strong>der</strong> Ukraine schreckten<br />
genau so wenig, wie die Gnadenerweisungen an die Adresse Finnlands erfreuten.<br />
Die ukrainischen Versöhnler fühlten sich zu dieser Zeit noch viel sicherer als ihre<br />
älteren Vettern in Petrograd. Außer <strong>der</strong> günstigen Atmosphäre, mit <strong>der</strong> sie <strong>der</strong> Kampf für<br />
nationale Rechte umgab, hatte die verhältnismäßige Stabilität <strong>der</strong> kleinbürgerlichen<br />
Parteien <strong>der</strong> Ukraine wie einer Reihe an<strong>der</strong>er unterdrückten Nationalitäten ökonomische<br />
und soziale Wurzeln, die man mit einem Worte bezeichnen kann: Rückständigkeit. Trotz<br />
<strong>der</strong> schnellen industriellen Entwicklung <strong>der</strong> Donez- und Kriworoger Becken stand die<br />
Ukraine im allgemeinen noch hinter Großrußland zurück, das ukrainische Proletariat war<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 569
uneinheitlicher und ungestählter, die bolschewistische Partei blieb dort quantitativ und<br />
qualitativ schwach, trennte sich nur langsam von den Menschewlki, fand sich schwer<br />
zurecht in <strong>der</strong> politischen und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> nationalen Situation. Sogar in <strong>der</strong> industriellen<br />
Ost-Ukraine ergab die Distriktkonferenz <strong>der</strong> Sowjets Mitte Oktober noch immer eine<br />
kleine Versöhnlermehrheit!<br />
Verhältnismäßig noch schwächer war die ukrainische Bourgeoisie. Einer <strong>der</strong> Gründe<br />
für die mangelnde soziale Stabilität <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie als Ganzes bestand, wie<br />
wir uns erinnern, darin, daß ihren mächtigsten Teil Auslän<strong>der</strong> bildeten, die nicht einmal<br />
in Rußland lebten. In den Randgebieten wurde diese Tatsache durch eine an<strong>der</strong>e, nicht<br />
weniger wichtige ergänzt: die eigene, die einheimische Bourgeoisie gehörte nicht <strong>der</strong><br />
gleichen Nationalität an wie die Hauptmasse des Volkes.<br />
Die Stadtbevölkerung in den Randgebieten unterschied sich in nationaler Hinsicht<br />
überall von <strong>der</strong> Landbevölkerung. In <strong>der</strong> Ukraine und in Weißrußland waren Gutsbesitzer,<br />
Kapitalist, Advokat, Journalist - Großrusse, Pole, Jude, Auslän<strong>der</strong>; die Landbevölkerung<br />
hingegen bestand durchweg aus Ukrainem und Weißrussen. In den Ostseeprovinzen<br />
waren die Städte Herde <strong>der</strong> deutschen, <strong>russischen</strong> und jüdischen Bourgeoisie; das Land<br />
war durchweg lettisch o<strong>der</strong> estnisch. In den Städten Georgiens überwog die russische<br />
und armenische Bevölkerung, ebenfalls im turkmenischen Aserbeidjan. Von <strong>der</strong><br />
Kernmasse des Volkes nicht nur durch Lebensniveau und Sitten getrennt, son<strong>der</strong>n auch<br />
durch die Sprache, etwa wie die Englän<strong>der</strong> in Indien; den Schutz ihrer Güter und<br />
Einkünfte dem bürokratischen Apparat verdankend; unzertrennlich verbunden mit den<br />
herrschenden Klassen des gesamten Landes, gruppierten Gutsbesitzer, Industrielle und<br />
Kaufleute in den Randgebieten um sich einen kleinen Kreis aus <strong>russischen</strong> Beamten,<br />
Angestellten, Lehrern, Ärzten, Advokaten, Journalisten, teils auch Arbeitern und verwandelten<br />
die Städte in Herde <strong>der</strong> Russifizierung und Kolonisierung.<br />
Man konnte das Dorf übergehen, solange es schwieg. Aber auch nachdem es immer<br />
ungeduldiger seine Stimme zu erheben begann, fuhr die Stadt fort, beharrlich Wi<strong>der</strong>stand<br />
zu leisten und ihre privilegierte Lage zu verteidigen. Beamter, Kaufmann, Advokat<br />
lernten bald, ihren Kampf um die Kommandohöhen <strong>der</strong> Wirtschaft und Kultur hinter <strong>der</strong><br />
hochmütigen Verurteilung des erwachenden "Chauvinismus" zu verbergen. Das Bestreben<br />
einer herrschenden Nation, den Status quo aufrechtzuerhalten, wird nicht selten in<br />
die Farbe des Übernationalismus getaucht, wie das Bestreben eines siegreichen Landes,<br />
das Geraubte festzuhalten, leicht die Form Von Pazifismus annimmt. So fühlt sich<br />
Macdonald vor Gandhi als Internationalist. So erscheint Poincaré das Streben <strong>der</strong> Österreicher<br />
zu Deutschland als Verletzung des französischen Pazifismus.<br />
»Die in den Städten <strong>der</strong> Ukraine lebenden Menschen«, schrieb im Mai eine Delegation<br />
<strong>der</strong> Kiewer Rada an die Provisorische Regierung, »vor sich sehend die russifizierten<br />
Straßen dieser Städte ..., vergessen völlig, daß diese Städte nur kleine Inselchen im<br />
Meere des gesamten ukrainischen Volkes sind.« Wenn Rosa Luxemburg, in ihrer posthumen<br />
Polemik gegen das Programm <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, behauptet, <strong>der</strong> ukrainische<br />
Nationalismus, früher nur "Schrulle" eines Dutzend kleinbürgerlicher Intellektueller, sei<br />
künstlich aufgegangen auf <strong>der</strong> Hefe <strong>der</strong> bolschewistischen Formel vom Selbstbestimniungsrecht,<br />
so war sie trotz ihrem hellen Kopfe schwerstem historischem Irrtum verfallen:<br />
die ukrainische Bauernschaft hatte in <strong>der</strong> Vergangenheit aus dem Grunde nationale<br />
For<strong>der</strong>ungen nicht erhoben, aus dem sie sich überhaupt nicht bis zur Politik erhoben<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 570
hatte. Das Hauptverdienst <strong>der</strong> Februarumwälzung, vielleicht das einzige, aber völlig<br />
hinreichende, bestand gerade darin, daß es den unterdrücktesten Klassen und Nationalitäten<br />
Rußlands endlich die Möglichkeit gegeben hatte, laut ihre Stimme zu erheben. Das<br />
politische Erwachen <strong>der</strong> Bauernschaft konnte aber, nicht an<strong>der</strong>s vor sich gehen als<br />
vermittels <strong>der</strong> eigenen Sprache mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen in bezug<br />
auf Schule, Gericht, Selbstverwaltung. Sich dem zu wi<strong>der</strong>setzen, hätte den Versuch<br />
bedeutet, die Bauernschaft in das Nichtsein zurüekzustoßen.<br />
Die nationale Verschiedenheit von Stadt und Land äußerte sich empfindlich auch durch<br />
die Sowjets als vorwiegend städtische Organisationen. Unter Führung <strong>der</strong> Versöhnlerparteien<br />
ignorierten die Sowjets in <strong>der</strong> Regel die nationalen Interessen <strong>der</strong> Stammbevölkerung.<br />
Das war einer <strong>der</strong> Gründe für die Schwäche <strong>der</strong> ukrainischen Sowjets. Die Sowjets<br />
in Riga und Reval dachten nicht an die Interessen <strong>der</strong> Letten und Esten. Der Versöhnlersowjet<br />
in Baku vernachlässigte die Interessen <strong>der</strong> turkmenischen Stammbevölkerung.<br />
Unter falscher Flagge des lntemationalismus führten die Sowjets nicht selten einen<br />
Kampf gegen den defensiven ukramischen o<strong>der</strong> muselmanischen Nationalismus und<br />
deckten die unterdrückenden Russifizierungsmethoden <strong>der</strong> Städte. Es wird nicht wenig<br />
Zeit vergehen, auch unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Bolschewiki, bis die Sowjets <strong>der</strong> Randgebiete<br />
gelernt haben, die Sprache des Dorfes zu sprechen.<br />
Die durch Natur und Ausbeutung nie<strong>der</strong>gehaltenen Fremd-stämmigen Sibiriens verhin<strong>der</strong>te<br />
ihre ökonomische und kulturelle Primitivität überhaupt, sich auf jene Stufe zu<br />
erheben, wo nationale Ansprüche beginnen. Wodka, Fiskus und aufgezwungene Orthodoxie<br />
waren hier von altersher Haupthebel des Staatsprinzips. Jene Krankheit, die die<br />
Italiener die französische und die Franzosen die neapolitanische nennen, hieß bei den<br />
sibirischen Völkern die russische: das zeigt, aus welchen Quellen die Samen <strong>der</strong> Zivilisation<br />
flossen. Die Februarrevolution war nicht bis hierher vorgedrungen. Noch lange<br />
werden die Jäger und Renntierzüchter <strong>der</strong> Polarebene auf einen Lichtschimmer warten<br />
müssen.<br />
Die Völker und Stämme an <strong>der</strong> Wolga, im Nordkaukasus und in Zentralasien, durch<br />
die Februarumwälzung zum ersten Male aus ihrem prähistorischen Dasein erwacht,<br />
hatten we<strong>der</strong> eine nationale Bourgeoisie noch ein Proletariat gekannt. Über den Bauerno<strong>der</strong><br />
Hirtenmassen lagerte sich aus <strong>der</strong>en obersten Schichten eine dünne Zwischenschicht<br />
Intellektueller ab. Bevor man zum Programm <strong>der</strong> nationalen Selbstverwaltung außteigen<br />
konnte, wurde hier <strong>der</strong> Kampf geführt um die Fragen des eigenen Alphabets, eigenen<br />
Lehrers, mitunter - des eigenen Geistlichen. Diese - am meisten Unterdrückten mußten<br />
sich durch bittere Erfahrung überzeugen, daß die aufgeklärten Herren des Staates ihnen<br />
nicht freiwillig erlauben würden, sich hochzurichten. Die Rückständigsten <strong>der</strong> Rückständigen<br />
waren gezwungen, die revolutionärste Klasse als Verbündeten zu suchen. So<br />
bahnten sich mittels <strong>der</strong> linken Elemente ihrer jungen Intelligenz die Wotjaken, Tschuwaschen,<br />
Syrjanen, die Völker Dagestans und Turkestans Wege zum Bolschewismus.<br />
Die Bestimmung <strong>der</strong> Kolonialbesitzungen, beson<strong>der</strong>s in Zentralasien, verän<strong>der</strong>te sich<br />
zusammen mit <strong>der</strong> wirtschaftlichen Entwicklung des Zentrums, das von direktem und<br />
offenem Raub, auch auf dem Handelsgebiete, zu verschleierteren Methoden überging,<br />
indem die asiatischen Bauern in Lieieranten industriellen Rohstoffs, hauptsächlich <strong>der</strong><br />
Baumwolle, verwandelt wurden. Die hierarchisch organisierte Ausbeutung, die die<br />
Barbarei des Kapitalismus mit <strong>der</strong> Barbarei des patriarchalischen Gemeinwesens<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 571
verband, hielt erfolgreich die asiatischen Völker in äußerster nationaler Demütigung. Das<br />
Februarregime hatte hier alles beim alten gelassen.<br />
Die unter dem Zarismus den Baschkiren, Burjaten, Kirgisen und an<strong>der</strong>en Nomaden<br />
weggenommenen besseren Landstriche blieben in den Händen <strong>der</strong> Gutsbesitzer und<br />
reichen <strong>russischen</strong> Bauern, angesiedelt als kolonisatorische Oasen unter <strong>der</strong> einheimischen<br />
Bevölkerung. Das Erwachen des Geistes nationaler Unabhängigkeit bedeutete hier<br />
vor allem Kampf gegen die Kolonisatoren, die ein künstliches System von Streuländem<br />
geschaffen und die Nomaden zu Hunger und Aussterben verurteilt hatten. ihrerseits<br />
verteidigten die Eingewan<strong>der</strong>ten wütend die Einheit Russlands gegen den "Separatismus"<br />
<strong>der</strong> Asiaten, das heißt: die Unantastbarkeit ihres Raubes. Der Haß <strong>der</strong> Kolonisatoren<br />
gegen die Bewegung <strong>der</strong> Eingeborenen nahm zoologische Formen an. In Transbaikalien<br />
gingen unter Volldampf Vorbereitungen zu Burjatenpogromen unter Leitung von März-<br />
Sozialrevolutionären, die sich aus Gemeindeschreibem und von <strong>der</strong> Front zurückgekehrten<br />
Unteroffizieren rekrutierten.<br />
In ihrem Bestreben, solange wie möglich die alte Ordnung auf-rechtzuerhalten, appellierten<br />
alle Ausbeuter und Unterdrücker in den kolonisierten Gebieten von nun an an die<br />
souveränen Rechte <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung: mit dieser Phraseologie rüstete<br />
sie die Provisorische Regierung aus, die in ihnen die beste Stütze fand. An<strong>der</strong>erseits<br />
riefen auch die privilegierten Spitzen <strong>der</strong> unterdrückten Völker immer häufiger den<br />
Namen <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an. Sogar die muselinanisehe Geistlichkeit,<br />
die über die erwachten Bergvölker und -stämme des Nordkaukasus das grüne Banner<br />
Mohammeds erhoben hatte, bestand in allen Fällen, wo <strong>der</strong> Druck von unten sie in<br />
schwierige Lage brachte, auf Vertagung <strong>der</strong> Frage »bis zur Konstituierenden Versammlung«.<br />
Das wurde die Losung von Konservativismus, Reaktion, eigennützigen Interessen<br />
und Privilegien in allen Teilen des Landes. Die Appellation an die Konstituierende<br />
Versammlung bedeutete: hinziehen und Zeit gewinnen. Das Hinziehen bedeutete: Kräfte<br />
sammeln und die <strong>Revolution</strong> erdrosseln.<br />
In die Hände <strong>der</strong> Geistlichkeit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> feudalen Aristokratie geriet jedoch die Führung<br />
nur in <strong>der</strong> ersten Zeit, nur bei den rückständigen Völkern, fast nur bei den Muselmanen.<br />
Im allgemeinen vertraten die nationale Bewegung auf dem Lande begreiflicherweise<br />
Dorflehrer, Gemeindeschreiber, untere Beamte und Offiziere, zum Teil Kaufleute. Neben<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> o<strong>der</strong> russifizierten Intelligenz aus den soli<strong>der</strong>en und gesicherten Elementen<br />
entstand in den Randstädten bereits eine an<strong>der</strong>e Schicht, eine jüngere, durch Abstammung<br />
mit dem Dorfe eng verbunden, die keinen Zutritt zum Tische des Kapitals hatte<br />
und naturgemäß die politische Vertretung <strong>der</strong> nationalen, teils auch <strong>der</strong> sozialen Interessen<br />
<strong>der</strong> bäuerlichen Kernmasse übernahm.<br />
Den <strong>russischen</strong> Versöhnlern auf <strong>der</strong> Linie nationaler Ansprüche feindlich gegenüberstehend,<br />
gehörten die Versöhnler <strong>der</strong> Randgebiete zum gleichen Grundtypus und trugen<br />
in den meisten Fällen sogar die gleichen Bezeichnungen. Ukrainische Sozialrevolutionäre<br />
und Sozialdemokraten, georgische und lettische Menschewlki, litauische "Trudowiki"<br />
waren, gleich ihren groß<strong>russischen</strong> Namensvettern, bestrebt, die <strong>Revolution</strong> im<br />
Rahmen des bürgerlichen Regimes festzuhalten. Aber die äußerste Schwäche <strong>der</strong> einheimischen<br />
Bourgeoisie zwang Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hier nicht in eine<br />
Koalition zu gehen, son<strong>der</strong>n die Staatsmacht in die eigenen Hände zu nehmen. Genötigt,<br />
auf dem Gebiete <strong>der</strong> Agrar- und Arbeiterfrage weiterzugehen als die Zentralmacht, waren<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 572
die Versöhnler <strong>der</strong> Randgebiete im Vorteil, da sie in Armee und Land als Gegner <strong>der</strong><br />
Provisorischen Koalitionsregierung auftraten. Das alles genügte, wenn nicht, um im<br />
Schicksal <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Versöhnler und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Randgebiete einen Unterschied zu<br />
schaffen, so doch, um den Unterschied im Tempo ihres Aufstiegs und Nie<strong>der</strong>gangs zu<br />
bestimmen.<br />
Die georgische Sozialdemokratie führte hinter sich nicht nur die bettelarme Bauernschaft<br />
des kleinen Georgiens, son<strong>der</strong>n sie erhob auch, nicht ohne gewissen Erfolg,<br />
Anspruch auf Führung <strong>der</strong> "revolutionären Demokratie" ganz Rußlands. In den ersten<br />
<strong>Revolution</strong>smonaten betrachteten die Spitzen <strong>der</strong> georgischen Intelligenz Georgien nicht<br />
als nationales Vaterland, son<strong>der</strong>n als die Gironde, die gesegnete Südprovinz, berufen, das<br />
ganze Land mit Führern zu versorgen. In <strong>der</strong> Moskauer Staatsberatung rühmte sich einer<br />
<strong>der</strong> angesehenen georgischen Menschewki, Tschchenkeli, damit, daß die Georgier sogar<br />
unter dem Zarismus im Glück und Unglück zu sagen pflegten: »das einige Vaterland -<br />
Rußland".<br />
- »Was ist von <strong>der</strong> georgischen Nation zu sagen?« fragte <strong>der</strong> gleiche Tschchenkeli<br />
einen Monat später in <strong>der</strong> Demokratischen Beratung. »Sie steht völlig zu Diensten <strong>der</strong><br />
großen <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>.« Und in <strong>der</strong> Tat: die georgischen Versöhnler, wie auch die<br />
jüdischen, waren stets <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bürokratie »zu Diensten«, wenn es hieß, die<br />
nationalen Ansprüche einzelner Gebiete zu mäßigen o<strong>der</strong> zu bremsen.<br />
Das ging jedoch nur so lange, wie die georgischen Sozialdemokraten die Hoffnung<br />
nicht aufgegeben hatten, die <strong>Revolution</strong> im Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie festzuhalten.<br />
Je mehr aber die Gefahr des Sieges <strong>der</strong> vom Bolschewismus geführten Massen in<br />
Erscheinung trat, um so mehr lockerte die georgische Sozialdemokratie ihre Beziehungen<br />
zu den <strong>russischen</strong> Versöhnlern und verband sich um so enger mit den reaktionären<br />
Elementen Georgiens. Im Augenblick des Sieges <strong>der</strong> Sowjets werden die georgischen<br />
Anhänger des einigen Rußland Verkün<strong>der</strong> des Separatismus und zeigen den übrigen<br />
Völkern Transkaukasiens die gelben Stoßzähne des Chauvinismus.<br />
Die unvermeidliche nationale Maskierung <strong>der</strong> sozialen Gegensätze, nach <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Regel in den Randgebieten ohnehin nicht so stark entwickelt, erklärt zur Genüge,<br />
weshalb die Oktoberumwälzung bei den meisten unterdrückten Nationalitäten auf größeren<br />
Wi<strong>der</strong>stand stoßen mußte als in Zentralrußland. Dafür aber erschütterte <strong>der</strong> nationale<br />
Kampf an sich grausam das Februarregime und schuf für die Umwälzung im Zentrum<br />
eine hinlänglich günstige politische Peripherie.<br />
In jenen Fällen, wo sie sich mit den Klassengegensätzen deckten, erhielten die nationalen<br />
Antagonismen beson<strong>der</strong>e Schärfe. Die alte Feindschaft zwischen <strong>der</strong> lettischen<br />
Bauernschaft und den deutschen Baronen stieß zu Beginn des Krieges viele Tausende<br />
werktätiger Letten auf den Weg <strong>der</strong> Kriegsfreiwilligen. Die Schützenregimenter aus lettischen<br />
Landarbeitern und Bauern gehörten zu den besten an <strong>der</strong> Front. Doch traten sie<br />
bereits im Mai für die Macht <strong>der</strong> Sowjets auf. Der Nationalismus erwies sich nur als<br />
Hülle eines unreifen Bolschewismus. Ein gleichartiger Prozeß vollzog sich auch in<br />
Estland.<br />
In Weißrußland mit seinen polnischen o<strong>der</strong> polonisierten Gutsbesitzern, seiner<br />
jüdischen Stadt- und Kleinstadtbevölkerung und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Beamtenschaft lenkte die<br />
doppelt und dreifach unterdrückte Bauernschaft unter Einfluß <strong>der</strong> nahen Front bereits vor<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 573
dem Oktober ihre nationale und soziale Empörung in das Flußbett des Bolschewismus.<br />
Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung wird die erdrückende Masse <strong>der</strong><br />
weiß<strong>russischen</strong> Bauern für die Bolschewiki stimmen.<br />
Alle diese Prozesse, in denen sich erwachte nationale Würde mit sozialer Empörung<br />
verband, diese bald zurückdrängend, bald in den Vor<strong>der</strong>grund schiebend, fanden schärfsten<br />
Ausdruck in <strong>der</strong> Armee, wo fieberhaft nationale Regimenter gebildet wurden, die je<br />
nach ihrem Verhalten zu Krieg und Bolschewiki von <strong>der</strong> Zentralmacht begünstigt, geduldet<br />
o<strong>der</strong> verfolgt waren, sich aber im allgemeinen immer feindlicher gegen Petrograd<br />
wandten.<br />
Lenin hielt unbeirrt die Hand am "nationalen" Puls <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. In dem berühmten<br />
Artikel "Die Krise ist reif" verwies er Ende September beharrlich darauf, daß die nationale<br />
Kurie <strong>der</strong> Demokratischen Beratung »in bezug auf Radikalismus auf den zweiten<br />
Platz rückt, nur den Gewerkschaften nachsteht und hinsichtlich des Prozentsatzes <strong>der</strong><br />
gegen die Koalition abgegebenen Stimmen (vierzig von fünfundfünfzig) die Kurie <strong>der</strong><br />
Sowjets übertrifft«. Das bedeutete: von <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bourgeoisie erwarteten die<br />
unterdrückten Nationalitäten nichts Gutes mehr. Immer häufiger gingen sie daran, ihre<br />
Rechte eigenmächtig zu verwirklichen, stückweise, auf dem Wege revolutionärer Enteignungen.<br />
Auf dem Oktoberkongreß <strong>der</strong> Burjaten im fernen Werchneudinsk erklärte <strong>der</strong> Berichterstatter:<br />
an <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> Fremdvölker »hat die Februarrevolution nichts geän<strong>der</strong>t«. Ein<br />
solches Fazit zwang, wenn nicht sogleich auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki zu treten, so<br />
doch mindestens ihnen gegenüber immer freundschaftlichere Neutralität zu wahren.<br />
Der allukrainische Armeekongreß, <strong>der</strong> während des Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes tagte,<br />
beschloß, gegen die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Machtübergabe an die Sowjets in <strong>der</strong> Ukraine zu<br />
kämpfen, lehnte aber gleichzeitig ab, den Aufstand <strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Bolschewiki »als<br />
antidemokratische Handlungsweise« zu betrachten, und versprach, alle Mittel anzuwenden,<br />
damit Truppen zur Unterdrückung des Aufstandes nicht entsandt werden. Diese<br />
Zwiespältigkeit, die am besten das kleinbürgerliche Stadium des nationalen Kampfes<br />
charakterisiert, erleichterte die <strong>Revolution</strong> des Proletariats, die daran war, aller Zwiespältigkeit<br />
ein Ende zu machen.<br />
An<strong>der</strong>erseits verfielen in den Randgebieten jetzt die bürgerlichen Kreise, die stets und<br />
unablässig zur Zentralmacht geneigt hatten, in Separatismus, hinter dem in vielen Fällen<br />
nicht einmal mehr <strong>der</strong> Schatten einer nationalen Basis war. Die gestern noch hurrapatriotische<br />
Bourgeoisie <strong>der</strong> Ostseeprovinzen, nach den deutschen Baronen Romanows beste<br />
Stütze, trat im Kampf gegen das bolschewistische Rußland und die eigenen Massen unter<br />
das Banner des Separatismus. Auf diesem Gebiete entstanden noch wun<strong>der</strong>lichere<br />
Erscheinungen. Am 20. Oktober wurde <strong>der</strong> Grund gelegt zu einem neuen Staatsgebilde,<br />
dem »Südöstlichen Verband <strong>der</strong> Kosakenheere, <strong>der</strong> Bergbewohner des Kaukasus und <strong>der</strong><br />
freien Völkerschaften <strong>der</strong> Steppen«. Die Spitzen des Doner, Kubaner, Tereker und<br />
Astrachaner Kosakentums, einst wichtigste Stütze des zaristischen Zentralismus, verwandelten<br />
sich innerhalb weniger Monate in eifrige Verfechter <strong>der</strong> Fö<strong>der</strong>ation und vereinigten<br />
sich aufdiesem Boden mit den Führern <strong>der</strong> muselmanischen Berg-und<br />
Steppenbewohner. Die Scheidewände des fö<strong>der</strong>ativen Regimes sollten die Barriere<br />
bilden gegen die vom Norden kommende bolschewistische Gefahr. Bevor er jedoch die<br />
wichtigen Sammelpunkte des Bürgerkrieges gegen die Bolschewiki schuf, richtete sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 574
<strong>der</strong> konterrevolutionäre Separatismus unmittelbar gegen die regierende Koalition, die er<br />
demoralisierte und schwächte. So zeigte neben den an<strong>der</strong>en Problemen auch das nationale<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung das Medusenhaupt, auf dem sich jedes Haar <strong>der</strong> Märzund<br />
Aprilhoffnungen in eine Schlange von Haß und Empörung verwandelt hatte.<br />
Die bolschewistische Partei hat durchaus nicht sogleich nach <strong>der</strong> Umwälzung in <strong>der</strong><br />
nationalen Frage jene Position eingenommen, die ihr letzten Endes den Sieg sicherte. Das<br />
bezieht sich nicht nur auf die Randgebiete mit schwachen und unerfahrenen Parteiorganisationen,<br />
son<strong>der</strong>n auch auf das Petrogra<strong>der</strong> Zentrum. In den Kriegsjahren war die Partei<br />
<strong>der</strong>art geschwächt, das theoretische und politische Niveau <strong>der</strong> Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong>art gesunken,<br />
daß die offizielle Leitung in <strong>der</strong> nationalen Frage vor Lenins Ankunft eine äußerst wirre<br />
und durch Halbheit gekennzeichnete Position einnahm.<br />
Allerdings vertraten die Bolschewiki <strong>der</strong> Tradition entsprechend in alter Weise das<br />
Recht <strong>der</strong> Nationen auf Selbstbestimmung. Doch diese Formel wurde in Worten auch<br />
von den Menschewiki anerkannt: <strong>der</strong> Text des Programms war noch immer gemeinsam.<br />
Entscheidende Bedeutung hatte aber die Frage <strong>der</strong> Macht. Indes waren die zeitweiligen<br />
Parteiführer völlig unfähig, den unversöhnlichen Antagonismus zu begreifen zwischen<br />
den bolschewistischen Parolen in <strong>der</strong> nationalen wie in <strong>der</strong> Agrarfrage und <strong>der</strong> Aufrechterhaltung<br />
des bürgerlich-imperialistischen, wenn auch von demokratischen Formen<br />
verdeckten Regimes.<br />
Den vulgärsten Ausdruck fand die demokratische Position unter Stalins Fe<strong>der</strong>. Am 25.<br />
März versucht Stalin in einem dem Regierungsdekret über Abschaffung nationaler<br />
Beschränkungen gewidmeten Artikel, die nationale Frage im historischen Ausmaße zu<br />
stellen. »Die soziale Basis <strong>der</strong> nationalen Unterdrückung«, schreibt er, »die sie beseelende<br />
Kraft, ist die absterbende Landaristokratie.« Darauf, daß die nationale Unterdrükkung<br />
eine unerhörte Entwicklung in <strong>der</strong> Epoche des Kapitalismus erreicht und ihren<br />
barbarischsten Ausdruck in <strong>der</strong> Kolonialpolitik gefunden hat, verfällt <strong>der</strong> demokratische<br />
Autor scheinbar überhaupt nicht. »ln England«, fährt er fort, »wo die Landaristokratie<br />
die Macht mit <strong>der</strong> Bourgeoisie teilt, wo die unbegrenzte Herrschaft dieser Aristokntie<br />
längst nicht mehr existiert, - ist <strong>der</strong> nationale Druck mil<strong>der</strong>, weniger unmenschlich, wenn<br />
man natürlich die Tatsache außer acht läßt [?], daß im Verlauf des Krieges, wo die<br />
Macht in die Hände <strong>der</strong> Landlords [!] überging, die nationale Unterdrückung sich<br />
verstärkte (Verfolgung <strong>der</strong> Irlän<strong>der</strong>, In<strong>der</strong>).« An <strong>der</strong> Unterdrückung <strong>der</strong> Irlän<strong>der</strong> und<br />
In<strong>der</strong>, stellt sich heraus, sind die Landlords schuld, die wohl in <strong>der</strong> Person Lloyds<br />
Georges dank dem Kriege sich die Macht angeeignet hatten. »... In <strong>der</strong> Schweiz und<br />
Nordamerika«, fährt Stalin fort, »wo es einen Landlordismus nicht gibt und nicht<br />
gegeben hat [?], wo die Macht sich ungeteilt in den Händen <strong>der</strong> Bourgeoisie befindet,<br />
entwickeln sich die Nationalitäten frei, eine nationale Unterdrückung hat hier, allgemein<br />
gesprochen, keinen Platz ...« Der Autor vergißt ganz die Neger- und die Kolonialfrage in<br />
den Vereinigten Staaten.<br />
Aus dieser hoffnungslos provinziellen Analyse, die sich in wirrer Gegenüberstellung<br />
von Feudalismus und Demokratie erschöpft, ergeben sich rein liberale politische Schlußfolgerungen.<br />
»Von <strong>der</strong> politischen Bühne die feudale Aristokratie absetzen, ihr die Macht<br />
entreißen, - das gerade heißt, die nationale Unterdrückung liquidieren, faktische, für die<br />
nationale Freiheit erfor<strong>der</strong>liche Bedingungen schaffen. - Insoweit die russische <strong>Revolution</strong><br />
gesiegt hat«, schreibt Stalin, »hat sie diese faktischen Bedingungen bereits geschaf-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 575
fen.« Wir haben hier vor uns vielleicht eine noch prinzipiellere Verteidigung <strong>der</strong> imperialistischen<br />
"Demokratie" als alles, was zu diesem Thema in jenen Tagen von den<br />
Menschewiki geschrieben wurde. Wie Stalin nach Kamenjew in <strong>der</strong> Außenpolitik hoffte,<br />
durch Arbeitsteilung mit <strong>der</strong> Provisorischen Regierung zu einem demokratischen Frieden<br />
zu gelangen, so fand er in <strong>der</strong> Innenpolitik <strong>der</strong> Demokratie des Fürsten Lwow die »faktischen<br />
Bedingungen« <strong>der</strong> nationalen Freiheit.<br />
In Wirklichkeit offenbarte <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Monarchie zum ersten Male vollständig, daß<br />
nicht nur die reaktionären Gutsbesitzer, son<strong>der</strong>n die gesamte liberale Bourgeoisie und<br />
nach ihr die gesamte kleinbürgerliche Demokratie, zusammen mit <strong>der</strong> patriotischen<br />
Spitze <strong>der</strong> Arbeiterklasse, unversöhnliche Gegner <strong>der</strong> wirklichen nationalen Gleichberechtigung<br />
waren, das heißt <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> Privilegien <strong>der</strong> herrschenden Nation:<br />
ihr gesamtes Programm lief auf Mil<strong>der</strong>ung, kulturelle Politur und demokratische Verhüllung<br />
<strong>der</strong> groß<strong>russischen</strong> Vorherrschaft hinaus.<br />
Auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz ging Stalin, die Leninsche Resolution über die Nationalfrage<br />
verteidigend, formell bereits davon aus, daß »die nationale Unterdrückung jenes Systems<br />
... ,jene Maßnahmen sind ..., die von den imperialistischen Kreisen durchgeführt<br />
werden«, doch unvermeidlich verirrt er sich sogleich wie<strong>der</strong> in seine Märzposition. »Je<br />
demokratischer ein Land ist, um so schwächer die nationale Unterdrückung, und<br />
umgekehrt«, das ist die eigene, nicht Lenin entnommene Abstraktion des Redners. Die<br />
Tatsache, daß das demokratische England das feudale Kasten-Indien unterdrückt,<br />
verschwindet wie<strong>der</strong> aus seinem beschränkten Gesichtsfeld. »Zum Unterschiede von<br />
Rußland, wo die "alte Land-aristokratie" herrschte«, fährt Stalin fort, »hat in England<br />
und Österreich-Ungarn die nationale Unterdrückung niemals Pogromformen angenommen.«<br />
Als habe in England »niemals« die Landaristokratie geherrscht, o<strong>der</strong> als herrsche<br />
sie in Ungarn nicht bis auf den heutigen Tag! Der kombinierte Charakter <strong>der</strong> geschichtlichen<br />
Entwicklung, die »Demokratie« mit Erdrosselung schwacher Nationen vereinigt,<br />
blieb für Stalin ein Buch mit sieben Siegeln.<br />
Daß Rußland sich als Nationalitätenstaat herausbildete, ist die Folge seiner historischen<br />
Verspätung. Aber diese Verspätung ist ein komplizierter und unentrinnbar wi<strong>der</strong>spruchsvoller<br />
Begriff. Ein rückständiges Land folgt keinesfalls dem fortgeschrittenen Lande auf<br />
den Fersen, dabei stets die gleiche Distanz zu diesem wahrend. In <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong><br />
Weltwirtschaft überspringen rückständige Nationen, während sie unter dem Druck <strong>der</strong><br />
fortgeschrittenen sich <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Gesamtentwicklung einglie<strong>der</strong>n, eine Reihe<br />
Zwischenstufen. Mehr noch, das Fehlen von fest herausgebildeten gesellschaftlichen<br />
Formen und Traditionen macht ein rückständiges Land - mindestens bis zu einem gewissen<br />
Grade - sehr empfänglich für die letzten Worte von Welttechnik und Weltgedanken.<br />
Die Rückständigkeit hört jedoch dadurch nicht auf, Rückständigkeit zu sein. Die<br />
Entwicklung insgesamt erhält einen wi<strong>der</strong>spruchsvollen und kombinierten Charakter. Die<br />
soziale Struktur einer verspäteten Nation ist gekennzeichnet durch das Vorherrschen<br />
äußerster historischer Pole - rückständiger Bauern und fortgeschrittener Proletarier - vor<br />
Mittelformation, vor Bourgeoisie. Aufgaben <strong>der</strong> einen Klasse werden auf die Schultern<br />
einer an<strong>der</strong>en abgewälzt. Das Ausroden mittelalterlicher Überbleibsel fällt auch auf<br />
nationalem Gebiet dem Proletariat zu.<br />
Nichts charakterisiert die historische Verspätung Rußlands, betrachtet man es in <strong>der</strong><br />
Eigenschaft eines europäischen Landes, so grell wie die Tatsache, daß es im zwanzigsten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 576
Jahrhun<strong>der</strong>t die Hörigenpacht und das jüdische Ansiedlungsrayon liquidieren mußte, das<br />
heißt die Barbarei <strong>der</strong> Leibeigenschaft und des Getto. Jedoch besaß Rußland gerade<br />
infolge seiner verspäteten Entwicklung für die Lösung dieser Aufgaben neue, im<br />
höchsten Grade mo<strong>der</strong>ne Klassen, Parteien, Programme. Um mit Rasputins Ideen und<br />
Methoden ein Ende zu machen, waren für Rußland die Ideen und Methoden von Marx<br />
erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Die politische Praxis blieb allerdings viel primitiver als die Theorie, weil Dinge sich<br />
schwerer verän<strong>der</strong>n als Ideen. Dennoch hatte die Theorie lediglich die Bedürfnisse <strong>der</strong><br />
Praxis zu Ende entwickelt. Um die Befreiung und einen kulturellen Aufstieg zu<br />
erreichen, waren die unterdrückten Nationalitäten gezwungen, ihr Schicksal mit dem<br />
Schicksal <strong>der</strong> Arbeiterklasse zu verbinden. Dazu aber mußten sie sich von <strong>der</strong> Führung<br />
ihrer bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien befreien, das heißt weit vorauseilen auf<br />
dem Weg <strong>der</strong> historischen Entwicklung.<br />
Die Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> nationalen Bewegung in den Grundprozeß <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, in<br />
den Kampf des Proletariats um die Macht, vollzieht sich nicht mit einem Male, son<strong>der</strong>n<br />
in mehreren Etappen, und zwar in den verschiedenen Landesgebieten verschieden.<br />
Ukrainische, weißrussische o<strong>der</strong> tatarische Arbeiter, Bauern und Soldaten, Kerenski, dem<br />
Krieg und <strong>der</strong> Russifizierung frindlich, wurden damit allein schon, trotz ihrer Versöhnler-Führung,<br />
Verbündete des proletarischen Aufstandes. Von objektiver Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki werden sie auf einer weiteren Etappe gezwungen, auch subjektiv den<br />
Weg des Bolschewismus zu betreten. In Finnland, Lettland, Estland, schwächer auch in<br />
<strong>der</strong> Ukraine, nimmt die in Schichten zerfallende Nationalbewegung um den Oktober<br />
herum <strong>der</strong>artige Verschärfung an, daß nur die Einmischung ausländischer Truppen hier<br />
den Sieg <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung verhin<strong>der</strong>n kann. Im asiatischen Osten, wo das<br />
nationale Erwachen in den primitivsten Formen vor sich ging, sollte es erst allmählich<br />
und mit größerer Verspätung unter die Führung des Proletariats geraten, bereits nach<br />
dessen Machteroberung. Überblickt man den komplizierten und wi<strong>der</strong>spruchsvollen<br />
Prozeß in seiner Gesamtheit, ist die Schlußfolgerung klar: <strong>der</strong> nationale wie <strong>der</strong> agrarische<br />
Strom ergossen sich in das Bett <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />
Der unabwendbare und unaufhaltsame Übergang <strong>der</strong> Massen von elementarsten<br />
Aufgaben <strong>der</strong> politischen, agrarischen und nationalen Entsklavung zur Herrschaft des<br />
Proletariats ergab sich nicht aus "demagogischer" Agitation, nicht aus vorgefaßten<br />
Schemen, nicht aus <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong>, wie die Liberalen und die<br />
Versöhnler wähnten, son<strong>der</strong>n aus Rußlands sozialer Struktur und den Bedingungen <strong>der</strong><br />
internationalen Lage. Die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> formulierte diesen kombinierten<br />
Entwicklungsprozeß nur.<br />
Es handelt sich hier nicht allein um Rußland. Die Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> verspäteten nationalen<br />
<strong>Revolution</strong>en in die proletarische <strong>Revolution</strong> hat ihre internationale Gesetzmäßigkeit.<br />
Während im neunzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t die Hauptaufgabe <strong>der</strong> Kriege und<br />
<strong>Revolution</strong>en noch immer darin bestand, den Produktivkräften den nationalen Markt zu<br />
sichern, besteht die Aufgabe unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts darin, die Produktivkräfte aus den<br />
nationalen Grenzen, die für sie eiserne Fesseln geworden sind, zu befreien. Im breiten<br />
historischen Sinne bilden die nationalen <strong>Revolution</strong>en des Ostens Stufen <strong>der</strong> Weltrevolution<br />
des Proletariats, wie die nationalen Bewegungen in Rußland Stufen <strong>der</strong> Sowjetdiktatur<br />
wurden.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 577
Lenin hatte mit bemerkenswerter Tiefe die revolutionäre Kraft eingeschätzt, die im<br />
Schicksal <strong>der</strong> unterdrückten Nationalitäten sowohl des zaristischen Rußland wie <strong>der</strong><br />
ganzen Welt enthalten ist. Nichts außer Verachtung fand in seinen Augen jener heuchlerische<br />
"Pazifismus", <strong>der</strong> den Krieg Japans gegen China, zum Zwecke seiner<br />
Versklavung, wie Chinas Krieg gegen Japan im Namen <strong>der</strong> eigenen Befreiung in gleicher<br />
Weise »verurteilt«. Für Lenin war <strong>der</strong> nationale Befreiungskrieg im Gegensatz zum<br />
imperialistischen Unterjochungskrieg nur eine an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong>,<br />
die wie<strong>der</strong>um ein notwendiges Glied im Befreiungskampfe des Weltproletariats bedeutet.<br />
Aus dieser Einschätzung nationaler <strong>Revolution</strong>en und Kriege folgt jedoch keinesfalls<br />
die Anerkennung irgendeiner revolutionären Mission <strong>der</strong> Bourgeoisie kolonialer o<strong>der</strong><br />
haibkolonialer Nationen. Im Gegenteil, gerade die Bourgeoisie <strong>der</strong> rückständigen Län<strong>der</strong><br />
entwickelt sich von den Milchzähnen an als Agentur des ausländischen Kapitals und<br />
befindet sich trotz neidischer Feindschaft in allen entscheidenden Fällen mit diesem im<br />
gleichen Lager. Das chinesische Kompradorentum ist die klassische Form einer kolonialen<br />
Bourgeoisie, wie die Kuomintang die klassische Partei des Kompradorentums. Die<br />
Spitzen <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie, darunter auch die Intelligenz, können sich aktiv, mitunter<br />
geräuschvoll, am nationalen Kampfe beteiligen, sind aber völlig unfähig für eine<br />
selbständige Rolle. Nur die Arbeiterklasse, an die Spitze <strong>der</strong> Nation gestellt, ist imstande,<br />
die nationale wie die agrarische <strong>Revolution</strong> zu Ende zu führen.<br />
Der verhängnisvolle Irrtum <strong>der</strong> Epigonen, vor allem Stalins, besteht darin, daß sie aus<br />
Lenins Lehre von <strong>der</strong> fortschrittlichen historischen Bedeutung des Kampfes <strong>der</strong> unterdrückten<br />
Nationen die Schlußfolgerung zogen von einer revolutionären Mission <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie <strong>der</strong> Koloniallän<strong>der</strong>. Unverständnis für den permanenten Charakter <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> imperialistischen Epoche; pedantische Schematisierung <strong>der</strong> Entwicklung;<br />
Zerglie<strong>der</strong>ung des lebendigen kombinierten Prozesses in tote, angeblich zeitlich<br />
voneinan<strong>der</strong> unbedingt getrennte Stadien brachten Stalin zu vulgärer Idealisierung <strong>der</strong><br />
Demokratie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> "demokratischen Diktatur", die in Wirklichkeit nur entwe<strong>der</strong><br />
imperialistische Diktatur o<strong>der</strong> Diktatur des Proletariats sein kann. Von Stufe zu Stufe<br />
hinab gelangte die Gruppe Stalins auf dieser Bahn bis zum völligen Bruch mit Lenins<br />
Position in <strong>der</strong> nationalen Frage und bis zur katastrophalen Politik in China.<br />
Im August 1927, im Kampfe gegen die Opposition (Trotzki, Rakowski und an<strong>der</strong>e),<br />
sagte Stalin im Plenum des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki: »Eine <strong>Revolution</strong> in<br />
imperialistischen Ländem ist eines: dort ist die Bourgeoisie konterrevolutionär in allen<br />
Stadien <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ... Eine <strong>Revolution</strong> in den kolonialen und abhängigen Län<strong>der</strong>n ist<br />
ein an<strong>der</strong>es ... dort kann die nationale Bourgeoisie in einem gewissen Stadium und für<br />
eine gewisse Frist die revolutionäre Bewegung ihres Landes gegen den Imperialismus<br />
unterstützen.« Mit Vorbehalten und Mil<strong>der</strong>ungen, die nur seine innere Unsicherheit<br />
kennzeichnen, überträgt hier Stalin auf die koloniale Bourgeoisie die gleichen Eigenschaften,<br />
mit denen er im März die russische Bourgeoisie ausgestattet hatte. Seinem tief<br />
organischen Charakter gehorchend, bahnt sich <strong>der</strong> stalinsche Opportunismus, wie unter<br />
dem Druck des Gesetzes <strong>der</strong> Schwere, einen Weg durch verschiedene Kanäle. Die<br />
Auswahl theoretischer Argumente ist dabei Sache des reinsten Zufalls.<br />
Aus <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> Märzeinschätzung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung auf die<br />
"nationale" Regierung in China ergab sich die dreijährige Zusammenarbeit Stalins mit<br />
<strong>der</strong> Kuomintang, die eine <strong>der</strong> erschütterndsten Tatsachen <strong>der</strong> neuesten <strong>Geschichte</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 578
darstellt: als treuer Knappe begleitete <strong>der</strong> Epigonenbolschewismus die chinesische<br />
Bourgeoisie bis zum 11. April 1927, das heißt bis zu ihrer blutigen Abrechnung mit dem<br />
Schanghaier Proletariat. »Der Grundfehler <strong>der</strong> Opposition«, so rechtfertigte Stalin seine<br />
Waffenbrü<strong>der</strong>schaft mit Tschiankaischek, »besteht darin, daß sie die <strong>Revolution</strong> von<br />
1905 in Rußland, einem imperialistischen, an<strong>der</strong>e Völker unterdrückenden Lande, mit<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in China, einem unterdrückten Lande, identifiziert ...« Erstaunlich, daß<br />
Stalin selbst nicht auf den Gedanken gekommen war, die <strong>Revolution</strong> in Rußland nicht<br />
vom Standpunkte einer »an<strong>der</strong>e Völker unterdrückenden« Nation zu betrachten, son<strong>der</strong>n<br />
unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Erfahrung »an<strong>der</strong>er Völker« desselben Rußland, die keine<br />
geringere Unterdrückung zu erdulden hatten als die Chinesen.<br />
Auf jenem grandiosen Experimentierfelde, das Rußland während dreier <strong>Revolution</strong>en<br />
darstellte, kann man alle Varianten des nationalen und des Klassenkampies finden außer<br />
einer: daß die Bourgeoisie einer unterdrückten Nation die Befreierrolle in bezug auf ihr<br />
eigenes Volk gespielt hätte. Auf allen Etappen ihrer Entwicklung hing die Bourgeoisie<br />
<strong>der</strong> Randgebiete, in welchen Farben sie auch schillern mochte, stets von den Zentralbanken,<br />
Trusts und Handelsfirmen ab, war eigentlich nur eine Agentur des gesamt<strong>russischen</strong><br />
Kapitals, unterordnete sieh dessen Russifizierungstendenzen und unterwarf ihm breite<br />
Kreise <strong>der</strong> liberalen und demokratischen Intelligenz. Je »reifer« die Randbourgeoisie<br />
wurde, um so enger verband sie sich mit dem gesamten Staatsapparat. Als Ganzes spielte<br />
die Bourgeoisie <strong>der</strong> unterdrückten Nationen die gleiche Kompradorenrolle im Verhältnis<br />
zur regierenden Bourgeoisie wie diese im Verhältnis zum Weltfinanzkapital. Die komplizierte<br />
Hierarchie von Abhängigkeiten und Antagonismen hatte nicht für einen Tag die<br />
grundlegende Solidarität im Kampfe gegen die aufständischen Massen aufgehoben.<br />
In <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Konterrevolution (1907 bis 1917), als die Fuhrung <strong>der</strong> nationalen<br />
Bewegung in den Händen einheimischer Bourgeoisien lag, hatten diese noch offener als<br />
die <strong>russischen</strong> Liberalen eine Verständigung mit <strong>der</strong> Monarchie gesucht. Polchnische,<br />
baltische, tatarische, ukrainische und jüdische Bourgeois wetteiferten auf dem Felde des<br />
imperialistischen Patriotismus. Nach <strong>der</strong> Februarumwälzung versteckten sie sich hinter<br />
dem Rücken <strong>der</strong> Kadetten o<strong>der</strong>, nach dem Beispiel <strong>der</strong> Kadetten, hinter dem Rücken<br />
ihrer nationalen Versöhnler. Den Weg des Separatismus beschreitet die Bourgeoisie <strong>der</strong><br />
Randstaaten um den Herbst 1917 nicht im Kampfe gegen nationale Unterdrückung,<br />
son<strong>der</strong>n im Kampfe gegen die heranrückende proletarische <strong>Revolution</strong>. Im großen und<br />
ganzen hat die Bourgeoisie <strong>der</strong> unterdrückten Nationen keinesfalls eine geringere Feindschaft<br />
gegen die <strong>Revolution</strong> offenbart als die großrussische Bourgeoisie.<br />
Die gigantische historische Lehre <strong>der</strong> drei <strong>Revolution</strong>en ist jedoch an vielen Teilnehmern<br />
<strong>der</strong> Ereignisse spurlos vorübergegangen, vor allem - an Stalin. Die versöhnlerische,<br />
das heißt kleinbürgerliche Auffassung von den Wechselbeziehungen zwischen den<br />
Klassen innerhalb <strong>der</strong> Kolonialnationen, die die chinesische <strong>Revolution</strong> von 1925 bis<br />
1927 zugrunde richtete, haben die Epigonen sogar in das Programm <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
<strong>Internationale</strong> hineingebracht und es in diesem seinem Teil in eine direkte Falle für<br />
die unterdrückten Völker des Ostens verwandelt.<br />
Um den wahren Charakter <strong>der</strong> nationalen Politik Lenins zu verstehen, ist es am besten<br />
- nach <strong>der</strong> Methode <strong>der</strong> Kontraste -, sie <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> österreichischen Sozialdemokratie<br />
gcgenüberzustellen. Während <strong>der</strong> Bolschewismus sich jahrzehntelang auf den Ausbruch<br />
nationaler <strong>Revolution</strong>en einstellte und die fortgeschrittenen Arbeiter im Geiste dieser<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 579
Perspektive erzog, paßte sich die österreichische Sozialdemokratie gehorsam <strong>der</strong> Politik<br />
<strong>der</strong> herrschenden Klassen an, betätigte sich als Anwalt des zwangsweisen Zusammenlebens<br />
von zehn Nationen innerhalb <strong>der</strong> österreichisch-ungarischen Monarchie; aber<br />
gleichzeitig absolut unfähig, die revolutionäre Einheit <strong>der</strong> Arbeiter <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Nationalitäten herzustellen, trennte sie diese durch vertikale Scheidewände in Parteien<br />
und Gewerkschaften. Karl Renner, aufgeklärter Habsburger Bürokrat, suchte unermüdlich<br />
im Tintenfaß des Austromarxismus nach Verjüngungsmitteln für den Habsburger<br />
Staat bis zu <strong>der</strong> Stunde, wo er sich als verwitweten Theoretiker <strong>der</strong> österreichisch-ung<br />
arischen Monarchie erblickte. Als die Zentralmächte zerschlagen wurden, versuchte die<br />
Habsburger Dynastie noch immer, unter ihrem Zepter das Banner <strong>der</strong> Fö<strong>der</strong>ation autonomer<br />
Nationen zu erheben: das offizielle Programm <strong>der</strong> österreichischen<br />
Sozialdemokratie, auf eine friedliche Entwicklung im Rahmen <strong>der</strong> Monarchie berechnet,<br />
ward für einen Augenblik Programm <strong>der</strong> von Blut und Schmutz <strong>der</strong> vier Kriegsjahre<br />
besudelten Monarchie.<br />
Der verrostete Reifen, <strong>der</strong> zehn Nationen zusammengehalten hatte, zerbarst in Stücke.<br />
Österreich-Ungarn zerfiel kraft seiner inneren zentrifugalen Tendenzen, verstärkt durch<br />
die Versailler Chirurgie. Neue Staaten wurden gebildet, die alten umgebaut. Die österreichischen<br />
Deutschen blieben über einem Abgrund hängen. Für sie ging nun die Frage<br />
nicht um die Erhaltung <strong>der</strong> Herrschaft über an<strong>der</strong>e Nationen, son<strong>der</strong>n um die Gefahr,<br />
selbst unter Fremdherrschaft zu geraten. Otto Bauer, Vertreter des "linken" Flügels <strong>der</strong><br />
österreichischen Sozialdemokratie, hielt den Augenblick für geeignet, die Formel <strong>der</strong><br />
nationalen Selbstbestimmung aufrunehmen. Das Programm, das während <strong>der</strong> vergangenen<br />
Jahrzehnte den Kampf des Proletariats gegen die Habsburger und die herrschende<br />
Bourgeoisie hätte beseelen sollen, wurde in ein Werkzeug zur Selbsterhaltung <strong>der</strong><br />
gestern herrschenden Nation verwandelt, <strong>der</strong> heute Gefahr drohte seitens <strong>der</strong> frei gewordenen<br />
slawischen Völker. Wie das reformistische Programm <strong>der</strong> österreichischen Sozialdemokratie<br />
für einen Augenblick jener Strohhalm wurde, an den sich die ertrinkende<br />
Monarchie zu klammem versuchte, so mußte die kastrierte austromarxistische Formel des<br />
Selbstbestimmungsrechts Rettungsanker <strong>der</strong> deutschen Bourgeoisie werden.<br />
Am 3. Oktober 1918, als die Frage nicht mehr im geringsten von ihnen abhing,<br />
"anerkannten" die sozialdemokratischen Abgeordneten des Reichsrates großmütig das<br />
Recht <strong>der</strong> Völker des ehemaligen Kaiserreiches auf Selbstbestimmung. Am 4. Oktober<br />
nahmen auch die bürgerlichen Parteien das Programm <strong>der</strong> Selbstbestimmung an. Den<br />
deutsch-österreichischen Imperialisten somit um einen ganzen Tag voraus, verhielt sich<br />
die Sozialdemokratie noch immer abwartend: man kann ja nicht wissen, welche<br />
Wendung die Dinge nehmen werden und was Wilson sagen wird. Erst am 13. Oktober,<br />
als durch den endgültigen Zusammenbruch <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong> Monarchie eine »revolutionäre<br />
Situation eintrat, für die«, nach Bauers Worten, »unser nationales Programm<br />
gedacht war«, stellten die Austromarxisten praktisch die Frage <strong>der</strong> Selbstbestimmung:<br />
wahrlich, sie hatten nichts mehr zu verlieren. »Mit dem Zusammenbruch seiner<br />
Herrschaft über die an<strong>der</strong>en Nationen«, erklärt Otto Bauer ganz offenherzig, »sah das<br />
deutschnattonale Bürgertum seine geschichtliche Mission beendet, um <strong>der</strong>etwillen es<br />
bisher die Trennung vom deutschen Mutterlande willig ertragen hatte.« Das neue<br />
Programm wurde in Umlauf gebracht, nicht weil es die Unterdrückten notwendig hatten,<br />
sondem weil es aufgehört hatte, eine Gefahr für die Unterdrücker zu sein. Die besitzen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 580
den Klassen, hineingetrieben in eine historische Klemme, waren gezwungen, die nationale<br />
<strong>Revolution</strong> juristisch anzuerkennen; <strong>der</strong> Austromarxismus hielt es nun an <strong>der</strong> Zeit,<br />
sie theoretisch zu legalisieren. Dies ist eine reife <strong>Revolution</strong>, eine rechtzeitige, historisch<br />
vorbereitete: sie hat sich ja doch schon vollzogen. Die Seele <strong>der</strong> Sozialdemokratie liegt<br />
vor uns, wie auf <strong>der</strong> flachen Hand!<br />
Ganz an<strong>der</strong>s verhielt es sich mit <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong>, die keinesfalls auf Anerkennung<br />
<strong>der</strong> besitzenden Klassen hoffen konnte. Sie hieß es zu verschieben, zu entthronen,<br />
zu kompromittieren. Da das Kaiserreich naturgemäß nach den schwächsten, das heißt<br />
nach den nationalen Fugen auseinan<strong>der</strong>fiel, zieht Otto Bauer daraus die Schlußfolgerung<br />
über den Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: »Noch war sie durchaus nicht soziale, son<strong>der</strong>n nationale<br />
<strong>Revolution</strong>.« In Wirklichkeit hatte die Bewegung von Anfang an tiefen, sozialrevolutionären<br />
Inhalt. Der »nur« nationale Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wird nicht schlecht<br />
dadurch illustriert, daß die besitzenden Klassen Österreichs die Entente offen auffor<strong>der</strong>ten,<br />
die gesamte Armee gefangenzunehmen. Die deutsche Bourgeoisie flehte den italienischen<br />
General an, Wien mit italienischen Truppen zu besetzen!<br />
Die pedantisch vulgäre Trennung zwischen nationaler Form und sozialem Inhalt eines<br />
revolutionären Prozesses, angeblich als zwei selbständigen historischen Stadien - wir<br />
sehen, wie sehr sich Otto Bauer hier Stalin nähert! -, war von höchst utilitaristischer<br />
Bedeutung: sie sollte die Zusammenarbeit <strong>der</strong> Sozialdemokratie mit <strong>der</strong> Bourgeoisie im<br />
Kampfe gegen die Gefahren <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> rechtfertigen.<br />
Nimmt man nach Marx an, die <strong>Revolution</strong> sei Lokomotive <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, dann muß<br />
man dem Austromarxismus dabei die Rolle <strong>der</strong> Bremse zuweisen. Bereits nach dem<br />
faktischen Zusammenbruch <strong>der</strong> Monarchie konnte sich die Sozialdemokratie, zur<br />
Teilnahme an <strong>der</strong> Macht berufen, noch immer nicht entschließen, von den alten Habsburgischen<br />
Ministern Abschied zu nehmen: die "nationale" <strong>Revolution</strong> beschränkte sich<br />
darauf, sie durch Staatssekretäre zu unterstützen. Erst nach dem 9. November, als die<br />
deutsche <strong>Revolution</strong> die Hohenzollern gestürzt hatte, schlug die österreichische Sozialdemokratie<br />
dem Staatsrat vor, die Republik auszurufen, die bürgerlichen Partner mit <strong>der</strong><br />
Bewegung <strong>der</strong> Massen schreckend, durch die sie selbst bis auf Mark und Bein eingeschüchtert<br />
war. »Die Christlichsozialen«, ironisiert unvorsichtigerweise Otto Bauer, »die<br />
noch am 9. und 10. November zur Monarchie standen, entschlossen sich am 11. November,<br />
ihren Wi<strong>der</strong>stand aufzugeben ...« Um ganze zwei Tage hatte die Sozialdemokratie<br />
die Partei <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>t-Monarchisten überholt! Alle heroischen Legenden <strong>der</strong><br />
Menschheit verblassen vor diesem revolutionären Schwung.<br />
Gegen ihren Willen gelangte die Sozialdemokratie zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> automatisch<br />
an die Spitze <strong>der</strong> Nation, wie die <strong>russischen</strong> Menschewikl und Sozialrevolutionäre.<br />
Gleich diesen hatte auch sie die größte Angst vor <strong>der</strong> eigenen Kraft. In <strong>der</strong> Koalitionsregierung<br />
war sie bestrebt, das kleinste Eckchen einzunehmen. Otto Bauer erläutert: »Aber<br />
es entsprach dem vorerst noch nur nationalen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, daß die Sozialdemokraten<br />
zunächst nur einen bescheidenen Anteil an <strong>der</strong> Regierung beanspruchten.«<br />
Die Frage <strong>der</strong> Macht entscheidet für diese Menschen nicht das reale Kräfteverhältnis,<br />
nicht die Gewalt <strong>der</strong> revolutionären Bewegung, nicht <strong>der</strong> Bankrott <strong>der</strong> herrschenden<br />
Klassen, nicht <strong>der</strong> politische Einfluß <strong>der</strong> Partei, son<strong>der</strong>n das pedantische Schildchen »nur<br />
nationale <strong>Revolution</strong>«, das die weisen Klassifikatoren den Ereignissen angeklebt hatten.<br />
Karl Renner wartete das Gewitter als Kanzleichef des Staatsrates ab. Die übrigen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 581
sozialdemokratischen Führer verwandelten sich in Gehilfen <strong>der</strong> bürgerlichen Minister.<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten: die Sozialdemokraten versteckten sich unter den Kanzleitischen.<br />
Die Massen jedoch waren nicht gewillt, sich mit <strong>der</strong> nationalen Schale <strong>der</strong> Nuß abspeisen<br />
zu lassen, <strong>der</strong>en sozialen Kern die Austromarxisten für die Bourgeoisie aufbewahrten.<br />
Die Arbeiter und Soldaten schoben die bürgerlichen Minister beiseite und zwangen die<br />
Sozialdemokraten, ihren Unterschlupf zu verlassen. Der unersetzliche Theoretiker Otto<br />
Bauer erläutert: »Erst die Ereignisse <strong>der</strong> folgenden Tage, die die nationale <strong>Revolution</strong><br />
zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in <strong>der</strong> Regierung.« In eine allgemeinverständliche<br />
Sprache übersetzt: durch den Druck <strong>der</strong> Massen wurden die Sozialdemokraten<br />
gezwungen, unter den Tischen hervorzukriechen.<br />
Aber ohne auch nur für eine Minute ihrer Bestimmung untreu zu werden, nahmen sie<br />
die Macht allein zu dem Behufe, einen Krieg gegen Romantik und Abenteurertum zu<br />
beginnen: unter diesem Namen figuriert bei den Sykophanten jene soziale <strong>Revolution</strong>,<br />
die ihr »Gewicht in <strong>der</strong> Regierung« verstärkt hatte. Wenn die Austromarxisten nicht ohne<br />
Erfolg im Jahre 1918 ihre histotische Mission als Schutzengel <strong>der</strong> Wiener Kreditanstalt<br />
vor <strong>der</strong> revolutionären Romantik des Proletariats erfüllen konnten, so nur darum, weil sie<br />
nicht durch eine wirklich revolutionäre Partei behin<strong>der</strong>t wurden.<br />
Zwei Nationalitätenstaaten, Rußland und Österreich-Ungarn, haben durch ihr jüngstes<br />
Schicksal den Gegensatz zwischen Bolschewismus und Austromarxismus besiegelt.<br />
An<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte predigte Lenin in unversöhnlichem Kampfe gegen alle Schattierungen<br />
des groß<strong>russischen</strong> Chauvinismus das Recht aller unterdrückten Nationen, sich<br />
vom Zarenreiche loszulösen. Man beschuldigte die Bolschewiki, sie strebten Rußlands<br />
Zerstückelung an. Indes hat die kühnrevolutionäre Position in <strong>der</strong> nationalen Frage<br />
unerschütterliches Vertrauen <strong>der</strong> unterdrückten kleinen und rückständigen Völker des<br />
zaristischen Rußland zur bolschewistischen Partei geschaffen. Im April 1917 sagte<br />
Lenin: »Wenn die Ukrainer sehen werden, daß bei uns die Sowjetrepublik ist, werden sie<br />
sich nicht lostrennen, wenn aber bei uns Miljukows Republik sein wird, dann werden sie<br />
sich lostrennen.« Auch darin hatte er recht. Die <strong>Geschichte</strong> hat eine unvergleichliche<br />
Nachprüfung zweier Arten von Politik in <strong>der</strong> nationalen Frage geliefert. Während Österreich-Ungarn,<br />
dessen Proletariat im Geiste ängstlicher Halbheit erzogen ward, bei <strong>der</strong><br />
ersten ernsten Erschütterung in Stücke zerfiel, wobei die Initiative des Zerfalls hauptsächlich<br />
die nationalen Teile <strong>der</strong> Sozialdemokratie auf sich genommen hatten - entstand<br />
auf den Ruinen des Zaren-Rußland ein neuer Nationalitätenstaat, ökonomisch und<br />
politisch durch die bolschewistische Partei innig verschmolzen.<br />
Wie sich auch die weiteren Schicksale <strong>der</strong> Sowjetunion gestalten mögen - und sie ist<br />
noch sehr weit vom ruhigen Hafen entfernt -, Lenins Politik in <strong>der</strong> nationalen Frage wird<br />
für immer in das eherne Inventar <strong>der</strong> Menschheit eingehen.<br />
Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß<br />
Je<strong>der</strong> Tag des Krieges erschütterte die Front, schwächte die Regierung, verschlechterte<br />
die internationale Lage des Landes. Anfang Oktober entfaltete die deutsche See- und<br />
Luftflotte aktive Operationen im Finnischen Meerbusen. Die baltischen Matrosen schlugen<br />
sich tapfer, bemüht, den Weg nach Petrograd zu versperren. Doch begriffen sie<br />
schärfer und klarer als an<strong>der</strong>e Truppenteile <strong>der</strong> Front den tiefen Wi<strong>der</strong>spruch ihrer Lage<br />
als Avantgarde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und als unfreiwillige Teilnehmer des imperialistischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 582
Krieges, und sie schleu<strong>der</strong>ten durch die Radiostationen ihrer Schiffe einen Ruf um internationale<br />
revolutionäre Hilfe in alle vier Windrichtungen. »Attackiert von überlegenen<br />
deutschen Kräften, geht unsere Flotte im ungleichen Kampfe zugrunde. Keines unserer<br />
Schiffe wird dem Kampf ausweichen. Die verleumdete, gebrandmarkte Flotte wird ihre<br />
Pflicht erfüllen nicht auf Befehl irgendeines traurigen, durch die Langmut <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
herrschenden <strong>russischen</strong> Bonaparte ... nicht im Namen <strong>der</strong> Verträge unserer Regierer<br />
mit den Alliierten, die die Hände <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Freiheit mit Ketten fesseln. Nein, aber<br />
im Namen <strong>der</strong> Wacht über die Zugänge zum <strong>Revolution</strong>sherd Petrograd. In <strong>der</strong> Stunde,<br />
wo die Wellen des Baltischen Meeres mit dem Blute unserer Brü<strong>der</strong> sich verfärben, wo<br />
das Wasser über ihren Leichen sich schließt, erheben wir unsere Stimme: ... Unterdrückte<br />
in aller Welt! Entfaltet das Banner des Aufstandes!«<br />
Die Worte von Kämpfen und Opfern waren keine Phrase. Das Geschwa<strong>der</strong> verlor das<br />
Schiff "Slawa" und zog sich nach Kampf zurück. Die Deutschen eroberten die Monsundinseln.<br />
Es wandte sich noch ein schwarzes Blatt um im Buche des Krieges. Die Regierung<br />
beschloß, den neuen militärischen Schlag auszunutzen zur Verlegung <strong>der</strong> Residenz:<br />
dieser alte Plan tauchte bei jedem geeigneten Anlasse wie<strong>der</strong> auf. Nicht Sympathien für<br />
Moskau beherrschten die regierenden Kreise, son<strong>der</strong>n Haß gegen Petrograd. Monarchistische<br />
Reaktion, Liberalismus, Demokratie waren nacheinan<strong>der</strong> bestrebt, die Hauptstadt<br />
zu degradieren, sie in die Knie zu zwingen, zu zermalmen. Die heftigsten Patrioten<br />
haßten jetzt Petrograd mit einem viel glühen<strong>der</strong>en Haß als Berlin.<br />
Die Evakuationsfrage nimmt den Weg äußerster Dringlichkeit. Für die Übersiedlung<br />
<strong>der</strong> Regierung zusammen mit dem Vorparlament werden zwei Wochen angesetzt. Es<br />
wird beschlossen, die für die Landesverteidigung arbeitenden Betriebe ebenfalls in<br />
kürzester Frist zu evakuieren. Das Zentral-Exekutivkomitee, als eine "Privatinstitution",<br />
müsse um sein Schicksal selbst Sorge tragen.<br />
Die kadettischen Inspiratoren <strong>der</strong> Evakuierung wußten, daß eine einfache Übersiedlung<br />
<strong>der</strong> Regierung die Frage nicht löst. Aber sie spekulierten darauf dem Herd <strong>der</strong> revolutionären<br />
Seuche durch Hunger, Entbehrungen und Erschöpfung beizukommen. Die innere<br />
Blockade Petrograds war bereits in vollem Gange. Den Fabriken wurden die Bestellungen<br />
entzogen, die Belieferung mit Heizstoff um das Vierfache eingeschränkt, das Ernährungsministerium<br />
hielt das in die Hauptstadt gehende Vieh zurück, im<br />
Mariinski-Kanalnetz wurden die Ausladungen eingestellt.<br />
Der kriegerische Rodsjanko, Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Reichsduma, die aufzulösen die Regierung<br />
sich Anfang Oktober endlich entschlossen hatte, sprach sich mit voller Offenheit in<br />
<strong>der</strong> liberalen Moskauer Zeitung 'Utro Rossji" über die Kriegsgefahr aus, die <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
drohte. »Petrograd? ich meine, Gott mit ihm ... Man befürchtet, es könnten dort<br />
Zentralinstitutionen [das heißt Sowjets und so weiter] zugrunde gehen. Darauf erwi<strong>der</strong>e<br />
ich nur, daß ich sehr froh wäre, wenn all diese Institutionen zugrunde gingen, weil sie<br />
Rußland nichts als Böses gebracht haben.« Zwar muß mit Einnahine Petrograds die<br />
Baltische Flotte zugrunde gehen. Aber auch darüber braucht man nicht zu trauern: »dort<br />
gibt es völlig demoralisierte Schiffe«. Dank dem Umstande, daß es des Kammerherrn<br />
Sitte nicht war, den Mund zu halten, erfuhr das Volk die geheimsten Gedanken des adeligen<br />
und bürgerlichen Rußland.<br />
Der russische Geschäftsträger in London meldete, <strong>der</strong> britische Marinestab halte es<br />
trotz allem Drängen nicht für möglich, die Lage seines Verbündeten in <strong>der</strong> Ostsee zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 583
erleichtern. Nicht bloß die Bolschewiki deuteten diese Antwort dahingehend, daß die<br />
Alliierten gemeinsam mit den patriotischen Spitzen Rußlands vom deutschen<br />
Schwertstreich gegen Petrograd für die gemeinsame Sache nur Nutzen erwarteten. Die<br />
Arbeiter und Soldaten zweifelten nicht daran, beson<strong>der</strong>s nach Rodsjankos Geständnissen,<br />
daß die Regierung sich bewußt darauf vorbereitete, sie in die Abrichtung Ludendorffs<br />
und Hoffmanns zu geben.<br />
Am 6. Oktober nahm die Soldatensektion mit einer bis dahin nie gewesenen Einmütigkeit<br />
eine Resolution Trotzkis an: »Falls die Provisorische Regierung nicht fähig ist,<br />
Petrograd zu verteidigen, so ist sie verpflichtet, Frieden zu schließen o<strong>der</strong> aber ihren<br />
Platz einer an<strong>der</strong>en Regierung zu räumen.« Die Arbeiter traten nicht weniger unversöhnlich<br />
auf. Sie betrachteten Petrograd als ihre Festung, verknüpften mit ihm ihre revolutionären<br />
Hoffnungen, Petrograd preisgeben wollten sie nicht. Erschrocken über<br />
Kriegsgefahr, Evakuation, Empörung <strong>der</strong> Soldaten und Arbeiter, Erregung <strong>der</strong> gesamten<br />
Bevölkerung schlugen die Versöhnler ihrerseits Alarm: man darf Petrograd nicht <strong>der</strong><br />
Willkür des Schicksals überlassen. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß <strong>der</strong> Evakuierungsversuch<br />
auf allseitigen Wi<strong>der</strong>stand stieß, trat die Regierung den Rückzug an: sie sei<br />
weniger um die eigene Sicherheit besorgt als um die Frage des Sitzes <strong>der</strong> zukünftigen<br />
Konstituierenden Versammlung. Doch auch diese Position war unhaltbar. Kaum eine<br />
Woche später war die Regierung zu <strong>der</strong> Erklärung gezwungen, sie gedenke nicht nur<br />
selbst im Winterpalais zu verbleiben, son<strong>der</strong>n plane in alter Weise die Konstituierende<br />
Versammlung ins Taurische Palais einzuberufen. An <strong>der</strong> militärischen und politischen<br />
Situation än<strong>der</strong>te diese Erklärung nichts. Aber sie enthüllte wie<strong>der</strong> die politische Macht<br />
Petrograds, das als seine Mission betrachtete, mit <strong>der</strong> Kerenski-Regierung Schluß zu<br />
machen, und deshalb diese mehr aus seinen Mauern hinausließ. Die Residenz nach<br />
Moskau zu verlegen, haben später nur die Bolschewiki gewagt. Sie konnten diese<br />
Aufgabe ohne alle Schwierigkeiten durchführen, weil für sie dies tatsächlich eine strategische<br />
Aufgabe war: politische Gründe, aus Petrograd zu fliehen, hatten sie nicht.<br />
Die reumütige Erklärung betreffs Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt gab die Regierung auf<br />
Verlangen <strong>der</strong> Versöhnlermehrheit vor einer Kommission des Rates <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Republik, des Vorparlaments, ab. Diese wun<strong>der</strong>liche Institution war inzwischen endlich<br />
zur Welt gekommen. Plechanow, <strong>der</strong> zu scherzen liebte und auch zu scherzen verstand,<br />
nannte den ohnmächtigen und kurzlebigen Rat <strong>der</strong> Republik unhöflich »ein Häuschen<br />
auf Hühnerfüßchen«. Politisch ist diese Bezeichnung nicht ohne treffende Schärfe. Man<br />
muß nur hinzufügen, daß in <strong>der</strong> Eigenschaft eines Häuschens das Vorparlament nicht<br />
übel aussah: es war ihm das prächtige Mariinski-Palais zugewiesen, das früher den<br />
Staatsrat beherbergt hatte. Der Kontrast zwischen dem schmucken Palais und dem<br />
vernachlässigten, von Soldatengerüchen erfüllten Smolny verblüffte Suchanow: »Inmitten<br />
all dieser Pracht«, gesteht er, »überkam einen die Lust, auszuruhen, Mühen und<br />
Kampf Hunger und Krieg, Zerfall und Anarchie, das Land wie die <strong>Revolution</strong> zu vergessen.«<br />
Doch zum Ausruhen und Vergessen war die Zeit zu knapp bemessen:<br />
Die sogenannte "demokratische" Mehrheit des Vorparlaments bestand aus dreihun<strong>der</strong>tundacht<br />
Menschen: einhun<strong>der</strong>tundzwanzig Sozialrevolutionären, darunter etwa zwanzig<br />
linken; sechzig Menschewiki verschiedener Schattierungen; sechsundsechzig Bolschewiki;<br />
ferner Genossenschaftlern, Delegierten des Bauern-Exekutivkomitees, und so weiter.<br />
Die besitzenden Klassen hatten einhun<strong>der</strong>tundsechsundfünfzig Plätze inne, von denen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 584
fast die Hälfte den Kadetten gehörte. Zusammen mit den Genossenschaftlern, Kosaken<br />
und den reichlich konservativen Mitglie<strong>der</strong>n des Bauern-Exekutivkomitees bildete <strong>der</strong><br />
rechte Flügel in einer Reihe von Fragen nahezu die Mehrheit. Die Verteilung <strong>der</strong> Plätze<br />
im komfortablen Häuschen auf Hühnerfüßchen stand somit in schreiendem Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zu allen Willensäußerungen von Stadt und Land. Dafür beherbergte das Mariinski-Palais<br />
im Gegensatz zu den grauen Sowjets und ähnlichen Vertretungen in seinen Mauern die<br />
»Blüte <strong>der</strong> Nation«. Da die Mitglie<strong>der</strong> des Vorparlaments von Zufälligkeiten <strong>der</strong><br />
Wahlkonkurrenz, lokalen Einflüssen, provinziellen Bevorzugungen unabhängig waren,<br />
entsandte jede soziale Gruppe und jede Partei dorthin ihre angesehensten Führer. Die<br />
personelle Zusammensetzung war nach Suchanows Zeugnis »exklusiv glänzend«. Als das<br />
Vorparlament sich zu seiner ersten Sitzung versammelte, fiel, nach Miljukows Worten,<br />
vielen Skeptikern ein Stein vom Herzen: »Gut, wenn die Konstituierende Versanimlung<br />
nicht schlimmer sein wird als diese.« Die »Blüte <strong>der</strong> Nation« betrachtete sich mit Genugtuung<br />
in den Spiegeln des Schlosses, ohne gewahr zu werden, daß sie eine taube Blüte<br />
war.<br />
Bei Eröffnung des Rats <strong>der</strong> Republik am 7. Oktober versäumte Kerenski nicht, daran<br />
zu erinnern, daß die Regierung zwar über die »ganze Fülle <strong>der</strong> Macht« verfüge, aber<br />
nichtsdestoweniger bereit sei, »alle wahrhaft wertvollen Hinweise« anzuhören: wenn<br />
auch eine absolute, blieb es doch eine aufgeklärte Regierung. In dem fünfgliedrigen<br />
Präsidium, unter Awksentjews Vorsitz, ist ein Platz den Bolschewiki zugedacht: er bleibt<br />
unbesetzt. Den Regisseuren <strong>der</strong> kläglichen und unheiteren Komödie war übel zumute.<br />
Das ganze Interesse <strong>der</strong> trübseligen Eröffnung an dem trübseligen regnerischen Tage war<br />
von vornherein auf das bevorstehende Auftreten <strong>der</strong> Bolschewiki konzentriert. In den<br />
Couloirs des Mariinski-Palais verbreitete sich, nach Suchanows Worten, das »sensationelle<br />
Gerücht: Trotzki hätte mit einer Mehrheit von zwei bis drei Stimmen gesiegt ... und<br />
die Bolschewiki würden bald das Vorparlament verlassen«. In Wirklichkeit war <strong>der</strong><br />
Entschluß, demonstrativ das Mariinski-Palais zu verlassen, am 5. in <strong>der</strong> Sitzung <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Fraktion mit allen Stimmen gegen eine gefaßt worden: so stark war<br />
die Verschiebung nach links seit den letzten zwei Wochen! Nur Kamenjew bewahrte<br />
Treue <strong>der</strong> ursprünglichen Position, o<strong>der</strong> richtiger, nur er allein wagte sie zu verteidigen.<br />
In einer beson<strong>der</strong>en, an das Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei adressierten Erklärung bezeichnete<br />
Kamenjew ohne Umschweife den eingeschlagenen Kurs als »ganz gefährlich für die<br />
Partei«. Die undurchsichtigen Pläne <strong>der</strong> Bolschewiki riefen eine gewisse Unruhe beim<br />
Vorparlament hervor: man befürchtete eigentlich nicht eine Erschütterung des Regimes,<br />
son<strong>der</strong>n einen »Skandal« vor dem Antlitz <strong>der</strong> alliierten Diplomaten, die von <strong>der</strong> Mehrheit<br />
soeben mit <strong>der</strong> gebührenden Salve patriotischen Beifalls begrüßt worden waren. Suchanow<br />
erzählt, wie eine offizielle Persönlichkeit zu den Bolschewiki abgeordnet wurde -<br />
Awksentjew selbst - zum Zwecke einer sondierenden Anfrage: Was wird geschehen?<br />
»Lappalien«, antwortete Trotzki, »Lappalien, nur ein kleiner Pistolenschuß.«<br />
Nach Eröffnung <strong>der</strong> Sitzung erhielt Trotzki gemäß dem von <strong>der</strong> Reichsduma erblich<br />
übernommenen Reglement zehn Minuten zu einer außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung stehenden<br />
Erklärung namens <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion. Im Saale verbreitet sich gespanntes<br />
Schweigen. Die Deklaration beginnt mit <strong>der</strong> Feststellung, die Regierung sei jetzt<br />
ebenso unverantwortlich wie vor <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, die angeblich einberufen<br />
worden war zur Zähmung Kerenskis, und die Vertreter <strong>der</strong> besitzenden Klassen seien in<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 585
einer Anzahl in den Provisorischen Rat hineingegangen, auf die sie nicht das geringste<br />
Anrecht hätten. Wäre die Bourgeoisie tatsächlich auf die Konstituierende Versammlung<br />
in an<strong>der</strong>thalb Monaten eingestellt, ihre Führer hätten keine Ursache, jetzt mit solcher<br />
Erbitterung die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Macht selbst vor einer untergeschobenen Vertretung<br />
zu verteidigen. »Die ganze Weisheit liegt darin, daß die bürgerlichen Klassen sich zur<br />
Aufgabe gestellt hahen, die Konstituierende Versammlung zu sprengen.« Der Hieb sitzt.<br />
Um so stürmischer protestiert <strong>der</strong> rechte Flügel. Ohne vom Text <strong>der</strong> Deklaration<br />
abzuweichen, geißelt <strong>der</strong> Redner die Industrie-, Agrar- und Ernährungspolitik <strong>der</strong> Regierung:<br />
man könnte auch dann keinen an<strong>der</strong>en Kurs treiben, wenn man sich bewußt das<br />
Ziel gestellt hätte, die Massen auf den Weg des Aufstandes zu stoßen. »Der Gedanke, die<br />
revolutionäre Hauptstadt den deutschen Truppen preiszugeben ... wird geduldet als<br />
natürliches Glied <strong>der</strong> Gesamtpolitik, die die konterrevolutionäre Verschwörung ...<br />
erleichtern soll.« Proteste gehen in Sturm über. Schreie: Berlin! Deutsches Gold!<br />
Plombierter Wagen! und auf diesem Hintergrunde, wie Flaschensplitter im Schmutz -<br />
Gossenflüche. So etwas hatte sich noch nie, auch nicht während <strong>der</strong> heißesten Kämpfe<br />
im schmutzigen, verwahrlosten, von Soldaten bespuckten Smolny, abgespielt. »Wir<br />
brauchten nur in die gute Gesellschaft des Mariinski-Palais zu geraten ...« schreibt<br />
Suchanow, »damit sich sogleich jene Budikenatmosphäre einstellte, die in <strong>der</strong> konzessionierten<br />
Reichsduma geherrscht hatte.«<br />
Sich den Weg bahnend durch Haßausbrüche, die mit Momenten <strong>der</strong> Beruhigung<br />
abwechseln, schließt <strong>der</strong> Redner: »Wir, die Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki, erklären: mit<br />
dieser Regierung des Volksbetrugs und mit diesem Rat des konterrevolutionären<br />
Gewährenlassens haben wir nichts gemein ... Indem wir den Provisorischen Rat<br />
verlassen, appellieren wir an die Wachsamkeit und den Mut <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten und<br />
Bauern ganz Rußlands. Petrograd ist in Gefahr! Die <strong>Revolution</strong> ist in Gefahr! Das<br />
Volk ist in Gefahr! ... Wir wenden uns an das Volk. Alle Macht den Sowjets!«<br />
Der Redner tritt von <strong>der</strong> Tribüne ab. Einige Dutzend Bolschewiki verlassen den Saal,<br />
begleitet von Flüchen. Nach sorgenvollen Minuten ist die Mehrheit geneigt, erleichtert<br />
aufzuatmen. Entfernt haben sich lediglich die Bolschewiki - die Blüte <strong>der</strong> Nation bleibt<br />
auf dem Posten. Nur <strong>der</strong> linke Flügel <strong>der</strong> Versöhnler duckte sich unter dem Hieb, <strong>der</strong><br />
scheinbar nicht gegen sie geführt war. »Wir, die nächsten Nachbarn <strong>der</strong> Bolschewiki«,<br />
gesteht Suchanow, »saßen da völlig nie<strong>der</strong>geschmettert durch all das Vorgefallene.« Die<br />
reinen Ritter des Wortes verspürten, daß die Zeit <strong>der</strong> Worte vorbei war.<br />
Außenminister Tereschtschenko informierte in einem Geheimtelegramm die <strong>russischen</strong><br />
Gesandten über die Eröffnung des Vorparlaments: »Die erste Sitzung ist ganz farblos<br />
verlaufen mit Ausnahme eines von den Bolschewiki veranstalteten Skandals.« Der historische<br />
Bruch des Proletariats mit <strong>der</strong> Staatsmechanik <strong>der</strong> Bourgeoisie wurde von diesen<br />
Menschen als einfacher "Skandal" aufgefaßt. Die bürgerliche Presse versäumte die<br />
Gelegenheit nicht, die Regierung mit Berufung auf die Entschlossenheit <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
anzupeitschen: die Herren Minister würden das Land aus <strong>der</strong> Anarchie nur dann hinausführen<br />
können, »wenn sie ebensoviel Entschlossenheit und Tatwillen besitzen werden,<br />
wie <strong>der</strong> Genosse Trotzki«. Als hätte es sich um die Entschlossenheit und den Willen<br />
einzelner gehandelt und nicht um das historische Schicksal von Klassen. Und als hätte<br />
sich die Auslese <strong>der</strong> Menschen und Charaktere unabhängig von den historischen Aufgaben<br />
vollzogen. »Sie redeten und handelten«, schrieb Miljukow anläßlich des Auszuges<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 586
<strong>der</strong> Bolschewiki aus dem Vorparlament, »wie Menschen, die hinter sich eine Macht<br />
fühlen, die wissen, daß <strong>der</strong> morgige Tag ihne gehört.«<br />
Der Verlust <strong>der</strong> Monsundinseln, die wachsende Bedrohung Petrograds, <strong>der</strong> Auszug <strong>der</strong><br />
Bolschewiki aus dem Vorparlament auf die Straße zwangen die Versöhnler darüber<br />
nachzudenken, was weiter mit dem Krieg werden solle. Nach dreitägiger Überlegung,<br />
gemeinsam mit dem Kriegs- und dem Marineminister, mit Kommissaren und Delegierten<br />
von Armeeorganisationen, fand endlich das Zentral-Exekutivkomitee einen rettenden<br />
Entschluß: »Auf <strong>der</strong> Teilnahme von Vertretern <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Demkratie an <strong>der</strong> Pariser<br />
Alliiertenkonferenz bestehen.« Nach neuen Mühen ernannte man zum Vertreter Skobeljew.<br />
Es wurde eine detaillierte Instruktion ausgearbeitet: Frieden ohne Annexionen und<br />
Kontributionen, Neutralisierung <strong>der</strong> Meerengen, auch des Suez- und des Panamakanals -<br />
<strong>der</strong> geographische Horizont <strong>der</strong> Versöhnler war weiter als <strong>der</strong> politische -, Abschaffung<br />
<strong>der</strong> Geheimdiplomatie, allmähliche Abrüstung. Das Zentral-Exekutivkomitee setzte<br />
auseinan<strong>der</strong>, daß die Teilnahine seines Delegierten an den Pariser Beratungen »den<br />
Zweck verfolgt, einen Druck auf die Alliierten auszuüben«. Ein Druck Skobeljews auf<br />
Frankreich, England und die Vereinigten Staaten! Die Kadettenzeitung stellte die giftige<br />
Frage: Was wird Skobeijew tun, wenn die Alliierten seine Bedingungen ungeniert ablehnen?<br />
»Wird er mit einem neuen Aufruf an die Völker <strong>der</strong> Erde drohen?« Ach, die<br />
Versöhnler schämten sich schon längst ihres eigenen alten Aufrufs.<br />
Während es plante, den Vereinigten Staaten die Neutralisierung des Panamakanals<br />
aufzuzwingen, erwies sich das Zentral-Exekutivkomitee in Wirklichkeit unfähig, einen<br />
Druck auch nur auf das Winterpalais auszuüben. Am 12. schickte Kerenski einen<br />
umfangreichen Brief an Lloyd George voll zärtlicher Vorwürfe, bitterer Klagen und<br />
heißer Versprechungen. Die Front befände sich »in besserem Zustande als im vorigen<br />
Frühling«. Gewiß, die defätistische Propaganda - <strong>der</strong> russische Premier beklagt sich bei<br />
dem britischen über die <strong>russischen</strong> Bolschewiki - habe gehin<strong>der</strong>t, alle gestellten Ziele<br />
durchzusetzen. Von Frieden jedoch könne nicht die Rede sein. Die Regierung kenne nur<br />
die eine Frage: »Wie den Krieg fortsetzen?« Begreiflicherweise bat Kerenski unter<br />
Verpfändung seines Patriotismus um Kredite.<br />
Das von Bolschewiki befreite Vorparlament war ebenfalls nicht müßig: am 10. begannen<br />
die Debatten über Hebung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee. Der Dialog, <strong>der</strong> drei<br />
qualvolle Sitzungen beanspruchte, entwickelte sich nach dem unabän<strong>der</strong>lichen Schema:<br />
»man muß die Armee überzeugen, daß sie für Frieden und Demokratie kämpft«, sagte<br />
man links. Überzeugen ist unmöglich, man muß sie zwingen, erwi<strong>der</strong>te man rechts.<br />
Zwangsmittel sind nicht vorhanden: um zwingen zu können, muß man anfangs, wenn<br />
auch nur teilweise, überzeugen, antworteten die Versöhnler. Im Überzeugen sind die<br />
Bolschewiken euch überlegen, erwi<strong>der</strong>ten die Kadetten. Beide Seiten hatten recht. Aber<br />
auch <strong>der</strong> Ertrinkende hat recht, wenn er vor dem Versinken schreit.<br />
Am 18. kam die Entscheidungsstunde, die an <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Dinge nichts än<strong>der</strong>n<br />
konnte. Die Formel <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre erhielt fünfündneunzig gegen einhun<strong>der</strong>tundsiebenundzwanzig<br />
Stimmen bei fünfzig Stimmenthaltungen. Die Formel <strong>der</strong> Rechten -<br />
einhun<strong>der</strong>tfünfunddreißig gegen einhun<strong>der</strong>tneununddreißig Stimmen. Erstaunlich, es gibt<br />
keine Mehrheit! Im Saal herrscht, nach den Zeitungsberichten, »allgemeine Bewegung<br />
und Verlegenheit«. Trotz <strong>der</strong> Einheitlichkeit des Zieles war die Blüte <strong>der</strong> Nation nicht<br />
fähig, auch nur einen platonischen Beschluß zu fassen über die akuteste Frage des natio-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 587
nalen Lebens. Das war kein Zufall: dasselbe wie<strong>der</strong>holte sich tagein, tagaus bei allen<br />
übrigen Fragen in Kommissionen wie im Plenum. Die Meinungssplitter ließen sich nicht<br />
summieren. Sämtliche Gruppen lebten von ungreifbaren Schattierungen eines politischen<br />
Gedankens: <strong>der</strong> Gedanke selbst fehlte. Vielleicht war er mit den Bolschewiki auf die<br />
Straße gegangen ...? Die Sackgasse des Vorparlaments war die Sackgasse des Regimes.<br />
Die Armee umzustimmen war schwer, sie zu zwingen unmöglich. Auf die neue<br />
Zurechtweisung Kerenskis an die Adresse <strong>der</strong> Baltischen Flotte, die den Kämplen standhielt<br />
und Opfer trug, wandte sich <strong>der</strong> Kongreß <strong>der</strong> Seeleute an das Zentral-Exekutivkomitee<br />
mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, aus den Reihen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung eine Person zu<br />
entfernen, »die durch ihre schamlosen politischen Erpressungen die Große <strong>Revolution</strong><br />
schändet und zugrunde richtet«. Eine solche Sprache hatte Kerenski früher auch von den<br />
Matrosen nicht vernommen. Das Distriktkomitee <strong>der</strong> Armee, <strong>der</strong> Flotte und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Arbeiter in Finnland, das als Macht auftrat, hielt Regierungsfrachten zurück.<br />
Kerenski drohte Verhaftung <strong>der</strong> Sowjetkommissare an. Die Antwort lautete: »Das<br />
Distriktkomitee nimmt die Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung mit Ruhe<br />
entgegen.« Kerenski schwieg. Die Baltische Flotte befand sich eigentlich bereits mitten<br />
im Aufstande.<br />
An <strong>der</strong> Front <strong>der</strong> Landtruppen war die Sache noch nicht so weit gediehen, entwickelte<br />
sich aber in gleicher Richtung. Die Ernährungslage verschlechterte sich während des<br />
Oktober rapid. Der Höchstkommandierende <strong>der</strong> Nordfront berichtete, <strong>der</strong> Hunger sei<br />
»Hauptursache <strong>der</strong> moralischen Zersetzung <strong>der</strong> Armee«. Während die Versöhnlerspitzen<br />
an <strong>der</strong> Front fortfuhren, allerdings nunmehr bloß hinter dem Rücken <strong>der</strong> Soldaten, von<br />
Hebung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee zu reden, erhob unten ein Regiment nach dem<br />
an<strong>der</strong>en die For<strong>der</strong>ung nach Veröffentlichung <strong>der</strong> Geheimdokumente und sofortigem<br />
Friedensangebot. Schdanow, Kommissar <strong>der</strong> Westfront, meldete in den ersten Oktobertagen:<br />
»Die Stimmung ist äußerst unruhig in Verbindung mit den nahenden Frösten und<br />
<strong>der</strong> Ernährungsverschlechterung ... Ausgesprochenen Erfolg haben die Bolschewiki.«<br />
Die Regierungsinstitutionen an <strong>der</strong> Front schwebten in <strong>der</strong> Luft. Der Kommissar <strong>der</strong> 2.<br />
Armee meldet, daß die Kriegsgerichte nicht tagen könnten, da die Soldaten sich weigern,<br />
als Zeugen zu erscheinen. Das gegenseitige Verhältnis zwischen Kommandobestand und<br />
Soldaten hat sich zugespitzt. Man hält die Offiziere für die Schuldigen an <strong>der</strong> Kriegsverlängerung.<br />
Die Feindschaft <strong>der</strong> Soldaten gegen Regierung und Kommandobestand hatte<br />
sich bereits längst auf die seit <strong>Revolution</strong>sbeginn nicht erneuerten Armeekomitees<br />
übertragen. Über <strong>der</strong>en Köpfe hinweg schicken die Regimenter Delegierte nach Petrograd,<br />
zum Sowjet, mit Beschwerden über die unerträgliche Lage im Schützengraben,<br />
ohne Brot, ohne Ausrüstung, ohne Zuversicht zum Krieg. An <strong>der</strong> rumänischen Front, wo<br />
die Bolschewiki sehr schwach sind, weigern sich ganze Regimenter, zu schießen. »In<br />
zwei bis drei Wochen werden die Soldaten selbst Waffenstillstand erklären und die<br />
Waffen nie<strong>der</strong>legen.« Delegierte einer <strong>der</strong> Divisionen berichten: »Die Soldaten haben<br />
beschlossen, beim ersten Schneefall heimzukehren.« Eine Delegation des 33. Korps<br />
drohte im Plenum des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets: wenn es keinen wirklichen Kampf um<br />
Frieden geben sollte, »werden die Soldaten selbst die Macht in ihre Hände nehmen und<br />
Waffenstillstand schließen«. Ein Kommissar <strong>der</strong> 2. Armee meldet dem Kriegsminister:<br />
»Es wird nicht selten davon gesprochen, daß man mit Eintreten <strong>der</strong> Kälte die Positionen<br />
verlassen wird.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 588
Die nach den Julitagen fast abgebrochene Verbrü<strong>der</strong>ung lebte wie<strong>der</strong> auf und wuchs<br />
schnell an. Wie<strong>der</strong> häuften sich nach einer Pause die Fälle, wo Soldaten Offiziere nicht<br />
nur verhafteten, son<strong>der</strong>n die verhaßtesten nie<strong>der</strong>machten. Das Strafgericht vollzog sich<br />
fast offen vor den Augen <strong>der</strong> Soldaten. Niemand trat dazwischen, die Mehrheit wollte<br />
nicht, eine kleine Min<strong>der</strong>heit wagte nicht. Dem Täter gelang es stets zu entkommen, als<br />
wäre er spurlos in <strong>der</strong> Soldatenmasse untergetaucht. Ein General schrieb: »Krampfhaft<br />
klammem wir uns an etwas, flehen um irgendein Wun<strong>der</strong>, aber die Mehrheit begreift, daß<br />
es keine Rettung mehr gibt.«<br />
Heimtücke mit Stumpfsinn verbindend, hörten die patriotischen Zeitungen nicht auf,<br />
von Fortsetzung des Krieges, Offensive und Sieg zu schreiben. Die Generale schüttelten<br />
die Köpfe, einige stimmten zweideutig ein. »Jetzt von einer Offensive zu träumen«,<br />
schrieb am 7. Baron Budberg, Kommandeur eines bei Dwinsk stehenden Korps, »können<br />
nur völlig wahnsinnige Menschen.« Schon einen Tag später ist er gezwungen, in das<br />
gleiche Tagebuch einzutragen: »Bin betäubt und außer mir über erhaltene Direktiven für<br />
eine nicht später als am 20. Oktober bevorstehende Offensive.« Die Stäbe, die an nichts<br />
mehr glaubten und alles aufgegeben hatten, entwarfen Pläne neuer Operationen. Es gab<br />
nicht wenig Generale, die die letzte Rettung erblickten in einer Wie<strong>der</strong>holung des Kornilowschen<br />
Experiments mit Riga in grandiosem Maßstabe: die Armee in einen Kampf<br />
verwickeln und versuchen, die Nie<strong>der</strong>lage auf das Haupt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu wenden.<br />
Auf Initiative des Kriegsministers Werchowski wurde beschlossen, die älteren<br />
Jahrgänge zu beurlauben. Die Eisenbahnen krachten unter dem Andrang heimkehren<strong>der</strong><br />
Soldaten. An den überlasteten Waggons brachen die Fe<strong>der</strong>n und wurden die Fußböden<br />
eingedrückt. Die Stimmung <strong>der</strong> Zurückbleibenden wird durch all das nicht besser. »Die<br />
Schützengräben verfallen«, schreibt Budberg. »Die Verbindungsgänge sind<br />
überschwemmt; überall Abfall und Exkremente ... Die Soldaten weigern sich<br />
entschieden, Aufräumungsarbeiten in den Schützengräben zu verrichten ... Es ist<br />
schrecklich, darüber nachzudenken, wohin das führen wird, wenn <strong>der</strong> Frühling kommt<br />
und alles zu faulen und zu verwesen beginnt.« Im Zustande erbitterter Passivität sträubten<br />
sich die Soldaten durchwegs sogar gegen Schutzimpfungen: das wurde ebenfalls zu einer<br />
Form des Kampfes gegen den Krieg.<br />
Nach vergeblichen Versuchen, die Kampffähigkeit <strong>der</strong> Armee durch Einschränkung<br />
ihrer Zahl zu heben, kam Werchowski plötzlich zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung, das Land retten<br />
könne nur <strong>der</strong> Frieden. In einer Privatberatung mit Kadettenführern, die <strong>der</strong> junge und<br />
naive Minister auf seine Seite zu ziehen hoffte, entwickelte Werchowski ein Bild des<br />
materiellen und geistigen Zerfalls <strong>der</strong> Armee: »Alle Versuche, den Krieg fortzusetzen,<br />
können die Katastrophe nur näher bringen.« Den Kadetten konnte das nicht verborgen<br />
bleiben, aber unter dem Schweigen <strong>der</strong> übrigen zuckte Miljukow verächtlich die<br />
Achseln: »Rußlands Würde«, »Treue zu den Alliierten ...« Ohne auch nur an eines dieser<br />
Worte zu glauben, war <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Bourgeoisie hartnäckig bestrebt, die <strong>Revolution</strong><br />
unter den Ruinen und Leichen des Krieges zu begraben. Werchowski bewies politischen<br />
Mut: Ohne erst die Regierung zu informieren o<strong>der</strong> zu warnen, trat er am 20. in einer<br />
Kommission des Vorparlaments auf mit einer Erklärung über die Notwendigkeit eines<br />
sofortigen Friedensschlusses, unabhängig von Zustimmung o<strong>der</strong> Nichtzustimmung <strong>der</strong><br />
Alliierten. Wütend wehrten sich alle jene gegen ihn, die ihm in Privatgesprächen<br />
zugestimmt hatten. Die patriotische Presse schrieb, <strong>der</strong> Kriegsminister »hat sich auf den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 589
Wagentritt des Genossen Trotzki geschwungen«. Burzew spielte auf das deutsche Gold<br />
an. Werchowski wurde beurlaubt. Unter vier Augen sagten sich die Patrioten: im Grunde<br />
hat er recht. Budberg wahrte Vorsicht sogar in seinem Tagebuch: »Vom Standpunkt <strong>der</strong><br />
Treue zum gegebenen Wort«, schrieb er, »ist <strong>der</strong> Vorschlag selbstverständlich hinterhältig,<br />
dagegen aber vom Standpunkte Rußlands egoistischer Interessen ist es vielleicht das<br />
einzige, was Hoffnung auf einen rettenden Ausweg bietet.« Gleichzeitig beichtet <strong>der</strong><br />
Baron seinen Neid auf die deutschen Generale, denen »das Schicksal das Glück beschert,<br />
Schöpfer von Siegen zu sein«. Er sah nicht voraus, daß die Reihe bald auch an die<br />
deutschen Generale kommen sollte. Diese Menschen vermochten überhaupt nichts<br />
vorauszusehen, auch nicht die Klügsten unter ihnen. Die Bolschewiki sahen vieles<br />
voraus, und das war ihre Stärke.<br />
Der Auszug aus dem Vorparlament sprengte in den Augen des Volkes die letzten<br />
Brücken, die die Partei des Aufstandes mit <strong>der</strong> offiziellen Gesellschaft verbanden. Mit<br />
neuer Energie - die Nähe des Zieles verdoppelt die Kräfte - gingen die Bolschewiki an<br />
die Agitation, die die Gegner Demagogie nannten, weil sie das auf die Plätze hinaustrug,<br />
was man sonst in Verhandlungszimmem und Kanzleien verbarg. Die Überzeugungskraft<br />
dieser unermüdlichen Predigt ergab sich daraus, daß die Bolschewiki den Entwicklungsgang<br />
klar begriffen, ihm ihre Politik unterordneten, die Massen nicht fürchteten,<br />
unerschütterlich an ihr Recht und ihren Sieg glaubten. Das Volk wurde nicht müde, sie<br />
anzuhören. Die Massen hatten das Bedürfnis, zusammenzuhalten, einje<strong>der</strong> wollte sich an<br />
den an<strong>der</strong>en überprüfen, und alle beobachteten immer aufmerksamer und gespannter, wie<br />
sich <strong>der</strong> gleiche Gedanke mit all seinen verschiedenen Schattierungen und Strichen in<br />
ihrem Bewußtsein wälzte. Endlose Mengen standen an Zirkussen und an<strong>der</strong>en großen<br />
Gebäuden herum, wo die populärsten Bolschewiki mit letzten Schlußfolgerungen und<br />
letzten Appeflen auftraten.<br />
Die Zahl <strong>der</strong> führenden Agitatoren verringerte sich stark gegen Oktober. Es fehlte vor<br />
allem Lenin als Agitator und mehr noch als unmittelbarer Tagesinspirator. Es fehlten<br />
seine einfachen und tiefen Verallgemeinerungen, die sich fest in das Bewußtsein <strong>der</strong><br />
Massen einbohrten, seine prägnanten, dem Volke abgelauschten und ihm zurückgegebenen<br />
Ausdrücke. Es fehlte <strong>der</strong> hervorragende Agitator Sinowjew: vor den Verfolgungen<br />
wegen <strong>der</strong> Teilnahme am Juli-"Aufstande" verborgen, hatte er sich entschieden gegen<br />
den Oktoberaufstand gewandt und war damit für die ganze kritische Periode vom Betätigungsfelde<br />
verschwunden. Kamenjew, unersetzlicher Propagandist und erfahrener politischer<br />
Parteiinstrukteur, verurteilte den Kurs auf den Aufstand, glaubte nicht an den Sieg,<br />
sah eine Katastrophe voraus und trat finster in den Schatten. Swerdlow, von Natur mehr<br />
Organisator als Agitator, trat häufig in Massenversammlungen auf, und sein gleichmäßiger,<br />
mächtiger und nie ermüden<strong>der</strong> Baß verbreitete ruhige Sicherheit. Stalin war we<strong>der</strong><br />
Agitator noch Redner. Mehr als einmal figurierte er als Berichterstatter bei Parteiberatungen.<br />
Aber sprach er auch nur einmal in einer Massenversammlung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>? In<br />
den Dokumenten und Erinnerungen sind diesbezüglich keine Spuren erhalten geblieben.<br />
Eindrucksvolle Agitation führten Wolodarski, Laschewitsch, Kollontay,<br />
Tschudnowski. Hinterher kamen Dutzende von Agitatoren kleineren Kalibers. Mit Interesse<br />
und Sympathie, in die sich bei den Aufgeklärteren Nachsichtigkeit mengte, hörte<br />
man Lunatscharski an, einen erfahrenen Redner, <strong>der</strong> eine Tatsache, eine Verallgemeinerung,<br />
Pathos und Scherz anzubringen wußte, <strong>der</strong> aber keinen Anspruch darauf erhob,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 590
jemand zu führen: er hatte selbst nötig, geführt zu werden. Je näher <strong>der</strong> Umwälzung,<br />
desto rascher verlor Lunatscharski an Farbe und verblaßte.<br />
Suchanow erzählt von dem Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets: »Sich von <strong>der</strong><br />
Arbeit im <strong>Revolution</strong>sstab losreißend, flog er vom Obuchowski-Werk zum<br />
Truboschtschny, vom Putilow zum Baltijski, aus <strong>der</strong> Manege in die Kasernen, und es<br />
war, als spräche er gleichzeitig an allen Orten. Es kannte und hörte ihn je<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldat. Sein Einfluß - bei den Massen und im Stab - war überwältigend.<br />
Er war die Zentralfigur dieser Tage und <strong>der</strong> Hauptheld dieser bedeutsamen<br />
Seite <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>.«<br />
Doch unermeßlich wirksamer war in dieser letzten Periode vor <strong>der</strong> Umwälzung jene<br />
molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen<br />
einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend.<br />
Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Ka<strong>der</strong><br />
geschaffen, Hun<strong>der</strong>te und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren,<br />
die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben, und die gerade darum Tatsachen<br />
und Menschen mit einer Treffsicherheit einschätzten, wie sie Rednern akademischen<br />
Schlages längst nicht immer gegeben ist. An erster Stelle standen die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter,<br />
erbliche Proletarier, die eine Schicht Agitatoren und Organisatoren geschaffen hatten<br />
von ausnehmend revolutionärer Stählung, hoher politischer Kultur, selbständig in<br />
Denken, Wort und Tat. Dreher, Schlosser, Schmiede, Erzieher von Werken und<br />
Fabriken, hatten um sich schon ihre Schulen und ihre Schüler, spätere Erbauer <strong>der</strong><br />
Sowjetrepublik. Die baltischen Matrosen, engste Kampfgefährten <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter,<br />
in hohem Maße <strong>der</strong>en Mitte entstammend, haben Brigaden von Agitatoren hervorgebracht,<br />
die im Sturm rückständige Regimenter, Kreisstädte, Muschikdörfer eroberten.<br />
Eine verallgemeinernde Formel, im Zirkus Mo<strong>der</strong>n von einem <strong>der</strong> revolutionären Führer<br />
hingeworfen, füllte sich in Hun<strong>der</strong>ten denken<strong>der</strong> Köpfe mit Fleisch und Blut und machte<br />
dann einen Kreislauf durch das ganze Land.<br />
Aus den baltischen Provinzen, aus Polen, Litauen wurden Tausende revolutionärer<br />
Arbeiter und Soldaten beim Rückzug <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Armee zusammen mit den Industriebetrieben<br />
o<strong>der</strong> einzeln evakuiert: alles das waren Agitatoren gegen den Krieg und seine<br />
Schuldigen. Lettische Bolschewiki, von ihrem Heimatboden getrennt und völlig auf dem<br />
Boden <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> stehend, überzeugt, trotzig, entschlossen, leisteten tagaus tagein<br />
Wühlarbeit in allen Teilen des Landes. Die eckigen Gesichter, <strong>der</strong> harte Akzent und die<br />
nicht selten gebrochenen <strong>russischen</strong> Sätze verliehen beson<strong>der</strong>e Ausdruckskraft ihren<br />
ungebändigten Mahnungen zum Aufstande.<br />
Die Masse duldete nun nicht mehr in ihrer Mitte Schwankende, Zweifelnde, Neutrale.<br />
Sie war bestrebt, alle zu erfassen, mitzureißen, zu überzeugen, zu gewinnen. Betriebe<br />
entsandten gemeinsam mit den Regimentern Delegierte an die Front. Die Schützengräben<br />
verbanden sich mit den Arbeitern und Bauern des benachbarten Hinterlandes. In den <strong>der</strong><br />
Front nahegelegenen Städten fanden zahllose Meetings, Beratungen, Konferenzen statt,<br />
wo Soldaten und Matrosen ihre Handlungen in Übereinstimmung brachten mit denen <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Bauern: das rückständige, an <strong>der</strong> Front gelegene Weißrußland wurde auf<br />
diese Weise für den Bolschewismus gewonnen.<br />
Wo die lokale Parteileitung unentschieden, abwartend war, wie zum Beispiel in Kiew,<br />
Woronesch und an zahlreichen an<strong>der</strong>en Orten, verfielen die Massen nicht selten in Passi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 591
vität. Zur Rechtfertigung ihrer Politik verwiesen die Führer auf die Verfallsstimmungen,<br />
die sie selbst hervorgerufen hatten. Umgekehrt: »Je entschiedener und mutiger <strong>der</strong><br />
Appell zum Aufstande war«, schreibt Powolschski, einer <strong>der</strong> Kasaner Agitatoren, »um so<br />
vertrauensseliger und freundschaftlicher benahm sich die Soldatenmasse dem Redner<br />
gegenüber.«<br />
Die Fabriken und Regimenter von Petrograd und Moskau klopfen immer beharrlicher<br />
an die Holztore des Dorfes. Die Arbeiter veranstalten untereinan<strong>der</strong> Kollekten und schikken<br />
Delegierte in ihre heimatlichen Gouvernements. Regimenter beschließen, die Bauern<br />
zur Unterstützung <strong>der</strong> Bolschewiki aufzurufen. Arbeiterbetriebe außerhalb <strong>der</strong> Stadt<br />
veranstalten Pilgerfahrten in die umliegenden Dörfer, tragen Zeitungen aus, gründen<br />
bolschewistische Zellen. Von diesen Streifzügen bringen sie in den Pupillen einen<br />
Abglanz heim von den Bränden des Bauernkrieges.<br />
Der Bolschewismus erobert das Land. Die Bolschewiki werden eine unüberwindliche<br />
Macht. Mit ihnen geht das Volk. Die Stadtdumas von Kronstadt, Zarizyn, Kostroma,<br />
Schuja, hervorgegangen aus allgemeinen Wahlen, sind in Händen <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Zweiundfünfzig Prozent <strong>der</strong> Stimmen erhalten die Bolschewiki bei den Wahlen zu den<br />
Bezirksdumas in Moskau. Im fernen friedlichen Tomsk wie auch in dem gar nicht<br />
industriellen Samara nehmen sie in <strong>der</strong> Duma den ersten Platz ein. Von vier Vertretern<br />
des Schlüsselburger Kreissemstwos gehen drei Bolschewiki durch. Im Ligowsker Kreissemstwos<br />
erhalten die Bolschewiki fünfzig Prozent <strong>der</strong> Stimmen. Nicht überall steht es<br />
so günstig. Aber überall verän<strong>der</strong>t es sich in gleicher Richtung: das spezifische Gewicht<br />
<strong>der</strong> bolschewistischen Partei steigt rapid.<br />
Viel krasser jedoch zeigte sich die Bolschewisierung <strong>der</strong> Massen in den Klassenorganisationen.<br />
Die Gewerkschaften vereinigten in <strong>der</strong> Hauptstadt über eine halbe Million<br />
Arbeiter. Jene Menschewiki, die noch in einigen Gewerkschaften die Führung in Händen<br />
hielten, fühlten sich selbst als Überbleibsel des gestrigen Tages. Welcher Teil des Proletariats<br />
sich auch versammelte und welches auch seine unmittelbaren Aufgaben sein<br />
mochten, er kam unvermeidlich zu bolschewistischen Schlußfolgerungen. Und nicht<br />
zufällig: Gewerkschaften, Fabrikkomitees, ökonomische o<strong>der</strong> kulturelle Vereinigungen<br />
<strong>der</strong> Arbeiterklasse, ständige o<strong>der</strong> provisonsche, waren durch die Gesamtsituation bei<br />
je<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>aufgabe gezwungen, stets die gleiche Frage zu stellen: Wer ist Herr im<br />
Hause?<br />
Die Arbeiter <strong>der</strong> Fabtiken des Artillerieamtes, zusammenberufen zu einer Konferenz<br />
zwecks Regulierung <strong>der</strong> Beziehungen mit <strong>der</strong> Administration, sagen, wie das zu erreichen<br />
sei: durch die Sowjetmacht. Das ist bereits keine hohle Formel, son<strong>der</strong>n ein<br />
Pregramm <strong>der</strong> Wirtschaftsrettung. Indem sie sich <strong>der</strong> Macht nähern, gehen die Arbeiter<br />
immer konkreter an die Fragen <strong>der</strong> Industrie heran: die Artilleriekonferenz schuf sogar<br />
ein beson<strong>der</strong>es Zentrum zur Ausarbeitung von Methoden für die Umstellung <strong>der</strong> Kriegsbetriebe<br />
auf Friedensproduktion.<br />
Die Moskauer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees bezeichnete es als notwendig, daß <strong>der</strong><br />
lokale Sowjet künftig durch Verordnungen über alle Streikkonflikte entscheide, aus<br />
eigener Machtvollkommenheit durch Unternehmer geschlossene Betriebe wie<strong>der</strong>eröffne<br />
und durch Entsendung eigener Delegierten nach Sibirien und dem Donezbecken die<br />
Betriebe mit Brot und Kohle versorge. Die Petrogra<strong>der</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees<br />
widmet ihre Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Agrarfrage und arbeitet aufgrund eines Referats von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 592
Trotzki ein Manifest an die Bauern aus: das Proletariat fühlt sich nicht nur als beson<strong>der</strong>e<br />
Klasse, son<strong>der</strong>n auch als Führer des Volkes.<br />
Die allrussische Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees, in <strong>der</strong> zweiten Oktoberhälfte, bringt<br />
die Frage <strong>der</strong> Arbeiterkontrolle auf die Höhe einer allnationalen Aufgabe. »Die Arbeiter<br />
sind an <strong>der</strong> geordneten und ununterbrochenen Arbeit <strong>der</strong> Unternehmen interessierter als<br />
die Besitzer.« Die Arheiterkontrolle »liegt im Interesse des gesamten Landes und muß<br />
unterstützt werden von <strong>der</strong> revolutionären Bauernschaft und <strong>der</strong> revolutionären Armee«.<br />
Die Resolution, die einer neuen ökonomischen Ordnung die Pforte öffnet, wird<br />
angenommen von den Vertretern sämtlicher Industrieunternehmen Rußlands gegen fünf<br />
Stimmen bei neun Stimmenthaltungen. Die wenigen, die sich <strong>der</strong> Abstimmung enthalten,<br />
sind jene alten Menschewiki, die ihrer Partei nicht mehr folgen können, aber sich noch<br />
nicht entschließen, offen die Hand für die bolschewistische Umwälzung zu erheben.<br />
Morgen werden sie es tun.<br />
Die erst ganz vor kurzem entstandenen demokratischen Munizipalitäten sterben ab,<br />
parallel mit den Organen <strong>der</strong> Regierungsgewalt. Die wichtigsten Aufgaben, wie Versorgung<br />
<strong>der</strong> Städte mit Wasser, Licht, Heizung, Lebensmitteln, fallen immer mehr den<br />
Sowjets und an<strong>der</strong>en Arbeiterorganisationen zu. Das Fabrikkomitee <strong>der</strong> Beleuchtungszentrale<br />
in Petrograd lief in <strong>der</strong> Stadt und Umgebung umher auf <strong>der</strong> Suche bald nach<br />
Kohle, bald nach Öl für die Turbinen, verschaffte dies wie jenes durch die Komitees<br />
an<strong>der</strong>er Betriebe, im Kampfe gegen Besitzer und Administration.<br />
Nein, die Macht <strong>der</strong> Sowjets war keine Schimäre, keine von Parteitheoretikem erklügelte,<br />
willkürliche Konstruktion. Sie wuchs unauffhaltsam von unten auf, aus<br />
Wirtschaftszerfall, Ohnmacht <strong>der</strong> Besitzenden, aus den Nöten <strong>der</strong> Massen; die Sowjets<br />
wurden in <strong>der</strong> Tat zur Macht - für Arbeiter, Soldaten, Bauern blieb kein an<strong>der</strong>er Weg<br />
übrig. Es war nicht mehr an <strong>der</strong> Zeit, über die Sowjetmacht zu Hügeln und zu streiten: es<br />
hieß sie verwirklichen.<br />
Auf dem ersten Sowjetkongreß, im Juni. war beschlossen worden, Kongresse alle drei<br />
Monate zu veranstalten. Das Zentral-Exekutivkomitee rief den zweiten Kongreß nicht<br />
nur nicht zur festgelegten Zeit ein, son<strong>der</strong>n bekundete die Absicht, ihn überhaupt nicht<br />
einzuberufen, um nicht einer feindlichen Mehrheit gegenübergestellt zu werden. Die<br />
Demokratische Beratung hatte zu ihrer Hauptaufgabe gehabt, die Sowjets zu verdrängen<br />
und sie durch Organe <strong>der</strong> "Demokratie" zu ersetzen. Doch erwies sich das als nicht so<br />
einfach. Die Sowjets waren nicht gewillt, den Platz, wem immer, zu räumen.<br />
Am 21. September, gegen Ende <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, erhob <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet die Stimme für schnellste Einberufung eines Sowjetkongresses. In diesem Sinne<br />
wurde nach den Referaten von Trotzki und dem Moskauer Gast Bucharin eine Resolution<br />
angenommen, die formell von <strong>der</strong> Notwendigkeit ausging, sich »auf die neue Welle<br />
<strong>der</strong> Konterrevolution« vorzubereiten. Das Programm <strong>der</strong> Defensive, das <strong>der</strong> künftigen<br />
Offensive den Weg bahnen sollte, stützte sich auf die Sowjets als die einzigen zu einem<br />
Kampfe fähigen Organisationen. Die Resolution for<strong>der</strong>te, daß die Sowjets ihre Positionen<br />
in den Massen festigen sollten. Wo die faktische Macht in ihren Händen sei, dürften<br />
sie sie keinesfalls entgleiten lassen. Die in den Kornilowtagen geschaffenen revolutionären<br />
Komitees müßten in Bereitschaft bleiben. »Für Zusammenschluß und einmütiges<br />
Vorgehen sämtlicher Sowjets in ihrem Kampfe gegen die heranrückende Gefahr und für<br />
die Entscheidung <strong>der</strong> Fragen über Organisierung <strong>der</strong> revolutionären Macht ist die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 593
unverzügliche Einberufüng des Sowjetkongresses notwendig.« So mündet die Verteidigungsresolution<br />
in den Sturz <strong>der</strong> Regierung. Nach dieser politischen Stimmgabel wird<br />
von nun an die Agitation bis zum Moment des Aufstandes verlaufen.<br />
Die zur Beratung zusammengekommenen Sowjetdelegierten stellten am nächsten Tage<br />
die Kongreßfrage vor dem Zentral-Exekutivkomitee. Die Bolschewiki for<strong>der</strong>ten Einberufung<br />
des Kongresses in zweiwöchiger Frist und beantragten o<strong>der</strong> richtiger drohten zu<br />
diesem Zwecke ein auf den Petrogra<strong>der</strong> und den Moskauer Sowjet sich stützendes<br />
Son<strong>der</strong>organ zu schaffen. In Wirklichkeit zogen sie vor, den Kongreß durch das alte<br />
Zentral-Exekutivkomitee einberufen zu lassen: das beseitigte von vornherein den Streit<br />
über die Rechtsgültigkeit des Kongresses und gestattete, die Versöhnler mit ihrer eigenen<br />
Hilfe zu stürzen. Die halbverschleierte Drohung <strong>der</strong> Bolschewiki verfehlte ihre Wirkung<br />
nicht: da sie es noch nicht wagten, mit <strong>der</strong> Sowjetlegalität zu brechen, erklärten die<br />
Führer des Zentral-Exekutivkomitees, sie würden niemand die Ausübung ihrer Pflichten<br />
anvertrauen. Der Kongreß wurde für den 20. Oktober, in weniger als einem Monat,<br />
angesetzt.<br />
Kaum aber waren die Provinzdelegierten auseinan<strong>der</strong>gefahren, als den Führern des<br />
Zentral-Exekutivkomitees plötzlich die Augen aufgingen: <strong>der</strong> Kongreß sei unzeitgemäß,<br />
er würde die örtlichen Arbeiter von <strong>der</strong> Wahlkampagne ablenken und <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung schaden. Die wirkliche Befürchtung bestand darin, <strong>der</strong> Kongreß<br />
könnte ein kraftvoller Prätendent auf die Macht werden; doch darüber schwieg man<br />
diplomatisch. Schon am 26. September stellte Dan, ohne sich um die notwendige Vorbereitung<br />
bemüht zu haben, beim Büro des Zentral-Exekutivkomitees einen Antrag auf<br />
Verschiebung des Kongresses.<br />
Mit den elementaren Prinzipien <strong>der</strong> Demokratie machten diese patentierten Demokraten<br />
am allerwenigsten Umstände. Soeben hatten sie den Beschluß <strong>der</strong> von ihnen einberufenen<br />
Demokratischen Beratung umgestoßen, <strong>der</strong> eine Koalition mit den Kadetten<br />
verwarf Jetzt bekundeten sie ihre souveräne Geringschätzung für die Sowjets, beginnend<br />
mit dem Petrogra<strong>der</strong>, auf dessen Schultern sie zur Macht emporgestiegen waren. Aber<br />
konnten sie denn in <strong>der</strong> Tat, ohne ihr Bündnis mit <strong>der</strong> Bourgeoisie zu zerreißen, den<br />
Hoffnungen und For<strong>der</strong>ungen von Dutzend Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern, die<br />
hinter den Sowjets standen, Rechnung tragen?<br />
Trotzki beantwortete den Vorschlag Dans dahingehend, <strong>der</strong> Kongreß würde in jedem<br />
Falle einberuien werden, wenn nicht auf konstitutionellem, so auf revolutionärem Wege.<br />
Das im allgemeinen so gefügige Büro lehnte es diesmal ab; dem Weg des sowjetischen<br />
Coup d'état zu folgen. Doch die kleine Nie<strong>der</strong>lage veranlaßte die Verschwörer<br />
keinesfalls, die Waffen zu strecken, im Gegenteil, stachelte sie gleichsam auf. Dan fand<br />
eine einflußreiche Stütze in <strong>der</strong> Militärischen Sektion des Zentral-Exekutivkomitees, die<br />
dahin entschied, die Frontorganisationen zu "befragen", ob <strong>der</strong> Kongreß einzuberufen,<br />
das heißt ob eine vom höchsten Sowjetorgan zweimal getroffene Entscheidung auszuführen<br />
sei. In <strong>der</strong> Zwischenzeit begann die Versöhnlerpresse eine Kampagne gegen den<br />
Kongreß. Beson<strong>der</strong>s wüteten die Sozial-revolutionäre. »Ob <strong>der</strong> Kongreß einberufen wird<br />
o<strong>der</strong> nicht«, schrieb 'Djelo Naroda' - »für die Lösung <strong>der</strong> Machtfrage kann es nicht die<br />
geringste Bedeutung haben ... Kerenskis Regierung wird sich jedenfalls nicht unterwerfen.«<br />
Wem nicht unterwerfen? fragte Lenin. »Der Macht <strong>der</strong> Sowjets«, erläuterte er, »<strong>der</strong><br />
Macht <strong>der</strong> Arbeiter und Bauern, welche 'Djelo Naroda', um nicht hinter den Pogromisten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 594
und Antisemiten, Monarchisten und Kadetten zuruckzubleiben, die Macht Trotzkis und<br />
Lenins nennt.«<br />
Das Bauern-Exekutivkomitee seinerseits erklärte die Einberufung des Kongresses als<br />
»gefährlich und unerwünscht«. Auf den Sowjetgipfeln entstand bösartiger Wirrwarr. Im<br />
Lande herumreisende Delegierte <strong>der</strong> Versöhnlerparteien mobilisierten die lokalen<br />
Organisationen gegen den Kongreß, den offiziell das höchte Sowjetorgan einberief. Der<br />
Offiziosus des Zentral-Exekutivkomitees druckte tagein tagaus von <strong>der</strong> führenden<br />
Versöhnlerclique bestellte Resolutionen gegen den Kongreß, durchweg ausgehend von<br />
den März-Gespenstern, die allerdings imposante Benennungen hatten. Die 'Iswestja',<br />
trugen die Sowjets in Leitartikeln zu Grabe, erklärten sie für provisorische Baracken, die<br />
abgetragen werden müßten, sobald die Konstituierende Versammlung »das Gebäude des<br />
neuen Regimes« krönen würde.<br />
Die Agitation gegen den Kongreß vermochte am allerwenigsten die Bolschewiki zu<br />
überraschen. Schon am 24. September hatte das Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei, ohne auf die<br />
Entscheidung des Zentral-Exekutivkomitees zu bauen, beschlossen, für den Kongreß eine<br />
Kampagne von unten, durch Lokalsowjets und Frontorganisationen einzuleiten. In die<br />
offizielle Kommission des Zentral-Exekutivkomitees zur Einberufung o<strong>der</strong> richtiger zur<br />
Sabotage des Kongresses ward von den Bolschewiki Swerdlow delegiert. Unter seiner<br />
Leitung wurden die örtlichen Parteiorganisationen und durch diese auch die Sowjets<br />
mobilisiert. Am 27. verlangten sämtliche revolutionäre Institutionen Revals die sofortige<br />
Auflösung des Vorparlaments und die Einberufung des Sowjetkongresses zwecks Schaffung<br />
einer Regierungsmacht, wobei sie sich feierlich verpflichteten, ihn »mit allen in <strong>der</strong><br />
Festung vorhandenen Kräften und Mitteln« zu unterstützen. Viele Lokalsowjets, beginnend<br />
mit den Moskauer Bezirken, schlugen vor, die Sache <strong>der</strong> Einberufung des Kongresses<br />
aus den Händen des illoyalen Zentral-Exekutivkomitees zu nehmen. Im Gegensatz zu<br />
den Resolutionen <strong>der</strong> Armeekomitees gegen den Kongreß ergossen sich For<strong>der</strong>ungen<br />
zugunsten des Kongresses seitens <strong>der</strong> Bataillone, Regimenter, Korps und Garnisonen.<br />
»Der Sowjetkongreß muß die Macht übernehmen und vor nichts haltmachen«, erklärt<br />
eine allgemeine Soldatenversammlung in Kyschtym, Ural. Die Soldaten des Nowgoro<strong>der</strong><br />
Gouvernements rufen die Bauern auf, am Kongreß teilzunehmen ohne Rücksicht auf die<br />
Beschlüsse des Bauern-Exekutivkomitees. Gouvemements- und entlegenste<br />
Kreissowjets, Fabriken und Bergwerke, Regimenter, Dread-noughts, Minenwerfer,<br />
Kriegslazarette, Meetings, eine Automobilkompanie in Petrograd und eine Ambulanzabteilung<br />
in Moskau - alle for<strong>der</strong>n Entfernung <strong>der</strong> Regierung und Übergabe <strong>der</strong> Macht an<br />
die Sowjets.<br />
Ohne sich auf die Agitationskampagne zu beschränken, schaffen die Bolschewiki eine<br />
wichtige Organisationsbasis für sich, indem sie einen Sowjetkongreß des Nordgebietes<br />
einberufen in Stärke von hun<strong>der</strong>tfünfzig Delegierten aus dreiundzwanzig Punkten. Das<br />
war ein gut berechneter Hieb! Das Zentral-Exekutivkomitee unter Leitung seiner großen<br />
Meister für kleine Dinge erklärte den Nordkongreß für eine Privatberatung. Eine<br />
Handvoll menschewistischer Delegierter beteiligte sich an den Arbeiten des Kongresses<br />
nicht und wohnten den Sitzungen nur zu "Informationszwecken" bei. Als ob das um ein<br />
Jota die Bedeutung des Kongresses verringern konnte, auf dem die Sowjets von Petrograd<br />
und Umgebung, Moskau, Kronstadt, Helsingfors und Reval vertreten waren, das<br />
heißt bei<strong>der</strong> Hauptstädte, <strong>der</strong> Marinefestungen, <strong>der</strong> Baltischen Flotte und <strong>der</strong> um Petro-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 595
grad gelegenen Garnisonen. Der durch Antonow eröffnete Kongreß, dem absichtlich ein<br />
militärischer Anstrich verliehen worden war, verlief unter Vorsitz Fähnrich Krylenkos,<br />
des besten Parteiagitators an <strong>der</strong> Front und späteren bolschewistischen Oberbefehlshabers.<br />
Im Mittelpunkt des politischen Referats von Trotzki stand ein neuer Versuch <strong>der</strong><br />
Regierung, die revolutionären Regimenter aus Petrograd hinauszubringen: <strong>der</strong> Kongreß<br />
wird nicht erlauben, »Petrograd zu entwaffnen und den Sowjet zu erdrosseln«. Die Frage<br />
<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sei ein Grundelement des Machtproblems. »Das ganze Volk<br />
stimmt für die Bolschewiki. Das Volk vertraut uns und beauftragt uns, die Macht in<br />
unsere Hände zu nehmen.« Die von Trotzki vorgeschlagene Resolution besagt: »Die<br />
Stunde ist da, wo nur das entschiedene und einmütige Vorgehen aller Sowjets ... die<br />
Frage <strong>der</strong> Zentralmacht entscheiden kann.« Dieser fast unverhüllte Aufruf zum<br />
Aufstande wird mit allen Stimmen bei drei Stimmenthaltungen angenommen.<br />
Laschewitsch for<strong>der</strong>te die Sowjets auf, nach dem Beispiel Petrograds die Verfügung<br />
über die Ortsgarnisonen in ihren Händen zu konzentrieren. Der lettische Delegierte<br />
Peterson versprach zur Verteidigung des Sowjetkongresses vierzigtausend lettische<br />
Schützen. Die begeistert aufgenommene Erklärung Petersons war am allerwenigsten<br />
Phrase. Nach einigen Tagen verkündete <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> lettischen Regimenter: »Nur <strong>der</strong><br />
Volksaufstand ... wird den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets möglich<br />
machen.« Die Radiostationen <strong>der</strong> Kriegsschiffe verbreiteten am 13. über das ganze Land<br />
den Aufruf des Nordkongresses, sich auf den All<strong>russischen</strong> Sowjetkongreß<br />
vorzubereiten. »Soldaten, Matrosen, Bauern und Arbeiter! Eure Pflicht ist, alle Hin<strong>der</strong>nisse<br />
hinwegzuräumen ...«<br />
Den bolschewistischen Delegierten des Nordkongresses schlug das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />
Partei vor, in Erwartung des nun bereits nahen Sowjetkongresses nicht auseinan<strong>der</strong>zufahren.<br />
Einzelne Delegierte begaben sich im Auftrage des vom Kongreß gewählten Büros zu<br />
den Armeeorganisationen und Lokalsowjets, um Bericht zu erstatten, mit an<strong>der</strong>en<br />
Worten, um die Provinz für den Aufstand vorzubereiten. Das Zentral-Exekutivkomitee<br />
erblickte neben sich einen machtvollen Apparat, <strong>der</strong> sich auf Petrograd und Moskau<br />
stützte, sich mit dem Lande durch die Radiostationen <strong>der</strong> großen Schlachtschiffe unterhielt<br />
und jeden Augenblick bereit war, in Fragen <strong>der</strong> Kongreßeinberufung das baufällige<br />
oberste Sowjetorgan abzulösen. Kleine Organisationstricks konnten da den Versöhnlern<br />
keinesfalls helfen.<br />
Der Kampf für und wi<strong>der</strong> den Kongreß gab in <strong>der</strong> Provinz den letzten Anstoß zur<br />
Bolschewisierung <strong>der</strong> Sowjets. In einer Reihe rückständiger Gouvernements, zum<br />
Beispiel Smolensk, erhielten die Bolschewiki, allein o<strong>der</strong> zusammen mit den linken<br />
Sozialrevolutionären, zum erstenmal eine Mehrheit während <strong>der</strong> Kongreßkampagne o<strong>der</strong><br />
bei den Delegiertenwahlen. Sogar auf dem Sibirischen Sowjetkongreß Mitte Oktober<br />
gelang es den Bolschewiki, zusammen mit den linken Sozialrevolutionären eine sichere<br />
Mehrheit zu schaffen, die ihren Stempel leicht sämtlichen lokalen Sowjets aufdrückte.<br />
Am 15. anerkannte <strong>der</strong> Kiewer Sowjet mit einhun<strong>der</strong>tneunundfünfzig Stimmen gegen<br />
achtundzwanzig bei drei Stimmenthaltungen den künftigen Sowjetkongreß »als souveränes<br />
Machtorgan«. Am 16. erklärte <strong>der</strong> Sowjetkongreß des Nordwestdistriktes zu Minsk,<br />
das heißt im Zentrum <strong>der</strong> Westfront, die Einberufung des Sowjetkongresses für unaufschiebbar.<br />
Am 18. nahm <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet Wahlen zum bevorstehenden Kongreß<br />
vor: für die bolschewistische Liste (Trotzki, Kamenjew, Wolodarski, Jurenjew und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 596
Laschewitsch) wurden vierhun<strong>der</strong>tdreiundvierzig Stimmen abgegeben; für die sozialrevolutionäre<br />
- einhun<strong>der</strong>tzweiundsechzig; das waren alles linke Sozialrevolutionäre, die<br />
zu den Bolschewiki neigten; für die Menschewiki - vierundvierzig Stimmen. Der unter<br />
Vorsitz Krestinikis tagende Kongreß <strong>der</strong> Uraler Sowjets, wo auf einhun<strong>der</strong>tundzehn<br />
Delegierte achtzig Bolschewiki kamen, verlangte im Namen von<br />
zweihun<strong>der</strong>tdreiundzwanzigtausendundneunhun<strong>der</strong>t organisierten Arbeitern und Soldaten<br />
die Einberufung des Kongresses zu festgelegter Frist. Am gleichen Tage, dem 19.,<br />
sprach sich die Allrussische Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees, die unmittelbarste und<br />
unbestrittenste Vertretung des Proletariats des ganzen Landes, für den sofortigen<br />
Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets aus. Am 20. erklärte Iwanowo-Wosnessensk<br />
alle Sowjets des Gouvernements »im Zustande des offenen und unerbittlichen<br />
Kampfes gegen die Provisorische Regierung« und for<strong>der</strong>te sie auf, über wirtschaftliche<br />
und administrative Fragen am Orte selbständig zu entscheiden. Gegen die Resolution, die<br />
die Absetzung <strong>der</strong> lokalen Regierungsbehörden bedeutete, erhob sich nur eine Stimme<br />
bei einer Stimmenthaltung. Am 22. veröffentlichte die bolschewistische Presse eine neue<br />
Liste von sechsundfünfzig Organisationen, die den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets<br />
for<strong>der</strong>ten: das alles sind die wahren Massen, zum großen Teil bewaffnet.<br />
Der machtvolle Wi<strong>der</strong>hall <strong>der</strong> Ka<strong>der</strong> des nahenden Umsturzes hin<strong>der</strong>te Dan nicht, dem<br />
Büro des Zentral-Exekutivkomitees zu berichten, daß von den neunhun<strong>der</strong>tundsiebzehn<br />
bestehenden Sowjetorganisationen nur fünfzig sich bereit erklärt hätten, Delegierte zu<br />
entsenden und auch diese »ohne jegliche Begeisterung«. Es ist nicht schwer zu begreifen,<br />
daß jene wenigen Sowjets, die es noch für angebracht hielten, ihre Gefühle dem Zentral-<br />
Exekutivkomitee anzuvertrauen, keine Begeisterung für den Kongreß bezeugten. Doch<br />
die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Lokalsowjets und Soldatenkomitees ignorierte einfach<br />
das Zentral-Exekutivkomitee.<br />
Obwohl sie sich durch ihre Arbeit für die Kongreßsprengung bloßstellten und kompromittierten,<br />
wagten die Versöhnler dennoch nicht, die Sache zu Ende zu führen. Als es<br />
augenscheinlich wurde, <strong>der</strong> Kongreß sei nicht zu vermeiden, vollzogen sie eine schroffe<br />
Wendung und riefen alle lokalen Organisationen auf, Delegierte zum Kongreß zu<br />
wählen, um eine bolschewistische Mehrheit zu verhin<strong>der</strong>n. Aber zu spät auf diesen<br />
Gedanken gekommen, sah sich das Zentral-Exekutivkomitee gezwungen, drei Tage vor<br />
<strong>der</strong> angesetzten Frist den Kongreß auf den 25. Oktober zu verschieben.<br />
Das Februar-Regime und mit ihm die bürgerliche Gesellschaft erhielten dank dem<br />
letzten Manöver <strong>der</strong> Versöhnler eine unerwartete Fristverlängerung, aus <strong>der</strong> sie allerdings<br />
nichts Wesentliches mehr gewinnen konnten. Dafür aber nutzten die Bolschewiki<br />
die gewonnenen fünf Tage mit großem Erfolg aus. Später gaben das auch die Feinde zu.<br />
»Die Aufschiebung <strong>der</strong> Erhebung«, erzählt Miljukow; »nutzten die Bolschewiki vor allem<br />
zur Festigung ihrer Positionen unter den Petrogra<strong>der</strong> Arbeitern und Soldaten aus.<br />
Trotzki erschien auf Meetings bei den verschiedenen Truppenteilen <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Garnison. Die durch ihn hervorgerufene Stimmung läßt sich dadurch charakterisieren,<br />
daß man beispielsweise im Semjonowski-Regiment die nach ihm auftretenden Mitglie<strong>der</strong><br />
des Exekutivkomitees, Skobeljew und Goz, nicht sprechen ließ.«<br />
Der Umschwung im Semjonowski-Regiment, dessen Name in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> mit unheilvollen Zeichen eingeschrieben war, besaß symbolische Bedeutung:<br />
im Dezember 1905 hatten die Semjonowsker die Hauptarbeit zur Unterdrückung des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 597
Aufstandes in Moskau geleistet. Der Regimentskommandeur General Min, befahl<br />
damals: »Verhaftete darf es nicht gehen.« Auf dem Eisenbahnabschnitt Moskau - Golurwino<br />
erschossen die Semjonowiker hun<strong>der</strong>tfünfzig Arbeiter und Angestellte. Der für<br />
seine Heldentaten vom Zaren ausgezeichnete General Min wurde im Herbst 1906 von <strong>der</strong><br />
Sozialrevolutionärin Konopljanikowa getötet. Völlig im Netz <strong>der</strong> alten Traditionen hielt<br />
sich das Semjonowski-Regiment länger als die meisten an<strong>der</strong>en Gar<strong>der</strong>egimenter. Die<br />
Reputation seiner "Zuverlässigkeit" war so stark, daß die Regierung trotz dem traurigen<br />
Mißerfolge Skobeljews und Goz' auf die Semjonowsker beharrlich weiter baute bis zum<br />
Tage <strong>der</strong> Umwälzung und sogar danach.<br />
Die Frage des Sowjetkongresses blieb die zentrale politische Frage während <strong>der</strong> fünf<br />
Wochen, die die Demokratische Beratung vom Oktoberaufstande trennten. Schon die<br />
bolschewistische Deklaration in <strong>der</strong> Demokratischen Beratung verkündete den künftigen<br />
Sowjetkongreß als souveränes Organ des Landes. »Nur solche Beschlüsse und Anträge<br />
dieser Beratung ... können den Weg zur Verwirklichung finden, die die Zustimmung<br />
seitens des All<strong>russischen</strong> Kongresses <strong>der</strong> Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten<br />
haben werden.« Die Resolution für den Boykott des Vorparlaments, unterstützt von <strong>der</strong><br />
einen Hälfte <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees gegen die an<strong>der</strong>e Hälfte, lautete: »Die<br />
Frage <strong>der</strong> Beteiligung unserer Partei am Vorparlament stellen wir jetzt in direkte Abhängigkeit<br />
von jenen Maßnahmen, die <strong>der</strong> Allrussische Sowjetkongreß zur Schaffung einer<br />
revolutionären Macht treffen wird.« Die Appellation an den Sowjetkongreß geht durch<br />
alle bolschewistischen Dokumente dieser Periode fast ohne Ausnahme.<br />
Unter den Bedingungen des entfachten Bauernkrieges, <strong>der</strong> sich verschärfenden nationalen<br />
Bewegung, sich vertiefenden Desorga-nisation, <strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>fallenden Front, <strong>der</strong><br />
in Auflösung befindlichen Regierung werden die Sowjets zum einzigen Bollwerk schöpferischer<br />
Kräfte. Jede Frage verwandelt sich in eine Machtfrage, das Machtproblem aber<br />
führt zum Sowjetkongreß. Er wird die Antwort auf alle Fragen geben müssen, darunter<br />
auch auf die Frage über die Konstituierende Versammlung.<br />
Noch nahm keine <strong>der</strong> Parteien die Parole <strong>der</strong> Konstituierenden Versammiung zurück,<br />
auch nicht die Bolschewiki. Aber fast unmerklich war die wichtigste demokratische<br />
Losung, die während an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnten dem heroischen Kampf <strong>der</strong> Massen Farbe<br />
verliehen hatte, im Laufe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sereignisse ausgeblieben und verblaßt, als sei sie<br />
zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben, leere Spreu, nackte, inhaltlose Form geworden,<br />
Tradition, aber nicht Perspektive. An diesem Prozeß war nichts Rätselhaftes. In Entwicklung<br />
geriet die <strong>Revolution</strong> an den unmittelbaren Waffengang <strong>der</strong> zwei Kernklassen <strong>der</strong><br />
Gesellschaft um die Macht: Burgeoisie und Proletariat. We<strong>der</strong> <strong>der</strong> einen noch <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en vermochte die Konstituierende Versammlung noch etwas zu bieten. Die Kleinbourgeoisie<br />
in Stadt und Land konnte bei diesem Waffengang nur eine untergeordnete<br />
und nebensächliche Rolle spielen. Die Macht in die eigenen Hände zu nehmen, war sie<br />
jedenfalls unfähig: wenn die vorangegangenen Monate etwas bewiesen hatten, so gerade<br />
dies. In <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung indes konnte die Kleinbourgeoisie noch eine<br />
Mehrheit bekommen und hat sie später tatsächlich bekommen. Wozu? Nur um nicht zu<br />
wissen, welchen Gebrauch davon zu machen. Darin eben äußerte sich die Unzulänglichkeit<br />
<strong>der</strong> formalen Demokratie an er tiefen historischen Wende. Die Macht <strong>der</strong> Tradition<br />
zeigte sich darin, daß noch am Vorabend des letzten Waffengangs nicht eines <strong>der</strong> Lager<br />
auf den Namen <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung verzichtete. In Wirklichkeit aber<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 598
hatte die Bourgeoisie von <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an Kornilow appelliert, die<br />
Bolschewiki an den Sowjetkongreß.<br />
Es darf mit Sicherheit angenommen werden, daß ziemlich breite Volksschichten, sogar<br />
bestimmte Zwischenschichten <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, in bezug auf den Sowjetkongreß<br />
gewisse konstitutionelle Illusionen hegten, das heißt damit die Vorstellung von<br />
einem automatischen und schmerzlosen Übergang <strong>der</strong> Macht aus den Händen <strong>der</strong> Koalition<br />
in die Hände <strong>der</strong> Sowjets verbanden. In Wirklichkeit mußte man die Macht mit<br />
Gewalt nehmen, mit einer Abstimmung war es nicht zu erreichen: nur <strong>der</strong> bewaffnete<br />
Aufstand konnte die Frage entscheiden.<br />
Aber von allen Illusionen, die als unvermeidliche Beimischung jede große, auch die<br />
realistischste Volksbewegung begleiten, war die Illusion des Sowjet-"Parlamentarismus"<br />
aus <strong>der</strong> Gesamtheit <strong>der</strong> Bedingungen heraus die ungefährlicliste. Die Sowjets kämpften<br />
in Wirklichkeit um die Macht, stützten sich immer mehr auf die Militärgewalt, wurden zu<br />
lokalen Machtorganen, eroberten kämpfend ihren eigenen Kongreß. Für konstitutionetle<br />
lllusionen blieb nicht gar so viel Platz übrig, und auch er wurde im Prozeß des Kampfes<br />
weggeschwemmt.<br />
Indem sie die revolutionären Bemühungen <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten des ganzen<br />
Landes koordinierte, ihnen Zieleinheit und Zeiteinheit verlieh, verdeckte die Losung des<br />
Sowjetkongresses durch ständige Appellation an die legale Vertretung <strong>der</strong> Arbeiter,<br />
Soldaten und Bauern gleichzeitig die halbkonspirative, halboffene Vorbereitung des<br />
Aufstandes. Indem er die Kräftesaminlung für die Umwälzung erleichterte, mußte <strong>der</strong><br />
Sowjetkongreß dann <strong>der</strong>en Resultate sanktionieren und eine neue, für das Volk unbestrittene<br />
Macht aufrichten.<br />
Das militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
Trotz dem Ende Juli begonnenen Umschwung herrschten in <strong>der</strong> erneuerten Petrogra<strong>der</strong><br />
Garnison während des August noch immer Sozialrevolutionäre und Menschewiki.<br />
Einzelne Truppenteile blieben infiziert von scharfem Mißtrauen gegen die Bolschewiki.<br />
Das Proletariat besaß keine Waffen: in den Händen <strong>der</strong> Roten Garde waren nur einige<br />
tausend Gewehre verblieben. Ein Aufstand hätte unter solchen Umständen mit einer<br />
schweren Nie<strong>der</strong>lage enden können, obwohl die Massen wie<strong>der</strong> den Bolschewiki<br />
zuströmten.<br />
Die Lage verän<strong>der</strong>te sich dauernd im Laufe des September. Nach dem Aufruhr <strong>der</strong><br />
Generale verloren die Versöhnler rapid die Stütze in <strong>der</strong> Garnison. Mißtrauen gegen die<br />
Bolschewiki wich <strong>der</strong> Sympathie, schlimmstenfalls abwarten<strong>der</strong> Neutralität. Doch die<br />
Sympathie war nicht aktiv. Die Garnison blieb politisch sehr locker und auf Muschikenart<br />
argwöhnisch: ob nicht auch die Bolschewiki betrügen? Ob sie tatsächlich Frieden und<br />
Brot geben werden? Für diese Ziele unter dem Banner <strong>der</strong> Bolschewiki zu kämpfen - war<br />
noch nicht die Absicht <strong>der</strong> Soldatenmehrheit. Da überdies in <strong>der</strong> Garnison eine fast völlig<br />
unauflösbare, den Bolschewiki feindliche Min<strong>der</strong>heit erhalten geblieben war (fünf- bis<br />
sechstausend Junker, drei Kosakenregimenter, ein Bataillon Radfahrer, eine Panzerdivision),<br />
mußte <strong>der</strong> Ausgang eines Zusammenstoßes auch im September bedenklich erscheinen.<br />
Um <strong>der</strong> Sache zu helfrn, brachte <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Entwicklung noch eine<br />
Anschauungslektion, wobei sich das Schicksal <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Soldaten offenbarte als<br />
untrennbar verbunden mit dem Schicksale <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 599
Das Recht, über Abteilungen bewaffneter Menschen zu verfügen, ist das Grundrecht<br />
einer Staatsmacht. Die erste Provisorische Regierung, dem Volke vom Exekutivkomitee<br />
aufgezwungen, hatte sich verpflichtet, die an <strong>der</strong> Februarumwälzung beteiligt gewesenen<br />
Truppenteile nicht zu entwaffnen und nicht aus Petrograd hinauszuführen. Das war <strong>der</strong><br />
formale Beginn des militärischen Dualismus, von <strong>der</strong> Doppelherrschaft im Kern untrennbar.<br />
Die großen politischen Erschütterungen <strong>der</strong> folgenden Monate - Aprildemonstration,<br />
Julitage, Vorbereitung des Kornilow-Aufstandes und seine Liquidierung - mündeten<br />
unvermeidlich jedesmal in die Frage nach <strong>der</strong> Botmäßigkeit <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison.<br />
Doch die Konflikte zwischen Regierung und Versöhnlern auf diesem Gebiete waren<br />
letzten Endes familiären Charakters und endeten gütlich. Mit <strong>der</strong> Bolschewisierung <strong>der</strong><br />
Garnison wurde die Sache an<strong>der</strong>s. Nun erinnerten die Soldaten selbst an die im März von<br />
<strong>der</strong> Regierung dem Zentral-Exekutivkomitee gegenüber eingegangene und von beiden<br />
treulos gebrochene Verpflichtung. Am 8. September erhebt die Soldatensektion des<br />
Sowjets die For<strong>der</strong>ung, die im Zusammenhang mit den Juliereignissen an die Front<br />
geschickten Regimenter nach Petrograd zurückzubringern. Indessen zerbrachen sich die<br />
Koalitionspartner darüber den Kopf, wie auch die übrigen Regimenter hinauszuschaffen.<br />
In einer Reihe von Provinzstädten stand die Sache ungefähr ebenso wie in <strong>der</strong> Hauptstadt.<br />
Während <strong>der</strong> Monate Juli und August machten die örtlichen Garnisonen eine<br />
patriotische Auffrischung durch, im August und September verfielen die erneuerten<br />
Garnisonen <strong>der</strong> Bolschewisierung. Man mußte vom Anfang beginnen, das heißt sie<br />
wie<strong>der</strong> vermischen und erneuern. In Vorbereitung des Schlags gegen Petrograd begann<br />
die Regierung mit <strong>der</strong> Provinz. Politische Motive wurden sorgsamst hinter strategischen<br />
versteckt. Am 27. September beschloß eine vereinigte Versammlung <strong>der</strong> Sowjets von<br />
Reval Stadt und Festung, zur Frage <strong>der</strong> Regimenterversetzung: Truppenumgruppierungen<br />
nur zu billigen nach vorheriger Zustimmung <strong>der</strong> betreffenden Sowjets. Die Führer<br />
<strong>der</strong> Sowjets in Wladimir befragten Moskau, ob sie sich Kerenskis Befehl betreffs Versetzung<br />
<strong>der</strong> gesamten Garnison unterwerfen sollten. Das Moskauer Distriktbüro <strong>der</strong><br />
Bolschewiki stellte fest, daß »Befehle solcher Art Regel werden in bezug auf revolutionär<br />
gestimmte Garnisonen«. Bevor sie aller ihrer Rechte verlustig ging, versuchte die Provisorische<br />
Regierung von dem Grundrecht je<strong>der</strong> Regierung Gebrauch zu machen, - über<br />
die bewaffneten Menschenabteilungen zu verfügen.<br />
Die Umformierung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison wurde um so unaufschiebbarer, als <strong>der</strong><br />
nahende Sowjetkongreß auf die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e Art den Kampf um die Macht zur<br />
Entscheidung bringen mußte. Die bürgerliche Presse, geführt von <strong>der</strong> kadettischen<br />
'Rjetsch', wie<strong>der</strong>holte tagein tagaus, man dürfe den Bolschewiki nicht die Möglichkeit<br />
lassen, »den Moment zur Proklamierung des Bürgerkrieges zu wählen«. Das bedeutete:<br />
selber rechtzeitig gegen die Bolschewiki losschlagen. Der Versuch, vorher das Kräfteverhältnis<br />
in <strong>der</strong> Garnison zu än<strong>der</strong>n, ergab sich daraus unvermeidlich. Die Argumente<br />
strategischen Charakters sahen nach dem Fall Rigas und dem Verlust <strong>der</strong> Monsundinseln<br />
recht beachtenswert aus. Der Bezirksstab verschickte Befehle über Umformierung <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Truppenteile zwecks Abmarschs zur Front. Gleichzeitig wurde auf Anregung<br />
<strong>der</strong> Versöhnler die Frage in die Soldatensektion getragen. Der gegnerische Plan war nicht<br />
übel: dem Sowjet ein strategisches Ultimatum zu stellen, um so mit einem Schlage den<br />
Bolschewiki die militärische Stütze unter den Füßen zu entreißen o<strong>der</strong> aber, im Falle des<br />
Wi<strong>der</strong>standes seitens des Sowjets, einen akuten Konflikt heraufzubeschwören zwischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 600
<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison und <strong>der</strong> Front, die Ersatz und Ablösung brauchte.<br />
Die Sowjetführer, die sich über die ihnen gestellte Falle hinlänglich klar waren,<br />
wollten, ehe sie einen unwi<strong>der</strong>ruflichen Schritt unternahmen, den Boden gut abtasten.<br />
Rundweg die Erfüllung des Befehls verweigern konnte man nur unter <strong>der</strong> sicheren<br />
Voraussetzung, die Front würde die Motive <strong>der</strong> Verweigerung richtig verstehen. An<strong>der</strong>nfalls<br />
konnte es sich als vorteilhafter erweisen, nach Verständigung mit den Schützengräben<br />
einen Ersatz <strong>der</strong> Garnisontruppen durch revolutionäre Fronttruppenteile, die <strong>der</strong><br />
Erholung bedurften, vorzunehmen. In diesem Sinne hatte sich bereits, wie oben gezeigt,<br />
<strong>der</strong> Revaler Sowjet ausgesprochen.<br />
Die Soldaten gingen an die Frage gradliniger heran. Jetzt, im tiefen Herbst, an die<br />
Front gehen, mit einer neuen Winterkampagne sich abfinden - nein, dieser Gedanke fand<br />
in ihren Köpfen keinen Platz. Die patriotische Presse nahm sofort die Garnison unter<br />
Feuer: die in Müßiggang gemästeten Petrogra<strong>der</strong> Regimenter wollen abermals die Front<br />
verraten. Die Arbeiter nahmen sich <strong>der</strong> Soldaten an. Die Putilower protestierten als erste<br />
gegen die Versetzung <strong>der</strong> Regimenter. Die Frage verschwand nicht mehr von <strong>der</strong> Tagesordnung,<br />
nicht nur in den Kasernen, son<strong>der</strong>n auch in den Betrieben. Das brachte die zwei<br />
Sektionen des Sowjets einan<strong>der</strong> näher. Die Regimenter begannen einmütig die For<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung zu unterstützen.<br />
Bemüht, den Patriotismus <strong>der</strong> Massen durch die Drohung mit dem Verlust Petrograds<br />
aufzustacheln, brachten die Versöhnler am 9. Oktober im Sowjet den Antrag vor, ein<br />
"Komitee <strong>der</strong> revolutionären Verteidigung" zu schaffen, das die Aufgabe haben sollte,<br />
unter aktiver Mitwirkung <strong>der</strong> Arbeiter an <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt teilzunehmen.<br />
Während er es ablehnte, »für die sogenannte Strategie <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, im<br />
beson<strong>der</strong>en für die Entfernung <strong>der</strong> Truppen aus Petrograd« die Verantwortung zu<br />
übernehmen, beeilte sich <strong>der</strong> Sowjet nicht, zu dem Befehl an sich Stellung zu nehmen,<br />
son<strong>der</strong>n beschloß, dessen Motive und Grund lagen nachzuprüfen. Die Menschewiki<br />
versuchten zu protestieren: es sei nicht zulässig, sich in operative Maßnahmen des<br />
Kommandos einzumischen. Aber erst an<strong>der</strong>thalb Monate vorher hatten sie das gleiche<br />
über die verschwörerischen Befehle Kornilows gesagt - und sie wurden daran erinnert.<br />
Um nachzuprüfen, ob die Versetzung <strong>der</strong> Regimenter militärischen o<strong>der</strong> politischen<br />
Erwägungen entsprang, war ein kompetentes Organ erfor<strong>der</strong>lich. Zur höchsten Verwun<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Versöhnler akzeptierten die Bolschewiki die Idee eines "Komitees <strong>der</strong> Verteidigung":<br />
gerade dieses Komitee sollte die Aufgabe haben, alles auf die Verteidigung <strong>der</strong><br />
Hauptstadt Bezügliche in seinen Händen zu konzentrieren. Das war ein wichtiger Schritt.<br />
Indem er die gefährliche Waffe den Händen des Gegners entwand, behielt <strong>der</strong> Sowjet die<br />
Möglichkeit, je nach den Umständen den Beschluß über die Versetzung <strong>der</strong> Truppen in<br />
die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Richtung zu wenden, jedenfalls aber gegen Regierung und Versöhnler.<br />
Die Bolschewiki griffen um so selbstverständlicher das menschewistische Projekt eines<br />
militärischen Komitees auf, als in ihren eigenen Reihen schon vorher wie<strong>der</strong>holt die<br />
Rede von <strong>der</strong> Notwendigkeit gewesen war, rechtzeitig ein autoritatives Sowjetorgan für<br />
die Leitung <strong>der</strong> künftigen Umwälzung zu schaffen. In <strong>der</strong> Militärischen Parteiorganisation<br />
war sogar ein entsprechen<strong>der</strong> Entwurf in Bearbeitung. Die Schwierigkeit, die man<br />
bisher nicht zu überwinden vermocht hatte, bestand in <strong>der</strong> Verbindung des Aufstandsorganes<br />
mit dem gewählten und offen auftretenden Sowjet, dem überdies Vertreter feindli-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 601
cher Parteien angehörten. Die patriotische Initiative <strong>der</strong> Menschewiki ,kam höchst<br />
gelegen, die Schaffung des revolutionären Stabes zu erleichtern, <strong>der</strong> bald in "Militärisches<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee" umgetauft und zum Haupthebel <strong>der</strong> Umwälzung wurde.<br />
Zwei Jahre nach den hier geschil<strong>der</strong>ten Ereignissen schrieb <strong>der</strong> Autor dieses Buches in<br />
einem <strong>der</strong> Oktoberumwälzung gewidmeten Artikel: »Sobald <strong>der</strong> Befehl über die Versetzung<br />
<strong>der</strong> Truppenteile vom Bezirksstab dem Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets<br />
übergeben worden war ... wurde klar, daß diese Frage in ihrer weiteren Entwicklung von<br />
entscheiden<strong>der</strong> politischer Bedeutung werden konnte.« Die Idee des Aufstandes begann<br />
jäh Gestalt anzunehmen. Es war nicht mehr notwendig, ein Sowjetorgan zu erfinden. Die<br />
wirkliche Bestimmung des künftigen Komitees wurde unzweideutig durch die Tatsache<br />
unterstrichen, daß Trotzki in <strong>der</strong> gleichen Sitzung seine Rede zum Auszug <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
aus dem Vorparlament mit dem Ruf schloß: »Es lebe <strong>der</strong> offene und direkte Kampf<br />
um die revolutionäre Macht im Lande!« Das war die in die Sprache <strong>der</strong> Sowjetlegalität<br />
übersetzte Losung: »Es lebe <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand!«<br />
Gerade am nächsten Tage, dem 10., nahm das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki in einer<br />
Geheimsitzung Lenins Resolution an, die den bewaffneten Aufstand als die praktische<br />
Aufgabe <strong>der</strong> nächsten Tage stellte. Die Partei bekam von nun an eine klare und imperative<br />
Kampfeinstellung. Das Komitee <strong>der</strong> Verteidigung wurde in die Perspektive des<br />
unmittelbaren Kampfes um die Macht eingeschaltet.<br />
Die Regierung und ihre Verbündeten umgaben die Garnison mit konzentrischen<br />
Kreisen. Am 11. meldete <strong>der</strong> Kommandierende <strong>der</strong> Nordfront, General Tscheremissow,<br />
dem Kriegsminister die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Armeekomitees, die ermüdeten Fronttruppenteile<br />
durch Petrogra<strong>der</strong> Reserven zu ersetzen. Der Frontstab war in diesem Falle nur eine<br />
Vermittlungsinstanz zwischen den Versöhnlern bei <strong>der</strong> Armee und <strong>der</strong>en Petrogra<strong>der</strong><br />
Führern, die eine breitere Deckung für Kerenskis Pläne anstrebten. Die Koalitionspresse<br />
begleitete die Umkreisungsoperation mit einer Symphonie patriotischer Raserei. Die<br />
täglichen Versammlungen <strong>der</strong> Regimenter und Betriebe jedoch bewiesen, daß die Musik<br />
<strong>der</strong> Regierenden unten nicht den geringsten Eindruck machte. Am 12. gab die Versammlung<br />
einer <strong>der</strong> revolutionärsten Fabriken <strong>der</strong> Hauptstadt (Stari-Parvyeinen) auf die Hetze<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Presse die Antwort: »Wir erklären kategorisch, daß wir auf die Straße<br />
gehen werden, sobald wir es für nötig erachten sollten. Uns schreckt nicht <strong>der</strong> nahe<br />
bevorstehende Kampf, und wir glauben fest, daß wir aus ihm als Sieger hervorgehen<br />
werden.«<br />
Indem es die Kommissionen zur Ausarbeitung <strong>der</strong> Verordnung für das "Komitee <strong>der</strong><br />
Verteidigung" ins Leben riet, hatte das Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets für das<br />
Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit <strong>der</strong><br />
Nordfront und dem Stab des Petrogra<strong>der</strong> Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem<br />
Distriktsowjet von Finnland zur Klärung <strong>der</strong> militärischen Situation und <strong>der</strong> notwenigen<br />
Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes <strong>der</strong> Garnison von<br />
Petrograd und Umgebung, wie auch <strong>der</strong> Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung<br />
von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Disziplin in den Soldaten- und Arheitermassen.<br />
Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten<br />
sich fast sämtlich an <strong>der</strong> Grenze zwischen Verteidigung <strong>der</strong> Hauptstadt und bewaffnetem<br />
Aufstande. Aber diese zwei bisher einan<strong>der</strong> ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt<br />
tatsächlich einan<strong>der</strong> genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 602
Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das<br />
Element <strong>der</strong> Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen<br />
worden, son<strong>der</strong>n ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des<br />
Vorabends des Aufstandes.<br />
Zum Zwecke <strong>der</strong> gleichen Maskierung wurde an die Spitze <strong>der</strong> Kommission zur<br />
Ausarbeitung <strong>der</strong> Verordnung des Komitees nicht ein Bolschewik gestellt, son<strong>der</strong>n ein<br />
Sozialrevolutionär, <strong>der</strong> junge, bescheidene Intendanturbeamte Lasimir, einer jener linken<br />
Sozialrevolutionäre, die bereits vor dem Aufstande vorbehaltlos mit den Bolschewiki<br />
gingen, allerdings nicht immer voraussahen, wohin sie dies führen sollte. Lasimirs<br />
ursprüngliches Projekt war von Trotzki nach zwei Richtungen hin umredigiert worden:<br />
die praktischen Aufgaben zur Eroberung <strong>der</strong> Garnison wurden präzisiert und das allgemeine<br />
revolutionäre Ziel stärker vertuscht. Das vom Exekutivkomitee unter dem Protest<br />
zweier Menschewiki gutgeheißene Projekt einverleibte <strong>der</strong> Zusammensetzung des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees die Präsidien von Sowjet und Soldatensektion, Vertreter <strong>der</strong><br />
Flotte, des Distriktkomitees Finnlands, <strong>der</strong> Eisenbahnergewerkschaft, <strong>der</strong><br />
Fabrikkomitees, Gewerkschaften, militärischen Parteiorganisationen, <strong>der</strong> Roten Garde<br />
und so weiter. Das organisatorische Fundament war das gleiche wie in vielen an<strong>der</strong>en<br />
Fällen. Aber die personelle Zusammensetzung des Komitees war durch seine neuen<br />
Aufgaben bestimmt. Man ging davon aus, daß die Organisationen Vertreter entsenden<br />
würden, die mit militärischen Fragen vertraut sind o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Garnison nahestehen. Die<br />
Funktion sollte den Charakter des Organs bedingen.<br />
Nicht unwichtiger war eine an<strong>der</strong>e Neugründung: dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
wurde eine permanente Garnisonberatung angeglie<strong>der</strong>t. Die Soldatensektion vertrat<br />
die Garnison politisch: die Deputierten wurden gewählt im Zeichen <strong>der</strong> Parteien. Die<br />
Garnisonberatung dagegen sollte aus den Regimentskomitees zusammengesetzt werden,<br />
die das Alltagsleben ihrer Truppenteile leiteten und <strong>der</strong>en praktische, unmittelbarere<br />
"Berufs"vertretung darstellten. Die Analogie zwischen Regimentskomitees und Fabrikkomitees<br />
drängt sich von selbst auf. Vermittels <strong>der</strong> Arbeitersektion des Sowjets konnten<br />
sich die Bolschewiki in großen politischen Fragen fest auf die Arbeiter stützen. Um aber<br />
Herr im Betriebe zu werden, war es nötig, die Fabrikkomitees hinter sich zu haben. Die<br />
Zusammensetzung <strong>der</strong> Soldatensektion sicherte den Bolschewiki die politische Sympathie<br />
<strong>der</strong> Garnisonmehrheit. Um aber praktisch über die Truppenteile zu verfügen, mußte<br />
man sich unmittelbar auf die Regimentskomitees stützen können. Dies erklärt, weshalb<br />
die Garnisonberatung in <strong>der</strong> dem Aufstande vorangehenden Periode in den Vor<strong>der</strong>grund<br />
rückte und natürlicherweise die Soldatensektion verdrängte. Die angeseheneren Delegierten<br />
<strong>der</strong> Sektion gehörten übrigens auch <strong>der</strong> Beratung an.<br />
In einem kurz vor jenen Tagen geschriebenen Artikel "Die Krise ist reif?" fragte Lenin<br />
vorwurfsvoll: »Was hat die Partei getan für das Studium <strong>der</strong> Truppenaufstellung und so<br />
weiter ...?« Trotz <strong>der</strong> aufopfernden Arbeit <strong>der</strong> Militärischen Organisation war Lenins<br />
Vorwurf berechtigt. Das rein stabsmäßige Studium <strong>der</strong> militärischen Kräfte und Mittel<br />
fiel <strong>der</strong> Partei schwer: es fehlte die Übung, es ermangelte <strong>der</strong> Einstellung. Die Lage<br />
verän<strong>der</strong>te sich jäh mit dem Augenblick, wo auf die Bühne die Garnisonberatung trat:<br />
von nun an rollte tagein, tagaus vor den Augen <strong>der</strong> Führer ein lebendiges Panorama <strong>der</strong><br />
Garnison ab, nicht nur <strong>der</strong> Hauptstadt, son<strong>der</strong>n auch des sie näher umgehenden Militärringes.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 603
Am 12. prüfte das Exekutivkomitee die vom Kommissar Lasimir ausgearbeitete<br />
Verordnung. Trotz dem geschlossenen Charakter <strong>der</strong> Sitzung trugen die Debatten in<br />
hohem Maße allegorischen Charakter: »Hier wurde eines gesprochen und ein an<strong>der</strong>es<br />
gemeint«, schreibt mit Recht Suchanow. Nach den Leitsätzen sollten dem Komitee<br />
Verteidigungs-, Ausrüstungs-, Verbindungs, Informationsabteilungen und so weiter<br />
angeschlossen werden: das war <strong>der</strong> Stab o<strong>der</strong> Konterstab. Als Ziel <strong>der</strong> Beratung wurde<br />
die Hebung <strong>der</strong> Kampffähigkeit <strong>der</strong> Garnison proklamiert. Darin war keine Lüge. Doch<br />
die Kampffähigkeit konnte verschiedene Anwendung finden. In ohnmächtiger Wut<br />
erkannten die Menschewiki, daß <strong>der</strong> von ihnen zu patriotischen Zwecken aufgestellte<br />
Gedanke sich in eine Deckung des in Vorbereitung befindlichen Aufstandes verwandelte.<br />
Die Maskierung war nichts weniger als undurchsichtig: alle erkannten klar, um was es<br />
sich handelte, doch gleichzeitig blieb sie unangreifbar: hatten doch die Versöhnler früher<br />
das gleiche Verfahren angewandt, indem sie in kritischen Momenten die Garnison um<br />
sich gruppierten und parallel zu den Staatsorganen Machtorgane schufen. Die Bolschewiki<br />
folgten gewissermaßen bloß den Traditionen <strong>der</strong> Doppelherrschaft. Doch trugen sie<br />
in die alten Formen neuen Inhalt hinein. Was früher <strong>der</strong> Verständigung diente, führte<br />
jetzt zum Bürgerkrieg. Die Menschewiki verlangten, ins Protokoll aufzunehmen, daß sie<br />
gegen das ganze Unternehmen seien. Dieser platonischen Bitte wurde entsprochen.<br />
Am nächsten Tage kam in <strong>der</strong> Soldatensektion, die jüngst noch die Garde <strong>der</strong> Versöhnler<br />
gewesen war, die Frage über das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee und die Garnisonberatung<br />
zur Diskussion. Den Hauptplatz in dieser bemerkenswerten Sitzung nahm mit<br />
Recht <strong>der</strong> Vorsitzende des Zentrobalt ein, <strong>der</strong> Matrose Dybenko, ein schwarzbärtiger<br />
Riese, <strong>der</strong> um ein Wort nie verlegen war. Die Rede des Helsingforser Gastes drang als<br />
frische und scharfe Meeresbrise in die abgestandene Atmosphäre <strong>der</strong> Garnison. Dybenko<br />
berichtete vom endgültigen Bruch <strong>der</strong> Flotte mit <strong>der</strong> Regierung und von den neuen<br />
Beziehungen zum Kommando. Vor Beginn <strong>der</strong> letzten Seeoperationen hatte sich <strong>der</strong><br />
Admiral an den in jenen Tagen stattfindenden Kongreß <strong>der</strong> Seeleute mit <strong>der</strong> Anfrage<br />
gewandt: werden Kampfbefehle ausgeführt werden? »Wir antworteten: sie werden es -<br />
unter unserer Kontrolle. Aber ... sollten wir erkennen, daß <strong>der</strong> Flotte Untergang droht,<br />
dann wird <strong>der</strong> Kommandierende als erster an einem Maste aufgehängt werden.« Für die<br />
Petrogra<strong>der</strong> Garnison war dies eine neue Sprache. Sie war auch in <strong>der</strong> Flotte erst in den<br />
allerletzten Tagen zur Anwendung gekommen. Es war die Sprache des Aufstands. Ein<br />
Häuflein Menschewiki knurrte verwirrt in einem Winkel. Das Präsidium betrachtete<br />
nicht ohne Besorgnis die kompakte Masse <strong>der</strong> grauen Uniformen. Nicht eine Proteststimme<br />
aus den ganzen Reihen! Die Augen brennen in erregten Gesichtern. Ein Geist <strong>der</strong><br />
Verwegenheit weht über <strong>der</strong> Versammlung.<br />
Von <strong>der</strong> allgemeinen Sympathie angefeuert, erklärte Dybenko zum Schluß mit sicherer<br />
Stimme: »Man spricht von <strong>der</strong> Notwendigkeit, die Petrogra<strong>der</strong> Garnison zum Schutze<br />
<strong>der</strong> Zugänge Petrograds, im beson<strong>der</strong>en Revals, zu versetzen. Glaubt dem nicht. Reval<br />
werden wir selbst verteidigen. Bleibt hier und verteidigt die Interessen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ...<br />
Wenn wir eure Hilfe brauchen sollten, werden wir es euch selbst sagen, und ich bin<br />
überzeugt, daß ihr uns unterstützen werdet.« Dieser Appell, den die Soldaten so gut<br />
begriffen, rief einen Sturm echter Begeisterung hervor, in dem die Proteste einzelner<br />
Menschewiki spurlos untergingen. Die Frage <strong>der</strong> Versetzung <strong>der</strong> Regimenter konnte man<br />
von nun an als entschieden betrachten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 604
Der von Lasimir vorgetragene Entwurf <strong>der</strong> Leitsätze wurde mit einer Mehrheit von<br />
zweihun<strong>der</strong>tdreiundachtzig gegen eine Stimme bei dreiundzwanzig Stimmenthaltungen<br />
angenommen. Diese Zahlen, überraschend selbst für die Bolschewiki, ließen den revolutionären<br />
Druck <strong>der</strong> Massen erkennen. Die Abstimmung bedeutete, daß die Soldatensektion<br />
offen und offiziell die Verwaltung <strong>der</strong> Garnison aus den Händen des<br />
Regierungsstabes in die Hände des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees übertrug. Die<br />
nahe Zukunft wird zeigen, daß dies keine leere Demonstration war.<br />
Am gleichen Tage veröffentlichte das Exekutivkomitee des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets die<br />
Mitteilung, daß eine eigene Sektion <strong>der</strong> Roten Garde ihm angeglie<strong>der</strong>t sei. Die von den<br />
Versöhnlem in Acht getane und sogar verfolgte Sache <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung wurde zur<br />
wichtigsten Aufgabe des bolschewistischen Sowjets. Das argwöhnische Verhalten <strong>der</strong><br />
Soldaten zur Roten Garde lag weit zurück. Im Gegenteil, fast in allen Regimentsresolutionen<br />
wird die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung hervorgehoben. Rote Garde und<br />
Garnison stehen von nun an in einer Reihe. Bald werden sie sich noch enger verbinden<br />
durch gemeinsame Unterordnung unter das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee.<br />
Die Regierung wurde unruhig. Am Morgen des 14. fand bei Kerenski eine Ministerberatung<br />
statt, die den vom Stab getroffennen Maßnahmen gegen diese sich vorbereitende<br />
"Erhebung" zustimmte. Die Machthaber schwankten: wird sich die Sache diesmal auf<br />
eine bewaffnete Demonstration beschränken, o<strong>der</strong> aber wird es zum Aufstande kommen?<br />
Der Bezirkskommandierende erklärte Pressevertretern: »Wir sind für jeden Fall<br />
gerüstet.« Todgeweihte verspüren nicht selten einen Kräftezustrom gerade am Vorabend<br />
ihres Unterganges.<br />
In einer vereinigten Sitzung <strong>der</strong> Exekutivkomitees for<strong>der</strong>te Dan, die Juni-Intonationen<br />
des nach dem Kaukasus verschwundenen Zeretelli nachahmend, von den Bolschewiki<br />
Antwort auf die Frage: Gedenken sie hervorzutreten, und wenn sie es denken; wann<br />
also? Aus Rjasanows Antwort zog <strong>der</strong> Menschewik Bogdanow die nicht unbegründete<br />
Schlußfolgerung, die Bolschewiki bereiten den Aufstand vor und werden an <strong>der</strong> Spitze<br />
<strong>der</strong> Aufständischen sein. Die menschewistische Zeitung schrieb: »Auf die Nichtversetzung<br />
<strong>der</strong> Garnison stützen sich offenbar die Berechnungen <strong>der</strong> Bolschewiki bei <strong>der</strong><br />
bevorstehenden Machtergreifung.« Machtergreifung wurde aber dabei in Anführungsstriche<br />
gesetzt: die Versöhnler glaubten noch nicht ernstlich an die Gefahr. Sie fürchteten<br />
weniger einen Sieg <strong>der</strong> Bolschewiki als den Triumph <strong>der</strong> Konterrevolution infolge neuer<br />
Ausbrüche des Bürgerkrieges.<br />
Nachdem er die Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter in seine Hände genommen, mußte sich <strong>der</strong><br />
Sowjet den Weg zu den Waffen bahen. Das geschah nicht mit einem Mal. Je<strong>der</strong> praktische<br />
Schritt vorwärts wurde auch hier von den Massen souffliert. Man mußte nur<br />
aufmerksam auf ihre Vorschläge achten. Vier Jahre nach den Ereignissen erzählte<br />
Trotzki auf einem <strong>der</strong> Oktoberrevolution gewidmeten Gedenkabend: »Als eine Delegation<br />
von den Arbeitern kam und sagte: "Wir brauchen Waffen", antwortete ich: "Aber<br />
das Arsenal ist ja nicht in unseren Händen." Sie sagten: "Wir waren in <strong>der</strong> Sestrorezki-<br />
Waffenfabrik." - "Nun, und?" - "Man hat uns dort gesagt: wenn <strong>der</strong> Sowjet befiehlt,<br />
werden wir liefern. Ich stellte eine Or<strong>der</strong> aus auf fünftausend Gewehre, und die Arbeiter<br />
erhielten sie am gleichen Tage. Das war das erste Experiment.« Die feindliche Presse<br />
stimmte sofort ein Geheul an, eine staatliche Fabrik habe Waffen ausgeliefert aufgrund<br />
<strong>der</strong> Or<strong>der</strong> einer unter Anklage des Hochverrats stehenden und nur gegen Kaution aus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 605
dem Gefängnis freigelassenen Person. Die Regierung schwieg. Aber auf die Bühne trat<br />
das oberste Organ <strong>der</strong> Demokratie mit strengem Befehl: ohne seine, des Zentral-Exekutivkomitees,<br />
Erlaubnis seien an niemand Waffen auszuliefern. Es sollte scheinen, daß in<br />
Fragen <strong>der</strong> Waffenilieferung Dan o<strong>der</strong> Goz ebensowenig verbieten konnten, wie Trotzkti<br />
erlauben o<strong>der</strong> befehlen: Fabriken und Arsenale unterstanden <strong>der</strong> Regierung. Doch<br />
Mißachtung <strong>der</strong> offiziellen Behörden in allen ernsten Augenblicken bildete eine Tradition<br />
des Zentral-Exekutivkomitees und gehörte zu den festen Gewohnheiten <strong>der</strong> Regierung<br />
selbst, denn sie entsprach <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Dinge. Die Verletzung <strong>der</strong> Tradition und<br />
Gewohnheit war vom an<strong>der</strong>en Ende gekommen: als sie auffiörten, die Donner des<br />
Exekutivkomitees von den Blitzen Kerenskis zu trennen, begannen die Arbeiter und<br />
Soldaten die einen wie die an<strong>der</strong>en zu ignorieren.<br />
Es war bequemer, die Versetzung <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Regimenter im Namen <strong>der</strong> Front zu<br />
for<strong>der</strong>n als im Namen <strong>der</strong> Hinterlandkanzleien. Aus diesen Erwägungen heraus unterstellte<br />
Kerenski die Petrogra<strong>der</strong> Garnison dem Höchstkommandierenden <strong>der</strong> Nordfront,<br />
Tscheremissow. Indem er die Hauptstadt in militärischer Hinsicht von seinem eigenen<br />
Amtsbereiche als Regierungshaupt ausnahm, tröstete sich Kerenski mit dem Gedanken,<br />
sie sich als dem Höchstkommandierenden zu unterstellen. General Tscheremissow, dem<br />
es bevorstand, eine harte Nuß zu knacken, suchte seinerseits Hilfe bei den Kommissaren<br />
und Komiteevertretern. Mit vereinten Kräften wurde ein Plan für die nächstfolgenden<br />
Operationen ausgearbeitet. Auf den 17. berief <strong>der</strong> Frontstab gemeinsam mit den Armeeorganisationen<br />
Vertreter des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets nach Pskow, um ihnen vor dem Antlitz<br />
<strong>der</strong> Schützengräben seine For<strong>der</strong>ung direkt zu stellen.<br />
Dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet blieb nichts an<strong>der</strong>es übrig, als die Herausfor<strong>der</strong>ung anzunehmen.<br />
An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Sitzung vom 16. geschaffenen Delegation von einigen<br />
Dutzend Mann, etwa zu gleichen Hälften aus Sowjetmitglie<strong>der</strong>n und aus Vertretern <strong>der</strong><br />
Regimenter, standen: <strong>der</strong> Vorsitzende <strong>der</strong> Arbeitersektion, Fedorow, und die Führer <strong>der</strong><br />
Soldatensektion wie <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, Laschewitseh,<br />
Sadowski, Mechonoschin, Daschkewitsch und an<strong>der</strong>e. Einige in die Delegation aufgenommene<br />
linke Sozialrevolutionäre und Menschewiki-Intemationalisten hatten sich<br />
verpflichtet, in Pskow die Politik des Sowjets zu verteidigen. In <strong>der</strong> Besprechung <strong>der</strong><br />
Delegation vor <strong>der</strong> Abreise wurde eine von Swerdlow entworfne Erklärung<br />
angenommen.<br />
In <strong>der</strong> gleichen Sowjetsitzung wurde die Verordnung über das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
behandelt. Kaum entstanden, erhielt diese Institution in den Augen <strong>der</strong><br />
Gegner von Tag zu Tag verhaßtere Gestalt. »Die Bolschewiki geben keine Antwort«, rief<br />
<strong>der</strong> Redner <strong>der</strong> Oppüsition, »auf die direkte Frage: ob sie eine Erhebung vorbereiten?<br />
Das ist Feigheit o<strong>der</strong> Zweifel an den eigenen Kräften.« In <strong>der</strong> Versammlung ertönt<br />
einmütiges Lachen: ein Vertreter <strong>der</strong> Regierungspartei verlangt, daß die Partei des<br />
Aufstandes ihm ihr Herz öffne. Das neue Komitee, fährt <strong>der</strong> Redner fort, sei nichts<br />
an<strong>der</strong>es als »ein revolutionärer Stab für die Machtergreifüng«. Sie, die Menschewiki,<br />
würden da nicht hineingehen. »Wie viele seid ihr?« ertönte es von den Plätzen. Im<br />
Sowjet sind <strong>der</strong> Menschewiki zwar nicht viele, etwa fünfzig Mann, aber es ist ihnen<br />
genau bekannt, daß »die Massen mit <strong>der</strong> Erhebung nicht sympathisieren«. In seiner<br />
Replik leugnet Trotzki nicht, daß die Bolschewiki sich auf die Machtergreifung vorbereiten:<br />
»Wir machen daraus kein Geheimnis.« Doch gehe es jetzt nicht darum. Die Regie-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 606
ung habe die For<strong>der</strong>ung gestellt, die revolutionären Truppen aus Petrograd zu entfernen,<br />
»und wir müssen sagen: ja o<strong>der</strong> nein«. Lasimirs Entwurf wird mit vernichten<strong>der</strong><br />
Stimmenmehrheit angenommen. Der Vorsitzende for<strong>der</strong>t das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
auf, am nächsten Tage an die Arbeit zu gehen. So ist ein weiterer Schritt vorwärts<br />
getan.<br />
Der Bezirkskommandierende Polkownikow berichtete an diesem Tage <strong>der</strong> Regierung<br />
von <strong>der</strong> sich vorbereitenden Erhebung <strong>der</strong> Bolschewiki. Die Meldung ist in zuversichtlichen<br />
Tönen gehalten: die Garnison sei im allgemeinen auf seiten <strong>der</strong> Regierung, die<br />
Junkerschulen hätten Bereitschaftsbefehl bekommen. In seinem Aufruf an die Bevölkerung<br />
versprach Polkownikow, nötigenfalls »zu äußersten Maßnahmen« zu greifen.<br />
Bürgermeister Schrei<strong>der</strong>, ein Sozialrevolutionär, flehte seinerseits, »zur Vermeidung des<br />
sicheren Hungers in <strong>der</strong> Hauptstadt keine Unruhen zu veranstalten«. Drohend und<br />
beschwörend, sich Mut machend und sich ängstigend, schlug die Presse immer schrillere<br />
Töne an.<br />
Um die Phantasie <strong>der</strong> Delegation des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets zu beeinflussen, war für den<br />
Empfang in Pskow eine kriegstheatralische Ausstattung vorbereitet worden. Im Sitzungsraum<br />
des Stabes an mit achtunggebietenden Karten bedeckten Tischen saßen Generale,<br />
hohe Kommissare mit Wojtinski an <strong>der</strong> Spitze und Vertreter <strong>der</strong> Armeekomitees. Die<br />
Chefs <strong>der</strong> Stabsabteilungen erstatteten Berichte über die Kriegslage zu Lande und zu<br />
Wasser. Die Schlußfolgerungen <strong>der</strong> Berichterstatter trafen sich in einem Punkte: es sei<br />
unerläßlich, zwecks Verteidigung <strong>der</strong> Zugänge zur Hauptstadt die Petrogra<strong>der</strong> Garnison<br />
sofort zu versetzen. Kommissare und Komiteevertreter wiesen mit Entrüstung den<br />
Verdacht an irgendwelche geheimen politischen Motive zurück: die gesamte Operation<br />
sei von strategischer Notwendigkeit diktiert. Direkte Gegenbeweise hatten die Delegierten<br />
nicht: in solchen Fällen liegt das Korpus delikti nicht auf <strong>der</strong> Straße. Doch die ganze<br />
Situation wi<strong>der</strong>legte die Argumente <strong>der</strong> Strategie. Nicht an Menschen mangelte es <strong>der</strong><br />
Front, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Menschen, Krieg zu führen. Die Verfassung <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Garnison war keinesfalls <strong>der</strong>art, um die erschütterte Front zu festigen.<br />
Außerdem waren die Lehren <strong>der</strong> Kornilowtage allen noch frisch im Gedächtnis. Die von<br />
<strong>der</strong> Richtigkeit ihrer Einstellung überzeugte Delegation wi<strong>der</strong>stand leicht dem Druck des<br />
Stabes und kehrte nach Petrograd noch einmütiger zurück, als sie hingereist war.<br />
Jene direkten Korpora delikti, die damals den Beteiligten fehlten, stehen jetzt dem<br />
Historiker zur Verfügung. Die militärische Geheimkorrespondenz legt Zeugnis ab dafür,<br />
daß nicht die Front die Petrogra<strong>der</strong> Regimenter for<strong>der</strong>te, son<strong>der</strong>n Kerenski sie <strong>der</strong> Front<br />
aufzuzwingen suchte. Auf ein Telegramm des Kriegsministers antwortete <strong>der</strong> Oherkommandierende<br />
<strong>der</strong> Nordfront: »Geheim. 17. X. Die Initiative zur Sendung von Truppen <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Garnison an die Front ging von Ihnen aus, nicht aber von mir ... Als<br />
bekannt wurde, daß die Truppenteile <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Garnison sich weigerten, an die<br />
Front zu gehen, das heißt, daß sie nicht kampffähig seien, sagte ich in einem Privatgespräch<br />
mit Ihrem Vertreter, einem Offizier, daß ... wir solcher Truppenteile an <strong>der</strong> Front<br />
zur Genüge hätten; aber in Anbetracht des von Ihnen geäußerten Wunsches, sie an die<br />
Front zu schicken, lehnte ich es nicht ab und lehne es auch heute nicht ab, falls Sie die<br />
Versetzung <strong>der</strong> Truppen aus Petrograd auch weiterhin als notwendig betrachten<br />
sollten.« Der halb polemische Charakter des Telegramms läßt sich damit erklären, daß<br />
Tscheremissow, ein zur höheren Politik neigen<strong>der</strong> General, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Zarenarmee als<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 607
"Roter" galt und später nach Miljukows Äußerung »Favorit <strong>der</strong> revolutionären<br />
Demokratie« wurde, inzwischen offenbar zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung gelangt war, daß es<br />
besser sei, sich von <strong>der</strong> Regierung bei <strong>der</strong>en Konflikt mit den Bolschewiki beizeiten<br />
abzugrenzen. Tscheremissows Verhalten in den Tagen <strong>der</strong> Umwälzung bestätigt diese<br />
Deutung vollauf<br />
Der Kampf um die Garnison verflocht sich mit dem Kampf um den Sowjetkongreß.<br />
Bis zu dem ursprünglich vorgesehenen Termin blieben vier bis fünf Tage. Man erwartete<br />
die "Erhebung" im Zusammenhang mit dem Kongreß. Es wurde angenommen, daß die<br />
Bewegung, wie in den Julitagen, sich nach dem Typus einer bewaffneten Massendemonstration<br />
mit Straßenkämpfen entwickeln würde. Der rechte Menschewik Potressow,<br />
offenbar gestützt auf Angaben <strong>der</strong> Konterspionage o<strong>der</strong> <strong>der</strong> französischen<br />
Militärmission, die kühn falsche Dokumente fabrizierte, schil<strong>der</strong>te in <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Presse den Plan <strong>der</strong> bolschewistischen Erhebung, die in <strong>der</strong> Nacht auf den 17. Oktober<br />
stattfinden sollte. Die findigen Autoren des Planes vergaßen nicht, vorzusehen, daß die<br />
Bolschewiki bei einer ihrer Sperrketten »dunkle Elemente« mitnehmen würden. Soldaten<br />
<strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>egimenter können ebensogut lachen wie die Götter Homers. Die weißen<br />
Säulen und die Lüster des Smolny erbebten vor Lachsalven beim Verlesen des Potressowschen<br />
Artikels in einer Sitzung des Sowjets. Doch die weise Regierung, die nicht zu<br />
erkennen vermochte, was vor ihren Augen geschah, war ernstlich erschrocken über die<br />
unsinnige Fälschung und versammelte sich in aller Eile um zwei Uhr nachts, um die<br />
»dunklen Elemente« abzuwehren. Nach neuen Beratungen Kerenskis mit den Militärbehörden<br />
wurden erfor<strong>der</strong>liche Maßnahmen ergriffen: die Wachen des Winterpalais und<br />
<strong>der</strong> Staatsbank verstärkt; zwei Fähnrichschulen aus Oranienbaum angefor<strong>der</strong>t und sogar<br />
ein Panzerzug von <strong>der</strong> rumänischen Front. »In letzter Minute gaben die Bolschewiki«,<br />
nach Miljukows Worten, »ihre Vorbereitungen auf. Warum sie das taten, ist unklar.«<br />
Mehrere Jahre nach den Ereignissen zog es <strong>der</strong> gelehrte Geschichtsschreiber immer noch<br />
vor, einer sich selbst wi<strong>der</strong>legenden Erfindung zu glauben.<br />
Die Behörden beauftragten die Miliz, eine Rekognoszierung in den Außenbezirken <strong>der</strong><br />
Stadt vorzunehmen, um die Spuren des sich vorbereitenden Aufstandes zu entdecken.<br />
Die Berichte <strong>der</strong> Miliz bilden eine Mischung von lebendigen Beobachtungen und<br />
Polizeistumpfsinn. Im Alexandro-Newski-Stadtteil, wo eine Reihe <strong>der</strong> größten Fabriken<br />
liegt, beobachteten die Kundschafter völlige Ruhe. Im Wyborger Bezirk predigte man<br />
offen die Notwendigkeit des Regierungssturzes, aber »nach außen« war alles ruhig. Im<br />
Wassiliostrower Bezirk ist die Stimmung bewegt, aber auch dort »keine äußeren Anzeichen<br />
einer nahenden Erhebung«. Auf <strong>der</strong> Narwaer Seite wird heftig für den Aufstand<br />
agitiert, aber auf die Frage, wann eigentlich, konnte man von niemand Antwort erhalten:<br />
entwe<strong>der</strong> wird Tag und Stunde streng geheim gehalten, o<strong>der</strong> aber keiner kennt sie<br />
tatsächlich. Es wird beschlossen: die Patrouillen in den Außenbezirken zu verstärken und<br />
durch Milizkommissare die Posten häufiger zu kontrollieren.<br />
Die Korrespondenz einer Moskauer liberalen Zeitung ergänzt nicht übel den Bericht<br />
<strong>der</strong> Miliz: »In den Außenbezirken, in den Newski-, Obuchow- und Putilow-Werken, ist<br />
die bolschewistische Agitation für den Aufstand in voller Entfaltung. Die Stimmung <strong>der</strong><br />
Arbeiter ist <strong>der</strong>art, daß sie jeden Augenblick bereit sind, zu marschieren. In den letzten<br />
Tagen ist in Petrograd ein unerhörter Zustrom von Deserteuren zu beobachten ... Auf<br />
dem Warschauer Bahnhof kann man sich kaum bewegen vor verdächtig aussehenden<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 608
Soldaten mit brennenden Augen und erregten Gesichtern ... Man berichtet, daß in<br />
Petrogtad ganze Diebesbanden, die Beute wittern, eingetroffen seien. Dunkle Elemente,<br />
die Teehäuser und Spelunken füllen, werden organisiert ...« Spießerängste und Polizeimärchen<br />
verflechten sich hier mit <strong>der</strong> rauhen Wirklichkeit. Der Lösung nahegerückt,<br />
wühlte die revolutionäre Krise bis auf den Grund die gesellschaftlichen Tiefen auf.<br />
Deserteure, Diebesbanden, Spelunken hatten sich tatsächlich auf das Gedröhn des nahenden<br />
Erdbebens hin erhoben. Die Spitzen <strong>der</strong> Gesellschaft blickten mit physischem<br />
Grauen auf die entfesselten Kräfte ihres Regimes, dessen Laster und Gebresten. Die<br />
<strong>Revolution</strong> hatte sie nicht geschaffen, son<strong>der</strong>n nur bloßgelegt.<br />
In diesen Tagen schrieb im Korpsstab zu Dwinsk <strong>der</strong> uns bereits bekannte Baron<br />
Budberg, galliger Reaktionär, nicht ohne Beobachtungsgabe und eigenartigem Scharfsinn:<br />
»Kadetten, Kadetoiden, Oktobristen und <strong>Revolution</strong>äre verschiedener Färbungen,<br />
<strong>der</strong> alten und <strong>der</strong> Märzformationen, wittern ihr nahes Ende und kreischen aus aller<br />
Kraft, Muselmanen ähnlich, welche die Mondfinsternis durch Klappern abwenden<br />
möchten.«<br />
Am 18. wird zum erstenmal die Garnisonberatung einberufen. Ein Funktelegramm an<br />
die Truppenteile for<strong>der</strong>te auf, von eigen-mächtigen Aktionen abzusehen und nur jene<br />
Stabsbefehle auszuführen, die durch die Soldatensektion bekräftigt sind. Der Sowjet<br />
machte somit einen entscheidenden Versuch, offen die Kontrolle über die Garnison in<br />
seine Hände zu nehmen. Der Fernspruch stellte im Grunde nichts an<strong>der</strong>es dar als einen<br />
Aufruf zur Absetzung <strong>der</strong> bestehenden Behörden. Doch konnte man, wenn man wollte,<br />
ihn deuten als friedlichen Akt <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong> Versöhnler durch die Bolschewiki in <strong>der</strong><br />
Doppelherrschaftsmechanik. Praktisch kam es auf dasselbe hinaus, nur ließ die biegsamere<br />
Deutung Raum für Illusionen. Das Präsidium des Zentral-Exekutivkomitees, das<br />
sich als Herr des Smolny betrachtete, machte den Versuch, die Verbreitung des<br />
Fernspruchs zu unterbinden. Dadurch hatte es sich nur um ein übriges kompromittiert.<br />
Die Versammlung <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Regiments und Kompaniekomitees Petrograds und<br />
Umgebung trat zur festgesetzten Stunde zusammen und war außerordentlich zahlreich<br />
besucht.<br />
Dank <strong>der</strong> von den Gegnern geschaffenen Atmosphäre konzentrierten sich die Referate<br />
<strong>der</strong> Teilnehmer an <strong>der</strong> Garnisonberatung automatisch auf die Frage <strong>der</strong> bevorstehenden<br />
"Erhebung". Es erfolgte ein bemerkenswerter namentlicher Appell, zu dem sich die<br />
Führer kaum aus eigener Initiative entschlossen haben würden. Gegen die Erhebung<br />
sprechen sich aus: die Fähnrichschule von Peterhof und das 9. Kavallerieregiment. Die<br />
Marschschwadronen <strong>der</strong> Gardekavallerie neigen zu Neutralität. Die Fähnrichschule von<br />
Oranienbaum wird nur den Befehlen des Zentral-Exekutivkomitees gehorchen. Darauf<br />
beschränken sich die feindlichen o<strong>der</strong> neutralen Stimmen. Die Bereitschaft, sich auf den<br />
ersten Ruf des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets zu erheben, erklären: die Jäger-, Moskauer-,<br />
Wolyner-, Pawlowsker-, Keksholmer-, Semjonowsker-, Ismajlowsker-, 1. Schützen- und<br />
3. Reserveregimenter, die 2. Baltische Equipage, das Elektrotechnische Bataillon, die<br />
Artillerie-Gardedivision. Das Grenadierregiment will hervortreten erst nach Auffor<strong>der</strong>ung<br />
des Sowjetkongresses: dies genügt. Kleinere Truppenteile schließen sich <strong>der</strong><br />
Mehrheit an. Vertretern des Zentral-Exekutivkomitees, das noch vor kurzem, und nicht<br />
ohne Berechtigung, als die Quelle seiner Macht die Petrogra<strong>der</strong> Garnison betrachtet<br />
hatte, wird diesmal fast einstimmig das Wort verweigert. In ohnmächtiger Wut verlassen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 609
sie die »unrechtmäßige« Versammlung, die auf Antrag des Vorsitzenden sofort<br />
beschließt: ohne Gegenzeichnung des Sowjets sind Befehle ungültig.<br />
Was sich im Bewußtsein <strong>der</strong> Garnison während <strong>der</strong> letzten Monate und beson<strong>der</strong>s<br />
Wochen vorbereitet hatte, kristallisierte sich jetzt. Die Bedeutungslosigkeit <strong>der</strong> Regierung<br />
erwies sich größer, als man hatte vermuten können. Während die Stadt erfüllt war<br />
von Gerüchten über Erhebung und blutige Kämpfe, machte die Beratung <strong>der</strong> Regimentskomitees,<br />
die ein erdrückendes Übergewicht <strong>der</strong> Bolschewiki ergab, sowohl Demonstrationen<br />
wie Massenkämpfe unnötig. Die Garnison ging sicheren Schrittes <strong>der</strong> Umwälzung<br />
entgegen, die sie nicht als Aufstand empfand, son<strong>der</strong>n als Verwirklichung des unbestrittenen<br />
Rechtes <strong>der</strong> Sowjets, über das Schicksal des Landes zu verfügen. In dieser<br />
Bewegung lag unüberwindliche Kraft, doch gleichzeitig auch Schwerfälligkeit. Die<br />
Partei mußte ihr Handeln geschickt dem politischen Schritt <strong>der</strong> Regimenter anpassen,<br />
<strong>der</strong>en Mehrzahl auf den Ruf des Sowjets, einige aber auf den des Sowjetkongresses<br />
warteten.<br />
Und die Gefahr einer auch nur vorübergehenden Verwirrung in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
Offensive abzuwenden, war es unbedingt notwendig, Antwort zu geben auf die Frage,<br />
die nicht nur Feind, son<strong>der</strong>n auch Freund bewegte: wird wirklich, wenn nicht heute, so<br />
doch morgen, <strong>der</strong> Aufstand entbrennen? In Trams, Straßen, Geschäften ist von nichts<br />
an<strong>der</strong>em mehr die Rede als vom kommenden Aufstande. Auf dem Schloßplatz, vor dem<br />
Winterpalais und dem Stabsgebäude lange Reihen Offiziere, die <strong>der</strong> Regierung ihre<br />
Dienste anbieten und im Austausch dafür Revolver erhalten: im Augenblick <strong>der</strong> Gefahr<br />
wird man we<strong>der</strong> von den Revolvern noch vön <strong>der</strong>en Besitzern etwas merken. Der Frage<br />
des Aufstandes sind heute die Leitartikel sämtlicher Zeitungen gewidmet.Gorki for<strong>der</strong>t<br />
von den Bolschewiki, wenn sie nicht »das willenlose Spielzeug einer verwil<strong>der</strong>ten<br />
Menge« seien, die Gerüchte zu wi<strong>der</strong>legen. Der Druck <strong>der</strong> Ungewißheit dringt auch in<br />
die Arbeiterviertel und vor allem in die Regimenter. Dort entsteht <strong>der</strong> Anschein, es<br />
bereite sich ein Aufstand vor ohne sie. Von wem? Warum schweigt das Smolny? Die<br />
wi<strong>der</strong>spruchsvolle Stellung des Sowjets als offenes Parlament und revolutionärer Stab<br />
schuf an <strong>der</strong> letzten Etappe große Schwierigkeiten. Weiter zu schweigen wurde unmöglich.<br />
»Die letzten Tage«, sagt Trotzki am Schluß <strong>der</strong> Abendsitzung des Sowjets, »ist die<br />
Presse voll von Meldungen, Gerüchten und Artikeln über die bevorstehende Erhebung<br />
... Beschlüsse des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets werden zur allgemeinen Kenntnis veröffentlicht.<br />
Der Sowjet ist eine gewählte Institution und ... es kann keine Beschlüsse gehen, die den<br />
Arbeitern und Soldaten nicht bekannt wären ... Ich erkläre im Namen des Sowjets:<br />
keinerlei bewaffnete Demonstrationen sind von uns angesetzt worden. Wäre aber <strong>der</strong><br />
Sowjet nach dem Gang <strong>der</strong> Dinge gezwungen, eine Erhebung anzusetzen, die Arbeiter<br />
und Soldaten würden auf seinen Ruf wie ein Mann hervortreten ... Man verweist<br />
darauf, daß ich eine Or<strong>der</strong> auf fünftausend Gewehre unterschrieben habe ... Ja, ich<br />
habe unterschrieben ... Der Sowjet wird auch künftighin die Arbeitergarde organisieren<br />
und bewaffnen.« Die Delegierten begriffen: die Schlacht ist nahe, doch ohne sie<br />
o<strong>der</strong> unter Umgehung ihrer wird das Signal nicht gegeben werden.<br />
Aber außer <strong>der</strong> beruhigenden Erklärung braucht die Masse eine klare revolutionäre<br />
Perspektive. Der Redner verknüpft zwei Fragen miteinan<strong>der</strong>: die Versetzung <strong>der</strong> Garnison<br />
und den bevorstehenden Sowjetkongreß. »Wir haben mit <strong>der</strong> Regierung einen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 610
Konflikt, <strong>der</strong> einen sehr scharfen Charakter annehmen kann ... Wir gestatten nicht ...<br />
Petrograd seiner revolutionären Garnison zu entblößen.« Dieser Konflikt hängt seinerseits<br />
von einem an<strong>der</strong>en heranrückenden Konflikt ab. »Es ist <strong>der</strong> Bourgeoisie bekannt,<br />
daß <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet dem Sowjetkongreß vorschlagen wird, die Macht in seine<br />
Hände zu nehmen ... Und nun versuchen die bürgerlichen Klassen, in Voraussicht des<br />
unvermeidlichen Kampfes, Petrograd zu entwaffnen.« Die politische Verknotung <strong>der</strong><br />
Umwälzung wurde in dieser Rede zum erstenmal konkret gezeigt: wir sind im Begriff,<br />
die Macht zu ergreifen, wir brauchen die Garnison, wir werden sie uns nicht nehmen<br />
lassen. »Beim ersten Versuch <strong>der</strong> Konterrevolution, den Kongreß zu sprengen, werden<br />
wir mit einer Gegenoffensive antworten, die unbarmherzig sein wird und die wir restlos<br />
durchführen werden.« Die Ankündigung <strong>der</strong> entschiedenen politischen Offensive<br />
schließt auch diesmal mit <strong>der</strong> Formel <strong>der</strong> militärischen Verteidigung.<br />
Suchanow, <strong>der</strong> in die Sitzung gekommen war mit dem aussichtslosen Projekt, den<br />
Sowjet für eine Ehrung Gorkis zu gewinnen, hat später den an diesem Tage geknüpften<br />
revolutionären Knoten recht gut charakterisiert. Für das Smolny sei die Frage <strong>der</strong> Garnison<br />
die Frage des Aufstandes. Für die Soldaten sei es die Frage ihres Schicksals. »Es ist<br />
schwer, sich einen gelungeneren Ausgangspunkt für die Politik dieser Tage<br />
vorzustellen.« Das hin<strong>der</strong>t Suchanow nicht, die Gesamtpolitik <strong>der</strong> Bolschewiki für<br />
ver<strong>der</strong>blich zu halten. Gemeinsam mit Gorki und Tausenden radikaler Intellektuellen<br />
fürchtete er am meisten jene angeblich »verwil<strong>der</strong>te Menge«, die mit bemerkenswerter<br />
Planmäßigkeit tagaus, tagein ihren Angriff entwickelte.<br />
Der Sowjet ist mächtig genug, um offen das Programm <strong>der</strong> Staatsumwälzung zu<br />
proklamieren und sogar die Frist dafür anzusetzen. Gleichzeitig ist er - bis auf den von<br />
ihm selbst vorgesehenen Tag des vollen Sieges - ohnmächtig in tausend großen und<br />
kleinen Fragen. Kerenski, <strong>der</strong> politisch bereits auf Null hinabgesunken ist, erläßt noch<br />
Dekrete im Winterpalais. Lenin, <strong>der</strong> Inspirator <strong>der</strong> unerschütterlichen Massenbewegung,<br />
hält sich verborgen, und <strong>der</strong> Justizminister Maljantowitsch befiehlt in diesen Tagen dem<br />
Staatsanwalt erneut, Lenins Verhaftung anzuordnen. Sogar im Smolny, auf seinem<br />
eigenen Territorium, lebt <strong>der</strong> allmächtige Petrogra<strong>der</strong> Sowjet scheinbar nur von Gnaden.<br />
Die Verwaltung von Gebäuden, Kasse, Expedition, Automobilen, Telephonen ist noch<br />
immer in Händen des Zentral-Exekutivkomitees, das sich selbst an den dünnen Fäden <strong>der</strong><br />
Erbfolge hält.<br />
Suchanow erzählt, wie er nach <strong>der</strong> Sitzung, spät nachts, in die Anlagen des Smolny<br />
hinausging, in höllisehe Finsternis und strömenden Regen. Eine ganze Menge Delegierter<br />
stampfte hoffnungslos vor den paar rauchenden und qualmenden Automobilen, die die<br />
reichen Garagen des Zentral-Exekutivkomitees dem bolschewistischen Sowjet überlassen<br />
hatten. »An die Automobile«, erzählt <strong>der</strong> allgegenwärtige Beobachter, »ging auch <strong>der</strong><br />
Vorsitzende Trotzki heran. Doch nachdem er eine Minute stehengeblieben war und<br />
zugesehen hatte, lächelte er, patschte durch die Pfützen davon und verschwand in <strong>der</strong><br />
Dunkelheit.« Auf <strong>der</strong> Trambahnplattform stieß Suchanow mit einem kleinen Mann von<br />
bescheidenem Aussehen, mit schwarzem Spitzbärtchen zusammen. Der Unbekannte<br />
bemühte sich, Suchanow über die Unbill des langen Weges zu trösten. »Wer ist das?«<br />
fragte Suchanow seine Begleiterin, eine Bolsehewikin. »Der alte Parteiarbeiter Swerdlow.«<br />
Kaum zwei Wochen später wird dieser kleine Mann mit dem schwarzen Bärtchen<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> des Zentral-Exekutivkomitees sein, des obersten Organs <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 611
Sowjetrepublik. Allem Anschein nach tröstete Swerdlow seinen Reisebegleiter aus einem<br />
Dankbarkeitsgefühl heraus: acht Tage zuvor hatte in Suchanows Wohnung, allerdings<br />
ohne dessen Wissen, jene Sitzung des Zentralkomitees <strong>der</strong> Bolschewiki stattgefünden,<br />
die den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung stellte.<br />
Am nächsten Morgen unternimmt das Zentral-Exekutivkomitee einen Versuch, das<br />
Rad <strong>der</strong> Ereignisse zurückzudrehen. Das Präsidium beruft eine "gesetzmäßige" Garnisonversammlung<br />
ein, wobei es auch jene zurückgebliebenen, seit langem nicht mehr neu<br />
gewählten Komitees hinzuzieht, die am Vorabend gefehlt hatten. Die Nachprüfung <strong>der</strong><br />
Garnison, die etliches Neue brachte, bestätigte um so krasser das gestrige Bild. Gegen<br />
eine Erhebung sprachen sich diesmal aus: die meisten Komitees <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung<br />
stationierten Truppenteile und die Komitees <strong>der</strong> Panzerdivision: die einen wie die<br />
an<strong>der</strong>en erklärten ihre Unterordnung unter das Zentral-Exekutivkomitee. Das ist nicht zu<br />
ignoneren.<br />
Die auf <strong>der</strong> kleinen von <strong>der</strong> Newa und <strong>der</strong>en Kanal umspülten Insel zwischen <strong>der</strong><br />
Innenstadt und zwei Bezirken liegende Festung beherrscht die nächsten Brücken und<br />
deckt o<strong>der</strong> aber entblößt von <strong>der</strong> Flußseite her die Zugänge zum Winterpalais, dem Sitz<br />
<strong>der</strong> Regierung. Ohne militärische Bedeutung bei Operationen größeren Maßstabes, kann<br />
die Festung ein gewichtiges Wort im Straßenkampf mitsprechen. Außerdem, und das ist<br />
vielleicht das wichtigste, befindet sich bei <strong>der</strong> Festung das reiche Kronwerksker Arsenal:<br />
die Arbeiter brauchen Gewehre, aber auch die revolutionären Regimenter sind fast ohne<br />
Waffen. Die Wichtigkeit von Panzerwagen für den Straßenkampf bedarf keiner Erläuterungen:<br />
auf seiten <strong>der</strong> Regierung können sie viele unnötige Opfür for<strong>der</strong>n; auf seiten des<br />
Aufstandes - den Weg zum Siege abkürzen. Der Festung und <strong>der</strong> Panzerdivision werden<br />
die Bolschewiki in den nächsten Tagen beson<strong>der</strong>es Augenmerk zuwenden müssen. Im<br />
übrigen erwies sich das Kräfieverhältuis in <strong>der</strong> Beratung als das gleiche wie tags zuvor.<br />
Der Versuch des Zentral-Exekutivkomitees, seinen sehr, vorsichtig gehaltenen Beschluß<br />
durchzusetzen, fand kühle Zurückweisung seitens <strong>der</strong> erdrückenden Mehrheit: einberufen<br />
nicht vom Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, hält sich die Versammlung nicht für befugt,<br />
Beschlüsse zu fassen. Die Versöhnlerführer hatten sich selbst diesem ergänzenden<br />
Schlag ausgesetzt.<br />
Da es den Zugang zu den Regimentern von unten verbarrikadiert fand, versuchte das<br />
Zentral-Exekutivkomitee, sich <strong>der</strong> Garnison von oben zu bemächtigen. im Einvernehmen<br />
mit dem Stab ernannte es zum Hauptkommissar des gesamten Bezirkes Stabskapitän<br />
Malewski, einen Sozialrevolutionär, und erklärte sich bereit, die Sowjetkommissare<br />
anzuerkennen, vorausgesetzt, daß diese sich dem Hauptkommissar unterordnen. Dieser<br />
Versuch, sich vermittels eines völlig unbekannten Stabskapitäns rittlings auf die bolschewistische<br />
Garnison zu setzen, war offensichtlich aussichtslos. Der Sowjet wies ihn<br />
zurück und stellte die Verhandlungen ein.<br />
Der von Potressow entlarvte Aufstand fand am 17. nicht statt. Nun nannten die Gegner<br />
mit Bestimmtheit ein neues Datum: den 20. Oktober. Für diesen Tag war ja ursprünglich<br />
die Eröffnung des Sowjetkongresses geplant, <strong>der</strong> Aufstand aber folgte dem Kongreß wie<br />
ein Schatten. Zwar hatte man inzwischen den Kongreß um fünf Tage verlegt; doch einerlei:<br />
<strong>der</strong> Gegenstand war verschoben, <strong>der</strong> Schatten blieb. Die Regierung traf auch diesmal<br />
alle nötigen Maßnahmen zur Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> "Erhebung". An <strong>der</strong> Stadtperipherie<br />
wurden verstärkte Sperrketten aufgestellt, Kosakenpatrouillen durchzogen die Arbeiter-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 612
viertel während <strong>der</strong> ganzen Nacht. An verschiedenen Punkten Petrograds hielt man berittene<br />
Reserven versteckt. Die Miliz ist in Kampfbereitschaft gebracht, und eine Hälfte<br />
ihres Bestandes hält dauernd Wache in den Kommissariaten. Vor dem Winterpalais sind<br />
Panzerwagen, leichte Artillerie und Maschinengewehre postiert. Die Zugänge zum Palais<br />
werden durch Wachposten geschützt.<br />
Der Aufstand, den niemand vorbereitet und zu dem niemand aufgerufen hatte, erfolgte<br />
auch diesmal nicht. Der Tag verlief ruhiger als viele an<strong>der</strong>e, die Arbeit in den Fabriken<br />
wurde nicht unterbrochen. Die von Dan geleiteten 'lswestja' feierten einen Sieg über die<br />
Bolschewiki: »Ihr Abenteuer mit <strong>der</strong> bewaffneten Erhebung in Petrograd ist aus.« Die<br />
Bolschewiki waren vernichtet allein schon durch das Gezeter <strong>der</strong> vereinigten<br />
Demokratie: »Sie ergeben sich bereits.« Man konnte buchstäblich glauben, die kopflos<br />
gewordenen Gegner hätten sich die Aufgabe gestellt, durch vorzeitige Ängste und noch<br />
vorzeitigere Siegesposaunen die eigene "öffentliche Meinung" zu verwirren und die<br />
Pläne <strong>der</strong> Bolschewiki zu decken.<br />
Der ursprünglich am 9. angenommene Beschluß über Schaffung des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees kam erst eine Woche später vor das Sowjetplenum: <strong>der</strong> Sowjet ist<br />
keine Partei, seine Maschine arbeitet schwerfällig. Vier weitere Tage waren erfor<strong>der</strong>lich<br />
für die Bildung des Komitees. Diese zehn Tage verstrichen jedoch nicht unnütz: die<br />
Eroberung <strong>der</strong> Garnison war im vollen Gange, die Beratung <strong>der</strong> Regimentskomitees<br />
konnte ihre Lebensfähigkeit beweisen, die Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter machte Fortschritte,<br />
so daß das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee, das erst am 20., fünf Tage vor dem Aufstande,<br />
an die Arbeit gehen konnte, gleich eine hinlänglich wohlgeordnete Wirtschaft<br />
übernahm. Unter Boykott seitens <strong>der</strong> Versöhnler gingen in das Komitee nur Bolschewiki<br />
und linke Sozialrevolutionäre hinein: das erleichterte und vereinfachte die Aufgabe. Von<br />
den Soziatrevolutionären arbeitete nur Lasimir, <strong>der</strong> sogar an die Spitze des Büros gestellt<br />
wurde, um den Sowjet- und nicht den Parteicharakter <strong>der</strong> Institution - desto krasser zu<br />
unterstreichen. Im wesentlichen jedoch stützte sich das Komitee, dessen Vorsitzen<strong>der</strong><br />
Trotzki, dessen Hauptmitarbeiter, Podwojski, Antonow-Owssejenko, Laschewitseh,<br />
Sadowski und Mechonoschin waren, ausschließlich auf die Bolschewiki. In voller<br />
Zusammensetzung, gemeinsam mit den Vertretern aller in <strong>der</strong> Verordnung aufgezählten<br />
Organisationen, hat das Komitee wohl nicht ein einziges Mal getagt. Die laufende Arbeit<br />
erledigte das Büro unter Leitung des Vorsitzenden mit Hinzuziehung von Swerdlow in<br />
allen wichtigen Fällen. Das eben war <strong>der</strong> Stab des Aufstandes.<br />
Das Bulletin des Komitees registriert bescheiden seine ersten Schritte: Für die aktiven<br />
Truppenteile <strong>der</strong> Garnison, einige Ämter und Lager sind »zur Überwachung und<br />
Leitung« Kommissare ernannt. Das bedeutete, daß <strong>der</strong> Sowjet, nachdem er die Garnison<br />
politisch erobert hatte, sie sich nun auch organisatorisch unterordnete. Bei <strong>der</strong> Auswahl<br />
<strong>der</strong> Kommissare spielte die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki eine große Rolle.<br />
Unter den nahezu tausend Mitglie<strong>der</strong>n, die sie in Petrograd besaß, gab es nicht wenige<br />
entschlossene und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> treu ergebene Soldaten und junge Offiziere, die nach<br />
den Julitagen in Kerenskis Gefängnissen die nötige Stählung erhalten hatten. Die aus<br />
ihrer Mitte erwählten Kommissare fanden bei den Truppenteilen einen wohl-vorbereiteten<br />
Boden: man zählte sie zu den eigenen Leuten und unterwarf sich ihnen bereitwilligst.<br />
Die Initiative zur Besetzung von Ämtern kam am häufigsten von unten. Die Arbeiter<br />
und Angestellten des Arsenals bei <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung erklärten eine Kontrolle über<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 613
die Waffenausgabe für notwendig. Der dorthin entsandte Kommissar konnte noch einer<br />
erneuten Bewaffnung <strong>der</strong> Junker Einhalt tun und zehntausend für das Dongebiet und<br />
kleinere Partien für eine Reihe verdächtiger Organisationen und Personen bestimmte<br />
Gewehre aufhalten. Die Kontrolle erstreckte sich bald auch auf an<strong>der</strong>e Lager und sogar<br />
auf private Waffengeschäfte. Man brauchte sich nur an ein Soldaten-, Arbeiter- o<strong>der</strong><br />
Angestelltenkomitee eines Amtes o<strong>der</strong> eines Geschäftshauses zu wenden, damit <strong>der</strong><br />
Wi<strong>der</strong>stand seitens <strong>der</strong> Admimstration sogleich gebrochen wurde. Die Waflenausgabe<br />
erfolgte von nun an nur auf Or<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommissare.<br />
Durch ihren Verband machten die Druckereiarbeiter das Komitee auf das Anwachsen<br />
von Flugblättern und Broschüren <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>t aufmerksam. Es wurde beschlossen,<br />
daß <strong>der</strong> Verband <strong>der</strong> graphischen Arbeiter sich in allen zweifelhaften Fällen an das<br />
Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee wenden sollte. Die Kontrolle durch die Druckereiarbeiter<br />
war die wirksamste von allen Arten <strong>der</strong> Kontrolle über die gedruckte Agitation <strong>der</strong><br />
Konterrevolution.<br />
Sich nicht auf die formale Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Gerüchte über den Aufstand beschränkend,<br />
beraumte <strong>der</strong> Sowjet offen für Sonntag, den 22., eine friedliche Truppenschau seiner<br />
Kräfte an, aber nicht in Form von Straßenumzügen, son<strong>der</strong>n von Meetings in Betrieben,<br />
Kasernen und allen großen Räumen Petrograds. Mit dem offenkundigen Zweck, eine<br />
blutige Verwirrung hervorzurufen, setzten geheimnisvolle Beter für diesen Tag eine<br />
Kirchenprozession durch die Straßen <strong>der</strong> Hauptstadt an. Der Aufruf im Namen<br />
unbekannter Kosaken lud die Bürger ein, am Kirchgang teilzunehmen »zum Andenken an<br />
die Befreiung Moskaus im Jahre 1812 von den Feinden«. Der gewählte Anlaß war nicht<br />
sehr aktuell; aber die Veranstalter schlugen dem Allmächtigen darüber hinaus vor, die<br />
Kosakenwaffen »zur Verteidigung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Erde gegen die Feinde« zu segnen,<br />
was sich schon offenkundig auf das Jahr 1917 bezog.<br />
Eine ernste konterrevolutionäre Kundgebung zu befürchten war kein Grund: die Geistlichkeit<br />
war in den Petrogra<strong>der</strong> Massen ohnmächtig, unter die Kirchenfahnen konnte sie<br />
nur die jämmerliehen Reste <strong>der</strong> Schwarzhun<strong>der</strong>tbanden gegen die Sowjets locken. Doch<br />
mit Hilfe erfahrener Provokateure aus <strong>der</strong> Konterspionage und dem Kosakenoffizierkorps<br />
waren blutige Zusammenstöße nicht ausgeschlossen. Als Vorbeugungsmaßnahme<br />
begann das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee mit verstärkter Beeinflussung <strong>der</strong> Kosakenregimenter.<br />
Im Gebäude des revolutionärsten Stabes selbst wurde ein strengeres Regime<br />
eingeführt. »Es wurde nun nicht leicht, in das Smolny hineinzukommen«, schreibt John<br />
Reed, »das System <strong>der</strong> Passierscheine wechselte alle paar Stunden, weil es den Spionen<br />
immer wie<strong>der</strong> gelang, ins Innere einzudringen.«<br />
In <strong>der</strong> Garnisonberatung am 21., gewidmet dem morgigen »Tag des Sowjets«, schlug<br />
<strong>der</strong> Berichterstatter eine Reihe von Maßnahmen vor, um eventuellen Straßenzusammenstößen<br />
vorzubeugen. Das 4. Kosakenregiment, das linkeste, erklärte durch den Mund<br />
seines Delegierten, daß es sich am Kirchgang nicht beteiligen werde. Das 14. Kosakenregiment<br />
versicherte, es werde mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gegen Anschläge<br />
<strong>der</strong> Konterrevolution kämpfen, gleichzeitig aber halte es eine Erhebung zum Zwecke <strong>der</strong><br />
Machtergreifung für »unzeitgemäß«. Von den drei Kosakenregimentern fehlte nur das<br />
Uraler, eines <strong>der</strong> rückständigsten, nach Petrograd versetzt im Juli zur Nie<strong>der</strong>schlagung<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Die Beratung nahm auf Trotzkis Antrag drei kurze Resolutionen an: 1. »Die Garnison<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 614
von Petrograd und Umgebung verspricht dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee volle<br />
Unterstützung bei all seinen Schritten« ... 2. »Der Tag des 22. Oktober ist ein Tag <strong>der</strong><br />
friedlichen Kräfteschan ... Die Garnison wendet sich an die Kosaken: ... Wir laden euch<br />
zu unseren morgigen Versammlungen ein. Seid willkommen, Brü<strong>der</strong>-Kosaken!« 3. »Der<br />
Alltussische Sowjetkongreß muß die Macht in seine Hände nehmen und dem Volke<br />
Frieden, Land und Brot sichern.« Die Garnison verspricht feierlich, alle ihre Kräfte dem<br />
Kongreß zur Verfügung zu stellen. »Verlaßt euch auf uns bevollmächtigte Vertreter <strong>der</strong><br />
Soldaten, Arbeiter und Bauern. Wir alle sind auf unseren Posten, bereit, zu siegen o<strong>der</strong><br />
zu sterben.« Hun<strong>der</strong>te Hände erhoben sich für diese Resolutionen, die das Programm des<br />
Aufstandes bekräftigten. Siebenundfünfrig Mann enthielten sich <strong>der</strong> Abstimmung: das<br />
waren »Neutrale«, das heißt schwankend gewordene Gegner. Nicht eine Hand erhob sich<br />
dagegen. Die Schlinge am Hals des Februarregimes zog sich zu einem festen Knoten<br />
zusammen. Im Laufe des Tages wurde bekannt, daß die geheimen Urheber <strong>der</strong> Prozession<br />
»auf Ersuchen des Oberbefehlshabers des Bezirkes« die Demonstration aufgegeben<br />
hatten. Dieser ernste moralische Erfolg, <strong>der</strong> die Stärke des Druckes <strong>der</strong> Garnisonberatung<br />
am besten ermessen ließ, gestattete, bestimmt damit zu rechnen, daß die Feinde<br />
überhaupt nicht wagen würden, morgen die Köpfe auf die Straße hinauszustecken.<br />
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee wählt in den Bezirksstab drei Kommissare:<br />
Sadowski, Mechonoschin und Lasimir. Befehle des Kommandierenden können nur Kraft<br />
erhalten, wenn sie durch die Unterschrift einer dieser drei Personen bestätigt sind. Auf<br />
einen Telephonanruf aus dem Srnolny entsendet <strong>der</strong> Stab ein Automobil für die Delegation:<br />
die Gebräuche <strong>der</strong> Doppelherrschaft bleiben noch in Kraft. Doch aller Erwartung<br />
zuwi<strong>der</strong> bedeutete das Entgegenkommen des Stabes nicht die Bereitschaft zu Zugeständnissen.<br />
Nach Anhören <strong>der</strong> von Sadowski abgegebenen Erklärung antwortete Polkownikow,<br />
daß er keinerlei Kommissare anerkenne und <strong>der</strong> Vormundschaft nicht bedürfe. Auf die<br />
Anspielung <strong>der</strong> Delegation, <strong>der</strong> Stab riskiere auf diesem Wege, dem Wi<strong>der</strong>stand seitens<br />
<strong>der</strong> Truppen zu begegnen, erwi<strong>der</strong>te Polkownikow trocken, die Garnison sei in seinen<br />
Händen und ihre Unterordnung gesichert. »Seine Festigkeit war aufrichtig«, schreibt in<br />
seinen Erinnerungen Mechonoschin, »nichts Falsches verspürte man.« Für die Rückkehr<br />
in das Smolny erhielten die Delegierten das Staatsautomobil bereits nicht mehr.<br />
Die außerordentliche Beratung, zu <strong>der</strong> Trotzki und Swerdlow geholt wurden, faßte den<br />
Beschluß: den Bruch mit dem Stab als vollzogene Tatsache zu betrachten und ihn zum<br />
Ausgangspunkt für die weitere Offensive zu machen. Erste Vorbedingung des Erfolges:<br />
die Bezirke müssen über alle Etappen und Episoden des Kampfes unterrichtet sein. Der<br />
Gegner darf die Massen nicht plötzlich überraschen können. Durch die Bezirkssowjets<br />
und Parteikomitees werden Informationen in alle Stadtteile gesandt. Die Regimenter<br />
unverzüglich von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt. Es wird erneut beschlossen:<br />
nur jenen Befehlen ist nachzukommen, die von den Kommissaren bestätigt sind; auf<br />
Wachposten sind nur die zuverlässigsten Soldaten zu schicken.<br />
Aber auch <strong>der</strong> Stab beschloß, Maßnahmen zu ergreifen. Offenbar angestiftet von<br />
seinen versöhnlerischen Ratgebern, rief Polkownikow für 1 Uhr mittags seine eigene<br />
Gamisonberatung ein, unter Beteiligung von Vertretern des Zentral-Exekutivkomitees.<br />
Dem Gegner zuvorkommend, veranstaltete das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee um 11-<br />
Uhr eine außerordentliche Beratung <strong>der</strong> Regimentskomitees, die den Beschluß faßte,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 615
dem Bruch mit dem Stabe Form zu verleihen. Der sofort entworfrne Appell an die<br />
Truppen Petrograds und Umgebung redete die Sprache einer Kriegserklärung. »Indem er<br />
mit <strong>der</strong> organisierten Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt brach, wird <strong>der</strong> Stab offenes Werkzeug<br />
<strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte.« Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee lehnt die Verantwortung<br />
für die Handlungen des Stabes ab und übernimmt, indem es sich an die Spitze<br />
<strong>der</strong> Garnison stellt, »den Schutz <strong>der</strong> revolutionären Ordnung gegen konterrevolutionäre<br />
Anschläge«.<br />
Das war ein entschlossener Schritt auf dem Wege zum Aufstande. O<strong>der</strong> aber vielleicht<br />
nur <strong>der</strong> fällige Konflikt in <strong>der</strong> konfliktreichen Mechanik <strong>der</strong> Doppelherrschaft? So<br />
nämlich versuchte, zum eigenen Troste, das Vorgefallene <strong>der</strong> Stab auszulegen, <strong>der</strong> sich<br />
mit Vertreternjener Truppenteile beriet, die die Einladungen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skornitees<br />
nicht rechtzeitig erhalten hatten. Eine vom Smolny abgeordnete Delegation<br />
unter Führung des bolschewistischen Fähnrichs Daschkewitsch meldete dem Stab kurz<br />
die Entscheidung <strong>der</strong> Gamisonberatung. Die wenigen Vertreter <strong>der</strong> Truppenteile bekräftigten<br />
dem Sowjet ihre Treue und gingen unter Verzicht auf Beschlußfassung auseinan<strong>der</strong>.<br />
»Nach einem kurzen Meinungsaustausch«, berichtete später aufgrund von Angaben<br />
des Stabes die Presse, »wurden keine bestimmten Beschlüsse angenommen; es wurde als<br />
notwendig er-klärt, erst die Lösung des Konfliktes zwischen Zentral-Exekutiv-komitee<br />
und Petrogra<strong>der</strong> Sowjet abzuwarten.« Seine Entthronung schil<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Stab als einen<br />
Streit zwischen zwei Sowjetinstanzen darüber, wer von ihnen seine Tätigkeit zu kontrollieren<br />
habe. Die Politik <strong>der</strong> freiwilligen Blindheit hatte den Vorzug, daß sie von <strong>der</strong><br />
Notwendigkeit befreite, dem Smolny den Krieg zu erklären, wofür den Regierenden die<br />
Kräfte fehlten. So wurde <strong>der</strong> schon nach außen durchzubrechen bereite Konflikt mit<br />
Hilfe <strong>der</strong> Regierungsorgane wie<strong>der</strong> in die legalen Rahmen <strong>der</strong> Doppelherrschaft zurückgeleitet:<br />
in seiner Angst, <strong>der</strong> Wirklichkeit in die Augen zu schauen, trug <strong>der</strong> Stab um so<br />
sicherer zur Maskierung des Aufstandes bei.<br />
War aber nicht das leichtfertige Verhalten <strong>der</strong> Behörden nur eine Maskierung ihrer<br />
wirklichen Absichten? Plante <strong>der</strong> Stab nicht unter dem Schein bürokratischer Naivität,<br />
gegen das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee einen überraschenden Schlag zu führen?<br />
Einen solchen Überfall seitens <strong>der</strong> verwirrten und demoralisierten Organe <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung hielt man im Smolny für wenig wahrscheinlich. Inimerhin traf das<br />
Militärische Revölutionskomitee die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen: in den nächstgelegenen<br />
Kasernen wachten Tag und Nacht Kompanien unter Waffen, bereit, auf das erste<br />
Alarmsignal hin dem Smolny zu Hilfe zu kommen.<br />
Trotz dem abgesagten Kirchgang prophezeite die bürgerliche Presse für den Sonntag<br />
Blutvergießen. Eine Versöhnlerzeitung meldete am Morgen: »Die Behörden erwarten für<br />
den heutigen Tag Demonstrationen mit größerer Wahrscheinlichkeit als am 20.« So<br />
bereits zum drittenmal während einer Woche: den 17., 20. und 22., täuschte <strong>der</strong> lügenhafte<br />
Knabe das Volk durch den falschen Alarm »ein Wolf!« Das viertemal wird <strong>der</strong><br />
Knabe, glaubt man <strong>der</strong> alten Fabel, dem Wolf zwischen die Zähne geraten.<br />
Die Presse <strong>der</strong> Bolschewiki rief die Massen zu Versammlungen auf und sprach von<br />
friedlicher Musterung <strong>der</strong> revolutionären Kräfte am Vorabend des Sowjetkongresses.<br />
Das entsprach durchaus <strong>der</strong> Absicht des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees: Duchführung<br />
einer gigantischen Truppenschau, ohne Zusammenstöße, ohne Anwendung von<br />
Waffen und sogar ohne <strong>der</strong>en Demonstrierung. Man mußte <strong>der</strong> Masse die Möglichkeit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 616
geben, sich selbst zu sehen, ihre Zahl, ihre Stärke, ihre Entschlossenheit. Durch die<br />
Einmütigkeit <strong>der</strong> Vielheit wollte man die Feinde zwingen, sich zu verstecken, zu verbergen,<br />
nicht hervorzutreten. Durch die Entblößung <strong>der</strong> Ohnmacht <strong>der</strong> Bourgeoisie vor dem<br />
Massenaufgebot <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten sollten in <strong>der</strong>en Bewußtsein die letzten<br />
hemmenden Erinnerungen an die Julitage ausgelöscht werden. Man mußte erreichen, daß<br />
die Massen, sich erblickend, selbst erkannten: niemand und nichts kann uns mehr wi<strong>der</strong>stehen.<br />
»Die eingeschüchterte Bevölkerung«, schrieb fünf Jahre später Miljukow, »blieb zu<br />
Hause o<strong>der</strong> hielt sich abseits.« Zu Hause war die Bourgeoisie geblieben: sie war tatsächlich<br />
von ihrer Presse eingeschüchtert worden. Die ganze übrige Bevölkerung strebte seit<br />
dem Morgen zu Versammlungen: Junge und Alte, Männer und Frauen, Halbwüchsige<br />
und Mütter mit Kin<strong>der</strong>n auf den Armen. Solche Meetings hatte es seit Beginn <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> noch nicht gegeben. Ganz Petrograd, mit Ausnahme <strong>der</strong> oberen Schichten,<br />
war ein durchgehendes Meeting. In den bis zur Absperrung überfüllten Räumen<br />
wechselte das Auditorium im Verlauf einiger Stunden. Neue und neue Wellen von Arbeitern,<br />
Soldaten und Matrosen rollten an die Gebäude heran und äberfüllten sie. Das kleine<br />
Stadtvolk kam in wogende Bewegung, geweckt durch das Geheul und die Warnungen,<br />
die es hatten einschüchtem sollen. Zehntausende umspülten das gigantische Gebäude des<br />
Volkshauses, ergossen sich durch Korridore in dichter, erregter und gleichzeitig disziplinierter<br />
Masse, füllten Theatersäle, Gänge, Büfetts, Foyers. An ehernen Säulen und<br />
Fenstern hingen Girlanden und Trauben menschlicher Köpfr, Beine, Arme. Die Luft war<br />
von jener elektrischen Spannung erfüllt, die eine nahe Entladung anzeigt. Nie<strong>der</strong> mit<br />
Kerenski! Nie<strong>der</strong> mit dem Krieg! Alle Macht den Sowjets! Nicht einer <strong>der</strong> Versöhnler<br />
wagte nunmehr vor dieser bis zum Rotglühen erhitzten Menge mit Entgegnungen o<strong>der</strong><br />
Warnungen aufzutreten. Das Wort gehörte den Bolschewiki. Sämtliche Rednerkräfte <strong>der</strong><br />
Partei einschließlich <strong>der</strong> zum Kongreß eingetroffenen Provinzdelegierten waren auf die<br />
Beine gebracht. Manchmal sprachen linke Sozialrevolutionäre, hie und da Anarchisten.<br />
Doch die einen wie die an<strong>der</strong>en waren bemüht, so wenig wie möglich von den Bolschewiki<br />
abzustechen.<br />
Stundenlang standen Menschen aus entlegenen Stadtteilen, aus Kellerwohnungen und<br />
Dachstuben, in verschlissenen Mänteln und grauen Uniformen, mit Mützen und schweren<br />
Tüchern auf den Köpfen, mit Schubzeug, in das <strong>der</strong> Straßenschlamm eindrang, mit in<br />
<strong>der</strong> Kehle steekengebliebenem Herbsthusten, Schulter an Schulter gedrängt, immer enger<br />
zusammenrückend, um neu Hinzukommenden, um allen Platz zu lassen, und lauschten<br />
unermüdlich, begierig, leidenschaftlich, gebieterisch, in Angst, etwas zu überhören, was<br />
zu begreifen, sich zu eigen zu machen, zu tun wichtig wäre. Man hätte glauben sollen, in<br />
den letzten Monaten, den letzten Wochen, den allerletzten Tagen seien schon alle Worte<br />
gesagt worden. Doch nein, heute klingen sie an<strong>der</strong>s. Die Massen erleben sie auf eine<br />
neue Art, nicht mehr als Predigt, son<strong>der</strong>n als Gebot zur Tat. Die Erfahrung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>,<br />
des Krieges, des schweren Kampfes, des ganzen bitteren Lebens ersteht aus <strong>der</strong> Tiefe<br />
<strong>der</strong> Erinnerung eines jeden von Not bedrückten Menschen und geht in diese einfachen<br />
und gebieterischen Parolen ein. So kann es nicht weitergehen. Es muß ein Ausgang in die<br />
Zukunft durchgebrochen werden.<br />
Zu diesem einfachen und seltsamen Tage, <strong>der</strong> sich grell abhob von dem ohnehin<br />
farbenreichen Hintergrunde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, kehrte später in Gedanken je<strong>der</strong> Teilnehmer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 617
<strong>der</strong> Ereignisse zurück. Das Bild <strong>der</strong> vergeistigten und in ihrer Unbezähmbarkeit verhaltenen<br />
menschlichen Lava hatte sich für immer ins Gedächtnis <strong>der</strong> Augenzeugen<br />
eingeprägt. »Der Tag des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets«, schreibt <strong>der</strong> linke Sozialrevolutionär<br />
Mstislawski, »verlief in unzähligen Meetings unter großer Begeisterung.« Der Bolschewik<br />
Pestkowski, <strong>der</strong> in zwei Betrieben des Wassiljewski-Ostrow sprach, bekundet: »Wir<br />
redeten zu den Massen klar von <strong>der</strong> bevorstehenden Machtergreifung durch uns und<br />
vernahmen nichts außer Zustimmung.« - »Um mich herum«, erzählt Suchanow von dem<br />
Meeting im Volkshause, »herrschte eine Stimmung nahe <strong>der</strong> Ekstase ... Trotzki formulierte<br />
irgendeine kurze Resolution ... Wer dafür ist ... Eine tausendköpfige Menge erhebt<br />
wie ein Mann die Hände. Ich sah die erhobenen Hände und die brennenden Augen <strong>der</strong><br />
Männer, Frauen, Jugendlichen, Arbeiter, Soldaten, Bauern und typisch kleinbürgerlichen<br />
Gestalten ... Trotzki sprach weiter. Eine unübersehbare Menge fuhr fort, die Arme<br />
erhoben zu halten. Trotzki prägte die Worte: diese eure Abstimmung möge euer Schwur<br />
sein ... Eine unübersehbare Menge hält die Hände erhoben. Sie ist bereit, sie schwört.«<br />
Der Bolschewik Popow erzählt von dem begeisterten Eid, den die Massen ablegten<br />
»Vorzustürmen auf den ersten Ruf des Sowjets.« Mstislawski spricht von <strong>der</strong> elektrisierten<br />
Menge, die den Sowjets Treue schwur. Das gleiche Bild, nur in kleinerem Mafistabe,<br />
war in allen Stadtteilen, im Zentrum wie an <strong>der</strong> Peripherie, zu beobachten. Hun<strong>der</strong>ttausende<br />
Menschen erhoben in den gleichen Stunden die Hände und schworen, den Kampf<br />
bis zu Ende zu führen.<br />
Hatten die täglichen Sitzungen des Sowjets, <strong>der</strong> Soldatensektion, <strong>der</strong><br />
Garnisonberatung, <strong>der</strong> Fabrilikomitees den inneren Zusammenschluß <strong>der</strong> breiten Führerschicht<br />
gebracht, die einzelnen Massenversammlungen Fabriken und Regimenter zusammengeschweißt,<br />
so verschmolz <strong>der</strong> Tag des 22. Oktober bei höchster Temperatur in<br />
einem gigantischen Kessel das wahre Volk. Die Massen erblickten sich und ihre Führer,<br />
die Führer erblickten und vernahmen die Massen. Beide Teile waren voneinan<strong>der</strong> befriedigt.<br />
Die Führer gewannen die Überzeugung: Weiter darf man nicht verschieben! Die<br />
Massen sagten sich: Diesmal wird das Werk getan!<br />
Der Erfolg <strong>der</strong> Sonntag-Truppenschau <strong>der</strong> bolschewistischen Kräfte drückte das<br />
Selbstvertrauen Polkownikows und seiner hohen Behörde hinab. Im Einvernehmen mit<br />
Regierung und Zentral-Exekutivkomitee unternahm <strong>der</strong> Stab einen Versuch, sich mit<br />
dem Smolny zu verständigen. Warum auch tatsächlich nicht die alten, guten, freundschaftlichen<br />
Gepflogenheiten des Kontaktes und <strong>der</strong> Verständigung wie<strong>der</strong>herstellen?<br />
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee lehnte nicht ab, Vertreter zu einem Meinungsaustausch<br />
zu delegieren: eine bessere Auskundschaftung konnte man sich nicht wünschen.<br />
»Die Verhandlungen waren kurz«, schreibt Sadowski. »Die Bezirksvertreter waren mit<br />
allen schon früher vom Sowjet gestellten Bedingungen einverstanden ..., im Austausch<br />
dafür sollte <strong>der</strong> Befehl des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees vom 22. Oktober annulliert<br />
werden.« Es handelte sieh um das Dokument, das den Stab als Werkzeug <strong>der</strong> konterrevolutionären<br />
Kräfte erklärte. Die gleichen Delegierten des Komitees, die Polkownikow<br />
zwei Tage zuvor so unhöflich nach Hause geschickt hatte, verlangten und bekamen zur<br />
Berichterstattung im Smolny den vom Stab unterschriebenen Entwurf eines Übereinkommens<br />
ausgehändigt. Noch am Sonnabend wären diese Bedingungen einer halbehrenvollen<br />
Kapitulation angenommen worden. Heute, Montag, war sie überholt. Der Stab<br />
wartete auf Antwort, bekam sie aber nicht.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 618
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee wandte sich an die Bevölkerung von Petrograd<br />
mit <strong>der</strong> Benachrichtigung über die Ernennung von Kommissaren bei den Truppenteilen<br />
und den beson<strong>der</strong>s wichtigen Punkten <strong>der</strong> Hauptstadt und Umgebung. »Die Kommissare<br />
sind als Vertreter des Sowjets unantastbar. Wi<strong>der</strong>stand gegen die Kommissare ist Wi<strong>der</strong>stand<br />
gegen den Sowjet <strong>der</strong> Arbeiter- und Soldatendeputierten.« Die Bürger werden<br />
ersucht, bei Mißständen sich an die nächsten Kommissare zu wenden zwecks Herbeiholung<br />
bewaffneter Kräfte. Das ist die Sprache <strong>der</strong> Macht. Doch gibt das Komitee noch<br />
immer nicht das Signal zum offenen Aufstande. Suchanow fragt: »Macht das Smolny<br />
Dummheiten, o<strong>der</strong> spielt es mit dem Winterpalais wie die Katze mit <strong>der</strong> Maus, um einen<br />
Überfall zu provozieren?« We<strong>der</strong> dies noch jenes. Mit dem Druck <strong>der</strong> Massen, dem<br />
Gewicht <strong>der</strong> Garnison verdrängt das Komitee die Regierung. Es nimmt kampflos, was es<br />
nehmen kann. Es rückt seine Position vor ohne einen Schuß, schweißt und festigt im<br />
Marsche seine Armee; mißt durch sein Vordrängen die Wi<strong>der</strong>standskraft des Feindes,<br />
ohne ihn dabei auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Je<strong>der</strong> Schritt<br />
vorwärts verän<strong>der</strong>t die Disposition zugunsten des Smolny. Arbeiter und Garnison<br />
wachsen in den Aufstand hinein. Wer als erster zu den Waffen rufen wird, das soll sich<br />
im Verlaufe des Angriffs und des Hinausdrängens ergeben. Jetzt ist es nur noch eine<br />
Frage von Stunden. Findet die Regierung im letzten Augenblick den Mut o<strong>der</strong> die<br />
Verzweiflung, das Kampfsignal zu geben, so wird die Verantwortung auf das Winterpalais<br />
fallen, die Initiative aber jedenfalls beim Smolny bleiben. Der Akt vom 23. Oktober<br />
bedeutete die Absetzung <strong>der</strong> Behörden, vor <strong>der</strong> Absetzung <strong>der</strong> Regierung selbst. Das<br />
Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee band dem feindlichen Regime die Glie<strong>der</strong>, bevor es ihm<br />
den Schlag aufs Haupt versetzte. Diese Taktik des »friedlichen Durchdringens«<br />
anzuwenden, dem Feinde legal die Knochen zu brechen und den Rest seines Willens<br />
hypnotisch zu paralysieren, erlaubte nur jenes unzweifelhafte Kräfteübergewicht, das auf<br />
seiten des Komitees war und von Stunde zu Stunde wuchs.<br />
Das Komitee las täglich die vor ihm weitausgebreitete Karte <strong>der</strong> Garnison, kannte die<br />
Temperatur jedes Regiments, verfolgte die in den Kasernen vor sich gehenden Verschiebungen<br />
<strong>der</strong> Ansichten und Sympathien. Überraschungen konnten von dieser Seite nicht<br />
kommen. Auf <strong>der</strong> Karte verblieben allerdings einige dunkle Flecke. Man mußte sie<br />
austilgen o<strong>der</strong> doch verkleinern. Noch am 19. hatte sich gezeigt, daß die meisten<br />
Komitees in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung mißgünstig o<strong>der</strong> mindestens zweideutig gestimmt<br />
waren. Jetzt, wo die gesamte Garnison hinter dem Komitee steht und um die Festung,<br />
wenigstens politisch, ein Ring gezogen ist, wird es Zeit, entschieden an ihre Einnahme<br />
heranzugehen. Der zum Kommissar ernannte Leutnant Blagonrawow stieß auf Wi<strong>der</strong>stand:<br />
<strong>der</strong> Festungskommandant <strong>der</strong> Regierung lehnte es ab, die bolschewistische<br />
Vormundschaft anzuerkennen, und rühmte sich sogar, wie Gerüchte verlauteten, damit,<br />
den jungen Vormund verhaften zu wollen. Man mußte handeln, und zwar sofort.<br />
Antonow schlug vor, ein zuverlässiges Bataillon des Pawlowsker Regiments in die<br />
Festung hineinzuführen und die feindlichen Truppenteile zu entwaffnen. Doch das wäre<br />
eine zu scharfe Operation gewesen, die von den Offizieren hätte ausgenutzt werden<br />
können, um Blutvergießen hervorzurufen und die Einmütigkeit <strong>der</strong> Garnison zu zerschlagen.<br />
Besteht tatsächlich Notwendigkeit, zu einer so radikalen Maßnahme zu greifen?<br />
»Zur Beratung dieser Frage wurde Trotzki herbeigeholt ...«, erzählt Antonow in seinen<br />
Erinnerungen. »Trotzki spielte damals die entscheidende Rolle; er hatte mit seinem<br />
revolutionären Instinkt erfaßt, was uns zu raten war die Festung von innen einzunehmen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 619
"Es kann nicht sein, daß dort die Truppen nicht mit uns sympathisieren", sagte er - und<br />
das bestätigte sich. Trotzki und Laschewitsch begaben sich zu einem Meeting in die<br />
Festung.« Im Smolny erwartete man in großer Aufregung die Resultate des Unternehmens,<br />
das sehr riskant schien. Trotzki erinnerte sich später: »Am 23. gegen 2 Uhr mittags<br />
fuhr ich in die Festung. Im Hofe fand ein Meeting statt. Die Redner des rechten Hügels<br />
waren im höchsten Maße vorsichtig und ausweichend ... Auf uns hörte man, mit uns ging<br />
man.« In <strong>der</strong> dritten Etage des Smolny atmete man aus voller Brust auf, als das Telephon<br />
die freudige Nachricht brachte: Die Garnison <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung habe sich feierlich<br />
verpflichtet, von nun an ausschließlich dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee Folge zu<br />
leisten.<br />
Die Wandlung im Bewußtsein <strong>der</strong> Festungstruppen war selbstverständlich nicht das<br />
Resultat einer o<strong>der</strong> zweier Reden. Sie war solide von <strong>der</strong> Vergangenheit vorbereitet. Die<br />
Soldaten standen viel linker als ihre Komitees. Nur die Hülle <strong>der</strong> alten Disziplin, völlig in<br />
Rissen, hatte sich hinter <strong>der</strong> Festungsmauer etwas länger gehalten als in den Stadtkasernen.<br />
Blagonrawow konnte sich jetzt in <strong>der</strong> Festung sicher nie<strong>der</strong>lassen, seinen kleinen Stab<br />
aufschlagen, mit dem bolschewistischen Sowjet des Nachbarbezirkes und den Komitees<br />
<strong>der</strong> nächsten Kasernen die Verbindung herstellen. Inzwischen treffen Delegationen von<br />
Betrieben und Truppenteilen ein mit dem Ersuchen um Waffenausgabe. In <strong>der</strong> Festung<br />
tritt unbeschreibliches Leben ein. »Das Telephon schnarrt ununterbrochen und bringt<br />
Nachrichten von unseren neuen Erfolgen in Versammlungen und Meetings.« Ab und zu<br />
berichtet eine unbekannte Stimme, auf dem Bahnhof seien Exekutionsabteilungen von<br />
<strong>der</strong> Front angekommen. Eine sofortige Nachprüfung ergibt, daß dies vom Feind verbreitete<br />
Erfindungen sind.<br />
Die Abendsitzung des Sowjets zeichnet sich an diesem Tage durch beson<strong>der</strong>e<br />
Menschenfülle und gehobene Stimmung aus. Besetzung <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung und<br />
endgültige Einnahme des Kronwerksker Arsenals, das hun<strong>der</strong>ttausend Gewehre barg sind<br />
ein ernstes Pfand des Erfolges. Im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees spricht<br />
Antonow. Strich um Strich gibt er ein Bild von <strong>der</strong> Verdrängung <strong>der</strong> Regierungsorgane<br />
durch Beauftragte des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees: diese werden überall als<br />
Vertraute empfangen: ihnen gehorcht man nicht aus Furcht, son<strong>der</strong>n aus freien Stücken.<br />
»Von überall kommen For<strong>der</strong>ungen nach Ernennung von Kommissaren.« Rückständige<br />
Truppenteile beeflen sich, den fortgeschritteneren nachzueifern. Das Preobraschensker<br />
Regiment, das im Juli als erstes auf die Verleumdung vorn deutschen Gold hineingefallen<br />
war, erhebt jetzt durch seinen Kommissar Tschudnowski stürmischen Protest gegen<br />
die Gerüchte, die Preobraschensker ständen hinter <strong>der</strong> Regierung: ein solcher Gedanke<br />
wird als ärgster Schimpf empfunden! ... Zwar wird <strong>der</strong> Wachdienst wie üblich erfüllt,<br />
erzählt Antonow, doch geschieht dies mit Zustimmung des Komitees. Befehle des Stabes<br />
über Ausgabe von Waffen und Automobilen werden nicht ausgeführt. Der Stab bekommt<br />
auf diese Weise die volle Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, wer Herr <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
ist.<br />
Auf die Frage: ob dem Komitee bekannt sei, daß Regierungstruppen von <strong>der</strong> Front und<br />
aus <strong>der</strong> Umgebung anrücken, und welche Maßnahmen dagegen ergriffen sind, antwortet<br />
<strong>der</strong> Referent: von <strong>der</strong> rumänischen Front seien Kavallerietruppenteile im Anmarsch<br />
gewesen, doch in Pskow aufgehalten worden; die 17. Infanteriedivision, die unterwegs<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 620
erfahren hatte, wohin und zu welchem Zwecke sie geschickt wird, weigerte sich, weiterzufahren;<br />
in Wenden leisteten zwei Regimenter Wi<strong>der</strong>stand gegen ihren Abtransport<br />
nach Petrograd; es bleibt vorläufig noch das Schicksal <strong>der</strong> angeblich aus Kiew entsandten<br />
Kosaken und Junker und <strong>der</strong> aus Zarskoje Selo herbeigerufenen Stoßtrupps<br />
unbekannt. »Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee anzutasten wagt man nicht und wird<br />
man nicht wagen.« Diese Worte klingen nicht übel im weißen Saale des Smolny.<br />
Antonows Referat macht beim Lesen den Eindruck, als habe <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> Umwälzung<br />
bei offenen Türen gearbeitet. Und in <strong>der</strong> Tat, das Smolny hat fast nichts mehr zu verbergen.<br />
Die politische Verknotung <strong>der</strong> Umwälzung ist <strong>der</strong>art günstig, daß sich nun auch die<br />
Offenheit in eine Form <strong>der</strong> Verschleierung verwandelt: geschieht denn ein Aufstand so?<br />
Das Wort "Aufstand" wird jedoch von keinem <strong>der</strong> Führer ausgesprochen. Nicht nur aus<br />
formaler Vorsicht, son<strong>der</strong>n auch deshalb, weil dieser Terminus <strong>der</strong> realen Lage nicht<br />
entspricht: den Aufstand zu machen, bleibt sozusagen Kerenskis Regierung überlassen.<br />
Im Bericht <strong>der</strong> 'Iswestja' heißt es allerdings, daß Trotzki in <strong>der</strong> Sitzung vom 23. zum<br />
erstenmal als das Ziel des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees offen die Machtergreifung<br />
bezeichnet. Zweifellos hatten sich alle weit entfernt von <strong>der</strong> Ausgangsposition, wo als<br />
Aufgabe des Komitees eine Nachprüfung <strong>der</strong> strategischen Argumente Tscheremissows<br />
erklärt worden war. Die Versetzung <strong>der</strong> Regimenter war inzwischen fast in Vergessenheit<br />
geraten. Doch auch am 23. war die Rede nicht vom Aufstand, son<strong>der</strong>n von "Verteidigung"<br />
des bevorstehenden Sowjetkongresses, wenn nötig, mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand.<br />
In ebendiesem Sinne wurde auch eine dem Referat Antonows entsprechende Resolution<br />
angenommen.<br />
Wie wurden die sich abspielenden Ereignisse auf den Regierungshöhen eingeschätzt?<br />
Während er in <strong>der</strong> Nacht zum 22. über die direkte Leitung dem Stabschef des Hauptquartiers,<br />
Duchonin, von den Versuchen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, die<br />
Regimenter dem Kommando zu entreißen, berichtet, fügt Kerenski hinzu: »Ich glaube,<br />
daß wir damit leicht fertigwerden.« Seine, des Obersten Befehlshabers, Ankunft im<br />
Hauptquartier verzögere sich keinesfalls aus Befürchtung irgendwelcher Aufstände:<br />
»Damit würde man auch ohne mich fertigwerden, da alles organisiert ist.« Den besorgten<br />
Ministern erklärt Kerenski beruhigend, er persönlich sei im Gegenteil über die bevorstehende<br />
Erhebung sehr froh, da sie ihm die Möglichkeit verschaffen werde, »endgültig<br />
mit den Bolschewiki abzurechnen«. »Ich wäre bereit, eine Messe lesen zu lassen«,<br />
antwortet das Regierungshaupt dem Kadetten Nabokow, einem häufigen Gaste des<br />
Winterpalais, »auf daß die Erhebung stattfinde.« - »Sind Sie aber auch sicher, daß Sie<br />
mit ihnen fertigwerden können?« »Ich verfüge über mehr Kräfte als nötig, - sie werden<br />
endgültig zermalmt werden.«<br />
Während sie nachträglich über Kerenskis optimistischen Leichtsinn spöttelten, litten<br />
die Kadetten offensichtlich an Vergeßlichkeit: in Wirklichkeit betrachtete Kerenski die<br />
Ereignisse mit ihren eigenen Augen. Am 21. schrieb Miljukows Zeitung: sollten die<br />
Bolschewiki, von tiefer, innerer Krise zerfressen, es wagen, sich zu erheben, so werden<br />
sie an Ort und Stelle mühelos zermalmt werden. Eine an<strong>der</strong>e kadettische Zeitung fügte<br />
hinzu: »Ein Gewitter steht bevor, doch gerade dies kann die Atmosphäre reinigen.« Dan<br />
bezeugt, daß Kadetten und diesen nahestehende Gruppen in den Couloirs des Vorparlaments<br />
laut davon träumten, die Bolschewiki mögen nur so schnell wie möglich hervortreten:<br />
»Im offenen Kampfe werden sie sogleich aufs Haupt geschlagen werden.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 621
Angesehene Kadetten sagten John Reed: Die im Aufstande nie<strong>der</strong>geschlagenen Bolschewiki<br />
werden nicht imstande sein, in <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung das Haupt zu<br />
erheben.<br />
Während des 22. und 23. hielt Kerenski Beratungen ab bald mit den Führern des<br />
Zentral-Fxekutivkomitees, bald mit seinem Stab: sollte man nicht das Militärische<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee verhaften? Die Versöhnler rieten davon ab: sie würden selbst versuchen,<br />
die Frage <strong>der</strong> Kommissare beizulegen. Polkownikow war ebenfalls <strong>der</strong> Meinung,<br />
man brauche sich mit <strong>der</strong> Verhaftung nicht zu beeilen: Militärkräfte gäbe es erfor<strong>der</strong>lichenfalls<br />
»mehr als genug«. Kerenski lauschte auf Polkownikow, aber noch mehr auf<br />
seine Freunde-Versöhnler. Er rechnete fest damit, daß das Zentral-Exekutivkomitee im<br />
Falle <strong>der</strong> Gefahr, trotz häuslichen Mißverständnissen, rechtzeitig zu Hilfe kommen<br />
würde: so war es Juli und August gewesen; warum also sollte es auch nicht weiterhin so<br />
sein?<br />
Doch es war bereits nicht mehr Juli und auch nicht August. Es war Oktober. Auf Petrograds<br />
Plätzen und Kais wehten von Kronstadt her naßkalte baltische Winde. Durch die<br />
Straßen zogen mit übermütigen Lie<strong>der</strong>n, die die Unruhe übertönten, Junker in Uniformmänteln<br />
bis an die Fersen. Es paradierten berittene Milizionäre mit Revolvern in nagelneuen<br />
Futteralen. Nein, die Macht sah noch recht imposant aus! O<strong>der</strong> ist es nur<br />
Augentäuschung? An einer Ecke des Newski kaufte John Reed, <strong>der</strong> Amerikaner mit den<br />
naiven und klugen Augen, eine Broschüre von Lenin: "Werden die Bolschewiki die<br />
Macht behalten?" und bezahlte sie mit einer <strong>der</strong> Briefmarken, die damals statt Kleingeld<br />
im Umlauf waren.<br />
Lenin ruft zum Aufstand<br />
Neben Fabriken, Kasernen, Dörfern, Front, Sowjets besaß die <strong>Revolution</strong> noch ein<br />
Laboratorium: Lenins Kopf In Illegalität getrieben, war Lenin gezwungen, hun<strong>der</strong>telf<br />
Tage, vom 6. Juli bis zum 25. Oktober, seine Zusammenkünfte sogar mit den Mitgliedem<br />
des Zentralkomitees einzuschränken. Ohne unmittelbare Verbindung mit den Massen,<br />
ohne Berührung mit den Organisationen, konzentrierte er um so entschiedener seinen<br />
Gedanken auf die Kernfragen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die er - was bei ihm in gleichem Maße<br />
Bedürfnis wie Regel war - zu Grundproblemen des Marxismuß gestaltete.<br />
Das Hauptargument <strong>der</strong> Demokraten, auch <strong>der</strong> allerlinkesten, gegen die Machtergreifung<br />
bestand in <strong>der</strong> Behauptung, die Werktätigen würden unfähig sein, sich des Staatsapparates<br />
zu bemächtigen. Ähnlich waren im wesentlichen auch die Befürchtungen <strong>der</strong><br />
opportunistischen Elemente innerhalb des Bolschewismus selbst. "Staatsapparat!" Je<strong>der</strong><br />
Kleinbürger ist erzogen in Ehrfurcht vor diesem mystischen Prinzip, das sich über<br />
Menschen und Klassen erhebt. Der gebildete Philister trägt in seinen Knochen das<br />
gleiche Beben wie sein Vater o<strong>der</strong> Großvater, <strong>der</strong> Krämer o<strong>der</strong> wohlhabende Bauer vor<br />
den allmächtigen Institutionen, wo Fragen über Krieg und Frieden entschieden, wo<br />
Handelslizenzen erteilt werden, wo die Geißel <strong>der</strong> Steuern herstammt, wo man straft,<br />
aber manchmal auch Gnade übt, wo man Ehen und Geburten gesetzlich registriert, wo<br />
sogar <strong>der</strong> Tod sich ehrfurchtsvoll anstellen muß, ehe ihm Bestätigung zuteil wird. Staatsapparat!<br />
In Gedanken nicht nur den Hut, son<strong>der</strong>n auch die Stiefel abnehmend, betritt <strong>der</strong><br />
Kleinbourgeois mag er Kerenski, Laval, Macdonald o<strong>der</strong> Hilferding heißen - auf den<br />
Sockenspitzen den Tempel des Idols, erheben ihn <strong>der</strong> persönliche Erfolg o<strong>der</strong> die Macht<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 622
<strong>der</strong> Verhältnisse zum Minister. Für diese Gnade kann er sich nicht an<strong>der</strong>s erkenntlich<br />
erweisen als durch demütige Ergebenheit vor dem "Staatsapparat". Die <strong>russischen</strong> radikalen<br />
Intellektuellen, die sich sogar während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an <strong>der</strong> Macht nicht an<strong>der</strong>s zu<br />
beteiligen wagten als hinter dem Rücken <strong>der</strong> hochtitulierten Gutsbesitzer und <strong>der</strong> Männer<br />
des Kapitals, blickten mit Angst und Entrüstung auf die Bolschewiki: diese Straßenagitatoren,<br />
diese Demagogen gedenken sich des Staatsapparates zu bemächtigen!<br />
Nachdem die Sowjets im Kampfe gegen Kornilow angesichts <strong>der</strong> Willenlosigkeit und<br />
Ohnmacht <strong>der</strong> offiziellen Demokratie die <strong>Revolution</strong> gerettet hatten, schrieb Lenin:<br />
»Mögen an diesem Beispiel alle Kleingläubigen lernen. Möge sich schämen, wer da<br />
sagt: "Wir haben keinen Apparat, <strong>der</strong> den alten, unvermeidlich zur Verteidigung <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie hinneigenden Apparat ersetzen könnte." Denn dieser Apparat ist da. Es<br />
sind eben die Sowjets. Fürchtet nicht Initiative und Selbständigkeit <strong>der</strong> Massen,<br />
vertraut euch den revolutionären Organisationen <strong>der</strong> Massen an - und ihr werdet auf<br />
allen Gebieten des Staatslebens die gleiche Kraft, Größe und Unbesiegbarkeit <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Bauern erkennen, die diese in ihrer Einigkeit, in ihrem Anstürmen gegen<br />
die Kornilowiade bewiesen haben.«<br />
In den ersten Monaten seiner Illegalität schreibt Lenin das Buch "Staat und<br />
<strong>Revolution</strong>", für das er das Hauptmaterial bereits in <strong>der</strong> Emigration, in den Kriegsjahren<br />
ausgewählt hatte. Mit <strong>der</strong> gleichen Sorgfalt, mit <strong>der</strong> er praktische Tagesaufgaben<br />
überlegte, bearbeitet er jetzt theoretische Probleme des Staates. Er kann nicht an<strong>der</strong>s: für<br />
ihn ist die Theorie tatsächlich eine Anleitung zum Handeln. Lenin stellt sich dabei nicht<br />
einen Augenblick die Aufgabe, ein neues Wort in die Theorie hineinzubringen. Im<br />
Gegenteil, seiner Arbeit verleiht er einen äußerst bescheidenen, unterstrichen schülermäßigen<br />
Charakter. Seine Aufgabe ist - die wahre »Lehre des Marxismus vom Staate«<br />
wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />
Durch die sorgfältige Auswahl <strong>der</strong> Zitate und <strong>der</strong>en detaillierte polemische Deutung<br />
mag das Buch pedantisch erscheinen ... wirklichen Pedanten, die unfähig sind, hinter <strong>der</strong><br />
Analyse <strong>der</strong> Texte den mächtigen Puls des Gedankens und Willens zu verspüren. Allein<br />
durch Wie<strong>der</strong>aufrichtung <strong>der</strong> Klassentheorie vom Staat, auf einer neuen, höheren historischen<br />
Grundlage verleiht Lenin Marxens Gedanken neue Konkretheit und somit auch<br />
neue Bedeutsamkeit. Doch ihre unermeßliche Wichtigkeit erhält die Arbeit über den<br />
Staat vor allem dadurch, daß sie eine wissenschaftliche Einführung in die historisch<br />
größte Umwälzung darstellt. Marxens "Kommentator" bereitete seine Partei auf die<br />
revolutionäre Eroberung eines Sechstels des Erdterritoriums vor.<br />
Wäre es möglich, den Staat den Bedürfnissen eines neuen historischen Regimes<br />
einfach anzupassen, es würden keine <strong>Revolution</strong>en entstehen. Indes kam die Bourgeoisie<br />
selbst bis jetzt nicht an<strong>der</strong>s an die Macht als auf dem Wege <strong>der</strong> Umwälzung. Nun ist die<br />
Reihe an den Arbeitern. Lenin gab auch in dieser Frage dem Marxismus seine Bedeutung<br />
wie<strong>der</strong> als theoretischem Werkzeug <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>.<br />
Die Arbeiter werden außerstande sein, sich des Staatsapparates zu bemächtigen? Aber<br />
es geht ja gar nicht darum, lehrt Lenin, sich <strong>der</strong> alten Maschinen für neue Ziele zu<br />
bemächtigen: das ist reaktionäre Utopie. Die Auswahl <strong>der</strong> Menschen im alten Apparat,<br />
ihre Erziehung, ihre gegenseitigen Beziehungen - das alles wi<strong>der</strong>spricht den historischen<br />
Aufgaben des Proletariats. Hat man erst die Macht erobert, dann heißt es nicht den alten<br />
Apparat umzuformen, son<strong>der</strong>n ihn in Stücke zu zerschlagen. Wodurch ihn ersetzen?<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 623
Durch die Sowjets. Aus Führern <strong>der</strong> revolutionären Massen, aus Organen des Aufstandes<br />
werden sie zu Organen einer neuen Staatsordnung werden.<br />
Im Strudel <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> würde die Arbeit wenig Leser finden, sie wird auch erst<br />
nach dem Aufstande herausgegeben werden. Lenin bearbeitet das Problem des Staates<br />
vor allem für die eigene innere Sicherheit und - für die Zukunft. Die Wahrung <strong>der</strong> geistigen<br />
Nachfolgeschaft bildete eine seiner ständigen Sorgen. Im Juli schreibt er Kamenjew:<br />
»Entre nous, sollte man mir den Garaus machen, bitte ich Sie, mein Heft "Der Marxismus<br />
über den Staat" (in Stockholm steckengeblieben) herauszugeben. Blauer Umschlag,<br />
gebunden. Gesammelt sämtliche Zitate aus Marx und Engels, wie auch Kautsky gegen<br />
Pannekoek. Enthält eine Reihe Anmerkungen und Notizen. Formulieren. Ich glaube, die<br />
Herausgabe ist möglich nach einer Woche Arbeit. Erachte es als wichtig, denn nicht nur<br />
Plechanow und Kautsky verwirrten. Bedingung: all dies absolut entre nous.« Der revolutionäre<br />
Führer, gehetzt als Agent eines feindlichen Staates und mit <strong>der</strong> Möglichkeit eines<br />
Attentates seitens <strong>der</strong> Feinde rechnend, sorgt sich um die Herausgabe eines "blauen"<br />
Heftes mit Zitaten aus Marx-Engels: das ist sein Geheimtestament. Das Wörtchen<br />
»Garaus machen« muß als Gegengift dienen gegen die verhaßte Pathetik: <strong>der</strong> Auftrag ist<br />
seinem Wesen nach pathetischen Charakters.<br />
Während er aber einen Schiag in den Rücken erwartete, bereitete Lenin sich darauf<br />
vor, einen Schlag in die Brust zu führen. Indes er zwischen Zeitunglesen und Abfassen<br />
instruktiver Briefe das endlich aus Stockholm eingetroffene wertvolle Heft ordnete, hielt<br />
das Leben nicht still. Es nahte die Stunde, wo bevorstand, die Frage des Staates praktisch<br />
zu lösen.<br />
Aus <strong>der</strong> Schweiz hatte Lenin gleich nach dem Sturze <strong>der</strong> Monarchie geschrieben: »...<br />
Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger <strong>der</strong> Machtergreifung durch eine Min<strong>der</strong>heit<br />
...« Den gleichen Gedanken entwickelte er nach Ankunft in Rußland: »Wir sind jetzt in<br />
<strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit, - die Massen glauben uns vorläufig nicht. Wir werden warten können ...<br />
Sie werden uns zuströmen, und wir werden dann unter Berücksichtigung des Kräfteverhältnisses<br />
sagen: unsere Zeit ist gekommen.« Die Frage <strong>der</strong> Machteroberung stand in<br />
diesen ersten Monaten als Frage <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Mehrheit in den Sowjets.<br />
Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung proklamierte Lenin: die Macht kann von nun an nur vermittels<br />
des bewaffneten Aufstandes ergriffen werden; dabei wird man sich allem Anschein<br />
nach stützen müssen nicht auf die durch die Versöhnler demorahsierten Sowjets, son<strong>der</strong>n<br />
auf die Fabrikkomitees; Sowjets als Organe <strong>der</strong> Macht werden nach dem Siege neu<br />
geschaffen werden müssen. In Wirklichkeit entrissen die Bolschewiki bereits zwei<br />
Monate später die Sowjets den Versöhnlern. Die Art des Leninschen Irrtums in dieser<br />
Frage ist in höchstem Maße charakteristisch für sein strategisches Genie: für die allerkühnsten<br />
Pläne macht er Berechnungen, ausgehend von den allerungünstigsten Voraussetzungen.<br />
Wie er im April, als er durch Deutschland nach Rußland reiste, glaubte, vom<br />
Bahnhof ins Gefängnis zu geraten, wie er am 5. Juli sagte: »sie werden uns wohl abschießen«,<br />
so meinte er auch jetzt: die Versöhnler werden uns hin<strong>der</strong>n, die Mehrheit in den<br />
Sowjets zu erobern.<br />
»Es gibt keinen kleinmütigeren Menschen als mich, wenn ich einen Kriegsplan ausarbeite«,<br />
schrieb Napoleon an General Bertier, »ich übertreibe alle Gefahren und alle<br />
möglichen Mißgeschicke ... Ist aber mein Entschluß gefaßt, ist alles vergessen außer was<br />
seinen Erfolg sichern kann.« Läßt man die Pose, die sich in dem wenig angebrachten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 624
Worten "Kleinmut" äußert, beiseite, kann man den Kern des Gedankens vollständig auf<br />
Lenin beziehen. Mit <strong>der</strong> Lösung eines strategischen Problems beschäftigt, stattete er den<br />
Feind im voraus mit <strong>der</strong> eigenen Entschlossenheit und dem eigenen Weitblick aus.<br />
Lenins taktische Fehler waren am häufigsten Nebenprodukte seiner strategischen Stärke.<br />
In diesem Falle ist es überhaupt wohl kaum am Platze, von einem Fehler zu sprechen:<br />
wenn ein Diagnostiker an die Feststellung einer Krankheit herangeht vermittels konsequenten<br />
Ausscheidens alles Falschen, stellen seine hypothetischen Annahmen, beginnend<br />
mit den schlimmsten, nicht Irrtümer dar, son<strong>der</strong>n die Methode <strong>der</strong> Analyse.<br />
Sobald die Bolschewiki die beiden hauptsächlichen Sowjets in ihren Händen hatten,<br />
sagte Lenin: »Unsere Zeit ist gekommen.« Im April und Juli hielt er zurück; im August<br />
bereitete er theoretisch die neue Etappe vor; seit Mitte September ermahnte er zur Eile<br />
und treibt aus allen Kräften an. Jetzt besteht die Gefahr nicht im Vorauseilen, son<strong>der</strong>n un<br />
Zurückbleiben. »Verfrühtes kann es in dieser Hinsicht jetzt nicht geben.«<br />
In Artikeln und Briefen an das Zentralkomitee analysiert Lenin die Lage, wobei er<br />
jedesmal die internationalen Bedingungen voranstellt. Symptome und Tatsachen des<br />
Erwachens des europäischen Proletariats sind ihm auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Kriegsereignisse<br />
unbestreitbare Beweise dafür, daß die unmittelbare Bedrohung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
<strong>Revolution</strong> seitens des ausländischen Imperialismus immer mehr abnehmen wird.<br />
Verhaftungen <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> in Italien und beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Aufstand in <strong>der</strong> deutschen<br />
Flotte veranlassen ihn, einen ungeheuren Umschwung in <strong>der</strong> gesamten Weltlage zu<br />
proklamieren: »Wir stehen am Beginn <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution.«<br />
Diese Ausgangsposition Lenins möchte die epigonenhafte Historiographie verschweigen:<br />
sowohl deshalb, weil Lenins Berechnung durch die Ereignisse wi<strong>der</strong>legt scheint,<br />
wie auch, weil die russische <strong>Revolution</strong>, entsprechend den späteren Theorien, unter allen<br />
Umständen sich selbst genügen muß. Indes war die Leninsche Einschätzung <strong>der</strong> internationalen<br />
Lage nichts weniger als illusorisch. Die Symptome, die er durch das Sieb <strong>der</strong><br />
Militärzensur aller Län<strong>der</strong> beobachtete, kündeten tatsächlich das Nahen eines revolutionären<br />
Sturmes. Bei den Mittelmächten erschütterte er ein Jahr später das alte Gebäude bis<br />
auf das Fundament. Aber auch in den Siegerlän<strong>der</strong>n, England und Frankreich, nicht zu<br />
sprechen von Italien, nahm er den regierenden Klassen für lange Zeit die Handlungsfreiheit.<br />
Gegen das starke, konservative, selbstsichere kapitalistische Europa hätte sich die<br />
isolierte, noch nicht erstarkte proletarische <strong>Revolution</strong> in Rußland nicht einmal wenige<br />
Monate halten können. Aber dieses Europa war nicht mehr. Die <strong>Revolution</strong> im Westen<br />
brachte zwar das Proletariat nicht an die Macht - die Reformisten retteten das bürgerliche<br />
Regime -, war aber immerhin stark genug, um die Sowjetrepublik in <strong>der</strong> ersten, gefährlichsten<br />
Periode ihres Daseins zu schützen.<br />
Lenins tiefschürfen<strong>der</strong> Internationalismus äußerte sich nicht nur darin, daß er die<br />
Einschätzung <strong>der</strong> internationalen Lage beständig in den Vor<strong>der</strong>grund schob; er betrachtete<br />
die Machteroberung in Rußland selbst vor allem als einen Anstoß zur europäischen<br />
<strong>Revolution</strong>, die, wie er mehr als einmal wie<strong>der</strong>holte, für das Schicksal <strong>der</strong> Menschheit<br />
unermeßlich größere Bedeutung haben müßte als die <strong>Revolution</strong> im rückständigen<br />
Rußland. Mit welchem Sarkasmus geißelt er jene Bolschewiki, die ihre internationale<br />
Pflicht nicht begreifen. »Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen<br />
Aufständischen an«, höhnt er, »und verwerfen wir den Aufstand in Rußland. Das wird<br />
wahrer, vernünftiger Internationalismus sein!«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 625
In den Tagen <strong>der</strong> demokratischen Beratung schreibt Lenin an das Zentralkomitee:<br />
»Nachdem sie in beiden hauptstädtischen Sowjets ... die Mehrheit erlangt haben ...,,<br />
können und müssen die Bolschewiki die Staatsmacht in ihre Hände nehmen ...« Die<br />
Tatsache, daß die Mehrheit <strong>der</strong> Bauerndelegierten <strong>der</strong> künstlich zusammengesetzten<br />
Demokratischen Beratung gegen eine Koalition mit den Kadetten stimmte, war in Lenins<br />
Augen von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung: dem Muschik, <strong>der</strong> ein Bündnis mit <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
nicht will, bleibt nichts weiter übrig, als die Bolschewiki zu unterstützen. »Das Volk<br />
ist <strong>der</strong> Schwankungen <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre müde. Nur unser Sieg in<br />
den Hauptstädten wird die Bauern mitreißen.« Die Aufgabe <strong>der</strong> Partei: »Auf die Tagesordnung<br />
ist zu stellen: bewaffneter Aufstand in Petrograd und Moskau, Machteroberung,<br />
Sturz <strong>der</strong> Regierung.« Niemand hatte sich bis dahin so gebieterisch und nackt die<br />
Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung gestellt.<br />
Lenin verfolgt genau alle Wahlen und Abstimmungen im Lande, sammelt aufmerksam<br />
die Zahlen, die auf das tatsächliche Kräfte-verhältnis ein Licht zu werfen imstande sind.<br />
Für die halbanarchistische Gleichgültigkeit gegen Wahlstatistik hatte er nur Verachtung.<br />
Aber gleichzeitig identifizierte Lenin niemals den Index des Parlamentarismus mit dem<br />
tatsächlichen Kräfteverhältnis: er brachte stets eine Korrektur für die direkte Aktion<br />
hinein. »... Die Kraft des revolutionären Proletariats vom Standpunkte des Einwirkens<br />
auf die Massen und ihrer Einbeziehung in den Kampf«, mahnt er, »ist unvergleichlich<br />
größer im außenparlamentarischen Kampfe als im parlamentarischen. Das ist eine sehr<br />
wichtige Beobachtung für die Frage des Bürgerkrieges.«<br />
Mit scharfem Auge entdeckte Lenin als erster, daß die Agrarbewegung eine entscheidende<br />
Phase betreten hatte, und zog daraus sofort alle Schlußfolgerungen. Der Muschik<br />
will nicht länger warten, ebensowenig <strong>der</strong> Soldat,. »Angesichts einer solchen Tatsache<br />
wie <strong>der</strong> Bauernaufstand«, schreibt Lenin Ende September, »hätten alle an<strong>der</strong>en politischen<br />
Symptome, selbst wenn sie dem Heranreifen <strong>der</strong> gesamtnationalen Krise wi<strong>der</strong>sprechen<br />
würden, nicht die geringste Bedeutung.« Die Agrarfrage ist das Fundament <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Der Sieg <strong>der</strong> Regierung über den Bauernaufstand wäre das »Begräbnis <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> ...« Auf günstigere Bedingungen zu hoffen, besteht keine Notwendigkeit. Die<br />
Stunde zum Handeln naht. »Die Krise ist reif. Die gesamte Zukunft <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
<strong>Revolution</strong> steht auf dem Spiel. Die gesamte Zukunft <strong>der</strong> internationalen Arbeiterrevolution<br />
für den Sozialismus steht auf dem Spiel. Die Krise ist reif.«<br />
Lenin ruft zum Aufstand. Aus je<strong>der</strong> einfachen, prosaischen, mitunter eckigen Zeile<br />
klingt höchste Spannung <strong>der</strong> Leidenschaft. »Die <strong>Revolution</strong> geht zugtunde«, schreibt er<br />
Anfang Oktober an die Petrogra<strong>der</strong> Parteikonferenz, »wenn die Kerenski-Regierung von<br />
den Proletariern und Soldaten nicht in <strong>der</strong> allernächsten Zukunft gestürzt wird ... Man<br />
muß alle Kräfte mobilisieren, um den Arbeitern und Soldaten den Gedanken von <strong>der</strong><br />
unbedingten Notwendigkeit des verzweifelten, letzten, entscheidenden Kampfes für den<br />
Sturz <strong>der</strong> Kerenski-Regierung einzuflößen.«<br />
Mehr als einmal hatte Lenin gesagt, die Massen seien linker als die Partei. Er wußte,<br />
daß die Partei linker war als die Oberschicht <strong>der</strong> »alten Bolschewiki«. Zu gut konnte er<br />
sich die inneren Gruppierungen und Stimmungen im Zentralkomitee vergegenwärtigen,<br />
um von dieser Seite irgendwelche riskanten Schritte zu erwarten: dafür befürchtete er<br />
stark überflüssige Vorsicht, Zau<strong>der</strong>n, Versäumung einer jener historischen Situationen,<br />
die sich im Laufe von Jahrzehnten vorbereiten. Lenin vertraut nicht dem Zentralkomitee -<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 626
ohne Lenin: darin liegt <strong>der</strong> Schlüssel zu seinen Briefen aus <strong>der</strong> Illegalität. Und Lenin hat<br />
gar nicht so unrecht in seinem Mißtrauen.<br />
Gezwungen, sich in den meisten Fällen nach bereits gefaßtem Beschluß in Petrograd<br />
zu äußern, kritisiert Lenin unablässig von links die Politik des Zentralkomitees. Seine<br />
Opposition entwickelt sich auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Frage des Aufstandes, beschränkt<br />
sich aber nicht auf sie. Lenin meint, das Zentralkomitee widme zuviel Aufmerksamkeit<br />
dem versöhnlerischen Exekutivkomitee, <strong>der</strong> Demokratischen Beratung, wie überhaupt<br />
dem parlamentarischen Treiben in den Sowjetgipfeln. Er tritt scharf auf gegen den<br />
Vorschlag <strong>der</strong> Bolschewiki betreffs eines Koalitionspräsidiums im Petrogra<strong>der</strong> Sowjet.<br />
Er brandmarkt den »schändlichen« Beschluß betreffs Teilnahme am Vorparlament. Er ist<br />
entrüstet über die Ende September veröffentlichte Liste <strong>der</strong> bolschewistischen Kandidaten<br />
für die Konstituierende Versammlung: zuviel Intellektuelle, zu wenig Arbeiter. »Mit<br />
Rednern und Literaten die Konstituierende Versammlung zu füllen, heißt den ausgetretenen<br />
Weg des Opportunismus und Chauvinismus gehen. Das ist <strong>der</strong> III. <strong>Internationale</strong><br />
unwürdig.« Außerdem seien unter den Kandidaten zuviel neue, im Kampfe nicht<br />
erprobte Parteimitglie<strong>der</strong>! Lenin hält es für notwendig, einen Vorbehalt zu machen: »Es<br />
versteht sich von selbst, daß ... niemand gegen eine Kandidatur, beispielsweise<br />
L.D. Trotzkis, Einwände erheben könnte, denn erstens hat Trotzki sogleich nach seiner<br />
Ankunft die Position eines Internationalisten eingenommen; zweitens unter den Interrayonisten<br />
für eine Verschmelzung gekämpft; drittens hat er sich in den schweren Julitagen<br />
auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Aufgabe und als treuer Anhänger <strong>der</strong> Partei des revolutionären<br />
Proletariats gezeigt. Es ist klar, daß man dies von zahlreichen, in die Liste aufgenommenen<br />
gestrigen Parteimitglie<strong>der</strong>n nicht sagen kann ...«<br />
Es könnte scheinen, die Apriltage seien zurückgekehrt: Lenin ist wie<strong>der</strong> in Opposition<br />
zum Zentralkomitee. Die Fragen stehen jetzt an<strong>der</strong>s, aber <strong>der</strong> allgemeine Geist seiner<br />
Opposition ist <strong>der</strong> gleiche: das Zentralkomitee ist zu passiv, unterliegt zu stark <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Meinung intellektueller Kreise, ist zu versöhnlerisch gestimmt in bezug auf die<br />
Versöhnler; und in <strong>der</strong> Hauptsache, verhält sich zu teilnahmlos, fatalistisch, nicht<br />
bolschewistiseh zum Problem des bewaffneten Aufstandes.<br />
Es ist Zeit, von Worten zur Tat überzugehen: »Unsere Partei hält jetzt in <strong>der</strong><br />
Demokratischen Beratung faktisch einen eigenen Kongreß ab, und dieser Kongreß muß<br />
(ob er will o<strong>der</strong> nicht) das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> entscheiden.« Es ist aber nur eine<br />
Entscheidung denkbar: <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand. In diesem ersten Brief über den<br />
Aufstand macht Lenin noch den Vorbehalt: »Es handelt sich nicht um den "Tag" des<br />
Aufstandes, nicht um seinen "Moment" im engen Sinne des Wortes. Das wird allein die<br />
Gesamtstimme jener entscheiden, die mit den Arbeitern und Soldaten, mit den Massen<br />
unmittelbar in Berührung stehen.« Aber schon zwei, drei Tage danach (die Briefe aus<br />
dieser Zeit sind in <strong>der</strong> Regel ohne Datum: aus konspirativen Erwägungen, nicht aus<br />
Vergeßlichkeit) besteht Lenin unter offensichtlichem Eindruck <strong>der</strong> Fäulnis <strong>der</strong> Demokratischen<br />
Beratung auf sofortigem Übergang zu Taten und bringt sogleich einen praktischen<br />
Plan vor.<br />
»Wir müssen uns in <strong>der</strong> Beratung unverzüglich zu einer bolschewistischen Fraktion<br />
zusammenschließen, ohne <strong>der</strong> numerischen Stärke nachzujagen ... Wir müssen eine kurze<br />
Deklaration <strong>der</strong> Bolschewiki entwerfen ... Wir müssen unsere gesamte Fraktion in die<br />
Betriebe und Kasernen entsenden. Wir müssen gleichzeitig, ohne eine Minute Zeit zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 627
verlieren, einen Stab aufständischer Abteilungen organisieren, die Kräfte verteilen, die<br />
treuen Regimenter auf die wichtigsten Punkte entsenden, die Alexandrinka (das Theater,<br />
in dem die Demokratische Beratung tagte) umzingeln, die Peter-Paul-Festung besetzen,<br />
Generalstab und Regierung verhaften, zu den Junkern und <strong>der</strong> Wilden Division Abteilungen<br />
abkommandieren, die eher zu sterben bereit sind, als zuzulassen, daß <strong>der</strong> Feind in<br />
die Stadtzentren marschiert; wir müssen bewaffnete Arbeiter mobilisieren, sie zum<br />
verzweifelten Endkampf aufrufen, sogleich Telegraph und Telephon besetzen, unseren<br />
Aufstandsstab bei <strong>der</strong> Telephonzentrale unterbringen, alle Fabriken, alle Regimenter,<br />
alle Punkte des bewaffneten Aufstandes mit ihm verbinden, und so weiter.« Der<br />
Zeitpunkt wird nicht mehr abhängig gemacht von <strong>der</strong> »Gesamtstimme jener, die mit den<br />
Massen unmittelbar in Berührung stehen«. Lenin schlägt vor, unverzüglich zu handeln:<br />
Mit einem Ultimatum aus dem Alexandrinski-Theater hinauszugehen, um dorthin<br />
zurückzukehren an <strong>der</strong> Spitze bewaffneter Massen. Der vernichtende Schlag soll sich<br />
nicht nur gegen die Regierung richten, son<strong>der</strong>n gleichzeitig auch gegen das oberste<br />
Organ <strong>der</strong> Versöhnler.<br />
»... Lenin, <strong>der</strong> in Privatbriefen Verhaftung <strong>der</strong> Demokratischen Beratung for<strong>der</strong>te«, so<br />
enthüllt Suchanow, »schlug in <strong>der</strong> Presse, wie wir wissen, ein "Kompromiß" vor: sollen<br />
doch Menschewiki und Sozialrevolutionäre die ganze Macht nehmen, danach mag <strong>der</strong><br />
Sowjetkongreß sprechen ... Das Gleiche verfolgte hartnäckig auch Trotzki in <strong>der</strong><br />
Demokratischen Beratung und um sie herum.« Suchanow sieht ein Doppelspiel dort, wo<br />
nicht die Spur davon ist. Lenin hatte den Versöhnlern ein Kompromiß vorgeschlagen<br />
gleich nach dem Siege über Kornilow, in den ersten Septembertagen. Achselzuckend<br />
waren die Versöhnler daran vorbeigegangen. Die Demokratische Beratung verwandelten<br />
sie in eine Deckung <strong>der</strong> neuen Koalition mit den Kadetten gegen die Bolschewiki. Die<br />
Möglichkeit einer Verständigung fiel somit von selbst endgültig weg. Die Frage <strong>der</strong><br />
Macht konnte von nun an nur durch den offenen Kampf entschieden werden. Suchanow<br />
bringt hier zwei Stadien durcheinan<strong>der</strong>, von denen das erste dem zweiten um vierzehn<br />
Tage voranging und dieses politisch bedingte.<br />
Aber wenn sich auch <strong>der</strong> Aufstand unvermeidlich aus <strong>der</strong> neuen Koalition ergab, so<br />
überraschte Lenin doch durch die Schroffheit <strong>der</strong> Wendung sogar die Spitzen <strong>der</strong> eigenen<br />
Partei. Auf <strong>der</strong> Basis seines Briefes die bolschewistische Fraktion in <strong>der</strong> Beratung<br />
zusammenzuschließen, wenn auch »ohne <strong>der</strong> numerischen Stärke nachzujagen«, war<br />
offensichtlich unmöglich. Die Stimmung <strong>der</strong> Fraktion war <strong>der</strong>art, daß sie mit siebzig<br />
gegen fünfzig Stimmen den Boykott des Vorparlaments, das heißt den ersten Schritt in<br />
die Richtung des Aufstandes ablehnte. Im Zentralkomitee selbst fand Lenins Plan absolut<br />
keine Unterstützung. Vier Jahre später, auf einem den Erinnerungen gewidmeten Abend,<br />
erzählte Bucharin mit den ihm eigenen Übertreibungen und Anekdötchen, im Grunde<br />
aber richtig über diese Episode. »Der Brief (Lenins) war außerordentlich entschieden<br />
gehalten und drohte uns mit allerhand Strafen [?]. Wir alle waren paff. Niemand hatte<br />
bis dahin die Frage so schroff gestellt ... Alle waren fassungslos. Dann beriet man sich<br />
und faßte einen Beschluß. Vielleicht war das <strong>der</strong> einzige Fall in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> unserer<br />
Partei, wo das Zentralkomitee einstimmig beschloß, Lenins Brief zu verbrennen ... Wir<br />
glaubten zwar, daß es uns unbedingt gelingen würde, in Petrograd und Moskau die<br />
Macht in unsere Hände zu nehmen, meinten aber, daß wir uns in <strong>der</strong> Provinz noch nicht<br />
würden halten können und nach Übernahme <strong>der</strong> Macht und Auseinan<strong>der</strong>jagen <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 628
Demokratischen Beratung außerstande wären, im ganzen übrigen Rußland Fuß zu<br />
fassen.«<br />
Das von Erwägungen <strong>der</strong> Konspiration hervorgerufene Verbrennen einiger Kopien des<br />
gefährlichen Briefes wurde in Wirklichkeit nicht einstimmig beschlossen, son<strong>der</strong>n mit<br />
sechs Stimmen gegen vier bei sechs Stimmenthaltungen. Ein Exemplar wurde für die<br />
<strong>Geschichte</strong> zum Glück aufbewahrt. Doch richtig in Bucharins Erzählung ist, daß sämtliche<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees, wenn auch aus verschiedenen Motiven, Lenins<br />
Vorschlag ablehnten: die einen wi<strong>der</strong>setzten sich dem Aufstande überhaupt, an<strong>der</strong>e<br />
glaubten, <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> Beratung sei <strong>der</strong> ungeeignetste; die dritten schwankten und<br />
warteten einfach ab.<br />
Auf offenen Wi<strong>der</strong>stand stoßend, tritt Lenin in eine Art Verschwörung mit Smilga, <strong>der</strong><br />
sich ebenfalls in Finnland befindet und als Vorsitzen<strong>der</strong> des Distriktiomitees <strong>der</strong> Sowjets<br />
zu jener Zeit beträchtliche reale Macht in seinen Händen konzentriert. Smilga stand 1917<br />
auf dem äullersten linken Flügel <strong>der</strong> Partei und hatte bereits im Jnli dazu geneigt, den<br />
Kampf zur Entscheidung zu bringen: bei Wendungen in <strong>der</strong> Politik fand Lenin stets, auf<br />
wen sich zu stützen. Am 27. September schreibt Lenin an Smilga einen umfangreichen<br />
Brief: »... Was tun wir? Wir nehmen Resolutio nen an? Wir verlieren<br />
Zeit, setzen "Termine" fest (am 20. Oktober - Sowjetkongreß - ist es nicht lächerlich, so<br />
hinauszuschieben? Ist es nicht lächerlich, sich darauf zu verlassen?). Systematische<br />
Arbeit, um ihre militärischen Kräfte für Kerenskis Sturz vorzubereiten, wird von den<br />
Bolschewiki nicht getan ... Man muß in <strong>der</strong> Partei agitieren für ein ernstes Verhalten zum<br />
bewaffneten Aufstand ... Weit über Ihre Rolle ... Ein Geheimkomitee aus zuverlässigen<br />
Militärpersonen schaffen, mit ihnen allseitig beraten, sammeln (und selbst nachprüfen)<br />
genaueste Informationen über Zusammensetzung und Aufstellung <strong>der</strong> Truppen bei Petrograd<br />
und in Petrograd, über den Transport finnländischer Truppen nach Petrograd,<br />
über Flottenbewegungen und so weiter.« Lenin for<strong>der</strong>t »systematische Propaganda unter<br />
den Kosaken, die sich hier, in Finnland, befinden ... Man muß alle Informationen über<br />
die Aufstellung <strong>der</strong> Kosaken studieren und die Hinsendung von Agitatorentrupps aus den<br />
besten Kräften <strong>der</strong> Matrosen und Soldaten Finnlands organisieren«. Schließlich: »Zur<br />
richtigen Vorbereitung <strong>der</strong> Köpfe muß man sofort folgende Losung in Umlauf bringen:<br />
"Die Macht muß unverzüglich in die Hände des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets übergehen, <strong>der</strong> sie<br />
dem Sowjetkongreß übertragen wird. Denn wozu noch weitere drei Wochen Krieg und<br />
kornilowsche Vorbereitungen seitens Kerenskis dulden?"«<br />
Wir haben einen neuen Aufstandsplan vor uns: »ein Geheimkomitee aus den wichtigsten<br />
Militärpersonen« in Helsingfors als Kampfstab; die in Finnland liegenden <strong>russischen</strong><br />
Truppen als Kampfmacht: »wohl das einzige, was wir völlig in unseren Händen<br />
haben können und was eine ernste militärische Rolle spielen wird, sind die finnländischen<br />
Truppen und die Baltische Flotte«. Lenin rechnet somit, den Hauptschlag gegen<br />
die Regierung außerhalb Petrograds zu führen. Gleichzeitig ist erfor<strong>der</strong>lich »eine richtige<br />
Vorbereitung <strong>der</strong> Köpfe«, damit <strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Regierung durch die militärischen Kräfte<br />
Finnlands über den Petrogra<strong>der</strong> Sowjet nicht als Überraschung hineinbricht: bis zum<br />
Sowjetkongreß wird er <strong>der</strong> Nachfolger <strong>der</strong> Regierung sein müssen.<br />
Der neue Entwurf des Planes ist wie <strong>der</strong> vorangegangene nicht verwirklicht worden.<br />
Doch ist er nicht ohne Spur geblieben. Die Agitation unter den Kosakendivisionen<br />
zeitigte bald Resultate: davon hörten wir von Dybenko. Hinzuziehung <strong>der</strong> baltischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 629
Seeleute zur Teilnahme am Hauptschlag gegen die Regierung ist ebenfalls in den später<br />
angenommenen Plan eingegangen. Doch nicht das ist die Hauptsache: durch die bis aufs<br />
äußerste zugespitzte Fragestellung erlaubte Lenin niemand auszuweichen o<strong>der</strong> zu lavieren.<br />
Was sich für einen direkten taktischen Vorschlag als unzeitgemäß erwies, gestaltete<br />
sich zweckmäßig als Nachptüfung <strong>der</strong> Stimmungen im Zentralkomitee, als Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Entschlossenen gegen die Schwankenden, als ergänzen<strong>der</strong> Stoß nach links.<br />
Mit allen Mitteln, über die man in <strong>der</strong> Isolierung <strong>der</strong> Illegalität verfügen konnte, war<br />
Lenin bestrebt, die Parteika<strong>der</strong> die Schärfe <strong>der</strong> Situation und die Kraft des Massendrucks<br />
fühlen zu lassen. Er berief einzelne Bolschewiki in seinen Schlupfwinkel, veranstaltete<br />
peinlichste Verhöre, überprüfte Worte und Handlungen <strong>der</strong> Führer, ließ auf Umwegen<br />
seine Parolen in die Partei, nach unten, in die Tiefe, dringen, um das Zentralkomitee vor<br />
die Notwendigkeit zu stellen, zu handeln und bis ans Ende zu gehen.<br />
Am Tage nach seinem Brief an Smilga schreibt Lenin das bereits oben zitierte<br />
Dokument "Die Krise ist reif", das er mit einer Art Kriegserklärung an das Zentralkomitee<br />
abschließt. »Man muß ... die Wahrheit zugeben, daß bei uns im Zentralkomitee und in<br />
den Parteispitzen eine Strömung o<strong>der</strong> Meinung besteht, die für das Abwarten des Sowjetkongresses,<br />
gegen sofortige Machtübernahme, gegen sofortigen Aufstand ist.« Diese<br />
Strömung müsse um jeden Preis überwunden werden. »Besiegt zuerst Kerenski, dann ruft<br />
den Kongreß ein.« In Erwartung des Sowjetkongresses Zeit zu verlieren, ist »vollendete<br />
Idiotie o<strong>der</strong> vollendeter Verrat ...« Bis zu dem auf den 20. angesetzten Kongreß bleiben<br />
mehr als zwanzig Tage: »Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt alles.« Die Lösung<br />
hinauszuziehen, heißt feige auf den Aufstand verzichten, denn während des Kongresses<br />
wird die Machtergreifung unmöglich werden: »Man wird für den Tag des einfältig<br />
"angesetzten" Aufstandes Kosaken aufbieten.«<br />
Schon allein <strong>der</strong> Ton des Briefes zeigt, wie verhängnisvoll Lenin das Zögern <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Führung schien. Doch beschränkt er sich diesmal nicht auf wütende Kritik,<br />
son<strong>der</strong>n kündet als Protest seinen Austritt aus dem Zentralkomitee an. Motive: das<br />
Zentralkomitee habe seit Beginn <strong>der</strong> Beratung auf Lenins Drängen bezüglich <strong>der</strong> Machtergreifung<br />
nicht reagiert; die Redaktion des Parteiorgans (Stalin) drucke seine Artikel mit<br />
absichtlichen Verschleppungen und streiche aus ihnen Hinweise auf solche »himmelschreienden<br />
Fehler <strong>der</strong> Bolschewiki wie <strong>der</strong> schändliche Beschluß, sich am Vorparlament<br />
zu beteiligen«, und so weiter. Diese Politik vor <strong>der</strong> Partei zu decken, hält Lenin<br />
nicht für möglich: »Ich bin gezwungen, um meinen Austritt aus dem Zentralkomitee zu<br />
ersuchen, was ich hiermit auch tue, und mir die Freiheit <strong>der</strong> Agitation in den unteren<br />
Parteischichten und auf dem Parteikongreß vorzubehalten.«<br />
Die Dokumente lassen nicht erkennen, wie sich <strong>der</strong> formale Verlauf <strong>der</strong> Sache weiter<br />
entwickelte. Aus dem Zentralkomitee trat Lenin jedenfalls nicht aus. Durch die Austrittserklärung,<br />
die bei Lenin keineswegs Frucht momentaner Gereiztheit sein konnte, wollte<br />
Lenin sich offenbar die Möglichkeit lassen, im Notfalle an die innere Disziplin des<br />
Zentralkomitees nicht gebunden zu sein: er konnte nicht daran zweifeln, daß, wie im<br />
April, <strong>der</strong> unmittelbare Appell an die unteren Schichten ihm den Sieg sichern würde.<br />
Aber <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> offenen Rebellion gegen das Zentralkomitee setzte die Vorbereitung<br />
eines außerordentlichen Kongresses voraus, erfor<strong>der</strong>te folglich Zeit; und gerade an Zeit<br />
fehlte es. Seine Austrittserklärung bereithaltend, ohne jedoch die Grenzen <strong>der</strong> Parteilegalität<br />
völlig zu verlassen, fährt Lenin fort, bereits mit größerer Freiheit den Angriff auf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 630
den inneren Operationslinien weiter zu entwickeln. Seine Briefe an das Zentralkomitee<br />
schickt er nicht nur an das Petrogra<strong>der</strong> und das Moskauer Komitee, son<strong>der</strong>n sorgt auch<br />
dafür, daß Kopien in Hände <strong>der</strong> zuverlässigsten Genossen in den Bezirken geraten.<br />
Anfang Oktober schreibt Lenin, bereits unter Umgehung des Zentralkomitees, unmittelbar<br />
an das Petrogra<strong>der</strong> und das Moskauer Komitee: »Die Bolschewiki haben nicht das<br />
Recht, auf den Sowjetkongreß zu warten, sie müssen die Macht sofort ergreifen ... Zögern<br />
- ist Verbrechen. Auf den Sowjetkongreß warten, ist Kin<strong>der</strong>spiel mit Formalitäten,<br />
schändliches Spiel mit Formalitäten, Verrat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.« Vom Standpunkte hierarchischer<br />
Beziehungen war Lenins Vorgehen keinesfalls einwandfrei. Aber es ging um<br />
etwas Größeres als um Erwägungen formaler Disziplin.<br />
Ein Mitglied des Wyborger Bezirkskomitees, Sweschnikow, erinnert sich: »lljitsch<br />
schrieb und schrieb aus <strong>der</strong> lliegalität unermüdlich, und Nadeschda Konstantinowna<br />
(Krupskaja) las uns im Bezirkskomitee sehr häufig diese Manuskripte vor ... Die feurigen<br />
Worte des Führers steigerten unsere Kraft ... Ich erinnere mich wie heute <strong>der</strong> gebeugten<br />
Gestalt Nadeschda Konstantinownas, die in einem <strong>der</strong> Zimmer des Bezirksamtes, wo die<br />
Schreibmaschinisten arbeiteten, sorgfältig die Abschrift mit dem Original vergleicht, und<br />
daneben "Djadja" und "Genja", um Kopien bittend.« Djadja und Genja sind alte konspirative<br />
Decknamen zweier Bezirksführer. »Unlängst«, erzählt <strong>der</strong> Bezirks-Parteiarbeiter<br />
Naumow, »erhielten wir von Iljitsch einen Brief zur Weitergabe an das Zentralkomitee ...<br />
Den Brief lasen wir und waren paff. Es stellte sich heraus, daß Lenin schon längst vor<br />
dem Zentralkomitee die Frage des Aufstandes erhob. Wir machten Lärm und begannen<br />
nachzudrücken.« Das gerade war nötig.<br />
Anfang Oktober for<strong>der</strong>t Lenin die Petrogra<strong>der</strong> Parteikonferenz auf, ein machtvolles<br />
Wort zugunsten des Aufstandes zu sprechen. Auf seine Initiative hin »ersucht die Konferenz<br />
dringend das Zentralkomitee, alle Maßnahmen zu treffen für die Leitung des unvermeidlichen<br />
Aufstandes <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten und Bauern«. Dieser eine Satz enthält zwei<br />
Maskierungen, eine juristische und eine diplomatische: von <strong>der</strong> Leitung des »unvermeidlichen<br />
Aufstandes« statt <strong>der</strong> direkten Vorbereitung des Aufstandes wird gesprochen, um<br />
dem Staatsanwalt keine zu guten Trümpfe in die Hand zu spielen; daß die Konferenz<br />
»das Zentralkomitee ersucht«, nicht aber for<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> protestiert, ist offensichtlich ein<br />
Tribut an das Prestige <strong>der</strong> höchsten Parteiorganisation. Jedoch eine an<strong>der</strong>e, ebenfalls von<br />
Lenin verfaßte Resolution sagt mit größerer Offetiheit: »... in den Parteispitzen sind<br />
Schwankungen wahrnehmbar, gewissermaßen Angst vor dem Kampf um die Macht,<br />
Geneigtheit, diesen Kampf durch Resolutionen, Proteste und Kongresse zu ersetzen«.<br />
Das heißt schon beinahe die Partei offen zur Auflehnung gegen das Zentralkomitee<br />
rufen. Lenin entschloß sich nicht leicht zu solchen Schritten. Aber es ging um das<br />
Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, und alle an<strong>der</strong>en Erwägungen treten da in den Hintergrund.<br />
Am 8. Oktober wendet sich Lenin an die bolschewistischen Delegierten des bevorstehenden<br />
Sowjetkongresses des Norddistrikts: »Man darf nicht den All<strong>russischen</strong> Sowjetkongreß<br />
abwarten, da ihn das Zentral-Exekutivkomitee auch bis November verschleppen<br />
kann. Man darf nicht hinziehen und Kerenski erlauben neue Kornilowtruppen heranzubringen.«<br />
Der Distriktkongreß, auf dem Finnland, die Flotte und Reval vertreten sind,<br />
soll die Initiative ergreifen, »um sich unverzüglich gegen Petrograd in Bewegung zu<br />
setzen«. Der direkte Aufruf zum sofortigen Aufstande richtet sich diesmal an die Vertreter<br />
von Dutzenden Sowjets. Er geht persönlich von Lenin aus: ein Parteibeschluß liegt<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 631
nicht vor, die oberste Parteiinstanz hat sich noch nicht geäußert.<br />
Es war großes Vertrauen zum Proletariat und zur Partei notwendig, aber auch sehr<br />
ernstes Mißtrauen zum Zentralkomitee, um unter dessen Umgehung, auf persönliche<br />
Verantwortung, aus <strong>der</strong> Illegalität heraus mit Hilfe kleiner, mit winziger Schrift bedeckter<br />
Briefbogen eine Agitation für den bewaffneten Aufstand zu eröffnen. Wie aber<br />
konnte es geschehen, daß Lenin, den wir Anfang April an <strong>der</strong> Spitze seiner eigenen<br />
Partei isoliert sahen, in <strong>der</strong> gleichen Umgebung wie<strong>der</strong> allein stand im September und<br />
Anfang Oktober? Das läßt sich nicht begreifen, glaubt man <strong>der</strong> törichten Legende, die die<br />
<strong>Geschichte</strong> des Bolschewismus als Ausfluß <strong>der</strong> reinen revolutionären Idee schil<strong>der</strong>t. In<br />
Wirklichkeit hatte sich <strong>der</strong> Bolschewismus in einem bestimmten sozialen Milieu entwikkelt<br />
und war dessen verschiedenartigen Einwirkungen ausgesetzt, darunter auch dem<br />
Einfluß kleinbürgerlicher Umkreisung und kultureller Rückständigkeit. Je<strong>der</strong> neuen<br />
Situation paßte sich die Partei nur auf dem Wege innerer Krisen an.<br />
Damit <strong>der</strong> scharfe Voroktoberkampf in den bolschewistischen Spitzen vor uns im<br />
wahren Lichte escheine, muß man wie<strong>der</strong> einen Blick zurückwerfen auf jene Prozesse in<br />
<strong>der</strong> Partei von denen bereits im ersten Band dieser Arbeit die Rede war. Das ist um so<br />
notwendiger, als gerade gegenwärtig die Stalin-Fraktion unerhörte Anstrengungen<br />
macht, und zwar im internationalen Maßstabe, um aus dem historischen Gedächtnis jegliche<br />
Erinnerung auszulöschen daran, wie sich in Wirklichkeit die Oktoberumwälzung<br />
vorbereitet und vollzogen hat.<br />
In den Jahren vor dem Weltkriege nannten sich die Bolschewiki in <strong>der</strong> legalen Presse<br />
"konsequente Demokraten" Dieses Pseudonym war nicht zufällig gewählt: Die Losungen<br />
<strong>der</strong> revolutionären Demokratie vertrat <strong>der</strong> Bolschewismus, und nur er allein, mutig bis zu<br />
Ende. Aber in <strong>der</strong> Prognose <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ging er nicht weiter als die Demokraten. Der<br />
Krieg jedoch, <strong>der</strong> die bürgerliche Demokratie untrennbar mit dem Imperialismus<br />
verband, enthüllte endgültig, daß das Programm <strong>der</strong> "konsequenten Demokratie" nicht<br />
an<strong>der</strong>s gelöst werden kann als durch die proletarische <strong>Revolution</strong>. Wen von den Bolschewiki<br />
<strong>der</strong> Krieg dies nicht gelehrt hatte, den mußte die <strong>Revolution</strong> fraglos unvorbereitet<br />
finden und in einen linken Mitläufer <strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie verwandeln.<br />
Indes beweist das sorgfältige Studium <strong>der</strong> Materialien, die das Parteileben während des<br />
Krieges und zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> kennzeichnen, trotz ihrer äußersten und nicht<br />
zufälligen Unvollständigkeit und ihrem seit dem Jahre 1923 wachsenden tendenziösen<br />
Charakter immer mehr, welch gewaltiges geistiges Hinabgleiten die obere Schicht <strong>der</strong><br />
Bolschewiki während des Krieges durchmachte, als das geregelte Parteileben faktisch<br />
aufgehört hatte. Die Ursache des Hinabgleitens ist eine zweifache: Loslösung von den<br />
Massen und Loslösung von <strong>der</strong> Emigration, das heißt vor allem von Lenin, und als Folge<br />
davon: Versinken in Isoliertheit und in Provinzialismus.<br />
Nicht einer <strong>der</strong> alten Bolschewiki in Rußland formulierte, sich selbst überlassen,<br />
während des ganzen Krieges auch nur ein Dokument, das man wenigstens als einen<br />
kleinen Markstein auf dem Wege von <strong>der</strong> Zweiten zur Dritten <strong>Internationale</strong> betrachten<br />
könnte. »Die Fragen des Friedens, des Charakters <strong>der</strong> künftigen <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> Rolle<br />
<strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> kommenden Provisorischen Regierung und so weiter«, schrieb vor<br />
einigen Jahren ein altes Parteimitglied, Antonow-Saratowski, »stellen sich uns entwe<strong>der</strong><br />
recht verschwommen dar o<strong>der</strong> fielen gar nicht in unseren Gedankenbereich.« Bis auf den<br />
heutigen Tag ist überhaupt nicht eine Arbeit, nicht eine Tagebuchseite, nicht ein Brief<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 632
veröffentlicht worden, worin Stalin, Molotow und die an<strong>der</strong>en <strong>der</strong> heutigen Führung<br />
auch nur nebenbei, auch nur flüchtig ihre Ansichten über die Perspektiven des Krieges<br />
und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> formuliert hätten. Das heißt natürlich nicht, daß die "alten Bolschewiki"<br />
über diese Fragen in den Jahren des Krieges, des Zusammenbruchs <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />
und <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> nichts geschrieben hätten; die<br />
historischen Ereignisse verlangten allzu gebieterisch eine Antwort, und Gefängnis und<br />
Verbannung ließen Muße genug zum Nachdenken und Briefwechsel. Aber in all dem,<br />
was über dieses Thema geschrieben wurde, ist nirgendwo etwas zu finden, was man auch<br />
nur gezwungenermaßen als Annäherung an die Ideen <strong>der</strong> Oktoberrevolution deuten<br />
könnte. Es genügt, darauf zu verweisen, daß das Institut für Parteigeschichte nicht in <strong>der</strong><br />
Lage ist, auch nur eine Zeile aus Stalins Fe<strong>der</strong> aus den Jahren 1914-1917 zu veröffentlichen,<br />
und daß es gezwungen ist, sorgfältigst die wichtigsten Dokumente vom März 1917<br />
zu verbergen. In den offiziellen politischen Biographien <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> heute regierenden<br />
Schicht sind die Kriegsjahre gekennzeichnet als leere Stelle. Dies ist die<br />
ungeschminkte Wahrheit.<br />
Einer <strong>der</strong> neueren jungen Geschichtsschreiber, Bajewski, dem die beson<strong>der</strong>e Aufabe<br />
anvertraut wurde, nachzuweisen, wie die Parteispitzen sich während des Krieges zur<br />
proletarischen <strong>Revolution</strong> hinentwickelt hätten, vermochte bei aller an den Tag gelegten<br />
Biegsamkeit seines wissenschaftlichen Gewissens den Materialien nichts als die magere<br />
Erklärung abzupressen: »Der Hergang dieses Prozesses läßt sich nicht verfolgen, doch<br />
beweisen manche Dokumente und Erinnerungen unzweifelhaft, daß ein unterirdisches<br />
Tasten des Parteidenkens in <strong>der</strong> Richtung <strong>der</strong> Leninschen Aprilthesen vorhanden war ...«<br />
Als ginge es um unterirdisches Tasten und nicht um wissenschaftliche Einschätzungen<br />
und politische Prognosen.<br />
A priori zu den Ideen <strong>der</strong> Oktoberrevolution kommen konnte man nicht in Sibirien,<br />
nicht in Moskau, auch nicht in Petrograd, son<strong>der</strong>n nur an <strong>der</strong> Kreuzung weltgeschichtlicher<br />
Wege. Die Aufgaben <strong>der</strong> verspäteten bürgerlichen <strong>Revolution</strong> mußten sich mit den<br />
Perspektiven <strong>der</strong> proletarischen Weltbewegung kreuzen, damit es möglich werde, das<br />
Programm <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats für Rußland aufzustellen. Es war ein höherer<br />
Standpunkt, nicht ein nationaler, son<strong>der</strong>n ein internationaler Horizont erfor<strong>der</strong>lich, gar<br />
nicht zu sprechen von einer ernsteren Ausrüstung als jener, über die die sogenannten<br />
<strong>russischen</strong> Praktiker <strong>der</strong> Partei verfügten.<br />
Der Sturz <strong>der</strong> Monarchie eröffnete in ihren Augen die Ära eines "freien" republikanischen<br />
Rußland, in dem sie sich anschickten; einen Kampf um den Sozialismus zu beginnen<br />
nach dem Beispiel <strong>der</strong> westlichen Län<strong>der</strong>. Drei alte Bolschewiki, Rykow, Skworzow<br />
und Wegmann, telegraphierten »im Auftrage <strong>der</strong> durch die <strong>Revolution</strong> befreiten Sozialdemokraten<br />
des Narymer Gebiets« im März aus Tomsk: »Wir begrüßen die auferstandene<br />
'Prawda', die so erfolgreich die revolutionären Ka<strong>der</strong> für die Eroberung <strong>der</strong> politischen<br />
Freiheit vorbereitet hat. Wir sprechen unsere tiefe Überzeugung aus, daß es ihr gelingen<br />
wird, diese Ka<strong>der</strong> für den weiteren Kampf im Namen <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> um ihr<br />
Bannerzu vereinigen.« Aus diesem Kollektivtelegramm spricht eine ganze Weltanschauung:<br />
sie ist durch einen Abgrund von Lenins Aprilthesen getrennt. Die Februarumwälzung<br />
verwandelte die führende Parteischicht, mit Kamenjew, Rykow und Stalin an <strong>der</strong><br />
Spitze, sofort in demokratische Landesverteidiger, dabei mit einer Entwicklung nach<br />
rechts in die Richtung einer Annäherung an die Menschewiki. Der spätere Geschichts-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 633
schreiber Jaroslawski, das spätere Oberhaupt <strong>der</strong> Zentral-Kontrollkommission, Ordschonikidse,<br />
und <strong>der</strong> spätere Vorsitzende des ukrainischen Zentral-Exekutivkomitees,<br />
Petrowski, gaben im Monat März in engem Bündnis mit den Menschewiki in Jakutsk die<br />
Zeitschrift 'Der Sozialdemokrat' heraus, die an <strong>der</strong> Grenze von patriotischem Reformismus<br />
und Liberalismus stand: in den späteren Jahren wurde diese Publikation eifrig<br />
gesammelt und vernichtet.<br />
Die Petersburger 'Prawda' versuchte zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> eine internationalistische<br />
Position einzunehmen, allerdings eine äußerst wi<strong>der</strong>spruchsvolle, die nicht über den<br />
Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen Demokratie hinausging. Die aus <strong>der</strong> Verbannung eingetroffenen<br />
Bolschewiki von Autorität gaben dem Zentralorgan sogleich eine demokratisch-patriotische<br />
Richtung. Sich gegen den Vorwurf des Opportunismus verteidigend, brachte<br />
Kalinin am 30. Mai in Erinnerung: »Nehmen wir beispielsweise die 'Prawda'. Anfangs<br />
hatte die 'Prawda' eine bestimmte Politik verfolgt. Stalin, Muranow, Kamenjew trafen ein<br />
und drehten das Steuer <strong>der</strong> 'Prawda' nach einer an<strong>der</strong>en Seite.«<br />
»Man muß offen zugeben«, schrieb, als es noch erlaubt war, solche Dinge zu schreiben,<br />
Angarski, einer aus jener Schicht, »daß eine große Zahl alter Bolschewiki vor <strong>der</strong> Aprilkonferenz<br />
<strong>der</strong> Partei in <strong>der</strong> Frage nach dem Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1917 an den<br />
alten bolschewistischen Ansichten von 1905 festhielt und daß die Preisgabe dieser<br />
Ansichten, ihre Liquidierung, nicht so leicht erfolgte.« Es wäre noch hinzuzufügen, daß<br />
die überlebten Ideen von 1905 im Jahre 1917 aufgehört hatten, »alte bolschewistische<br />
Ansichten« zu sein und Ideen des patriotischen Reformismus wurden.<br />
»Lenins Apriltbesen«, lautet eine offizielle historische Version, »waren im Petrogra<strong>der</strong><br />
Komitee vom Mißgeschick geradezu verfolgt. Für diese Thesen, die eine Epoche bilden<br />
sollten, sprachen sich nur zwei, gegen sie dreizehn, bei einer Stimmenthaltung, aus.«<br />
»Allzu kühn schienen Lenins Ansichten sogar seinen begeistertsten Anhängern«,<br />
schreibt Podwojski. Lenins Auftreten hatte - nach Meinung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees<br />
und <strong>der</strong> Militärischen Organisation - »... die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki zur Einsamkeit<br />
verurteilt und damit selbstverständlich die Lage des Proletariats und <strong>der</strong> Partei aufs<br />
äußerste verschlechtert«.<br />
»Man muß offen sagen«, schrieb vor einigen Jahren Molotow, »die Partei besaß we<strong>der</strong><br />
die Klarheit noch die Entschlossenheit, die <strong>der</strong> revolutionäre Moment erfor<strong>der</strong>te ... Der<br />
Agitation wie <strong>der</strong> revolutionären Parteiarbeit insgesamt fehlte die feste Basis, weil <strong>der</strong><br />
Gedanke noch nicht bis zu den kühnen Schlußfolgerungen in bezug auf die Notwendigkeit<br />
des unmittelbaren Kampfes für den Sozialismus und die sozialistische <strong>Revolution</strong> vorgedrungen<br />
war.« Der Umschwung begann erst im zweiten Monat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. »Seit<br />
dem Eintreffen Lenins in Rußland im April 1917«, bezeugt Molotow, »verspürte unsere<br />
Partei festen Boden unter den Füßen ... Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Partei nur<br />
schwach und unsicher ihren Weg abgetastet.«<br />
Stalin trat Ende März ein für militärische Verteidigung, für bedingte Unterstützung <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung, für Suchanows pazifistisches Manifest, für Verschmelzung<br />
mit Zeretellis Partei. »Diese irrige Einstellung«, bekannte im Jahre 1924 Rückschau<br />
haltend Stalin selbst, »habe ich damals mit an<strong>der</strong>en Parteigenossen geteilt und mich von<br />
ihr erst Mitte April völlig losgesagt, als ich mich Lenins Thesen anschloß. Es war eine<br />
Neuonentierung nötig geworden. Diese Neuorientierung gab Lenin <strong>der</strong> Partei in seinen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 634
erühmten Aprilthesen.«<br />
Kalinin war sogar noch Ende April für einen Wahlblock mit den Menschewiki. In <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Stadtkonferenz sagte Lenin: »Ich protestiere scharf gegen Kalinin, denn ein<br />
Block mit ... Chauvinisten ist undenkbar ... Das ist Verrat am Sozialismus.« Kalinins<br />
Stimmungen bildeten sogar in Petrograd keine Ausnahme, In <strong>der</strong> Konferenz wurde<br />
gesagt: »Der Verschmelzungsrausch verflüchtigt sich unter Lenins Einfluß.«<br />
In <strong>der</strong> Provinz hielt sich <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gegen Lenins Thesen bedeutend länger, in<br />
einer Reihe von Gouvemements - fast bis zum Oktober. Nach <strong>der</strong> Erzählung des Kiewer<br />
Arbeiters Siwzow »wurden die [von Lenin] aufgestellten Thesen nicht sogleich von <strong>der</strong><br />
gesamten Kiewer bolschewistischen Organisation angenommen. Eine Reihe Genossen,<br />
darunter auch G. Pjatakow, waren mit den Thesen nicht einverstanden ...« Der Charkower<br />
Eisenbahner Morgunow erzählt: »Die alten Bolschewiki genossen großen Einfluß<br />
unter <strong>der</strong> Eisenbahnermasse ... viele alte Bolsehewiki waren nicht Mitglie<strong>der</strong> unserer<br />
Fraktion ... nach <strong>der</strong> Februarrevolution meldeten sich einige irrtümlich bei den<br />
Menschewiki an, worüber sie später selbst lachten: wie das nur passieren konnte.« An<br />
solchen und ähnlichen Zeugnissen herrscht kein Mangel.<br />
Trotz alledem gilt heute schon die einfache Erwähnung <strong>der</strong> von Lenin im April vollzogenen<br />
Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei bei <strong>der</strong> offiziellen Historiographie als Gotteslästerung.<br />
Dem historischen Kriterium unterstellen die neuesten Geschichtsschreiber das Kriterium<br />
<strong>der</strong> Ehre <strong>der</strong> Parteiuniform. Sie besitzen in dieser Hinsicht nicht einmal das Recht, Stalin<br />
zu zitieren, <strong>der</strong> die ganze Tiefe <strong>der</strong> Aprilschwenkung anzuerkennen gezwungen war. »Es<br />
waren Lenins berühmte Aprilthesen notwendig, damit die Partei mit einem Schwung den<br />
neuen Weg betreten konnte.« "Neuorientierung" und "neuer Weg", das eben ist die<br />
Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei. Aber schon sechs Jahre später wurde Jaroslawski, <strong>der</strong> in<br />
seiner Eigenschaft als Historiker erwähnt hatte, Stalin habe zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
eine »irrige Position in den Kernfragen« eingenommen, von allen Seiten einer wüsten<br />
Hetze ausgesetzt. Das Idol des Prestiges ist das gefräßigste aller Ungeheuer!<br />
Die revolutionäre Tradition <strong>der</strong> Partei, <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong> Arbeiter von unten, Lenins Kritik<br />
von oben zwangen die führende Parteischicht während <strong>der</strong> Monate April-Mai, um mit<br />
Stalins Worten zu sprechen, »den neuen Weg zu betreten«. Doch müßte man von politischer<br />
Psychologie gar keine Ahnung haben, um anzunehmen, die bloße Stimmabgabe für<br />
Lenins Thesen habe die tatsächliche und völlige Preisgabe <strong>der</strong> »irrigen Position in den<br />
Kernfragen« bedeutet. In Wirklichkeit blieben jene vulgär-demokrarischen Ansichten,<br />
die sich in den Kriegsjahren organisch gefestigt hatten, wenn sie sich auch dem neuen<br />
Programm anpaßten, zu ihm in dumpfer Opposition.<br />
Am 6. August tritt Kamenjew, dem Beschluß <strong>der</strong> bolschewistisehen Aprilkonferenz<br />
zuwi<strong>der</strong>, im Exekutivkomitee für die Beteiligung an <strong>der</strong> bevorstehenden Stockholmer<br />
Konferenz <strong>der</strong> Sozialpatrioten ein. Im Zentralorgan <strong>der</strong> Partei findet Kamenjews Schritt<br />
keine Zurückweisung. Lenin schreibt einen wütenden Artikel, <strong>der</strong> aber erst zehn Tage<br />
nach Kamenjews Rede veröffentlicht wird. Es hatte des energischen Druckes seitens<br />
Lenins und an<strong>der</strong>er Zentralkomiteemitglie<strong>der</strong> bedurft, um bei <strong>der</strong> Redaktion, an <strong>der</strong>en<br />
Spitze Stalin stand, das Erscheinen des Protestartikels zu erreichen.<br />
Eine Konvulsion von Schwankungen durchzitterte die Partei nach den Julitagen: die<br />
Isoliertheit <strong>der</strong> proletarischen Avantgarde erschreckte viele Führer, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 635
Provinz. In den Kornilowtagen versuchten diese Erschreckten sich den Versöhnlern zu<br />
nähern, was wie<strong>der</strong>um eine warnende Zurechtweisung durch Lenin zur Folge hatte.<br />
Am 30. August druckt Stalin in seiner Eigenschaft als Redakteur ohne Vorbehalt<br />
Sinowjews Artikel: "Was nicht tun", gerichtet gegen die Vorbereitung des Aufstandes.<br />
»Man muß <strong>der</strong> Wahrheit ins Gesicht sehen: in Petrograd sind jetzt viele Bedingungen<br />
gegeben, die die Entstehung eines Aufstandes vom Typus <strong>der</strong> Pariser Kommune von<br />
1871 begünstigen ...« Am 3. September schreibt Lenin in einem an<strong>der</strong>en Zusammenhang<br />
und ohne Sinowjew zu nennen, den Prellhieb jedoch gegen diesen richtend: »Der<br />
Hinweis auf die Kommune ist höchst oberflächlich und sogar dumm. Denn erstens haben<br />
die Bolschewiki nach 1871 immerhin manches gelernt, sie würden nicht verfehlen, die<br />
Bank in ihre Hände zu nehmen, sie würden auf einen Angriff auf Versailles nicht verzichten;<br />
unter solchen Bedingungen aber hätte auch die Kommune siegen können. Außerdem<br />
konnte die Kommune dem Volke nicht sogleich all das bieten, was die Bolschewiki zu<br />
bieten imstande sein werden, wenn sie die Macht sind, nämlich: Land den Bauern, sofortiges<br />
Friedensangebot ...« Das war eine anonyme, aber unzweideutige Warnung nicht<br />
nur an Sinowjew, son<strong>der</strong>n auch an den Redakteur <strong>der</strong> 'Prawda', Stalin.<br />
Die Frage des Vorparlaments spaltete das Zentralkomitee in zwei Hälften. Der<br />
Beschluß <strong>der</strong> Beratungsfrakrion zugunsten <strong>der</strong> Beteiligung am Vorparlament wurde von<br />
vielen Lokalkomitees, wenn nicht von den meisten, bestätigt. So war es zum Beispiel in<br />
Kiew. »In <strong>der</strong> Frage ... des Hineingehens ins Vorparlament«, sagt in ihren Erinnerungen<br />
E. Bosch, »sprach sieh die Mehrheit des Komitees für Beteiligung aus und wählte zu<br />
ihrem Vertreter Pjatakow.« An vielen Fällen, wie am Beispiel Kamenjews, Rykows,<br />
Pjatakows und an<strong>der</strong>er, läßt sich die Nachfolgeschaft in den Schwankungen feststellen:<br />
gegen Lenins Thesen im April, gegen Boykott des Vorparlaments im September, gegen<br />
den Aufstand im Oktober. Hingegen: die nächste Schicht <strong>der</strong> bolschewistischen Ka<strong>der</strong>,<br />
die den Massen näherstehende und politisch frischere, nahm die Parole des Boykottes<br />
leicht auf und zwang die Komitees, darunter auch das Zentralkomitee, zu einer schroffen<br />
Wendung. Unter dem Einfluß von Lenins Briefen sprach sich die Kiewer Stadtkonferenz<br />
zum Beispiel mit überwiegen<strong>der</strong> Mehrheit gegen das eigene Komitee aus. So stützte sich<br />
Lenin fast an allen schroffen politischen Wendepunkten auf die unteren Schichten des<br />
Apparates gegen die höheren o<strong>der</strong> auf die Parteimasse gegen den Apparat insgesamt.<br />
Die Voroktoberschwankungen konnten unter diesen Umständen am allerwenigsten<br />
Lenin überraschen. Er war von vornherein mit scharfem Mißtrauen gewappnet, lauerte<br />
den besorgniserregenden Symptomen auf, ging von den schlimmsten Vermutungen aus<br />
und hielt es für zweckmäßiger, ein überflüssiges Mal nachzudrücken, als Milde zu<br />
zeigen.<br />
Zweifellos auf Lenins Eingebung hin nahm das Moskauer Distriktbüro Ende September<br />
eine harte Resolution gegen das Zentralkomitee an, beschuldigte es <strong>der</strong> Unentschlossenheit,<br />
<strong>der</strong> Schwankungen, des Hineintragens von Verwirrung in die Reihen <strong>der</strong> Partei<br />
und for<strong>der</strong>te, »eine klare und ausgesprochene Linie auf den Aufstand zu nehmen«. Im<br />
Namen des Moskauer Büros gab Lomow am 3. Oktober im Zentralkomitee diesen<br />
Beschluß bekannt. Das Protokoll vermerkt: »Es wird beschlossen, über den Bericht nicht<br />
zu diskutieren.« Das Zentralkomitee fuhr weiter fort, einer Antwort auf die Frage "Was<br />
tun?" auszuweichen. Doch Lenins Druck auf dem Wege über Moskau blieb nicht ergebnislos:<br />
nach zwei Tagen beschloß das Zentralkomitee, das Vorparlament zu verlassen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 636
Daß dieser Schritt das Betreten des Weges des Aufstandes bedeutete, war klar für<br />
Feinde und Gegner. »Indem Trotzki seine Armee aus dem Vorparlament hinausführte«,<br />
schreibt Suchanow, »nahm er klar Kurs auf gewaltsame Umwälzung.« Der Bericht im<br />
Petrogra<strong>der</strong> Sowjet über den Austritt aus dem Vorparlament schloß mit dem Ruf: »Es<br />
lebe <strong>der</strong> offene und direkte Kampf um die revolutionäre Macht im Lande!« Das war am<br />
9. Oktober.<br />
Am nächsten Tage fand auf Lenins Verlangen die berühmte Sitzung des Zentralkomitees<br />
statt, wo die Frage des Aufstandes in aller Schärfe gestellt wurde. Vom Ausgang<br />
dieser Sitzung machte Lenin seine weitere Politik abhängig: mit dem Zentralkomitee<br />
o<strong>der</strong> gegen das Zentralkomitee. »Oh, neue Späße <strong>der</strong> lustigen Muße <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>!«<br />
schreibt Suchanow. »Diese allerhöchste und entscheidende Sitzung fand in meiner<br />
Wohnung statt, auf <strong>der</strong> gleichen Karpowka (32, Wohn. 31). Doch geschah alles das ohne<br />
mein Wissen.« Die Frau des Menschewiken Suchanow war Bolschewikin. »Dieses Mal<br />
waren für mein Übernachten außerhalb des Hauses beson<strong>der</strong>e Maßnahmen getroffen:<br />
wenigstens erkundigte sich meine Frau ganz genau nach meinen Absichten und gab mir<br />
den freundschaftlichen, uneigennützigen Rat, mich nach <strong>der</strong> Arbeit nicht durch die lange<br />
Fahrt abzumühen. Jedenfalls war die hohe Versammlung gegen mein Eindringen völlig<br />
gesichert.« Sie erwies sich, was viel wichtiger war, auch gegen das Eindringen <strong>der</strong><br />
Kerenskischen Polizei geschützt.<br />
Von einundzwanzig Mitglie<strong>der</strong>n des Zentralkomitees waren zwölf anwesend. Lenin<br />
erschien in Perücke und Brille, ohne Bart. Die Sitzung dauerte etwa zehn Stunden hintereinan<strong>der</strong><br />
bis tief in die Nacht. ln den Pausen trank man Tee und aß Brot mit Wurst zur<br />
Stärkung <strong>der</strong> Kräfte. Und Kräfte waren nötig: die Frage ging um die Machteroberung im<br />
ehemaligen Zarenreich. Wie immer begann die Sitzung mit einem Organisationsbericht<br />
von Swerdlow. Diesmal waren seine Informationen <strong>der</strong> Front gewidmet offenbar nach<br />
vorherigem Übereinkommen mit Lenin, um den notwendigen Schlußfolgerungen<br />
Rückhalt zu verleihen: das entsprach völlig Lenins Praktik. Vertreter <strong>der</strong> Nordfrontarmeen<br />
warnten durch Serdlow, das konterrevolutionäre Kommando bereite irgendeine<br />
»dunkle <strong>Geschichte</strong> mit dem Rückzug <strong>der</strong> Truppen ins Innere vor«. Aus Minsk, dem Stab<br />
<strong>der</strong> Westfront, berichtete man, dort sei eine neue Kornilowiade im Entstehen; in<br />
Anbetracht des revolutionären Charakters <strong>der</strong> Organisation habe <strong>der</strong> Stab die Stadt durch<br />
Kosakentruppenteile eingekreist. »Es finden irgendwelche Verhandlungen verdächtiger<br />
Art statt zwischen den Stäben und dem Hauptquartier.« Den Stab in Minsk gefangenzunehmen,<br />
sei durchaus möglich: die Organisation sei bereit, den Kosakenring zu entwaffnen.<br />
Man könne auch aus Minsk ein revolutionäres Korps nach Petrograd schicken. An<br />
<strong>der</strong> Front sei die Stimmung für die Bolschewiki, man werde gegen Kerenski gehen. So<br />
die Einleitung: sie ist nicht in allen ihren Teilen bestimmt genug, hat aber restlos ermutigenden<br />
Charakter.<br />
Lenin geht sogleich zum Angriff über: »Seit Anfang September ist eine gewisse Gleichgültigkeit<br />
für die Frage des Aufstandes zu beobachten.« Man verweist auf Abkühlung<br />
und Enttäuschung <strong>der</strong> Massen. Nicht verwun<strong>der</strong>lich: »Die Massen sind müde <strong>der</strong> Worte<br />
und Resolutionen.« Man muß die Gesamtiage berücksichtigen. Die Ereignisse in <strong>der</strong><br />
Stadt wickeln sich jetzt ab auf dem Hintergrunde einer gigantischen Bauernbewegung.<br />
Um den Agraraufstand zum Erlöschen zu bringen, hätte die Regierung Riesenkräfte<br />
nötig. »Die politische Situation ist somit reif Es muß über die technische Seite gespro-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 637
chen werden. Das ist <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> gatizen Sache. Indes sind wir gleich den Vaterlandsverteidigern<br />
geneigt, die systematische Vorbereitung des Aufstandes als eine Art politischer<br />
Sünde zu betrachten.« Der Berichterstatter nimmt sich offensichtlich zusammen:<br />
allzu viel ist in seiner Seele angesammelt. »Der Sowjetkongreß des Norddistrikts und <strong>der</strong><br />
Vorschlag aus Minsk müssen ausgenutzt werden für den Beginn entscheiden<strong>der</strong><br />
Handlungen.«<br />
Der Nordkongreß war gerade am Tage <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees eröffnet<br />
worden und sollte in zwei bis drei Tagen geschlossen werden. »Den Beginn entscheiden<strong>der</strong><br />
Handlungen« stellte Lenin als Aufgabe <strong>der</strong> nächsten Tage. Man darf nicht warten.<br />
Man darf nicht hinausschieben. An <strong>der</strong> Front - wir haben es von Swerdlow vernommen -<br />
bereitet man eine Umwälzung vor. Wird <strong>der</strong> Sowjetkongreß zustande kommen? Das ist<br />
unbekannt. Die Macht muß man sofort ergreifen, ohne irgendwelche Kongresse<br />
abzuwarten. »Unaussprechbar und nicht wie<strong>der</strong>zugeben«, schrieb einige Jahre später<br />
Trotzki, »ist <strong>der</strong> Gesamtgeist jener gespannten und leidenschaftlichen Improvisationen,<br />
durchdrungen von dem Bestreben, den Opponierenden, Schwankenden, Zweifelnden den<br />
eigenen Gedanken, den eigenen Willen, die eigene Sicherheit, den eigenen Mut einzuflößen<br />
...«<br />
Lenin hatte großen Wi<strong>der</strong>stand erwartet. Doch seine Befürchtungen waren bald<br />
zerstreut. Die Einmütigkeit, mit <strong>der</strong> das Zentralkomitee im September den sofortigen<br />
Aufstand abgelehnt hatte, war von episodischem Charakter gewesen: <strong>der</strong> linke Flügel<br />
hatte sich gegen die »Einkreisung <strong>der</strong> Alexandrinka« aus Konjunkturerwägungen ausgesprochen;<br />
<strong>der</strong> rechte aus Erwägungen allgemeiner, wenn auch in jenem Augenblick noch<br />
nicht restlos durchdachter Strategie. Während <strong>der</strong> vergangenen drei Wochen war im<br />
Zentralkomitee ein starker Ruck nach links erfolgt. Für den Aufstand stimmten zehn<br />
gegen zwei. Das war ein ernsthafter Sieg!<br />
Bald nach <strong>der</strong> Umwälzung, auf einer neuen Etappe des innerparteilichen Kampfes,<br />
erwähnte Lenin während einer Debatte im Petrogra<strong>der</strong> Komitee, wie er vor <strong>der</strong> Sitzung<br />
des Zentralkomitees »Opportunismus seitens <strong>der</strong> auf dem Boden <strong>der</strong> Vereinigung stehenden<br />
Internationalisten befürchtete, doch die Befürchtungen zerstreuten sich; in unserer<br />
Partei waren etliche Mitglie<strong>der</strong> [des Zentralkomitees] nicht einverstanden. Das hat mich<br />
aufs äußerste betrübt«. Von den »Internationalisten« gehörten außer Trotzki, den Lenin<br />
wohl kaum meinen konnte, dem Zentralkomitee an: Joffe, späterer Gesandter in Berlin,<br />
Uritzki, späterer Leiter <strong>der</strong> Tscheka in Petrograd, und Sokolnikow, <strong>der</strong> spätere Schöpfer<br />
des Tscherwonez: alle drei waren auf Lenins Seite. Als Gegner traten zwei durch ihre<br />
frühere Arbeit Lenin nächststehende alte Bolschewiki auf: Sinowjew und Kamenjew.<br />
Auf sie beziehen sich auch seine Worte: »Das hat mich aufs äußerste betrübt.« Die<br />
Sitzung vom 10. lief fast völlig auf eine leidenschaftliche Polemik mit Sinowjew und<br />
Kamenjew hinaus: den Angriff führte Lenin, die übrigen Teilnehmer wurden einer nach<br />
dem an<strong>der</strong>en hineingezogen.<br />
Die von Lenin mit Bleistiftstummel auf einer karierten Kin<strong>der</strong>heftseite hastig nie<strong>der</strong>geschriebene<br />
Resolution war architektonisch nicht sehr vollendet, bot aber dafür eine<br />
feste Stütze für den Kurs auf den Aufstand. »Das Zentralkomitee stellt fest, daß sowohl<br />
die internationale Lage <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> (Aufstand in <strong>der</strong> deutschen Flotte<br />
als höchster Ausdruck <strong>der</strong> in ganz Europa heranreifenden sozialistischen Weitrevolution,<br />
ferner die Drohung <strong>der</strong> imperialistischen Welt mit dem Ziele <strong>der</strong> Erdrosselung <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 638
<strong>Revolution</strong> in Rußland) als auch die militärische Lage (<strong>der</strong> unzweifelhafte Entschluß<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie und <strong>der</strong> Kerenski und Konsorten, Petrograd den Deutschen<br />
zu übergeben) - all das in Verbindung mit dem Bauernaufstand und dem sich unserer<br />
Partei zuwendenden Vertrauen des Volkes (Wahlen in Moskau) und endlich die offenkundige<br />
Vorbereitung einer zweiten Kornilowiade (Abtransport von Truppen aus<br />
Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken vor Petrograd, Umzingelung von Minsk<br />
durch Kosaken und so weiter) - all das stellt auf die Tagesordnung den bewaffneten<br />
Aufstand. Indem es somit feststellt, daß <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand unvermeidlich und<br />
völlig reif ist, for<strong>der</strong>t das Zentralkomitee alle Parteiorganisationen auf, sich danach zu<br />
richten und alle praktischen Fragen von diesem Gesichtspunkte aus zu erörtern und zu<br />
entscheiden (Sowjetkongreß des Norddistrikts, Abtransport von Truppen aus Petrograd,<br />
Auftreten <strong>der</strong> Moskauer und Minsker und so weiter).«<br />
Bemerkenswert sowohl für die Einschätzung des Augenblicks wie für die Charakteristik<br />
des Autors ist allein schon die Anordnung <strong>der</strong> Reihenfolge <strong>der</strong> Bedingungen für den<br />
Aufstand: an erster Stelle das Heranreifen <strong>der</strong> Weltrevolution; <strong>der</strong> Aufstand in Rußland<br />
wird bloß als ein Glied einer Gesamtkette betrachtet. Das ist Lenins ständige Ausgangsposition,<br />
seine große Voraussetzung: an<strong>der</strong>s konnte er nicht. Der Kurs auf den Aufstand<br />
wird unmittelbar, als Parteiaufgabe, gestellt: das schwierige Problem, die Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Umwälzung mit den Sowjets in Einklang zu bringen ist vorläufig gar nicht berührt.<br />
Der Allrussische Sowjetkongreß ist mit keinem Worte erwähnt. Zu den Stützpunkten des<br />
Aufstandes wird neben dem Kongreß des Norddistrikts und dem »Auftreten <strong>der</strong><br />
Moskauer und Minsker« auf Trotzkis Drängen hinzugefügt »<strong>der</strong> Abtransport von<br />
Truppen aus Petrograd«. Das war die einzige Anspielung auf jenen Aufstandsplan, <strong>der</strong><br />
sich in <strong>der</strong> Hauptstadt durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse von selbst aufdrängte. Taktische<br />
Korrekturen an <strong>der</strong> Resolution, die die strategische Ausgangsposition <strong>der</strong> Umwälzung<br />
bestimmte, schlug niemand vor, ausgenommen Sinowjew und Kamenjew, die die<br />
Notwendigkeit des Aufstandes überhaupt verneinten.<br />
Die späteren Versuche <strong>der</strong> offiziösen Historiographie, die Sache. so darzustellen, als<br />
wäre die gesamte führende Parteischicht, außer Sinowjew und Kamenjew, für den<br />
Aufstand gewesen, zerschellen an den Tatsachen und Dokumenten. Davon abgesehen,<br />
daß auch die für den Aufstand Stimmenden nicht selten dazu neigten, ihn in eine<br />
unbestimmte Zukunft zu verlegen, waren die offenen Gegner <strong>der</strong> Umwälzung, Sinowjew<br />
und Kamenjew, sogar im Zentralkomitee nicht isoliert: ihren Standpunkt teilten restlos<br />
Rykow und Nogin, die in <strong>der</strong> Sitzung vom 10. fehlten, ihnen nahe stand auch Miljutin.<br />
»In den Parteispitzen sind Schwankungen bemerkbar, gleichsam Angst vor dem Kampf<br />
um die Macht«, dies ist das Zeugnis von Lenin selbst. Nach den Worten Antonow-Saratowskis<br />
erzählte Miljutin, <strong>der</strong> nach dem 10. in Saratow eintral, »von einem Brief Iljitschs<br />
mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung "anzufangen", von Schwankungen im Zentralkomitee, von dem<br />
ursprünglichen "Durchfall" des Leninschen Antrags, von Lenins Empörung und schließlich<br />
davon, daß <strong>der</strong> Kurs doch auf den Aufstand genommen sei«. Der Bolschewik<br />
Sadowski schrieb später von <strong>der</strong> »bekannten Unsicherheit und Unentschiedenheit, die zu<br />
dieser Zeit herrschten. Sogar in unserem Zentralkomitee gab es bekanntlich damals<br />
Reibungen und Zusammenstöße in <strong>der</strong> Frage, wie und ob zu beginnen ist«.<br />
Sadowski selbst war in jener Periode einer <strong>der</strong> Führer <strong>der</strong> Militärischen Sektion des<br />
Sowjets und <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki. Doch gerade die Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 639
<strong>der</strong> Militärischen Organisation verhielten sich, wie aus einer Reihe von "Erinnerungen"<br />
hervorgeht, im Oktober mit höchster Voreingenommenheit gegen die Idee des Aufstandes:<br />
<strong>der</strong> spezifische Charakter <strong>der</strong> Organisation machte die Führer geneigt zu Unterschätzungen<br />
<strong>der</strong> politischen und Überschätzung <strong>der</strong> technischen Bedingungen. Am i6.<br />
Oktober berichtete Krylenko: »Ein großer Teil des Büros (<strong>der</strong> Militärischen Organisation)<br />
meint, man dürfe die Frage praktisch nicht auf die Spitze treiben, die Min<strong>der</strong>heit<br />
jedoch glaubt, man könne die Initiative ergreifen.« Am 18. sagte ein an<strong>der</strong>er an-gesehener<br />
Teilnehmer <strong>der</strong> Militärischen Organisation, Laschewitsch: »Soll man jetzt die Macht<br />
ergreifen? Ich denke, man darf die Ereignisse nicht forcieren ... Es bestehen keine<br />
Garantien, daß es uns gelingen wird, die Macht zu halten ... Der von Lenin vorgeschlagene<br />
strategische Plan hinkt auf allen vier Beinen.« Antonow-Owssejenko berichtet über<br />
eine Zusammenkunft <strong>der</strong> wichtigsten militärischen Arbeiter mit Lenin: »Podwojski<br />
äußerte Zweifel, Newski stimmt bald ihm bei, bald verfiel er in Iljitschs sicheren Ton; ich<br />
berichtete ihm über die Lage in Finnland ... Iljitschs Sicherheit und Festigkeit wirkt<br />
stärkend auf mich und verleiht Newski Mut. Podwojski jedoch verharrt bei seinen<br />
Zweifeln.« Man darf nicht außer acht lassen, daß in allen solchen Erinnerungen Zweifel<br />
in Aquarellfarben, Sicherheit mit dickem Öl aufgetragen wird.<br />
Entschieden gegen den Aufstand trat Tschudnowski auf Der skeptische Manuilski<br />
wie<strong>der</strong>holte warnend, »die Front ist nicht mit uns«. Gegen den Aufstand war Tomski.<br />
Wolodarski unterstützte Sinowjew und Kamenjew. Bei weitem nicht alle Gegner <strong>der</strong><br />
Umwälzung traten offen auf. In <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees vom 15. sagte<br />
Kalium: »Die Resolution des Zentralkomitees ist eine <strong>der</strong> besten Resolutionen, die das<br />
Zentralkomitee jemals angenommen hat ... Wir sind praktisch an den bewaffneten<br />
Aufstand herangegangen. Wann er aber möglich sein wird - vielleicht in einem Jahr -, ist<br />
unbekannt.« Diese Art "Einverständnis" mit dem Zentralkomitee, für Kalinin äußerst<br />
charakteristisch, war jedoch nicht allein für ihn bezeichnend. Viele schlossen sich <strong>der</strong><br />
Resolution an, um auf diese Weise ihren Kampf gegen den Aufstand zu sichern.<br />
Am wenigsten Einmütigkeit war bei den Spitzen in Moskau zu bemerken. Das Distriktbüro<br />
unterstützte Lenin. Im Moskauer Komitee waren die Schwankungen sehr stark, es<br />
überwogen die Stimmungen zugunsten des Hinausschiebens. Das Gouvernementskomitee<br />
nahm eine unbestimmte Position ein, wobei man im Distriktbüro, nach den Worten<br />
von Jakowlewa, glaubte, im entscheidenden Augenblick würde sich das Gouvernementskomitee<br />
den Gegnern des Aufstandes zuneigen.<br />
Der Saratower Lebedjew erzählt, wie er während seines Besuches in Moskau kurz vor<br />
<strong>der</strong> Umwälzung mit Rykow spazierenging, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Hand auf die Steinhäuser, reichen<br />
Läden, das geschäftige Treiben ringsherum wies und über die Schwierigkeiten <strong>der</strong> bevorstehenden,<br />
Aufgabe klagte. »Hier im Herzen des bürgerlichen Moskau kamen wir uns<br />
wirklich wie Pygmäen vor, die einen Berg zu verschieben planen.«<br />
In je<strong>der</strong> Parteiorganisation, in jedem Gouvernementskomitee waren Menschen von<br />
gleichen Stimmungen wie Sinowjew und Kamenjew, in vielen Komitees bildeten sie die<br />
Mehrheit. Sogar im proletarischen Iwanowo-Wosnessensk, wo die Bolschewiki ungeteilt<br />
herrschten, nahmen die Meinungsverschiedenheiten bei den führenden Spitzen außerordentliche<br />
Schärfe an. Im Jahre 1925, als Erinnerungen sich bereits den Bedürfnissen des<br />
neuen Kurses anpaßten, schrieb Kisseljew, ein alter Arbeiterbolschewik: »Der Arbeiterteil<br />
<strong>der</strong> Partei ging, einzelne Personen ausgenommen, mit Lenin, gegen Lenin traten auf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 640
eine kleine Gruppe Parteiintellektueller und vereinzelte Arbeiter.« In öffentlichen<br />
Diskussionen wie<strong>der</strong>holten die Gegner des Aufstandes die gleichen Argumente wie<br />
Sinowjew und Kamenjew. »In Privatdiskussionen«, schreibt Kisseljew, »nahm die<br />
Polemik schärfere und unverhülltere Formen an, und dort verstieg man sich zu Äußerungen<br />
wie: Lenin ist ein Wahnsinniger, er stößt die Arbeiterklasse in sicheres Ver<strong>der</strong>ben,<br />
bei diesem bewaffneten Aufstande kann nichts her-auskommen, man wird uns zerschmettern,<br />
die Partei und die Arbeiterklasse zerschlagen, das wird die <strong>Revolution</strong> für viele<br />
Jahre zurückwerfen, und so weiter«, dies war im beson<strong>der</strong>en auch Frunses Stimmung,<br />
eines persönlich sehr mutigen, aber nicht durch weiten Horizont sich auszeichnenden<br />
Menschen.<br />
Sogar <strong>der</strong> Sieg des Aufstandes in Petrograd brach bei weitem noch nicht überall die<br />
Tätigkeit des Abwartens und den direkten Wi<strong>der</strong>stand des rechten Flügels. Der Wankelmut<br />
<strong>der</strong> Leitung führte später beinah zum Zusammenbruch des Aufstandes in Moskau. In<br />
Kiew übergab das von Pjatakow geleitete Komitee, das eine reine Defensivpolitik führte,<br />
letzten Endes die Initiative und danach auch die Macht in die Hände <strong>der</strong> Rada. »Die<br />
Woronescher Organisation unserer Partei«, erzählt Wratschew, »machte recht beträchtliche<br />
Schwankungen durch. Die Umwälzung in Woronesch ... wurde nicht vom Parteikomitee<br />
vollzogen, son<strong>der</strong>n von dessen aktiver Min<strong>der</strong>heit, mit Moissejew an <strong>der</strong> Spitze.« In<br />
einer ganzen Reihe von Gouvernementsstädten schlossen die Bolschewiki im Oktober<br />
einen Block mit den Versöhnlern »gegen die Konterrevolution«, als wären nicht die<br />
Versöhnler in diesem Moment eine <strong>der</strong> wichtigsten Stützen dieser Konterrevolution<br />
gewesen. Fast überall bedurfte es eines Anstoßes von oben und von unten zugleich, um<br />
die letzte Unentschlossenheit <strong>der</strong> Lokalkomitees zu brechen, sie zu zwingen, sich von<br />
den Versöhnlern zu trennen und an die Spitze <strong>der</strong> Bewegung zu treten. »Ende Oktober<br />
und Anfang November waren Tage wahrhaft "großer Wirren" in unserer Partei. Viele<br />
ließen sich schnell von Stimmungen hinreißen«, schreibt Schljapnikow, <strong>der</strong> selbst den<br />
Schwankungen keinen geringeren Ttibut gezollt hat.<br />
Alle jene Elemente, die, wie die Charkower Bolschewiki, zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
sich im Lager <strong>der</strong> Menschewiki befanden und dann selbst darüber staunten, »wie das nur<br />
geschehen konnte«, fanden während <strong>der</strong> Oktobertage in <strong>der</strong> Regel keinen Platz für sich,<br />
schwankten, warteten. Um so sicherer meldeten sie ihre Rechte als »alte Bolschewiki an<br />
in <strong>der</strong> Periode geistiger Reaktion. Wie groß in den letzten Jahren die Arbeit zur Vertuschung<br />
dieser Tatsachen auch gewesen sein mag, so sind doch, außer den jetzt dem<br />
Forscher unzugänglichen Geheimarchiven, in Zeitungen aus jener Zeit, in Memoiren,<br />
historische Zeitschriften nicht wenig Zeugnisse dafür erhalten geblieben, daß <strong>der</strong> Apparat<br />
sogar <strong>der</strong> revolutionärsten Partei noch am Vorabend <strong>der</strong> Umwälzung großen Wi<strong>der</strong>stand<br />
entwickelte. In <strong>der</strong> Bürokratie steckt unvermeidlich Konservativismus. <strong>Revolution</strong>äre<br />
Funktionen kann ein Apparat erfüllen nur, solange er als dienende Waffe einer Partei,<br />
das heißt einer Idee unterstellt ist und von <strong>der</strong> Masse kontrolliert wird.<br />
Die Resolution vom 10. Oktober gewann gewaltige Bedeutung. Sie sicherte sofort den<br />
wirklichen Anhängern des Aufstandes den festen Boden des Parteirechts. In allen<br />
Organisationen <strong>der</strong> Partei, in allen Zellen rückten die entsehlossensten Elemente in den<br />
Vor<strong>der</strong>grund. Die Parteiorganisationen, beginnend mit Petrograd, strafften sich, musterten<br />
ihre Kräfte und Mittel, festigten die Verbindungen und verliehen <strong>der</strong> Kampagne für<br />
die Umwälzung konzentrierten Charakter.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 641
Doch die Resolution erledigte nicht die Meinungsverschiedenheiten im<br />
Zentralkomitee. Im Gegenteil, sie verlieh ihnen nur Form und trug sie an die Oberfläche.<br />
Sinowjew und Kamenjew, die noch unlängst in einem gewissen Teil führen<strong>der</strong> Kreise<br />
sich von einer Sympathieatmosphäre umgeben gefühlt hatten, entdeckten erschreckt, wie<br />
schnell die Verschiebung nach links vor sich ging. Sie beschlossen, keine Zeit mehr zu<br />
verlieren, und verbreiteten am nächsten Tage einen umfangreichen Aufruf an die Parteimitglie<strong>der</strong>.<br />
»Vor <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>, vor dem internationalen Proletariat, vor <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
<strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Arbeiterklasse«, schrieben sie, »besitzen wir nicht das<br />
Recht, auf die Karte des bewaffneten Aufstandes die ganze Zukunft zu setzen.«<br />
Ihre Perspektive bestand darin, als starke Oppositionspartei in die Konstituierende<br />
Versammlung hineinzugehen, die »sich in ihrer revolutionären Arbeit nur auf die<br />
Sowjets wird stützen können«. Daher die Formel: "Konstituierende Versammlung und<br />
Sowjets - das ist jener kombinierte Typ <strong>der</strong> Staatsinstitution, dem wir entgegengehen."<br />
Die Konstituierende Versammlung, wo die Bolschewiki als Min<strong>der</strong>heit gedacht, und die<br />
Sowjets, wo die Bolschewiki die Mehrheit waren, das heißt das Organ <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
und das Organ des Proletariats, sollten zu einem friedlichen System <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />
"kombiniert" werden. Dies war sogar unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Versöhnler nicht zustande<br />
gebracht worden. Wie konnte es unter bolschewistischen Sowjets gelingen?<br />
»Tiefe historische Unwahrheit«, schlossen Sinojew und Kamenjew, »ist eine solche<br />
Fragestellung über den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> proletarischen Partei<br />
wie: entwe<strong>der</strong> sofort o<strong>der</strong> niemals. Nein. Die Partei des Proletariats wird wachsen, ihr<br />
Programm wird immer breiteren Massen klar werden.« Die Hoffnung auf ein weiteres<br />
dauerndes Wachsen des Bolschewismus, unabhängig vom realen Gang <strong>der</strong> Zusammenstöße<br />
<strong>der</strong> Klassen, stand im unversöhnlichen Wi<strong>der</strong>spruch zu dem Leninschen Leitgedanken<br />
jener Zeit: »Der Erfolg <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> und <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> hängt von<br />
zwei - drei Kampftagen ab.«<br />
Es ist wohl kaum nötig zu erläutern, daß das Recht in diesem dramatischen Dialog<br />
restlos auf seiten Lenins war. Eine revolutionäre Situation läßt sich nicht willkürlich<br />
konservieren. Hätten die Bolschewiki im Oktober-November die Macht nicht genommen,<br />
sie hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht genommen. Statt fester<br />
Führung hätten die Massen bei den Bolschewiki das gleiche, ihnen schon verhaßt gewordene<br />
Auseinan<strong>der</strong>gehen von Wort und Tat gefunden und sich von <strong>der</strong> Partei, die ihre<br />
Hoffnungen betrogen, im Laufe von zwei - drei Monaten abgewandt, wie sie sich vorher<br />
von den Sozialrevolutionären und Menschewiki abgewandt hatten. Ein Teil <strong>der</strong> Werktätigen<br />
wäre in Indifferentismus verfallen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e würde seine Kräfte in konvulsiven<br />
Bewegungen, anarchischen Ausbrüchen, Partisanenkämpfen, im Terror <strong>der</strong> Rache und<br />
Verzweiflung verpufft haben. Die auf solche Weise entstandene Atempause hätte die<br />
Bourgeoisie ausgenutzt für den Separatfrieden mit Wilhelm II. und die Zerschmetterung<br />
<strong>der</strong> revolutionären Organisationen. Rußland hätte sich wie<strong>der</strong> dem Zyklus kapitalistischer<br />
Staaten als halbimperialistisches, halbkoloniales Land angeglie<strong>der</strong>t. Die proletarische<br />
Umwälzung wäre in eine unbestimmte Ferne gerückt. Das klare Erkennen dieser<br />
Perspektive flößte Lenin seinen alarmierenden Ruf ein: »Der Erfolg <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> und<br />
<strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> hängt von zwei - drei Kampftagen ab.«<br />
Jetzt jedoch, nach dem 10., hatte sich die Lage in <strong>der</strong> Partei radikal verän<strong>der</strong>t. Lenin<br />
war nun nicht mehr ein isolierter "Oppositioneller", dessen Vorschläge das Zentralkomi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 642
tee ablehnte. Als isoliert erwies sich <strong>der</strong> rechte Flügel. Lenin hatte es nicht nötig, mit<br />
dein Preise des Rücktritts seine Agitationsfreiheit zu erkaufen. Die Legalität war auf<br />
seiner Seite. Im Gegenteil, indem Sinowjew und Kamenjew ihr gegen den Mehrheitsbeschluß<br />
des Zentralkomitees gerichtetes Dokument in Umlauf setzten, Waren sie es, die<br />
die Disziplin brachen. Und Lenin ließ im Kampfe selbstkleinere Fehlgriffe des Gegners<br />
nicht ungestraft!<br />
In <strong>der</strong> Sitzung vom 10. wurde auf Dserschinskis Antrag ein politisches Büro aus sieben<br />
Mann gewählt: Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Stalin, Sokolnikow, Bubnow. Die<br />
neue Institution erwies sich jedoch als völlig lebensunfähig: Lenin und Sinowjew waren<br />
noch immer illegal; Sinowjew wie auch Kamenjew setzten außerdem ihren Kämpf gegen<br />
den Aufstand fort. Das politische Büro versammelte sich in <strong>der</strong> Oktober-Zusammensetzung<br />
nicht ein einziges Mal, und man hatte es bald einfach vergessen, wie so viele<br />
an<strong>der</strong>e, im Strudel <strong>der</strong> Ereignisse ad hoc entstandene Organisationen.<br />
Ein praktischer Aufstandsplan, auch nur ein ungefährer, wurde in <strong>der</strong> Sitzung vom 10.<br />
nicht entworfen. Ohne es in die Resolution aufzunehmen, wurde jedoch verabredet, daß<br />
<strong>der</strong> Aufstand dem Sowjetkongreß vorangehen und möglichst nicht später als am 15.<br />
beginnen müsse. Nicht alle gingen auf diesen Termin willig ein: er war offensichtlich zu<br />
kurz für den in Petrograd genommenen Anlauf Doch auf eine Verschiebung zu drängen,<br />
hätte bedeutet, die Rechten zu unterstützen und die Karten zu vermischen. Außerdem ist<br />
es für eine Vertagung niemals zu spät!<br />
Die Tatsache <strong>der</strong> ursprünglichen Terminfestlegung auf den 15. wurde zum erstenmal<br />
veröffentlicht in Trotzkis Erinnerungen an Lenin im Jahre 1924, sieben Jahre nach den<br />
Ereignissen. Die Mitteilung wurde bald von Stalin bestritten, wobei die Frage in <strong>der</strong><br />
<strong>russischen</strong> historischen Literatur beson<strong>der</strong>e Schärfe erhielt. Bekanntlich vollzog sich <strong>der</strong><br />
Aufstand in Wirklichkeit erst am 25., folglich war <strong>der</strong> ursprünglich bestimmte Termin<br />
nicht eingehalten worden. Die epigonenhafte Historiographie meint, in <strong>der</strong> Politik des<br />
Zentralkomitees konnten nicht nur keine Fehler, son<strong>der</strong>n auch keine Fristversäumnisse<br />
vorkommen. »Es stellt sich heraus«, schreibt diesbezüglich Stalin, »das Zentralkomitee<br />
hätte als Frist des Aufstandes den 15. Oktober bestimmt und dann diesen Beschluß selbst<br />
verletzt (!), indem es den Termin des Aufstandes auf den 25. Oktober verschob. Ist das<br />
wahr? Nein, das ist nicht wahr.« Stalin kommt zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung: »Das Gedächtnis<br />
hat Trotzki getäuscht.« Zum Beweis beruft er sich auf die Resolution vom 10. Oktober,<br />
die keinen Termin nennt.<br />
Die strittige Frage <strong>der</strong> Chronologie des Aufstandes ist sehr wichtig zum Verständnis<br />
für den Rhythmus <strong>der</strong> Ereignisse und verlangt nach Aufklärung. Daß die Resolution vom<br />
10. kein Datum enthält, ist ganz richtig. Doch bezog sich diese allgemeine Resolution auf<br />
den Aufstand im ganzen Lande und war bestimmt für Hun<strong>der</strong>te und Tausende führen<strong>der</strong><br />
Parteiarbeiter. Darin das konspirative Datum des bereits für die nächsten Tage vorgesehenen<br />
Aufstandes in Petrograd aufzunehmen, wäre <strong>der</strong> Gipfel <strong>der</strong> Unvernunft gewesen:<br />
ennnern wir daran, daß Lenin aus Vorsicht in jener Zeit sogar seine Briefe nicht datierte.<br />
Ging es doch in diesem Falle um einen so wichtigen und gleichzeitig einfachen<br />
Beschluß, den alle Teilnehmer mühelos im Gedächtnis behalten konnten, überdies nur<br />
wenige Tage. Stalins Berufung auf den Text <strong>der</strong> Resolution bildet somit ein völliges<br />
Mißverständnis.<br />
Wir sind jedoch bereit zuzugeben, daß die Berufung eines <strong>der</strong> Teilnehmer auf das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 643
eigene Gedächtnis, beson<strong>der</strong>s wenn <strong>der</strong> Bericht von einem an<strong>der</strong>en Teilnehmer bestritten<br />
wird, für die historische Untersuchung nicht genügt. Zum Glück wird dieFrage mit aller<br />
Bestimmtheit entschieden auf <strong>der</strong> Basis einer Analyse <strong>der</strong> Bedingungen und Dokumente.<br />
Die Eröffnung des Sowjetkongresses stand für den 20. Oktober bevor. Zwischen dem<br />
Tag <strong>der</strong> Zentralkomiteesitzung und dem Datum des Kongresses blieb eine Zwischenzeit<br />
von zehn Tagen. Der Kongreß sollte nicht für die Macht <strong>der</strong> Sowjets agitieren, son<strong>der</strong>n<br />
sie übernehmen. An sich aber sind einige hun<strong>der</strong>t Delegierte ohnmächtig, die Macht zu<br />
erobern; man mußte sie entreißen für den Kongreß und vor dem Kongreß. »Zuerst<br />
besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein«, dieser Gedanke stand im Mittelpunkt <strong>der</strong><br />
gesamten Leninschen Agitation seit <strong>der</strong> zweiten Septemberhälfte. Im Prinzip stimmten<br />
damit alle überein, die überhaupt für die Machtergreifung waren. Das Zentralkomitee<br />
mußte folglich sich die Aufgabe stellen, die Durchführung des Aufstandes zwischen dem<br />
10. und 20. Oktober zu versuchen. Da man aber nicht voraussehen konnte, wieviel Tage<br />
<strong>der</strong> Kampfdauern würde, so wurde <strong>der</strong> Aufstand für den 15. angesetzt. »Betreffs des<br />
Datums«, schreibt Trotzki in seinen Erinnerungen an Lenin, »gab es, soviel ich mich<br />
erinnere, fast keine Diskussionen. Alle begriffen, daß das Datum nur ungefähren, sozusagen<br />
orientierenden Charakter haben konnte und daß man es je nach den Ereignissen<br />
würde beschleunigen o<strong>der</strong> verschieben müssen. Doch konnte es sich nur um Tage<br />
handeln, um nicht mehr. Die Notwendigkeit des Datums selbst, und zwar eines allernächsten,<br />
war ganz offensichtlich.«<br />
Eigentlich erschöpft schon das Zeugnis <strong>der</strong> politischen Logik die Frage. Doch fehlt es<br />
auch nicht an ergänzenden Beweisen. Lenin schlug eindringlich und unablässig vor, den<br />
Sowjetkongreß des Norddistrikts auszunutzen für den Beginn des militärischen Vorgehens.<br />
Die Resolution des Zentralkomitees eignete sich diesen Gedanken an. Doch <strong>der</strong><br />
Distriktkongreß, <strong>der</strong> am 10. begann, sollte gerade vor dem 15. geschlossen werden.<br />
In <strong>der</strong> Besprechung vom 16. verlangte Sinowjew, <strong>der</strong> auf Zurückziehung <strong>der</strong> sechs<br />
Tage zuvor angenommenen Resolution drängte: »Wir müssen uns offen sagen, daß wir in<br />
den nächsten fünf Tagen keinen Aufstand machen«: Die Rede war von jenen fünf Tagen,<br />
die bis zum Sowjetkongreß geblieben waren. Kamenjew, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> gleichen Besprechung<br />
nachwies, »die Festsetzung des Aufstandes ist Abenteurertum«, erinnerte daran:<br />
»früher wurde gesagt, daß man vor dem 20. beginnen müsse«. Niemand wi<strong>der</strong>sprach ihm<br />
und konnte ihm wi<strong>der</strong>sprechen. Eben die Fristversäumnis des Aufstandes deutete<br />
Kamenjew als Durchfall <strong>der</strong> Leninschen Resolution. Für den Aufstand war, nach seinen<br />
Worten, »in dieser Woche nichts getan worden«. Das war offenbare Übertreibung: Die<br />
Festlegung eines Termins veranlaßte alle, energischer an die Pläne heranzugehen und das<br />
Arbeitstempo zu beschleunigen. Doch ist es zweifellos, daß die in <strong>der</strong> Sitzung vom 10.<br />
vorgesehene fünftägige Frist sich als zu kurz erwiesen hatte. Die Verspätung war Tatsache.<br />
Erst am 17. vertagte das Zentral-Exekutivkomitee die Eröffnung des Sowjetkongresses<br />
auf den 25. Oktober. Diese Vertagung kam höchst gelegen.<br />
Durch die Verzögerung beunruhigt, bestand Lenin, dem in seiner Isoliertheit alle<br />
Hin<strong>der</strong>nisse und Reibungen unvermeidlich vergrößert erscheinen mußten, auf Einberufung<br />
einer neuen Zentralkomiteesitzung unter Teilnahme von Vertretern <strong>der</strong> wichtigsten<br />
Gebiete <strong>der</strong> Parteiarbeit in <strong>der</strong> Hauptstadt. Gerade in dieser Besprechung, am 16., in<br />
Lessnoj, einem Petrogra<strong>der</strong> Vorort, erhoben Sinowjew und Kamenjew die oben<br />
angeführten Argumente für Wi<strong>der</strong>ruf des alten Termins und gegen Ansetzung eines<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 644
neuen.<br />
Die Debatten wurden mit verdoppelter Kraft wie<strong>der</strong> aufgenommen. Milutin meinte:<br />
»Wir sind nicht fertig, um zum ersten Schlag auszuholen ... Es ersteht eine an<strong>der</strong>e<br />
Perspektive: <strong>der</strong> bewaffnete Zusammenstoß ... Er wächst, und seine Möglichkeit rückt<br />
immer näher. Für diesen Zusammenstoß müssen wir fertig sein. Doch diese Perspektive<br />
unterscheidet sich vom Aufstand.« Miljutin bezog die Defensivposition, die noch eindeutiger<br />
Sinowjew und Kamenjew verteidigten. Schottman, ein alter Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter,<br />
<strong>der</strong> die ganze <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Partei mitgemacht hat, behauptete, in <strong>der</strong> Stadtkonferenz,<br />
im Parteikomitee und in <strong>der</strong> Militärischen Organisation sei die Stimmung viel kampfunlustiger<br />
als im Zentralkomitee. »Wir können nicht losschlagen, aber wir müssen uns<br />
darauf vorbereiten.« Lenin attackierte Miljutin und Schottman für ihre pesimistische<br />
Einschätzung <strong>der</strong> Kräfte: »Es geht nicht um einen Kampf gegen das Heer, son<strong>der</strong>n um<br />
den Kampf eines Teiles des Heeres gegen den an<strong>der</strong>en ... Die Tatsachen beweisen, daß<br />
wir ein Übergewicht vor dem Feinde haben. Warum kann das Zentralkomitee nicht<br />
beginnen?«<br />
Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im<br />
Sowjet die Verordnung über das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee. Aber jenen Standpunkt,<br />
<strong>der</strong> sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte<br />
Krylenko, <strong>der</strong> soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko<br />
den Sowjetkongreß des Norddistriktes geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß<br />
»das Wasser genügend siedend ist«; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen,<br />
»wäre <strong>der</strong> größte Fehler«. Er geht jedoch mit Lenin auseinan<strong>der</strong> »in <strong>der</strong> Frage, wer<br />
beginnt und wie beginnen«. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur<br />
Zeit noch unzweckmäßig. »Doch die Frage des Abtransports <strong>der</strong> Truppen bildet gerade<br />
jenes Moment, wo <strong>der</strong> Kampf einsetzen wird ... Die Tatsache, daß wir angegriffen sind,<br />
ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden ... Sich darum sorgen, wer beginnen<br />
soll, ist überflüssig, denn <strong>der</strong> Beginn ist bereits da.« Krylenko legte dar und verteidigte<br />
die Politik, die das Fundament des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees und <strong>der</strong> Garnisonberatung<br />
bildete. Der Aufstand entwickelte sich in <strong>der</strong> Folge just auf diesem Wege.<br />
Lenin reagierte auf Krylenkos Worte nicht: das lebendige Bild <strong>der</strong> letzten sechs Tage<br />
in Petrograd hatte sich nicht vor seinen Augen abgespielt. Lenin fürchtete Verzögerung.<br />
Seine Aufmerksamkeit war auf die direkten Gegner des Aufstandes gerichtet. Jegliche<br />
Vorbehalte, bedingte Formeln, nicht genügend kategorische Antworten war er geneigt zu<br />
deuten als indirekte Unterstützung Sinowjews und Kamenjews, die gegen ihn auftraten<br />
mit <strong>der</strong> Entschlossenheit von Menschen, die ihre Schiffe verbrannt haben. »Die Resultate<br />
einer Woche«, argumentierte Kamenjew, »sprechen dafür, daß im Augenblick keine<br />
Anhaltspunkte für den Aufstand gegeben sind. Einen Apparat für den Aufstand besitzen<br />
wir nicht; bei unseren Feinden ist dieser Apparat viel mächtiger und sicherlich während<br />
dieser Woche noch gewachsen ... Hier kämpfen zwei Taktiken: die Taktik <strong>der</strong> Verschwörung<br />
und die Taktik des Glaubens an die Triebkräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>.« Opportunisten<br />
glauben stets an Triebkräfte dann, wenn man sich schlagen soll.<br />
Lenin erwi<strong>der</strong>te: »Glaubt man, daß <strong>der</strong> Aufstand reif ist, dann kann von Verschwörung<br />
nicht die Rede sein. Ist <strong>der</strong> Aufstand politisch unvermeidlich, dann muß man sich zum<br />
Aufstand wie zu einer Kunst verhalten.« Gerade auf dieser Linie ging in <strong>der</strong> Partei <strong>der</strong><br />
grundlegende, wirklich prinzipielle Streit, von dessen Lösung in die eine o<strong>der</strong> die an<strong>der</strong>e<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 645
Richtung das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> abhing. Jedoch im Gesamtrahmen <strong>der</strong> Leninschen<br />
Fragestellung, um die sich die Mehrheit des Zentralkomitees vereinigte, erhoben sich<br />
zwar untergeordnete, aber äußerst wichtige Fragen: Wie auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> reifen politischen<br />
Situation an den Aufstand herangehen? Welche Brücke von <strong>der</strong> Politik zur<br />
Technik <strong>der</strong> Umwälzung wählen? Und wie die Massen über diese Brücke führen?<br />
Joffe, <strong>der</strong> zum linken Flügel gehörte, unterstützte die Resolution vom 10. Doch wi<strong>der</strong>sprach<br />
er Lenin in einem Punkte: »Es ist nicht richtig, daß es jetzt um eine rein technische<br />
Frage geht; auch jetzt muß <strong>der</strong> Moment des Aufstandes vom politischen<br />
Standpunkte aus betrachtet werden.« Gerade die letzte Woche hätte gezeigt, daß <strong>der</strong><br />
Aufstand für Partei, Sowjet und Massen noch nicht zu einer reinen Frage <strong>der</strong> Technik<br />
geworden ist. Deshalb eben sei es auch nicht gelungen, die am 10. vorgesehene Frist<br />
einzuhalten.<br />
Lenins neue Resolution, die »alle Organisationen und alle Arbeiter und Soldaten zur<br />
allseitigen und intensivsten Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes« aufrief, wurde mit<br />
zwanzig gegen zwei Stimmen, Sinowjews und Kamenjews, bei drei Stimmenthaltungen<br />
angenommen. Die offiziellen Historiker herufen sich auf diese Zahlen am Beweis <strong>der</strong><br />
völligen Belanglosigkeit <strong>der</strong> Opposition. Doch vereinfachen sie die Frage. Der Ruck<br />
nach links war in <strong>der</strong> Parteimasse bereits <strong>der</strong>art stark, daß die Gegner des Aufstandes,<br />
nicht mehr wagten, offen aufzutreten, Interesse verspürten, die prinzipielle Scheidelinie<br />
zwischen den zwei Lagern zu verwischen. Da sich die Umwälzung trotz dem im voraus<br />
festgelegten Termin bis zum 16. nicht verwirklicht hat, vielleicht ließe es sich erreichen,<br />
daß die Sache auch fernerhin auf einen platonischen "Kurs auf den Aufstand" beschränkt<br />
bleibt? Daß Kalinin nicht gar so vereinsamt war, zeigte sich sehr kraß in <strong>der</strong> gleichen<br />
Sitzung. Sinowjews Resolution: »bewaffnete Demonstrationen sind bis zur Beratung mit<br />
dem bolschewistischen Teil des Sowjetkongresses nicht zulässig«, wurde mit fünfzehn<br />
gegen sechs Stimmen bei drei Stimmenthaltungen abgelehnt. Hier geschah die tatsächliche<br />
Nachprüfung <strong>der</strong> Ansichten: ein Teil <strong>der</strong> "Anhänger" <strong>der</strong> Zentralkomiteeresolution<br />
wollte in Wirklichkeit den Beschluß bis zum Sowjetkongreß und bis zur netten Beratung<br />
mit den in ihrer Mehrheit gemäßigteren Bolschewiki aus <strong>der</strong> Provinz vertagen. Zusammen<br />
mit jenen, die sich <strong>der</strong> Stimme enthielten, waren es ihrer neun von vierundzwanzig<br />
Mann, das heißt mehr als ein Drittel. Das ist natürlich noch mmer eine Min<strong>der</strong>heit,<br />
jedoch für einen Stab recht beträchtlich. Die hoffnungslose Schwäche dieses Stabes<br />
wurde dadurch bestimmt, daß er keine Stütze in den unteren Parteischichten und in <strong>der</strong><br />
Arbeiterklasse besaß.<br />
Am nächsten Tag gab Kamenjew im Einverständnis mit Sinowjew in Gorkis Zeitung<br />
eine gegen den am Vorabend angenommenen Beschluß gerichtete Erklärung ab. »Nicht<br />
nur ich und Sinowjew, son<strong>der</strong>n auch eine Reihe von Genossen, von Praktikern«, so<br />
schrieb Kamenjew, »meinen, die Ergreifung <strong>der</strong> Initiative zum bewaffneten Aufstande<br />
wäre in diesem Moment, unter dem gegebenen Verhältnis <strong>der</strong> gesellschaftlichen Kräfte,<br />
unabhängig vom Sowjetkongreß und einige Tage vor seiner Eröffnung ein unzulässiger<br />
und für das Proletariat und die <strong>Revolution</strong> katastrophaler Schritt ... - Alles zu setzen ...<br />
auf die Karte des bewaffneten Aufstandes für die nächsten Tage - würde heißen, einen<br />
Verzweiflungsschritt tun. Unsere Partei aber ist zu stark, vor ihr steht eine zu große<br />
Zukunft, um solche Schritte zu machen ...« Opportunisten fühlen sich stets »zu stark«, um<br />
sich auf einen Kampf einzulassen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 646
Kamenjews Brief war eine direkte Kriegserklärung an das Zentralkomitee, und dabei<br />
in einer Frage, wo niemand zu spaßen beabsichtigte. Die Lage spitzte sich jäh aufs äußerste<br />
zu. Sie wurde noch verwickelter durch einige an<strong>der</strong>e persönliche Episoden, die den<br />
gleichen politischen Ursprung hatten. In <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets vom 18.<br />
erklärte Trotzki auf eine ihm von den Gegnern gestellte Frage, daß <strong>der</strong> Sowjet für die<br />
nächsten Tage keinen Aufstand festgesetzt hätte; wäre er aber dazu gezwungen, die<br />
Arbeiter und Soldaten würden sich wie ein Mann erheben. Kamenjew, Trotzkis Nachbar<br />
im Präsidium, erhob sich sofort zu einer kurzen Erklärung: er unterschreibe jedes Wort<br />
Trotzkis. Das war ein listiger Schachzug: während Trotzki durch die äußerlich defensive<br />
Formel juristisch die Offensivpolitik deckte, versuchte Kamenjew die Formel Trotzkis;<br />
mit dem er radikal auseinan<strong>der</strong>ging, zur Deckung einer direkt entgegengesetzten Politik<br />
auszunutzen.<br />
Um die Wirkung des Kamenjewschen Manövers zu paralysieren, sagte Trotzki am<br />
selben Tage während eines Referats auf <strong>der</strong> All<strong>russischen</strong> Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees:<br />
»Der Bürgerkrieg ist unvermeidlich. Man muß ihn nur so unblutig und so schmerzlos wie<br />
möglich organisieren. Das ist nicht durch Schwanken und Unentschlossenheit zu erreichen,<br />
son<strong>der</strong>n nur durch den hartnäckigen und mutigen Kampf uni die Macht.« Die<br />
Worte vom Schwanken waren für alle offensichtlich gegen Sinowjew, Kamenjew und<br />
<strong>der</strong>en Gesinnungsgenossen gerichtet.<br />
Die Frage betreffs Kamenjews Auftritt im Sowjet stellte Trotzki außerdem in <strong>der</strong><br />
nächsten Sitzung des Zentralkomitees zur Debatte. In <strong>der</strong> Zwischenzeit meldete Kamenjew,<br />
um sich die Hände für die Agitation gegen den Aufstand frei zu machen, seine<br />
Demission als Mitglied des Zentralkomitees an. Die Frage wurde in seiner Abwesenheit<br />
behandelt. Trotzki betonte, daß »die entstandene Lage ganz unerträglich ist«, und schlug<br />
vor, Kamenjews Demission anzunehmen 11 .<br />
Swerdlow, <strong>der</strong> Trotzkis Vorschlag (die Demission Kamenjews anzunehmen) unterstützte,<br />
verlas einen Brief Lenins, <strong>der</strong> Sinowjew und Kamenjew für ihr Auftreten in<br />
Gorkis Zeitung als Streikbrecher brandmarkte und ihren Ausschluß aus <strong>der</strong> Partei for<strong>der</strong>te.<br />
»Kamenjews Schlauheit in <strong>der</strong> Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets«, schrieb Lenin, »ist<br />
direkt nie<strong>der</strong>trächtig; er ist - man denke nur! - mit Trotzki ganz einverstanden. Aber ist<br />
es denn schwer zu begreifen, daß Trotzki vor dem Feinde, mehr als er gesagt hat, nicht<br />
sagen konnte, nicht das Recht hatte, nicht durfte. Ist es denn schwer zu begreifen, daß ...<br />
<strong>der</strong> Beschluß über die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes, über seine völlige<br />
Reife, seine allseitige Vorbereitung und so weiter ... verpflichtet, in öffentlichen Äußerungen<br />
nicht nur die Schuld, son<strong>der</strong>n auch die Initiative auf den Gegner abzuwälzen ...<br />
Kamenjews Schlauheit ist einfach Gaunerei.«<br />
11 In dem im Jahre 1929 veröffentlichten Protokollen des Zentralkomitees aus dem Jahre 1957 ist gesagt,<br />
Trotzki habe seine Erklärung im Sowjet damit begründet, daß sie »von Kamenjew erzwungen worden war«.<br />
Hier liegt offenbar eine irrige Nie<strong>der</strong>schrift o<strong>der</strong> eine falsche spätere Redaktion vor. Trotzkis Erklärung<br />
brauchte keine beson<strong>der</strong>en Begründungen: sie ergab sich aus den Umständen. Durch einen merkwürdigen<br />
Zufall war das Moskauer Distriktkomitee, das restlos Lenin unterstützte, am gleichen Tage, dem 18., gezwungen,<br />
in <strong>der</strong> Moskauer Parteizeitung eine Erklärung zu veröffentlichen, die Trotzkis Formel fast wörtlich<br />
wie<strong>der</strong>gab: »... Wir sind keine Verschwöterpartei und bestimmen unsere Aktionen nicht im Geheimen. Wenn<br />
wir uns entschließen werden, hervorzutreten, werden wir das in unseren Presseorganen sagen ...« An<strong>der</strong>s<br />
konnte man die direkten Fragen <strong>der</strong> Feinde auch nicht beantworten. Wenn aber Trotzkis Erklärung von<br />
Kamenjew nicht erzwungen war und nicht erzwungen sein konnte, so war sie durch dessen unwahrhaftige<br />
Solidaritätserklärung bewußt kompromittiert, und zwar unter Bedingungen, die es Trotzki unmöglich<br />
machten, den erfor<strong>der</strong>lichen Punkt auf das i zu setzen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 647
Als er seinen entrüsteten Protest durch Swerdlow abschickte, konnte Lenin noch nicht<br />
wissen, daß Sinowjew in einem Brief an die Redaktion des Zentralorgans eine Erklärung<br />
abgegeben hatte: seine, Sinowjews, Ansichten »sind weit entfernt von jenen, die Lenin<br />
anficht«, und er, Sinowjew, »schließt sich Trotzkis gestriger Erklärung im Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjet an«. Im gleichen Sinne trat in <strong>der</strong> Presse auch <strong>der</strong> dritte Gegner des Aufstandes,<br />
Lunatscharski, hervor. Um den böswilligen Wirrwarr voll zu machen, war Sinowjews<br />
Brief, abgedruckt im Zentralorgan gerade am Tage <strong>der</strong> Zentralkomiteesitzung, am 20.,<br />
von sympathisierenden Anmerkungen <strong>der</strong> Redaktion begleitet: »Wir unsererseits drücken<br />
die Hoffnung aus, daß man mit <strong>der</strong> von Sinowjew abgegebenen Erklärung (wie auch mit<br />
Kamenjews Erklärung im Sowjet) die Frage als erschöpft betrachten kann. Der scharfe<br />
Ton in Lenins Artikel än<strong>der</strong>t an <strong>der</strong> Tatsache nichts, daß wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen<br />
bleiben.« Das war ein neuer Stoß in den Rücken, und zwar von einer<br />
Seite, von <strong>der</strong> ihn niemand erwartet hatte. Während Sinowjew und Kamenjew in <strong>der</strong><br />
feindlichen Presse mit <strong>der</strong> offenen Agitation gegen den Beschluß des Zentralkomitees<br />
über den Aufstand hervortreten, rügt das Zentralorgan die »Schärfe« des Leninschen<br />
Tones und konstatiert seine gleiche Gesinnung mit Sinowjew und Kamenjew im<br />
»wesentlichen«. Als hätte es in jenem Augenblick eine wesentlichere Frage als die Frage<br />
des Aufstandes gegeben! Laut einem kurzen Protokoll erklärte Trotzki in <strong>der</strong> Sitzung des<br />
Zentralkomitees: »Sinowjews und Lunatscharskis Briefe im Zentralorgan wie die Anmerkung<br />
<strong>der</strong> Redaktion können nicht geduldet werden.« Swerdlow unterstützte den Protest.<br />
Zur Redaktion gehörten damals Stalin und Sokolnikow. Das Protokoll lautet: »Sokolnikow<br />
teilt mit, daß er an <strong>der</strong> Redaktionserklärung zu Sinowjews Brief unbeteiligt war, und<br />
hält diese Erklärung für einen Fehler.« Es stellt sich heraus, daß Stalin allein - gegen das<br />
an<strong>der</strong>e Redaktionsmitglied und die Mehrheit des Zentralkomitees - Kamenjew und<br />
Sinowjew im kritischsten Moment, vier Tage vor dem Aufstand, durch eine Sympathieerklärung<br />
unterstützt hatte. Die Empörung war groß.<br />
Stalin sprach gegen Kamenjews Demission und versuchte nachzuweisen, daß »unsere<br />
gesamte Lage wi<strong>der</strong>spruchsvoll ist«, das heißt, er übernahm die Verteidigung jener<br />
Verwirrung, die von Mitglie<strong>der</strong>n des Zentralkomitees, die gegen den Aufstand auftraten,<br />
in die Köpfe getragen wurde. Mit fünf gegen drei Stimmen wird Kamenjews Rücktrittsgesuch<br />
angenommen. Mit sechs Stimmen, wie<strong>der</strong>um gegen Stalin, wird ein Beschluß<br />
gefaßt, <strong>der</strong> Kamenjew und Sinowjew verbietet, gegen die Politik des Zentralkomitees<br />
einen Kampf zu führen. Das Protokoll lautet: »Stalin erklärt seinen Austritt aus <strong>der</strong><br />
Redaktion.« Um die ohnehin nich leichte Lage nicht zu verschärfen, lehnt das Zentralkomitee<br />
Stalin Demission ab.<br />
Stalins Verhalten mag unerklärlich erscheinen im Licht <strong>der</strong> um ihn geschaffenen<br />
Legende; in Wirklichkeit entspricht es völlig seinem geistigen Wesen und seinen politischen<br />
Methoden. Vor großen Problemen zieht sich Stalin stets zurück - nicht infolgt<br />
mangelnden Charakters wie Kamenjew, son<strong>der</strong>n infolge <strong>der</strong> Engc seines Horizonts und<br />
des Mangels an schöpferischer Phantasie. Lauernde Vorsicht zwingt ihn fast organisch,<br />
in Momenten großer Entschlüsse und tiefer Meinungsverschiedenbeiten in den Schatten<br />
zu treten, abzuwarten und womöglich sich für zwei Fälle zu versichern. Stalin stimmte<br />
mit Lenin für den Aufstand. Sinowjew und Kamenkew kämpften offen gegen den<br />
Aufstand. Doch - läßt man die »Schärfe des Tones« <strong>der</strong> Leninschen Kritik beiseite -<br />
»bleiben wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen«. Seine Anmerkung hatte Stalin<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 648
keinesfalls aus Leichtsinn gemacht: im Gegentefl, er hatte sorgfältig Umstände und<br />
Worte erwogen. Aber am 20. Oktober hielt er es nicht für möglich, unwi<strong>der</strong>ruflich die<br />
Brücke zum Lager <strong>der</strong> Aufstandsgegner abzubrechen.<br />
Die Angaben <strong>der</strong> Protokolle, die wir nicht nach dem Original, son<strong>der</strong>n nach dem offiziellen,<br />
in <strong>der</strong> Stalinschen Kanzlei bearbeiteten Text zu zitieren gezwungen sind, zeigen<br />
nicht nur die tatsächliche Verteilung <strong>der</strong> Figuren im bolschewistischen Zentralkomitee,<br />
son<strong>der</strong>n entrollen vor uns auch, trotz Kürze und Trockenheit, das wahre Panorama <strong>der</strong><br />
Parteileitung, wie sie in <strong>der</strong> Wirklichkeit war: mit all ihren inneren Wi<strong>der</strong>sprüchen und<br />
unvermeidlichen persönlichen Schwankungen. Nicht nur die <strong>Geschichte</strong> in ihrer Gesamtheit,<br />
son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong>en kühnste Umwälzungen werden von Menschen vollzogen, denen<br />
nichts Menschliches fremd ist. Kann das die Bedeutung des Vollbrachten<br />
beeinträchtigen?<br />
Würde man auf einer Leinwand den glänzendsten <strong>der</strong> Siege Napoleons abrollen, <strong>der</strong><br />
Filmstreifen würde uns neben Genialität, Schwung, Scharfsinn, Heroismus - auch Unentschlossenheit<br />
einzelner Marschälle zeigen, Verwirrung <strong>der</strong> Generale, die Karten nicht<br />
lesen können, Stumpfsinn <strong>der</strong> Offiziere und Panik ganzer Abteilungen bis inklusive<br />
Darmerkrankungen aus Angst. Dieses realistische Dokument würde nur dafür Zeugnis<br />
ablegen, daß Napoleons Armee nicht aus Automaten einer Legende bestand, son<strong>der</strong>n aus<br />
lebendigen Franzosen, erzogen an <strong>der</strong> Wende zweier Jahrhun<strong>der</strong>te. Und das Bild<br />
menschlicher Schwächen würde nur das Grandiose des Ganzen greller unterstreichen.<br />
Es ist leichter, über eine Umwälzung nachträglich zu theoretisieren, als sie in Fleisch<br />
und Blut in sich aufzunehmen, bevor sie sich vollzogen hat. Das Herannahen eines<br />
Aufstandes hat stets unvermeidlich Krisen in den Parteien des Aufstandes hervorgerufen<br />
und wird sie hervorrufen. Davon zeugt die Erfahrung <strong>der</strong> gestähltesten und revolutionärsten<br />
Partei, die die <strong>Geschichte</strong> je gekannt hat. Es genügt die Tatsache, daß Lenin wenige<br />
Tage vor <strong>der</strong> Schlacht sich gezwungen sah, den Ausschluß zweier seiner nächsten und<br />
angesehensten Schüler zu for<strong>der</strong>n. Spätere Versuche, den Konflikt durch "Zufälle"<br />
persönlichen Charakters zu bagatellisieren, sind von rein kirchlicher Idealisierung <strong>der</strong><br />
Parteivergangenheit suggeriert. Wie Lenin vollständiger und entschiedener als die<br />
an<strong>der</strong>en in den Herbstmonaten 1917 die objektive Notwendigkeit des Aufstandes und<br />
den Willen <strong>der</strong> Massen zur Umwälzung ausdrückte, so verkörperten Sinowjew und<br />
Kamenjew offenherziger als die an<strong>der</strong>en die bremsenden Tendenzen <strong>der</strong> Partei,<br />
Stimmungen <strong>der</strong> Unentschlossenheit. Einflüsse kleinbürgerlicher Bindungen und den<br />
Druck <strong>der</strong> herrschenden Klassen.<br />
Wären alle Beratungen, Debatten, Privarstreitereien, die in <strong>der</strong> oberen Schicht <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei während des einen Monats Oktober stattfanden, stenographiert<br />
worden, die Nachkommen könnten sich überzeugen, durch welch gespannten inneren<br />
Kampf an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Partei sich die für die Umwälzung nötige Entschlossenheit<br />
formte. Das Stenogramm würde gleichzeitig beweisen, wie sehr eine revolutionäre Partei<br />
<strong>der</strong> inneren Demokratie bedarf: <strong>der</strong> Wille zum Kampf wird nicht auf Vorrat angeschafft<br />
und nicht von oben diktiert - er muß jedesmal selbständig erneuert und gestählt werden.<br />
Indem er sich auf die Behauptung des Autors dieses Buches berief, wonach »als<br />
wesentlichstes Instrument <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung die Partei dient«, fragte Stalin<br />
im Jahre 1924: »Wie konnte unsere <strong>Revolution</strong> siegen, wenn ihr wesentlichstes Instrument<br />
sich als untauglich erwies?« Die Ironie verschleiert nicht die primitive Unwahrhaf-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 649
tigkeit <strong>der</strong> Erwi<strong>der</strong>ung. Zwischen den Heiligen, wie sie die Kirche schil<strong>der</strong>t, und den<br />
Teufeln, wie sie von den Kandidaten für Heiligenposten geschil<strong>der</strong>t werden, befinden<br />
sich die lebendigen Menschen: und sie machen die <strong>Geschichte</strong>. Die hohe Stählung <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei hatte sich nicht im Fehlen von Meinungsverschiedenheiten,<br />
Schwankungen und sogar Erschütterungen geäußert, son<strong>der</strong>n darin, daß sie in schwierigster<br />
Lage rechtzeitig mit inneren Krisen fertig wurde und sich die Möglichkeit sicherte,<br />
in die Ereignisse entscheidend einzugreifen. Und dies eben heißt, daß die Partei als<br />
Ganzes ein taugliches Instrument <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> war.<br />
Eine reformistische Partei betrachtet in <strong>der</strong> Praxis als unerschütterlich die Grundlagen<br />
dessen, was zu reformieren sie sich anschickt. Damit allein schon unterwirft sie sich<br />
unausweichbar den Ideen und <strong>der</strong> Moral <strong>der</strong> herrschenden Klasse. Aufgestiegen auf <strong>der</strong><br />
Schulter des Proletariats, wurde die Sozialdemokratie nur eine bürgertiche Partei zweiter<br />
Sorte. Der Bolschewismus hat den Typ des wahren <strong>Revolution</strong>ärs geschaffen, <strong>der</strong> den<br />
historischen, mit <strong>der</strong> bestehenden Gesellschaft nicht zu versöhnenden Zielen die Bedingungen<br />
seines persönlichen Daseins, seine Ideen, seine sittlichen Kriterien unterwirft.<br />
Die nötige Distanz zur bürgerlichen Ideologie wurde in <strong>der</strong> Partei durch die wachsame<br />
Unversöhnlichkeit, <strong>der</strong>en Inspirator Lenin war, aufrechterhalten. Er wurde nicht müde,<br />
mit <strong>der</strong> Lanzette zu arbeiten, um jene Bindungen zu zerschneiden, die die kleinbürgerliche<br />
Umgebung zwlschen Partei und offizieller öffentlicher Meinung schuf Gleichzeitig<br />
lehrte Lenin die Partei, sich eine eigene öffentliche Meinung zu formen, die sich auf<br />
Gedanken und Gefühle <strong>der</strong> emporsteigenden Klasse stützt. So schuf sich die bolschewistische<br />
Partei durch Auslese und Erziehung in ständigem Kampfe nicht nur ihr politisches,<br />
son<strong>der</strong>n auch ihr moralisches, von <strong>der</strong> bürgerlichen öffentlichen Meinung<br />
unabhängiges und dieser unversöhnlich entgegengesetztes Milieu. Nur dies allein hat den<br />
Bolschewiki ermöglicht, die Schwankungen in den eigenen Reihen zu überwinden und<br />
durch die Tat jene kühne Entschlossenheit zu entwickeln, ohne die <strong>der</strong> Oktobersieg nicht<br />
möglich gewesen wäre.<br />
Die Kunst des Aufstandes<br />
Die Menschen machen eine <strong>Revolution</strong> wie auch einen Krieg nicht gern. Der Unterschied<br />
jedoch ist, daß im Kriege die entscheidende Rolle <strong>der</strong> Zwang spielt; in <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> gibt es keinen Zwang, sieht man vom Zwang <strong>der</strong> Verhältnisse ab. Eine<br />
<strong>Revolution</strong> geschieht dann, wenn kein an<strong>der</strong>er Weg übrigbleibt. Der Aufstand, <strong>der</strong> sich<br />
über die <strong>Revolution</strong> erhebt wie ein Gipfel in <strong>der</strong> Bergkette, kann ebensowenig willkürlich<br />
hervorgerufen werden wie die <strong>Revolution</strong> in ihrer Gesamtheit. Die Massen vollziehen<br />
wie<strong>der</strong>holte Angriffe und Rückzüge, ehe sie sich zum entscheidenden Sturm<br />
entschließen.<br />
Die Verschwörung wird gewöhnlich als das planmäßige Unternehmen einer Min<strong>der</strong>heit<br />
dem Aufstande als <strong>der</strong> Elementarbewegung einer Mehrheit gegenübergestellt. Und<br />
in <strong>der</strong> Tat: <strong>der</strong> siegreiche Aufstand, <strong>der</strong> nur Sache einer Klasse sein kann, die berufen ist,<br />
sich an die Spitze <strong>der</strong> Nation zu stellen, ist seiner historischen Bedeutung und seinen<br />
Methoden nach durch einen Abgrund getrennt von <strong>der</strong> Umwälzung durch Verschwörer,<br />
die hinter dem Rücken <strong>der</strong> Massen handeln.<br />
Im Wesen birgt jede Klassengesellschaft genügend Wi<strong>der</strong>sprüche in sich, daß man in<br />
ihren Rissen eine Verschwörung bauen kann. Doch beweist die historische Erfahrung,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 650
daß immerhin ein bestimmter Krankheitsgrad <strong>der</strong> Gesellschaft nötig ist - wie in Spanien,<br />
Portugal, Südamerika -, damit die Verschwörerpolitik dauernd Nahrung findet. Eine<br />
reine Verschwörung kann selbst im Falle ihres Sieges nur die Ablösung einzelner<br />
Cliquen <strong>der</strong> gleichen regierenden Klasse an <strong>der</strong> Macht ergeben, o<strong>der</strong> noch weniger:<br />
Ablösung <strong>der</strong> Regierungsfiguren. Den Sieg eines sozialen Regimes über ein an<strong>der</strong>es hat<br />
in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> bisher nur <strong>der</strong> Massenaufstand gebracht. Während periodische<br />
Verschwörungen am häufigsten nur Ausdruck von Stillstand und Fäulnis <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
sind, entsteht dagegen <strong>der</strong> Volksaufstand gewöhnlich als Folge einer vorangegangenen<br />
schnellen, das alte Gleichgewicht <strong>der</strong> Nation erschütternden Entwicklung. Die<br />
chronischen "<strong>Revolution</strong>en" <strong>der</strong> südamerikanischen Republiken haben mit <strong>der</strong> permanenten<br />
<strong>Revolution</strong> nichts gemein, sie bilden vielmehr in gewissem Sinne ihren Gegensatz.<br />
Doch bedeutet das Gesagte keinesfalls, daß Volksaufstand und Verschwörung einan<strong>der</strong><br />
unter allen Umständen ausschließen. Das Element <strong>der</strong> Verschwörung ist in dem einen<br />
o<strong>der</strong> dem an<strong>der</strong>en Maße fast immer im Aufstande enthalten. Eine historisch bedingte<br />
Etappe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> bildend, ist <strong>der</strong> Massenaufstand niemals rein elementar. Sogar<br />
wenn er für die Mehrzahl seiner Teilnehmer überraschend zum Ausbruch kommt, ist er<br />
von jenen Ideen befruchtet, in denen die Aufständischen Ausweg aus Daseinslasten<br />
erblicken. Doch kann man den Massenaufstand voraussehen und vorbereiten. Kann ihn<br />
im voraus organisieren. In diesem Falle ist die Verschwörung dem Aufstand<br />
unterworfen, sie dient ihm, erleichtert seinen Gang, beschleunigt seinen Sieg. Je höher<br />
die revolutionäre Bewegung ihrem politischen Niveau nach ist, je ernster ihre Führung,<br />
einen um so größeren Raum nimmt die Verschwörung im Volksaufstande ein.<br />
Richtig das Verhältnis zwischen Aufstand und Verschwörung, in ihrem Gegensatz wie<br />
in ihrem Sichergänzen, zu verstehen, ist um so notwendiger, als <strong>der</strong> Gebrauch des<br />
Wortes "Verschwörung" sogar in <strong>der</strong> marxistischen Literatur einen nach außen hin<br />
wi<strong>der</strong>spruchsvollen Charakter hat, je nachdem, ob es sich um das selbständige Unternehmen<br />
einer initiativen Min<strong>der</strong>heit handelt o<strong>der</strong> um den durch die Min<strong>der</strong>heit vorbereiteten<br />
Aufstand <strong>der</strong> Mehrheit.<br />
Die <strong>Geschichte</strong> zeigt allerdings, daß <strong>der</strong> Volksaufstand unter bestimmten Bedingungen<br />
auch ohne Verschwörung siegen kann. Entstanden "elementar", aus allgemeiner<br />
Empörung, vereinzelten Protesten, Demonstrationen, Streiks, Straßenzusammenstößen,<br />
kann <strong>der</strong> Aufstand einen Teil <strong>der</strong> Armee mitreißen, die Kräfte des Feindes paralysieren<br />
und die alte Macht stürzen. So bis zu einem gewissen Grade geschah dies im Februar<br />
1917 in Rußland. Ungefähr das gleiche Bild bot die Entwicklung <strong>der</strong> deutschen und <strong>der</strong><br />
österreichisch-ungarischen <strong>Revolution</strong> im Herbst 1918. Soweit in diesen Fällen an <strong>der</strong><br />
Spitze <strong>der</strong> Aufitändischen keine von den Interessen und Zielen des Aufstandes durch und<br />
durch erfüllte Partei stand, mußte sein Sieg unabwendbar die Macht in die Hände jener<br />
Parteien legen, die bis zum letzten Augenblick dem Aufstand entgegengewirkt hatten.<br />
Die alte Macht stürzen - ist eines. Die Macht übernehmen - ein an<strong>der</strong>es. Die Bourgeoisie<br />
ist in <strong>der</strong> Lage, in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die Macht zu übernehmen, nicht weil sie revolutionär<br />
ist, son<strong>der</strong>n weil sie die Bourgeoisie ist: in ihren Händen befinden sich Besitz,<br />
Bildung, Presse, ein Netz von Stützpunkten, eine Hierarchie von Institutionen. An<strong>der</strong>s<br />
das Proletariat: bar jedes außerhalb seiner selbst liegenden sozialen Vorranges, kann das<br />
aufständische Proletariat nur auf seine zahlenmäßige Stärke, seine Geschlossenheit, seine<br />
Ka<strong>der</strong>, seinen Stab rechnen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 651
Wie es dem Schmied nicht gegeben ist, mit bloßen Händen glühendes Eisen anzufassen,<br />
so kann das Proletariat nicht mit bloßen Händen die Macht ergreifen: es braucht eine<br />
für diese Aufgabe geeignete Organisation. In <strong>der</strong> Verknüpfung von Massenaufstand und<br />
Verschwörung, <strong>der</strong> Unterordnung <strong>der</strong> Verschwörung unter den Aufstand, <strong>der</strong> Organisierung<br />
des Aufstandes durch die Verschwörung besteht jenes komplizierte und verantwortliche<br />
Gebiet <strong>der</strong> revolutionären Politik, das Marx und Engels »die Kunst des Aufstandes«<br />
nannten. Sie setzt voraus eine richtige Gesamtführung <strong>der</strong> Massen, eine elastische Orientierung<br />
in den sich verän<strong>der</strong>nden Bedingungen, einen durchdachten Angriffsplan,<br />
Vorsicht bei <strong>der</strong> technischen Vorbereitung und Kühnheit beim Zuschlagen.<br />
Als elementaren Aufstand bezeichnen Historiker und Politiker gewöhnlich eine solche<br />
Massenbewegung, die - geeint durch Feindschaft gegen das alte Regime - we<strong>der</strong> klare<br />
Ziele, noch ausgearbeitete Kampfmethoden, noch eine bewußt zum Siege führende<br />
Leitung besitzt. Der elementare Aufstand genießt die wohlwollende Anerkennung <strong>der</strong><br />
offiziellen Historiker, wenigstens <strong>der</strong> demokratischen, als unabwendbares Übel, für das<br />
die Verantwortung auf das alte Regime fällt. Die wahre Ursache des Wohlwollens<br />
besteht darin, daß "elementare" Aufstände über die Rahmen des bürgerlichen Regimes<br />
nicht hinausgehen können.<br />
Die gleiche Bahn geht auch die Sozialdemokratie: sie verneint nicht die <strong>Revolution</strong> im<br />
allgemeinen, als soziale Katastrophe, wie sie Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, Sonnenfinstemisse<br />
und Pestepidemien nicht verneint. Was sie als "Blanquismus" o<strong>der</strong> noch<br />
schlimmer als Bolschewismus verneint, ist die bewußte Vorbereitung <strong>der</strong> Umwälzung,<br />
<strong>der</strong> Plan, die Verschwörung. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Sozialdemokratie ist bereit, allerdings<br />
post factum, jene Umwälzungen zu sanktionieren, die die Macht in die Hände <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie übergeben, verurteilt aber gleichzeitig unversöhnlich jene Methoden, die<br />
allein imstande sind, die Macht in die Hände des Proletariats zu übergeben. Unter dem<br />
scheinbaren Objektivismus verbirgt sich die Politik des Schutzes <strong>der</strong> kapitalistischen<br />
Gesellschaft.<br />
Aus den Beobachtungen und Betrachtungen über die Mißerfolge vieler Aufstände,<br />
<strong>der</strong>en Teilnehmer o<strong>der</strong> Zeuge er gewesen, leitete Auguste Blanqui eine Reihe taktischer<br />
Regeln ab, ohne <strong>der</strong>en Wahrung <strong>der</strong> Sieg des Aufstandes äußerst erschwert, wenn nicht<br />
gar unmöglich sei. Blanqui for<strong>der</strong>te rechtzeitige Schaffung regelrechter revolutionärer<br />
Abteilungen unter zentralisierter Leitung, <strong>der</strong>en regelrechte Ausrüstung, gut berechnete<br />
Verteilung <strong>der</strong> Barrikaden von bestimmter Konstruktion mit einer systematischen, nicht<br />
episodischen Verteidigung. Alle diese sich aus den Kriegsaufgaben des Aufstandes<br />
ergebenden Regeln müssen sich selbstverständlich unvermeidlich zusammen mit den<br />
sozialen Bedingungen und <strong>der</strong> Kriegstechnik verän<strong>der</strong>n; an sich aber sind sie keinesfalls<br />
"Blanquismus" in dem Sinne, wie dieser Begriff dem deutschen "Putschismus" o<strong>der</strong> dem<br />
revolutionären Abenteurertum nahesteht.<br />
Der Aufstand ist eine Kunst und hat wie jede Kunst seine Gesetze. Blanquis Regeln<br />
waren For<strong>der</strong>ungen des kriegsrevolutionären Realismus. Blanquis Irrtum bestand nicht in<br />
seinem direkten Theorem, son<strong>der</strong>n in dessen Umkehrung. Aus <strong>der</strong> Tatsache, daß die<br />
taktische Hilflosigkeit den Aufstand zum Untergang verurteilte, zog Blanqui die Schlußfor<strong>der</strong>ung,<br />
daß die Einhaltung <strong>der</strong> Regeln <strong>der</strong> Insurrektionstaktik an sich imstande sei,<br />
den Sieg zu sichern. Erst von da ab beginnt die berechtigte Gegenüberstellung von<br />
Blanquismus und Marxismus. Die Verschwörung ersetzt den Aufstand nicht. Die aktive<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 652
Min<strong>der</strong>heit des Proletariats, so gut sie auch organisiert sein mag, ist nicht fähig, unabhängig<br />
vom Gesamtzustande des Landes die Macht zu ergreifen: in diesem Sinne hat die<br />
<strong>Geschichte</strong> über den Blanquismus ihr Urteil gesprochen. Aber nur in diesem Sinne. Das<br />
direkte Theorem behält seine volle Geltung. Zur Machteroberung genügt dem Proletariat<br />
nicht <strong>der</strong> elementare Aufstand. Nötig ist die entsprechende Organisation, nötig <strong>der</strong> Plan,<br />
nötig die Verschwörung. So ist die Leninsche Fragestellung.<br />
Die von Engels geübte Kritik am Barrikadenfetischismus stützte sich auf die Evolution<br />
<strong>der</strong> allgemeinen und <strong>der</strong> militärischen Technik. Die Insurrektionstatistik des Blanquismus<br />
entsprach dem Charakter des alten Paris, des halb auf Handwerk fußenden Proletariats,<br />
<strong>der</strong> engen Straßen und des Militärsystems Louis Philipps. Der prinzipielle Irrtum des<br />
Blanquismus bestand in <strong>der</strong> Gleichsetzung von <strong>Revolution</strong> und Insurrektion, Der technische<br />
Irrtum des Blanquismus lag darin, daß er Insurrektion und Barrikade einan<strong>der</strong><br />
gleichsetzte. Die marxistische Kritik war gegen beide Irrtümer gerichtet. Einer Meinung<br />
mit dem Blanquismus, <strong>der</strong> Aufstand sei eine Kunst, deckte Engels indes nicht nur die<br />
untergeordnete Stellung des Aufstandes innerhalb <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> auf, son<strong>der</strong>n auch die<br />
schwindende Rolle <strong>der</strong> Barrikade im Aufstand, Engels' Kritik hatte nichts gemein mit<br />
Verzicht auf die revolutionären Methoden zugunsten des reinen Parlamentarismus, wie<br />
dies seinerzeit Philister <strong>der</strong> deutschen Sozialdemokratie unter Beihilfe <strong>der</strong> Hohenzollernzensur<br />
hinzustellen versuchten. Für Engels blieb die Frage <strong>der</strong> Barrikade die Frage nach<br />
einem <strong>der</strong> technischen Elemente des Umsturzes. Die Reformisten hingegen suchten aus<br />
<strong>der</strong> Verneinung einer entscheidenden Bedeutung <strong>der</strong> Barrikade die Verneinung <strong>der</strong><br />
revolutionären Gewalt überhaupt abzuleiten. Dies ist beinahe dasselbe, als wollte man<br />
aus Erwägungen über die wahrscheinlich abnehmende Bedeutung des Schützengrabens<br />
im künftigen Kriege auf den Zusammenbruch des Militarismus schließen.<br />
Die Organisation, mit <strong>der</strong>en Hilfe das Proletariat imstande ist, nicht nur die alte Macht<br />
zu stürzen, son<strong>der</strong>n auch sie abzulösen, sind die Sowjets. Was später Sache historischer<br />
Erfahrung wurde, war vor <strong>der</strong> Oktoberumwälzung theoretische, allerdings auf die einleitende<br />
Erfahrung von 1905 gestützte Prognose. Die Sowjets sind Organe <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
<strong>der</strong> Massen für den Aufstand, Organe des Aufstandes, und nach dem Siege - Organe<br />
<strong>der</strong> Macht.<br />
Freilich, die Sowjets an sich lösen die Frage noch nicht. In Abhängigkeit von<br />
Programm und Führung können sie verschiedenen Zwecken dienen. Das Programm wird<br />
den Sowjets von <strong>der</strong> Partei gegeben. Wenn die Sowjets unter den Bedingungen <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> - außerhalb <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sind sie überhaupt undenkbar - die gesamte<br />
Klasse erfassen, mit Ausnahme <strong>der</strong> gänzlich rückständigen, passiven o<strong>der</strong> demoralisierten<br />
Schichten, so stellt die revolutionäre Partei den Kopf <strong>der</strong> Klasse dar. Die Aufgabe <strong>der</strong><br />
Machteroberung kann nur gelöst werden durch eine bestimmte Verbindung von Partei<br />
und Sowjets o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, den Sowjets mehr o<strong>der</strong> weniger gleichwertigen Massenorganisationen.<br />
Der von <strong>der</strong> revolutionären Partei geführte Sowjet strebt bewußt und rechtzeitig die<br />
Machteroberung an. In Übereinstimmung mit den Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> politischen Situation<br />
und <strong>der</strong> Massenstimmungen bereitet er Stützpunkte des Aufstandes vor, verbindet<br />
die Stoßtruppen durch die Einheitlichkeit des Zieles, entwirft im voraus den Plan des<br />
Angriffs und des letzten Ansturms: dieses eben bedeutet, organisierte Verschwörung in<br />
den Massenaufstand hineinbringen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 653
Die Bolschewiki mußten mehr als einmal, schon lange vor <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, die<br />
von den Gegnern gegen sie gerichtete Beschuldigung des Verschwörertums und<br />
Blanguismus wi<strong>der</strong>legen. Indes hat niemand einen so unversöhnlichen Kampf gegen das<br />
System <strong>der</strong> reinen Verschwörung geführt wie Lenin. Die Opportunisten <strong>der</strong> internationalen<br />
Sozialdemokratie haben mehr als einmal die alte sozialrevolutionäre Taktik des<br />
individuellen Terrors gegen die Agenten des Zarismus in Schutz genommen vor <strong>der</strong><br />
erbarmungslosen Kritik <strong>der</strong> Bolschewiki, die dem individualistischen Abenteurertum <strong>der</strong><br />
Intelligenz den Kurs auf den Massenaufstand entgegenstellten. Während er jedoch alle<br />
Abarten des Blanquismus und Anarchismus verwarf hat Lenin sich keine Minute vor <strong>der</strong><br />
"Heiligkeit" <strong>der</strong> Massenspontaneität gebeugt. Er hat früher und tiefer als die an<strong>der</strong>en das<br />
Verhältnis zwischen objektiven und subjektiven Faktoren <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, zwischen<br />
elementarer Bewegung und Parteipolitik, zwischen Volksmassen und fortgeschrittener<br />
Klasse, zwischen Proletariat und dessen Avantgarde, zwischen Sowjets und Partei,<br />
zwischen Aufstand und Verschwörung durchdacht.<br />
Aber wenn es richtig ist, daß man einen Aufstand nicht willkürlich hervorrufen kann,<br />
daß man ihn für den Sieg gleichzeitig organisieren muß, dann entsteht vor <strong>der</strong> revolutionären<br />
Führung die Aufgabe einer richtigen Diagnose: man muß rechtzeitig den anwachsenden<br />
Aufstand erfassen, um ihn durch die Verschwörung zu ergänzen. Die<br />
geburtshilfliche Einmischung in die Entbindungsqualen, so sehr dies Bild mißbraucht<br />
worden ist, bleibt dennoch die krasseste Illustration des bewußten Eingriffs in den<br />
elementaren Prozeß. Herzen hat erstmals seinen Freund Bakunin beschuldigt, dieser habe<br />
bei allen seinen revolutionären Vorhaben unabän<strong>der</strong>lich den zweiten Monat <strong>der</strong> Schwangerschaft<br />
für den neunten gehalten. Herzen selbst neigte eher dazu, die Schwangerschaft<br />
auch im neunten Monat zu bestreiten. Im Februar wurde die Frage des Geburtstermins<br />
fast überhaupt nicht gestellt, insoweit <strong>der</strong> Aufstand "überraschend" ohne zentralisierte<br />
Führung ausgebrochen war. Aber gerade deshalb ging die Macht nicht an jene über, die<br />
den Aufstand vollzogen, son<strong>der</strong>n an jene, die ihn gebremst hatten. Ganz an<strong>der</strong>s verhielt<br />
sich die Sache mit dem neuen Aufstand: er wurde bewußt von <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Partei vorbereitet. Die Aufgabe: den Moment für das Angriffssignal richtig zu erfassen,<br />
fiel somit dem bolschewistischen Stab zu.<br />
Das Wort "Moment" darf man nicht gar zu buchstäblich nehmen, als auf Tag und<br />
Stunde bestimmt: auch für die Geburt läßt die Natur eine beträchtliche Schwankungszeit<br />
zu, für <strong>der</strong>en Grenzen sich nicht nur die Kunst <strong>der</strong> Geburtshilfe interessiert, son<strong>der</strong>n auch<br />
die Kasuistik des Erbrechts. Zwischen dem Moment, wo <strong>der</strong> Versuch, einen Aufstand<br />
hervorzurufen, sich unvermeidlich als noch verfrüht erweisen und zur revolutionären<br />
Fehlgeburt führen muß, und dem Moment, wo man die günstige Situation schon als<br />
hoffnungslos verpaßt betrachten muß, verläuft eine gewisse <strong>Revolution</strong>speriode - sie läßt<br />
sich nach Wochen, manchmal nach Monaten messen -, während <strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufstand mit<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann. Das Erfassen dieser<br />
verhältniismäßig kurzen Frist und die Wahl des Moments, bereits im präzisen Sinne von<br />
Tag und Stunde, für den letzten Schlag, stellen die revolutionäre Führung vor die verantwortungsvollste<br />
Aufgabe. Man kann sie mit vollem Recht als das Knotenproblem<br />
bezeichnen, denn sie verbindet die revolutionäre Politik mit <strong>der</strong> Technik des Aufstandes:<br />
muß man daran erinnern, daß <strong>der</strong> Aufstand wie <strong>der</strong> Krieg die Fortsetzung <strong>der</strong> Politik nur<br />
mit an<strong>der</strong>en Mitteln darstellt?<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 654
Intuition und Erfahrung sind für revolutionäre Leitung ebenso erfor<strong>der</strong>lich wie für alle<br />
an<strong>der</strong>en Gebiete des Schaffens. Aber dies genügt nicht. Auch die Kunst <strong>der</strong> Kurpfuscher<br />
kann sich nicht ohne Erfolg auf Intuition und Erfahrung stützen. Politische Kurpfuscherei<br />
reicht aber nur aus für Epochen o<strong>der</strong> Perioden, die im Zeichen <strong>der</strong> Routine stehen. Eine<br />
Epoche großer historischer Umwälzungen duldet keine Kurpfuscherei. Auch die von<br />
Intuition beseelte Erfahrung genügt ihr nicht. Es ist eine synthetische Doktrin erfor<strong>der</strong>lich,<br />
die die Wechselwirkung <strong>der</strong> wichtigsten historischen Kräfte umfaßt. Es ist die<br />
materialistische Methode erfor<strong>der</strong>lich, die es gestattet, hinter den chinesischen Schatten<br />
von Programmen und Parolen die wirkliche Bewegung <strong>der</strong> sozialen Körper zu<br />
entdecken.<br />
Grundvoraussetzung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist, daß sich das bestehende gesellschaftliche<br />
Regime als unfähig erweist, die lebensnotwendigen Aufgaben <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
Nation zu lösen. Die <strong>Revolution</strong> wird aber nur dann möglich, wenn innerhalb <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
eine neue Klasse existiert, die zur Lösung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> gestellten<br />
Aufgaben an die Spitze <strong>der</strong> Nation zu treten vermag. Der Vorbereitungsprozeß <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> besteht darin, daß die objektiven, in den Wirtschafts- und Klassenwi<strong>der</strong>sprüchen<br />
enthaltenen Aufgaben sich im Bewußtsein <strong>der</strong> lebendigen Menschenmassen Bahn<br />
brechen, es verän<strong>der</strong>n und ein neues politisches Kräfteverhältnis schaffen.<br />
Die herrschenden Klassen verlieren infolge ihrer in <strong>der</strong> Tat offenbarten Unfähigkeit,<br />
das Land aus <strong>der</strong> Sackgasse herauszuführen, den Glauben an sich; die alten Parteien<br />
zerfallen; es entsteht ein erbitterter Kampf zwischen Gruppen und Cliquen; die Hoffnungen<br />
werden auf ein Wun<strong>der</strong> o<strong>der</strong> einen Wun<strong>der</strong>täter übertragen. All das bildet eine <strong>der</strong><br />
politischen Voraussetzungen des Umsturzes, eine äußerst wichtige, wenn auch passive.<br />
Erbitterte Feindschaft gegen die bestehende Ordnung und Bereitschaft, die heroischsten<br />
Anstrengungen und Opfer zu wagen, um das Land auf den Weg des Aufstieges<br />
hinauszufübren - dies ist das neue politische Bewußtsein <strong>der</strong> revolutionären Klasse, das<br />
die wichtigste aktive Voraussetzung <strong>der</strong> Umwälzung bildet.<br />
Die zwei Hauptlager - Großbesitz und Proletariat - erschöpfen jedoch die Nation nicht.<br />
Zwischen ihnen liegen die breiten Schichten <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie, die in allen Farben<br />
des ökonomischen und politischen Regenbogens schillern. Die Unzufriedenheit <strong>der</strong><br />
Zwischenschichten, ihre Enttäuschung an <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> regierenden Klasse, ihre<br />
Ungeduld und Empörung, ihre Bereitschaft, bilden die dritte politische Bedingung <strong>der</strong><br />
Umwälzung, eine teils passive, insofern sie die Spitze <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie neutralisiert,<br />
eine teils aktive, insofern sie <strong>der</strong>en untere Schichten in den direkten Kampf stößt, Seite<br />
an Seite mit den Arbeitern.<br />
Die gegenseitige Bedingtheit dieser Voraussetzungen ist offensichtlich: je entschlossener<br />
und sicherer das Proletariat handelt, um so mehr Möglichkeiten hat es, die Zwischenschichten<br />
mitzureißen, um so isolierter ist die herrschende Klasse, um so tiefergehend die<br />
Demoralisierung in <strong>der</strong>en Mitte. Und umgekehrt: <strong>der</strong> Zerfall <strong>der</strong> Herrschenden gießt<br />
Wasser auf die Mühle <strong>der</strong> revolulutionären Klasse.<br />
Von <strong>der</strong> für die Umwälzung notwendigen Zuversicht zu seinen Kräften kann das Proletariat<br />
nur erfüllt sein, wenn sich vor ihm eine klare Perspektive entrollt, wenn es die<br />
Möglichkeit besitzt, aktiv das sich zu seinen Gunsten verän<strong>der</strong>nde Kräfteverhältnis<br />
nachzuprüien, wenn es über sich eine weitblickende, feste und sichere Leitung fühlt. Das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 655
führt uns zu <strong>der</strong> - <strong>der</strong> Reihe, nicht aber <strong>der</strong> Bedeutung nach - letzten Bedingung <strong>der</strong><br />
Machteroberung: zur revolutionären Partei, als <strong>der</strong> eng verschmolzenen und gestählten<br />
Avantgarde <strong>der</strong> Klasse.<br />
Dank <strong>der</strong> günstigen Verknüpfüng historischer Bedingungen, innerer wie internationaler,<br />
erhielt das russische Proletariat an seine Spitze eine Partei von auflergewöhnlicher<br />
politischer Klarheit und beispielloser revolutionärer Stählung: nur dies allein gestattete<br />
<strong>der</strong> zahlenmäßig kleinen und jungen Klasse, eine dem Außmaße nach nie dagewesene<br />
historische Aufgabe zu erfüllen. Im allgemeinen erwies sich nach dem Zeugnis <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> - Pariser Kommune, deutsche und österreichische <strong>Revolution</strong> von 1918,<br />
Sowjetungarn und Bayern, italienische <strong>Revolution</strong> von 1919, deutsche Krise von 1923,<br />
chinesische <strong>Revolution</strong> von 1925 bis 1927, spanische <strong>Revolution</strong> von 1931 - als das<br />
schwächste Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Bedingungen bis jetzt das Parteiglied: für die Arbeiterklasse<br />
ist es am schwierigsten, eine revolutionäre, auf <strong>der</strong> Höhe ihrer historischen<br />
Aufgabe stehende Organisation zu schaffen. In den älteren und zivilisierten Län<strong>der</strong>n sind<br />
mächtige Kräfte am Werke zur Schwächung und Zersetzung <strong>der</strong> revolutionären Avantgarde.<br />
Einen wichtigen Bestandteil dieser Arbeit bildet <strong>der</strong> Kampf <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />
gegen "Blanquismus", unter welchem Namen das revolutionäre Wesen des Marxismus<br />
figuriert.<br />
Trotz <strong>der</strong> großen Zahl sozialer und politischer xrisen konnte man ein Zusammentreffen<br />
aller für eine siegreiche und wi<strong>der</strong>standsfähige proletarische Umwälzung notwendigen<br />
Bedingungen bis jetzt in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> nur einmal beobachten: im Oktober 1917 in<br />
Rußland. Eine revolutionäre Situation ist nicht von ewiger Dauer. Die schwankendste<br />
Voraussetzung <strong>der</strong> Umwälzung ist die Stimmung <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie. Während nationaler<br />
Krisen geht sie hinter jener Klasse, die ihr nicht durch Worte, son<strong>der</strong>n auch durch<br />
Taten Vertrauen einflößt. Fähig zum impulsiven Aufstieg, sogar zu revolutionärer<br />
Raserei, fehlt <strong>der</strong> Kleinbourgeoisie Ausdauer, sie verliert bei Mißerfolg leicht den Mut<br />
und fällt aus flammenden Hoffnungen in Enttäuschung. Die scharfen und jähen Wechsel<br />
ihrer Stimmungen verleihen eben je<strong>der</strong> revolutionären Situation eine solche Unbeständigkeit.<br />
Ist die proletarische Partei nicht genügend entschlossen, um die Erwartungen und<br />
Hoffnungen <strong>der</strong> Volksmassen rechtzeitig in revolutionäre Handlung umzusetzen, wird<br />
die Flut schnell von <strong>der</strong> Ebbe abgelöst: die Zwischenschichten wenden ihre Blicke von<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ab und suchen die Retter im feindlichen Lager. Wie während <strong>der</strong> Flut das<br />
Proletariat die Kleinbourgeoisie mitreißt, so reißt während <strong>der</strong> Ebbe die Kleinbourgeoisie<br />
bedeutende Schichten des Proletariats mit. Dies ist die Dialektik <strong>der</strong> kommunistischen<br />
und faschistischen Wellen in <strong>der</strong> politischen Evolution Europas nach dem Kriege.<br />
Bemüht, sich auf den Marxschen Grundsatz zu stützen: kein Regime verschwindet von<br />
<strong>der</strong> Bühne, ehe es alle seine Möglichkeiten erschöpft hat, bestritten die Menschewiki die<br />
Zulässigkeit des Kampfes um die Diktatur des Proletariats im rückständigen Rußland, wo<br />
<strong>der</strong> Kapitalismus sich noch längst nicht erschöpft hatte. Diese Beurteilung enthielt zwei<br />
Irrtümer, von denen je<strong>der</strong> fatal war. Der Kapitalismus ist kein nationales, son<strong>der</strong>n ein<br />
Weltsystem. Der imperialistische Krieg und seine Folgen haben gezeigt, daß das System<br />
des Kapitalismus sich im Weltmaßstabe erschöpft hat. Die <strong>Revolution</strong> in Rußland war<br />
die Sprengung des schwächsten Gliedes im kapitalistischen Weltsystem.<br />
Aber das Irrige an <strong>der</strong> menschewistischen Konzeption offenbart sich auch unter dem<br />
nationalen Gesichtswinkel. Vom Standpunkte <strong>der</strong> ökonomischen Abstraktion läßt sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 656
vielleicht behaupten, daß <strong>der</strong> Kapitalismus in Rußland seine Möglichkeiten nicht<br />
erschöpft hatte. Aber die ökonomischen Prozesse verlaufen nicht im Äther son<strong>der</strong>n im<br />
konkreten historischen Milieu. Der Kapitalismus ist keine Abstraktion: er ist ein lebendiges<br />
System von Klassenbeziehungen, das vor allem einer Staatsmacht bedarf. Daß die<br />
Monarchie, unter <strong>der</strong>en Schutz sich <strong>der</strong> russische Kapitalismus entwickelte, ihre<br />
Möglichkeiten erschöpft hatte, bestritten auch die Menschewiki nicht. Die Februarrevolution<br />
versuchte ein staatliches Zwischenregime zu errichten. Wir haben seine<br />
<strong>Geschichte</strong> verfolgt: im Laufe von acht Monaten hatte es sich restlos erschöpft. Welche<br />
an<strong>der</strong>e Staatsordnung hätte denn unter diesen Umständen vermocht, die weitere Entwicklung<br />
des <strong>russischen</strong> Kapitalismus zu sichern?<br />
»Die bürgerliche Republik, verteidigt allein nur von <strong>Sozialisten</strong> <strong>der</strong> gemäßigten<br />
Strömungen, die im Volke keine Stütze fanden ..., konnte sich nicht halten. Ihr ganzer<br />
Kern war verwittert, es blieb nur die äußere Schale.« Diese treffende Charakteristik<br />
gehört Miljukow. Das Schicksal des verwitterten Systems mußte, nach sein Worten, das<br />
gleiche sein wie das Schicksal <strong>der</strong> Zarenmonarchie: »Beide haben den Boden für die<br />
<strong>Revolution</strong> vorbereitet, und am Tage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> fanden beide keinen einzigen Verteidiger.«<br />
Schon seit Juli-August charakterisierte Miljukow die Lage mit <strong>der</strong> Alternative <strong>der</strong> zwei<br />
Namen: Kornilow o<strong>der</strong> Lenin. Kornilow jedoch hatte bereits seine Erfahrung gemacht,<br />
die mit dem kläglichen Fiasko endete. Für das Kerenskiregime war jedenfalls kein Platz<br />
mehr übrig. Bei allem Unterschiede <strong>der</strong> Stimmungen, hezeugt Suchanow, »war gemeinsam<br />
nur <strong>der</strong> Haß für die Kerenskiade«. Wie sich die Zarenmonarchie am Ende auch in<br />
den Augen <strong>der</strong> Spitzen des Adels und sogar <strong>der</strong> Großfürsten unmöglich gemacht hatte, so<br />
wurde die Kerenskiregierung sogar den offenen lnspiratoren des Regimes, den "Großfürsten"<br />
<strong>der</strong> Versöhnlerspitze, verhaßt. In dieser allgemeinen Unzufriedenheit, in diesem<br />
heftigen politischen Unwohlsein aller Klassen besteht eines <strong>der</strong> wichtigsten Merkmale<br />
für die Reife <strong>der</strong> revolutionären Situation. So ist je<strong>der</strong> Muskel, je<strong>der</strong> Nerv, jede Fiber<br />
eines Organismus unerträglich gespannt, bevor ein schweres Geschwür durchbricht.<br />
Die Resolution des Julikongresses <strong>der</strong> Bolschewiki, die die Arbeiter vor vorzeitigen<br />
Zusammenstößen warnte, wies gleichzeitig daraufhin, daß man den Kampf werde<br />
aufnehmen müssen, »wenn die nationale Krise und <strong>der</strong> tiefe Massenaufstieg günstige<br />
Bedingungen für den Übergang <strong>der</strong> Armut in Stadt und Land auf die Seite <strong>der</strong> Arbeiter<br />
geschaffen haben wird«. Dieser Moment war im September-Oktober gekommen.<br />
Der Aufstand durfte von nun an auf Erfolg rechnen, da er sich auf die wahre Volksmehrheit<br />
stützen konnte. Dies ist selbstverständlich nicht formal zu verstehen. Würde<br />
man in <strong>der</strong> Frage des Aufstandes vorher eine Volksabstimmung veranstalten, sie ergäbe<br />
äußerst wi<strong>der</strong>spruehsvolle und schwankende Resultate. Die innere Bereitschaft, eine<br />
Umwälzung zu unterstützen, ist keinesfalls identisch mit <strong>der</strong> Fähigkeit, sich im voraus<br />
klare Rechenschaft über <strong>der</strong>en Notwendigkeit abzulegen. Außerdem wären die Antworten<br />
in hohem Maße von <strong>der</strong> Fragestellung selbst und von dem Organ, das die Umfrage<br />
leitet, ahhängig o<strong>der</strong>, einfacher gesagt, von <strong>der</strong> Klasse, die an <strong>der</strong> Macht steht.<br />
Die Methoden <strong>der</strong> Demokratie haben ihre Grenzen. Man kann alle Reisenden über den<br />
wünschenswertesten Wagentyp befragen, aber es ist nicht möglich, sie darüber zu befragen,<br />
ob man den in voller Fahrt befindlichen Zug, dem eine Katastrophe droht, bremsen<br />
soll. Indes, ist die Rettungsaktion geschickt und rechtzeitig vollzogen, darf man <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 657
Zustimmung <strong>der</strong> Passagiere im voraus gewiß sein.<br />
Parlamentarische Konsultationen des Volkes werden gleichzeitig vorgenommen,<br />
während in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die verschiedenen Schichten des Volkes zur gleichen Schlußfolgerung<br />
in unvermeidlichen, mitunter sehr geringen Zeitabständen gelangen. Indes die<br />
Avantgarde vor revolutionärer Ungeduld brannte, begannen die rückständigen Schichten<br />
sich erst zu rühren. In Petrograd und Moskau standen alle Massenorganisationen unter<br />
Führung <strong>der</strong> Bolschewiki; im Tambower Gouvernement, das eine Bevölkerung von über<br />
drei Millionen zählte, das heißt etwas weniger als beide Hauptstädte zusammen, tauchte<br />
die bolschewistische Fraktion erst kurz vor <strong>der</strong> Oktoberumwälzung zum ersten Male im<br />
Sowjet auf.<br />
Die Syllogismen <strong>der</strong> objektiven Entwicklung fallen keinesfalls - auf den Tag - mit den<br />
Syllogismen des Massendenkens zusammen. Und wird ein großer praktischer Entschluß<br />
durch den Gang <strong>der</strong> Dinge unaufschiebbar, läßt er am allerwenigsten eine Volksabstimmung<br />
zu. Niveau- und Stimmungsunterschiede <strong>der</strong> einzelnen Volksschichten werden<br />
durch die Aktion überwunden: die Fortgeschrittenen reißen die Schwankenden mit und<br />
isolieren die Wi<strong>der</strong>strebenden. Die Mehrheit wird nicht gezählt, son<strong>der</strong>n erobert. Der<br />
Aufstand reift gerade dann heran, wenn ein Ausweg aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen sich nur auf<br />
dem Wege <strong>der</strong> unmittelbaren Aktion eröffnet.<br />
Ohnmächtig, aus ihrem Krieg gegen die Gutsbesitzer die notwendigen politischen<br />
Schlußfolgerungen selbst zu ziehen, schloß sich die Bauernschaft allein durch die Tatsache<br />
des Agraraufstandes von vornherein dem Aufstand <strong>der</strong> Städte an, rief ihn hervor,<br />
for<strong>der</strong>te ihn. Sie bekundete ihren Willen nicht durch weiße Stimmzettel, son<strong>der</strong>n durch<br />
den roten Hahn: das war eine ernste Volksabstimmung. In den Grenzen, in denen die<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Bauernschaft für die Errichtung <strong>der</strong> Sowjetdiktatur erfor<strong>der</strong>lich war,<br />
hat sie auch bestanden. »Diese Diktatur«, erwi<strong>der</strong>te Lenin den Zweiflern, »würde den<br />
Bauern Land und den Bauernkomitees am Orte die ganze Macht geben: wie kann man,<br />
ohne verrückt zu sein, da noch zweifeln, daß die Bauern diese Diktatur unterstützen<br />
würden?« Damit die Soldaten, Bauern, unterdrückten Nationalitäten, herumirrend im<br />
Wirbel <strong>der</strong> Wahlzettel, die Bolschewiki wirklich kennenlernten, war notwendig, daß die<br />
Bolsehewiki die Macht ergriffen.<br />
Wie aber mußte das Kräfteverhälmis sein, um dem Proletariat die Machteroberung zu<br />
erlauben? »Im entscheidenden Augenblick am entscheidenden Punkte ein erdrückendes<br />
Kräfteübergewicht zu haben«, schrieb Lenin später, als er die Oktoberumwälzung erläuterte,<br />
»dieses Gesetz <strong>der</strong> Kriegserfolge ist auch das Gesetz des politischen Erfolges,<br />
beson<strong>der</strong>s in jenem erbitterten, stürmischen Klassenkrieg, <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> heißt. Die<br />
Hauptstädte und überhaupt die großen Handels- und Industriezentren ... entscheiden in<br />
hohem Maße das politische Schicksal des Volkes, - selbstverständlich unter <strong>der</strong> Bedingung,<br />
daß die Zentren von genügenden örtlichen Dorfkräften unterstützt werden, wenn es<br />
auch keine sofortige Unterstützung ist.« In diesem dynamischen Sinne sprach Lenin von<br />
<strong>der</strong> Mehrheit des Volkes. Und das war <strong>der</strong> einzige reale Sinn des Begriffes Mehrheit.<br />
Die demokratischen Gegner trösteten sich damit, daß das Volk,<br />
das mit den Bolschewiki geht, - nur Rohstoff historischer Lehm ist; Töpfer zu sein sind<br />
doch nur die Demokraten berufen unter Mitarbeit <strong>der</strong> gebildeten Bourgeois. »Sehen diese<br />
Menschen nicht«, fragte die menschewistische Zeitung, »daß das Petrogra<strong>der</strong> Proletariat<br />
und die Garnison noch niemals von allen an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Schichten so<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 658
isoliert gewesen waren?« Das Unglück des Proletariats und <strong>der</strong> Garnison bestand darin,<br />
daß sie von jenen Klassen "isoliert" waren, denen die Macht wegzunehmen sie sich<br />
anschickten.<br />
Konnte man sich tatsächlich ernsthaft auf die Sympathie und Unterstützung <strong>der</strong><br />
dunklen Massen <strong>der</strong> Provinz und Front verlassen? Ihr Bolschewismus, schrieb verächtlich<br />
Suchanow, »war nichts an<strong>der</strong>es als Haß gegen die Koalition und Sehnsucht nach<br />
Land und Frieden«. Als wäre das wenig! Haß gegen die Koalition bedeutete das Bestreben,<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie die Macht zu entreißen, Sehnsucht nach Land und Frieden war ein<br />
grandioses Programm, das Bauern und Soldaten verwirklichen wollten unter Führung <strong>der</strong><br />
Arbeiter. Die Nichtigkeit <strong>der</strong> Demokraten, sogar <strong>der</strong> linkesten, ergab sich aus dem<br />
Unglauben <strong>der</strong> "gebildeten" Skeptiker an die finsteren Massen, die die Ereignisse im<br />
großen sehen, ohne sich auf Details und Nuancen einzulassen. Das intelligenzlerische,<br />
talmi-aristokratische, verächtliche Verhalten zum Volke war dem Bolschewismus fremd,<br />
seiner Natur zuwi<strong>der</strong>. Die Bolschewiki waren keine Kiebitze, keine Schreibtischfreunde<br />
des Volkes, keine Pedanten. Sie fürchteten sich nicht vor jenen rückständigen Schichten,<br />
die zum ersten Male vom tiefsten Grunde emporstiegen. Die Bolschewiki nahmen das<br />
Volk so, wie es die vorangegangene <strong>Geschichte</strong> geschaffen hatte und wie es berufen war,<br />
die <strong>Revolution</strong> zu vollbringen. Ihre Mission erblickten die Bolschewiki darin, sich an die<br />
Spitze dieses Volkes zu stellen. Gegen den Aufstand waren »alle« außer den Bolschewiki.<br />
Die Bolschewiki aber - das war das Volk.<br />
Die tragende politische Kraft <strong>der</strong> Oktoberumwälzung war das Proletariat, und in ihm<br />
nahmen den ersten Platz die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter ein. In <strong>der</strong> Avantgarde <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
wie<strong>der</strong>um stand <strong>der</strong> Wyborger Bezirk. Der Aufstandsplan erwählte diesen ausschlaggebenden<br />
proletarischen Bezirk zur Ausgangsbasis füt die Entwicklung des Angriffs.<br />
Versöhnler aller Schattierungen, beginnend mit Martow, versuchten schon nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung den Bolschewismus als eine Soldatenströmung hinzustellen. Die europäische<br />
Sozialdemokratie griff freudig diese Theorie auf. Dabei wurden die grundlegenden<br />
historischen Tatsachen ignoriert: daß das Proletariat als erstes auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
überging; daß die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter den Arbeitern des ganzen Landes den Weg<br />
wiesen; daß Garnison und Front viel länger Stützpunkt <strong>der</strong> Versöhnler blieben; daß<br />
Sozialrevolutionäre und Menschewiki im Sowjetsystem verschiedentliche Privilegien für<br />
die Soldaten zum Schaden <strong>der</strong> Arbeiter geschaffen, gegen die Bewaffnung <strong>der</strong> Arbeiter<br />
gekämpft und die Soldaten gegen sie gehetzt hatten; daß nur unter dem Einfluß <strong>der</strong><br />
Arbeiter ein Umschwung in den Truppen sich vollzog; daß die Führung <strong>der</strong> Soldaten im<br />
entscheidenden Augenblick in den Händen <strong>der</strong> Arbeiter lag; schließlich, daß ein Jahr<br />
später die Sozialdemokratie in Deutschland nach dem Beispiel ihrer <strong>russischen</strong> Gesinnungsgenossen<br />
sich im Kampfe gegen die Arbeiter auf die Soldaten stützte.<br />
Gegen Herbst hatten die rechten Versöhnler endgültig die Möglichkeit eingebüßt, in<br />
Fabriken und Kasernen aufzutreten. Die linken jedoch versuchten noch, die Massen vom<br />
Wahnsinn des Aufstandes zu überzeugen. Martow, <strong>der</strong> im Kampfe gegen die im Juli<br />
angreifende Konterrevolution einen Pfad zum Bewußtsein <strong>der</strong> Massen gefunden hatte,<br />
verrichtete jetzt wie<strong>der</strong>um eine hoffnungslose Sache. »Wir können nicht damit rechnen«,<br />
gestand er selbst am 14. Oktober in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees, »daß die<br />
Bolschewiki auf uns hören werden.« Nichtsdestoweniger erblickte er seine Pflicht darin,<br />
»die Massen zu warnen«. Die Massen aber verlangten nach Taten, nicht nach Belehrun-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 659
gen. Sogar in den Fällen, wo sie verhältnismäßig geduldig einen bekannten Warner<br />
anhörten, »dachten sie sich weiter das Ihre«, gesteht Mstislawski. Suchanow erzählt, wie<br />
er unter regnerischem Himmel die Putilower zu überzeugen versuchte, daß die Sache<br />
sich ohne Aufstand gutmachen lasse. Er wurde von ungeduldigen Stimmen unterbrochen.<br />
Zwei - drei Minuten hörte man zu, unterbrach dann wie<strong>der</strong>. »Nach einigen Versuchen<br />
gab ich die Sache auf. Es kam nichts dabei heraus ..., <strong>der</strong> Regen aber fiel immer stärker<br />
auf uns.« Unter dem unfreundlichen Oktoberhimmel sehen die armen linken Demokraten<br />
sogar in ihrer eigenen Schil<strong>der</strong>ung wie nasse Hühner aus.<br />
Beliebtes politisches Argument <strong>der</strong> "linken" Gegner <strong>der</strong> Umwälzung wurde, auch unter<br />
den Bolschewiki, <strong>der</strong> Hinweis auf das Fehlen des Kampfwillens in den unteren<br />
Schichten. »Die Stimmung <strong>der</strong> Werktätigen- und <strong>der</strong> Soldatenmassen«, schrieben<br />
Sinowjew und Kamenjew am 11. Oktober, »erinnert nicht einmal an die Stimmung vor<br />
dem 3' Juli.« Das hatte seine Gründe: unter dem Petrogra<strong>der</strong> Proletariat herrschte eine<br />
gewisse Nie<strong>der</strong>geschlagenheit infolge des zu langen Wartens. Es setzte eine Enttäuschung<br />
ein, auch an den Bolschewiki: sollten auch sie betrügen? Am 16. Oktober sagte<br />
Rachia, einer <strong>der</strong> aktivsten Petrogra<strong>der</strong> Bolschewiki, <strong>der</strong> Abstammung nach Finne, in <strong>der</strong><br />
Sitzung des Zentralkomitees: »Offensichtlich verspätet sich unsere Losung, denn es<br />
bestehen Zweifel, ob wir das tun werden, wozu wir aufrufen.« Doch die Müdigkeit vom<br />
Warten, die nach Erschlaffung aussah, währte nur bis zum ersten Kampfsignal.<br />
Die Aufgabe jedes Aufstandes besteht zunächst darin, auf seine Seite die Truppen<br />
herüberzuziehen. Dazu eben dienen hauptsächlich Generalstreik, Massenaufzüge,<br />
Straßenzusammenstöße, Bar-rikadenkämpfe. Die beson<strong>der</strong>e, nie und nirgends zuvor in<br />
solcher Vollendung beobachtete Eigenart <strong>der</strong> Oktoberumwälzung bildet die Tatsache,<br />
daß es <strong>der</strong> proletarischen Avantgarde infolge glücklicher Fügung <strong>der</strong> Umstände gelang,<br />
die Garnison <strong>der</strong> Hauptstadt noch vor Beginn des offenen Aufstandes auf ihre Seite<br />
hinüberzuziehen; und nicht nur hinüberzuziehen, son<strong>der</strong>n diesen Gewinn auch durch die<br />
Garnisonberatung organisatorisch zu verankern. Man kann die Mechanik <strong>der</strong><br />
Oktoberumwälzung nicht begreifen, ohne sich vollständig darüber klarzusein, daß die<br />
wichtigste, im voraus am schwierigsten zu berechnende Aufgabe des Aufstandes in<br />
Petrograd im Kern bereits vor dem Beginn des bewaffneten Kampfes gelöst war.<br />
Das heißt jedoch nicht, daß <strong>der</strong> Aufstand sich erübrigt hatte. Auf seiten <strong>der</strong> Arbeiter<br />
war zwar die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Garnison; eine Min<strong>der</strong>heit aber war gegen die<br />
Arbeiter, gegen die Umwälzung, gegen die Bolschewiki. Diese kleine Min<strong>der</strong>heit<br />
bestand aus den qualifiziertesten Elementen <strong>der</strong> Armee: Offizieren, Junkern, Stoßbrigadlern,<br />
vielleicht auch Kosaken. Politisch waren diese Elemente nicht zu erobern: man<br />
mußte sie besiegen. Der letzte Teil <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung, <strong>der</strong> in die <strong>Geschichte</strong><br />
eben unter dem Namen Oktoberaufstand eingegangen ist, hatte somit rein militärischen<br />
Charakter. Entscheiden mußten auf <strong>der</strong> letzten Etappe Gewehre, Bajonette, Maschinengewehre,<br />
vielleicht auch Kanonen. Auf diesen Weg führte die Partei <strong>der</strong> Bolschewiki.<br />
Welches waren die milit~ tischen Kräfte des bevorstehenden Zusammenstoßes? Boris<br />
Sokolow, <strong>der</strong> die militärische Arbeit <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei leitete, erzählt, daß<br />
in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Umwälzung vorangegangenen Periode »in den Regimentern alle Parteiorganisationen<br />
außer den bolschewistischen auseinan<strong>der</strong>fielen und die Bedingungen für Schaffung<br />
neuer Organisationen keinesfalls günstig waren. Die Stimmung <strong>der</strong> Soldaten war<br />
zwar ausgesprochen bolschewistisch, doch ihr Bolschewismus war passiv, und es fehlten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 660
ihnen alle Tendenzen zur aktiven bewaffneten Erhebung.« Sokolow versäumt nicht<br />
hinzuzufügen: »Ein bis zwei zuverlässige und kampffähige Regimenter hätten genügt, um<br />
die ganze Garnison in Gehorsam zu halten.« Durchwegs allen, von den monarchistischen<br />
Generalen bis zu den "sozialistischen" Intellektuellen, fehlten gegen die proletarische<br />
<strong>Revolution</strong> »ein bis zwei Regimenter«. Aber es ist richtig, daß die Garnison, in ihrer<br />
überwältigenden Masse <strong>der</strong> Regierung tief kindlich, auch auf seiten <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
nicht kampffähig gewesen wäre. Der Grund lag in <strong>der</strong> unüberbrückbaren Kluft zwischen<br />
<strong>der</strong> alten Militärstruktur <strong>der</strong> Truppenteile und ihrer neuen politischen Struktur. Rückgrat<br />
einer kampffähigen Truppe bildet <strong>der</strong> Kommandobestand. Dieser war gegen die Bolschewiki.<br />
Das politische Rückgrat <strong>der</strong> Truppenteile stellten die Bolschewiki dar. Sie aber<br />
vermochten nicht nur nicht das Kommando auszuüben, sie wußten in <strong>der</strong> Mehrzahl auch<br />
schlecht mit <strong>der</strong> Waffe umzugehen. Die Soldatenmasse war nicht einheitlich. Die<br />
aktiven, kampffähigen Elemente bildeten, wie immer, die Min<strong>der</strong>heit. Die Mehrheit <strong>der</strong><br />
Soldaten sympathisierte mit den Bolschewiki, stimmte für sie, wählte sie, erwartete aber<br />
von ihnen auch die Lösung. Den Bolschewiki feindliche Elemente waren in den<br />
Truppenteilen zu verschwindend gering, um irgendeine Initiative zu wagen. Die politische<br />
Verfassung <strong>der</strong> Garnison war somit für den Aufstand außerordentlich günstig. Aber<br />
das Gewicht ihres Kampfgeistes war nicht groß, das war von vornherein sichtbar.<br />
Doch die Garnison völlig von <strong>der</strong> Kampfwaage hinunterzuwerfen, war keineswegs<br />
notwendig. Tausende von Soldaten, bereit, auf seiten <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu kämpfen, waren<br />
zerstreut unter <strong>der</strong> passiveren Masse, die sie gerade deshalb mehr o<strong>der</strong> weniger mitzogen.<br />
Einzelne Truppenteile von glücklicherer Zusammensetzung bewahrten Disziplin und<br />
Kampffähigkeit. Man traf feste revolutionäre Kerne auch in gelockerten Regimentern. Im<br />
6. Reservebataillon mit einer Gesamtzahl von etwa zehntausend Mann zeichnete sich<br />
unter den fünf Kompanien die erste stets aus, galt fast von Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> an als<br />
bolschewistisch und zeigte sich in den Oktobertagen auf <strong>der</strong> Höhe. Die Durchschnittsregimenter<br />
<strong>der</strong> Garnison existierten als geschlossene Regimenter zwar nicht, ihr Verwaltungsmechanismus<br />
war desorganisiert: sie waren zu einer andauernden<br />
Kampfanstrengung unfähig; doch waren dies immerhin Anhäufungen bewaffneter<br />
Menschen, von denen die Mehrzahl bereits im Feuer gewesen. Alle Truppen verband<br />
eine gemeinsame Stimmung: so schnell wie möglich Kerenski stürzen, heimkehren und<br />
eine neue Bodenordnung einführen. So mußte die völlig in Auflösung befindliche Garnison<br />
in den Oktobertagen sich noch einmal zusammenschließen und eindrucksvoll mit den<br />
Waffen rasseln, ehe sie endgültig auseinan<strong>der</strong>stob.<br />
Welche Macht stellten, vom militärischen Standpunkte gesehen, die Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter<br />
dar? Das ist die Frage nach <strong>der</strong> Roten Garde. Es ist nun an <strong>der</strong> Zeit, Ausführlicheres<br />
über sie zu sagen: ihr steht bevor, in den nächsten Tagen in die große historische Arena<br />
zu treten.<br />
Mit ihren Traditionen in das Jahr 1905 zurückreichend, erlebte die Arbeitergarde ihre<br />
Wie<strong>der</strong>geburt zusammen mit <strong>der</strong> Februar-revolution und teilte in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong>en Schicksalswandlungen.<br />
Komilow, <strong>der</strong> damalige Oberbefehishaber des Petrogra<strong>der</strong> Miiitärbezirkes,<br />
behauptete, es seien in den Tagen des Sturzes <strong>der</strong> Monarchie aus den Artillerielagern<br />
dreißigtausend Revolver und vierzigtausend Gewehre weggeschwommen. Eine große<br />
Anzahl von Waffen geriet überdies in die Hände des Volkes bei Entwaffnung <strong>der</strong> Polizei<br />
durch befreundete Regimenter. Der Auffor<strong>der</strong>ung, die Waffen abzuliefern, kam niemand<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 661
nach. Die <strong>Revolution</strong> lehrt die Flinte schätzen. Den organisierten Arbeitern fiel jedoch<br />
nur ein ganz geringer Teil dieses Gutes anheim.<br />
In den ersten vier Monaten stand die Frage des Aufstandes über-haupt nicht vor den<br />
Arbeitern. Das demokratische Regime <strong>der</strong> Doppelherrschaft gab den Bolschewiki die<br />
Möglichkeit, in den Sowjets die Mehrheit zu erobern. Bewaffnete Arbeitermannschaften<br />
bildeten einen Bestandteil <strong>der</strong> demokratischen Miliz. Aber es war doch mehr Form als<br />
Inhalt. Die Flinte in <strong>der</strong> Hand des Arbeiters bedeutete ein ganz an<strong>der</strong>es historisches<br />
Prinzip als die gleiche Flinte in <strong>der</strong> Hand des Studenten.<br />
Daß die Arbeiter im Besitze von Waffen waren, beunruhigte die besitzenden Klassen<br />
von Anfang an, da dies das Kräfteverhältnis in den Betrieben zusehends verschob. In<br />
Petrograd, wo <strong>der</strong> Staatsapparat, unterstützt vom Zentral-Exekutivkomitee, anfangs eine<br />
unbestrittene Macht darstellte, war die Arbeitermiliz noch nicht so bedrohlich fühlbar. In<br />
den Industriebezirken <strong>der</strong> Provinz jedoch bedeutete die Festigung <strong>der</strong> Arbeitergarde eine<br />
Umwälzung aller Verhältnisse nicht nur innerhalb des Unternehmens, son<strong>der</strong>n auch in<br />
seiner weiteren Umgebung. Bewaffnete Arbeiter setzten Meister und Ingenieure ab,<br />
nahmen sogar Verhaftungen vor. Auf Beschluß von Fabrikversammlungen wurde den<br />
Rotgardisten nicht selten aus den Betriebskassen Löhnung gezahlt. Im Ural, mit seinen<br />
reichen Traditionen des Partisanenkampfes aus dem Jahre 1905, führten die Mannschaften<br />
unter Leitung <strong>der</strong> alten Kämpfer Ordnung ein. Bewaffnete Arbeiter liquidierten fast<br />
unbemerkt die offizielle Macht und ersetzten sie durch Organe <strong>der</strong> Sowjets. Durch die<br />
Sabotage seitens <strong>der</strong> Besitzer und Administratoren fiel den Arbeitern <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong><br />
Betriebe zu; <strong>der</strong> Maschinen, Lager, Kohle- und Rohstoffvorräte. Die Rollen hatten<br />
gewechselt. Der Arbeiter hielt fest das Gewehr in <strong>der</strong> Hand zur Verteidigung <strong>der</strong> Fabrik,<br />
in <strong>der</strong> er die Quelle seiner Macht sah. So bildeten sich in Betrieben und Bezirken<br />
Elemente <strong>der</strong> Arbeiterdiktatur heraus, bevor noch das Proletariat in seiner Gesamtheit die<br />
Macht im Staate erobert hatte.<br />
Wie stets die Ängste <strong>der</strong> Besitzenden wi<strong>der</strong>spiegelnd, wirkten die Versöhnler mit aller<br />
Kraft <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung in den Hauptstädten entgegen und reduzierten sie auf ein<br />
Minimum. Nach Minitschjew bestanden die gesamten Waffen des Narwaer Bezirkes<br />
»aus etwa fünfzehn Gewehren und einigen Revolvern«. In <strong>der</strong> Stadt häuften sich unterdessen<br />
Gewaltakte und Plün<strong>der</strong>ungen. Von überall trafen beunruhigende Gerüchte ein,<br />
Vorboten neuer Erschütterungen. Am Vorabend <strong>der</strong> Julidemonstration hatte man<br />
erwartet, daß <strong>der</strong> Bezirk in Brand gesteckt werden würde. Die Arbeiter suchten nach<br />
Waffen, klopften an alle Türen, brachen sie zuweilen auch auf.<br />
Von <strong>der</strong> Demonstration des 3. Juli hatten die Putilower eine Trophäe herangeschleppt:<br />
ein Maschinengewehr und fünf Kisten Munitionsgürtel. »Wir freuten uns wie Kin<strong>der</strong>«,<br />
erzählt Minitschjew. Einzelne Betriebe waren besser bewaffnet. Nach Litschkows<br />
Worten waren die Arbeiter seiner Fabrik im Besitze von achtzig Gewehren und zwanzig<br />
großen Revolvern. Das war schon ein Reichtum! Durch den Stab <strong>der</strong> Roten Garde erhielten<br />
sie zwei Maschinengewehre; das eine wurde im Speiseraum, das an<strong>der</strong>e auf dem<br />
Dach aufgestellt. »Unser Vorgesetzter«, erzählt Litsehkow, »war Kotscherowski, seine<br />
nächsten Gehilfen - Tomtschak, von den Weißgardisten in den Oktobertagen bei Zarskoje<br />
Selo ermordet, und Jefimow, von den weißen Banden bei Jamburg erschossen.« Die<br />
knappen Zeilen gewähren einen Blick in die Fabrik-laboratorien, wo die Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Oktoberumwälzung und <strong>der</strong> späteren Roten Armee sieh formierten, ausgewählt wurden,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 662
Kommandoführung lernten, wo die Tomtschak und Jefimow, die Hun<strong>der</strong>te und Tausende<br />
namenloser Arbeiter gestählt wurden, die die Macht eroberten, sie unter Selbstaufopferung<br />
gegen die Feinde verteidigten und später auf allen Schlachtfel<strong>der</strong>n fielen.<br />
Die Juliereignisse verän<strong>der</strong>ten jäh die Lage <strong>der</strong> Roten Garde. Die Entwaffnung <strong>der</strong><br />
Arbeiter geschieht bereits vollkommen offen, nicht mehr durch Ermahnungen, son<strong>der</strong>n<br />
mit Gewaltanwendung. Unter dem Schein <strong>der</strong> Waffen liefern jedoch die Arbeiter nur den<br />
alten Kram aus. Alles Wertvollere wird sorgfältigst versteckt. Gewehre werden zuverlässigen<br />
Parteimitglie<strong>der</strong>n anvertraut. Maschinengewehre eingefettet in die Erde vergraben.<br />
Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde verschwinden und tauchen in Illegalität unter, sich enger<br />
den Bolschewiki anschließend.<br />
Die Sache <strong>der</strong> Arbeiterbewaffnung konzentrierte sich ursprünglich in den Händen von<br />
Fabrik- und Bezirkskomitees <strong>der</strong> Partei. Nachdem sie sich von <strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung<br />
erholt hat, geht die Militärische Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki, die früher nur in <strong>der</strong><br />
Garnison und an <strong>der</strong> Front gearbeitet hatte, zum ersten Male an den Aufbau <strong>der</strong> Roten<br />
Garde, indem sie den Arbeitern militärische Instruktoren und in einigen Fällen auch<br />
Waffen liefert. Die von <strong>der</strong> Partei aufgestellte Perspektive des bewaffneten Aufstandes<br />
bereitet allmählich die fortgeschrittenen Arbeiter auf die neue Bestimmung <strong>der</strong> Roten<br />
Garde vor. Das ist bereits keine Miliz <strong>der</strong> Fabriken und Arbeiterviertel, son<strong>der</strong>n es sind<br />
Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong> zukünftigen Aufstandsarmee.<br />
Im August häufen sich Brände in Fabriken und Werkstätten. Je<strong>der</strong> heranrückenden<br />
Krise geht eine Konvulsion des Kollektiv-bewußtseins voraus, die sich durch eine Welle<br />
<strong>der</strong> Beunruhigung ankündigt. Die Fabrikkomitees entwickeln eine intensive Tätigkeit<br />
zum Schutze <strong>der</strong> Betriebe gegen Attentate. Die versteckten Gewehre kommen wie<strong>der</strong><br />
hervor. Der Kornilowaufstand legalisiert endgültig die Rote Garde. In die Mannschaftslisten<br />
tragen sich etwa fünfundzwanzigtausend Arbeiter ein, die freilich nicht durchwegs -<br />
mit Gewehren, teils mit Maschinengewehren ausgerüstet werden können. Die Arbeiter<br />
<strong>der</strong> Schlüsselburger Pulverfabrik liefern über die Newa einen Schleppkahn voll Granaten<br />
und Explosivstoffe: gegen Kornilow! Das Versöhnler-Zentral-Exekutivkomitee verzichtet<br />
auf das Danaergeschenk. Die Rotgardisten <strong>der</strong> Wyborger Seite belieferten in <strong>der</strong><br />
Nacht die Bezirke mit den gefährlichen Gaben.<br />
»Der Unterricht in <strong>der</strong> Kunst des Waffengebrauchs, früher in Wohnungen und<br />
Kämmerchen ausgeübt«, erzählt <strong>der</strong> Arbeiter Skorinko, »wurde ins Helle und Freie, in<br />
Gärten, in Boulevards verlegt.« - »Die Werkstatt verwandelte sich in ein Lager«, erinnert<br />
sich <strong>der</strong> Arbeiter Rakitow. »... Hinter den Werkbänken stehen Dreher, über die Schulter<br />
die Patronentasche, das Gewehr an <strong>der</strong> Werkbank.« In <strong>der</strong> Granatenwerkstatt schreiben<br />
sich bald alle in die Garde ein, außer den alten Sozialrevolutionären und Menschewiki.<br />
Nach Arbeitsschluß stellen sie sich im Hof zum Unterricht auf »Es stehen nebeneinan<strong>der</strong><br />
bärtiger Arbeiter und Lehrling, und beide lauschen aufrnerksam auf den Instruktor ...«<br />
Während die alten zaristischen Heere endgültig auseinan<strong>der</strong>fielen, wurde in den Fabriken<br />
das Fundament <strong>der</strong> späteren Roten Armee gelegt.<br />
Sobald die Kornilowgefahr vorbei war, begannen die Versöhnler die Erfüllung ihrer<br />
Verpflichtungen zu bremsen: für die dreißigtausend Putilower wurden insgesamt<br />
dreihun<strong>der</strong>t Gewehre ausgegeben. Bald wurde die Waffenausgabe überhaupt eingestellt:<br />
die Gefahr rückte jetzt nicht von rechts heran, son<strong>der</strong>n von links; man mußte nun Schutz<br />
suchen nicht bei den Proletariern, son<strong>der</strong>n bei den Junkern.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 663
Fehlen eines unmittelbaren praktischen Zieles und Mangel an Waffen brachten ein<br />
Abfluten <strong>der</strong> Arbeiter von <strong>der</strong> Roten Garde. Doch war dies nur eine kurze Atempause.<br />
Kernka<strong>der</strong> haben sich unterdessen in jedem Betrieb zusammengeschlossen. Zwischen<br />
den einzelnen Mannschaften bildeten sich feste Verbindungen heraus. Die Ka<strong>der</strong> wissen<br />
aus Erfahrung, daß sie ernsthafte Reserven besitzen, die in <strong>der</strong> Stunde <strong>der</strong> Gefahr auf die<br />
Beine gebracht werden können.<br />
Der Übergang des Sowjets in die Hände <strong>der</strong> Bolschewiki verän<strong>der</strong>t radikal die Lage<br />
<strong>der</strong> Roten Garde. Bisher gehetzt und geduldet, wird sie offizielles Organ des Sowjets, <strong>der</strong><br />
bereits die Hand nach <strong>der</strong> Macht ausstreckt. Die Arbeiter finden nicht selten selbst den<br />
Weg zu den Waffen und verlangen vom Sowjet nur noch dessen Sanktion. Seit Ende<br />
September, beson<strong>der</strong>s seit dem 10. Oktober, steht die Vorbereitung des Aufstandes offen<br />
auf <strong>der</strong> Tagesordnung. Einen Monat vor <strong>der</strong> Umwälzung finden in einigen Dutzend<br />
Fabriken und Werkstätten Petrograds intensive militärische Übungen statt, hauptsächlich<br />
Schießunterricht. Um die Oktobermitte erklimmt das Interesse für die Waffen eine neue<br />
Höhe. In einigen Betrieben tragen sich fast alle in die Mannschaftsliste ein. Immer<br />
ungeduldiger verlangen die Arbeiter vom Sowjet Waffen, doch gibt es viel weniger<br />
Flinten, als Hände sich danach ausstrecken. »Ich kam täglich in den Smolny«, erzählt <strong>der</strong><br />
ingenieur Kosmin, »und beobachtete, wie vor und nach <strong>der</strong> Sowjet-sitzung Arbeiter und<br />
Matrosen an Trotzki herantraten, Waffen zur Ausrüstung <strong>der</strong> Arbeiter anbietend o<strong>der</strong><br />
for<strong>der</strong>nd, berichterstattend, wo und wie diese Waffen verteilt sind, und fragend: "Wann<br />
geht's nun los?" Die Ungeduld war groß ...«<br />
Formell bleibt die Rote Garde parteilos. Doch je näher zur Entscheidung, um so mehr<br />
rücken in den Vor<strong>der</strong>grund Bolschewiki: sie bilden den Kern je<strong>der</strong> Mannschaft, in ihren<br />
Händen liegen Kommandoapparat und Verbindung mit den an<strong>der</strong>en Betrieben und Bezirken.<br />
Parteilose Arbeiter und linke Sozialrevolutionäre gehen mit den Bolschewiki.<br />
Jedoch auch jetzt, am Vorabend des Aufstandes, sind die Reihen <strong>der</strong> Garde nicht<br />
zahlreich. Am 16. schätzte Uritzki, Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees, das<br />
Arbeiterheer Petrograds auf vierzigtausend Bajonette. Die Zahl ist eher übertrieben. Die<br />
Hilfsquellen <strong>der</strong> Bewaffnung blieben noch immer sehr beschränkt: bei aller Ohnmacht<br />
<strong>der</strong> Regierung konnte man nicht an<strong>der</strong>s in den Besitz <strong>der</strong> Arsenale gelangen als auf dem<br />
Wege des offenen Aufstandes.<br />
Am 22. tagte eine Stadtkonferenz <strong>der</strong> Roten Garde: hun<strong>der</strong>t Delegierte vertraten etwa<br />
zwanzigtausend Kämpfer. Die Zahl darf man nicht zu buchstäblich nehmen: nicht alle<br />
Eingetragenen entwickelten Aktivität; dafür aber ergoß sich in die Abteilungen in<br />
Augenblicken des Alarms ein breiter Strom Freiwilliger. Die am nächsten Tag von <strong>der</strong><br />
Konferenz angenommenen Statuten bezeichnen die Rote Garde als »Organisation <strong>der</strong><br />
bewaffneten Kräfte des Proletariats zum Kampfe gegen die Konterrevolution und zur<br />
Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>serrungenschaften«. Man beachte dies: noch vierundzwanzig<br />
Stunden vor dem Aufstande wird die Aufgabe in den Termini <strong>der</strong> Verteidigung, nicht<br />
aber des Angriffs ausgedrückt.<br />
Grundkampfeinheit ist die Zehnergruppe; vier Zehnergruppen sind ein Zug; drei Züge<br />
eine Mannschaft; drei Mannschaften - ein Bataillon. Mit dem Kommandobestand und<br />
den Fachgruppen zählt ein Bataillon über fünfhun<strong>der</strong>t Mann. Die Bataillone eines<br />
Bezirks bilden eine Abteilung. In großen Fabrlken, wie im Putilowwerk, werden eigene<br />
Abteilungen aufgestellt. Technische Son<strong>der</strong>kommandos (Minenwerfer, Radfahrer,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 664
Telegraphisten, Maschinengewehrschützen, Artilleristen) werden in den entsprechenden<br />
Betrieben angeworben und entwe<strong>der</strong> den Schützenabteilungen zugeteilt, o<strong>der</strong> sie operieren<br />
selbständig, je nach dem Charakter <strong>der</strong> Aufgabe. Der gesamte Kommandobestand ist<br />
wählbar. Dies bildet keine Gefahr: hier sind alle Freiwillige, und alle kennen einan<strong>der</strong><br />
gut.<br />
Die Arbeiterinnen gründen Sanitätsabteilungen. In <strong>der</strong> Fabrik kriegsmedininischer<br />
Bedarfsartikel werden Vorlesungen über Verwundetenpflege angekündigt. »Fast schon<br />
in allen Fabriken«, schreibt Tatjana Graf, »tun Arbeiterinnen, mit dem notwendigen<br />
Verbandstoff versehen, als Sanitäterinnen Wachtdienst.« Die Organisation ist äußerst<br />
arm an Geld und technischen Mitteln. Nach und nach beginnen die Fabrikkomitees für<br />
die Sanitätspunkte und die fliegenden Abteilungen Material zu schicken. In den Stunden<br />
<strong>der</strong> Umwälzung werden sich die schwachen Zellen sehr schnell entwickeln: sie erhalten<br />
sofort bedeutende technische Mittel zur Verfügung gestellt. Am 24. wird <strong>der</strong> Wyborger<br />
Bezirkssowjet anordnen: »Unverzüglich alle Automobile requirieren ... eine Bestandaufnahme<br />
aller ambulatorischen Verbandsmittel durchführen und in den Ambulatorien<br />
Wachen errichten.«<br />
Immer mehr parteilose Arbeiter strömten zu Schießübungen und Manövern. Die Zahl<br />
<strong>der</strong> Überwachungsposten wuchs. In den Fabriken hielt man Tag und Nacht Wache. Die<br />
Stäbe <strong>der</strong> Roten Garde übersiedelten in größere Räume. In <strong>der</strong> Trubotschny<br />
(Röhren)-Fabrlk fand am 23. ein Examen <strong>der</strong> Rotgardisten statt. Der Versuch eines<br />
Menschewiken, gegen die Erhebung zu sprechen, geht im Entrüstungssturm unter:<br />
genug, die Zeit des Diskutierens ist vorbei! Die Bewegung ist unaufhaltsam, sie reißt<br />
auch Menschewiki mit. Sie »tragen sich bei <strong>der</strong> Roten Garde ein«, erzählt Tatjana Graf<br />
»übernehmen die verschiedensten Aufträge und entwickeln sogar Initiative«. Skorinko<br />
schil<strong>der</strong>t, wie sich am 23. in einer Abteilung Sozialrevolutionäre und Menschewiki,<br />
junge wie alte, mit den Bolschewiki verbrü<strong>der</strong>ten und wie er, Skorinko selbst, sich vor<br />
Freude mit seinem Vater, einem Arbeiter <strong>der</strong> gleichen Fabrik, umarmte. Der Arbeiter<br />
Peskowoj erzählt: in <strong>der</strong> bewaffneten Abteilung »waren jugendliche Arbeiter, etwa<br />
sechzehnjährige, und alte, etwa fünftigjährige«. Die Buntheit <strong>der</strong> Lebensalter verlieh<br />
»Mut und Kampfgeist«.<br />
Die Wyborger Seite bereitet sich beson<strong>der</strong>s eifrig auf die Kämpfe vor. Man bemächtigt<br />
sich <strong>der</strong> Schlüssel zu den beweglichen Brücken, die auf die Wyborger Seite führen,<br />
erforscht die schwachen Stellen des Bezirkes, wählt ein eigenes militärisches <strong>Revolution</strong>skomitee,<br />
die Betriebskomitees errichten einen ständigen Wachtdienst. Mit berechtigtern<br />
Stolz schreibt Kajurow über die Wyborger: »Sind als erste in den Kampf gegen das<br />
Selbstherrschertum gegangen, haben als erste in ihrem Bezirk den Achtstundent4 eingeführt,<br />
als erste gegen die zehn Minister-Kapitalisten bewaffnet demonstriert, als erste am<br />
7. Juli einen Protest gegen die Verfolgung unserer Partei angenommen und waren nicht<br />
die letzten am entscheidenden Tage des 25. Oktober.« Was wahr ist, ist wahr!<br />
Die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Roten Garde ist zum großen Teil die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Doppelherrschaft:<br />
durch ihre inneren Wi<strong>der</strong>sprüche und Zusammenstöße hat diese es den Arbeitern<br />
erleichtert, schon vor dem Aufstande eine beachtenswerte bewaffnete Macht zu schaffen.<br />
Die Gesamtzahl <strong>der</strong> Arbeiterabteilungen des ganzen Landes im Augenblick des Aufstandes<br />
zu berechnen - ist eine kaum durchführbare Aufgabe, wenigstens im gegenwärtigen<br />
Moment. Jedenfalls waren es Zehntausend und aber Zehntausend bewaffneter Arbeiter,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 665
die die Ka<strong>der</strong> des Aufstandes bildeten. Die Reserven waren fast unerschöpflich.<br />
Die Organisation <strong>der</strong> Roten Garde war natürlich von Vollkommenheit weit entfernt.<br />
Alles wurde in Hast, im rohen, nicht immer geschickt gemacht. Die Rotgardisten waren<br />
in <strong>der</strong> Mehrzahl wenig ausgebildet, <strong>der</strong> Verbindungsdienst ungenügend organisiert, die<br />
Ausrüstung hinkte, <strong>der</strong> Sanitätsanteil ließ vieles zu wünschen übrig. Doch zusammengesetzt<br />
aus den opfermütigsten Arbeitern, brannte die Rote Garde im Verlangen, diesmal<br />
den Kampf zu Ende zu führen. Das hat auch den Ausschlag gegeben.<br />
Der Unterschied zwischen den Arbeiterabteilungen und den Bauernregimentern war<br />
nicht allein durch den sozialen Bestand <strong>der</strong> einen und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en bestimmt. Viele dieser<br />
schwerfälligen Soldaten werden, nachdem sie in ihre Dörfer zurückgekehrt sind und das<br />
gutsherrliche Land untereinan<strong>der</strong> verteilt haben, zuerst in Partisanenabteilungen, dann in<br />
<strong>der</strong> Roten Armee verzweifelt gegen die Weißgardisten kämpfen. Neben dem sozialen<br />
Unterschied besteht ein an<strong>der</strong>er, unmittelbarerer: während die Garnison eine zwangsweise<br />
Anhäufung alter, gegen den Krieg sich wehren<strong>der</strong> Soldaten ist, sind die Abteilungen<br />
<strong>der</strong> Roten Garde neue Gebilde, geschaffen durch persönliche Auswahl, auf neuer<br />
Basis, im Namen neuer Ziele.<br />
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee verfügt noch über eine dritte Gattung bewaffneter<br />
Kräfte: die Seeleute <strong>der</strong> Baltischen Flotte. Nach ihrer sozialen Zusammensetzung<br />
stehen sie den Arbeitern näher als die Infanterie. Unter ihnen sind nicht wenige Petrogra<strong>der</strong><br />
Arbeiter. Das politische Niveau <strong>der</strong> Seeleute ist unvergleichlich höher als das <strong>der</strong><br />
Soldaten. Zum Unterschiede von den unkriegerischen Reservisten, denen das Gewehr<br />
etwas längst Vergessenes war, hatten die Seeleute den aktiven Dienst nie unterbrochen.<br />
Für aktive Operationen konnte man fest rechnen mit den bewaffneten Kommunisten,<br />
den Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde, dem fortgeschrittenen Teil <strong>der</strong> Matrosen und den<br />
intakt gebliebenen Regimentern. Die Elemente dieser kombinierten Armee ergänzten<br />
einan<strong>der</strong>. Der zahlreichen Garnison fehlte es am Willen zum Kampfe. Den Matrosenabteilungen<br />
an Zahlenstärke. Der Roten Garde an Übung. Die Arbeiter zusammen mit den<br />
Seeleuten brachten Energie, Kühnheit, Schwung hinein. Die Regimenter <strong>der</strong> Garnison<br />
bildeten eine wenig bewegliche Reserve, die durch Zahl imponierte und durch Masse<br />
erdrückte.<br />
Tagein, tagaus mit den Arbeitern, Soldaten und Matrosen in Berührung kommend,<br />
legten sich die Bolschewiki klar Rechenschaft ab über die tiefen qualitativen Unterschiede<br />
in den Bestandteilen jener Armee, die in den Kampf zu führen ihnen bevorstand.<br />
Auf <strong>der</strong> Berechnung dieser Unterschiede baute sich auch in hohem Maße <strong>der</strong><br />
Aufstandsplan auf.<br />
Die soziale Kraft des an<strong>der</strong>en Lagers bildeten die besitzenden Klassen. Das heißt sie<br />
bildeten seine militärische Schwäche. Die soliden Männer des Kapitals, <strong>der</strong> Presse, des<br />
Kathe<strong>der</strong>s, wo und wann hatten sie gekämpft? Die Resultate <strong>der</strong> Kämpfe, die ihr Schicksal<br />
entschieden, waren sie gewohnt telephonisch o<strong>der</strong> telegraphisch zu erfahren. Und die<br />
jüngere Generation, Söhne, Studenten? Sie waren fast durchwegs <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
feind. Doch in ihrer Mehrzahl warteten sie, gemeinsam mit den Vätern, beiseitestehend<br />
den Ausgang <strong>der</strong> Kämpfe ab. Ein Teil schloß sich später den Offizieren und<br />
Junkem an, die sich auch früher im hohen Maße aus <strong>der</strong> Studentenschaft rekrutiert<br />
hatten. Volk stand hinter den Besitzenden nicht. Arbeiter, Soldaten, Bauern kehrten sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 666
gegen sie. Der Zusammenbruch <strong>der</strong> Versöhnlerparteien bedeutete, daß die besitzenden<br />
Klassen ohne Armee geblieben waren.<br />
Entsprechend <strong>der</strong> hohen Bedeutung <strong>der</strong> Eisenbahnschienen im Leben mo<strong>der</strong>ner Staaten<br />
nahm in den politischen Berechnungen bei<strong>der</strong> Lager einen großen Platz die Frage <strong>der</strong><br />
Eisenbahner ein. Die hierarchische Zusammensetzung des Dienstpersonals gab einer<br />
außerordentlichen politischen Buntheit Raum und schuf somit günstige Bedingungen für<br />
die Diplomaten des Versöhnlertums. Die spät entstandene Eisenbahner-Gewerkschaft<br />
(Wikschel) hatte unter den Angestellten und sogar unter den Arbeitern viel festere<br />
Wurzeln als zum Beispiel die Armeekomitees an <strong>der</strong> Front. Mit den Bolschewiki ging<br />
nur eine Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Eisenbahner, hauptsächlich die Depot- und Werkstättenarbeiter.<br />
Nach dem Bericht von Schmidt, einem <strong>der</strong> bolschewistischen Führer <strong>der</strong> Gewerkschaftsbewegung,<br />
standen <strong>der</strong> Partei am nächsten die Eisenbahner <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> und<br />
Moskauer Knotenpunkte.<br />
Aber auch unter <strong>der</strong> versöhnlerisehen Masse <strong>der</strong> Angestellten und Arbeiter vollzog<br />
sich eine schroffe Wendung nach links mit dem Augenblick des Eisenbahnerstreiks Ende<br />
September. Die Unzufriedenheit mit dem Wikschel, <strong>der</strong> sich durch Lavieren kompromittiert<br />
hatte, wuchs von unten immer entschiedener an. Lenin vermerkte: »Die Armeen <strong>der</strong><br />
Eisenbahn- und Postangestellten verharren in scharfem Konflikt mit <strong>der</strong> Regierung.«<br />
Vom Standpunkte <strong>der</strong> unmittelbaren Aufgaben des Aufstandes genügte dies beinahe.<br />
Weniger günstig verhielt sich die Sache im Post- und Telegraphenamt. Nach den<br />
Worten des Bolschewiken Bokij »sitzen an den Telegraphenapparaten meist Kadetten«.<br />
Doch das untere Personal stellte sich auch hier in feindlichen Gegensatz zu den<br />
Oberschichten. Unter den Briefträgern bestand eine Gruppe, bereit, im heißen Augenblick<br />
das Amt zu besetzen.<br />
Alle Eisenbahn- und Postangestellten durch Worte umzustimmen, wäre jedenfalls ein<br />
hoffnungsloses Unternehmen gewesen. Bei Unentschlossenheit <strong>der</strong> Bolschewiki würden<br />
das Übergewicht die Kadetten- und Versöhnlerspitzen behalten haben. Bei entschlossener<br />
revolutionärer Führung mußten die unteren Schichten die Zwischengruppen unweigerlich<br />
mitreißen und die Spitze des Wikschel isolieren. Für revolutionäre Berechnungen<br />
genügt die Statistik allein nicht: es ist <strong>der</strong> Koeffizient <strong>der</strong> lebendigen Tat erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Die Gegner des Aufstandes in den Reihen <strong>der</strong> bolschewistischen Partei selbst fanden<br />
immerhin Grund genug für pessimistische Schlußfolgerungen. Sinowjew und Kamenjew<br />
warnten vor Ünterschätzung <strong>der</strong> gegnerischen Kräfte. »Es entscheidet Petrograd, in<br />
Petrograd aber besitzen die Feinde ... bedeutende Kräfte: fünftausend Junker, vorzüglich<br />
bewaffnet und im Schlagen geübt, dann <strong>der</strong> Stab, dann die Stoßbrigadler, dann die<br />
Kosaken, dann ein bedeuten<strong>der</strong> Teil <strong>der</strong> Garnison, dann eine sehr beträchtliche, fächerartig<br />
um Petrograd gruppierte Artillerie. Ferner werden die Gegner bestimmt versuchen,<br />
mit Hilfe des Zentral-Exekutivkomitees Truppen von <strong>der</strong> Front heranzubringen ...« Die<br />
Aufzählung klingt imposant, es ist aber nur eine Aufzählung. Ist die Armee als Ganzes<br />
ein Abbild <strong>der</strong> Gesellschaft, so stellen, tritt <strong>der</strong> Fall ihrer offenen Spaltung ein, beide<br />
Armeen Abbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> kämpfenden Lager dar. Die Armee <strong>der</strong> besitzenden Klasse trug in<br />
sich den Wurmstich <strong>der</strong> Isoliertheit und des Zerfalls.<br />
Die Offiziere, die die Hotels, Restaurants und Spelunken überschwemmten, standen<br />
nach dem Bruch zwischen Kerenski und Kornilow zu <strong>der</strong> Regierung feindlich. Unermeß-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 667
lich schärfer war allerdings ihr Haß gegen die Bolschewiki. Im allgemeinen zeigten die<br />
größte Aktivität auf seiten <strong>der</strong> Regierung die monarchistischen Offiziere. »Teuerste<br />
Kornilow und Krymow, was euch nicht gelang, wird mit Gottes Hilfe vielleicht uns gelingen<br />
...«, ist das Gebet des Offiziers Sinegub, eines <strong>der</strong> ruhmreichsten Verteidiger des<br />
Winterpalais am Tage <strong>der</strong> Umwälzung. Tatsächliche Kampfbereitschaft aber haben, trotz<br />
<strong>der</strong> zahlenmäßigen Stärke des Offizierkorps, nur einzelne bewiesen. Schon die Kornilowsche<br />
Verschwörung hatte offenbart, daß das restlos demoralisierte Offizierkorps<br />
keinerlei Kampfmacht darstellte.<br />
Die soziale Zusammensetzung <strong>der</strong> Junker ist nicht einheitlich. Einmütigkeit gibt es<br />
unter ihnen nicht. Neben den erblichen Militärs, Offizierssöhnen und -enkeln, sind da<br />
nicht wenig zufällige Elemente, zusammengebracht unter dem Druck <strong>der</strong> Kriegsbedürfnisse<br />
noch zur Zeit <strong>der</strong> Monarchie. Der Leiter <strong>der</strong> militärischen Ingenieurschule sagt zum<br />
Offizier: »Ich und du müssen zugrunde gehen ... wir sind doch Adelige und können nicht<br />
an<strong>der</strong>s denken.« Von den demokratischen Junkern reden diese großsprecherischen<br />
Herren, die dem adeligen Zugrundegehen mit Erfolg auszuweichen wußten, wie von<br />
Knoten, Muschiks »mit groben, stumpfen Gesichtern«. Die Scheidung in rotes und<br />
blaues Blut dringt tief in die Junkerschulen ein, wobei auch hier als eifrigste Hüter <strong>der</strong><br />
republikanischen Regierung gerade jene auf-treten, die die Monarchie am stärksten<br />
betrauern. Die demokratischen Junker erklären, sie seien nicht für Kerenski, son<strong>der</strong>n für<br />
das Zentral-Exekutivkomitee. Die <strong>Revolution</strong> hatte zum ersten Male die Türen <strong>der</strong><br />
Junkerschulen den Juden geöffnet. Bemüht, den privilegierten Spitzen nicht nachzustehen,<br />
benehmen sich die Söhnchen <strong>der</strong> jüdischen Bourgeoisie äußerst kriegerisch gegen<br />
die Bolschewiki. Aber ach, das genügt nicht nur nicht für die Rettung des Regimes,<br />
son<strong>der</strong>n auch nicht für die Verteidigung des Winterpalais. Die bunte Zusammensetzung<br />
<strong>der</strong> Kriegsschulen und ihr völliges Losgetrenntsein von <strong>der</strong> Armee führte dazu, daß in<br />
den kritischen Stunden auch die Junker anfingen, Meetings abzuhalten: was werden die<br />
Kosaken tun? wird außer uns noch jemand den Kampf aufnehmen? und lohnt es sich<br />
überhaupt, sich für die Provisorische Regierung zu schlagen?<br />
Nach Podwojskis Bericht zählte man Anfang Oktober in den Petrogra<strong>der</strong> Kriegsschulen<br />
insgesamt etwa hun<strong>der</strong>tundzwanzig Junker-<strong>Sozialisten</strong>, darunter zweiundvierzig bis<br />
dreiundvierzig Bolschewiki. »Die Junker sagen, <strong>der</strong> gesamte Kommandohestand <strong>der</strong><br />
Schulen sei konterrevolutionär gestimmt. Sie werden ausgesprochen darauf gedrillt, im<br />
Falle einer Erhebung den Aufstand zu unterdrücken ... « Die Zahl <strong>der</strong> <strong>Sozialisten</strong> und<br />
beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Bolschewiki ist, wie wir sehen, verschwindend gering. Doch verschaffen<br />
sie dem Smolny die Möglichkeit, über alles Wesentliche, was bei den Junkern geschieht,<br />
unterrichtet zu sein. Zur Vervollständigung des Ganzen ist die Topographie <strong>der</strong> Kriegsschulen<br />
sehr ungünstig: die Junker sind eingepfercht zwischen Kasernen, und obwohl sie<br />
von den Soldaten verächtlich sprechen, schauen sie sich doch ängstlich nach ihnen um.<br />
Grund zur Angst gibt es genug. Aus den benachbarten Kasernen und den Arbeitervierteln<br />
werden dte Junker von Tausenden feindlicher Augen beobachtet. Diese Überwachung<br />
ist um so wirksamer, als in je<strong>der</strong> Schule ein Soldatenkommando besteht, das in<br />
Worten Neutralität wahrt, in <strong>der</strong> Tat aber zu den Aufständischen hinneigt. Die Lager <strong>der</strong><br />
Schulen sind in Händen <strong>der</strong> Bedienungsmannschaft. »Diese Lümmel«, schreibt ein<br />
Offizier <strong>der</strong> Ingenieurschule »hatten nicht nur die Lagerschlüssel verloren so daß ich<br />
Befehl erteilen mußte, die Türe aufzubrechen, son<strong>der</strong>n auch die Schlösser von den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 668
Maschinengewehren abgenommen und versteckt.« In dieser Atmosphäre kann man von<br />
den Junkern schwer Wun<strong>der</strong> an Heroismus erwarten.<br />
Drohte dem Petrogra<strong>der</strong> Aufstand nicht ein Schlag von außen, von den Nachbargarnisonen?<br />
Noch in den letzten Tagen ihres Daseins hatte die Monarchie nicht aufgehört, auf<br />
den kleinen militärischen Ring zu hoffen, <strong>der</strong> die Hauptstadt umgab. Die Monarchie hatte<br />
sich verrechnet. Aber wie wird es diesmal sein? Solche Bedingungen zu sichern, die jede<br />
Gefahr ausschließen, hieße den Aufstand selbst überflüssig machen: sein Ziel ist ja, die<br />
Hin<strong>der</strong>nisse zu brechen, die sich politisch nicht auflösen lassen. Man kann nicht alles im<br />
voraus berechnen. Aber alles, was man berechnen konnte, war berechnet.<br />
Anfang Oktober fand in Kronstadt eine Sowjetkonferenz des Petrogra<strong>der</strong> Gouvernements<br />
statt. Die Delegierten <strong>der</strong> Garnisonen <strong>der</strong> Hauptstadtperipherie - Gatschina,<br />
Zarskoje, Krassnoje, Oranienbaum, Kronstadt selbst - intonierten die höchsten Töne,<br />
nach <strong>der</strong> Stimmgabel <strong>der</strong> Baltischen Matrosen. Ihrer Resolution schloß sich <strong>der</strong> Sowjet<br />
<strong>der</strong> Bauerndeputierten des Petrogra<strong>der</strong> Gouvernements an: die Muschiks lenkten schroff<br />
um, über die linken Sozialrevolutionäre zu den Bolschewiki.<br />
In <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees am 16. Oktober gab ein Funktionär aus dem<br />
Gouvernement, Stepanow, ein etwas buntes Bild vom Kräfteverhältnis im Gouvernement<br />
immerhin in überwiegend bolschewistischen Farben. In Sestrorezk und Kolpino bewaffnen<br />
sich die Arbeiter, die Stimmung ist kampffroh. In Novij Peterhof hören die Übungen<br />
im Regiment auf; das Regiment ist desorganisiert. In Krassnoje Selo ist das 176.<br />
Regiment bolsehewistisch (das gleiche, das am 4. Juli am Taurischen Palais die Wachen<br />
besetzte); das 172. Regiment ist auf seiten <strong>der</strong> Bolschewiki; »aber außerdem ist dort<br />
auch Kavallerie«. In Luga hat die dteißigtausendköpfige Garnison eine Wendung in die<br />
Richtung zum Bolschewismus gemacht, ein Teil schwankt; <strong>der</strong> Sowjet ist noch immer für<br />
Landesverteidigung. Das Regiment in Gdowa - bolschewistisch. In Kronstadt ist die<br />
Stimmung gesunken; die Garnison war in den vorangegangenen Monaten zu überschäumend,<br />
<strong>der</strong> beste Teil <strong>der</strong> Matrosen ist bei <strong>der</strong> aktiven Flotte. In Schlüsselburg, sechzig<br />
Werst von Petrograd entfernt, ist <strong>der</strong> Sowjet schon lange die einzige Macht geworden;<br />
die Arbeiter <strong>der</strong> Pulverfabrik sind je<strong>der</strong>zeit bereit, die Hauptstadt zu unterstützen.<br />
In Verbindung mit den Resultaten <strong>der</strong> Kronstädter Sowjetkonferenz kann man die<br />
Angaben über die Reserven ersten Aufgebots als durchaus ermutigend betrachten. Die<br />
Ausstrahlungen des Februaraufstandes hatten genügt, um die Disziplin im weiten<br />
Umkreise aufzulösen. Um so zuversichtlicher konnte man auf die <strong>der</strong> Hauptstadt nächstgelegenen<br />
Garnisonen jetzt blicken, wo ihre Verfassung im voraus genügend bekannt<br />
war.<br />
Zu den Reserven zweiten Aufgebots gehören die Truppen Finnlands und <strong>der</strong><br />
Nordfront. Hier steht die Sache noch günstiger. Smilgas, Antonows und Dybenkos<br />
Arbeit hat unschätzbare Resultate ergeben. Gemeinsam mit <strong>der</strong> Helsingforser Garnison<br />
hatte sich die Flotte auf dein Territorium Finnlands in eine souveräne Macht verwandelt.<br />
Die Regierung besaß dort nicht die geringste Gewalt. Die nach Helsingfors gebrachten<br />
zwei Kosakendivisionen - von Kornilow für den Schlag gegen Petrograd ausersehen -<br />
hatten sich inzwischen den Matrosen eng genähert und unterstützten die Bolschewiki<br />
o<strong>der</strong> die linken Sozialrevolutionäre, die sich in <strong>der</strong> Baltischen Flotte immer weniger von<br />
den Bolschewiki unterschieden.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 669
Helsingfors reichte seinen Arm den Seeleuten <strong>der</strong> Revaler Basis, <strong>der</strong>en Stimmung bis<br />
dahin unentschedener war. Der Sowjetkongreß des Norddistrikts, wohl ebenfalls auf<br />
Initiative <strong>der</strong> Baltischen Flotte einberufen, vereinigte die Sowjets <strong>der</strong> um Petrograd<br />
liegenden Garnisonen in so weitem Ünikreise, daß er auf <strong>der</strong> einen Seite Moskau, auf <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Archangelsk erfaßte. »Auf diese Weise«, schreibt Antonow, »wurde die Idee<br />
verwirklicht, die Hauptstadt <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu panzern gegen eventuelle Überfälle <strong>der</strong><br />
Kerenskischen Truppen.« Smilga kehrte vom Kongreß nach Helsingfors zurück, um aus<br />
Matrosen, Infanteristen und Artilleristen eine Son<strong>der</strong>abteilung zusammenzustellen für<br />
den Abtransport nach Petrograd aufs erste Signal hin. Die finnländische Flanke des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes war aufs beste gesichert. Von dort war nicht ein Schlag, son<strong>der</strong>n<br />
nur starke Hilfe zu erwarten.<br />
Aber auch an den an<strong>der</strong>en Frontabschnitten war alles günstig, jedenfalls viel günstiger,<br />
als es sich in jenen Tagen die optimistischsten Bolschewiki vorstellten. Während des<br />
Oktober fanden in <strong>der</strong> Armee Neuwahlen <strong>der</strong> Komitees statt, überall mit scharfer<br />
Wendung in Richtung zu den Bolschewiki. Im Armeekorps bei Dwinsk fielen die »alten<br />
vernünftigen Soldaten« bei den Wahlen zu den Regiments und Kompaniekomitees durch;<br />
ihre Stelle nahmen »düstere graue Subjekte ... mit bösen bohrenden Augen und Wolfsschnauzen«<br />
ein. An den an<strong>der</strong>en Abschnitten geschah das gleiche. Ȇberall finden<br />
Neuwahlen <strong>der</strong> Komitees statt, überall werden nur Bolschewiki und Defätisten gewählt.«<br />
Die Regierungskommissare begannen den Reisen zu den Truppenteilen auszuweichen:<br />
»jetzt ist ihre Lage nicht besser als die unsrige«. Wir zitieren Baron Budberg. Zwei<br />
Kavallerieregimenter seines Korps, ein Husaren- und ein Uraler Kosakenregiment, die<br />
am längsten in den Händen <strong>der</strong> Kommandeure verharrt und die Teilnahme an die Unterdrückung<br />
aufständischer Regimenter nicht verweigert hatten, kamen auf einmal ins<br />
Schwanken und verlangten, daß man sie »von <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Unterdrücker und Gendarruen<br />
befreie«. Des bedrohlichen Sinnes dieser Warnung war sich <strong>der</strong> Baron klarer als<br />
sonst jemand. »Man kann über einen Haufen Hyänen, Schakale und Schafe nicht mittels<br />
Geigenspielens verfügen«, schrieb er, »... Rettung besteht nur in <strong>der</strong> Möglichkeit einer<br />
Massenanwendung glühenden Eisens.« Und sogleich ein tragisches Geständnis: »das<br />
nicht vorhanden und nicht zu erlangen ist«.<br />
Wenn wir ähnliche Aussagen über an<strong>der</strong>e Korps und Divisionen nicht anführen, so nur<br />
deshalb, weil <strong>der</strong>en Führer nicht solche Beobachtungsgabe besaßen wie Baron Budberg<br />
o<strong>der</strong> keine Tagebücher führten, o<strong>der</strong> aber weil diese Tagebücher noch nicht an die<br />
Oberfläche gedrungen sind. Doch unterschied sich das Korps bei Dwinsk außer durch<br />
den krassen Stil seines Kommandeurs in nichts Wesentlichem von den an<strong>der</strong>en Korps <strong>der</strong><br />
5. Armee, die ihrerseits den an<strong>der</strong>en Armeen nur wenig vorauseilte.<br />
Das schon längst in <strong>der</strong> Luft hängende Versöhnlerkomitee <strong>der</strong> 5. Armee fuhr fort,<br />
telegraphische Drohungen nach Petrograd zu senden- mit dem Bajonett Ordnung schaffen<br />
zu wollen. »Das ist alles nur Prahlerei und Lufterschütterung«, schreibt Budberg.<br />
Das Komitee lebte in Wirklichkeit seine letzten Tage. Am 23. wurde es neu gewählt.<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> des neuen, bolschewistischen Komitees wurde Doktor Skljanski, ein ausgezeichneter<br />
junger Organisator, <strong>der</strong> bald danach seine Begabung auf dem Gebiete des<br />
Aufbaues <strong>der</strong> Roten Armee weitgehend entfaltete und später einen zufälligen Tod bei<br />
einer Spazierfahrt auf einem amerikanischen See fand.<br />
Der Gehilfe des Regierungskommissars <strong>der</strong> Nordfront berichtete am 22. Oktober dem<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 670
Kriegsminister, die Ideen des Bolschewismus gewännen in <strong>der</strong> Armee immer mehr an<br />
Boden, die Masse wolle Frieden, und sogar die Artillerie, die sich bis zur allerletzten Zeit<br />
gehalten hätte, werde »empfänglich für die defätistische Propaganda«. Das war kein<br />
unwesentliches Symptom. »Die Provisorische Regierung genießt keine Autorität«, so<br />
berichtet <strong>der</strong> Regierung <strong>der</strong>en direkter Agent bei <strong>der</strong> Armee drei Tage vor <strong>der</strong> Umwälzung.<br />
Gewiß, das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee kannte damals alle diese Dokumente<br />
nicht. Aber auch das, was es kannte, genügte vollauf. Am 23. defilierten Vertreter<br />
verschiedener Frontteile vor dem Petrogra<strong>der</strong> Sowjet und for<strong>der</strong>ten Frieden; an<strong>der</strong>nfalls<br />
würden die Truppen zurückluten und »alle Parasiten vernichten, die sich anschicken,<br />
noch zehn Jahre Krieg zu führen«. Ergreift die Macht, sagten die Frontler dem Sowjet:<br />
»die Schützengräben werden euch unterstützen«.<br />
An den entfernteren und rückständigen Fronten, <strong>der</strong> südwestlichen und <strong>der</strong> rumänischen,<br />
waren die Bolschewiki immer noch vereinzelte Exemplare, seltsame Erscheinungen.<br />
Die Stimmungen <strong>der</strong> Soldaten waren aber auch dort die gleichen. Eugenia Bosch<br />
erzählt, daß bei dem in <strong>der</strong> Umgebung von Schmerinka liegenden 2. Gardekorps auf<br />
sechzigtausend Soldaten ein junger Kommunist und zwei Sympathisierende kamen; das<br />
hin<strong>der</strong>te das Korps nicht, sich in den Oktobertagen zur Unterstützung des Aufstandes zu<br />
erheben.<br />
Auf das Kosakentum hofften die Regierungskreise bis zur allerletzten Stunde. Doch<br />
weniger verblendete Politiker des rechten Lagers hatten begriffen, daß es auch hier mit<br />
<strong>der</strong> Sache gar schlimm bestellt war. Fast alle Kosakenoffiziere waren Kornilowianer. Die<br />
gemeinen Kosaken strebten immer mehr nach links. In <strong>der</strong> Regierung wollte man das<br />
lange nicht begreifen und erklärte sich die Kühle <strong>der</strong> Kosakenregimenter für das Winterpalais<br />
mit ihrem Gekränktsein Kaledins wegen. Aber letzten Endes leuchtete es auch dem<br />
Justizminister Matjantowitsch ein, daß hinter Kaledin »nur die Kosakenoffiziere standen,<br />
die gemeinen Kosaken jedoch, wie alle Soldaten, einfach zum Bolschewismus neigten«.<br />
Von jener Front, die in den ersten Märztagen Hände und Füße des liberalen Popen<br />
küßte, die Kadettenminister auf Schultern trug, sich an Kerenskis Reden berauschte und<br />
daran glaubte, daß die Bolschewiki deutsche Agenten seien - war nichts übrig geblieben.<br />
Die rosigen Illusionen waren eingestampft in den Schmutz <strong>der</strong> Schützengräben, den die<br />
Soldaten mit ihren durchlöcherten Stiefeln weiterzukneten sich weigerten. »Die Lösung<br />
naht«, schrieb am Tage des Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes Budberg, »und an ihrem Ausgang<br />
kann kein Zweifel bestehen; an unserer Front gibt es keinen Truppenteil mehr, <strong>der</strong> nicht<br />
in <strong>der</strong> Gewalt <strong>der</strong> Bolschewiki wäre.«<br />
Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
Alles verän<strong>der</strong>te sich, und alles blieb gleich. Die <strong>Revolution</strong> hatte das Land erschüttert,<br />
den Zerfall vertieft, die einen eingeschüchtert, die an<strong>der</strong>en verhärtet, aber noch nichts bis<br />
zu Ende gewagt, nichts ersetzt. Das kaiserliche St. Petersburg schien eher in lethargischen<br />
Schlaf versunken als tot. Den gußeisernen Denkmälern <strong>der</strong> Monarchie hatte die<br />
<strong>Revolution</strong> rote Fähnchen in die Hand gesteckt. Große rote Leinwandtücher wehten über<br />
den Fronten <strong>der</strong> Regierungsgebäude. Aber die Paläste, Ministerien, Stäbe lebten ganz<br />
geson<strong>der</strong>t von ihren roten Bannern, die noch dazu unter dem herbstlichen Regen gehörig<br />
ausgeblieben waren. Die Doppeladler mit Zepter und Reichsapfel sind, wo nur möglich,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 671
heruntergerissen, häufiger allerdings verhängt o<strong>der</strong> in aller Eile übermalt. Sie scheinen<br />
sich verborgen zu halten. Das ganze Rußland hält sich verborgen, mit vor Wut verzerrten<br />
Kiefern.<br />
Die wenig gewichtigen Gestalten <strong>der</strong> Milizionäre an den Straßenkreuzungen erinnern<br />
noch am häufigsten an die Umwälzung, die die lebenden Monumenten ähnelnden<br />
"Pharaonen" hinweggefegt hat. Außerdem nennt sich Rußland nun seit fast zwei<br />
Monaten Republik. Die Zarenfamilie befindet sich in Tobolsk. Nein, <strong>der</strong> Februarwirbel<br />
ist nicht spurlos vorübergegangen. Aber die Zarengenerale bleiben Generale, Senatoren -<br />
Senatoren, Geheimräte schützen ihre Würden, die Rangliste bleibt in Kraft, bunte<br />
Mützenrän<strong>der</strong> und Kokarden erinnern an die bürokratische Hierarchie, und gelbe Knöpfe<br />
mit Adler kennzeichnen Studenten. Und die Hauptsache, Gutsbesitzer bleiben Gutsbesitzer,<br />
das Kriegsende ist nicht abzusehen, die Ententediplomaten halten das offizielle<br />
Rußland frecher denn je an <strong>der</strong> Strippe.<br />
Alles bleibt beim alten, und doch erkennt keiner sich wie<strong>der</strong>. Die aristokratischen<br />
Viertel fühlen sich in den Hintergrund geschoben. Die Viertel <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie<br />
sind dichter an die Aristokratie herangerückt. Aus einem patriotischen Mythos ist das<br />
Volk furchtbare Realität geworden. Unter den Füßen schwankt alles und bröckelt auseinan<strong>der</strong>.<br />
Der Mystizismus flackert mit heftiger Kraft in jenen Kreisen auf, die noch vor gar<br />
nicht so langer Zeit über den Aberglauben <strong>der</strong> Monarchie höhnten.<br />
Börsianer, Advokaten, Ballerinen verfluchen die eingetretene Verfinsterung <strong>der</strong> Sitten.<br />
Der Glaube an die Konstituierende Versammlung verflüchtigt sich mit jedem Tage mehr.<br />
Gorki prophezeite in seiner Zeitung den herannalienden Zusammenbruch <strong>der</strong> Kultur. Die<br />
seit den Junitagen verstärkte Flucht aus dem wilden und hungrigen Petrograd in die friedlichere<br />
und sattere Provinz nimmt im Augenblick <strong>der</strong> Oktoberumwälzung epidemiseben<br />
Charakter an. Solide Familien, denen es nicht gelungen war, die Hauptstadt zu verlassen,<br />
sind vergeblich bemüht, sieh durch Steinmauern und Eisendach gegen die Wirklichkeit<br />
abzusperren. Das Echo des Sturms dringt von überall herein: durch den Markt, wo alles<br />
teurer und alles knapp wird; durch die wohlmeinende Presse, die sich in ein Geheul von<br />
Haß und Angst verwandelt hat; durch die brodelnde Straße, wo manchmal vor den<br />
Fenstern geschossen wird, und schließlich durch den Hintereingang, über die Dienstboten<br />
die nicht mehr gewillt sind, sich geduldig zu unterwerfen. Hier trifft die <strong>Revolution</strong><br />
vielleicht die empfindlichste Stelle: <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Haussklaven zerstört endgültig<br />
die Stabilität <strong>der</strong> häuslichen Ordnung.<br />
Und doch wehrt sich die Alltagsroutine aus aller Kraft. Schüler lernen in den Schulen<br />
nach alten Lehrbüchern, Beamte beschreiben Papiere, die niemand braucht, Dichter<br />
schwitzen Verse, die niemand liest, Ammen erzählen Märchen vom Zarewitsch Iwan.<br />
Aus <strong>der</strong> Provinz gekommene Adels- und Kaufmannstöchter studieren Musik o<strong>der</strong> suchen<br />
Bräutigame. Die alte Kanone verkündet von den Mauern <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung herab<br />
die Mittagsstunde im Mariinski-Theater geht ein neues Ballett, und <strong>der</strong> Außenminister<br />
Tereschtschenlko, stärker in Choreographie als in Diplomatie, findet vermutlich Zeit, die<br />
Spitzenkappe <strong>der</strong> Ballerina zu bewundem und so die Festigkeit des Regimes zu demonstrieren.<br />
Überbleibsel alter Feste sind noch sehr zahlreich, und für Geld ist alles zu haben.<br />
Gardeoffiziere klirren noch vernehmlich mit den Sporen und suchen Abenteuer. In den<br />
Chambres séparées <strong>der</strong> teuren Restaurants finden wüste Zechgelage statt. Die Absper-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 672
ung des elektrischen Lichtes um Mitternacht hin<strong>der</strong>t das Blühen von Spielklubs nicht,<br />
wo bei Stearinkerzen Champagner funkelt, erlauchte Plün<strong>der</strong>er des Staatsschatzes nicht<br />
weniger erlauchte deutsche Spione schröpfen, monarchistische Verschwörer semitischen<br />
Kontrabandisten Paß! ansagen und astronomische Einsatzziffern gleichzeitig Ausmaß <strong>der</strong><br />
Ausschweifung wie Ausmaß <strong>der</strong> Inflation anzeigen.<br />
Führt wirklich eine einfache Trambahn, vernachlässigt, schmutzig, saumselig, mit<br />
Menschentrauben behängt, aus diesem in Agonie liegenden St. Petersburg zu den in<br />
leidenschafthcher Spannung lebenden Arbeitervierteln? Die hellblauen, mit Gold ausgelegten<br />
Kuppeln des Smolny-Klosters bezeichnen aus <strong>der</strong> Ferne den Stab des Aufstandes:<br />
am Rande <strong>der</strong> alten Stadt, wo die Trambahnlinie endet und die Newa eine schroffe<br />
Biegung nach Süden macht, das Zentrum von den Vorstädten trennend. Ein langes<br />
graues, dreistöckiges Gebäude, Erziehungskaserne für Adelstöchter, ist nun die Feste <strong>der</strong><br />
Sowjets. Die endlosen hauenden Korridore sind wie geschaffen für den Unterricht in<br />
Gesetzen <strong>der</strong> Perspektive. An den Türen vieler Dutzende Zimmer die Korridore entlang<br />
sind noch emaillierte Schil<strong>der</strong> erhalten: "Lehrerzimmer", "Dritte Klasse", "Vierte<br />
Klasse", "Klassendame". Aber neben den alten Schil<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> diese verdeckend sind<br />
flüchtig Papierbogen mit geheimnisvollen <strong>Revolution</strong>shieroglyphen angeheftet: ZK d.<br />
P.S.R., S-D.-Menschewiki, S-D.-Bolschewiki, Linke S.-R., Anarchisten-Kommunisten,<br />
Expedition des ZJK, usw. usw. John Reeds achtsames Auge entdeckte an den Wänden<br />
Plakate: »Genossen, im Interesse eurer eigenen Gesundheit haltet auf Sauberkeit.« Aber,<br />
ach, keiner hält auf Sauberkeit, angefangen bei <strong>der</strong> Natur. Das Oktober-Petrograd lebt<br />
unter einer Regenkuppel. Die Straßen, schon lange nicht gereinigt, sind schmutzig. Im<br />
Hofe des Smolny unermeßliche Pfützen. Die Soldatensohlen tragen den Schmutz in<br />
Korridore und Säle. Doch niemand blickt jetzt nach unten, vor die Füße; alle blicken<br />
vorwärts.<br />
Das Smolny kommandiert immer fester und gebieterischer, gehoben von <strong>der</strong> leidenschaftlichen<br />
Sympathie <strong>der</strong> Massen. Die Zentralleitung erfaßt unmittelbar nur die oberen<br />
Glie<strong>der</strong> jenes revolutionären Systems, dem in seiner Gesamtheit die Vollziehung <strong>der</strong><br />
Umwälzung obliegt. Das Wichtigste wird unten - und wie von selbst getan. Fabriken und<br />
Kasernen, - das sind in diesen Tagen und Nächten die Brandherde <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>. Im<br />
Wyborger Bezirk konzentrieren sich, wie im Februar, die Hauptkräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>,<br />
doch zum Unterschiede vom Februar besitzt er jetzt seine mächtige Organisation, eine<br />
offene, allgemein anerkannte. Aus Straßen, Fabrikküchen, Klubs, Kasernen laufen alle<br />
Fäden zusammen im Hause Nummer dreiunddreißig auf dem Sampsonjewski-Prospekt,<br />
wo Bezirkskomitee <strong>der</strong> Bolschewiki, Wyborger Sowjet und Kampfstab sich befinden.<br />
Die Bezirksmiliz verschmilzt mit <strong>der</strong> Roten Garde. Der Bezirk ist völlig in <strong>der</strong> Gewalt<br />
<strong>der</strong> Arbeiter. Würde die Regierung den Smolny nie<strong>der</strong>schlagen, <strong>der</strong> Wyborger Bezirk<br />
allein könnte das Zentrum wie<strong>der</strong>herstellen und den weiteren Angriff sichern.<br />
Die Entscheidung war dicht herangerückt, doch die Regierenden glaubten bis zum<br />
letzten Moment o<strong>der</strong> gaben sich wenigstens den Anschein, daß sie keine beson<strong>der</strong>en<br />
Ursachen zur Besorgnis hätten. Die britische Gesandtschaft, die Grund genug hatte, die<br />
Ereignisse in Petrograd aufmerksam zu verfolgen, erhielt, nach den Worten des damaligen<br />
<strong>russischen</strong> Gesandten in London, zuverlässige Meldungen über die bevorrstehende<br />
Umwälzung. Buchanans besorgte Fragen beantwortete Tereschtschenko nach dem traditionellen<br />
Diplomatenfrühstück mit heißen Beteuerungen: »So etwas« könne nicht passie-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 673
en, die Regierung halte die Zügel fest in den Händen. Die russische Botschaft in London<br />
erfuhr von <strong>der</strong> Umwälzung in Petrograd aus einer Meldung <strong>der</strong> britischen Telegraphenagentur.<br />
Der Hüttenmagnat Auerbach, <strong>der</strong> in jenen Tagen den Minister-gehilfen Paltschinski<br />
besuchte, erkundigte sich nach einer Unter-haltung über ernstere Geschäfte so nebenbei<br />
nach den »schwarzen Wolken am politischen Horizont« und erhielt eine vollkommen<br />
beruhigende Antwort: das fällige Gewitter, sonst nichts; es wird sich verziehen und<br />
wie<strong>der</strong> hell werden, - »schlafen Sie ruhig«. Paltschinski selbst hatte nur noch eine o<strong>der</strong><br />
zwei schlaflose Nächte zu verbringen, bevor er verhaftet wurde.<br />
Je ungenierter Kercnski mit den Versöhnlerführem umsprang, um so weniger bezweifelte<br />
er, daß sie im Augenblicke <strong>der</strong> Gefahr rechtzeitig zu Hilfe kommen würden. Je<br />
schwächer die Versöhnler wurden, desto sorgsamer hielten sie um sich eine Atmosphäre<br />
von Illusionen aufrecht. Indem sie von ihren Petrogra<strong>der</strong> Höhen mit den Spitzenorganisationen<br />
von Provinz und Front gegenseitige Ermunterungen austauschten, schufen<br />
Menschewiki und Sozialrevolurionäre eine Fälschung <strong>der</strong> öffentlichen Meinung und<br />
führten, ihre Ohnmacht maskierend, Weniger die Feinde als sich selbst irre.<br />
Der schwerfällige, ganz untaugliche Staatsapparat, eine Mischung aus Märzsozialist<br />
und Zarenbürokrat, war sehr gut für Zwecke <strong>der</strong> Selbsttäuschung geeignet. Der frischgebackene<br />
Sozilalist fürchtete, dem Bürokraten als nicht genügend reifer Staatsmann zu<br />
erscheinen. Der Bürokrat hatte Angst, Mangel an Achtung vor den neuen Ideen zu<br />
bekunden. So entstand ein Netz von offizieller Lüge, wo Generale, Staatsanwälte,<br />
Zeitungsleute, Kommissare und Adjutanten um so mehr flunkerten, je näher sie an <strong>der</strong><br />
Quelle <strong>der</strong> Macht standen. Der Kommandierende des Petregra<strong>der</strong> Militärbezirks gab<br />
tröstliche Berichte, weil Kerenski angesichts <strong>der</strong> trostlosen Wirklichkeit ihrer bedurfte.<br />
Die Traditionen <strong>der</strong> Doppelherrschaft wirkten in <strong>der</strong> gleichen Richtung. Wurden doch<br />
die laufenden Verfügungen des Bezirksstabes, gegengezeichnet vom Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee, wi<strong>der</strong>spruchslos erfüllt. Die Wachen in <strong>der</strong> Stadt wurden von<br />
Garnisontruppenteilen in üblicher Weise bezogen, und man darf sagen, die Regimenter<br />
hatten schon lange den Wachtdienst nicht mit solchem Eifer ausgeführt wie jetzt.<br />
Unzufriedenheit <strong>der</strong> Massen? "Meuternde Sklaven" sind immer unzufrieden. An Meuterei<br />
versuchen könnte sich nur <strong>der</strong> Auswurf <strong>der</strong> Hauptstadtbevölkerung beteiligen. Die<br />
Soldatensektion gegen den Stab? Dafür aber steht die Militärische Sektion des Zentral-Exekutivkomitees<br />
hinter Kerenski. Die gesamte Organisierte Demokratie mit Ausnahme<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki unterstützt die Regierung. So verwandelte sich <strong>der</strong> rosige Märznimbus<br />
in blauen Dunst, <strong>der</strong> die realen Umrisse <strong>der</strong> Dinge verhüllte.<br />
Erst nachdem <strong>der</strong> Bruch zwischen Smolny und Stab erfolgt war, versuchte die Regierung<br />
an den Konflikt ernster heranzutreten: unmittelbare Gefahr bestehe selbstverständlich<br />
nicht, doch müsse man diesmal die Gelegenheit wahrnehmen, um mit den<br />
Bolschewiki Schluß zu machen. Außerdem drängten aus aller Kraft auch die bürgerlichen<br />
Verbündeten. In <strong>der</strong> Nacht zum 24. faßte die Regierung Mut und verfügte gegen<br />
das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee Strafverfolgung einzuleiten; bolschewistische<br />
Zeitungen, die zum Aufstande aufrufen, zu verbieten; zuverlässige Truppenteile aus <strong>der</strong><br />
Umgebung und von <strong>der</strong> Front anzufor<strong>der</strong>n. Die Ausführung des im Prinzip angenommen<br />
Antrages, das ganze Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee zu verhaften, wurde verschoben:<br />
für ein so großes Unternehmen müsse man sich erst <strong>der</strong> Unterstützung des Vorparlaments<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 674
vergewissern.<br />
Das Gerücht über die von <strong>der</strong> Regierung getroffenen Beschlüsse verbreitete sich sofort<br />
in <strong>der</strong> Stadt. Im Gebäude des Hauptstabes, neben dem Winterpalais, hatten in <strong>der</strong> Nacht<br />
zum 24. Wachtdienst Soldaten des Pawlowsker Regiments, eines <strong>der</strong> sichersten Truppenteile<br />
des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees. Vor den Soldaten wurden Reden geführt<br />
über das Heranholen <strong>der</strong> Junker, über Hochziehen <strong>der</strong> Brücken, über Verhaftungen.<br />
Alles, was die Pawlowsker auffangen und festhalten konnten, meldeten sie sogleich den<br />
Bezirken und dem Smolny. Im revolutionären Zentrum verstand man nicht immer die<br />
Nachrichten dieses freiwilligen Aufklärungsdienstes auszunutzen. Doch erfüllte er eine<br />
unersetzliche Aufgabe. Die Arbeiter und Soldaten <strong>der</strong> ganzen Stadt erfuhren von den<br />
Absichten des Feindes und verstärkten ihre Bereitschaft, Wi<strong>der</strong>stand zu leisten.<br />
Vom frühen Morgen an trafen die Behörden Vorbereitungen zur Einleitung <strong>der</strong> feindseligen<br />
Aktionen. Den Junkerschulen <strong>der</strong> Hauptstadt wurde befohlen, sich kampfbereit<br />
zu halten. Dein in <strong>der</strong> Newa postierten Kreuzer "Aurora" mit dem bolschewistisch<br />
gestimmten Kommando - ins Meer zu gehen und sich <strong>der</strong> übrigen Flotte anzuschließen.<br />
Aus <strong>der</strong> Umgebung sind Truppenteile herbeibefohlen: ein Stoßtruppbataillon aus<br />
Zarskoje Selo, Junker aus Oranienbaum, Artillerie aus Pawlowsk. Der Stab <strong>der</strong><br />
Nordfront ist beauftragt, sofort zuverlässige Truppen in die Hauptstadt zu entsenden. Als<br />
Maßnahme unmittelbarer Kriegsvorsicht wird befohlen: die Wachen des Winterpalais zu<br />
verstärken; die Brücken über die Newa hochzuziehen; den Junkern - die Automobile zu<br />
kontrollieren; aus dem Telephonnetz die Apparate des Smolny auszuschalten. Justizminister<br />
Maljantowitsch ordnete an, jene gegen Kaution entlassenen Bolschewiki unverzüglich<br />
zu verhaften; die sich wie<strong>der</strong> durch regierungsfeindliche Tätigkeit ausgezeichnet<br />
hatten: <strong>der</strong> Schlag richtete sich in erster Linie gegen Trotzki. Wandel <strong>der</strong> Zeiten! Maljantowitsch,<br />
wie sein Vorgänger Sarudny, waren im Jahre 1905 Trotzkis Anwälte gewesen.<br />
Auch damals handelte es sich um die Führung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Der Charakter<br />
<strong>der</strong> erhobenen Beschuldigungen war in beiden Fällen gleich; nur fügten die einstigen<br />
Verteidiger, zu Anklägern geworden, noch den kleinen Punkt von deutschen Golde<br />
hinzu.<br />
Der Stab des Militärbezirkes hatte unterdessen beson<strong>der</strong>s fieberhafte Tätigkeit in <strong>der</strong><br />
typographischen Sphäre entwickelt. Dokument folgte auf Dokument: keinerlei Demonstrationen<br />
würden geduldet werden; die Schuldigen hätten strengster Strafe gewärtig zu<br />
sein; Verbot für die Truppenteile <strong>der</strong> Garnison, ohne Weisung des Stabes die Kasernen<br />
zu verlassen; »sämtliche Kommissare des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets sind zu entfernen«; über<br />
<strong>der</strong>en ungesetzliche Tätigkeit ist eine Untersuchung einzuleiten »zwecks Verfolgung<br />
durch das Kriegsgericht«. In den dräuenden Befehlen wird jedoch nicht gesagt, wie und<br />
durch wen ihre Ausführung gesichert werden soll.<br />
Unter Androhung persönlicher Haftbarmachung for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Kommandierende die<br />
Besitzer von Autos auf, diese »zwecks Verhütung eigenmächtiger Expropriationen« dem<br />
Stabe zur Verfügung zu stellen; doch niemand rührte dataufhin auch nur einen Finger.<br />
Das Zentral-Exekutivkomitee geizte gleichfalls nicht mit Mahnungen und Drohungen.<br />
Ihm auf den Fersen folgten: Bauern-Exekutivkomitee, Stadtduma, Zentralkomitees <strong>der</strong><br />
Menschewiki und Sozialrevolutionäre. An literarischen Hilfsquellen waren alle diese<br />
Institutionen reich genug. In den Aufrufen, die die Mauern und Zäune bedeckten, war<br />
beständig die Rede von einem Häuflein Wahnsinniger, von Gefahr blutiger Kämpfe und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 675
Unvermeidlichkeit <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />
Um 5 Uhr 30 morgens erschien in <strong>der</strong> Druckerei <strong>der</strong> Bolschewiki ein Regierungskommissar<br />
mit einer Abteilung Junker, die die Ausgänge besetzten und einen Befehl des<br />
Stabes über sofortiges Verbot des Zentralorgans und des Blattes 'Der Soldat' vorzeigten.<br />
Was? Der Stab? Existiert denn das noch? Hier würden keine Befehle ohne Sanktion des<br />
Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees anerkannt. Doch das hilft nichts: die Stereotypen<br />
werden zerschlagen, das Gebäude versiegelt. Die Regierung kann den ersten Erfolg<br />
verzeichnen.<br />
Ein Arbeiter und eine Arbeiterin in <strong>der</strong> bolschewistischen Druckerei kommen atemlos<br />
in das Smolny gelaufen, wo sie Podwojski und Trotzki vorfinden: wenn das Komitee<br />
ihnen Schutz gegen die Junker stellt, wollen die Arbeiter die Zeitung herausbringen. Die<br />
Form <strong>der</strong> ersten Antwort auf den Regierungsangriff ist gefunden. Es wird ein Befehl an<br />
das Litowsker Regiment geschrieben, sofort eine Kompanie zum Schutze <strong>der</strong> Arbeiterpresse<br />
zu schicken. Die Abgesandten <strong>der</strong> Druckerei bestehen darauf, daß auch das 6.<br />
Pionierbataillon hinzugezogen werde: das seien nahe Nachbarn und treue Freunde Ein<br />
Fernspruch wird sogleich an beide Adressen weitergeleitet. Die Litowsker und die<br />
Pioniere marschieren unverzüglich aus. Die Siegel werden vom Gebäude heruntergerissen,<br />
die Matrizen neu gegossen, die Arbeit geht rastlos vonstatten. Mit Verspätung von<br />
einigen Stunden erscheint die von <strong>der</strong> Regierung verbotene Zeitung unter dem Schutze<br />
von Truppen des Komitees, das selbst zu verhaften ist. Das eben ist <strong>der</strong> Aufstand. So<br />
kommt er zum Entrollen.<br />
Gleichzeitig wandte sich <strong>der</strong> Kreuzer "Aurora" an das Smolny mit <strong>der</strong> Frage: ins Meer<br />
gehen o<strong>der</strong> in den Newagewässern bleiben? Die Matrosen, die im August das Winterpalais<br />
vor Kornilow geschützt hatten, brennen nun darauf, mit Kerenski die Rechnung zu<br />
begleichen. Die Regierungsvorschrift wird vom Komitee an Ort und Stelle aufgehoben<br />
und das Kommando erhält den Befehl Nr. 1218: »gegen einen eventuellen Überfall auf<br />
die Petrogra<strong>der</strong> Garnison seitens <strong>der</strong> konterrevolutionären Kräfte hat sich <strong>der</strong> Kreuzer<br />
"Aurora" durch Schlepper, Dampfer und Dampfkutter zu sichern«. Der Kreuzer erfüllt<br />
begeistert den Befehl, auf den er nur gewartet hat.<br />
Diese zwei Akte des Wi<strong>der</strong>standes, angeregt von Arbeitern und Matrosen und dank <strong>der</strong><br />
Sympathie <strong>der</strong> Garnison vollkommen reibungslos durchgeführt, wurden zu politischen<br />
Ereignissen allerersten Ranges. Die letzten Reste des Machtfetischismus zerfielen zu<br />
Staub. »Es wurde auf einmal klar«, sagt ein Teilnehmer des Kampfes, »das die Sache<br />
schon beendet ist.« Wenn auch nicht beendet, so jedenfalls weitaus einfacher, als man am<br />
Vorabend dachte.<br />
Der Versuch, die Zeitung zu verbieten, <strong>der</strong> Haftbefehl gegen das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee,<br />
die Verfügung über die Entfernung <strong>der</strong> Kommissare, die Ausschaltung <strong>der</strong><br />
Smolnytelephone, alle diese Nadelstiche genügen gerade, um die Regierung <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
einer konterrevolutionären Umwälzung anzuklagen. Kann auch <strong>der</strong> Aufstand nur<br />
als Angriff siegen, so entfaltet er sich um so erfolgreicher, je mehr er einer Verteidigung<br />
gleicht. Ein Stückchen amtlichen Siegellacks an <strong>der</strong> Türe <strong>der</strong> bolschewistischen Redaktion<br />
- als Kriegsmaßnahnie - ist wenig. Aber welch ein vortreffliches Kampfsignal! Ein<br />
Feruspruch an alle Bezirke und Garnisonteile gibt Kunde vom Vorfall: »Die Feinde des<br />
Volkes sind nachts zum Angriff übergegangen ... Das Miliärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
leitet die Abwehr des Ansturms <strong>der</strong> Verschwörer.« Verschwörer - das sind die Organe<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 676
<strong>der</strong> offiziellen Macht. Aus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> revolutionärer Verschwörer klingt diese Bezeichnung<br />
überraschend. Doch entspricht sie völlig <strong>der</strong> Situation und dem Empfinden <strong>der</strong><br />
Massen. Aus allen Positionen verdrängt, gezwungen den Weg <strong>der</strong> verspäteten Verteidigung<br />
zu beschreiten, unfähig, die dafür notwendigen Kräfte zu mobilisieren o<strong>der</strong> auch<br />
nur nachzuprüfen, ob solche vorhanden sind, begeht die Regierung vereinzelte, unüberlegte<br />
und nicht miteinan<strong>der</strong> in Einklang gebrachte Handlungen, die sich den Augen <strong>der</strong><br />
Massen unvermeidlich als bösartige Attentate darstellen. Ein Fernspruch des Komitees<br />
ordnet an: »Das Regiment in Kampfbereitschaft bringen und weitere Befehle abwarten.«<br />
Das ist die Stimme <strong>der</strong> Macht. Die Kommissare des Komitees, die zu entfernen sind,<br />
setzen mit doppelter Sicherheit die Entfernung jener fort, die zu entfernen ihnen notwendig<br />
erscheint.<br />
Die "Aurora" auf <strong>der</strong> Newa bedeutete nicht nur eine vorzügliche Kampfeinheit im<br />
Dienste des Aufstandes; son<strong>der</strong>n war auch gerüstet für die Arbeit einer Radiostation. Ein<br />
unschätzbarer Vorzug! Der Matrose Kurkow erinnert sich: »Wir wurden von Trotzki<br />
beauftragt, per Radio zu übermitteln ..., daß die Konterrevolution zum Angriff übergegangen<br />
sei.« Die Verteidigungsform <strong>der</strong> Nachricht verhüllte auch hier den Appell zum<br />
Aufstand, <strong>der</strong> sich nunmehr an das ganze Land wandte. Den Garnisonen, die die<br />
Zugänge zu Petrograd schützten, wird durch den Radiosen<strong>der</strong> <strong>der</strong> "Aurora" befohlen, die<br />
konterrevolutionären Staffeln aufzuhalten und, falls Überredung nicht genügt, Gewalt<br />
anzuwenden. Allen revolutionären Organisationen wird zur Pflicht gemacht, »in Permanenz<br />
zu tagen und alle Nachrichten und Pläne über Handlungen <strong>der</strong> Verschwörer in<br />
ihren Händen zu konzentrieren«. Mangel an Aufrufen herrschte, wie man sieht, auch auf<br />
seiten des Komitees nicht. Doch ging bei ihm das Wort mit <strong>der</strong> Tat nicht auseinan<strong>der</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n kommentierte sie.<br />
Nicht ohne Verspätung geht man an eine ernste Befestigung des Smolny. Beim Verlassen<br />
des Gebäudes um 3 Uhr in <strong>der</strong> Nacht zum 24. fielen John Reed Maschinengewehre<br />
an den Eingangstüren und starke Patrouillen auf, die Tor und anliegende Straßenkreuzungen<br />
bewachten: die Posten waren schon am Vorabend durch eine Kompanie des Litowsker<br />
Regiments und durch eine Maschinengewehrabteilung mit vierundzwanzig<br />
Maschinengewehren verstärkt worden. Im Laufe des Tages erfuhr die Wache ununterbrochen<br />
Erweiterung. »Im Bezirk des Smolny«, schreibt Schljapnikow, »konnte man<br />
bekannte Bil<strong>der</strong> beobachten, wie in den ersten Tagen <strong>der</strong> Februarrevolution vor dem<br />
Taurischen Palais«: die gleiche Fülle an Soldaten, Arheitern und Waffen aller<br />
Gattungen. Im geräumigen Hof sind gewaltige Holzmassen auf-gestapelt, die als sichere<br />
Deckung gegen Gewehrfeuer dienen können. Lastautomobile fahren Proviant und<br />
Munition heran. »Das ganze Smolny«, erzählt Raskolnikow, »war in ein Kriegslager<br />
verwandelt. Draußen vor den Kolonnaden - Kanonen in Stellung. Daneben Maschinengewehre<br />
... Fast auf jedem Treppenabsatz die "Maxims", Spielzeugkanonen ähnelnd.<br />
Und in allen Korridoren ... <strong>der</strong> schnelle, laute, lustige Schritt von Soldaten und<br />
Arbeitern, Matrosen und Agitatoren.« Suchanow, <strong>der</strong> nicht ohne Grund die Organisatoren<br />
<strong>der</strong> Umwälzung mangeln<strong>der</strong> Kriegsumsicht beschuldigt, schreibt: »Erst jetzt, am<br />
Tage und am Abend des 24., begannen bewaffnete Abteilungen Rotgardisten und Soldaten<br />
im Smolny einzutreffen zum Schutze des Stabes des Aufstandes ... Gegen Abend des<br />
24. begann die Bewachung des Smolny nach etwas auszusehen.«<br />
Diese Frage ist nicht ohne Bedeutung. Im Smolny, aus dem das Versöhnler-Exekutiv-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 677
komitee sich verstohlen in die Räumlichkeiten des Regierungsstabes zu begeben<br />
vermochte, sind jetzt die Spitzen sämtlicher von den Bolschewiki geleiteten revolutionären<br />
Organisationen konzentriert. Hier tritt an diesem Tage die Sitzung des Zentralkomitees<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki zusammen, um die letzten Entscheidungen vor dem Schlage zu<br />
treffen. Es sind elf Mitglie<strong>der</strong> anwesend. Bei <strong>der</strong> Sitzung fehlt Sinowjew, <strong>der</strong> nach dem<br />
temperamentvollen Ausdruck Dserschinskis »sich versteckt hält und an <strong>der</strong> Parteiarbeit<br />
keinen Anteil nimmt«. Dagegen ist Kamenjew, Sinowjews Gesinnungsgenosse, sehr aktiv<br />
im Stabe des Aufstandes tätig. Der Sitzung ferngeblieben ist Stalin: er erscheint im<br />
Smolny überhaupt nicht und verbringt seine Zeit in <strong>der</strong> Redaktion des Zentralorgans. Die<br />
Sitzung findet, wie stets, unter Swerdlows statt. Das offizielle Protokoll ist knapp;<br />
vermerkt aber das wichtigste. Zur Ermittlung <strong>der</strong> führenden Teilnehmer <strong>der</strong> Umwälzung<br />
und <strong>der</strong> Verteilung <strong>der</strong> Funktionen unter ihnen ist es unersetzbar.<br />
Es ist darum, im Laufe <strong>der</strong> nächsten vierundzwanzig Stunden Petrogiad endgültig zu<br />
erobern. Das heißt: von jenen politischen und technischen Institutionen Besitz zu ergreifen,<br />
die noch in den Händen <strong>der</strong> Regierung verblieben sind. Der Sowjetkongreß muß<br />
stattfinden unter <strong>der</strong> Sowjetmacht. Die praktischen Maßnahmen für den Nachtangriff<br />
sind ausgearbeitet o<strong>der</strong> in Ausarbeitung beim Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee und <strong>der</strong><br />
Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki. Das Zentralkomitee soll den Schlußstrich<br />
ziehen.<br />
Zuallererst wird Kamenjews Antrag angenommen: »Heute darf ohne beson<strong>der</strong>e Verfügung<br />
nicht ein Mitglied des Zentralkomitees sich aus dem Smolny entfernen.« Es wird<br />
überdies beschlossen, hier einen Waehtdienst aus Mitglie<strong>der</strong>n des Petrogra<strong>der</strong> Parteikomitees<br />
einzurichten. Das Protokoll lautet weiter: »Trotzki schlägt vor, dem Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee zur Anbahnung <strong>der</strong> Verbindung mit den Post-, Telegraphen- und<br />
Eisenbahnbeamten zwei Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees zur Verfügung zu stellen; ein<br />
drittes Mitglied zur Überwachung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung.« Es wird beschlossen:<br />
zum Post- und Telegraphenamt Dserschinski zu delegieren, zur Eisenbahn Bubnow.<br />
Anfangs wird, wohl auf Swerdlows Initiative, geplant, mit <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung Podwojski zu beauftragen. Das Protokoll vermerkt: »Einwände<br />
gegen Podwojski; das Mandat erhält Swerdlow.« Miljutin, <strong>der</strong> als Wirtschaftler gilt, wird<br />
mit <strong>der</strong> Ernährungssache betraut. Die Verhandlungen mit den linken Sozialrevolutionären<br />
werden Kamenjew zugewiesen, <strong>der</strong> den Ruf eines geschickten, wenn auch zu<br />
nachgiebigen Parlamentärs genießt: selbstverständlich nachgiebig im bolschewistischen<br />
Maßstabe. »Trotzki schlägt vor«, lesen wir weiter, »einen Reservestab in <strong>der</strong> Peter-Paul-<br />
Festung einzurichten und zu diesem Zwecke ein Mitglied des Zentralkomitees dorthin zu<br />
entsenden.« Beschlossen wird: »Mit <strong>der</strong> allgemeinen Überwachung Laschewitsch und<br />
Blagonrawow, mit <strong>der</strong> Aufrechterhaltung einer ständigen Verbindung mit <strong>der</strong> Festung<br />
Swerdlow zu betrauen.« Außerdem: »Allen Mitglie<strong>der</strong>n des Zentralkomitees Passierscheine<br />
für die Festung auszustellen.«<br />
Auf <strong>der</strong> Parteilinie liefen alle Fäden in Swerdlows Händen zusammen, <strong>der</strong> die bolschewistischen<br />
Ka<strong>der</strong> kannte wie keiner. Er verband das Smolny mit dem Parteiapparat,<br />
versorgte das Militärische Revolurionskomitee mit den notwendigen Mitarbeitern und<br />
wurde dorthin in allen kritischen Momenten zur Beratung gerufen. Da das Komitee eine<br />
zu breite, teilweise fluktuierende Zusammensetzung hatte, so wurden die Maßnahmen<br />
konspirativerer Art durch die Spitze <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki o<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 678
durch Swerdlow erledigt, <strong>der</strong> <strong>der</strong> inoffizielle, aber um so wirklichere "Generalsekretär"<br />
<strong>der</strong> Oktoberumwälzung war.<br />
Die in diesen Tagen zum Sowjetkongreß eintreffenden bolschewistischen Delegierten<br />
gerieten zuallererst in Swerdlows Hände und blieben nicht eine überflüssige Stunde ohne<br />
Arbeit. Am 24. zählte man in Petrograd bereits zwei-, dreihun<strong>der</strong>t Provinzdelegierte, und<br />
die Mehrzahl davon wurde auf die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Weise in die Mechanik des Aufstandes<br />
eingefügt. Um 2 Uhr mittags versammelten sie sich im Smolny zu einer Fraktionssitzung,<br />
um einen Berichterstatter vom Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei anzuhören. Unter ihnen<br />
waren Schwankende, die, wie Sinowjew und Kamenjew, eine abwartende Politik vorgezogen<br />
haben würden; und auch einfach nicht genügend zuverlässige Rekruten. Von einer<br />
Darstellung des Aufstandsplanes vor <strong>der</strong> Fraktion konnte nicht die Rede sein: was in<br />
einer großen, wenn auch geschlossenen Versammlung gesprochen wird, wird unvermeidlich<br />
nach außen getragen. Man darf noch nicht einmal die Defensivhülle des Angriffes<br />
zerreißen und beiseitewerfen, ohne zu riskieren, im Bewußtsein einzelner Garnisonteile<br />
Verwirrung zu stiften. Doch muß man gleichzeitig zu verstehen geben, daß <strong>der</strong> Entscheidungsksampf<br />
bereits begonnen und dem Kongreß lediglich verbleibt ihn zu krönen.<br />
Mit Berufung auf die kürzlich erschienenen Artikel von Lenin beweist Trotzki, daß<br />
»eine Verschwörung den Prinzipien des Marxismus nicht wi<strong>der</strong>spricht«, wenn die objektiven<br />
Verhältnisse einen Aufstand möglich und unvermeidlich machen. »Die physische<br />
Barriere auf dem Wege zur Macht muß man durch einen Schlag überwinden« ... Jedoch<br />
ging bis jetzt die Politik des Militärischen Revolurionskomitees über den Rahmen <strong>der</strong><br />
Defensive noch nicht hinaus. Natürlich will diese Defensive recht weit gefaßt sein. Die<br />
Sicherung des Erscheinens <strong>der</strong> bolschewistischen Presse mit Hilfe einer bewaffneten<br />
Macht o<strong>der</strong> das Zurückhalten <strong>der</strong> "Aurora" in <strong>der</strong> Newa - »ist das Verteidigung, Genossen?«<br />
- »Das ist Verteidigung!« Wenn es <strong>der</strong> Regierung einfallen sollte, uns zu<br />
verhaften, so sind für diesen Fall auf dem Dache des Smolny Maschinengewehre aufgestellt.<br />
»Auch das ist Verteidigung, Genossen.« Und was soll mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung werden? lautet eine schriftliche Anfrage. »Sollte Kerenski versuchen, sich<br />
dem Sowjetkongreß nicht zu unterwerfen«, antwortete <strong>der</strong> Referent, »so würde <strong>der</strong><br />
Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Regierung "eine polizeiliche und nicht eine politische Frage" schaffen.«<br />
Im Wesen war dem beinahe so.<br />
In diesem Augenblick wird Trotzki hinausgerufen zur Aussprache mit einer soeben<br />
eingetroffenen Deputarion <strong>der</strong> Stadtduma. In <strong>der</strong> Hauptstadt herrscht allerdings vor<strong>der</strong>hand<br />
Ruhe, doch sind beunruhigende Gerüchte im Umlauf. Das Stadtoberhaupt stellt<br />
Fragen. - Beabsichtigt <strong>der</strong> Sowjet einen Aufstand zu machen? Und was soll mit <strong>der</strong><br />
Ordnung in <strong>der</strong> Stadt werden? Und was wird dabei mit <strong>der</strong> Duma geschehen, wenn sie<br />
die Umwälzing nicht anerkennt? Diese ehrenwerten Herren möchten gar zuviel wissen.<br />
Die Frage <strong>der</strong> Macht, lautet die Antwort, unterliegt <strong>der</strong> Entscheidung des Sowjetkongresses.<br />
Ob es zum bewaffneten Kampf kommen wird, »hängt nicht so sehr von den Sowjets<br />
wie von jenen ab, die entgegen dem einmütigen Willen des Volkes die Staatsmacht in<br />
ihren Händen festhalten«. Sollte <strong>der</strong> Kongreß die Macht von sich weisen, so wird <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Sowjet sich dem unterwerfen. Doch die Regierung selbst sucht offensichtlich<br />
einen Zusammenstoß. Ein Haftbefehl gegen das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee ist<br />
erlassen. Darauf können die Arbeiter und Soldaten nur mit erbittertstem Wi<strong>der</strong>stand<br />
antworten. Plün<strong>der</strong>ungen und Gewaltakte von Verbrecherbanden? Der heute erlassene<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 679
Befehl des Komitees lautet: »Beim ersten Versuch dunkler Elemente, in den Petrogra<strong>der</strong><br />
Straßen Wirren, Plün<strong>der</strong>ungen, Messerstechereien o<strong>der</strong> Schießereien hervorzurufen,<br />
werden die Verbrecher vom Antlitz <strong>der</strong> Erde ausgetilgt werden.« Hinsichtlich <strong>der</strong> Stadtduma<br />
würde sich im Falle eines Konfliktes die konstitutionelle Methode anwenden<br />
lassen: Auflösung und Neuwahlen. Die Delegation ging unbefriedigt davon. Aber worauf<br />
hatte sie eigentlich gerechnet?<br />
Dei offizielle Besuch <strong>der</strong> Stadtväter im Lager <strong>der</strong> Meuterer war eine allzu offene<br />
Ohnmachtsdemonstration <strong>der</strong> Regierung. »Vergeßt nicht, Genossen«, sagte Trotzki, zur<br />
bolschewistischen Fraktion zurückgekehrt, »daß noch vor wenigen Wochen, als wir die<br />
Mehrheit erhielten, wir nur eine Firma waren - ohne Druckerei, ohne Kasse, ohne Filialen<br />
-, und jetzt kommt eine Deputation <strong>der</strong> Stadtduma zum verhafteten Militärischen<br />
Revolurionskomitee, sich über das Geschick von Stadt und Staat zu erkundigen.«<br />
Die Peter-Paul-Festung, politisch erst gestern erobert, trifft heute ihre Rüstungen. Das<br />
Masehinengewehrkommando, <strong>der</strong> revolutionärste Truppenteil, wird in Kampfform<br />
gebracht. Es geht ein eifriges Putzen <strong>der</strong> Colt-Maschinengwehre: es sind ihrer achtzig<br />
Stück. Zur Kontrolle des Kais und <strong>der</strong> Troizki-Brücke werden Maschinengewehre auf<br />
<strong>der</strong> Festungsinauer aufgestellt. Vor dem Tor bezieht eine verstärkte Wache Posten. In die<br />
Umgegend nnd Patrouillen ausgeschickt. Doch im Fieber <strong>der</strong> Morgenstunden erweist<br />
sieh, daß im Innern <strong>der</strong> Festung selbst die Lage noch nicht als völlig gesichert betrachtet<br />
werden kann. Unklarheit wird von einem Radfahrerbataillon hineingetragen. Gleich den<br />
aus wohlhabenden und reichen Bauern rekrutierten Kavalleristen stellen die Radfahrer,<br />
gebildet aus den bürgerlichen Zwischenschichten, die konservativsten Teile <strong>der</strong> Armee<br />
dar. Ein Thema für idealistisehe Psychologen: Es genügt dem Menschen, zumindest in<br />
einem so armen Lande wie Rußland, sich zum Unterschiede von den an<strong>der</strong>en auf zwei<br />
Rä<strong>der</strong>n mit Übersetzung zu fühlen - und seitn Stolz beginnt sich zu blähen wie seine<br />
Radreifen. In Amerika ist für einen solchen Effekt schon ein Automobil nötig.<br />
Zur Unterdrückung <strong>der</strong> Julibewegung herbeigeholt, war das Bataillon seinerzeit eifrig<br />
um die Einnahme des Kschessinskaja-Palais bemüht gewesen und dann als beson<strong>der</strong>s<br />
zuverlässiger Truppenteil in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung untergebracht worden. Am gestrigen<br />
Meeting, welches über das Schicksal <strong>der</strong> Festung entschied, hatten, wie sieh<br />
herausstellte, die Radler nicht teilgenommen: die Disziplin im Bataillon war noch so weit<br />
erhalten, daß es den Offizieren gelang, die Soldaten vom Hinausgehen in den Festungshof<br />
abzuhalten. Auf die Radfahrer rechnend, trägt <strong>der</strong> Festungskommandant den Kopf<br />
hoch, spricht häufig telephonisch mit Kerenskis Stab und plant scheinbar, sogar den<br />
Kommissar des Militärischen <strong>Revolution</strong>ikomitees zu verhaften. Man darf diese<br />
ungeklärte Lage nicht eine Minute länger dulden! Auf Befehl aus dem Smolny schneidet<br />
Blagonrawow dem Gegner den Weg ab: über den Kommandanten wird Hausarrest<br />
verhängt, die Telephonapparate werden in allen Offizierswohnungen abgenommen. Aus<br />
dem Regierungsstab fragt man erregt an, weshalb <strong>der</strong> Kommandant verstummt sei und<br />
was denn überhaupt in <strong>der</strong> Festung vor sich gehe. Blagonrawow meldet ehrerbietig durch<br />
durch das Telephon, die Festung komme von nun an nur noch den Befehlen des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>ikomitees nach, an das sich die Regierung fernerhin auch wenden<br />
müsse.<br />
Alle Truppenteile <strong>der</strong> Festungsgarnison nehmen die Verhaftung des Kommandanten<br />
mit voller Befriedigung auf. Doch die Radler verhalten sich ausweichend. Was steckt<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 680
hinter ihrem düsteren Schweigen: lauernde Feindseligkeit o<strong>der</strong> letztes Schwanken? »Wir<br />
beschließen, ein Son<strong>der</strong>meeting für die Radler zu veranstalten«, schreibt Blagonrawow,<br />
»und dazu unsere besten agitatorischen Kräfte einzuladen, in erster Linie Trotzki, <strong>der</strong><br />
riesige Autorität und Einfluß bei den Soldatenmassen genießt.« Gegen 4 Uhr nachmittags<br />
versammelte sich das ganze Bataillon im Gebäude des benachbarten Zirkus Mo<strong>der</strong>n. Als<br />
Sprecher <strong>der</strong> Regierung trat Generalquartiermeister Poradelow auf <strong>der</strong> als Sozialrevolutionär<br />
galt. Seine Einwände waren <strong>der</strong>art vorsichtig, daß sie zweideutig klangen. Um so<br />
vernichten<strong>der</strong> griffen die Vertreter des Komitees an. Die letzte oratorische Schlacht um<br />
die Peter-Paul-Festung endete, wie zu erwarten war: mit allen Stimmen gegen dreißig<br />
hieß das Bataillon Trotzkis Resolution gut. Wie<strong>der</strong> war einer <strong>der</strong> niöglichen bewaffneten<br />
Konflikte vor dem Kampfe und ohne Blut entschieden worden. Das eben ist <strong>der</strong> Oktoberaufstand.<br />
Dieses sein Stil.<br />
Aufdie Festung konnte man sich von nun an mit ruhiger Sicherheit verlassen. Aus dem<br />
Arsenal wurden ohne alle Hin<strong>der</strong>nisse Waffen geliefert. Im Smolny, im Zimmer <strong>der</strong><br />
Fabrikkomitees, standen Betriebsdelegierte Schlange, um Waffenanweisungen zu erhalten.<br />
Die Hauptstadt hatte in den Kriegsjahren viele Schlangen gesehen: jetzt entstanden<br />
die ersten um Gewehre. Aus allen Bezirken strömten Lastautos zum Arsenal. »Die Peter-<br />
Paul-Festung war nicht wie<strong>der</strong>zuerkennen«, schreibt <strong>der</strong> Arbeiter Skorinko, »ihre<br />
gepriesene Stille war vom Automobilkeuchen, Wagenknarren, Schreien gestört. An den<br />
Lagern herrschte beson<strong>der</strong>es Gedränge ... Hier führte man an uns auch die ersten<br />
Gefangenen vorbei Offiziere und Junker.« An diesem Tage erhielt Gewehre das 180.<br />
Infanterieregiment, entwaffnet wegen aktiver Teilnahme am Juliaufstande.<br />
Die Folgen des Meetings im Zirkus Mo<strong>der</strong>n äußerten sich auch auf <strong>der</strong> Gegenseite: die<br />
Radfahrer, die seit dem Monat Juli das Winterpalais zu schützen hatten, verließen eigenmächtig<br />
die Posten und erklärten, die Regierung nicht mehr schützen zu wollen. Das war<br />
ein ernster Schlag. Die Radfahrer mußten durch Junker ersetzt werden. Militärische<br />
Stütze <strong>der</strong> Regierung blieben immer mehr die Offiziersschulen. Das engte nicht nur die<br />
Ordnungsarmee äußerst ein, son<strong>der</strong>n enthüllte auch restlos <strong>der</strong>en sozialen Bestand.<br />
Die Arbeiter <strong>der</strong> Putilow-Werft, und nicht sie allein, schlugen dem Smolny vor, an die<br />
schnellste Entwaffnung <strong>der</strong> Junkerschulen zu gehen. Wäre diese Maßnahme nach<br />
sorgfältiger Vorbereitung und Verständigung mit den Bedienungskommandos <strong>der</strong><br />
Schulen in <strong>der</strong> Nacht zum 25. durchgeführt worden, die Einnahme des Winterpalais am<br />
nächsten Tag hätte keine Schwierigkeiten bereitet. Wären die Junker wenigstens in <strong>der</strong><br />
Nacht zum 26. entwaffnet worden, nach Einnahme des Winterpalais, <strong>der</strong> Versuch des<br />
Gegenaufstandes am 29. Oktober wäre nicht erfolgt. Aber die Leiter zeigten noch in<br />
vielen Dingen "Großmut", in Wirklichkeit Überfluß an optimistischer Sicherheit, und<br />
horchten nicht immer mit genügen<strong>der</strong> Aufmerksamkeit <strong>der</strong> nüchternen Stimme von<br />
unten: Lenins Abwesenheit äußerte sich auch darin. Die Folgen <strong>der</strong> Versäumnisse und<br />
Fehler mußten die Massen wettmachen, mit unnötigen Opiern auf beiden Seiten. Im<br />
ernsten Kampfe gibt es keine schlimmere Grausamkeit als unzeitgemäße "Großmut"!<br />
In <strong>der</strong> Tagessitzung des Vorparlaments sang Kerenski seinen Schwanengesang. In <strong>der</strong><br />
letzten Zeit befände sich die Bevölkerung Rußlands, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Hauptstadt, in Alarm:<br />
»Appelle zum Aufstand werden täglich in den Zeitungen <strong>der</strong> Bolschewiki gedruckt.« Der<br />
Redner zitierte die Artikel des steckbrieflich verfolgten Staatsverbrechers Wladimir<br />
Uljanow-Lenin. Die Zitate sprachen deutlich und bewiesen unwi<strong>der</strong>legbar, daß die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 681
obengenannte Person zum Aufstand rief. Und in welcher Situation? In dem Augenblicke,<br />
wo die Regierung über die Frage <strong>der</strong> Übergabe des Bodens in die Hände <strong>der</strong> Bauerukomitees<br />
und über Maßnahmen zur Beendigung des Kriege's diskutiert. Die hätten bisher<br />
mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Verschwörer gezögert, um diesen die Möglichkeit zu geben,<br />
ihre Fehler selbst gutzumachen. »Das eben ist das Schlimme«, tönt es aus dem Sektor,<br />
den Miljukow anführt. Doch Kerenski kommt nicht aus <strong>der</strong> Fassung: »Ich ziehe im allgemeinen<br />
vor, daß die Regierungsmacht langsamer, dafür aber zuverlässiger und im erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Augenblick entschiedener vorgeht.« Solche Worte klingen seltsam aus diesem<br />
Munde! Jedenfalls seien »gegenwärtig alle Fristen überschritten«, die Bolschewiki<br />
hätten nicht nur nicht Buße getan, son<strong>der</strong>n zwei Kompanien angefor<strong>der</strong>t und eigenmächtige<br />
Verteilung von Waffen und Patronen vorgenommen. Die Regierung beabsichtige<br />
diesmal, den Exzessen des Pöbels ein Ende zu bereiten. »Ich sage mit vollem<br />
Bewußtsein: Pöbel.« Rechts nimmt man die Beleidigung an die Adresse des Volkes mit<br />
stürmischem Applaus auf. Er, Kerenski, habe bereits befohlen, notwendig gewordene<br />
Verhaftungen vorzunehmen. »Beson<strong>der</strong>s beachtenswert sind die Reden des Vorsitzenden<br />
des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, Bronstein-Trotzkis.« Man möge wissen: die Regierung habe<br />
Kräfte mehr als genug; von <strong>der</strong> Front kämen dauernd For<strong>der</strong>ungen nach entschiedenen<br />
Maßnahmen gegen die Bolschewiki. In diesem Augenblick überreicht Konowalow dem<br />
Redner ein Funktelegramm des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees an die Garnisontruppen:<br />
»Das Regiment in volle Kampffbereitschaft bringen und weitere Befehle abwarten.«<br />
Kerenski schließt feierlich: »In <strong>der</strong> Sprache des Gesetzes und <strong>der</strong> Justiz wird dies als<br />
Aufstand bezeichnet.« Miljukow bezeugt: »Kerenski brachte diese Worte im zufriedenen<br />
Tone eines Advokaten hervor, dem es endlich gelang, seinen Gegner zu überführen.«<br />
»Jene Gruppen und Parteien, die es gewagt haben, die Hand gegen den Staat zu<br />
erheben, werden wir unverzüglich und restlos liquidieren.« Der ganze Saal mit<br />
Ausnahme des linken Teiles applaudiert demonstrativ. Die Rede schließt mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung:<br />
noch heute, in dieser Sitzung, Antwort zu geben, kann die Regierung bei »Erfüllung<br />
ihrer Pflicht mit Sicherheit auf die Unterstützung dieser hohen Versammlung<br />
rechnen«?<br />
Ohne erst die Abstimmung abzuwarten, kehrte Kcrenski in den Stab zurück, nach<br />
seinen eigenen Worten überzeugt, daß noch keine Stunde verstreichen dürfte, bis er den<br />
ihm - unbekannt wofür - erfor<strong>der</strong>lichen Beschluß erhalten würdc. Es kam jedoch an<strong>der</strong>s.<br />
Von zwei bis sechs Uhr abends gingen im Mariinski-Palais fraktionelle und interfraktionelle<br />
Beratungen über den Text <strong>der</strong> Übergangsformel: die Teilnehmer hatten noch nicht<br />
begriffen, daß es um einen Übergang ins Nichts ging. Keine <strong>der</strong> Versöhnlergruppen<br />
wollte sich mit <strong>der</strong> Regierung identifizieren. Dan sagte: »Wir Menschewiki sind bereit,<br />
bis zum letzten Blutstropfen die Provisorische Regierung zu verteidigen; doch muß sie<br />
<strong>der</strong> Demokratie die Möglichkeit geben, sich um sie zusammenzuschließen.« Gegen<br />
Abend einigten sich die zersplitterten, demoralisierten, vom Suchen nach einem Ausweg<br />
erschöpften linken Fraktionen des Vorparlaments auf eine von Dan bei Martow entlehnte<br />
Formel, die die Verantwortung für den Aufstand nicht nur den Bolschewiki, son<strong>der</strong>n<br />
auch <strong>der</strong> Regierung zuschob, sofortige Übergabe des Grund und Bodens zur Verwaltung<br />
an die Landkomitees, Schritte bei den Alliierten zugunsten von Friedensverhandlungen<br />
und so weiter for<strong>der</strong>te. So suchten die Apostel <strong>der</strong> Mäßigkeit in letzter Minute Losungen<br />
nachzuäffen, die sie gestern noch als Demagogie und Abenteurertum gebrandmarkt<br />
hatten. Bedingungslose Unterstützung <strong>der</strong> Regierung versprachen außer den Genossen-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 682
schaftlern nur Kadetten und Kosaken; zwei Gruppen, die die Absicht hatten, Kerenski<br />
bei <strong>der</strong> ersten Gelegenheit zu stürzen. Sie blieben aber in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit. Die Unterstützung<br />
des Vorparlaments hätte <strong>der</strong> Regierung zwar auch nicht viel einbringen können.<br />
Dennoch hat Miljukow recht: die Verweigerung dieser Unterstützung nahm <strong>der</strong> Regierung<br />
die letzten Reste von Autorität. War doch die Zusammensetzung des Vorparlaments<br />
wenige Wochen zuvor von <strong>der</strong> Regierung selbst festgelegt worden!<br />
Während im Mariinski-Palais eine rettende Formel gesucht wurde, trat im Smolny <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Sowjet zusammen, um sich über die Ereignisse zu informieren. Der Berichterstatter<br />
findet für nötig, auch hier daran zu erinnern, daß das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
entstanden sei »nicht als Organ des Aufstandes, son<strong>der</strong>n auf dem Boden <strong>der</strong><br />
Selbstverteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>«. Das Komitee habe Kerenski an <strong>der</strong> Entfernung <strong>der</strong><br />
revolutionären Truppen aus Petrograd gehin<strong>der</strong>t und die Arbeiterpresse unter seinen<br />
Schutz genommen. »Ist das ein Aufstand?« Die "Aurora" steht heute dort, wo sie gestern<br />
nacht war. »Ist das ein Aufstand?« - »Bei uns besteht eine Scheinmacht, <strong>der</strong> das Volk<br />
nicht vertraut und die sich selbst nicht vertraut, denn sie ist innerlich tot. Diese Seheinmacht<br />
wartet darauf, vom historischen Besen hinweggefegt zu werden und den Platz zu<br />
räumen für die wahre Macht des revolutionären Volkes.« Morgen werde <strong>der</strong> Sowjetkongreß<br />
eröffnet. Pflicht <strong>der</strong> Garnison und <strong>der</strong> Arbeiter sei, dem Kongreß ihre ganze Kraft<br />
zur Verfügung zu stellen. »Wenn die Regierung aber versuchen sollte, die vierundzwanzig<br />
o<strong>der</strong> achtundvierzig Stunden, die ihr geblieben sind, zu benutzen, um <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
das Messer in den Rücken zu stoßen, so erklären wir aufs neue: die vor<strong>der</strong>sten Reihen<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> werden Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren.« Diese offene<br />
Drohung ist gleichzeitig die politische Deckung des in <strong>der</strong> Nacht bevorstehenden Schlages.<br />
Trotzki teilt zum Schluß mit, daß die Vorparlarnentsfraktion <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre<br />
nach dem heutigen Auftreten Kerenskis und dem Mäusetreiben <strong>der</strong><br />
Versöhnlerfrakrionen eine Delegation in das Smolny entsandt und ihre Bereitschaft<br />
ausgesprochen habe, offiziell in das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee einzutreten. In <strong>der</strong><br />
Wendung <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre begrüßte <strong>der</strong> Sowjet freudig die Wi<strong>der</strong>spiegelung<br />
tieferer Prozesse: den wachsenden Schwung des Bauerrikrieges und den erfolgreichen<br />
Verlauf des Petrogra<strong>der</strong> Aufstandes.<br />
Den Bericht des Petrogra<strong>der</strong> Sowjetvorsitzenden kommentierend, schreibt Miljukow:<br />
»Dies war auch wahrscheinlich Trotzkis ursprünglicher Plan: Nach getroffenen Kampfvorbereitungen<br />
die Regierung von Angesicht zu Angesicht zu stellen mit dem "einmütigen<br />
Willen des Volks", zum Ausdruck gebracht durch den Sowjetkongreß, um so <strong>der</strong> neuen<br />
Macht den Anschein legalen Ursprungs zu verleihen. Doch die Regierung erwies sich<br />
schwächer, als er erwartet hatte. Und die Macht fiel ihm von selbst in die Hände, bevor<br />
<strong>der</strong> Kongreß sich versammeln und äußern konnte.« An diesen Worten ist zutreffend, daß<br />
die Schwäche <strong>der</strong> Regierung alle Erwartungen übertraf Doch bestand <strong>der</strong> Plan von<br />
Anfang an darin, die Macht vor Eröffnung des Kongresses zu ergreifen. Miljukow gibt<br />
dies übrigens in einem an<strong>der</strong>en Zusammenhange selbst zu. »Die wirklichen Absichten<br />
<strong>der</strong> Aufstandführer«, schreibt er, »gingen viel weiter als diese offiziellen Erklärungen<br />
Trotzkis... Der Sowjetkongreß sollte vor eine vollendete Tatsache gestellt werden.«<br />
Der rein militärische Plan bestand ursprünglich darin, die baltischen Seeleute mit den<br />
bewaffneten Wyborger Arbeitern zu vereinigen: die Matrosen sollten mit <strong>der</strong> Eisenbahn<br />
kommen und auf dem Finnländischen Bahnhof, <strong>der</strong> im Wyborger Bezirk liegt,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 683
aussteigen. Von diesem Sammelpunkt aus sollte sich <strong>der</strong> Aufstand durch Hinzukommen<br />
weiterer Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde und Truppen <strong>der</strong> Garnison auf an<strong>der</strong>e Bezirke<br />
ausbreiten, um nach Besetzung <strong>der</strong> Brücken ins Zentrum einzudringen und den endgültigen<br />
Schlag zu führen. Dieser sich naturgemäß aus <strong>der</strong> Lage ergebende und offenbar von<br />
Antonow ausgearbeitete Plan beruhte auf <strong>der</strong> Vermutung, <strong>der</strong> Gegner könnte noch<br />
bedeutenden Wi<strong>der</strong>stand leisten. Doch diese Voraussetzung wurde bald hinfällig: Von<br />
einem beschränkten Sammelpunkt aus vorzugehen, bestand keine Notwendigkeit; die<br />
Regierung erwies sich überall, wo die Aufständischen es für nötig erachteten, gegen sie<br />
einen Schlag zu führen, als völlig ungeschützt. Der strategische Plan erfuhr Verän<strong>der</strong>ungen<br />
auch in bezug auf die Fristen, und zwar in zweierlei Richtung: Der Aufstand brach<br />
früher aus und endete später, als vorausgesehen war. Der Anschlag <strong>der</strong> Regierung vom<br />
Morgen rief soforrige Wi<strong>der</strong>standsmaßnahmen defensiver Art seitens des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees hervor. Die dabei offenbar gewordene Ohnmacht <strong>der</strong> Behörden<br />
stieß den Smolny schon im Laufe des Tages zu Offensivmaßnahmen, die allerdings einen<br />
unfertigen, halbmaskierten, vorbereitenden Charakter trugen. Der Hauptschlag sollte<br />
nach wie vor nachts geführt werden: in diesem Sinne blieb <strong>der</strong> Plan in Kraft. Er wurde<br />
jedoch im Verlaufe <strong>der</strong> Durchführung umgestoßen, nunmehr aber in entgegengeqizter<br />
Richtung. Für die Nacht war die Einnahme aller Kommandohöhen vorgesehen, in erster<br />
Linie des Winterpalais, wo sich die Zentralmacht verborgen hielt. Aber die Zeiteinteilung<br />
ist bei einem Aufstande noch schwieriger als im regulären Krieg. Die Leiter hatten sich<br />
mit dem Zusammenziehen <strong>der</strong> Kräfte um viele Stunden verspätet, und die Operationen<br />
gegen das Winter-palais, die in <strong>der</strong> Nacht nicht einmal eingeleitet werden konnten, bildeten<br />
ein beson<strong>der</strong>es Kapitel <strong>der</strong> Umwälzung, das erst in <strong>der</strong> Nacht auf den 26., das heißt<br />
mit einer Verspätung um volle vierundzwanzig Stunden, seinen Abschluß fand. Ohne<br />
ernste Versager ist auch <strong>der</strong> glänzendste Sieg nicht zu erringen!<br />
Nach Kerenskis Auftreten im Vorparlament versuchten die Behörden, ihre Offensive<br />
auszudehnen. Junkerabteilungen besetzten die Bahnhöfe. An großen Straßenkreuzungen<br />
sind Wachtposten aufgestellt mit <strong>der</strong> Weisung, die dem Staate nicht abgelieferten<br />
Privatautos zu requirieren. Gegen 3 Uhr nachmittags wurden die Brücken auseinan<strong>der</strong>genommen,<br />
mit Ausnahme <strong>der</strong> Schloßbrücke, die unter starker Bewachung von Junkem für<br />
den Verkehr frei blieb. Diese Maßnahme, von <strong>der</strong> Monarchie hei allen Unruhen<br />
angewandt, zuletzt in den Februartagen, war von <strong>der</strong> Angst vor den Arbeiterbezirken<br />
diktiert. Das Auseinan<strong>der</strong>nehmen <strong>der</strong> Brücken bildete in den Augen <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
gleichsam die offizielle Bestätigung dessen, daß <strong>der</strong> Aufstand begonnen habe. Die Stäbe<br />
<strong>der</strong> interessierten Bezirke beantworteten den Kriegsakt <strong>der</strong> Regierung sogleich auf ihre<br />
Art durch Entsendung bewaffneter Abteilungen zu den Brücken. Dem Smolny blieb nur<br />
übrig, diese Initiative zu unterstützen. Der Kampf um die Brücken hatte für beide<br />
Parteien den Charakter einer Kräfteprüfung. Bewaffnete Arbeiter- und Soldatentrupps<br />
drängten bald mit Zureden, bald mit Drohungen gegen Junker und Kosaken an. Die<br />
Wachen traten schließlich ah, ohne einen direkten Zusammenstoß zu wagen. Einige<br />
Brücken wurden mehrere Male hintereinan<strong>der</strong> geöffnet und geschlossen.<br />
Die "Aurora" erhielt unmittelbar vom Militärischen <strong>Revolution</strong>skoniitee Befehl: »Mit<br />
allen euch zur Verfügung stehenden Mitteln den Verkehr auf <strong>der</strong> Nikolajewski-Brücke<br />
wie<strong>der</strong>herstellen.« Der Kommandant des Kreuzers versuchte, die Ausführung des<br />
Befehls hintanzuhalten, doch nachdem gegen ihn und sämtliche Offiziere symbolische<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 684
Verhaftung angewandt worden war, übernahm er gehorsanist den Befehl über das Schiff.<br />
An beiden Ufern rückten Ketten von Matrosen vor. Ehe noch die "Aurora" vor <strong>der</strong><br />
Brücke Anker werfen konnte, erzählt Kurkow, war von den Junkern jede Spur<br />
verschwunden. Die Matrosen schlossen die Brücke und stellten Posten. Nur die Schloßbrücke<br />
verblieb noch einige Stunden in den Händen <strong>der</strong> Regierungswachcn.<br />
Trotz dem offensichtlichen Mißlingen <strong>der</strong> ersten Aktionen versuchten einzelne Regierungsorgane<br />
auch weiterhin ihre Schläge zu führen. Eine Milizabteilung erschien abends<br />
in einer großen Privatdruckerei, um die Zeitung des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, 'Arbeiter und<br />
Soldat', zu beschlagnahmen. Zwölf Stunden vorher waren die Arbeiter <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Druckerei aus dem gleichen Anlaß um Hilfe in das Smolny geeilt; nun ist dies<br />
nicht mehr nötig. Gemeinsam mit zwei zufällig anwesenden Matrosen nahmen die<br />
Druckereiarbeiter das mit Zeitungen beladene Automobil weg, wobei sich ihnen sogleich<br />
ein Teil <strong>der</strong> Milizionäre anschloß. Der Inspektor <strong>der</strong> Miliz floh. Die entrissenen Zeitungen<br />
wurden wohlbehalten im Smolny abgeliefert. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
sandte zwei Kolonnen des Preobraschensker Regiments zum Schutze. Die erschrockene<br />
Administration übergab die Leitung <strong>der</strong> Druckerei sogleich dem Rat <strong>der</strong> Arbeiterältesten.<br />
Zwecks Vornahme von Verhaftungen in das Smolny einzudringen, kam den Justizbehörden<br />
nicht einmal in den Sinn: es war zu offensichtlich, daß dies das Signal zum<br />
Bürgerkriege bedeutet hätte mit einer im voraus sicheren Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Regierung.<br />
Dafür aber wurde im Wege administrativer Konvulsion im Wyborger Bezirk, wo auch in<br />
besseren Tagen die Behörden es tunlichst vermieden, sich zu zeigen, <strong>der</strong> Versuch unternommen,<br />
Lenin zu verhaften. Spät abends drang irgendein Oberst mit einem Dutzend<br />
Junker statt in die bolschewistische Redaktion irrtümlich in einen Arbeiterklub ein, <strong>der</strong><br />
sich in demselben Hause befand: die Kämpen vermuteten aus irgendeinem Grunde, daß<br />
Lenin in <strong>der</strong> Redaktion auf sie warte. Vom Klub aus informierte man unverzüglich den<br />
Bezirksstab <strong>der</strong> Roten Garde. Während <strong>der</strong> Oberst durch verschiedene Etagen irrte, sogar<br />
zu den Menschewiki geriet, trafen Rotgardisten ein, verhafteten ihn zusammen mit den<br />
Junkern, brachten ihn zum Wyborger Bezirksstab und von dort in die<br />
Peter-Paul-Festung. So stieß <strong>der</strong> mit Donnerstimme angekündigte Feldzug gegen die<br />
Bolschewiki bei jedem Schritt auf unüberwindliche Schwierigkeiten, verwandelte sich in<br />
zusammenhanglose Überfälle und kleine Anekdoten, verflog und verdampfte in Nichts.<br />
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitec arbeitete indessen unablässig. Bei den Truppenteilen<br />
hielten Kommissare Wache. Der Bevölkerung wurde durch beson<strong>der</strong>en Aufruf<br />
bekanntgegeben, an wen sie sich im Falle konterrevolutionärer o<strong>der</strong> pogromistischer<br />
Anschläge zu wenden habe: »Hilfe wird unverzüglich geleistet werden.« Es genügt ein<br />
nachdrücklicher Besuch des Kommissars des Kexholmer Regiments im Telephonamt,<br />
damit die Apparate des Smolny wie<strong>der</strong> angeschlossen waren. Die Telephonverbindung,<br />
die schnellste von allen, verlieh den sich entwickelndenen Sicherheit und Planmäßigkeit.<br />
Indem es seine Kommissare in jene Ämter entsandte, die noch nicht unter seiner<br />
Kontrolle standen, erweiterte und festigte das Miltärische <strong>Revolution</strong>skomitee die<br />
Ausgangspositionen für den bevorstehenden Angriff. Am Tage händigte Dserschinski<br />
dem alten <strong>Revolution</strong>är Pestkowski einen Papierfetzen aus, <strong>der</strong> ein Mandat auf den<br />
Posten eines Kommissars des Haupttelegraphenamtes darstellen sollte. - »Wie das<br />
Telegraphenamt besetzen?« fragte nicht ohne Staunen <strong>der</strong> neue Kommissar. - »Dort hält<br />
das Kexholmcr Regiment Wache, das auf unserer Seite ist!« Weiterer Erklärungen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 685
edurfte Pestkowski nicht. Es haben zwei mit Gewehren versehene Kexholmer am<br />
Stromschalter genügt, um ein zeitweiliges Kompromiß mit den feindlichen Telegraphenbeamten,<br />
unter denen es nicht einen Bolschewik gab, zu erreichen.<br />
Um 9 Uhr abends besetzte ein an<strong>der</strong>er Kommissar des Militärisshen <strong>Revolution</strong>skomitees,<br />
Stark, mit einer kleinen Abteilung Seeleute unter dem Kommando des Matrosen<br />
Sawin, eines früheren Emigranten, die amtliche Telegraphenagentur, was nicht nur das<br />
Schicksal <strong>der</strong> Institution selbst, son<strong>der</strong>n bis zu einem gewissen Grade auch sein eigenes<br />
bestimmte: Stark war erster Sowjetdirektor <strong>der</strong> Agentur, bevor er Sowjetgesandtcr in<br />
Afghanistan wurde.<br />
Stellten diese zwei bescheidenen Operationen Akte des Aufstandes dar o<strong>der</strong> nur Episoden<br />
<strong>der</strong> Doppelherrschaft, allerdings von dem versöhnlerischen auf das bolschewistische<br />
Geleise umgeleitet? Die Frage kann begründeterweise kasuistisch erscheinen. Aber für<br />
die Tarnung des Aufstandes hatte sie immer noch gewisse Bedeutung. Tatsache ist, daß<br />
sogar das Eindringen <strong>der</strong> bewaffneten Matrosen noch den Charakter <strong>der</strong> Halbheit trug:<br />
formell handelte es sich vorläufig nicht um die Besetzung des Amtes, son<strong>der</strong>n nur um die<br />
Errichtung einer Telegrammzensur. Somit wurde bis zum Abend des 24. die Nabelschnur<br />
<strong>der</strong> "Legalität" nicht endgültig durchschnitten, die Bewegung deckte sich noch immer mit<br />
den Resten <strong>der</strong> Doppelherrsehaftstradition.<br />
Bei <strong>der</strong> Ausarbeitung <strong>der</strong> Aufstandspläne hatte das Smolny große Hoffnung auf die<br />
baltischen Seeleute gesetzt als eine Kampfabteilung, hei <strong>der</strong> sich proletarische Entschlossenheit<br />
mit soli<strong>der</strong> militärischer Ausbildung verband. Das Eintreffen <strong>der</strong> Matrosen in<br />
Petrograd war im voraus dem Sowjetkongreß angepaßt. Ein früheres Herbeirufen <strong>der</strong><br />
baltischen Seeleute hätte bedeutet, offen den Weg des Aufstands zu beschreiten. Daraus<br />
erwuchs eine Schwierigkeit, die zur Verspätung führte.<br />
Im Smolny trafen im Laufe des 24. zwei Delegierte des Kronstädter Sowjets zum<br />
Kongreß ein: <strong>der</strong> Bolschewik Flerowski und <strong>der</strong> Anarchist Jartschuk, <strong>der</strong> mit den<br />
Bolschewiki ging. In einem Zimmer des Smolny stießen sie mit Tschudnowski zusammen,<br />
<strong>der</strong> eben von <strong>der</strong> Front gekommen war und sich unter Berufung auf die Soldatenstimmungen<br />
gegen einen Aufstand in <strong>der</strong> nächsten Periode aussprach. »Beim heftigsten<br />
Streit«, erzählt Flerowski, »betrat das Zimmer Trotzki ... Er rief mich beiseite und<br />
empfahl mir, unverzüglich nach Kronstadt zurückzukehren: "die Ereignasse reifen so<br />
schnell, daß je<strong>der</strong> auf seinem Platze sein muß" ... In <strong>der</strong> kurzen Weisung empfand ich<br />
scharf die Disziplin des heranrückenden Aufstandes.« Der Streit brach ab. Der empfängliche<br />
und leidenschaftliche Tschudnowski stellte seine Zweifel zurück, um an <strong>der</strong> Ausarbeitung<br />
<strong>der</strong> Kriegspläne teilzunehmen. Flerowski und Jartschuk eilte ein Funkspruch<br />
hinterher: »Mit den bewaffneten Kräften Kronstadts beim Morgengrauen zur Verteidigung<br />
des Sowjetkongresses ausrücken.«<br />
Durch Swerdlow sandte das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee in <strong>der</strong> Nacht ein<br />
Telegramm nach Helsingfors an Smilga, den Vorsitzenden des Distriktkomitees <strong>der</strong><br />
Sowjets in Finnland: »Schicke Statuten.« Das bedeutete: schicke sofort tausendfünfhun<strong>der</strong>t<br />
ausgewählte baltische Matrosen bis an die Zähne bewaffnet. Wenn auch die baltischen<br />
Matrosen erst im Laufe des nächsten Tages eintreffen können, so besteht dennoch<br />
keine Ursache, die Kampfhandlungen aufzuschieben: es gibt genügend lokale Kräfte, -<br />
auch besteht dazu nicht die Möglichkeit: die Operationen sind bereits in vollem Gange.<br />
Sollten <strong>der</strong> Regierung von <strong>der</strong> Front Verstärkungen zu Hilfe kommen, so werden die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 686
Seeleute früh genug da sein, um sie von <strong>der</strong> Flanke o<strong>der</strong> im Rücken anzugreifen.<br />
Die taktische Ausarbeitung des Schemas <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Hauptstadt ist vorwiegend<br />
das Werk <strong>der</strong> Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki. Generalstabsoffiziere würden<br />
an dem Plane <strong>der</strong> Profanen viele Lücken entdecken. Doch pflegen Militärakademiker<br />
nicht teilzunehmen an <strong>der</strong> Vorbereitung eines revolutionären Aufstandes. Das Allernotwendigste<br />
ist jedenfalls vorgesehen. Die Stadt ist in Kampfreviere eingeteilt, die den<br />
nächsten Stäben unterstellt sind. An den wichtigsten Punkten sind Mannschaften <strong>der</strong><br />
Roten Garde zusammengezogen und in Verbindung gebracht mit den benachbarten<br />
Truppenteilen, wo Wachtkompanien in Bereitschaft liegen. Die Ziele je<strong>der</strong> einzelnen<br />
Operation und die Kräfte dafür sind im voraus festgelegt. Alle Teilnehmer des Aufstandes,<br />
von oben bis unten - darin liegt seine Macht, darin aber in gewissen Augenblicken<br />
auch seine Achillesferse -, sind von <strong>der</strong> Überzeugung durchdrungen, <strong>der</strong> Sieg werde<br />
ohne Opfer errungen werden.<br />
Die Hauptoperationen begannen gegen 2 Uhr nachts. Mit kleineren militärischen<br />
Gruppen, in <strong>der</strong> Regel mit einem Kern aus bewaffneten Arbeitern o<strong>der</strong> Matrosen unter<br />
Leitung von Kommissaren, wurden gleichzeitig o<strong>der</strong> nacheinan<strong>der</strong> Bahnhöfe, Elektrizitätszentrale,<br />
Militär- und Proviantlager, Wasserleitung, Schlossbrücke, Telephonzentrale,<br />
Staatsbank, die großen Druckereien besetzt, Telegraph und Post gesichert, überall zuverlässige<br />
Wachen aufgestellt.<br />
Dürftig und farblos sind die Berichte über die Episoden <strong>der</strong> Oktobernacht: sie gleichen<br />
einem Polizeiprotokoll. Alle Kampfteilnehmer schüttelt Nervenfieber. Es ist niemand da<br />
und es is keine Zeit für Beobachtungen und Aufzeichnungen. Die bei den Stäben einlaufenden<br />
Informationen werden nicht o<strong>der</strong> nur nachlässig zu Papier gebracht, auch gehen<br />
die Notizen verloren. Die nachträglichen Erinnerungen sind trocken und nicht immer<br />
genau, da sie meist von zufälligen Teilnehmern und Beobachtern stammen. Jene<br />
Arbeiter, Matrosen und Soldaten aber, die die wirklichen Inspiratoren und Leiter <strong>der</strong><br />
Operationen zur Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt waren, gelangten bald an die Spitze <strong>der</strong> ersten<br />
Abteilungen <strong>der</strong> Roten Arniee und ließen in den meisten Fällen bald ihr Leben auf den<br />
verschiedenen Schauplätzen des Bürgerkrieges. Bei <strong>der</strong> Ermittlung des Charakters und<br />
<strong>der</strong> Aufeinan<strong>der</strong>folge <strong>der</strong> einzelnen Episoden stößt <strong>der</strong> Forscher auf große Verworrenheiten,<br />
die die Zeitungsberichte nur noch komplizierter gestalten. Es scheint mitunter, daß<br />
im Herbst 1917 Petrograd zu erobern leichter war, als vierzehn Jahre später diesen<br />
Prozeß zu rekonstruieren<br />
Die erste Kompanie des Pionierbataillons, die festeste und revolutionärste, wurde mit<br />
<strong>der</strong> Einnahme des benachbarten Nikolajewski-Bahnhofs betraut. Schon nach einer<br />
Viertelstunde war <strong>der</strong> Bahnhof ohne einen Schuß mit starken Wachen besetzt: die regierungstreuen<br />
Posten hatten sich einfach in die Dunkelheit verflüchtigt. Voll verdächtigen<br />
Lärms und geheimnisvoller Bewegung ist die kalte durchdringende Nacht. Die scharfe<br />
Unruhe in ihrem Herzen unterdrückend, halten Soldaten gewissenhaft Vorbeigehende<br />
und Vorbeifahrende an, um sorgfältig <strong>der</strong>en Papiere zu prüfen. Nicht immer wissen sie,<br />
wie zu verfahren, schwanken, - lassen meistens vorbei. Doch mit je<strong>der</strong> Stunde steigt die<br />
Sicherheit. Gegen 6 Uhr morgens halten die Pioniere zwei Kraftwagen mit Junkem an,<br />
etwa sechzig Mann, entwaffnen sie und bringen sie in das Smolny.<br />
Das gleiche Bataillon erhält Befehl, fünfzig Mann zum Schutze eines Proviantlagers zu<br />
schicken, einundzwanzig Mann zur Bewachung <strong>der</strong> Elektrischen Zentrale. Eine Or<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 687
löst die an<strong>der</strong>e ab, bald aus dem Smolny, bald aus dem Bezirk. Niemand wi<strong>der</strong>spricht,<br />
niemand murrt. Nach <strong>der</strong> Meldung eines Kommissars werden die Befehle »umgehend<br />
und exakt« durchgeführt. Die Bewegungen <strong>der</strong> Soldaten bekommen eine längst nicht<br />
mehr dagewesene Präzision. So sehr diese morsche Garnison auch aufgelockert, nur noch<br />
zum Abbruch tauglich ist, erwacht diese Nacht <strong>der</strong> alte Soldatendrill wie<strong>der</strong> in ihr und<br />
spannt - zum letztenmal - jeden Muskel im Dienste des neuen Zieles.<br />
Kommissar Uralow erhielt zwei Mandate: eins zur Besetzung <strong>der</strong> Druckerei <strong>der</strong><br />
reaktionären Zeitung 'Russkaja Wolja' ('Russischer Wille'), einstmals gegründet von<br />
Protopopow, kurz bevor er Nikolaus II. letzter Innenminister geworden; das zweite - eine<br />
Kolonne Soldaten aus dem Semjonowsker Gar<strong>der</strong>egiment zu holen, das die Regierung<br />
aus alter Gewohnheit noch als das ihrige betrachtete. Die Semjonowsker wurden<br />
gebraucht zur Besetzung einer Druckerei, die Druckerei - zur Herausgabe <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Zeitung in großem Format und großer Auflage. Die Soldaten waren bereits beim<br />
Schlafengehen. Der Kommissar setzte ihnen kurz den Zweck seiner Mission auseinan<strong>der</strong>:<br />
»Kaum war ich fertig, als von allen Plätzen Hurrarufe erschallten. Die Soldaten sprangen<br />
von ihren Pritschen auf und umringten mich im engen Kreise.« Vollbeladen mit<br />
Semjonowsker Soldaten fuhr das Lastauto zur Druckerei. Im Rotationsmaschinensaal<br />
versammelte sich im Nu die Nachtschicht <strong>der</strong> Arbeiter. Der Kommissar setzte ihnen den<br />
Zweck seines Erscheinens auseinan<strong>der</strong>. »Wie in <strong>der</strong> Kaserne antworteten auch hier die<br />
Arbeiter mit Rufen Hurra! und Hoch die Sowjets!« Die Mission ist erfüllt. Ungefähr in<br />
<strong>der</strong> gleichen Weise vollzog sich auch die Einnahme an<strong>der</strong>er Institutionen. Gewaltanwendung<br />
war nicht erfor<strong>der</strong>lich, da es keinen Wi<strong>der</strong>stand gab. Die aufständischen Massen<br />
breiteten die Ellenbogen aus und verdrängten die gestrigen Herren.<br />
Der Bezirkskommandierende Polkownikow meldete nachts ins Hauptquartier und in<br />
den Stab <strong>der</strong> Nordfront über die militärischen Drahtleitungen: »Lage in Petrograd<br />
erschreckend. Straßenkundgebungen und Unruhen finden nicht statt. Aber es geht eine<br />
planmäßige Besetzung von Ämtern und Bahnhöfen, Verhaftungen ... Die Junker verlassen<br />
die Wachtposten ohne Wi<strong>der</strong>stand. Es bestehen keine Garantien, daß nicht ein<br />
Versuch zur Verhaftung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung unternommen wird.« Polkownikow<br />
hat recht: es bestehen tatsächlich keine Garantien.<br />
In Militärkreisen erzählte man, Agenten des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees hätten<br />
bei dem Petrogra<strong>der</strong> Kommandanten aus dessen Tisch Parolen und Abberufungsor<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Garnisonwachen gestohlen. Unwahrscheinlich wäre das nicht: beim unteren Personal<br />
aller Ämter hatte <strong>der</strong> Aufstand Freunde genug. Aber doch ist die Version von den<br />
entwendeten Parolen aller Wahrscheinlichkeit nach entstanden, um jene allzu kränkende<br />
Leichtigkeit zu erklären, mit <strong>der</strong> die bolschewistischen Wachen die Stadt einnahmen.<br />
An die Garnison ist während <strong>der</strong> Nacht ein Befehl ergangen: Offiziere, die die Macht<br />
des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees nicht anerkennen, sind zu verhaften. In vielen<br />
Regimentern waren die Kommandeure bereits von selbst verschwunden, um an einem<br />
stillen Platze die unruhigen Tage abzuwarten. In an<strong>der</strong>en Truppenteilen wurden die<br />
Offiziere entfernt o<strong>der</strong> verhaftet. Überall bildeten sich eigene revolutionäre Komitees<br />
o<strong>der</strong> Stäbe, die Hand in Hand mit den Kommissaren arbeiteten. Daß das improvisierte<br />
Kommando nicht auf <strong>der</strong> Höhe war, versteht sich von selbst. Dafür aber war es zuverlässig.<br />
Und die Frage wurde vor allem in <strong>der</strong> politischen Instanz entschieden.<br />
Doch entwickelten bei all ihrer Unerfahrenheit die Stäbe einzelner Truppenteile bedeu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 688
tende militärische Initiative. Das Komitee des Pawlowsker Regiments schickte von sich<br />
aus Kundschafter in den Bezirksstab, um zu erfahren, was dort geschehe. Das Reserve-<br />
Chemiebataillon beobachtete aufmerksam die unruhigen Nachbarn: die Junker <strong>der</strong><br />
Pawlowsker und Wladimirsker Schulen und die Schüler des Kadettenkorps. Die Chemiker<br />
entwaffneten häufig auf <strong>der</strong> Straße Junker und hielten sie damit in Angst. Durch<br />
Verbindung mit dem Soldaterrkommando <strong>der</strong> Pawlowsker Schule erreichte <strong>der</strong> Stab des<br />
Chemischen Bataillons, daß die Schlüssel zu den Waffen in die Hände des Kommandos<br />
gerieten.<br />
Die Zahlenstärke <strong>der</strong> an <strong>der</strong> nächtlichen Einnahme <strong>der</strong> Hauptstadt unmittelbar Beteiligten<br />
ist schwer zu bestimmen: nicht nur, weil niemand sie gezählt und notitiert hat,<br />
son<strong>der</strong>n auch des Charakters <strong>der</strong> Operation wegen. Die Reserven zweiten und dritten<br />
Grades verschmolzen fast mit <strong>der</strong> gesamten Garnison Doch brauchte man nur episodisch<br />
zu den Reserven zu greifen. Einige tausend Rotgardisten, zwei-, dreitausend Seeleute -<br />
morgen mit dem Eintreffen <strong>der</strong> Kronstädter und Helsingforser wird ihre Zahl sich<br />
annähernd verdreifachen -, etwa zwanzig Infanteriekompanien und -kommandos -, das<br />
waren die Kräfte ersten und zweiten Aufgebots, mit <strong>der</strong>en Hilfe die Aufständischen die<br />
Hauptstadt einnahmen.<br />
Um 3 Uhr nachts meldete <strong>der</strong> Chef <strong>der</strong> politischen Verwaltung des<br />
Kriegsministeriums, Menschewik Seher, über die direkte Leitung nach dem Kaukasus:<br />
»Es tagt eine Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees gemeinsam mit den zum Sowjetkongreß<br />
eingetroffenen Delegierten, in überwiegen<strong>der</strong> Mehrheit Bolschewiki. Trotzki wurde<br />
eine Ovation bereitet. Er erklärte, daß er auf einen unblutigen Ausgang des Aufstandes<br />
hoffe, da die Macht in ihren Händen sei. Die Bolschewiki sind zu aktiven Handlungen<br />
übergegangen. Sie haben die Nikolajewski-Brücke besetzt, dort Panzerwagen aufgefahren.<br />
Das Pawlowsker Regiment hat auf <strong>der</strong> Milljonaja-Straße neben dem Winterpalais<br />
Posten aufgestellt, hält alle an, verhaftet und führt ins Smolny-Institut ab. Verhaftet sind<br />
Minister Kartaschew und <strong>der</strong> Geschäftsführer <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, Halperin.<br />
Der Baltische Bahnhof ist ebenfalls in den Händen <strong>der</strong> Bolschewiki. Wenn die Front sich<br />
nicht einmischt, verfügt die Regierung über keine Kräfte, den vorhandenen Truppen<br />
Wi<strong>der</strong>stand zu leisten.«<br />
Die Vereinigte Sitzung des Exekutivkoniitees, von <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bericht Leutnant Sehers<br />
spricht, wurde im Smolny nach Mitternacht eröffnet. Die Delegierten des Sowjetkongresses<br />
füllten den Saal als Gäste. Korridore und Gänge sind durch verstärkte Wachen<br />
besetzt. Feldgraue Mäntel, Gewehre, in den Fenstern Maschinengewehre. Die Mitglie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Exekutivkomitees ertranken in <strong>der</strong> vielköpfigen und feindlichen Masse <strong>der</strong> Provinzler.<br />
Das oberste Organ <strong>der</strong> "Demokratie" schien bereits Gefangener des Aufstandes zu<br />
sein. Es fehlte die gewohnte Figur des Vorsitzenden Tschcheidse. Es fehlte <strong>der</strong> unvermeidliche<br />
Referent Zeretelli. Eingeschüchtert durch den Gang <strong>der</strong> Ereignisse, hatten<br />
beide einige Wochen vor dem Kampfe ihre verantwortlichen Posten nie<strong>der</strong>gelegt und<br />
waren, Petrograd seinem Schicksal überlassend, in ihr heimatliches Georgien abgereist.<br />
Führer des Versöhnlerblocks blieb Dan. Er besaß we<strong>der</strong> die listige Gutmütigkeit<br />
Tschcheidses noch die pathetische Beredsamkeit Zeretellis; dafür überragte er beide an<br />
starrer Kurzsichtigkeit. Einsam auf <strong>der</strong> Präsidiumstribüne eröffnete <strong>der</strong> Sozialrevolutionär<br />
Goz die Sitzung. Dan nahm das Wort unter völligem Schweigen des Saales, das<br />
Suchanow lau schien und John Reed »fast bedrohlich«. Das Steckenpferd des Redners<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 689
war eine frischgebackene Resolution des Vorparlaments, die versuchte, dem Aufstand<br />
das blasse Echo seiner eigenen Losungen entgegenzustellen, »Es wird zu spät werden,<br />
wenn ihr diesen Beschluß nicht beachtet«, sagte Dan, drohend mit dem unvermeidlichen<br />
Hunger und <strong>der</strong> Demoralisierung <strong>der</strong> Massen. »Niemals war die Konterrevolution so<br />
stark wie in diesem Augenblick«, das heißt in <strong>der</strong> Nacht auf den 25. Oktober 1917! Der<br />
erschrockene Kleinbürger sieht angesichts großer Ereignisse nichts als Gefahren und<br />
Hin<strong>der</strong>nisse. Seine einzige Kraftquelle ist - das Pathos <strong>der</strong> Angst. »In den Betrieben und<br />
Kasernen hat die Schwarzhun<strong>der</strong>t-Presse bedeutend größeren Erfolg als die sozialistische.«<br />
Wahnsinnige führen die <strong>Revolution</strong> ins Ver<strong>der</strong>ben, wie 1905, »als an <strong>der</strong> Spitze<br />
des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets <strong>der</strong> gleiche Trotzki stand«. Doch nein. Das Zentral-Exekutivkomitee<br />
wird einen Aufstand nicht zulassen: »Nur über seiner Leiche werden sich die<br />
Bajonette <strong>der</strong> kämpfenden Parteien kreuzen.« Von den Plätzen erschallen Rufe: »Aber es<br />
ist ja längst eine Leiche.« Das Treffende dieses Zwischenrufes empfand <strong>der</strong> ganze Saal:<br />
Über <strong>der</strong> Leiche des Versöhnlertums kreuzten sich bereits die Bajonette von Bourgeoisie<br />
und Proletariat. Die Stimme des Redners geht im feindlichen Lärm unter. Die Präsidentenglocke<br />
bleibt wirkungslos, Beschwörungen verfangen nicht, Drohungen schrecken<br />
nicht. Zu spät, zu spät...<br />
Ja, das ist <strong>der</strong> Aufstand. In seiner Antwort namens des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees,<br />
<strong>der</strong> Bolschewistischen Partei und <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten wirft<br />
Trotzki endlich die letzten Formalitäten beiseite. Ja, die Massen sind mit uns, und wir<br />
führen sie zum Sturm. »Wenn ihr nicht wanken werdet«, ruft er über den Kopf des<br />
Zentral-Exekutivkomitees hinweg den Kongreßdelegierten zu, »wird es keinen Bürgerkrieg<br />
geben, denn die Feinde werden sofort kapitulieren, und ihr werdet den Platz<br />
einnehmen, <strong>der</strong> euch von Rechts wegen gebührt - den Platz des Herrn <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Erde.« Die bestürzten Mitglie<strong>der</strong> des Zentral-Exekutivkomitees finden nicht einmal die<br />
Kraft zum Protest. Bisher hatte die Verteidigungssprache des Smolny trotz allen Vorgängen<br />
einen schwachen Hoffnungsschimmer in ihnen genährt. Jetzt ist auch er erloschen. In<br />
diesen tiefen Nachtstunden erhebt <strong>der</strong> Aufstand hoch das Haupt.<br />
Die an Zwischenfällen reiche Sitzung endete gegen 4 Uhr morgens. Bolschewistische<br />
Redner ersöhienen auf dem Podium, um sofort zum Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
zurückzukehren, wo aus allen Enden <strong>der</strong> Stadt Berichte eintrafen, durchwegs günstige:<br />
die Sperrketten in den Straßen wachen; Regierungsämter werden eines nach dem an<strong>der</strong>n<br />
besetzt; <strong>der</strong> Gegner leistet nirgends Wi<strong>der</strong>stand.<br />
Es hieß, die Zentrale des Fernsprechamtes sei beson<strong>der</strong>s stark gesichert. Aber gegen 7<br />
Uhr morgens wurde auch sie von einem Kommando des Kexholmer Regiments kampflos<br />
besetzt. Nun brauchten die Aufständischen nicht nur nicht mehr um ihre eigene Verbindung<br />
besorgt zu sein, son<strong>der</strong>n erhielten auch die Möglichkeit, die Telephonverbindung<br />
des Gegners zu kontrollieren. Die Apparate des Winterpalais und Hauptstabes wurden<br />
übrigens sofort ausgeschaltet.<br />
Fast zu <strong>der</strong> gleichen Zeit bemächtigte sich eine Matrosenabteilung <strong>der</strong> Gardeequipage,<br />
etwa vierzig Mann des Gebäudes <strong>der</strong> Staatsbank am Jekaterininski-Kanal. Der Bankbeamte<br />
Ralzewitsch erinnert sich, wie die »Matrosenabteilung jählings vorging« und bei<br />
den Telephonapparaten Wachen aufstellte, um die Möglichkeit, Hilfe von außen anzufor<strong>der</strong>n,<br />
abzuschneiden. Die Besetzung des Gebäudes erfolgte »ohne jeglichen Wi<strong>der</strong>stand<br />
trotz Anwesenheit eines Zuges des Semjonowsker Regiments«. Der Einnahme <strong>der</strong> Bank<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 690
wurde in gewissem Sinne symbolische Bedeutung beigemessen. Die Parteika<strong>der</strong> waren<br />
erzogen an <strong>der</strong> Marxschen Kritik <strong>der</strong> Pariser Kommune von 1871, <strong>der</strong>en Führer bekanntlich<br />
nicht gewagt hatten, die Hand gegen die Staatsbank zu erheben. »Nein, wir werden<br />
diesen Fehler nicht wie<strong>der</strong>holen«, sagten sich viele Bolschewiki schon lange vor dem 25.<br />
Oktober. Die Kunde von <strong>der</strong> Besetzung <strong>der</strong> geheiligtsten aller bürgerlichen Staatsinstitutionen<br />
durchflog sogleich die Bezirke, wo sie eine heiße Welle des Triumphes erzeugte.<br />
In den frühen Morgenstunden wurden besetzt <strong>der</strong> Warschauer Bahnhof, die Druckerei<br />
<strong>der</strong> 'Birschewyja Wedomosti' und, direkt vor Kerenskis Fenstern, die Schloßbrücke, Ein<br />
Kommissar des Komitees kam ins Kresty-Gefängnis und zeigte den diensthabenden<br />
Soldaten des Wolynsker Regiments eine Or<strong>der</strong> über Freilassung einer Reihe von Gefangenen<br />
laut Liste des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets. Vergeblich versuchte die Gefängnisadministration,<br />
Anweisungen vom Justizminister zu erhalten: <strong>der</strong> hatte an<strong>der</strong>es im Kopf. Die<br />
befreiten Bolschewiki, darunter <strong>der</strong> junge Kronstädter Führer Roschal, erhielten sogleich<br />
Kampfaufgaben zugewiesen.<br />
Am Morgen lieferte man im Smolny eine aufdem Nikolajewski Bahnhof von Pionieren<br />
angehaltene Gruppe Junker ein, die mit Lastwagen aus dem Winterpalais nach Proviant<br />
ausgefahren waren. Podwojski erzählt: »Trotzki erklärte ihnen, sie würden unter <strong>der</strong><br />
Bedingung entlassen, daß sie das Versprechen geben, nichts mehr gegen die Sowjetmacht<br />
zu unternehmen, sie könnten dann zu ihren Beschäftigungen in die Schule zurückkehren.<br />
Die Knaben, die ein Blutgericht erwartet hatten, waren darüber unsäglich<br />
erstaunt.« Inwiefern die sofortige Freilassung richtig war, ist zweifelhaft. Der Sieg war<br />
noch nicht abgeschlossen, die Junker stellten die Hauptkraft des Gegners dar. An<strong>der</strong>erseits<br />
war es bei den schwankenden Stimmungen in den Militärschulen wichtig, durch die<br />
Tat zu zeigen, daß die Übergabe auf Gnade und Ungnade des Siegers die Junker mit<br />
keinen Strafen bedrohe. Die Argumente für und wi<strong>der</strong> hielten sich gleichsam die Waage.<br />
Aus dem von den Aufständischen noch nicht besetzten Kriegs-ministerium meldete<br />
morgens General Lewitzki mittels direkter Leitung ins Hauptquartier dem General<br />
Duchonin: »Die Truppenteile des Petrogra<strong>der</strong> Garnison ... gingen zu den Bolschewiki<br />
über. Aus Kronstadt trafen Matrosen mit einem leichten Kreuzer ein. Die hochgezogenen<br />
Brücken werden von ihnen wie<strong>der</strong> geschlossen. Die ganze Stadt ist von Wachtposten<br />
überzogen, doch finden keine Demonstrationen statt [!]. Die Telephonzentrale ist in den<br />
Händen <strong>der</strong> Garnison. Die im Winterpalais untergebrachten Truppen tun nur formell<br />
Dienst, da sie beschlossen haben, aktiv nicht hervorzutreten. Im allgemeinen hat man<br />
den Eindruck, als befände sieh die Provisorische Regierung in <strong>der</strong> Hauptstadt eines<br />
feindlichen Staates, <strong>der</strong> die Mobilisierung durchgeführt, aber aktive Handlungen noch<br />
nicht begonnen hat.« Ein unschätzbares militärisches und politisches Zeugnis! Der<br />
General kommt allerdings den Ereignissen zuvor, wenn er sagt, aus Kronstadt seien<br />
Matrosen eingetroffen: sie werden erst in einigen Stunden eintreffen. Die Brücke ist<br />
tatsächlich von <strong>der</strong> "Aurora" geschlossen worden. Naiv ist die am Schluß des Berichtes<br />
ausgesprochene Hoffnung, daß die Bolschewiki, »die schon lange die faktische Möglichkeit<br />
besitzen, mit uns allen abzurechnen ... nicht wagen werden, <strong>der</strong> Ansicht <strong>der</strong> Frontarmee<br />
zuwi<strong>der</strong>zuhandeln«. Illusionen in bezug auf die Front - das war alles, was den<br />
Hinterlandsgeneralen wie den Hinterlandsdemokraten übriggeblieben war. Dagegen wird<br />
das Bild von <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, die sich »in <strong>der</strong> Hauptstadt eines feindlichen<br />
Staates« befindet, für immer in die <strong>Geschichte</strong> eingehen als die beste Erklärung <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 691
Oktoberumwälzung.<br />
Im Smolny gingen ununterbrochen Sitzungen. Agitatoren, Organisatoren, Betriebs-,<br />
Regiments-, Bezirksleiter kamen für eine - zwei Stunden, mitunter auch nur für einige<br />
Minuten, um Neuigkeiten zu erfahren, sich zu überprüfen und auf ihre Posten zurückzukehren.<br />
Beim Zimmer Nr. 18, wo die bolschewistische Sowjetfraktion untergebracht war,<br />
herrschte ein unbeschreibliches Gedränge. Die vor Müdigkeit erschöpften Besucher<br />
schliefen nicht selten im Sitzungssaal ein, den schweren Kopf an eine <strong>der</strong> weißen Säulen<br />
gelehnt, o<strong>der</strong> im Korridor an <strong>der</strong> Wand, die Flinte fest im Arm; manchmal streekten sie<br />
sich einfach auf dem schmutzigen, nassen Fußboden aus. Laschewitsch empfing die<br />
militärischen Kommissare und erteilte ihnen die letzten Anweisungen. Im Raume des<br />
Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, in <strong>der</strong> dritten Etage, verwandelten sich die von allen<br />
Seiten zusammenströmenden Meldungen in Befehle: dort schlug das Herz des Aufstandes.<br />
Die Bezirkszentren wi<strong>der</strong>spiegelten das Bild des Smolny, nur in kleinerem Maßstabe.<br />
Auf <strong>der</strong> Wyborger Seite, gegenüber dem Stab <strong>der</strong> Roten Garde, auf dem Sampsonjewski-<br />
Prospekt, war ein ganzes Lager entstanden: die Straße sperrten mit ihren Pferden<br />
bespannte Wagen, Automobile, Lastautos. Die Bezirksinstitutionen wimmelten von<br />
bewaffneten Arbeitern. Sowjet, Duma, Gewerkschaften, Fabrikkomitees, alles in diesem<br />
Bezirk diente <strong>der</strong> Sache des Aufstandes. In Betrieben, Kasernen, Ämtern ging im kleinen<br />
das gleiche vor sich wie in <strong>der</strong> gesamten Hauptstadt: die einen wurden abgesetzt, an<strong>der</strong>e<br />
ernannt. Reste alter Verbindungen zerrissen, neue gefestigt. Die bis jetzt noch gezögert<br />
hatten, nahmen Resolutionen an, in denen sie sich dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
unterstellten. Menschewiki und Sozialrevolutionäre drückten sich gemeinsam mit den<br />
Betriebsadministratoren und Vorgesetzten von Truppenteilen in den Winkeln herum. In<br />
ununterbrochenen Versammlungen wurden neue Informationen ausgegeben, die Kampfzuversicht<br />
gestärkt, Verbindungen befestigt. Die Menschenmassen gruppierten sich um<br />
neue Achsen. Die Umwälzung war im Gange.<br />
Schritt für Schritt haben wir in diesem Buche die Vorbereitung des Oktoberaufstandes<br />
zu verfolgen gesucht: Die zunehmende Unzufriedenheit <strong>der</strong> Arbeitermassen, den<br />
Übergang <strong>der</strong> Sowjets unter das bolschewistische Banner, das Meutern <strong>der</strong> Armee, den<br />
Feldzug <strong>der</strong> Bauern gegen die Gutsbesitzer, das Überschwemmen <strong>der</strong> Volksbewegung,<br />
die wachsende Furcht und Verwirrung <strong>der</strong> Besitzenden und Regierenden, endlich den<br />
Kampf innerhalb <strong>der</strong> bolschewistischen Partei um den Aufstand. Die abschließende<br />
Umwälzung scheint nach all dem gar zu kurz, zu trocken, zu sachlich, dem historischen<br />
Schwang <strong>der</strong> Ereignisse gleichsam nicht angemessen. Der Leser empfindet eine Art<br />
Enttäuschung. Er gleicht einem Bergsteiger, <strong>der</strong>, während er die Hauptschwierigkeiten<br />
noch vor sich wähnt, plötzlich entdeckt, daß er bereits o<strong>der</strong> beinahe auf dem Gipfel steht.<br />
Wo ist <strong>der</strong> Aufstand? Das Bild des Aufstandes fehlt. Die Ereignisse fügen sich zu keinem<br />
Bilde. Die kleinen, im voraus berechneten und vorbereiteten Operationen bleiben im<br />
Raum und in <strong>der</strong> Zeit voneinan<strong>der</strong> getrennt. Sie sind verbunden durch die Einheit von<br />
Ziel und Absicht, nicht aber verschmolzen durch den Kampf selbst. Es fehlen große<br />
Massenhandlungen, fehlen dramatische Zusammenstöße mit den Truppen. Es fehlt alles,<br />
was die an den Ereignissen <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> erzogene Einbildungskraft mit <strong>der</strong> Vorstellung<br />
des Aufstandes verbindet.<br />
Der Gesamtcharakter <strong>der</strong> Umwälzung in <strong>der</strong> Hauptstadt wird später neben vielen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 692
an<strong>der</strong>en auch Masaryk Anlaß geben zu schreiben: »Die Oktoberumwälzung ... war<br />
keineswegs eine Bewegung <strong>der</strong> Volksmassen. Diese Umwälzung war das Werk von<br />
Führern, die hinter den Kulissen von oben herab arbeiteten.« In Wirklichkeit hatte dieser<br />
Aufstand von allen Aufständen in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> am stärksten den Charakter einer<br />
Massenbewegung. Die Arbeiter brauchten nicht auf die Straße zu gehen, um in eins zu<br />
verschmelzen: sie stellten ohnehin politisch und moralisch ein Ganzes dar. Den Soldaten<br />
war sogar untersagt worden, die Kasemen ohne Weisung zu verlassen: in diesem Punkte<br />
fiel <strong>der</strong> Befehl des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees mit Polkownikows Befehl zusammen.<br />
Aber diese unsichtbaren Massen gehen mehr denn je im Gleichschritt mit den<br />
Ereignissen. Betriebe und Kasernen verlieren nicht eine Minute die Verbindung mit den<br />
Bezirksstäben, die Bezirke nicht mit dem Smolny. Die Abteilungen <strong>der</strong> Rotgardisten<br />
fühlen hinter sich die Unterstützung <strong>der</strong> Betriebe. Die in die Kasernen zurückkehrenden<br />
Soldatenkommandos finden die Ablösung in Bereitschaft. Nur mit schweren Reserven im<br />
Rücken vermochten die revolutionären Abteilungen mit solcher Sicherheit an die Erfüllung<br />
ihrer Aufgaben heranzugehen. Die zersplitterten Regierungsposten hingegen, im<br />
voraus besiegt durch die eigene Isoliertheit, mußten sogar den Gedanken an einen Wi<strong>der</strong>stand<br />
fallen lassen. Die bürgerlichen Klassen hatten Barrikaden, Feuerbrände, Plün<strong>der</strong>ungen,<br />
Blutströme erwartet. In Wirklichkeit herrschte Stille, schrecklicher als alle Donner<br />
<strong>der</strong> Welt. Lautlos verschob sich <strong>der</strong> soziale Boden, einer Drehbühne gleich, die die<br />
Volksmassen in den Vor<strong>der</strong>grund hob und die gestrigen Herren in die Unterwelt hinabtrug.<br />
Schon um 10 Uhr morgens - am 25. hielt das Smolny es für möglich, <strong>der</strong> Hauptstadt<br />
und dem Lande die Siegeskunde zu geben: »Die Provisorische Regierung ist gestürzt.<br />
Die Staatsmacht ist in die Hände des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees übergegangen.«<br />
In gewissem Sinne griff diese Kundgebung stark vor. Die Regierung existierte noch,<br />
wenigstens auf dem Territorium des Winterpalais. Es existierte das Hauptquartier. Die<br />
Provinz hatte sich nicht geäußert. Der Sowjetkongreß war noch nicht eröffnet. Doch die<br />
Leiter des Aufstandes sind keine Geschichtsschreiber: um für die Geschichtsschreiber die<br />
Ereignisse vorzubereiten, sind sie gezwungen, vorzugreifen. In <strong>der</strong> Hauptstadt war das<br />
Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee bereits unbeschränkter Herr <strong>der</strong> Lage. An <strong>der</strong> Sanktion<br />
des Kongresses konnte kein Zweifel bestehen. Die Provinz wartete auf Petrograds Initiative.<br />
Um die Macht restlos zu erobern, mußte man als Macht zu handeln beginnen. In<br />
einem Appell an die militärischen Front- und Hinterlandsorganisationen rief das Komitee<br />
die Soldaten auf, das Verhalten des Kommandobestandes scharf zu überwachen, Offiziere,<br />
die sich <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> nicht anschließen, zu verhaften, und vor Gewaltanwendung<br />
nicht haltzumachen beim Versuch, feindselige Truppenteile gegen Petrograd zu werfen.<br />
Der am Vorabend von <strong>der</strong> Front eingetroffene Stankewitseh, oberster Kommissar des<br />
Hauptquartiers, unternahm, um im Reiche <strong>der</strong> Passivität und Auflösung nicht ganz ohne<br />
Arbeit zu bleiben, am Morgen an <strong>der</strong> Spitze einer halben Kompanie Ingenieur-Junker<br />
einen Versuch, die Telephonzentrale von den Bolschewiki zu säubern. Bei dieser<br />
Gelegenheit erfuhren die Junker zum ersten Male, in wessen Händen sich das Telephonamt<br />
befand. »Hier, von denen, stellt sich heraus, kann man Energie lernen«, ruft zähneknirschend<br />
<strong>der</strong> Offizier Sinegub aus, »woher haben sie nur solche Führung!« Die im<br />
Gebäude <strong>der</strong> Telephonzentrale sitzenden Matrosen könnten mühelos die Junker von den<br />
Fenstern aus abschießen. Doch die Aufständischen sind mit allen Kräften bestrebt,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 693
Blutvergießen zu vermeiden. Stankewitseh seinerseits untersagt strengstens, das Feuer zu<br />
eröffnen: man könnte die Junker beschuldigen, daß sie in das Volk schießen. Der<br />
kommandierende Offizier denkt sich: »Wenn wir Ordnung schaffen, wer hat da den<br />
Mund aufzutun?« Und er schließt seine Erwägungen mit dem Ausruf: »Verdammte<br />
Komödianten!« Das eben ist die Formel des Verhältnisses <strong>der</strong> Offiziere zur Regierung.<br />
Aus eigener Initiative schickt Sinegub ins Winterpalais nach Handgranaten und Pyroxylinbomben.<br />
In <strong>der</strong> Zwischenzeit beginnt ein monarchistischer Leutnant mit einem<br />
bolschewistischen Fähnrich vor dem Tor <strong>der</strong> Telephonzentrale eine politische<br />
Diskussion: Wie die Helden Homers überhäufen sie einan<strong>der</strong> vor dem Kampfe mit<br />
starken Worten. Zwischen zwei - vorläufig nur mit Worten gespeiste - Feuer geraten,<br />
lassen die Telephonistinnen ihre Nerven spielen. Die Matrosen schicken sie nach Hause.<br />
»Was ist? Frauen? ...« Mit hysterischen Schreien stürzen sie aus den Toren. »Die öde<br />
Morskaja-Straße«, erzählt Sinegub, »belebte sich plötzlich mit laufenden, hüpfenden<br />
Klei<strong>der</strong>n und Hüten.« Mit <strong>der</strong> Arbeit an den Apparaten werden die Matrosen schon<br />
irgendwie selbst fertig. Im Hofe <strong>der</strong> Zentrale trifft bald ein Panzerwagen <strong>der</strong> Roten ein,<br />
ohne den erschrockenen Junkern etwas zuzufügen. Diese ihrerseits besetzen zwei Lastautos<br />
und verbarrikadieren von außen das Tor <strong>der</strong> Zentrale. Vom Newski her taucht ein<br />
zweiter Panzerwagen auf, dann ein dritter. Das Ganze beschränkte sich auf Manöver und<br />
gegenseitige Einschüchterungsversuche. Der Kampf um die Zentrale wird ohne Pyroxylin<br />
entschieden: Stankewitsch hebt die Belagerung auf, nachdem er sich freien Abzug für<br />
seine Junker ausbedungen hat.<br />
Die Waffe dient überhaupt vorläufig nur als äußeres Zeichen <strong>der</strong> Macht: sie wird fast<br />
nicht angewandt. Unterwegs zum Winterpalais stößt Stankewitschs Halbkompanie auf<br />
ein Matrosenkommando mit schußbereiten Gewehren. Die Gegner messen sich nur mit<br />
den Blicken. We<strong>der</strong> die eine noch die an<strong>der</strong>e Seite will sich schlagen: die eine - im<br />
Bewußtsein ihrer Kraft, die an<strong>der</strong>e - im Gefühl ihrer Schwäche. Wo sich jedoch die<br />
Gelegenheit bietet, gehen die Aufitändischen, beson<strong>der</strong>s die Rotgardisten, an die<br />
Entwaffnung des Gegners. Die zweite Halbkompanie <strong>der</strong> Ingenieur-Junker wurde von<br />
Rotgardisten und Soldaten umstellt, mit Hilfe von Panzerwagen entwaffnet und gefangen<br />
genommen. Ein Kampf fand allerdings auch dabei nicht statt; die Junker leisteten keinen<br />
Wi<strong>der</strong>stand. »So endete«, bezeugt <strong>der</strong> Initiator, »soviel ich weiß, <strong>der</strong> einzige Versuch<br />
aktiven Wi<strong>der</strong>standes gegen die Bolschewiki.« Stankewitsch meint die Operationen<br />
außerhalb des Bezirks des Winterpalais.<br />
Gegen Mittag werden die Straßen um das Mariinski-Palais von Truppen des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees besetzt. Die Mitglie<strong>der</strong> des Vorparlaments versammelten sich<br />
eben zu einer Sitzung. Das Präsidium machte den Versuch, die letzten Informationen zu<br />
bekommen: die Herzen erstarrten jäh, als sich herausstellte, die Telephone des Palais sind<br />
ausgeschaltet. Der Ältestenrat erörterte, was zu tun sei. Die Deputierten flüsterten in den<br />
Ecken. Awksentjew versuchte zu trösten: Kerenski sei zur Front gereist, bald werde er<br />
zurückkehren und alles gutmachen. Vor <strong>der</strong> Auffahrt hielt ein Panzerwagen. Soldaten des<br />
Litowsker und des Kexholmer Regiments und Matrosen <strong>der</strong> Gardeequipage betraten das<br />
Gebäude, stellten sich die Treppe entlang auf und besetzten den ersten Saal. Der Führer<br />
<strong>der</strong> Abteilung for<strong>der</strong>te die Versammelten auf unverzüglich das Palais zu verlassen. »Der<br />
Eindruck war nie<strong>der</strong>schmetternd«, bestätigt Nabokow. Die Mitglie<strong>der</strong> des Vor-parlaments<br />
beschlossen. auseinan<strong>der</strong>zugehen und »vorübergehend ihre Tätigkeit zu unterbre-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 694
chen«. Dagegen stimmen achtundvierzig Rechte: sie wissen im voraus, daß sie in <strong>der</strong><br />
Min<strong>der</strong>heit bleiben werden. Die Deputierten steigen friedlich die prunkvolle Treppe<br />
zwischen zwei Gewehrspalieren hinab. Augenzeugen berichten: »Nichts Dramatisches<br />
war an <strong>der</strong> ganzen Sache.« - »Gewöhnliche, ausdruckslose, stumpfe, boshafte Physiognomien«,<br />
schreibt <strong>der</strong> liberale Patriot Nabokow über die <strong>russischen</strong> Soldaten und<br />
Matrosen. Unten am Ausgang prüften Wachen die Legitimation und ließen alle hinaus.<br />
»Man erwartete eine Sortierung <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> und manche Verhaftungen«, schreibt<br />
<strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>en herausgelassene Miljukow, »aber <strong>der</strong> revolutionäre Stab hatte an<strong>der</strong>e<br />
Sorgen.« Nicht nur das: <strong>der</strong> revolutionäre Stab hatte wenig Erfahrung. Der Auftrag des<br />
Komitees lautete: »Eventuelle Regierungsmitglie<strong>der</strong> sind zu verhaften.« Aber es waren<br />
keine da. Die Mitglie<strong>der</strong> des Vorparlaments wurden unbehin<strong>der</strong>t entlassen, darunter auch<br />
jene, die bald Organisatoren des Bürgerkrieges werden sollten.<br />
Der parlamentarische Blendling, <strong>der</strong> sein Dasein um zwölf Stunden früher aushauchte<br />
als die Provisorische Regierung, hatte achtzehn Lebenstage hinter sich: Das ist die Frist<br />
zwischen Auszug <strong>der</strong> Bolschewiki aus dem Mariinski-Palais auf die Straße und Eindringen<br />
<strong>der</strong> bewaffneten Straße in das Mariinski-Palais. Unter allen Parodien auf eine Regierung,<br />
an denen die <strong>Geschichte</strong> so reich ist, war "<strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Republik" wohl<br />
die lächerlichste.<br />
Nachdem er das unglückselige Gebäude verlassen hatte, begab sich <strong>der</strong> Oktobrist<br />
Schidlowski in die Stadt, um die Kämpfe zu beobachten: diese Herren glaubten, das Volk<br />
würde sieh zu ihrer Verteidigung erheben. Kämpfe waren jedoch nicht zu entdecken.<br />
Dagegen lachte, nach Schidlowskis Worten, das gesamte Publikum in den Straßen - die<br />
auserwählte Menge des Newski-Prospektes. »Haben Sie gehört: die Bolschewiki haben<br />
die Macht ergriffen? Das ist doch nicht länger als für drei Tage! Ha ha ha.« Schidlowski<br />
beschloß, in <strong>der</strong> Hauptstadt zu bleiben »für die Frist, die die öffentliche Meinung <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Herrschaft zubilligte«. Die drei Tage haben sich bekanntlich stark in<br />
die Länge gezogen.<br />
Zu lachen hat das Publikum des Newski übrigens erst gegen Abend begonnen. Am<br />
Morgen war die Stimmung <strong>der</strong>art besorgt gewesen, daß in den Stadtvierteln <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie sich nur wenige entschlossen, auf die Straße zu gehen. Gegen 9 Uhr lief <strong>der</strong><br />
Journalist Knischnik auf den Kamenoostrowski-Prospekt nach Zeitungen, aber Zeitungsverkäufer<br />
waren nicht da. In einem kleinen Haufen Bürger erzählte man sich, in <strong>der</strong><br />
Nacht hätten die Bolschewiki Telephon, Telegraph und Bank besetzt. Eine Soldatenpatrouille<br />
hörte zu und ersuchte das Publikum, keinen Lärm zu machen. »Aber auch<br />
ohnehin waren alle eigentümlich still.« Es marschierten bewaffnete Arbeiterabteilungen<br />
vorbei. Die Trams verkehrten wie üblich, das heißt langsam. »Die Seltenheit an Passanten<br />
bedrückte mich«, schreibt Knischnik über seine Eindrücke auf dem Newski. In den<br />
Restaurants wurde gespeist, aber vorwiegend in den hinteren Räumen. 12 Uhr mittags<br />
krachte die Kanone nicht lauter und nicht leiser als sonst von den Mauern <strong>der</strong> von den<br />
Bolschewiki verläßlich besetzten Peter-Paul-Festung. Mauern und Zäune waren mit<br />
Aufrufen beklebt, die vor Demonstrationen warnten. Doch an<strong>der</strong>e Aufrufe schoben sich<br />
bereits vor, die den Sieg des Aufstandes verkündeten. Man fand noch keine Zeit, sie<br />
anzukleben, und warf sie aus Automobilen ab. Die Soeben gedruckten Flugblätter rochen<br />
nach frischer Farbe, wie die Ereignisse selbst.<br />
Abteilungen <strong>der</strong> Roten Garde sind aus ihren Bezirken ausmarschiert. Der Arbeiter mit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 695
Gewehr, Bajonett über Mütze o<strong>der</strong> Hut hinausragend, Riemen über Zivilmantel, dieses<br />
Bild ist untrennbar vom 25. Oktober. Vorsichtig und noch unsicher brachte <strong>der</strong> bewaffnete<br />
Arbeiter Ordnung in die Hauptstadt, die er sich erobert hatte.<br />
Die Ruhe in den Straßen erfüllte mit Ruhe die Herzen. Die Bürger begannen, sich in<br />
den Straßen zu sammeln. Gegen Abend herrschte unter ihnen weniger Unruhe als in den<br />
vorangegangenen Tagen. Die Arbeit in den staatlichen und öffentlichen Ämtern hatte<br />
allerdings aufgehört. Viele Geschäfte aber blieben geöffnet, manche schlossen, doch eher<br />
aus Vorsicht als aus Notwendigkeit. Aufstand? Macht man denn so Aufstand? Es<br />
vollzieht sich einfach eine Ablösung <strong>der</strong> Februar- durch die Oktober-Wachen.<br />
Gegen Abend war <strong>der</strong> Newski mehr denn je von jenem Publikum erfüllt, das den<br />
Bolschewiki drei Tage Leben verhieß. Die Soldaten des Pawlowsker Regiments flößten,<br />
obwohl ihre Sperrketten durch Panzerwagen und sogar Flugzeugabwehrkanonen<br />
verstärkt waren, keine Angst mehr ein. Gewiß, irgend etwas Ernstes geht beim Winterpalais<br />
vor, und man wird dort nicht durchgelassen. Aber <strong>der</strong> ganze Aufstand kann sich doch<br />
nicht auf dem Schloßplatz konzentrieren? Ein amerikanischer Journalist sah, wie Greise<br />
in kostbaren Pelzen den Pawlowskern die Fäuste zeigten und aufgeputzte Frauen die<br />
Soldaten mit kreischenden Stimmen beschimpften. »Die Soldaten parierten schwach mit<br />
verlegenem Lächeln.« Sie fühlten sich offensichtlich unbehaglich auf dem eleganten<br />
Newski, dem es erst bevorstand, sich in den "Prospekt des 25. Oktober" zu verwandeln.<br />
Claude Anet, offiziöser französischer Journalist in Petrograd, war ehrlich erstaunt: die<br />
unvernünftigen Russen machen eine <strong>Revolution</strong> an<strong>der</strong>s, als er aus alten Büchern herausgelesen.<br />
»Die Stadt ist ruhig!« Anet unterhält sich telephonisch, empfängt Besuche, geht<br />
aus. Soldaten, die ihm auf <strong>der</strong> Mojka den Weg kreuzen, marschieren in voller Ordnung,<br />
»wie unter dem alten Regime«. Auf <strong>der</strong> Milljonaja-Straße zahlreiche Patrouillen.<br />
Nirgendwo fällt ein Schuß. Der Riesenplatz des Winterpalais ist zu dieser Mittagsstunde<br />
fast leer. Patrouillen auf <strong>der</strong> Morskaja-Straße und dem Newski-Prospekt. Die Soldaten in<br />
guter Haltung und tadelloser Uniform. Auf den ersten Blick scheint es unzweifelhaft, daß<br />
es Regierungstruppen sind. Auf dem Mariinski-Platz, von wo aus Anet ins Vorparlament<br />
zu gelangen beabsichtigte, halten ihn Soldaten und Matrosen auf, »fürwahr sehr höflich«.<br />
Die beiden ans Palais grenzenden Straßen sind durch Autos und Wagen verbarrikadiert<br />
Auch ein Panzerwagen ist dabei. All das untersteht dem Smolny. Das Militärische<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee schickte in die Stadt Patrouillen aus, stellte Wachen, löste das<br />
Vorparlament auf, herrschte über die Hauptstadt, schuf eine »seit <strong>Revolution</strong>sbeginn<br />
nicht mehr erlebte« Ordnung. Abends berichtet die Portierfrau dem französischen<br />
Mieter, man habe aus dem Sowjetstab Telephonnummern abgegeben, durch die man bei<br />
eventuellen Überfällen, verdächtigen Haussuchungen und so weiter je<strong>der</strong>zeit militärische<br />
Hilfe anfor<strong>der</strong>n könne. »Wahrlich, wir waren niemals besser geschützt.«<br />
Um 2 Uhr 35 mittags - die ausländischen Journalisten blickten auf die Uhr, den <strong>russischen</strong><br />
stand <strong>der</strong> Sinn nicht danach - wurde eine außerordentliche Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets eröffnet mit einem Bericht Trotzkis, <strong>der</strong> im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />
erklärte, die Provisorische Regierung bestehe nicht mehr. »Man hat uns<br />
gesagt, <strong>der</strong> Aufstand werde die <strong>Revolution</strong> in Blutströmen ertränken ... Uns ist kein einziges<br />
Opfer bekannt.« Es gab in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> kein Beispiel einer revolutionären<br />
Bewegung, an <strong>der</strong> so gewaltige Massen beteiligt gewesen wären und die so unblutig<br />
verlief »Das Winterpalais ist noch nicht genommen, doch sein Schicksal wird sich in den<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 696
nächsten Minuten entscheiden.« Die nächsten zwölf Stunden werden beweisen, daß diese<br />
Voraussage zu optimistisch war.<br />
Trotzki teilt mit: von <strong>der</strong> Front rücken Truppen an gegen Petrograd, man muß sofort<br />
Sowjetkommissare an die Front und ins ganze Land schicken zur Informierung über die<br />
stattgefundene Umwälzung. Aus dem kleinen rechten Sektor ertönen Stirnmen: »Ihr<br />
greift dem Willen des Sowjetkongresses vor.« Der Berichterstatter antwortet: »Der Wille<br />
des Kongresses ist im voraus bestimmt durch die gewaltige Tatsache des Aufstandes <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten. Uns bleibt jetzt nur übrig, unseren Sieg zu entwikkeln.«<br />
Lenin, <strong>der</strong> hier zum ersten Male nach dem Verlassen seines Verstecks öffentlich<br />
auftrat, entwarf in seiner Rede kurz das Programm <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: den alten Staatsapparat<br />
zerschlagen; ein neues Regierungssystem vermittels <strong>der</strong> Sowjets schaffen; Maßnahmen<br />
ergreifen zur sofortigen Beendigung des Krieges, gestützt auf die revolutionäre<br />
Bewegung in den an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n; das gutsherrliehe Eigentum abschaffen und damit<br />
das Vertrauen <strong>der</strong> Bauern gewinnen; eine Arbeiterkontrolle über die Produktion<br />
errichten. »Die dritte russische <strong>Revolution</strong> muß im Endresultat zum Siege des Sozialismus<br />
führen.«<br />
Einnahme des Winterpalais<br />
Kerenski empfing den von <strong>der</strong> Front zur Berichterstattung eingetroffenen Stankewitsch<br />
in gehobener Stimmung: er kehre soeben aus dem Rat <strong>der</strong> Republik zurück, wo er den<br />
Aufstand <strong>der</strong> Bolschewiki endgültig entlarvt habe. »Den Aufstand?« - »Ja, wissen Sie<br />
denn nicht, daß wir den bewaffneten Aufstand haben?« Stankewitsch lachte: die Straßen<br />
sind ja absolut ruhig. Kann denn ein richtiger Aufstand so aussehen? Jedenfalls müsse<br />
man mit diesen ewigen Erschütterungen Schluß machen. Damit ist Kerenski durchaus<br />
einverstanden: er warte nur auf die Resolution des Vorparlaments.<br />
Um 9 Uhr abends versammelte sich die Regierung im Malachitsaal des Winterpalais,<br />
um Mittel zur »entschiedenen und endgültigen Liquidierung« <strong>der</strong> Bolschewiki auszuarbeiten.<br />
Der zur Beschleunigung <strong>der</strong> Sache in das Mariinski-Palais entsandte Stankewitsch<br />
berichtete voller Entrüstung von <strong>der</strong> soeben angenommenen Formel des halben<br />
Mißtrauens. Selbst die Bekämpfung des Aufstandes sollte gemäß <strong>der</strong> Resolution des<br />
Vorparlaments nicht <strong>der</strong> Regierung, son<strong>der</strong>n einem beson<strong>der</strong>en Komitee <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Rettung obliegen. Kerenski erklärte hitzig, unter solchen Bedingungen werde er »keine<br />
Minute länger an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung bleiben«. Die Versöhnler-Führer wurden<br />
sogleich telephonisch ins Palais berufen. Die Möglichkeit des Rücktritts Kerenskis<br />
überraschte sie nicht weniger als Kerenski - ihre Resolution. Awksentjew rechtfertigte<br />
sich: sie hätten doch die Resolution betrachtet als »rein theoretisch und zufällig und nicht<br />
daran gedacht, daß sie praktische Schritte zur Folge haben könne«. Ja, sie sähen jetzt<br />
selbst ein, daß die Resolution »vielleicht nicht ganz glücklich redigiert ist«. Diese<br />
Menschen ließen keine Gelegenheit vorbei, zu zeigen, was sie wert sind.<br />
Die nächtliche Unterhaltung <strong>der</strong> demokratischen Führer mit dem Staatsoberhaupt<br />
scheint ganz unglaubhaft auf dem Hintergrunde des sich entfaltenden Aufstandes. Dan,<br />
einer <strong>der</strong> Haupttotengräber des Februarregimes, verlangt, die Regierung möge sofort,<br />
noch in <strong>der</strong> Nacht, Plakate in <strong>der</strong> Stadt anschlagen lassen mit <strong>der</strong> Erklärung, sie habe die<br />
Verbündeten aufgefor<strong>der</strong>t, Friedensverhandlungen einzuleiten. Kerenski antwortet, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 697
Regierung bedarf solcher Ratschläge nicht. Man kann schon glauben, daß sie eine starke<br />
Division vorgezogen haben würde. Aber dies konnte Dan nicht bieten. Die Verantwortung<br />
für den Aufstand bemüht sich Kerenski selbstverständlich seinen Verhandlungspartnern<br />
unterzuschieben. Dan erwi<strong>der</strong>t, die Regierung übertreibe die Ereignisse unter dem<br />
Einfluß ihres »reaktionären Stabes«. Zur Demission bestehe jedenfalls keine Notwendigkeit:<br />
die ungelegene Resolution sei notwendig, um einen Stimmungsumschwung in den<br />
Massen hervorzurufen. Die Bolschewiki werden »schon morgen« gezwungen sein, ihren<br />
Stab aufzulösen, wenn die Regierung Dans Eingebungen folgt. »Gerade um diese Zeit«,<br />
fügt Kerenski mit berechtigter Ironie hinzu, »besetzte die Rote Garde ein Regierungsgebäude<br />
nach dem an<strong>der</strong>en.«<br />
Noch war die so inhaltsreiche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den linken Freunden nicht<br />
beendet, als bei Kerenski Freunde von rechts in Gestalt einer Delegation vom Sowjet <strong>der</strong><br />
Kosakenheere erschienen. Die Offiziere taten so, als hänge von ihrem Willen das Verhalten<br />
<strong>der</strong> drei in Petrograd liegenden Kosakenregimenter ab, und stellten Kerenski Bedingungen,<br />
diametral entgegengesetzt den Bedingungen Dans: keinerlei Zugeständnisse an<br />
die Sowjets, die Abrechnung mit den Bolschewiki müsse diesmal bis zu Ende durchgeführt<br />
werden, nicht wie im Juli, wo die Kosaken unnütz Opfer gebracht hätten. Kerenski,<br />
<strong>der</strong> selbst nichts an<strong>der</strong>es ersehnte, versprach alles, was sie von ihm for<strong>der</strong>ten, und<br />
entschuldigte sich vor seinen Verhandlungspartnern, daß er bis jetzt aus Erwägungen <strong>der</strong><br />
Vorsicht Trotzki als den Vorsitzenden des Sowjets <strong>der</strong> Deputierten noch nicht verhaftet<br />
habe. Die Delegierten verließen ihn mit <strong>der</strong> Versicherung, die Kosaken würden ihre<br />
Pflicht erfüllen. An die Kosakenregimenter erging alsbald vom Stab ein Befehl: »Im<br />
Namen <strong>der</strong> Freiheit, <strong>der</strong> Ehre und des Ruhmes <strong>der</strong> Heimaterde und zur Rettung des<br />
untergehenden Rußland sind Zentral-Exekutivkomitee und Provisorische Regierung zu<br />
unterstützen.« Diese stolze Regierung, die so eifersüchtig über ihre Unabhängigkeit vom<br />
Zentral-Exekutivkomitee gewacht hatte, ist jedesmal gezwungen, sich in <strong>der</strong> Minute <strong>der</strong><br />
Gefahr demütig hinter dessen Rücken zu verstecken. Flehentliche Befehle ergehen auch<br />
an die Junkerschulen in Petrograd und Umgebung. Die Eisenbahn ist angewiesen: »Die<br />
von <strong>der</strong> Front nach Petrograd kommenden Truppenstaffeln sind außerhalb je<strong>der</strong> Reihenfolge,<br />
wenn notwendig unter Einstellung des Personenverkehrs, unverzüglich weiterzuleiten.«<br />
Nachdem die Regierung alles, was sie vermochte, unternommen hatte und um 2 Uhr<br />
nachts auseinan<strong>der</strong>gegangen war, verblieb im Palais mit Kerenski nur dessen Vertreter,<br />
<strong>der</strong> liberale Moskauer Kaufmann Konowalow. Der Bezirkskommandierende Polkownikow<br />
kam zu ihnen mit dem Vorschlag, sofort mit Hilfe <strong>der</strong> treuen Truppen eine Expedition<br />
zur Einnahme des Smolny zu organisieren. Kerenski akzeptierte bereitwilligst diesen<br />
herrlichen Plan. Doch konnte man aus den Worten des Kommandierenden absolut nicht<br />
entnehmen, auf welche Kräfte er sich denn zu stützen gedachte. Nun erst begriff<br />
Kerenski, nach seinem eigenen Geständnis, daß Polkownikows Rapporte <strong>der</strong> letzten zehn<br />
bis zwölf Tage über die völlige Bereitschaft seines Stabes zum Kampfe gegen die<br />
Bolschewiki »jeglicher Grundlage entbehrten«. Als habe Kerenski für die Einschätzung<br />
<strong>der</strong> politischen und militärischen Situation wirklich keine an<strong>der</strong>en Quellen gehabt als die<br />
Kanzleimeldungen eines mittelmäßigen Obersten, <strong>der</strong>, unbekannt aus welchem Grunde,<br />
an die Spitze des Militärbezirkes geraten war. Während <strong>der</strong> bitteren Betrachtungen des<br />
Regierungshauptes brachte ein Kommissar <strong>der</strong> Stadthauptmannschaft, Rogowski, eine<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 698
Reihe Meldungen: einige Schiffe <strong>der</strong> Baltischen Flotte seien kampfbereit in die Newa<br />
eingefahren; etliche davon hätten vor <strong>der</strong> Nikolajewski-Brücke Anker geworfen und sie<br />
besetzt; Abteilungen Aufständischer rückten gegen die Schloßbrücke vor. Rogowski<br />
lenkte Kerenskis Aufmerksamkeit beson<strong>der</strong>s auf die Tatsache, daß »die Bolschewiki<br />
ihren gesamten Plan in vollster Ordnung durchführen, ohne irgendwo auf Wi<strong>der</strong>stand<br />
seitens <strong>der</strong> Regierungstruppen zu stoßen«. Welche Truppen als Regierungstruppen zu<br />
bezeichnen waren, läßt das Gespräch jedenfalls offen.<br />
Kerenski und Konowalow stürzten aus dem Palais in den Stab: »Es war keine Minute<br />
Zeit mehr zu verlieren.« Das imposante rote Gebäude des Stabes war von Offizieren<br />
überfüllt. Sie kamen hierher nicht in Angelegenheiten ihrer Truppenteile, son<strong>der</strong>n um<br />
sich vor diesen zu verbergen. »In dem Militärgewühl huschten überall Zivilisten herum,<br />
die niemand kannte.« Polkownikows neuer Bericht überzeugt Kerenski endgültig von <strong>der</strong><br />
Unmöglichkeit, sich auf den Kommandierenden und dessen Offiziere zu verlassen. Das<br />
Regierungshaupt beschließt, um seine Person »alle Pflichttreuen« zu sammeln. Sich<br />
erinnernd, daß er Parteimann ist - so erinnern sich manche erst in letzter Todesqual <strong>der</strong><br />
Kirche -, for<strong>der</strong>t Kerenski telephonisch die sofortige Absendung <strong>der</strong> sozial-revolutionären<br />
Kampfmannschaften. Bevor jedoch - wenn überhaupt - dieser plötzliche Appell an<br />
die bewaffneten Kräfte <strong>der</strong> Partei einen Erfolg zeitigen konnte, mußte er, nach Miljukows<br />
Worten, »alle rechteren Elemente, die auch ohnehin Kerenski feindselig gesinnt<br />
waren, von ihm abstoßen«. Seine Isoliertheit, die sich bereits in den Tagen des Kornilowaufstandes<br />
anschaulich gezeigt hatte, bekam jetzt noch fataleren Charakter. »Quälend<br />
schleppten sie sich hin, die langen Stunden dieser Nacht«, wie<strong>der</strong>holt Kerenski seinen<br />
Satz vom August. Verstärkungen kamen von nirgendwo. Die Kosaken hielten Beratungen<br />
ab, die Vertreter <strong>der</strong> Regimenter sagten, man könnte zwar - allgemein gesprochen -<br />
eine Aktion unternehmen, warum auch nicht, doch seien dafür Maschinengewehre,<br />
Panzerautos und hauptsächlich Infanterie notwendig. Ohne Bedenken versprach ihnen<br />
Kerenski Panzerwagen, die sich gerade anschickten, ihn zu verlassen, und Infanterie,<br />
über die er nicht verfügte. Er vernahm als Antwort, die Regimenter würden bald alle<br />
Fragen erwägen und »an das Satteln <strong>der</strong> Pferde gehen«. Die Kampfkräfte <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />
Partei gaben überhaupt kein Lebenszeichen von sich. Existieren sie noch? Wo<br />
ist überhaupt die Grenze zwischen Sein und Schein. Das im Stab versammelte Offizierskorps<br />
verhielt sich gegen Oberkommandierenden und Regierungshaupt »immer herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong>«.<br />
Kerenski behauptet sogar, unter den Offizieren seien Reden geführt worden<br />
über die Notwendigkeit seiner Verhaftung. Das Stabsgebäude blieb noch immer ohne<br />
Schutz. Offizielle Verhandlungen wurden in Anwesenheit Frem<strong>der</strong> geführt, abwechselnd<br />
mit erregten Privatgesprächen. Die Stimmung von Hoffnungslosigkeit und Zerfall<br />
sickerte aus dem Stab in das Winterpalais. Die Junker waren nervös, das Kommando <strong>der</strong><br />
Panzerautos aufgeregt. Von unten keine Hilfe, oben erschreckende Kopflosigkeit. Läßt<br />
sich unter solchen Bedingungen <strong>der</strong> Untergang vermeiden?<br />
Um 5 Uhr morgens befahl Kerenski den Leiter des Kriegsministeriums in den Stab. An<br />
<strong>der</strong> Troizki-Brücke wurde General Manikowski von Patrouillen angehalten, in die<br />
Kaserne des Pawlowsker Regiments gebracht, dort aber nach kurzer Vernehmung freigelassen:<br />
<strong>der</strong> General hatte wohl zu überzeugen gewußt, daß seine Verhaftung zur Zerrüttung<br />
des gesamten administrativen Mechanismus führen und den Soldaten an <strong>der</strong> Front<br />
schaden könnte. Ungefähr um die gleiche Zeit wurde beim Winterpalais Stankewitschs<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 699
Automobil angehalten, aber auch ihn entließ das Regimentskomitee. »Es waren Aufständische«,<br />
erzählt <strong>der</strong> Verhaftete, »die jedoch äußerst unentschieden handelten. Ich berichtete<br />
darüber von zu Hause telephonisch ins Winterpalais, erhielt aber von dort<br />
beruhigende Versicherungen, es sei ein Mißverständnis.« In Wirklichkeit war ein<br />
Mißverständnis, daß Stankewitsch entlassen worden war: einige Stunden später<br />
versuchte er, wie wir bereits wissen, den Bolschewiki die Telephonzentrale zu entreißen.<br />
Kerenski for<strong>der</strong>te vom Hauptquartier in Mohilew und vom Stab <strong>der</strong> Nordfront in<br />
Pskow sofortige Absendung zuverlässiger Regimenter. Aus dem Hauptquartier versicherte<br />
Duchonin über die direkte Leitung, es seien alle Maßnahmen zum Abtransport von<br />
Truppen gegen Petrograd getroffen, einige Truppenteile müßten dort bereits angekommen<br />
sein. Aber sie kamen nicht an. Die Kosaken waren noch immer dabei, »die Pferde<br />
zu satteln«. Die Lage in <strong>der</strong> Stadt verschlechterte sich von Stunde zu Stunde. Als<br />
Kerenski und Konowalow, um Atem zu schöpfen, ins Palais zurückkehrten, brachte ein<br />
Feldjäger die Eilmeldung: alle Telephone im Palais seien ausgeschaltet, die<br />
Schloßbrücke, vor Kerenskis Fenstern, durch Matrosen besetzt. Der Platz vor dem<br />
Winterpalais blieb noch immer menschenleer; »von Kosaken keine Spur«. Kerenski<br />
stürzt wie<strong>der</strong> in den Stab. Aber auch dort trostlose Nachrichten. Die Junker wären von<br />
den Bolschewiki aufgefor<strong>der</strong>t worden, das Palais zu räumen, und seien sehr aufgeregt.<br />
Panzerautos hätten die Kampflinie verlassen, zu unrechter Zeit den "Verlust" irgendwelcher<br />
wichtiger Zubehörteile entdeckend. Noch immer keine Nachrichten von den<br />
abgesandten Staffeln. Die näheren Zugänge zu Palais und Stab völlig ungeschützt: wenn<br />
die Bolschewiki bis jetzt nicht eindrangen, so nur aus mangeln<strong>der</strong> Kenntnis <strong>der</strong> Lage.<br />
Das seit dem Abend von Offizieren überfüllte Gebäude leerte sich schnell: je<strong>der</strong> rettete<br />
sich auf sein Weise. Es erschien eine Junkerdelegation: sie seien bereit, ihre Pflicht auch<br />
weiter zu erfüllen, »wenn nur Hoffnung auf irgend welche Verstärkungen besteht«. Doch<br />
gerade Verstärkungen gab's<br />
nicht.<br />
Kerenski berief dringend die Minister in den Stab. Die meisten hatten keine Automobile<br />
zur Verfügung: diese wichtigen Verkehrsmittel, die dem mo<strong>der</strong>nen Aufstand neue<br />
Tempos verleihen, waren entwe<strong>der</strong> von den Bolschewiki weggenommen o<strong>der</strong> von den<br />
Ministern durch Ketten Aufständischer abgeschnitten. Es kam nur Kischkin, später<br />
gesellte sich Maljantowitsch hinzu. Was soll das Oberhaupt <strong>der</strong> Regierung beginnen?<br />
Unverzüglich den Staffeln entgegenfahren, um mit ihnen über alle Hin<strong>der</strong>nisse hinweg<br />
vorzurücken: etwas an<strong>der</strong>es weiß niemand auszudenken.<br />
Kerenski befiehlt, seinen »vorzüglichen offenen Tourenwagen« vorzufahren. Aber hier<br />
schiebt sich in die Kette <strong>der</strong> Ereignisse ein neuer Faktor ein, in Gestalt <strong>der</strong> unverbrüchlichen<br />
Solidarität, die die Regierungen <strong>der</strong> Entente in Glück und Unglück verbindet. »Auf<br />
eine mir unerklärliche Weise gelangte die Kunde von meiner Abfahrt zu den alliierten<br />
Gesandtschaften,« Die Vertreter Großbritanniens und <strong>der</strong> Vereinigten Staaten äußerten<br />
sogleich den Wunsch, daß das aus <strong>der</strong> Hauptstadt flüchtende Regierungsoberhaupt »ein<br />
Automobil mit amerikanischer Flagge begleite«. Kerenski selbst hielt diesen Vorschlag<br />
für überflüssig und sogar hemmend, akzeptierte ihn aber als Solidaritätsausdruck <strong>der</strong><br />
Alliierten.<br />
Der amerikanische Gesandte David Francis gibt eine an<strong>der</strong>e, einem Weihnachtsmärchen<br />
etwas unähnlichere Version. Einem amerikanischen Automobil folgte angeblich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 700
durch die Straßen bis zur Gesandtschaft ein Wagen mit <strong>russischen</strong> Offizieren, <strong>der</strong> die<br />
Überlassung des Gesandtschaftsautomobils für Kerenskis Reise zur Front for<strong>der</strong>te.<br />
Nachdem sich die Gesandtschaftsbeamten untereinan<strong>der</strong> beraten hatten, kamen sie zu<br />
dem Entschluß, sich <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Umstände zu beugen, da das Automobil bereits<br />
faktisch "enteignet" sei - was absolut nicht <strong>der</strong> Fall war. Der russische Offizier soll sich<br />
trotz den Protesten <strong>der</strong> Herren Diplomaten geweigert haben, die amerikanische Fahne zu<br />
entfernen. Was auch nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich ist: verlieh doch allein dieser farbige<br />
Fetzen dem Automobil Immunität. Francis hieß die Handlungsweise <strong>der</strong> Gesandtschaftsbeamten<br />
gut, befahl jedoch, »zu niemand davon zu sprechen«.<br />
Aus <strong>der</strong> Gegenüberstellung <strong>der</strong> zwei Angaben, die unter verschiedenen Graden die<br />
Wahrheitslinie schneiden, ergibt sich ein hinreichend klares Bild: natürlich haben nicht<br />
die Alliierten Kerenski das Automobil aufgezwungen, son<strong>der</strong>n er hat es sich selbst<br />
erbeten; da die Diplomaten aber <strong>der</strong> Heuchelei des Nichteingreifens in innere Angelegenheiten<br />
Tribut zollen mußten, wurde verabredet, das Automobil sei "enteignet" worden,<br />
und die Gesandtschaft habe gegen den Mißbrauch <strong>der</strong> Flagge "protestiert". Nachdem<br />
diese delikate Sache erledigt war, nahm Kerenski im eigenen Wagen Platz; <strong>der</strong> amerikanische<br />
folgte hinterher in Reserve. »Es braucht nicht gesagt zu werden«, erzählt<br />
Kerenski weiter, »daß mich die ganze Straße, Passanten wie Soldaten, sofort erkannte.<br />
Ich grüßte wie immer, ein wenig nachlässig und leicht lächelnd.« Ein unvergleichliches<br />
Bild: nachlässig und lächelnd - so ging das Februarregime in das Reich <strong>der</strong> Schatten ein.<br />
An den Stadtausgängen standen überall Feldwachen und Patrouillen aus bewaffneten<br />
Arbeitern. Beim Anblick <strong>der</strong> rasenden Autos stürzten die Rotgardisten auf die Chaussee,<br />
doch zu schießen entschlossen sie sich nicht. Schießen vermied man überhaupt noch.<br />
Vielleicht hielt auch das amerikanische Fähnchen davon ab. Die Automobile jagten<br />
wohlbehalten vorüber.<br />
»In Petrograd also gibt es keine Truppen, bereit, die Provisorische Regierung zu<br />
verteidigen?« fragte verwun<strong>der</strong>t Maljantowitsch, <strong>der</strong> bis zur Stunde im Reiche <strong>der</strong><br />
ewigen Rechtswahrheiten gelebt hatte. - »Ich weiß nichts.« Konowalow machte eine<br />
abwehrende Handbewegung. »Schlimm«, fügte er hinzu. - »Und was sind das für<br />
Truppen, die da kommen?« forschte Maljantowitsch weiter. - »Ich glaube, ein Bataillon<br />
Radfahrer.« Die Minister seufzten. In Petrograd und Umgebung zählte man zweihun<strong>der</strong>ttausend<br />
Soldaten. Schlimm steht's mit einem Regime, wenn das Regierungshaupt mit<br />
einem amerikanischen Fähnchen im Rücken einem Bataillon Radler entgegenrasen muß!<br />
Die Minister würden sicherlich noch tiefer geseufzt haben, hätten sie gewußt, daß das<br />
3. Radfahrerbataillon, von <strong>der</strong> Front ausgesandt, auf <strong>der</strong> Station Peredolskaja haltmachte<br />
und beim Petrogra<strong>der</strong> Sowjet telegraphisch anfragte, zu welchem Zwecke es eigentlich<br />
geholt werde. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee entbot dem Bataillon einen brü<strong>der</strong>lichen<br />
Gruß und empfahl ihm, sofort Delegierte zu schicken. Die Behörden suchten,<br />
fanden aber die Radler nicht, <strong>der</strong>en Delegierte am gleichen Tage im Smolny eintrafen.<br />
Das Winterpalais sollte den vorbereiteten Plänen nach in <strong>der</strong> Nacht zum 25. gleichzeitig<br />
mit allen an<strong>der</strong>en Kommandohöhen <strong>der</strong> Hauptstadt besetzt werden. Bereits am 23.<br />
wurde für die Einnahme des Palais ein beson<strong>der</strong>er Dreierausschuß gebildet mit<br />
Podwojski und Antonow als Hauptfiguren. Ingenieur Sadowski, <strong>der</strong> im Militärdienst<br />
stand, war als dritter ausersehen, kam aber bald, mit Angelegenheiten <strong>der</strong> Garnison<br />
beschäftigt, in Wegfall. Ihn ersetzte Tschudnowski, <strong>der</strong> im Mai zusammen mit Trotzki<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 701
aus dem Konzentrationslager in Kanada angekommen und als Soldat drei Monate an <strong>der</strong><br />
Front gewesen war. Engsten Anteil an <strong>der</strong> Operation nahm Laschewitseh, ein alter<br />
Bolschewik, <strong>der</strong> es in <strong>der</strong> Armee bis zum Unteroffizier gebracht hatte. Drei Jahre später<br />
erinnerte sich Sadowski, wie in seinem kleinen Zimmerchen im Smolny Podwojski und<br />
Tschudnowski über <strong>der</strong> Karte Petrograds um den besten Aktionsplan gegen das Palais<br />
grimmig stritten. Endlich wurde beschlossen, den Bezirk des Winterpalais in dichtem<br />
Oval, dessen Längsachse das Newaufer bilden sollte, einzuschließen. Von <strong>der</strong> Flußseite<br />
her sollte die Umkreisung mit <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung, <strong>der</strong> "Aurora" und an<strong>der</strong>en aus<br />
Kronstadt und von <strong>der</strong> aktiven Flotte herbeigerufenen Schiffen abschließen. Um eventuellen<br />
Angriffsversuchen <strong>der</strong> Kosaken und Junkertruppen im Rücken zuvorzukommen<br />
o<strong>der</strong> sie zu paralysieren, wurde beschlossen, beträchtliche Deckungen aus revolutionären<br />
Abteilungen aufzustellen.<br />
Der Plan in seiner Gesamtheit war zu schwerfällig und kompliziert für die Aufgabe,<br />
die er zu lösen hatte. Die für die Vorbereitung bemessene Zeit war unzureichend. Kleine<br />
Mißverhältnisse und Rechenfehler ergaben sich, wie üblich, bei jedem Schritt. An einer<br />
Stelle war die Richtung falsch angegeben, an <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en hatte sich <strong>der</strong> Operarionsleiter,<br />
<strong>der</strong> die Instruktionen verwechselte, verspätet, an <strong>der</strong> dritten wartete man auf den rettenden<br />
Panzerwagen. Die Truppenteile herauszuführen, sie mit den Rotgardisten vereinigen,<br />
die Kampfreviere besetzen, sie miteinan<strong>der</strong> und mit dem Stab verbinden - all das erfor<strong>der</strong>te<br />
viel mehr Stunden, als die Leiter vermutet hatten, die über <strong>der</strong> Karte Petrograds<br />
stritten.<br />
Als das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee gegen 10 Uhr morgens die Regierung als<br />
gestürzt proklamierte, war das Ausmaß <strong>der</strong> Verspätung sogar den unmittelbaren Leitern<br />
<strong>der</strong> Operation noch nicht klar. Podwojski versprach den Fall des Winterpalais »nicht<br />
später als um 12 Uhr«. Bis dahin war auf dem militärischen Gebiet alles <strong>der</strong>art glatt<br />
vonstatten gegangen, daß niemand Grund hatte, an dieser Frist zu zweifeln. Doch zur<br />
Mittagsstunde stellte sich heraus, daß die Belagerung noch immer nicht komplett war, die<br />
Kronstädter noch fehlten, während die Verteidigung des Palais ausgebaut wurde. Der<br />
Zeitverlust führte, wie es stets zu sein pflegt, zu neuen Verzögerungen. Unter einem<br />
starken Druck des Komitees wurde die Einnahme des Palais für 3 Uhr angesetzt, diesmal<br />
"endgültig". Gestützt auf die neue Frist sprach <strong>der</strong> Berichterstatter des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees in <strong>der</strong> Tagessitzung des Sowjets die Hoffnung aus, <strong>der</strong> Fall des<br />
Winterpalais sei Sache <strong>der</strong> nächsten Minuten. Doch eine neue Stunde verstrich und<br />
brachte keine Entscheidung. Podwojski, <strong>der</strong> selbst wie im Feuer brannte, versicherte<br />
telephonisch, das Palais werde bis 6 Uhr um jeden Preis genommen sein. Aber die alte<br />
Zuversicht war nicht mehr vorhanden. Und in <strong>der</strong> Tat, die Uhr schlug 6, doch die<br />
Entscheidung fiel nicht. Aufgebracht über die Antreibereien des Smolny, lehnten<br />
Podwojski und Antonow es ab, irgendwelche weiteren anzugeben. Das erzeugte ernste<br />
Besorgnis. Politisch hielt man es für notwendig, daß zur Eröffnung des Sowjetkongresse<br />
die gesamte Hauptstadt sich in Händen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees befände:<br />
das sollte die Aufgabe gegenüber <strong>der</strong> Opposition auf dem Kongreß vereinfachen, indem<br />
es sie vor eine vollendete Tatsache stellte. Indessen war die Stunde <strong>der</strong> Kongreßeröffnung<br />
gekommen, verschoben worden und wie<strong>der</strong> gekommen: das Winterpalais hielt sich.<br />
So wurde die Belagerung de Palais infolge ihres schleppenden Charakters für nicht<br />
weniger als zwölf Stunden die Zentralaufgabe des Aufstandes.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 702
Der Hauptstab <strong>der</strong> Operation blieb im Smolny, wo alle Fäden in Laschewitschs<br />
Händen zusammenliefen. Der Feldstab befand sich in <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung, wo Verantwortlicher<br />
Blagonrawow war. Untergeordnete Stäbe gab es drei: einen auf <strong>der</strong> "Aurora",<br />
einen zweiten in <strong>der</strong> Kaserne des Pawlowsker Regiments, den dritten in <strong>der</strong> Kaserne <strong>der</strong><br />
Flottenequipage. Auf den Aktionsfeld lag die Leitung bei Podwojski und Antonow, wohl<br />
ohne klar ausgesprochenes Rangverhältnis.<br />
Im Gebäude des Hauptstabes gab es ebenfalls drei über de Karte: den Bezirkskommandierenden,<br />
Oberst Polkownikow; <strong>der</strong> Stabschef General Bagratuni und den als höchste<br />
Autorität zu Beratung hinzugezogenen General Alexejew. Trotz dieser so hochqualifizierten<br />
Leitung waren die Pläne <strong>der</strong> Verteidigung unvergleichlich verschwommener als<br />
die des Angriffs. Zwar verstanden es die unerfahrenen Marschälle des Aufstandes nicht,<br />
ihr Truppen schnell zusammenzuziehen und rechtzeitig den Schlag zu führen. Die<br />
Truppen aber waren vorhanden. Die Marschälle <strong>der</strong> Verteidigung hatten statt Truppen<br />
unklare Hoffnungen: vielleicht werden die Kosaken sich besinnen; vielleicht finden sich<br />
treue Truppen in den Nachbargarnisonen; vielleicht wird Kerenski Truppen von <strong>der</strong><br />
Front heranbringen. Polkownikows Stimmung ist aus seinem Nachttelegramm an das<br />
Hauptquartier bekannt: er betrachtete die Sache als verloren. Alexejew, zu Optimismus<br />
noch weniger neigend, verließ bald den verlorener Posten.<br />
Delegierte <strong>der</strong> Junkerschulen wurden zur Verbindung in den Stab gerufen, wo man<br />
versuchte, ihren Mut zu heben durch Versicherungen, bald würden Truppen aus Gatschina,<br />
Zarskoje Selo und von <strong>der</strong> Front eintreffen. Doch diesen nebelhaften Versprechungen<br />
wurde kein Glaube geschenkt. Durch die Militärschulen krochen nie<strong>der</strong>drückende<br />
Gerüchte: »Im Stab herrscht Panik, niemand tut was.« So war es auch. Kosakenoffiziere,<br />
die in den Stab gekommen waren mit dem Vorschlag, die Panzerwagen aus <strong>der</strong> Michajlow-Manege<br />
herauszuholen, fanden Polkownikow an einem Fensterbrett sitzend im<br />
Zustande völliger Erschöpfung vor. Die Manege besetzen? »Besetzen Sie, ich habe<br />
niemand, ich allein kann nichts machen.«<br />
Während <strong>der</strong> trägen Mobilisierung <strong>der</strong> Schulen zur Verteidigung des Winterpalais<br />
versammelten sich die Minister zu einer Sitzung. Der Platz vor dem Palais und die anliegenden<br />
Straßen waren noch frei von Aufständischen. An <strong>der</strong> Ecke <strong>der</strong> Morskaja und des<br />
Newski hielten bewaffnete Soldaten vorbeifahrende Automobile an und ließen die Insassen<br />
aussteigen. Die Menge erging sich in Vermutungen darüber, ob es Soldaten <strong>der</strong><br />
Regierung o<strong>der</strong> des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees seien, Die Minister genossen<br />
diesmal alle Vorteile ihrer Unpopularität: niemand interessierte sich für sie, und wohl<br />
kaum wurden sie unterwegs von jemand erkannt. Es varsammelten sich alle, außer<br />
Prokopwitsch, den man zufällig in einer Droschke verhaftet hatte, allerdings im Laufe<br />
des Tages wie<strong>der</strong> freiließ.<br />
Im Palais waren noch die alten Diener geblieben. Sie hatten vieles sehen müssen, sich<br />
zu wun<strong>der</strong>n aufgehört, aber sind noch nicht von <strong>der</strong> Furcht erholt. Streng dressiert, in<br />
blauer Livree mit rotem Kragen und goldenen Tressen, hielten diese Splitter des Vergangenen<br />
im prunkvollen Gebäude eine Atmosphäre <strong>der</strong> Ordnung und Beständigkeit<br />
aufrecht. An diesem sorgenvollen Morgen flößten wohl nur sie allein den Ministern eine<br />
Illusion <strong>der</strong> Macht ein. Erst um 11 Uhr beschloß die Regierung endlich, eines ihrer<br />
Mitglie<strong>der</strong> an die Spitze <strong>der</strong> Verteidigung zu stellen. General Manikowski hatte bereits<br />
bei Tagesanbruch auf die von Kerenski zugedachte Ehre verzichtet. Der an<strong>der</strong>e Militär<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 703
unter den Regierungsmitglie<strong>der</strong>n, Admiral Wer<strong>der</strong>ewski, war noch unkriegerischer<br />
gestimmt. An die Spitze <strong>der</strong> Verteidigung mußte ein Zivilist treten: Wohlfahrtsminister<br />
Kischkin. Über seine Ernennung wurde sogleich ein mit den Unterschriften aller versehener<br />
Erlaß an den Senat verfaßt: diese Menschen hatten Zeit, sich mit bürokratischem<br />
Firlefanz zu beschäftigen. Dafür aber dachte keiner daran, daß Kischkin als Mitglied <strong>der</strong><br />
Kadettenpartei den Soldaten im Hinterlande und an <strong>der</strong> Front doppelt verhaßt war.<br />
Kischkin seinerseits wählte sich als Gehilfen Paltschinski und Rutenberg. Schützling <strong>der</strong><br />
Industriellen und För<strong>der</strong>er von Aussperrungen, genoß Paltschinski den Haß <strong>der</strong> Arbeiter.<br />
Ingenieur Rutenberg war Adjutant Sawinkows gewesen, den sogar die allumfassende<br />
Partei <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre als Kornilowianer ausgeschlossen hatte. Der des Verrates<br />
verdächtigte Polkownikow wurde entlassen. An seiner Stelle General Bagratuni ernannt,<br />
<strong>der</strong> sich in nichts von ihm unterschied.<br />
Obwohl die Stadttelephone des Winterpalais und des Stabes ausgeschaltet waren, blieb<br />
das Palais durch eigene Anschlüsse in Verbindung mit den wichtigsten Ämtern, insbeson<strong>der</strong>e<br />
mit dem Kriegsministerium, von wo aus eine direkte Leitung zum Hauptquartier<br />
führte. Es ist wahrscheinlich, daß in <strong>der</strong> Eile auch nicht alle Stadtapparate ausgeschaltet<br />
worden waren. In militärischer Hinsicht war das allerdings ohne Bedeutung, moralisch -<br />
verschlimmerte dies eher die Lage <strong>der</strong> Regierung, denn es raubte ihr die Illusionen.<br />
Die Leiter <strong>der</strong> Verteidigung for<strong>der</strong>ten seit dem Morgen lokale Verstärkungen, in<br />
Erwartung jener von <strong>der</strong> Front. Der eine o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Stadt versuchte ihnen zu<br />
helfen. Der an dieser Sache eng beteiligte Doktor Feit, Mitglied des Zentralkomitees <strong>der</strong><br />
sozialrevolutionären Partei, erzählte einige Jahre später in einer Gerichtsverhandlung von<br />
<strong>der</strong> »seltsamen, blitzartigen Verän<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Stimmung <strong>der</strong> Truppenteile«. Aus zuverlässigsten<br />
Quellen meldete man die Bereitschaft dieses o<strong>der</strong> jenes Truppenteils, sich zur<br />
Verteidigung <strong>der</strong> Regierung zu erheben, doch genügte ein direkter telephonischer Anruf,<br />
und ein Truppenteil nach dem an<strong>der</strong>n sagte rundweg ab. »Das Resultat ist Ihnen<br />
bekannt«, sagte <strong>der</strong> alte Narodniki »keiner rückte an, und das Winterpalais wurde<br />
genommen.« In Wirklichkeit hatten keinerlei blitzartige Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Garnison<br />
stattgefunden. Doch die letzten Illusionen <strong>der</strong> Regierungsparteien stürzten tatsächlich<br />
blitzartig zusammen.<br />
Die Panzerwagen, auf die man im Winterpalais und im Stab beson<strong>der</strong>s gerechnet hatte,<br />
zerfielen in zwei Gruppen: eine bolschewistische und eine pazifistische; eine Regierungsgruppe<br />
gab es überhaupt nicht. Auf dem Wege zum Winterpalais stieß. eine halbe<br />
Kompanie Ingenieur-Junker mit Hoffnung und Angst im Herzen auf zwei Panzerwagen:<br />
Freunde o<strong>der</strong> Feinde? Es zeigte sich, daß sie Neutralität wahrten und auf <strong>der</strong> Straße<br />
waren um Zusammenstöße zwischen den Parteien zu verhin<strong>der</strong>n. Von den sechs im<br />
Schlosse stationierten Panzerautos war nur eins zum Schutze des Schloßeigentums<br />
verblieben; die fünf übrigen waren weg. Mit den Erfolgen des Aufstandes wuchs die<br />
Zahl <strong>der</strong> bolschewistischen Panzerwagen, schmolz die Neutralitätsarmee: dies ist<br />
überhaupt das Schicksal des Pazifismus in jedem ernsten Kampfe.<br />
Die Mittagsstunde naht. Der Riesenplatz vor dem Winterpalais ist noch immer leer.<br />
Die Regierung kann ihn mit niemand füllen. Die Truppen des Komitees besetzen ihn<br />
nicht, von <strong>der</strong> Durchführung des zu komplizierten Planes in Anspruch genommen. In<br />
weiterem Umkreis sammeln sich Truppen, Arbeiterabteilungen, Panzerwagen. Der<br />
Sehloßbezirk beginnt einem verpesteten Ort zu ähneln, den man an <strong>der</strong> Peripherie, weit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 704
von dem unmittelbaren Seuchenherd, absperrt.<br />
Der Hof des Winterpalais, <strong>der</strong> zum Platz führt, ist wie <strong>der</strong> Hof des Smolny von<br />
Holzstapeln angefüllt. Rechts und links stehen dreizöllige Feldgeschütze. An mehreren<br />
Stellen Gewehrpyramiden. Die geringe Wache des Palais drückt sieh eng an das<br />
Gebäude. Im Hof wie in <strong>der</strong> unteren Etage liegen zwei Fähnrichschulen aus Oranienbaum<br />
und Peterhof, bei weitem nicht vollzählig, und ein Zug <strong>der</strong> Konstantinowsker<br />
Artillerieschule mit sechs Geschützen.<br />
In <strong>der</strong> zweiten Tageshälfte trifft ein Junkerbataillon <strong>der</strong> Inge-nieurschule ein, das<br />
unterwegs eine halbe Kompanie verloren hat. Das Bild, das <strong>der</strong> Ankunftsort bietet, ist<br />
kaum imstande, die Kampfbereitschaft <strong>der</strong> Junker zu heben, an <strong>der</strong> es ihnen, nach<br />
Stankewitschs Aussage, auch unterwegs schon fehlte. Es stellt sich heraus, daß im<br />
Schlosse fast völliger Mangel an Lebensmitteln herrscht: nicht einmal dafür hatte man<br />
rechtzeitig gesorgt. Ein Lastwagen mit Brot war von Patrouillen des Komitees abgefangen<br />
worden. Ein Teil <strong>der</strong> Junker hat Wachtdienst, die an<strong>der</strong>en quälte Untätigkeit,<br />
Unsicberheit, Hunger. Die Hand einer Leitung war nirgendwo zu verspüren. Auf dem<br />
Platz vor dem Schlosse und am Kai begannen Gruppen scheinbar friedlicher Passanten<br />
aufzutauchen, die im Vorübergehen unter Bedrohung mit Revolvern den Posten stehenden<br />
Junkern Gewehre entrissen.<br />
Unter den Junkern tauchen "Agitatoren" auf. Sind sie von außen eingedrungen? Nein,<br />
noch sind es aller Wahrscheinlichkeit nach innere Friedensstörer. Es gelang ihnen, unter<br />
den Oranienbaumern und Peterhofern Gärung hervorzurufen. Die Komitees <strong>der</strong> Schulen<br />
organisierten im Weißen Saal des Schlosses eine Versammlung und verlangten nach<br />
einem Regierungsvertreter zwecks Aufklärung. Es erschienen sämtliche Minister mit<br />
Konowalow an <strong>der</strong> Spitze. Die Diskussion währte eine ganze Stunde. Konowalow wurde<br />
wie<strong>der</strong>holt unterbrochen und - verstummte. Landwirtschaftsminister Maslow trat in <strong>der</strong><br />
Eigenschaft des alten <strong>Revolution</strong>ärs auf. Kischkin setzte den Junkem auseinan<strong>der</strong>, daß<br />
die Regierung beschlossen habe, sich bis zur letzten Möglichkeit zu halten. Nach Stankewitschs<br />
Zeugnis machte ein Junker den Versuch, die Bereitschaft <strong>der</strong> Truppe, für die<br />
Regierung in den Tod zu gehen, zum Ausdruck zu bringen, aber »die offenkundige Kühle<br />
<strong>der</strong> übrigen Kameraden mäßigte seinen Drang«. Die Reden an<strong>der</strong>er Minister riefen<br />
bereits direkte Gereiztheit bei den Junkern hervor, die Zwischenrufe machten, schrien<br />
und sogar zu pfeifen begannen. Die Junker von blauem Blut entschuldigten das Verhalten<br />
<strong>der</strong> Mehrheit ihrer Kameraden mit <strong>der</strong>en nie<strong>der</strong>er sozialer Abstammung: »All das<br />
sind Leute vom Pflug, Halbanalphabeten, ungebildetes Vieh ... gemeines Volk.«<br />
Das Meeting <strong>der</strong> Minister mit den Junkern im belagerten Palais endete immerhin<br />
versöhnlich: die Junker erklärten sich zum Bleiben bereit, nachdem ihnen aktive Führung<br />
und eine richtige Beleuchtung <strong>der</strong> Ereignisse versprochen worden war. Der zum<br />
Kommandanten <strong>der</strong> Verteidigung ernannte Vorsteher <strong>der</strong> Ingenieurschule fuhr mit dem<br />
Bleistift über den Schloßplan und zeichnete die Namen <strong>der</strong> Truppenteile ein. Die vorhandenen<br />
Kräfte wurden nach Kampfabschnitten aufgeteilt. Ein großer Teil <strong>der</strong> Junker<br />
wurde in <strong>der</strong> ersten Etage untergebracht, von wo aus sie durch die Fenster den Schloßplatz<br />
unter Feuer halten konnten. Doch war es ihnen verboten, das Feuer als erste zu<br />
eröffnen. Ein Bataillon <strong>der</strong> Ingenieurschule besetzt den Hof zur Deckung <strong>der</strong> Artillerie.<br />
Trupps für Verschanzungsarbeiten werden ausgeson<strong>der</strong>t Ein Verbindungskommando aus<br />
vier Mann von jedem Truppenteil wird geschaffen. Eine Artillerieabteilung mit <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 705
Verteidigung des Tores für den Fall eines Durchbruchversuchs beauftragt. Im Hofe und<br />
vor dem Tor werden Abwehrschanzen aus Holz errichtet. Es entstand so etwas wie<br />
Ordnung. Die Wachen begannen sich sicherer zu fühlen.<br />
Der Bürgerkrieg ist, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> ersten Zeit, vor Bildung regulärer Armeen und<br />
vor <strong>der</strong>en Stählung, ein Krieg bloßgelegter Nerven. Sobald sich eine kleine Steigerung<br />
<strong>der</strong> Aktivität bei den Junkern zeigte, die, hinter den Barrikaden verschanzt, den Platz<br />
durch Feuer säuberten, überschätzte man im Lager <strong>der</strong> Angreifer außerordentlich Kräfte<br />
und Mittel <strong>der</strong> Verteidigung. Trotz <strong>der</strong> Unzufriedenheit <strong>der</strong> Rotgardisten und Soldaten<br />
beschlossen die Leiter, die Erstürmung bis zum Aufmarsch <strong>der</strong> Reserven zu verschieben;<br />
man wartete hauptsächlich auf das Eintreffen <strong>der</strong> Matrosen aus Kronstadt.<br />
Die dadurch entstandene Atempause von einigen Stunden brachte den Belagerten<br />
kleine Verstärkungen. Nachdem Kerenski <strong>der</strong> Kosakendelegation Infanterie versprochen<br />
hatte, tagte <strong>der</strong> Sowjet <strong>der</strong> Kosakenheere, tagten Regimentskomitees, tagten allgemeine<br />
Regimentsversainmlungen. Es wurde beschlossen: zwei Hun<strong>der</strong>tschaften und ein<br />
Masehinengewehrkommando des Uraler Regiments, im Juli von <strong>der</strong> Front gekommen zur<br />
Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> Bolschewiki, rücken unverzüglich zum Winterpalais aus, die<br />
übrigen - nicht vor <strong>der</strong> tatsächlichen Erfüllung <strong>der</strong> Versprechungen, das heißt nach Lieferung<br />
von Infanterieverstärkungen. Aber auch mit den zwei Hun<strong>der</strong>tschaften lief die<br />
Sache nicht ohne Reibungen ab. Die Kosakenjugend wi<strong>der</strong>setzte sich, die "Alten" sperrten<br />
die Jungen sogar in den Pferdestall ein, damit sie sie nicht hin<strong>der</strong>ten, sich für den<br />
Marsch zu rüsten. Erst in <strong>der</strong> Dämmerung, als man sie bereits nicht mehr erwartete,<br />
erschienen im Palais bärtige Uraler. Sie wurden empfangen wie Retter. Sie selbst aber<br />
blickten düster drein. In Schlössern zu kämpfen, waren sie nicht gewohnt. Und es war<br />
auch nicht sehr klar, wo die Wahrheit ist.<br />
Nach einiger Zeit erschienen ganz unerwartet etwa vierzig Mann Georgsritter, unter<br />
Befehl eines einbeinigen Stabsrittmeisters mit einer Prothese. Patriotische Invaliden als<br />
letzte Reserve <strong>der</strong> Demokratie ... Immerhin wurde es gemütlicher. Bald kam hinzu die<br />
Stoßkompanie eines Frauenbataillons. Am meisten ermunterte die Tatsache, daß die<br />
Verstärkungen ohne Kampfdurchbrachen. Die Ketten <strong>der</strong> Belagerer vermochten o<strong>der</strong><br />
wagten nicht, ihnen den Zutritt zum Palais zu versperren. Klar: <strong>der</strong> Gegner ist schwach.<br />
»Gott sei Dank, die Sache beginnt, in Fluß zu kommen«, trösteten die Offiziere sich und<br />
die Junker. Die Neueingetroffenen erhielten Kampfabschnitte zugewiesen und lösten die<br />
Ermüdeten ab. Jedoch blickten die Uraler mißbilligend auf die "Weiber" mit Gewehren.<br />
Und wo bleibt die richtige Infanterie?<br />
Die Belagerer versäumten offensichtlich Zeit. Es verspäteten sich die Kronstädter,<br />
wenn auch nicht durch eigenes Verschulden: sie waren zu spät gerufen worden. Nach<br />
angestrengter nächtlicher Vorbereitung verluden sie sich gegen Morgen auf Schiffe. Das<br />
Minensperrschiff "Amur" und das Meldeschiff "Jastreb" begeben sich direkt nach Petrograd.<br />
Der alte Panzerkreuzer "Sarja Swobody" soll nach Landung <strong>der</strong> Besatzung in<br />
Oranienbaum, wo eine Entwaffnung <strong>der</strong> Junker geplant ist, im Eingang zum Morskoj-<br />
Kanal Aufstellung nehmen, um im Norfall die baltische Eisenbahn unter Feuer zu halten.<br />
Fünftausend Matrosen und Soldaten verließen am frühen Morgen die Insel Kotlin, um an<br />
<strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> zu landen. In <strong>der</strong> Offizierskajüte düsteres Schweigen: man führt<br />
diese Menschen, für eine ihnen verhaßte Sache zu kämpfen. Der Kommissar <strong>der</strong> Abteilung,<br />
Bolschewik Flerowski, erklärt ihnen: »Mit euren Sympathien rechnen wir nicht,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 706
aber wir for<strong>der</strong>n, daß ihr auf euren Posten seid. Überflüssige Prüfungen werden wir<br />
euch ersparen.« Es erfolgt die kurze Seemannsantwort: »Es sei.« Alle nahmen ihre<br />
Plätze ein, <strong>der</strong> Kommandeur bestieg die Brücke.<br />
Bei <strong>der</strong> Einfahrt in die Newa - jubelndes Hurra: die Seeleute empfangen die Ihren. Von<br />
<strong>der</strong> über die Mitte des Flusses sich ausbreitenden "Aurora" donnert ein Orchester.<br />
Antonow begrüßt die Angekommenen mit einer kurzen Ansprache: »Hier das Winterpalais<br />
... es muß genommen werden.« In <strong>der</strong> Kronstädter Abteilung vollzog sich von selbst<br />
eine Auslese <strong>der</strong> Entsehlossensten und Kühnsten. Diese Matrosen in den schwarzen<br />
Anzügen, mit Gewehren und Patronentaschen, werden bis ans Ende gehen. Schnell wird<br />
die Landung beim Konogwardejski-Boulevard vollzogen. Auf dem Schiff verbleibt nur<br />
eine Kampfwache.<br />
Jetzt gibt es Kräfte mehr als genug. Auf dem Newski - starke Sperren, auf <strong>der</strong> Brücke<br />
des Jekaterininski-Kanals und auf <strong>der</strong> Brücke <strong>der</strong> Mojka Panzerautos und Flugzeugabwehrgeschütze,<br />
auf das Winterpalais blickend. Jenseits <strong>der</strong> Mojka haben Arbeiter<br />
Maschinengewehre in Deckung aufgestellt. Ein Panzerwagen hält Wacht auf <strong>der</strong> Morskaja.<br />
Die Newa und ihre Brücken sind in den Händen <strong>der</strong> Angreifer. Tschudnowski und<br />
Unterleutnant Daschkewitsch ist befohlen, aus den Gar<strong>der</strong>egimentern Sperrketten auf das<br />
Marsfeld zu schicken. Blagonrawow soll von <strong>der</strong> Festung aus über die Brücke die Sperrkette<br />
des Pawlowsker Regiments berühren. Die eingetroffenen Kronstädter treten mit <strong>der</strong><br />
Festung und <strong>der</strong> ersten Flottenequipage in Verbindung. Nach einer Artilleriebeschießung<br />
soll die Erstürmung beginnen.<br />
Von <strong>der</strong> aktiven baltischen Flotte kommen unterdessen fünf Kampfschiffe, ein<br />
Kreuzer, zwei große Torpedoboote und zwei kleine. »So sehr wir auch mit den schon<br />
vorhandenen Kräften des Sieges gewiß gewesen waren«, schreibt Flerowski, »hob<br />
dennoch das Geschenk <strong>der</strong> aktiven Flotte bei allen gewaltig die Stimmung.« Admiral<br />
Wer<strong>der</strong>ewski konnte von den Fenstern des Malachitsaales aus die imposante revolutionäre<br />
Flottille beobachten, die nicht nur das Palais und dessen Umgebung, son<strong>der</strong>n auch<br />
die wichtigsten Stadtzugänge beherrschte.<br />
Gegen 4 Uhr mittags berief Konowalow telephonisch alle <strong>der</strong> Regierung nahestehenden<br />
Politiker ins Palais: die belagerten Minister bedurften wenigstens moralischer Stütze.<br />
Von all den Geladenen erschien allein Nabokow; die übrigen zogen vor, ihr Mitgefühl<br />
telephonisch auszusprechen. Minister Tretjakow beklagte sieh über Kerenski und das<br />
Schicksal: das Regierungshaupt ist geflohen und hat seine Kollegen ohne Schutz gelassen.<br />
- Aber vielleicht werden Verstärkungen kommen? - Vielleicht. Warum sind sie aber<br />
noch nicht da? Nabokow zeigte Teilnahme, blickte verstohlen auf die Uhr und hatte es<br />
eilig, sich zu verabschieden. Er ging rechtzeitig weg. Bald nach 6 Uhr wurde endlich das<br />
Winterpalais von Truppen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees dicht umstellt: es gab<br />
keinen Durchgang mehr, we<strong>der</strong> für Verstärkungen, noch für Einzelpersonen.<br />
Aus <strong>der</strong> Richtung des Konogwardejski-Boulevards, des Admiralitätskais, <strong>der</strong> Morskaja-Straße,<br />
des Newski-Prospekts, des Marsfeldes, <strong>der</strong> Milljonaja-Straße und des Schloßkais<br />
verdichtete und verkürzte sich das Oval <strong>der</strong> Belagerung. Machtvolle Ketten zogen<br />
sich von den Gartengittern des Winterpalais, die bereits in den Händen <strong>der</strong> Belagerer<br />
waren, vom Bogen zwischen dem Schloßplatz und <strong>der</strong> Morskaja-Straße, von den Gräben<br />
an <strong>der</strong> Eremitage, von den in <strong>der</strong> Nähe des Palais liegenden Ecken <strong>der</strong> Admiralität und<br />
des Newski. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Flusses lauerte drohend die Peter-Paul-Festung.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 707
Von <strong>der</strong> Newa blickten die Sechszöller <strong>der</strong> "Aurora". Torpedobonte patrouillierten den<br />
Fluß auf und ab. Der Aufstand bot in jenen Stunden den Anblick militärischer Manöver<br />
großen Stils.<br />
Auf dem Schloßplatze, vor etwa drei Stunden durch die Junker gesäubert, erschienen<br />
Panzerwagen und besetzten Ein- und Ausgänge. Die alten patriotischen Namen traten<br />
noch auf <strong>der</strong> Panzerung unter den neuen Bezeichnungen, die man in Hast mit roter Farbe<br />
angebracht hatte, hervor. Im Schutz <strong>der</strong> stählernen Ungetüme fühlten sich die Angreifer<br />
auf dem Platz immer sicherer. Ein Panzerwagen fuhr ganz dicht an das Hauptportal des<br />
Palais heran, entwaffnete die Junkerposten und entfernte sich unbehin<strong>der</strong>t.<br />
Trotz <strong>der</strong> endlich vollständigen Blockade konnten die Belagerten immer noch die<br />
Verbindung mit <strong>der</strong> Außenwelt telephonisch aufrechterhalten. Zwar hatte um 5 Uhr eine<br />
Abteilung des Kexholmer Regiments das Gebäude des Kriegsministeriums besetzt, durch<br />
das das Winterpalais mit dem Hauptquartier Verbindung besaß. Aber auch danach<br />
verblieb ein Offizier allem Anschein nach noch einige Stunden am Hughes-Apparat im<br />
Mansardenraum des Ministeriums, wo nachzusehen den Siegern nicht eingefallen war.<br />
Doch nützte die Verbindung auch weiterhin nichts. Die Antworten von <strong>der</strong> Nordfront<br />
wurden immer ausweichen<strong>der</strong>. Verstärkungen trafen nicht ein. Das mysteriöse<br />
Radfahrerbataillon blieb unauffindbar. Kerenski selbst war wie von <strong>der</strong> Erdoberfläche<br />
verschwunden. Die Freunde in <strong>der</strong> Stadt beschränkten sich auf immer lakonischere<br />
Teilnahmsäußerungen. Die Minister waren bedrückt. Worüber noch sprechen, worauf<br />
noch hoffen? Sie waren einan<strong>der</strong> und ihrer selbst überdrüssig. Die einen saßen stumpfsinnig<br />
da, die an<strong>der</strong>en pendelten automatisch von einer Ecke zur an<strong>der</strong>en. Zu Verallgemeinerungen<br />
neigend, blickten sie zurück in die Vergangenheit, Schuldige suchend. Das<br />
Finden fiel nicht schwer: die Demokratie! Sie hat sie in die Regierung geschickt, ihnen<br />
eine große Last auferlegt und sie im Augenblick <strong>der</strong> Gefahr ohne Hilfe gelassen. Diesmal<br />
waren Kadetten und <strong>Sozialisten</strong> völlig solidarisch: ja, schuld ist die Demokratie. Zwar<br />
hatten beide Gruppen, die Koalition eingehend, sogar <strong>der</strong> ihnen so nahestehenden<br />
Demokratischen Beratung den Rücken gekehrt. In <strong>der</strong> Unabhängigkeit von <strong>der</strong> Demokratie<br />
bestand ja die Hauptidee <strong>der</strong> Koalition. Doch gleichwie: zu welchem Zwecke existiert<br />
die Demokratie, wenn nicht zur Rettung <strong>der</strong> in Not geratenen bürgerlichen Regierung?<br />
Landwirtschaftsminister Maslow, rechter Sozialrevolutionär, schrieb einen von ihm<br />
selbst als posthum bezeichneten Zettel: feierlich verpflichtete er sich, nicht an<strong>der</strong>s zu<br />
sterben als mit Flüchen an die Adresse <strong>der</strong> Demokratie auf den Lippen. Von dieser seiner<br />
schicksalsschweren Absicht beeilten sich seine Kollegen telephonisch <strong>der</strong> Duma Mitteilung<br />
zu machen. Der Tod blieb zwar im Stadium eines Projektes, an Flüchen allerdings<br />
war kein Mangel.<br />
Oben, neben <strong>der</strong> Kommandantur, befand sich ein Speiseraum, wo Hoflakaien den<br />
Herren Offizieren ein »köstliches Essen mit Wein« servierten. Man konnte hier für eine<br />
Weile die Unbilden vergessen. Die Offiziere rechneten die Rangstufen nach, stellten<br />
neidische Vergleiche an, fluchten über die saumselige Produktion unter <strong>der</strong> neuen Macht.<br />
Beson<strong>der</strong>s bekam es Kerenski; gestern habe er im Vorparlament geschworen, auf seinem<br />
Posten zu sterben, und heute sei er, als Krankenschwester verkleidet, aus <strong>der</strong> Stadt<br />
geflüchtet. Einige Offiziere versuchten den Regierungsmitglie<strong>der</strong>n die Sinnlosigkeit<br />
eines weiteren Wi<strong>der</strong>standes zu beweisen. Der energische Paltschinski erklärte sie für<br />
Bolschewiki und versuchte sogar, sie zu verhaften.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 708
Die Junker wollten wissen, was weiter werden solle, und for<strong>der</strong>ten von <strong>der</strong> Regierung<br />
Antworten, die zu geben diese unfähig war. Während <strong>der</strong> neuerlichen Besprechung <strong>der</strong><br />
Junker mit den Ministern traf Kischkin aus dem Hauptstab ein mit dem dorthin durch<br />
einen Radfahrer ans <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung überbrachten und dem Generalquartiermeister<br />
Poradelow eingehändigten Ultimatum mit Antonows Unterschrift: sich ergeben und<br />
die Garnison des Winterpalais entwaffnen, an<strong>der</strong>nfalls wird aus den Geschützen <strong>der</strong><br />
Festung und <strong>der</strong> Kriegsschiffe Feuer eröffnet: zwanzig Minuten Bedenkzeit. Diese Frist<br />
war zu kurz. Poradelow erwirkte weitere zehn Minuten. Die militärischen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Regierung, Manikowski und Wer<strong>der</strong>ewski, gingen an die Sache einfach heran: kann man<br />
nicht kämpfen, muß man an Übergabe denken, das heißt das Ultimatum annehmen. Doch<br />
die Zivilminister blieben unbeugsam. Schließlich wurde beschlossen, das Ultimatum<br />
nicht zu beantworten, son<strong>der</strong>n sich an die Stadtduma zu wenden, als das einzige gesetzliche<br />
Organ in <strong>der</strong> Hauptstadt. Der Appell an die Duma war ein letzter Versuch, das eingeschlafene<br />
Gewissen <strong>der</strong> Demokratie zu wecken.<br />
Poradelow, <strong>der</strong> die Einstellung des Wi<strong>der</strong>standes für notwendig hielt, ersuchte um<br />
Enthebung von seinem Posten: ihm »fehlt die Überzeugung von <strong>der</strong> Richtigkeit des<br />
seitens <strong>der</strong> Provisorischen Regierung eingeschlagenen Weges«. Die Schwankungen des<br />
Obersten fanden ihre Lösung, ehe noch seine Demission angenommen werden konnte.<br />
Nach Ablauf <strong>der</strong> halbstündigen Frist besetzte eine Abteilung Rotgardisten, Matrosen und<br />
Soldaten unter Führung eines Fähnrichs des Pawlowsker Reginients, ohne auf Wi<strong>der</strong>stand<br />
zu stoßen, den Hauptstab und verhaftete den mutlos gewordenen Generalquartiermeister.<br />
Die Einnahme des Hauptstabes wäre eigentlich längst möglich gewesen; das<br />
Gebäude war von innen völlig ungeschützt. Doch vor dem Erscheinen <strong>der</strong> Panzerwagen<br />
auf dem Platze befürchteten die Belagerer, sie könnten durch einen Ausfall <strong>der</strong> Junker<br />
aus dem Winterpalais abgeschnitten werden.<br />
Nach Verlust des Stabes fühlte sich das Winterpalais noch verwaister. Aus dem<br />
Malachitsaal, dessen Fenster auf die Newa gingen und sich gleichsam einem<br />
"Aurora"-Geschoß aufdrängten, übersiedelten die Minister in einen <strong>der</strong> zahllosen Räume<br />
des Palais mit den Fenstern zum Hof. Die Lichter wurden gelöscht. Nur auf dem Tisch<br />
brannte eine einsame Lampe, gegen die Fenster mit einem Zeitungsblatt abgedeckt.<br />
»Was droht dem Palais, wenn die "Aurora" das Feuer eröffnen wird?« fragten die<br />
Minister ihren Marinekollegen. »Es wird in einen Trümmerhaufen verwandelt werden«,<br />
erklärte bereitwilligst <strong>der</strong> Admiral, nicht ohne Gefühl des Stolzes auf die Marineartillerie.<br />
Wer<strong>der</strong>ewski zog die Übergabe vor und wollte gerne die Zivilisten, die am falschen Orte<br />
die Tapferen spielten, ein wenig schrecken. Aber die "Aurora" schoß nicht. Es schwieg<br />
auch die Festung. Vielleicht werden die Bolschewiki überhaupt nicht wagen, ihre<br />
Drohung auszuführen?<br />
General Bagratuni, den man an die Stelle des nicht genügend standhaften Polkownikow<br />
gesetzt hatte, hielt es gerade an <strong>der</strong> Zeit, zu erklären, er verzichte, die Pflichten des<br />
Bezirkskommandierenden weiter zu erfüllen. Auf Kischkins Befehl wurde <strong>der</strong> General<br />
»als unwürdige abgesetzt und aufgefor<strong>der</strong>t, das Palais unverzüglich zu verlassen. Als er<br />
aus dem Tor hinaustrat, geriet <strong>der</strong> ehemalige Kommandierende in die Arme von Matrosen,<br />
die ihn in die Kaserne <strong>der</strong> Baltischen Equipage brachten. Dem General hätte es<br />
schlimm ergehen können, hätte nicht Podwojski, <strong>der</strong> die Frontabschnitte vor dem letzten<br />
Angriff inspizierte, den unglückseligen Heerführer unter seinen Schutz genommen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 709
Von den anliegenden Straßen und Kais aus beobachteten viele, wie das Palais, das<br />
soeben in Hun<strong>der</strong>ten elektrischer Lampen gespielt hatte, plötzlich in Dunkelheit tauchte.<br />
Unter den Beobachtern waren auch Freunde <strong>der</strong> Regierung. Ein Kampfgefährte<br />
Kerenskis, Redemeister, schrieb nie<strong>der</strong>: »Die Finstemis, in die das Winterpalais versank,<br />
drohte wie irgendein Geheimnis.« Anstalten, es zu enträtseln, unternahmen die Freunde<br />
nicht. Man muß auch gestehen, daß ihre Möglichkeiten gering waren.<br />
Versteckt hinter den Holzstapeln verfolgten die Junker gespannt die Ketten auf dem<br />
Schloßplatze und reagierten auf jede Bewegung des Feindes mit Gewehr- und Maschinengewehrfeuer.<br />
Man antwortete ihnen mit gleichem. Die Schießerei wurde um die<br />
Nachtstunden immer heftiger. Es gab die ersten Toten und Verwundeten. Doch waren die<br />
Opfer vereinzelt. Auf dem Platz, am Kai, auf <strong>der</strong> Milljonaja-Straße paßten sich die<br />
Belagerer dem Gelände an, verbargen sich hinter Vorsprüngen, versteckten sich in<br />
Vertiefungen, drückten sich an die Mauern. Bei <strong>der</strong> Reserve wärmten sich Soldaten und<br />
Rotgardisten an Scheiterhaufen, die mit Einbruch <strong>der</strong> Dunkelheit zu rauchen begannen,<br />
und schimpften ein wenig auf die Saumseligkeit <strong>der</strong> Führer.<br />
Im Winterpalais hatten die Junker in Korridoren, auf Treppen, bei den Einfahrten, im<br />
Hofe Stellung bezogen; die Außenposten klebten an Gelän<strong>der</strong>n und Mauern. Das Gebäude,<br />
das Tausende authehmen konnte, barg nur Hun<strong>der</strong>te. Die ungeheuren Räumlichkeiten<br />
hinter <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> Verteidiger schienen ausgestorben. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Dienerschaft<br />
hielt sich versteckt o<strong>der</strong> war auseinan<strong>der</strong>gelaufen. Viele Offiziere hatten sich im<br />
Büfettraum verborgen, wo sie die Diener, die noch keine Zeit gehabt hatten, sich zu<br />
verkriechen, zwangen, immer neue Batterien von Weinflaschen aufzutragen. Das Trinkgelage<br />
<strong>der</strong> Offiziere im agonisierenden Palais konnte für Junker, Kosaken, Invaliden,<br />
Stoßbrigadlerinnen kein Geheimnis bleiben. Die Entscheidung bereitete sich nicht nur<br />
außen, son<strong>der</strong>n auch innen vor.<br />
Der Offizier eines Artilleriezuges meldete plötzlich dem Kommandanten <strong>der</strong> Verteidigutig:<br />
die Geschütze seien auf die Protzwagen gestellt, und die Junker gingen heim,<br />
entsprechend dem des Vorstehers <strong>der</strong> Konstantinowski-Schule. Das war ein treubrüchiger<br />
Schlag! Der Kommandant versuchte, Einspruch zu erheben: außer ihm habe hier<br />
niemand Befehle zu erteilen. Die Junker wußten das wohl, zogen jedoch vor, dem Schulvorsteher<br />
zu gehorchen, <strong>der</strong> seinerseits unter dem Druck des Kommissars vom Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee handelte. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Artilleristen verließ mit vier von<br />
sechs Geschützen das Palais. Am Newski durch eine Soldatenpatrouille aufgehalten,<br />
versuchten sie Wi<strong>der</strong>stand zu leisten, wurden aber von Sperrtruppen des Pawlowsker<br />
Regiments, die mit einem Panzerwagen herbeieilten, entwaffnet und mit zwei Geschützen<br />
in die Regimentskaserne geschickt; die zwei übrigen Geschütze wurden auf dem<br />
Newski und an <strong>der</strong> Mojka-Brücke mit <strong>der</strong> Mündung gegen das Winterpalais aufgestellt.<br />
Die zwei Hun<strong>der</strong>tschaften Uraler warteten vergeblich auf Zuzug von Kameraden.<br />
Sawinkow, mit dem Sowjet <strong>der</strong> Kosakenheere eng verbunden, von diesem sogar ins<br />
Vorparlament geschickt, bemühte sich mit Hilfe des Generals Alexejew, die Kosaken in<br />
Bewegung zu bringen. Doch die Häupter des Kosakensowjets konnten, nach einer richtigen<br />
Bemerkung Miljukows, »ebensowenig über die Kosakenregimenter verfügen wie <strong>der</strong><br />
Stab über die Truppen <strong>der</strong> Garnison«. Nachdem sie die Sache von allen Seiten durchgesprochen<br />
hatten, erklärten die Kosakenregimenter endgültig, sie würden ohne Infanterie<br />
nicht kämpfen, und boten dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee ihre Dienste an für die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 710
Bewachung des Staatseigentums. Gleichzeitig beschloß das Uralcr Regiment, Delegierte<br />
in das Winterpalais zu entsenden, um die zwei Hun<strong>der</strong>tschaften in die Kaserne zurückzuholen.<br />
Dieser Vorschlag entsprach ganz <strong>der</strong> Stimmung, die bei den "Alten" <strong>der</strong> Uraler<br />
endgültig Platz gegriffen hatte. Ringsum nur Fremde: Junker, unter denen nicht selten<br />
Juden waren, invalide Offiziere und dazu Stoßbrigadlerinnen. Mit bösen, finsteren<br />
Gesichtern packten die Kosaken ihre Säcke. Kein Zureden half mehr. Wer blieb als<br />
Kerenskis Schutz? »Juden und Weiber ... das russische Volk aber ist dort, mit Lenin<br />
geblieben.« Bei den Kosaken fand sich eine Verbindung mit den Belagerern, und diese<br />
öffneten ihnen einen <strong>der</strong> Verteidigung bis dahin unbekannt gewesenen Durchgang.<br />
Gegen 9 Uhr abends verließen die Uraler das Winterpalais. Nur ihre Maschinengewehre<br />
überließen sie den Verteidigern einer hoffnungslosen Sache.<br />
Auf dem gleichen Wege, von <strong>der</strong> Milljonaja-Straße aus, waren schon vorher Bolschewiki<br />
ins Palais gelangt, zum Zwecke <strong>der</strong> Zersetzung des Gegners. Immer häufiger stieß<br />
man in den Korridoren auf geheimnisvolle Gestalten, Seite an Seite mit Junkern. Der<br />
Wi<strong>der</strong>stand sei zwecklos. Die Aufständischen hätten Stadt und Bahnhöfe in <strong>der</strong> Gewalt,<br />
Verstärkung gäbe es nicht, im Palais werde einfach »aus Gewohnheit weitergelogen«.<br />
Was nun tun? fragten die Junker. Die Regierung weigert sich, direkte Befehle zu erteilen.<br />
Die Minister selbst bleiben bei ihrem alten Entschluß, die an<strong>der</strong>en mögen handeln, wie<br />
sie wollen. Das bedeutete: die Proklamierung des freien Abzugs aus dem Palais für alle,<br />
die es wünschten. Im Verhalten <strong>der</strong> Regierung war we<strong>der</strong> Vernunft noch Wille. Die<br />
Minister harrten passiv ihres Geschicks. Maljantowitsch erzählte später: »In einer riesigen<br />
Mausefalle irrten gezeichnete Menschen herum, die nur dann und wann alle zusammen<br />
o<strong>der</strong> in kleineren Gruppen zu kurzen Gesprächen sich trafen, Einsame, von allen<br />
Verlassene. Um uns war Leere, in uns war Leere. Und in ihr erwuchs die unbedenkliche<br />
Entschlossenheit gleichgültiger Teilnahmslosigkeit.«<br />
Antonow-Owssejenko hat mit Blagonrawow verabredet: sobald die Einkreisung des<br />
Winterpalais beendet ist, wird auf dem Festungsmast eine rote Laterne hochgezogen. Auf<br />
dieses Signal hin gibt die "Aurora" einen Blindschuß ab, um zu schrecken. Geben die<br />
Belagerten nicht nach, beginnt die Festung die Beschießung des Palais mit Kampfgeschossen<br />
aus leichten Geschützen. Ergibt sich das Winterpalais auch dann nicht, eröffnet<br />
die "Aurora" wirkliches Feuer aus ihren Sechszölligen. Der Zweck dieser Stufung war,<br />
Opfer und Beschädigungen auf ein Minimum herabzusetzen, gelingt es nicht, sie ganz zu<br />
vermeiden. Aber die zu komplizierte Lösung <strong>der</strong> einfachen Aufgabe drohte zu entgegengesetzten<br />
Resultaten zu führen. Die Schwierigkeiten <strong>der</strong> Durchführung müssen sich<br />
unweigerlich zeigen. Sie beginnen schon mit <strong>der</strong> roten Laterne: sie ist nicht bei <strong>der</strong> Hand.<br />
Man sucht, verliert Zeit, findet endlich. Aber es ist gar nicht ganz einfach, sie so an dem<br />
Mast zu befestigen, daß sie von allen Seiten zu sehen ist. Immer neue und neue Versuche<br />
mit zweifelhaftem Ergebnis. Und die kostbare Zeit verrinnt.<br />
Die Hauptschwierigkeiten setzen jedoch bei Berührung mit <strong>der</strong> Artillerie ein. Nach<br />
Blagonrawows Bericht konnte man die Beschießung des Palais auf das erste Signal schon<br />
mittags beginnen. In Wirklichkeit kam es ganz an<strong>der</strong>s. Da es eine ständige Artillerie in<br />
<strong>der</strong> Festung nicht gab, sieht man von <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>ladekanone ab, die die Mittagsstunde<br />
verkündete, war man gezwungen, auf den Festungsmauern Feldgeschütze aufzustellen.<br />
Dieser Teil des Programms war gegen Mittag tatsächlich durchgeführt. Aber schlimm<br />
stand die Sache mit <strong>der</strong> Geschützbedienung. Es war im voraus bekannt, daß die Artille-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 711
iekompanie, die im Juli auf seiten <strong>der</strong> Bolschewiki gekämpft hatte, wenig zuverlässig<br />
war. Noch am Vorabend hatte sie auf Befehl des Stabes gehorsam eine Brückt bewacht.<br />
War auch von ihr kein Stoß in den Rücken zu erwarten, so trug sie doch kein Verlangen,<br />
für die Sowjets ins Feuer zu gehen. Als die Stunde zum Handeh kam, meldete ein<br />
Fähnrich: die Geschütze seien verrostet, die Kompressoren ohne Öl, Schießen sei<br />
unmöglich. Höchstwahrscheinlich waren die Geschütze tatsächlich nicht in Ordnung,<br />
aber nicht das ist wesentlich: die Artilleristen verkrochen sich einfach vor <strong>der</strong> Verantwortung<br />
und führten den unerfahrenen Kommissar an <strong>der</strong> Nase herum. Antonow eilte<br />
wutschnaubend auf einem Kutter herbei. Wer sprengt den Plan? Blagonrawow erzählt<br />
ihm von <strong>der</strong> Laterne, dem Öl, dem Fähnrich. Beide gehen zu den Kanonen. Nacht,<br />
Dunkelheit, im Hofe Pflützen vom kürzlichen Regen. Von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Flußseite vom<br />
Winterpalais her dringt hitziges Gewehrfeuer und Maschinengewehrknattern. In <strong>der</strong><br />
Dunkelheit verliert Blagonrawow den Weg. Durch Pflüzen patschend, vor Ungeduld<br />
brennend, stolpernd und in den Schmutz fallend, irrt Antonow im dunklen Hof hinter<br />
dem Kommissar her. »An einer <strong>der</strong> schwach flackernden Laternen«, erzählt Blagonrawow,<br />
»... blieb Antonow plötzlich stehen und sah mir forschend, über die Brille hinweg,<br />
fest ins Auge. In seinen Blicken las ich verhaltene Unruhe.« Antonow witterte für einen<br />
Augenblick Verrat, wo nur Leichtsinn war.<br />
Schließlich ist <strong>der</strong> Platz gefunden, wo die Geschütze stehen. Die Artilleristen verharren<br />
dabei: Rost ... Kompressoren... Öl. Antonow läßt Geschützbedienung vom Übungsplatz<br />
<strong>der</strong> Seetruppen holen, das Signal soll aus <strong>der</strong> archaischen, die Mittagsstunde verkündenden<br />
Kanone gegeben werden. Aber die Artilleristen machen sich verdächtig lange an <strong>der</strong><br />
Signalkanone zu schaffen. Sie fühlen deutlich, daß auch dem Kommando, wenn es nicht<br />
fern, am Telephon, son<strong>der</strong>n hier, neben ihnen ist, die feste Entschlossenheit fehlt, zum<br />
Artilleriekampf zu greifen. Allein schon in <strong>der</strong> Schwerfälligkeit des Planes <strong>der</strong> Artilleriebeschießung<br />
verspürt man den gleichen Gedanken: vielleicht gelingt es, ohne sie auszukommen.<br />
Jemand jagt durch die Dunkelheit des Hofes, kommt immer näher, stolpert, fällt in den<br />
Schlamm, schimpft, aber nicht bös, son<strong>der</strong>n freudig, und schreit, außer Atem: »Das<br />
Winterpalais hat sich ergeben, die Unseren sind drin!« Umarmungen des Jubels. Wie<br />
gut, daß eine Verzögerung entstanden war! »Das haben wir ohnehin gedacht.« Die<br />
Kompressoren sind jäh vergessen. Weshalb aber hört die Schießerei jenseits des Flusses<br />
nicht auf? Vielleicht sträuben sich einzelne Junkergruppen gegen die Übergabe?<br />
Vielleicht irgendein Mißverständnis? Als Mißverständnis erwies sich die gute Nachricht:<br />
Genommen ist nicht das Winterpalais, son<strong>der</strong>n nur <strong>der</strong> Hauptstab. Die Belagerung des<br />
Palais dauert an.<br />
Nach einer geheimen Vereinbarung mit einer Junkergruppe <strong>der</strong> Oranienbaumer Schule<br />
gelingt es Tschudnowski, ins Palais zu Verhandlungen hineinzukommen: dieser Gegner<br />
des Aufstandes versäumt keine Gelegenheit, sich ins Feuer zu stürzen. Paltschinski läßt<br />
den Verwegenen verhaften, ist aber unter dem Druck <strong>der</strong> Oranienbaumer Schule<br />
gezwungen, sowohl Tschudnowski wie einen Teil Junker hinauszulassen. Sie reißen<br />
einige Georgsritter mit. Das plötzliche Erscheinen <strong>der</strong> Junker auf dem Platz bringt die<br />
Sperrketten in Verwirrung. Dann aber gibt es kein Ende <strong>der</strong> Freudenrufe, als die Belagerer<br />
erfahren, es seien Kapitulanten. Jedoch hat sich nur eine kleine Min<strong>der</strong>heit ergeben.<br />
Die übrigen wehren sich weiter hinter ihren Deckungen. Die Schüsse <strong>der</strong> Angreifer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 712
verdichten sich. Das grelle elektrische Licht im Hofe erhellt die Junker dem Visier. Mit<br />
Mühe gelingt es, die Laternen zu löschen. Ein Unsichtbarer schaltet das Licht wie<strong>der</strong> ein.<br />
Die Junker schießen nach den Laternen, finden dann einen Monteur und zwingen ihn,<br />
den Strom auszuschalten.<br />
Die Stoßbrigadlerinnen verkünden plötzlich ihre Absicht, einen Ausfall zu unternehmen.<br />
Im Hauptstab seien, wie ihnen bekannt, die Schreiber zu Lenin übergegangen und<br />
hätten nach Entwaffnung eines Teiles <strong>der</strong> Offiziere General Alexejew verhaftet, den<br />
einzigen Mann, <strong>der</strong> Rußland retten kann: man müsse ihn befreien, um jeden Preis. Der<br />
Kommandant ist außerstande, sie von dem von Hysterie diktierten Unternehmen abzuhalten.<br />
Im Augenblick des Ausfalls flammt das Licht <strong>der</strong> hohen elektrischen Laternen an<br />
den Seiten des Tores wie<strong>der</strong> auf. Auf <strong>der</strong> Suche nach einem Monteur stürzt sich <strong>der</strong><br />
Offizier rasend auf die Diener: in den ehemaligen Zarenlakaien sieht er Agenten <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong>. Noch weniger vertraut er dem Monteur des Schlosses. »Ich hätte dich längst<br />
ins Jenseits beför<strong>der</strong>t, wenn wir dich nicht brauchen würden.« Trotz Bedrohungen mit<br />
dem Revolver kann <strong>der</strong> Monteur nicht helfen, sein Schaltbrett ist stromlos, die Elektrizitätszentrale<br />
von Matrosen besetzt, sie walten über das Lieht. Die Stoßbrigadlerinnen<br />
halten das Feuer nicht aus und ergeben sich zum größten Teil. Der Kommandant <strong>der</strong><br />
Verteidigung schickt einen Leutnant <strong>der</strong> Meldung an die Regierung, <strong>der</strong> Ausfall <strong>der</strong><br />
Stoßbrigadlerinnen »führte zu ihrem Untergang«, und das Palais wimmele von Agitatoren,<br />
Der Mißerfolg des Ausfalls schafft eine Atempause, etwa von 10 bis 11 Uhr: die<br />
Belagerer sind wohl mit <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Anilleriebeschießung beschäftigt.<br />
Die unerwartete Pause erweckt irgendwelche Hoffnungen bei den Belagerten. Die<br />
Minister versuchen wie<strong>der</strong>, ihre Anhänger in <strong>der</strong> Stadt und im Lande zu ermuntern: »Die<br />
Regierung ist mit Ausnahme Prokopowitschs vollzählig auf ihrem Posten. Die Lage ist<br />
als günstig anzusehen ... Das Palais wird beschossen, aber nur mit Gewehrfeuer und<br />
vollkommen ergebnislos. Es ist festgestellt worden, daß <strong>der</strong> Gegner schwach ist.« In<br />
Wirklichkeit ist <strong>der</strong> Gegner allmächtig, entschließt sich aber nicht, von seiner Stärke den<br />
nötigen Gebrauch zu machen. Die Regierung schickt ins Land einen Bericht über das<br />
Ultimatum, über die "Aurora", darüber, daß sie, die Regierung, die Macht nur an die<br />
Konstituierende Versammlung abgeben könne, wie auch darüber, daß <strong>der</strong> erste Überfall<br />
auf das Winterpalais abgeschlagen sei. »Armee und Volkmögen Antwort geben!« Auf<br />
weIche Weise die Antwort erfolgen sollte, verrieten die Minister nicht.<br />
Laschewitsch schickte unterdessen in die Festung zwei Marineartilleristen. Zwar sind<br />
sie nicht übermäßig erfahren, dafür aber sind es Bolschewiki, bereit, auch aus verrosteten<br />
Geschützen, ohne Öl in den Kompressoren, zu schießen. Nur das wird von ihnen<br />
verlangt: <strong>der</strong> Laut <strong>der</strong> Artillerie ist im Augenblick wichtiger als Zielsicherheit. Antonow<br />
befiehlt, zu beginnen. Die im voraus festgelegte Gradation wird restlos gewahrt. »Nach<br />
dem Signalschuß <strong>der</strong> Festung«, erzählt Flerowski, »krachte die "Aurora". Das Krachen<br />
und die Feuergarbe sind beim Blindschuß viel stärker als beim Scharfschuß. Die Neugierigen<br />
stürzten von <strong>der</strong> Granitbrüstung des Kais hinweg, warfen sich nie<strong>der</strong>, krochen<br />
davon ...« Tschudnowski beeilt sich, die Frage zu stellen: soll man den Belagerten nicht<br />
vorschlagen, sich zu ergeben? Antonow ist sofort mit ihm einverstanden. Wie<strong>der</strong> eine<br />
Pause. Es ergibt sich eine Gruppe von Stoßbrigadlerinnen und Junkern. Tschudnowski<br />
will ihnen die Waffen belassen, doch Antonow protestiert rechtzeitig gegen diesen<br />
Überedelmut. Nachdem sie die Gewehre vor dem Tor zusammengelegt hatten, entfernten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 713
sich die Kapitulanten unter Eskorte durch die Milljonaja-Straße.<br />
Das Winterpalais hält sich noch immer. Es muß ein Ende gemacht werden! Der Befehl<br />
ist erteilt. Das Feuer, kein heftiges und noch weniger ein wirksames, ist eröffnet. Von<br />
den während <strong>der</strong> an<strong>der</strong>thalb bis zwei Stunden abgegebenen fünfunddreißig Schüssen<br />
waren nur zwei Treffer, und auch diese verletzten nur den Stuck; die übrigen Geschosse<br />
gingen über das Palais hinweg, glücklicherweise ohne Schaden in <strong>der</strong> Stadt anzurichten.<br />
War wirklich Unfähigkeit <strong>der</strong> Grund? Man feuerte doch über die Newa hinweg in direkter<br />
Linie auf ein so breites Ziel wie das Palais: dazu bedarf es keiner großen Kunst: Muß<br />
man nicht eher annehmen, daß sogar Laschewitschs Artilleristen absichtlich über das Ziel<br />
hinwegschossen in <strong>der</strong> Hoffnung auf einen Ausgang ohne Zerstörung und Todesopfer?<br />
Es ist sehr schwierig, jenen Motiven nachzuspüren, die die beiden namenlosen Matrosen<br />
leiteten. Sie selbst haben von sich nichts hören lassen: Sind sie im uferlosen <strong>russischen</strong><br />
Dorf aufgegangen, o<strong>der</strong> haben sie gleich vielen <strong>der</strong> Oktoberkämpfer ihr Leben gelassen<br />
im Bürgerkrieg <strong>der</strong> nächsten Monate und Jahre?<br />
Bald nach den ersten Schüssen brachte Paltschinski den Ministern einen Granatsplitter.<br />
Admiral Wer<strong>der</strong>ewski erkannte den Splitter als den seinen, <strong>der</strong> Marine: von <strong>der</strong><br />
"Aurora". Jedoch vom Kreuzer hatte man nur blind geschossen. So war es verabredet, so<br />
bezeugt es Flerowski, so berichtete später ein Matrose dem Sowjetkongreß. Irrte sich <strong>der</strong><br />
Admiral? Irrte <strong>der</strong> Matrose? Wer kann einen Kanonenschuß kontrollieren, abgegeben in<br />
tiefer Nacht von einem aufständischen Schiff gegen das Zarenpalais, wo die letzte Regierung<br />
<strong>der</strong> Besitzenden ihren Geist aushauchte?<br />
Die Garnison des Palais schrumpfte an Zahl stark zusammen. Hatte sie im Augenblick<br />
des Eintreffens <strong>der</strong> Uraler, Invaliden und Stoßbrigadlerinnen an<strong>der</strong>thalb, vielleicht auch<br />
zweitausend erreicht, fiel sie jetzt auf tausend, vielleicht noch bedeutend niedriger. Nur<br />
ein Wun<strong>der</strong> könnte noch retten. Da dringt plötzlich in die hoffnungslose Atmosphäre des<br />
Winterpalais zwar kein Wun<strong>der</strong>, doch die Kunde von seinem Nahen. Paltschinski meldet:<br />
Soeben habe man aus <strong>der</strong> Stadtduma telephoniert, die Bürger brechen auf um die Regierung<br />
zu befreien. »Sagen Sie es allen«, befiehlt er Sinegub, »das Volk ist hierher unterwegs.«<br />
Der Offizier eilt über Treppen und Korridore mit <strong>der</strong> freudigen Kunde. Er stößt<br />
auf betrunkene Offiziere, die mit ihren Säbeh fechten, übrigens ohne Blutvergießen. Die<br />
Junker erheben das Haupt. Von Mund zu Mund getragen, gewinnt die Nachricht an<br />
Farbe und Bedeutung. Politiker, Kaufmannschaft, das Volk mit <strong>der</strong> Geistlichkeit an <strong>der</strong><br />
Spitze sind unterwegs, um das Palais von <strong>der</strong> Belagerung zu befreien. Das Volk mit <strong>der</strong><br />
Geistlichkeit an <strong>der</strong> Spitze: »Das wird erhaben schön sein!« Reste von Energie flackern<br />
zum letzten Male auf »Hurra, es lebe Rußland!« Die Oranienbaumer Junker, die schon<br />
daran gewesen waren, abzuziehen, än<strong>der</strong>ten ihren Beschluß und blieben.<br />
Aber das Volk mit <strong>der</strong> Geistlichkeit kommt langsam. Die Zahl <strong>der</strong> Agitatoren im Palais<br />
wächst. Gleich wird die "Aurora" zu feuem beginnen, flüstert man in den Korridoren,<br />
und dies Geflüster geht von Mund zu Mund. Plötzlich - zwei Explosionen. Ins Palais<br />
schlichen Matrosen ein und warfen, o<strong>der</strong> verloren vielleicht, von <strong>der</strong> Galerie zwei<br />
Handgranaten, durch die zwei Junker leicht verletzt wurden. Die Matrosen wurden<br />
verhaftet, den Verwundeten legte Kischkin, von Beruf Arzt, Verbände an.<br />
Die innere Entschlossenheit <strong>der</strong> Arbeiter und Matrosen ist groß, doch noch hat sie sich<br />
nicht in Erbitterung verwandelt. Um dies nicht auf ihre Köpfe heraufzubeschwören,<br />
hüten sich die Belagerten, die weitaus schwächere Seite, mit den in das Palais eindrin-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 714
genden Agenten des Feindes streng zu verfahren. Erschießungen erfolgen nicht. Die<br />
ungebetenen Gäste tauchen nun nicht mehr vereinzelt, son<strong>der</strong>n gruppenweise auf. Das<br />
Palais ähnelt immer mehr einem Sieb. Wenn die Junker sich auf die Eindringlinge<br />
stürzen, lassen sich diese entwaffnen. »Welch feiges Pack!« sagt verächtlich Paltschinski.<br />
Nein, diese Menschen sind nicht feige. Zu dem Entschluß, ins Palais voller Offiziere und<br />
Junker einzudringen, gehört hoher Mut. Im Labyrinth des unbekannten Gebäudes, in den<br />
dunklen Korridoren, zwischen unzähligen Türen von denen man nicht weiß, wohin sie<br />
führen und womit sie drohen, bleibt den Verwegenen nichts an<strong>der</strong>es übrig, als sieh zu<br />
ergeben. Die Zahl <strong>der</strong> Gefangenen wächst. Neue Gruppen brechen durch. Bald ist nicht<br />
immer klar, wer wem sich ergibt und wer wen entwaffnet. Es hämmert die Artillerie.<br />
Mit Ausnahme des unmittelbar an das Winterpalais angrenzenden Bezirkes hörte das<br />
Straßenleben bis in die späte Nacht hinein nicht auf. Theater und Kinos spielten. Die<br />
soliden und gebildeten Schichten <strong>der</strong> Hauptstadt schien es gar nicht anzugehen, daß ihre<br />
Regierung beschossen wird. Redemeister beobachtete an <strong>der</strong> Troizki-Brücke ruhig herankommende<br />
Passanten, die von den Matrosen aufgehalten wurden. »Nichts Außerordentliches<br />
ließ sich wahrnehmen.« Von Bekannten, die aus <strong>der</strong> Richtung des Volkshauses<br />
kamen, erfuhr Redemeister unter dem Getöse <strong>der</strong> Kanonade, daß Schaljapin im "Don<br />
Carlos" unvergleichlich gewesen sei. Die Minister fuhren fort, in <strong>der</strong> Mausefalle berumzuirren.<br />
»Es ist festgestellt worden, daß die Angreifer schwach sind.« Vielleicht kommen rechtzeitig<br />
Verstärkungen, hält man noch eine Stunde stand? Kischkin rief in tiefster Nacht<br />
den Gehilfen des Finanzministers, Chruschtschew, ebenfalls einen Kadetten, ans<br />
Telephon und ersuchte ihn, den Parteiführern mitzuteilen, daß die Regierung wenigstens<br />
einer kleinen Unterstützung bedürfe, um bis zu den Morgenstunden durchhalten zu<br />
können, wo doch Kerenski mit Truppen endlich ankommen müsse. »Was ist das für eine<br />
Partei«, entrüstete sich Kischkin, »die nicht imstande ist, auch nur dreihun<strong>der</strong>t bewaffnete<br />
Männer zu schicken?« In <strong>der</strong> Tat: was ist das für eine Partei? Die Kadetten, die in<br />
Petrograd bei den Wahlen Zehntausende Stimmen auf sich versammelten, konnten im<br />
Augenblick <strong>der</strong> Todesgefahr für das bürgerliche Regime nicht dreihun<strong>der</strong>t Kämpfer<br />
auftlringen. Wären die Minister auf den Gedanken gekommen, in <strong>der</strong> Sehloßbibliothek<br />
den Materialisten Hobbes aufzustöbern, sie hätten in dessen Dialogen über den Bürgerkrieg<br />
lesen können, daß man Mut we<strong>der</strong> erwarten noch for<strong>der</strong>n darf von reichgewordenen<br />
Krämem, »die nichts außer dem eigenen Vorteil des Augenblicks sehen und völlig<br />
den Kopfverlieren, allein schon bei dem Gedanken an die Möglichkeit, ausgeraubt zu<br />
werden«. Allerdings war wohl kaum in <strong>der</strong> Zarenbibliothek Hobbes zu finden. Auch<br />
stand den Ministern <strong>der</strong> Sinn nicht nach Geschichtsphilosophie. Kischkins Anruf war <strong>der</strong><br />
letzte Telephonanruf aus dem Winterpalais.<br />
Das Smolny for<strong>der</strong>t kategorisch eine Entscheidung. Man dürfe die Belagerung nicht<br />
bis zum Morgen hinausziehen, die Stadt in Spannung halten, den Kongreß nervös<br />
machen, alle Erfolge in Frage stellen. Lenin schickt zonuge Zettel. Aus dem Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee folgt ein Anruf dem an<strong>der</strong>en. Podwojski gibt verärgerte<br />
Antworten. Man könne die Massen zum Sturmangriff schicken, Willige sind genug da.<br />
Aber wieviel Opfer wird es geben? Und was wird aus den Ministern und Junkern<br />
werden? Jedoch ist die Notwendigkeit, die Sache zu Ende zu bringen, allzu gebieterisch.<br />
Es bleibt nichts weiter übrig, als die Marineartillerie sprechen zu lassen. Aus <strong>der</strong> Peter-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 715
Paul-Festung btingt ein Matrose <strong>der</strong> "Aurora" ein Papierchen: Unverzüglich die Beschießung<br />
des Palais eröffnen. Nun, scheint es, ist alles klar? An den Artilleristen <strong>der</strong><br />
"Aurora" wird die Sache nicht scheitern. Doch den Führern fehlt es noch immer an<br />
Entschlossenheit. Es wird ein neuer Versuch unternommen auszuweichen. »Wir hatten<br />
beschlossen, noch eine Viertelstunde Zu warten«, schreibt Flerowski, »instinktiv die<br />
Möglichkeit eines Wechsels <strong>der</strong> Umstände fühlend.« Unter Instinkt ist die beharrliche<br />
Hoffnung zu verstehen, die Sache würde sich durch bloße demonstrative Mittel entscheiden<br />
lassen. Und diesmal hat <strong>der</strong> "Instinkt" nicht getäuscht: nach Ablauf <strong>der</strong> Viertelstunde<br />
rast ein neuer Bote heran, direkt aus dem Winterpalais: das Palais ist genommen!<br />
Das Palais hatte sich nicht ergeben, son<strong>der</strong>n wurde erstürmt, aber in einem Augenblick,<br />
wo die Wi<strong>der</strong>standskraft des Gegners bereits völlig erschöpft war. In den Korridor<br />
waren, nun nicht nur durch Geheimgänge, son<strong>der</strong>n über den verteidigten Hof, etwa<br />
hun<strong>der</strong>t Feinde eingedrungen, die die demoralisierte Wache für eine Deputation <strong>der</strong><br />
Stadtduma gehalten hatte. Sie konnten aber doch noch entwaffnet werden. Es entfernte<br />
sich im Trubel eine Gruppe Junker. Die übrigen, o<strong>der</strong> doch ein Teil davon, verrichteten<br />
noch weiter den Wachtdienst. Aber die Bajonett- und Feuerbarriere zwischen den<br />
Angreifern und den Verteidigern ist endgültig gefallen.<br />
Der an die Eremitage grenzende Teil des Palais ist bereits vom Feinde überfüllt. Die<br />
Junker versuchen, ihm in den Rücken zu fallen. In den Korridoren ereignen sich gespenstische<br />
Begegnungen und Zusammenstöße. Alle sind bis an die Zähne bewaffnet. In den<br />
erhobenen Händen Revolver. An den Gürteln Handgranaten. Niemand aber schießt, und<br />
niemand schleu<strong>der</strong>t Granaten, denn Freund und Feind sind so vermengt, daß sie nicht<br />
voneinan<strong>der</strong> loskommen können. Doch gleichwie, das Geschick des Winterpalais ist<br />
bereits entschieden.<br />
Arbeiter, Soldaten, Matrosen stoßen draußen in Ketten und Gruppen vor, vertreiben die<br />
Junker von den Barrikaden, dringen durch den Hof ein, stoßen auf den Stufen mit den<br />
Junkern zusammen, drängen sie zurück, werfen sie nie<strong>der</strong>, jagen sie vor sich her. Von<br />
hinten folgt bereits eine neue Welle. Der Platz ergießt sich in den Hof, <strong>der</strong> Hof ergießt<br />
sich ins Palais und flutet über Treppen und Korridore, Auf den verschmutzten Parketts<br />
zwischen Matratzen und Brotlaiben liegen Menschen, Gewehre, Granaten herum. Die<br />
Sieger erfahren, Kerenski sei nicht da, und in ihre stürmische Freude mischt sich flüchtig<br />
die Bitternis <strong>der</strong> Enttäuschung. Antonow und Tschudnowski sind im Palais. Wo ist die<br />
Regierung? Hier die Tür, an <strong>der</strong> Junker in <strong>der</strong> letzten Pose des Wi<strong>der</strong>standes erstarren.<br />
Der Älteste <strong>der</strong> Wache stürzt zu den Ministern mit <strong>der</strong> Frage hinein: ob sie befehlen, sich<br />
bis zu Ende zu wehren? Nein, nein, die Minister befehlen dies nicht. Das Palais sei ja<br />
doch besetzt. Man brauche kein Blut. Man muß <strong>der</strong> Gewalt weichen. Die Minister wollen<br />
sich mit Würde ergeben und setzen sich um den Tisch, damit es wie eine Sitzung<br />
aussieht. Der Kommandant <strong>der</strong> Verteidigung hatte unterdessen das Palais übergeben und<br />
sich dabei die Schonung des Lebens <strong>der</strong> Junker ausbedungen, auf das ohnhin niemand<br />
ein Attentat plante. Bezüglich des Schicksals <strong>der</strong> Regierung weigerte sich Antonow, in<br />
irgendwelche Verhandlungen einzutreten.<br />
Die Junker vor <strong>der</strong> letzten bewachten Türe werden entwaffnet. Die Sieger stürmen in<br />
das Ministerzimmer hinein. »Der Menge voran schritt, bestrebt, die nachdrängenden<br />
Reihen zurückzuhalten, ein kleiner, unansehnlicher Mann; seine Kleidung war in Unordnung;<br />
<strong>der</strong> breitkrempige Hut auf eine Seite geschoben. Auf <strong>der</strong> Nase hielt sich mit Mühe<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 716
ein Zwicker. Aber die kleinen Augen glänzten vor Siegestriumph und Wut gegen die<br />
Besiegten.« Mit diesen herabwürdigenden Strichen ist Antonow geschil<strong>der</strong>t. Unschwer,<br />
zu glauben, daß seine Kleidung und sein Hut in Unordnung geraten waren: es genügt,<br />
sich <strong>der</strong> nächtlichen Reise durch die Pfützen <strong>der</strong> - Peter-Paul-Festung zu erinnern.<br />
Siegestriumph konnte man zweifellos in seinen Augen lesen; aber wohl kaum Wut gegen<br />
die Besiegten. »Ich erkläre Sie, die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen Regierung, für verhaftet«,<br />
verkündet Antonow im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees. Die Uhr<br />
zeigt 2 Uhr 10 Minuten <strong>der</strong> Nacht auf den 26. Oktober. »Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung beugen sich <strong>der</strong> Gewalt und ergeben sich, um Blutvergießen zu vermeiden«,<br />
antwortete Konowalow. Der unvermeidliche Teil des Rituals ist gewahrt.<br />
Antonow for<strong>der</strong>te fünfundzwanzig Bewafhiete an, die die ersten in das Palais eingedrungenen<br />
Abteilungen aus ihrer Mitte stellten, und beauftragte sie mit <strong>der</strong> Bewachung<br />
<strong>der</strong> Minister. Die Verhafteten wurden, nach Aufnahme eines Protokolls, auf den Platz<br />
hinausgeführt. In <strong>der</strong> Meuge, die Opfer an Getöteten und Verwundeten erlitten hatte,<br />
entbrennt in <strong>der</strong> Tat Wut gegen die Besiegten. »Erschießen! Tod!« Finzelne Soldaten<br />
versuchen gegen die Minister handgreiflich zu werden. Rotgardisten beruhigen die<br />
Ungezügelten: verdunkelt den proletarischen Sieg nicht! Bewaffnete Arbeiter umgeben<br />
Gefangene und Eskorte mit dichtem Ring. »Vorwärts!« Es ist nicht weit zu gehen: durch<br />
die Milljonaja-Straße und über die Troizki-Brücke. Doch die Erregung <strong>der</strong> Menge gestaltet<br />
den kurzen Weg lang und an Gefahren reich. Minister Nikitin schrieb später nicht mit<br />
Unrecht, ohne Antonows energisches Eintreten hätten die Folgen »sehr schwer« sein<br />
können. Zum Überfluß wird die Prozession auf <strong>der</strong> Brücke einer zufälligen Beschießung<br />
ausgesetzt: Verhaftete und Eskorte müssen sich aufs Pflaster werfen. Aber auch hier erlitt<br />
niemand Schaden: man schoß offenbar drüber weg, zur Abschreckung.<br />
Den engen Klubraum <strong>der</strong> Festungsgarnison, beleuchtet von einer blakenden Petroleumlampe<br />
- das elektrische Licht verweigerte heute den Dienst - füllen einige Dutzend<br />
Menschen. Antonow ruft in Anwesenheit des Festungskommissars die Minister namentlich<br />
auf. Es sind ihrer achtzehn Mann, einschließlich <strong>der</strong> nächsten Gehilfen. Die letzten<br />
Formalitäten sind beendet, die Gefangenen in die Zellen <strong>der</strong> historischen Trubetzkoi-Bastion<br />
abgeführt. Von den Verteidigern ist niemand verhaftet: Offiziere und Junker unter<br />
Ehrenwort, nichts gegen die Sowjetmacht zu unternehmen, entlassen. Nur wenige von<br />
ihnen haben ihr Wort gehalten.<br />
Gleich nach Einnahme des Winterpalais verbreiteten sich in bürgerlichen Kreisen<br />
Gerüchte über Erschießungen von Junkern, Vergewaltigungen von Stoßbrigadlerinnen,<br />
Plün<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Schätze des Palais. Alle diese Märchen waren bereits längst wi<strong>der</strong>legt,<br />
als Miljukow in seiner <strong>Geschichte</strong> schrieb: »Jene <strong>der</strong> Stollbrigadlerinnen, die nicht<br />
durch Kugeln umgekommen o<strong>der</strong> von den Bolschewiki festgenommen waren, mußten an<br />
diesem Abend und in <strong>der</strong> Nacht Schreckliches seitens <strong>der</strong> Soldaten erdulden, Mißhandlungen<br />
und Erschießungen.« In Wirklichkeit haben keinerlei Erschießungen stattgefunden<br />
und können nach <strong>der</strong> Stimmung bei<strong>der</strong> Parteien in je<strong>der</strong> Periode nicht stattgefunden<br />
haben. Noch undenkbarer waren Gewaltakte, beson<strong>der</strong>s im Palais, das, neben einzelnen<br />
zufälligen Elementen <strong>der</strong> Straße, Hun<strong>der</strong>te revolutionärer Arbeiter mit Gewehren in den<br />
Händen betraten.<br />
Plün<strong>der</strong>ungsversuche fanden tatsächlich statt, aber gerade sie bewiesen die Disziplin<br />
<strong>der</strong> Sieger. John Reed, <strong>der</strong> keine dramatische <strong>Revolution</strong>sepisode versäumte und das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 717
Winterpalais, <strong>der</strong> heißen Spur <strong>der</strong> ersten Ketten folgend, betrat, erzählt, wie im Kellergewölbe<br />
eine Gruppe Soldaten mit Kolben Deckel von Kisten aufbrach und von dort<br />
Teppiche, Wäsche, Porzellan, Glas herauszerrte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß unter<br />
dem Schein von Soldaten richtige Plün<strong>der</strong>er vorgingen, die sich im letzten Kriegsjahr<br />
stets unter dem Soldatenrock zu verstecken pflegten. Die Plün<strong>der</strong>ungen hatten eben<br />
begonnen, als jemand rief: »Kameraden, nichts anrühren, das ist Volkseigentum.« An<br />
einen Tisch beim Ausgang setzte sich ein Soldat mit Fe<strong>der</strong> und Papier hin; zwei Rotgardisten<br />
mit Revolvern stellten sich daneben. Je<strong>der</strong> Hinausgehende wurde untersucht und<br />
je<strong>der</strong> geraubte Gegenstand ihm abgenommen und notiert. So wurden Statuetten, Flaschen<br />
mit Tinte, Kerzen, Dolche, Seifenstücke und Straußfe<strong>der</strong>n aufgestapelt. Einer sorgfältigen<br />
Untersuchung unterwarf man auch die Junker, <strong>der</strong>en Taschen vollgestopft waren mit<br />
geplün<strong>der</strong>tem Krimskrams. Die Soldaten belegten die Junker mit Schimpfworten und<br />
Drohungen, darüber hinaus aber ging es nicht. Unterdessen bildet sich eine Palaiswache<br />
mit dem Matrosen Prichodjko an <strong>der</strong> Spitze. Überall werden Posten aufgestellt. Das<br />
Palais von Fremden gesäubert. Nach einigen Stunden wird zum Kommandanten des<br />
Winterpalais Tschudnowski ernannt.<br />
Wo aber war das Volk geblieben, das unter Anführung <strong>der</strong> Geistlichkeit sich zur<br />
Befreiung des Palais in Bewegung gesetzt ist notwendig, von diesem heroischen Versuch<br />
zu erzählen, dessen Kunde die Herzen <strong>der</strong> Junker für einen Moment so erschüttert hatte.<br />
Zentrum <strong>der</strong> antibolschewistischen Kräfte bildete die Stadtduma. Ihr Gebäude auf dem<br />
Newski brodelte wie ein Kessel. Parteien, Fraktionen, Unterfraktionen, Gruppen, Splitter<br />
und einfach einflußreiche Persönlichkeiten berieten dort über das verbrecherische<br />
Abenteuer <strong>der</strong> Bolschewiki. Den im Winterpalais schmachtenden Ministern teilte man<br />
von Zeit zu Zeit telephonisch mit, daß <strong>der</strong> Aufstand unter dem Druck <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Empörung unweigerlich ersticken müsse. Über diese moralische lsolierung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
verstrich Stund um Stunde. lnzwisehen begann die Artillerie zu sprechen. Minister<br />
Prokopowitseh, morgens verhaftet und bald wie<strong>der</strong> freigelassen, beschwert sich mit<br />
tränenerstickter Stimme bei <strong>der</strong> Duma, <strong>der</strong> Möglichkeit beraubt zu sein, das Schicksal<br />
seiner Kollegen zu teilen. Man zollt ihm heißes Mitgefühl, und <strong>der</strong> Ausdruck des Mitfühlens<br />
erfor<strong>der</strong>t Zeit.<br />
Aus dem Turmbau von Ideen und Reden erwächst endlich unter stürmischem Applaus<br />
des ganzen Saales ein praktischer Plan: die Duma soll vollzählig zum Winterpalais<br />
ziehen, um, wenn es sein muß, zusammen mit <strong>der</strong> Regierung unterzugehen. Sozialrevolutionäre,<br />
Menschewiki und Genossenschaftler sind in gleichem Maße von <strong>der</strong> Bereitschaft<br />
erfaßt, die Minister zu retten o<strong>der</strong> mit ihnen gemeinsam zu fallen. Die Kadetten, im allgemeinen<br />
gefährlichen Unternehmungen nicht geneigt, wollen diesmal zusammen mit den<br />
an<strong>der</strong>en ihr Leben lassen. Zufällig im Saale anwesende Provinzler, Dumajournalisten und<br />
manche aus dem Publikum bitten in mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> beredten Worten um die<br />
Erlaubnis, das Schicksal <strong>der</strong> Duma teilen zu dürfen. Es wird ihnen erlaubt.<br />
Die bolschewistische Fraktion versucht einen prosaischen Ratschlag zu erteilen: anstatt<br />
im Dunkeln, den Tod suchend, durch die Straßen umherzuirren, lieber die Minister<br />
telephonisch zu bestimmen, sich zu ergeben, ohne die Sache bis zum Blutvergießen zu<br />
treiben. Aber die Demokraten sind entrüstet: die Agenten des Aufstandes möchten ihnen<br />
nicht nur die Macht entreißen, son<strong>der</strong>n auch ihr Recht auf heroischen Tod! Es beschließen<br />
die Stadtverordneten, zur Wahrung <strong>der</strong> geschichtlichen Belange eine namentliche<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 718
Abstimmung vorzunehmen. Letzten Erides kommt <strong>der</strong> Tod, auch ein ruhmreicher Tod,<br />
niemals zu spät. Zweiundsechzig Stadtdumaverordnete bekräftigen: ja, sie gehen tatsächlich,<br />
unter den Ruinen des Winterpalais namentlich umzukommen. Darauf antworten<br />
vierzehn Bolschewiki, es sei besser, mit dem Smolny zu siegen als mit dem Winterpalais<br />
umzukommen, und begeben sich sogleich zur Sitzung des Sowjetkongresses. In den vier<br />
Wänden <strong>der</strong> Duma verbleiben nur drei Menschewiki-Internationalisten: sie haben nicht,<br />
wohin zu gehen und wofür zu sterben.<br />
Die Duma war schon nahe daran, sich auf ihren letzten Weg zu begeben, als das<br />
Läuten des Telephons ihr die Kunde brachte, das gesamte Exekutivkomitee <strong>der</strong> Bauerndeputierten<br />
sei unterwegs, sich mit ihr zu vereinigen. Nichtendenwollen<strong>der</strong> Beifall. Nun<br />
ist das Bild vollständig und klar: Vertreter <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tmillionenstarken Bauernschaft,<br />
gemeinsam mit Vertretern aller Klassen <strong>der</strong> städtischen Bevölkerung, gehen, von <strong>der</strong><br />
Hand eines verschwindenden Häufleins Bedrücker zu sterben. An Reden und Beifallklatschen<br />
ist kein Mangel.<br />
Nach dem Hinzukommen <strong>der</strong> Bauerndeputierten setzte sich endlich die Kolonne über<br />
den Newski in Bewegung. An <strong>der</strong> Spitze schreiten aus: Oberbürgermeister Schrei<strong>der</strong> und<br />
Minister Prokopowitsch. Unter den Teilnehmern entdeckte John Reed den Sozialrevolutionär<br />
Awksentjew, den Vorsitzenden des Bauern-Exekutivkomitees, und die menschewistischen<br />
Führer Chintchuk und Abramowitsch, von denen <strong>der</strong> erste als Rechter, <strong>der</strong><br />
zweite als Linker galt. Prokopowitsch und Schrei<strong>der</strong> trugen zwei Laternen: so war es<br />
telephonisch mit den Ministern verabredet worden, damit die Junker die Freunde nicht<br />
für Feinde hielten. Prokopowitsch trug außerdem einen Regenschirm, übrigens wie viele<br />
an<strong>der</strong>e. Geistlichkeit war nicht dabei. Die Geistlichkeit hatte die arme Phantasie <strong>der</strong><br />
Junker aus nebelhaften Umrissen vaterländischer <strong>Geschichte</strong> geschaffen. Aber auch Volk<br />
war nicht da. Sein Fehlen bestimmte den Charakter des ganzen Vorhabens: drei- bis<br />
vierhun<strong>der</strong>t "Vertreter", aber niemand von denen, die sie vertra-ten. »Es war eine finstere<br />
Nacht«, erinnert sich <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »die Laternen auf dem Newski<br />
brannten nicht. Wir gingen in geordneter Prozession, und man vernahm nur unseren<br />
Gesang <strong>der</strong> Marseillaise. Aus <strong>der</strong> Ferne tönten Kanonenschüsse: die Bolschewiki setzten<br />
die Beschießung des Winterpalais fort.«<br />
Am Jekaterininski-Kanal erstreckt sich quer über den Newski-Prospekt eine Kette<br />
bewaffneter Matrosen, die <strong>der</strong> Kolonne <strong>der</strong> Demokratie den Weg versperrt. »Wir werden<br />
vorwärtsmarschieren«, erklären die Geweihten, »was könnt ihr mit uns machen?« Die<br />
Seeleute antworteten ihnen ohne Umschweife, sie würden Gewalt anwenden: »Geht nach<br />
Hause und laßt uns in Ruhe.« Einer <strong>der</strong> Prozessionsteilnehmer machte den Vorschlag,<br />
sofort hier, an Ort und Stelle, umzukommen. Doch in dem durch namentliche Abstimmung<br />
in <strong>der</strong> Duma gefaßten Beschluß war diese Variante nicht vorgesehen. Minister<br />
Prokopowitsch kletterte auf irgendeine Erhöhung und wandte sich »mit dem Regenschirm<br />
fuchtelnd« - im Herbst sind in Petrograd Regen häufig - an die Demonstranten mit<br />
dem Appell, diese finsteren, irregeleiteten Menschen, die tatsächlich zur Waffe greifen<br />
könnten, nicht in Versuchung führen. »Kehren wir in die Duma zurück, die Mittel zur<br />
Rettung des Landes und <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu besprechen.«<br />
Das war ein wahrhaft weiser Vorschlag. Allerdings blieb <strong>der</strong> ursprüngliche Plan<br />
dadurch unausgeführt. Doch was ist mit bewaffneten Grobianen anzufangen, die die<br />
Führer <strong>der</strong> Demokratie hin<strong>der</strong>n, heroisch zu sterben. »Wir blieben eine Weile stehen,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 719
froren durch und durch und beschlossen, umzukehren«, schreibt melancholisch Stankewitsch,<br />
gleichfalls ein Teilnehmer <strong>der</strong> Prozession. Nunmehr ohne Marseillaise, im<br />
Gegenteil, in geballtem Schweigen, begab sich die Prozession durch den Newski zurück<br />
zum Dumagebäude. Dort sollte sie endlich die »Mittel zur Rettung des Landes und <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> finden«.<br />
Nach Einnahme des Winterpalais beherrschte das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee die<br />
Hauptstadt vollständig. Aber wie bei einer Leiche Nägel und Haare weiterwachsen, so<br />
zeigten sich bei <strong>der</strong> abgesetzten Regierung Lebenszeichen vermittels <strong>der</strong> offiziellen<br />
Presse. Der 'Bote <strong>der</strong> Provisorischen Regierung', <strong>der</strong> noch am 24. über Entlassung <strong>der</strong><br />
Geheimräte »mit Uniform und Pension« berichtet hatte, verstummte plötzlich am 25.,<br />
was allerdings niemand bemerkte. Am 26. erschien er wie<strong>der</strong>, als sei nichts geschehen.<br />
Auf <strong>der</strong> ersten Seite hieß es: »Wegen Unterbrechung des elektrischen Stromes ist die<br />
Nummer vom 25. nicht erschienen.« In allem übrigen, mit Ausnahme des Stromes, ging<br />
das Staatsleben seine geordneten Bahnen weiter, und <strong>der</strong> 'Bote' <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Trubetzkoj-Bastion<br />
befindlichen Regierung berichtete über die Ernennung eines Dutzend neuer Senatoren.<br />
In <strong>der</strong> Rubrik "Administrative Nachrichten" empfahl ein Zirkular des Innenministers<br />
Nikitin den Gouvernementskommissaren, »sich durch falsche Gerüchte über Ereignisse<br />
in Petrograd, wo alles ruhig ist, nicht irreführen zu lassen«. Der Minister hatte nicht gar<br />
so unrecht: die Tage <strong>der</strong> Umwälzung verliefen ziemlich ruhig, sieht man von <strong>der</strong><br />
Kanonade ab, die sich überdies auf akustische Effekte beschränkte. Und doch wird <strong>der</strong><br />
Geschichtsschreiber nicht irren, <strong>der</strong> behauptet, am Tage des 25. Oktober habe nicht nur<br />
<strong>der</strong> Strom in <strong>der</strong> Regierungsdruckerei aufgehört, son<strong>der</strong>n auch eine wichtige Seite in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschheit begonnen.<br />
Oktoberaufstand<br />
Naturgeschichtliche Analogien in bezug auf die <strong>Revolution</strong> drängen sich <strong>der</strong>art von<br />
selbst auf, daß einige von ihnen zu abgenutnen Metaphern geworden sind: »vulkanische<br />
Ausbrüche«, »Geburt einer neuen Gesellschaft«, »Siedepunkt« ... Unter dem einfachen<br />
literarischen Bild verbergen sich da intuitiv erfaßte Gesetze <strong>der</strong> Dialektik, das heißt <strong>der</strong><br />
Logik <strong>der</strong> Entwicklung.<br />
Was die <strong>Revolution</strong> als ganzes - im Verhältnis zur Evolution -, ist <strong>der</strong> bewaffnete<br />
Aufstand - im Verhältntis zur <strong>Revolution</strong> selbst: <strong>der</strong> kritische Punkt, wo die angehäufte<br />
Quantität explodierend in Qualität übergeht. Aber auch <strong>der</strong> Aufstand selbst ist kein<br />
einheitlicher, ungeteilter Akt: er hat seine eigenen kritischen Punkte, eigenen inneren<br />
Krisen und Steigerungen.<br />
Äußerst wichtig, sowohl politisch wie theoretisch, ist die kurze Periode, die dem<br />
"Siedepunkt" unmittelbar vorangeht, das heißt, <strong>der</strong> Vorabend des Aufstandes. Die Physik<br />
lehrt, daß ein gleichmäßiger Erwärmungsprozeß plötzlich zum Stillstand kommt, die<br />
Flüssigkeit behält eine bestimmte Zeit unverän<strong>der</strong>t die Temperatur, um erst nach<br />
Aufnahme einer ergänzenden Wärmemenge zu sieden. Die Umgangssprache kommt uns<br />
auch hier zu Hilte, indem sie den Zustand <strong>der</strong> scheinbar ruhigen Konzentration vor <strong>der</strong><br />
Explosion als »Ruhe vor dem Sturm« bezeichnet.<br />
Als auf die Seite <strong>der</strong> Bolschewiki die absolute Mehrheit <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
Petrograds übergegangen war, schien die Temperatur des Siedens erreicht. Eben in<br />
diesem Augenblick proklamierte Lenin die Notwendigkeit des sofortigen Aufstandes.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 720
Doch erstaunlich: es fehlte etwas für den Aufstand. Die Arbeiter und beson<strong>der</strong>s die<br />
Soldaten mußten noch eine ergänzende Menge revolutionärer Energie in sich aufnehmen.<br />
Bei den Massen gibt es keinen Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Wort und Tat. Doch erzeugt <strong>der</strong><br />
Übergang vom Wort zur Tat, sogar zum einfachen Streik, um wieviel mehr zum<br />
Aufstand, unvermeidlich innere Reibungen und molekulare Umgruppierungen: die einen<br />
rücken vor, die an<strong>der</strong>en werden zurückgedrängt. Bei seinen ersten Schritten zeg ichnet<br />
sich <strong>der</strong> Bürgerkrieg überhaupt durch äußerste Unentschlossenheit aus. Beide Lager<br />
versinken gleichsam im selben nationalen Boden, können sich von <strong>der</strong> eigenen Peripherie<br />
mit ihren Zwischenschichten und versöhnlerischen Stimmungen nicht losreißen.<br />
Die Ruhe vor dem Sturm in den unteren Schichten bedeutete schroffe Stockung in <strong>der</strong><br />
führenden Schicht. Die Organe und Institutionen, die sich in <strong>der</strong> verhältnismäßig friedlichen<br />
Vorbereitungsperiode herausbildeten - die <strong>Revolution</strong> hat ihre friedlichen Perioden<br />
wie <strong>der</strong> Krieg seine Ruhetage -, erwiesen sich sogar bei <strong>der</strong> gestähltesten Partei als den<br />
Aufgaben des Aufstandes nicht entsprechend o<strong>der</strong> nicht völlig entsprechend: eine<br />
gewisse Verschiebung und Umbildung wird im allerkritischsten Augenblick unvermeidlich.<br />
Bei weitem nicht sämtliche Delegierten des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, die für die Sowjetmacht<br />
gestimmt hatten, waren wahrhaft vom Gedanken durchdrungen, daß <strong>der</strong><br />
bewaffnete Aufstand Tagesaufgabe geworden. Man mußte sie unter kleinsten Erschütterungen<br />
auf den neuen Weg hinüberleiten, um den Sowjet in einen Apparat des Aufstandes<br />
zu verwandeln. Unter den Bedingungen <strong>der</strong> herangereiften Krise waren dafür keine<br />
Monate, nicht einmal viele Wochen erfor<strong>der</strong>lich. Aber gerade in den letzten Tagen war<br />
es am gefährlichsten, außer Schritt zu kommen, einen Sprung zu kommandieren einige<br />
Tage zu früh, bevor <strong>der</strong> Sowjet dafür fertig war, Verwirrung in den eigenen Reihen<br />
hervorzurufen, die Partei vom Sowjet auch nur für vierundzwanzig Stunden zu trennen.<br />
Lenin hatte mehr als einmal wie<strong>der</strong>holt, die Massen seien unvergleichlich linker als die<br />
Partei, wie die Partei linker als das eigene Zentralkomitee. In bezug auf die <strong>Revolution</strong><br />
als ganzes war das absolut richtig. Aber auch diese Wechselbeziehungen haben ihre<br />
eigenen tiefen inneren Schwankungen. Im April, Juni und beson<strong>der</strong>s Anfang Juli stießen<br />
die Arbeiter und Soldaten die Partei ungeduldig auf den Weg entschiedener Taten. Nach<br />
<strong>der</strong> Julinie<strong>der</strong>schlagung wurden die Massen vorsichtiger. Sie wollten zwar in alter Weise<br />
und sogar stärker die Umwälzung. Doch nachdem sie sich die Finger tüchtig verbrannt,<br />
befürchteten sie einen neuen Mißerfolg. Juli, August und September hielt die Partei<br />
tagaus tagein die Arbeiter und Soldaten zurück, während die Kornilowianer dagegen sie<br />
mit allen Mitteln auf die Straße zu locken suchten. Die politische Erfahrung <strong>der</strong> letzten<br />
Monate hatte stark die Bremszentren nicht nur bei den Führern, son<strong>der</strong>n auch bei den<br />
Geführten entwickelt. Die dauernden Erfolge <strong>der</strong> Agitation nährten ihrerseits wie<strong>der</strong>um<br />
das Beharrungsvermögen <strong>der</strong> abwartenden Stimmungen. Den Massen genügte die neue<br />
politische Orientierung nicht: sie mußten sich psychologisch umstellen. Der Aufstand<br />
umfaßt um so breitere Massen, je mehr das Kommando <strong>der</strong> revolutionären Partei eins ist<br />
mit dem Kommando <strong>der</strong> Verhältnisse.<br />
Die schwierige Frage des Übergangs von <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Vorbereitung zur Technik des<br />
Aufstandes erhob sich im ganzen Lande, in verschiedenen Formen, doch im Kern<br />
einheitlich. Muralow erzählt, in <strong>der</strong> Moskauer Militärischen Organisation <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
hätte über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Machtergreifung eine Meinung geherrscht; jedoch<br />
»<strong>der</strong> Versuch, die Frage konkret zu entscheiden, wie diese Machtergreifung durchzufüh-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 721
en sei, blieb ungelöst«. Es fehlte das letzte verbindende Glied.<br />
In jenen Tagen, als Petrograd im Zeichen <strong>der</strong> Versetzung <strong>der</strong> Garnison stand, lebte<br />
Moskau in <strong>der</strong> Atmosphäre ununterbrochencr Streikzusammenstöße. Auf Initiative <strong>der</strong><br />
Fabrikkomitees entwarf die bolschewistische Fraktion des Sowjets den Plan: ökonomische<br />
Konflikte auf dem Wege von Dekreten zu lösen. Die vorbereitenden Schritte erfor<strong>der</strong>ten<br />
nicht wenig Zeit. Erst am 23. Oktober nahmen die Moskauer Sowjetorgane das<br />
"<strong>Revolution</strong>äre Dekret Nr. 1" an: Arbeiter und Angestellte in Fabriken und Werken<br />
dürfen von nun an nur mit Zustimmung <strong>der</strong> Fabrik- und Werkkomitees eingestellt und<br />
entlassen werden. Das bedeutete, als Staatsmacht zu handeln beginnen. Der unvermeidliche<br />
Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Regierung mußte nach Ansicht <strong>der</strong> Initiatoren die Massen um den<br />
Sowjet enger zusammenschließen und zum offenen Konflikt führen. Der Plan fand keine<br />
Nachprüfung, da die Umwälzung in Petrograd Moskau wie dem ganzen übrigen Lande<br />
ein gebieterisches Argument für den Aufstand lieferte: man mußte sofort die soeben<br />
entstandene Sowjetregierung unterstützen.<br />
Die angreifende Seite ist fast stets daran interessiert, in <strong>der</strong> Defensive zu erscheinen.<br />
Die revolutionäre Partei ist an legaler Deckung interessiert. Der bevorstehende Sowjetkongreß,<br />
im wesentlichen Kongreß <strong>der</strong> Umwälzung, war für die Massen gleichzeitig<br />
unbestrittener Träger, wenn nicht <strong>der</strong> gesamten, so doch mindestens einer guten Hälfte<br />
<strong>der</strong> Souveränität. Es ging um den Aufstand eines Elements <strong>der</strong> Doppelherrschaft gegen<br />
das an<strong>der</strong>e. Während es an den Kongreß als an die Machtquelle appellierte, beschuldigte<br />
das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee die Regierung von vornherein, sie bereite ein Attentat<br />
auf die Sowjets vor. Diese Beschuldigung ergab sich aus <strong>der</strong> ganzen Situation.<br />
Insofern die Regierung nicht die Absicht hatte, ohne Kampf zu kapitulieren, mußte sie<br />
sich auf Selbstverteidigung vorbereiten. Doch damit allein schon geriet sie unter die<br />
Beschuldigung <strong>der</strong> Verschwörung gegen das höchste Organ <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten und<br />
Bauern. Im Kampf gegen den Sowjetkongreß, <strong>der</strong> Kerenski stürzen sollte, erhob die<br />
Regierung die Hand gegen die Quelle <strong>der</strong> Macht, aus <strong>der</strong> Kerenski hervorgegangen war.<br />
Es wäre grober Irrtum, in alldem nur juristische, dem Volke gleichgültige Finessen zu<br />
sehen: im Gegenteil, gerade so spiegelten sich die grundlegenden Tatsachen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
im Bewußtsein <strong>der</strong> Massen wi<strong>der</strong>. Diese außergewöhnlich günstige Verknüpfung<br />
mußte restlos ausgenutzt werden. Indem sie <strong>der</strong> natürlichen Unlust <strong>der</strong> Soldaten, aus den<br />
Kasernen in die Schützengräben zu wan<strong>der</strong>n, ein großes politisches Ziel verlieh und die<br />
Garnison zur Verteidigung des Sowjetkongresses mobilisierte, band sich die revolutionäre<br />
Führung in keiner Weise die Hände in bezug auf die Frist des Aufstandes. Die Wahl<br />
des Tages und <strong>der</strong> Stunde hing vom weiteren Verlauf des Zusammenstoßes ab. Die<br />
Manövrierfreiheit war bei dem Stärkeren.<br />
»Zuerst besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein«, wie<strong>der</strong>holte Lenin, <strong>der</strong> befürchtete,<br />
<strong>der</strong> Aufstand könnte in ein konstitutionelles Spiel umgefälscht werden. Offensichtlich<br />
hatte Lenin noch nicht Zeit genug gehabt, den neuen Faktor einzuschätzen, <strong>der</strong> in die<br />
Vorbereitung des Aufstandes einschnitt und <strong>der</strong>en gesamten Charakter verän<strong>der</strong>te,<br />
nämlich den scharfen Konflikt zwischen Petrogra<strong>der</strong> Garnison und Regierung. Wenn <strong>der</strong><br />
Sowjetkongreß über die Frage <strong>der</strong> Macht entscheiden soll; wenn die Regierung die<br />
Garnison zerschlagen will, um den Sowjet daran zu hin<strong>der</strong>n, Macht zu werden; wenn die<br />
Garnison, ohne den Sowjetkongreß abzuwarten, sich weigert, <strong>der</strong> Regierung zu so bedeutet<br />
das ja dem Wesen nach, <strong>der</strong> Aufstand habe begonnen, ohne den Sowjetkongreß<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 722
abzuwarten, wenn auch gedeckt durch dessen Autorität. Politisch die Vorbereitung des<br />
Aufstandes von <strong>der</strong> Vorbereitung des Sowjetkongresses zu trennen wäre deshalb falsch<br />
gewesen.<br />
Am besten kann man die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> Oktoberumwälzung begreifen, wenn man<br />
diese <strong>der</strong> vom Februar gegenüberstellt. Bei Anwendung dieses Vergleiches ist es nicht<br />
notwendig, wie in an<strong>der</strong>en Fällen, die Identität einer ganzen Reihe von Umständen<br />
vorauszusetzen; sie sind tatsächlich identisch, da es in beiden Fällen um Petrograd geht:<br />
gleiche Kampfarena, gleiche soziale Gruppierungen, gleiches Proletariat und gleiche<br />
Garnison. Der Sieg wird in beiden Fällen erreicht durch Übergang <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong><br />
Reserveregimenter auf die Seite <strong>der</strong> Arbeiter. Doch im Rahmen dieser gemeinsamen<br />
Grundzüge - welch gewaltiger Unterschied! Historisch einan<strong>der</strong> im Laufe von acht<br />
Monaten ergänzend, sind die zwei Petrogra<strong>der</strong> Umwälzungen durch den Kontrast ihrer<br />
Züge gleichsam im voraus dazu ausersehen, zum besseren Verständnis <strong>der</strong> Natur eines<br />
Aufstandes überhaupt beizutragen.<br />
Den Februaraufstand nennt man elementar. An an<strong>der</strong>er Stelle haben wir in diese<br />
Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls<br />
richtig, daß im Februar niemand die Wege <strong>der</strong> Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand<br />
hat in Fabriken und Kasernen über die Frage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> abgestimmt; niemand von<br />
oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte,<br />
zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.<br />
Ganz an<strong>der</strong>s verhielt sich die Sache im Oktober. Während <strong>der</strong> acht Monate hatten die<br />
Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse,<br />
son<strong>der</strong>n lernten auch <strong>der</strong>en Zusammenhänge begreifen; nach je<strong>der</strong> Tat erwogen sie<br />
kritisch <strong>der</strong>en Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des<br />
politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks,<br />
Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden,<br />
konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in <strong>der</strong> Frage des Aufstandes etwa<br />
verzichten?<br />
Aus dieser unschätzbaren und im wesentlichen einzigen Errungenschaft <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
erwuchsen jedoch neue Schwierigkeiten. Man konnte nicht die Masse im<br />
Namen des Sowjets zum Kampf aufrufen, ohne die Frage formell vor dem Sowjet zu<br />
stellen, das heißt, ohne die Aufgabe des Aufstandes zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen<br />
zu machen, und überdies unter Beteiligung von Vertretern des kindlichen Lagers.<br />
Die Notwendigkeit, zur Leitung des Aufstandes ein beson<strong>der</strong>es, möglichst verschleiertes<br />
Sowjetorgan zu schaffen, war offensichtlich. Doch auch dies erfor<strong>der</strong>te demokratische<br />
Wege mit all ihren Vorzügen und all ihren Verzögerungen. Der Beschluß des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees vom 9. Oktober erhält seine endgültige Verwirklichung erst<br />
am 20. Die Hauptschwierigkeit liegt jedoch nicht hier. Die Mehrheit des Sowjets ausnutzen<br />
und ein Komitee nur aus Bolschewiki schaffen, hätte bedeutet, die Unzufriedenheit<br />
<strong>der</strong> Parteilosen hervorzurufen, schon gar nicht zu sprechen von den linken Sozialrevolutionären<br />
und einigen Gruppen <strong>der</strong> Anarchisten. Die Bolschewiki innerhalb des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees unterwarfen sich dem Beschluß ihrer Partei, wenn auch nicht<br />
alle wi<strong>der</strong>spruchslos. Aber es war unmöglich, Disziplin von Parteilosen und linken<br />
Sozialrevolutionären zu for<strong>der</strong>n. Von ihnen a priori einen Beschluß über den Aufstand<br />
für einen bestimmten Tag zu erlangen, war undenkbar; allein schon die Frage vor ihnen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 723
zu stellen, wäre äußerst unvorsichtig gewesen. Vermittels des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />
konnte man die Massen in den Aufstand nur hineinziehen, indem man die<br />
Situation täglich schärfer zuspitzte und den Konflikt unausweichbar gestaltete.<br />
War es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen <strong>der</strong> Partei<br />
aufzurufrn? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens hegen auf <strong>der</strong> Hand. Doch<br />
vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei<br />
sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden:<br />
die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die an<strong>der</strong>e, zahireichste,<br />
die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die<br />
dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.<br />
Diese drei Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau,<br />
son<strong>der</strong>n im großen Maße auch nach <strong>der</strong> sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki<br />
als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier.<br />
Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen,<br />
ging die Mehrheit <strong>der</strong> Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon o<strong>der</strong> trotzdem, daß<br />
darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten<br />
<strong>der</strong> Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den<br />
übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile <strong>der</strong> Armee<br />
emsehließlich <strong>der</strong> Kosaken; die Bauern, die sich von <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> sozialrevolutionären<br />
Partei befreit hatten und sich an <strong>der</strong>en linken Flügel klammerten.<br />
Es wäre ein offener Fehler, die Stärke <strong>der</strong> bolschewistischen Partei mit <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong><br />
von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher,<br />
jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandeh. Es ist dahinter nichts<br />
Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem<br />
in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen<br />
Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein<br />
richtig angewandter Hebel verleiht <strong>der</strong> menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige<br />
Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige<br />
Hand ist <strong>der</strong> Hebel nur eine tote Stange.<br />
In <strong>der</strong> Moskauer Distriktkonferenz <strong>der</strong> Bolschewiki, Ende September, berichtete ein<br />
Delegierter: »In Jegoijewsk ist <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Bolschewiki ungeteilt ... An sich aber ist<br />
die Parteiorganisation schwach; völlig vernachlässigt; es gibt we<strong>der</strong> eine richtige<br />
Registrierung noch Mitgliedsbeiträge.« Das Mißverhältnis zwlschen Einfluß und Organisation,<br />
nicht überall <strong>der</strong>art kraß, war allgemeine Erscheinung. Die breiten Massen<br />
kannten die bolschewistischen Parolen und die Sowjetorganisation. Beides verschmolz<br />
für sie völlig in eins während <strong>der</strong> Monate September-Oktober. Das Volk erwartete, daß<br />
gerade die Sowjets bestimmen würden, wann und wie das bolschewistische Programm zu<br />
verwirklichen sei.<br />
Die Partei selbst erzog die Massen systematisch in diesem Geiste. Als in Kiew das<br />
Gerücht entstand, es bereite sich ein Aufstand vor, trat das bolschewistische Exekutivkomitee<br />
sofort mit einem Wi<strong>der</strong>ruf auf: »keine bewaffnete Demonstration darf ohne Auffor<strong>der</strong>ung<br />
des Sowjets staufinden ... Kein Schritt ohne Sowjet!« Die Gerüchte über einen<br />
angeblich auf den 22. angesetzten Aufstand wi<strong>der</strong>legend, sagte Trotzki am 18.: »Der<br />
Sowjet ist eine gewählte Institution und ... er kann keine Beschlüsse fassen, die den<br />
Arbeitern und Soldaten unbekannt bleiben können ...« Täglich wie<strong>der</strong>holt und durch die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 724
Praxis bekräftigt, gingen solche Formeln in Fleisch und Blut über.<br />
Nach <strong>der</strong> Erzählung des Fähnrichs Bersin äußerten die Delegierten in <strong>der</strong> Militärischen<br />
Oktoberkonferenz <strong>der</strong> Bolschewiki zu Moskau: »Es ist schwer zu sagen, ob die Truppen<br />
dem Ruf des Moskauer Komitees <strong>der</strong> Bolschewiki Folge leisten werden. Dem Ruf des<br />
Sowjets dürften wohl alle Folge leisten.« Dabei hatte die Moskauer Garnison schon im<br />
September zu neunzig Prozent für die Bolschewiki gestimmt. In <strong>der</strong> Beratung vom 16.<br />
Oktober in Petrograd berichtete Bokij im Namen des Parteikomitees: im Moskauer<br />
Bezirk »wird man auf die Straße gehen auf Auffor<strong>der</strong>ung des Sowjets, nicht aber <strong>der</strong><br />
Partei«; im NewskiBezirk »werden alle mit dem Sowjet gehen«. Wolodarski resümierte<br />
bei dieser Gelegenheit die Einschätzung <strong>der</strong> Stimmungen in Petrograd mit folgenden<br />
Worten: »Der Gesamteindruck ist, daß keiner darauf brennt, auf die Straße zu gehen,<br />
doch werden auf den Ruf des Sowjets alle erscheinen.« Olga Rawitseh trägt eine Korrektur<br />
hinein: »Einige stellten fest, auch auf den Ruf <strong>der</strong> Partei hin.« In <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong><br />
Gamisonberatung vom 18. berichteten die Delegierten, daß ihre Regimenter auf den Ruf<br />
des Sowjets warten, um auf die Straße zu gehen; niemand sprach von <strong>der</strong> Partei, bbwohl<br />
an <strong>der</strong> Spitze vieler Truppenteile Bolschewiki standen; die Einheit in <strong>der</strong> Kaserne konnte<br />
nur gewahrt werden, indem man die Sympathisierenden, Schwankenden und halbfeindlich<br />
Eingestellten durch die Disziplin des Sowjets verband. Das Grenadierregiment<br />
erklärte sogar, es werde auf die Straße gehen nur auf Befehl des Sowjetkongresses.<br />
Schon allein die Tatsache, daß die Agitatoren und Organisatoren bei <strong>der</strong> Einschätzung<br />
des Zustandes <strong>der</strong> Massen jedesmal einen Unterschied zwischen Sowjet und Partei<br />
machen, beweist, welch große Bedeutung dieser Frage vom Standpunkte des Aufrufs<br />
zum Aufstande zukam.<br />
Der Chauffeur Mitrewitsch erzählt, wie in einer Lastauto-Kolonne, wo man einen<br />
Beschluß zugunsten des Aufstandes nicht erreichen konnte, die Bolschewiki einen<br />
Kompromißvorschlag durehbrachten. »Wir werden we<strong>der</strong> für die Bolschewiki noch für<br />
die Mensehewiki auf die Straße gehen, werden aber ... unverzüglich alle For<strong>der</strong>ungen<br />
des zweiten Sowjetkongresses erfüllen.« Die Bolschewiki <strong>der</strong> Lastauto-Kolonne wandten<br />
im kleinen die gleiche Vernebelungstaktik an, die das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
übte. Mitrewitsch will nichts beweisen, son<strong>der</strong>n berichtet - um so überzeugen<strong>der</strong> ist seine<br />
Aussage!<br />
Versuche, den Aufstand unmittelbar durch die Partei zu führen, waren nirgends von<br />
Erfolg. Es ist ein im höchsten Grade interessantes Zeugnis erhalten geblieben in bezug<br />
auf die Vorbereitung <strong>der</strong> Umwälzung in Kineschma, einem bedeutenden Punkt <strong>der</strong><br />
Textilindustrie. Nachdem <strong>der</strong> Aufstand im Moskauer Distrikt auf die Tagesordnung<br />
gestellt worden war, wählte das Parteikomitee in Kineschma für die Nachprüfung <strong>der</strong><br />
militärischen Kräfte und Mittel und die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes eine<br />
beson<strong>der</strong>e Dreierkommission, die aus irgendeinem Grunde Direktorium genannt wurde.<br />
»Doch muß man sagen«, schreibt ein Mitglied des Direktoriums, »daß die gewählte<br />
Dreierkommission in Wirklichkeit anscheinend wenig getan hat. Die Ereignisse nahmen<br />
einen etwas an<strong>der</strong>en Weg ... Es überraschte uns <strong>der</strong> Distriktstreik, und im Augenblick <strong>der</strong><br />
entscheidenden Ereignisse war das Organisationszentrum in das Streikkomitee und den<br />
Sowjet verlegt.« - In bescheidenem Provinzmaßstabe wie<strong>der</strong>holte sich hier dasselbe wie<br />
in Petrograd.<br />
Die Partei brachte den Sowjet in Bewegung. Der Sowjet brachte Arbeiter, Soldaten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 725
und teilweise auch die Bauern in Bewegung. Was man an Masse gewann, verlor man an<br />
Geschwindigkeit. Stellt man sich diesen Transmissionsapparat als Zahnralsystem vor -<br />
ein Vergleich, den Lenin bei an<strong>der</strong>em Anlasse und in einer an<strong>der</strong>en Periode anwandte -,<br />
dann kann man sagen, daß <strong>der</strong> ungeduldige Versuch, das Rad <strong>der</strong> Partei unter Weglassung<br />
Zwischenrades <strong>der</strong> Sowjets unmittelbar mit dem gigantischen <strong>der</strong> Massen zu<br />
verbinden, die Gefahr in sich barg, die Zähne Parteirades zu zerbrechen und dabei doch<br />
nur ungenügende Massen in Bewegung zu bringen.<br />
Nicht weniger real jedoch war auch die entgegengesetzte Gefahr - <strong>der</strong> Versäumnis <strong>der</strong><br />
günstigen Situation als Resultat innerer Reibungen des Sowjetsystems. Theoretisch<br />
betrachtet, läuft <strong>der</strong> günstigste Moment für den Aufstand aufeinen bestimmten Punkt in<br />
<strong>der</strong> Zeit hinaus. Von <strong>der</strong> praktischen Erfassung dieses Idealpunktes kann selbstverständlich<br />
nicht die Rede sein. Der Aufstand kann sich erfolgreich entwickeln auf einer ansteigenden<br />
Kurve, die sich dem idealen Kulminationspunkt nähert, aber auch auf <strong>der</strong><br />
absteigenden Kurve, falls das Kräfteverhälmis noch keine Zeit gehabt hat, sich radikal zu<br />
verän<strong>der</strong>n. Statt des "Moments" entsteht ein Zeitabschnitt, <strong>der</strong> sich nach Wochen,<br />
manchmal nach Monaten messen läßt. Die Bolschewiki wären imstande gewesen, in<br />
Petrograd die Macht bereits Anfang Juli zu erobern. Doch in diesem Falle hätten sie sie<br />
nicht halten können. Seit Mitte September konnten sie darauf hoffen, die Macht nicht nur<br />
zu erobern, son<strong>der</strong>n sie auch in ihren Händen zu behalten. Hätten die Bolschewiki Ende<br />
Oktober mit dem Aufstand gezögert, sie würden wahrscheinlich, aber bei weitem nicht<br />
sicher, innerhalb einer bestimmten Frist noch die Möglichkeit gehabt haben, das<br />
Versäumte nachzuholen. Es läßt sich bedingt annehmen, daß im Laufe von drei bis vier<br />
Monaten, beispielsweise von September bis Dezember, die politischen Voraussetzungen<br />
für die Umwälzung bestanden: bereits reif und noch nicht zerfallen. In diesem Rahmen,<br />
<strong>der</strong> nachträglich leichter festzustellen ist als im Prozeß des Handelns, besaß die Partei<br />
gewisse Wahlfreiheit, die unvermeidliche, mitunter scharfe Meinungsverschiedenheiten<br />
praktischen Charakters erzeugte.<br />
Lenin hatte vorgeschlagen, den Aufstand bereits in den Tagen <strong>der</strong> Demokratischen<br />
Beratung zu beginnen. Ende September hielt er jedes Hinausschieben nicht nur für<br />
gefährlich, son<strong>der</strong>n für katastrophal. »Auf den Sowjetkongreß warten«, schrieb er Anfang<br />
Oktober, »ist kindliches Spiel mit Formalitäten, schändliches Spiel mit Formalitäten,<br />
Verrat <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.« Doch wohl kaum ließ sich jemand aus den bolschewistischen<br />
Spitzen in dieser Frage von formalen Erwägungen leiten. Als Sinowjew beispielsweise<br />
auf eine vorherige Beratung mit <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion des Sowjetkongresses<br />
bestand, suchte er keine formale Sanktion, son<strong>der</strong>n rechnete einfach auf politische Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Provinzdelegierten gegen das Zentralkomitee. Doch Tatsache ist, daß die<br />
Abhängigkeit <strong>der</strong> Partei vom Sowjet, <strong>der</strong> seinerseits an den Sowjetkongreß appellierte, in<br />
die Frage des Aufstandtermins ein Element <strong>der</strong> Unbestimmtheit hineintrug, das Lenin<br />
aufs äußerste und nicht ohne Grund beunruhigte.<br />
Die Frage, wann aufrurufen, war eng verbunden mit <strong>der</strong> Frage, wer aufrufen sollte.<br />
Lenin waren die Vorteile eines Arufs im Namen des Sowjets allzu klar; aber früher als<br />
die an<strong>der</strong>en erkannte er, welche Schwierigkeiten auf diesem Wege entstehen würden. Er<br />
mußte befürchten, beson<strong>der</strong>s aus <strong>der</strong> Ferne, daß die Bremseiemente noch stärker sein<br />
würden in <strong>der</strong> Sowjetspitze als im Zentralkomitee, dessen Politik er ohnehin für allzu<br />
unentschlossen hielt. An die Frage, wer beginnen solle, Sowjet o<strong>der</strong> Partei, ging Lenin<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 726
alternativ heran, neigte jedoch in den ersten Wochen entschieden zur selbständigen<br />
Initiative <strong>der</strong> Partei. Es gab da auch nicht den Schatten irgendeiner prinzipiellen Gegensätzlichkeit:<br />
es handelte sich um zwei Einstellungen zum Aufstande auf <strong>der</strong> gleichen<br />
Basis, in <strong>der</strong> gleichen Situation, im Namen des gleichen Zieles. Doch waren es zwei<br />
verschiedene Einstellungen.<br />
Lenins Vorschlag, das Alexandrinski-Theater einzukreisen und die Demokratische<br />
Beratung zu verhaften, ging davon aus, <strong>der</strong> Aufstand werde vertreten werden nicht vorn<br />
Sowjet, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> unmittelbar an die Betriebe und Kasernen appellierenden Partei.<br />
An<strong>der</strong>s konnte es auch nicht sein: einen solchen Plan vermittels des Sowjets durchzusetzen<br />
war völlig undenkbar. Lenin ist sich dessen durchaus klar, daß seine Absicht sogar in<br />
den Parteispitzen auf Wi<strong>der</strong>stand stoßen wird; er empfiehlt im voraus, »nicht nachzujagen<br />
<strong>der</strong> zahlenmäßigen Stärke« <strong>der</strong> bolschewistischen Fraktion <strong>der</strong> Beratung: die<br />
Entschlossenheit oben wird die zahlenmäßige Stärke unten garantieren. Lenins kühner<br />
Plan bot zweifellos Vorteile <strong>der</strong> Schnelligkeit und Plötzlichkeit. Doch entblößte er allzusehr<br />
die Partei und riskierte, in gewissen Grenzen sie zu den Massen in einen Gegensatz<br />
zu stellen. Sogar <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet hätte im Überraschungsfalle beim ersten Mißerfolg<br />
seine noch unstabile bolschewistische Mehrheit einbüßen können.<br />
Die Resolution vom 10. Oktober schlägt den lokalen Partei-Organisationen vor, sämtliche<br />
Fragen praktisch unter dem Gesichtswinkel des Aufstandes zu entscheiden: von den<br />
Sowjets als Aufstandsorganen ist in <strong>der</strong> Resolution des Zentralkomitees nicht die Rede.<br />
In <strong>der</strong> Beratung vom 16. sagte Lenin: »Die Tatsachen beweisen, daß wir dem Feinde<br />
gegenüber im Vorteile sind. Weshalb kann das Zentralkomitee nicht anfangen?« Diese<br />
Frage hatte in Lenins Mund keinesfalls rhetorischen Charakter; sie bedeutete: weshalb<br />
Zeit verlieren und sich <strong>der</strong> komplizierten Sowjettransmission anpassen, wenn das<br />
Zentralkomitee das Signal sofort geben kann? Jedoch schloß die von Lenin vorgeschlagene<br />
Resolution diesmal mit dem Ausdruck »<strong>der</strong> vollen Überzeugung, daß Zentralkomitee<br />
und Sowjet rechtzeitig den günstigen Moment und zweckmäßige Mittel des Angriffs<br />
bestimmen werden«. Die Erwähnung des Sowjets neben <strong>der</strong> Partei und die elastischere<br />
Frag~ stellung hinsichtlich des Aufstandtermins waren das Resultat des Lenin über die<br />
Parteispitzen hinweg nachgeprüften Wi<strong>der</strong>standes <strong>der</strong> Massen.<br />
Am folgenden Tag resümierte Lenin in einer Polemik gegen Sinowjew und Kamenjew<br />
das Ergebnis <strong>der</strong> gestrigen Debatten: »alle sind darin einig, daß auf den Ruf des Sowjets<br />
und zur Verteidigung des Sowjets die Arbeiter sich wie ein Mann erheben werden.« Das<br />
bedeutete: Wenn nicht alle mit ihm, Lenin, einverstanden sind, daß man aufrufen kann<br />
im Namen <strong>der</strong> Partei, so sind alle darin einig, daß man im Namen des Sowjets aufrufen<br />
kann.<br />
»Wer soll die Macht übernehmen?« schreibt Lenin am Abend des 24. »Das ist jetzt<br />
nicht wichtig: möge sie das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee übernehmen o<strong>der</strong> eine<br />
"an<strong>der</strong>e Institution", die erklärt, daß sie die Macht nur den wahren Vertretern <strong>der</strong><br />
Volksinteressen übergeben wird ...« Die "an<strong>der</strong>e Institution", in geheimnisvolle Anführungsstriche<br />
genommen, ist die konspirative Bezeichnung für das Zentralkomitee <strong>der</strong><br />
Bolschewiki. Lenin erneuert hier seinen Septembervorschlag: Handeln direkt im Namen<br />
des Zentralkomitees - für den Fall, daß die Sowjetlegalität das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
hin<strong>der</strong>n sollte, den Kongreß vor die vollzogene Tatsache <strong>der</strong> Umwälzung zu<br />
stellen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 727
Ungeachtet dessen, daß dieser ganze Kampf um Termine und Methoden des Aufstandes<br />
Wochen gedauert hat, haben sich nicht alle Teilnehmer über seinen Sinn und seine<br />
Bedeutung klar Rechenschaft abgelegt. »Lenin schlug vor, die Macht vermittels <strong>der</strong><br />
Sowjets, des Leningra<strong>der</strong> o<strong>der</strong> des Moskauer, zu übernehmen, nicht hinter <strong>der</strong>en<br />
Rücken«, schrieb Stalin im Jahre 1924. »Wozu hatte Trotzki diese mehr als seltsame<br />
Legende über Lenin nötig?« Und weiter: »Die Partei kennt Lenin als den größten Marxisten<br />
unserer Zeit ..., dem je<strong>der</strong> Schatten von Blanquismus fremd ist.« Indes angeblich bei<br />
Trotzki »nicht <strong>der</strong> Riese Lenin entsteht, son<strong>der</strong>n irgendein Zwerg-Blanquist« ... Nicht<br />
bloß Blanquist, son<strong>der</strong>n auch Zwerg! In Wirklichkeit wird die Frage, in wessen Namen<br />
ein Aufstand zu beginnen und von welcher Institution die Macht zu übernehmen ist,<br />
keinesfalls durch irgendeine Doktrin vorausbestimmt. Beim Vorhandensein allgemeiner<br />
Bedingungen für die Umwälzung verwandelt sich <strong>der</strong> Aufstand in ein praktisches<br />
Problem <strong>der</strong> Kunst, das auf verschiedene Weise gelöst werden kann. In diesem ihrem<br />
Teil entsprechen die Meinungsverschiedenheiten im Zentralkomitee dem Streit <strong>der</strong><br />
Offiziere eines Generalstabs, die, in <strong>der</strong>selben militärischen Doktrin erzogen und die<br />
strategisehe Gesamtsituation in gleicher Weise einschätzend, verschiedene Varianten<br />
vorschlagen für die Lösung <strong>der</strong> nächsten, hervorragend wichtigen Aufgabe, die aber<br />
doch nur eine Teilaufgabe ist. Dabei Fragen des Marxismus und Blanquismus an den<br />
Haaren herbeiziehen, heißt, mangelndes Verständnis sowohl für das eine wie das an<strong>der</strong>e<br />
offenbaren.<br />
Professor Pokrowski bestreitet überhaupt die Bedeutung <strong>der</strong> Alternative: Sowjet o<strong>der</strong><br />
Partei? Soldaten sind ganz und gar nicht Formalisten, ironisiert er: sie brauchten den<br />
Sowjetkongreß nicht, um Kerenski zu stürzen. Bei allem Witz läßt diese Fragestellung<br />
ungeklärt: wozu überhaupt Sowjets schaffen, wenn die Partei genügt? »Interessant«,<br />
fährt <strong>der</strong> Professor fort, »daß aus diesem Bestreben, alles fast legal zu machen, sowjetlegal,<br />
nichts herauskam - und die Macht im letzten Angenblick nicht <strong>der</strong> Sowjet übernahm,<br />
son<strong>der</strong>n eine offen "illegale", ad hoc geschaffene Organisation.« Pokrowski verweist<br />
darauf, daß Trotzki gezwungen war, »im Namen des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees«<br />
und nicht des Sowjets die Regierung Kerenski als nicht mehr bestehend zu erklären. Ein<br />
völlig überraschendes Argument: Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee war ein vom<br />
Sowjet gewähltes Organ. Die führende Rolle des Komitees in <strong>der</strong> Umwälzung verletzte<br />
in keiner Weise die Sowjetlegalität, über die <strong>der</strong> Professor so höhnt, die aber die Massen<br />
eifrigst verteidigten. Der Sowjet <strong>der</strong> Volks--kommissare war ebenfalls ad hoc geschaffen,<br />
was ihn nicht hin<strong>der</strong>te, Organ <strong>der</strong> Sowjetmacbt zu sein und zu bleiben, mit Einschluß<br />
Pokrowskis selbst als Stellvertreters des Volksbildungskommissars.<br />
Auf dem Boden <strong>der</strong> Sowjetlegalität und in hohem Maße sogar im Rahmen <strong>der</strong> Doppelherrschaftstraditionen<br />
zu bleiben vermochte <strong>der</strong> Aufstand hauptsächlich infolge <strong>der</strong><br />
Tatsache, daß die Petrogra<strong>der</strong> Garnison sich bereits vor <strong>der</strong> Umwälzung fast völlig dem<br />
Sowjet untergeordnet hatte. In zahlreichen Erinnerungen, Jubiläumsartikeln und in den<br />
ersten historischen Darstellungen galt diese durch zahllose Dokumente belegte Tatsache<br />
als unbestreitbar. »Der Konflikt in Petrograd entwickelte sich bei <strong>der</strong> Frage nach dem<br />
Schicksal <strong>der</strong> Garnison«, sagt das erste Büchlein über den Oktober, das <strong>der</strong> Autor <strong>der</strong><br />
vorliegenden Arbeit nach ganz frischen Erinnerungen in den Pausen zwischen den Brest-<br />
Litowsker Verhandlungen nie<strong>der</strong>schrieb und das während einiger Jahre in <strong>der</strong> Partei die<br />
Rolle eines Geschichtslehrbuches spielte. »Die Kernfrage, um die die gesamte Bewegung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 728
im Oktober aufgebaut und organisiert wurde«, drückt sich noch deutlicher Sadowski aus,<br />
einer <strong>der</strong> unmittelbaren Organisatoren <strong>der</strong> Umwälzung, »bildete die Versetzung <strong>der</strong><br />
Petrogra<strong>der</strong> Garnisonregimenter an die Nordfront ...« Keinem <strong>der</strong> nächsten Führer des<br />
Aufstandes kam es bei einer Kollektivunterhaltung, veranstaltet mit dem direkten Zweck,<br />
den Gang <strong>der</strong> Ereignisse zu rekonstruieren, in den Sinn, Sadowski zu wi<strong>der</strong>sprechen o<strong>der</strong><br />
ihn zu korrigieren. Erst seit dem Jahre 1924 stellte sich plötzlich heraus, daß Trotzki die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Bauerngarnison zum Nachteil <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter überschätzt: eine<br />
wissenschaftliche Entdeckung, die überaus glücklich die Beschuldigung <strong>der</strong> Unterschätzung<br />
<strong>der</strong> Bauernschaft ergänzt!<br />
Dutzende, junger Historiker mit Professor Pokrowski an <strong>der</strong> Spitze erläuterten in den<br />
letzten Jahren die Bedeutung des Proletariats für die proletarische <strong>Revolution</strong>, entrüsteten<br />
sich darüber, daß wir nicht von Arbeitern sprachen in jenen Zeilen, wo bei uns von<br />
Soldaten die Rede ist, und ühertührten uns, den realen Gang <strong>der</strong> Ereignisse analysiert zu<br />
haben, statt die Schulvorlagen abzuschreiben. Die Resultate dieser Kritik preßt<br />
Pokrowski in <strong>der</strong> Schlußfolgerung zusammen: »Obgleich es Trotzki sehr wohl bekannt<br />
ist, daß <strong>der</strong> bewaffnete Aufstand von <strong>der</strong> Partei beschlossen wurde ... und es ganz klar<br />
war, daß <strong>der</strong> Vorwand für den Aufstand nur Nebensache blieb, steht nichtsdestoweniger<br />
für ihn im Zentrum des Bildes die Petrogra<strong>der</strong> Garnison ... - als wäre, hätte es diese<br />
nicht gegeben, an den Aufstand nicht zu denken gewesen.« Für unseren Historiker ist nur<br />
<strong>der</strong> "Parteibeschluß" in bezug auf den Aufstand von Bedeutung; wie sich aber <strong>der</strong><br />
Aufstand in Wirklichkeit vollzog, ist »Nebensache«; ein Vorwand findet sieh immer. Mit<br />
Vorwand bezeichnet Pokrowski das Mittel, die Truppen zu gewinnen, das heißt die<br />
Lösung eben jener Frage, aus <strong>der</strong> sich das Schicksal eines jeden Aufstandes ergibt. Die<br />
proletarische <strong>Revolution</strong> wäre zweifellos auch ohne den Konflikt wegen Abtransport <strong>der</strong><br />
Garnison erfolgt; <strong>der</strong> Professor hat recht. Doch wäre das ein an<strong>der</strong>er Aufstand gewesen,<br />
und er würde eine an<strong>der</strong>e Darstellung erfor<strong>der</strong>n. Wir aber meinen jene Ereignisse, die in<br />
Wirklichkeit geschehen sind.<br />
Einer <strong>der</strong> Organisatoren und später Historiker <strong>der</strong> Roten Garde, Malachowski, pocht<br />
seinerseits daraut daß gerade die bewaffneten Arbeiter zum Unterschiede von <strong>der</strong><br />
halbpassiven Garnison im Aufstande Initiative, Entschlossenheit und Disziplin bewiesen.<br />
»Die Rotgardistenabteilungen«, schreibt er, »besetzen während <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
Regierungsämter, Post, Telegraph, sie sind auch in allen Kämpfen vornean« ... und so<br />
weiter. Zweifrllos richtig. Es ist jedoch nicht schwer zu begreifen, daß, wenn die Rotgardisten<br />
Ämter einfach »besetzen« konnten, so nur deshalb, weil die Garnison mit ihnen<br />
war, sie unterstützte o<strong>der</strong> mindestens nicht hin<strong>der</strong>te. Dies entschied auch das Schicksal<br />
des Aufstandes.<br />
Schon die Aufwerfung <strong>der</strong> Frage, wer für die Umwälzung wichtiger sei: die Soldaten<br />
o<strong>der</strong> die Arbeiter?, beweist ein trauriges theoretisches Niveau, bei dem fast kein Platz für<br />
Diskussionen bleibt. Die Oktoberrevolution war <strong>der</strong> Kampf des Proletariats gegen die<br />
Bourgeoisie um die Macht. Aber den Ausgang des Kampfes entschied letzten Endes <strong>der</strong><br />
Muschik. Dieses allgemeine Schema, das für das ganze Land galt, fand in Petrograd den<br />
vollendetsten Ausdruck. Was hier <strong>der</strong> Umwälzung den Charakter eines kurzen Schlages<br />
mit minimalster Zahl an Opfern verlieh, war die Verbindung <strong>der</strong> revolutionären<br />
Verschwörung, des proletarischen Aufstandes mit dem Kampf <strong>der</strong> Bauerngarnison um<br />
die Selbsterhaltung. Geleitet wurde die Umwälzung von <strong>der</strong> Partei; die wichtigste<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 729
treibende Kraft war das Proletariat; die bewaifheten Arbeiterabteilungen bildeten die<br />
Faust des Aufstandes; doch den Ausgang des Kampfes entschied die schwerwiegende<br />
Bauemgarnison.<br />
Gerade in dieser Frage ist die Gegenüberstellung von Februar- und Oktoberumwälzung<br />
beson<strong>der</strong>s unersetzlich. Am Vorabend des Sturzes <strong>der</strong> Monarchie bildete die Garnison<br />
für beide Parteien das große Unbekannte. Die Soldaten selber wußten noch nicht, wie sie<br />
auf einen Aufstand <strong>der</strong> Arbeiter reagieren würden. Erst <strong>der</strong> Generalstreik vermochte die<br />
erfor<strong>der</strong>liche Arena zu schaffen für Massenzusammenstöße von Arbeitern mit Soldaten,<br />
für die Überprüfung <strong>der</strong> Soldaten durch die Tat, für den Übergang <strong>der</strong> Soldaten auf die<br />
Seite <strong>der</strong> Arbeiter. Darin eben bestand <strong>der</strong> dramatische Inhalt <strong>der</strong> fünf Februartage.<br />
Am Vorabend des Sturzes <strong>der</strong> Provisorischen Regierung stand die überwiegende<br />
Mehrheit <strong>der</strong> Garnison offen auf seiten <strong>der</strong> Arbeiter. Nirgendwo im ganzen Lande war<br />
die Regierung <strong>der</strong>art isoliert wie in ihrer Residenz: nicht umsonst drängte sie so, ihr zu<br />
entfliehen. Vergeblich: die feindliche Hauptstadt ließ sie nicht weg. Durch den erfolglosen<br />
Versuch, die revolutionären Regimenter hinauszudrängen, hatte sich die Regierung<br />
endgültig ihr Ver<strong>der</strong>ben bereitet.<br />
Kerenskis passive Politik vor <strong>der</strong> Umwälzung nur mit seinen persönlichen Eigenschaften<br />
erklären zu wollen, heißt an <strong>der</strong> Oberfläche gleiten. Kerenski stand nicht allein. In <strong>der</strong><br />
Regierung saßen Menschen wie Paltschinski, denen es an Energie nicht mangelte. Die<br />
Führer des Exckutivkomitees wußten sehr wohl, daß <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Bolschewiki ihren<br />
politischen Tod bedeuten würde. Doch waren sie alle, einzeln und zusammen,<br />
paralysiert, verharrten, wie Kerenski, in irgendeinem schweren Halbschlaf, wo <strong>der</strong><br />
Mensch, trotz <strong>der</strong> über seinem Haupte sich zusammenziehenden Gefahr, ohnmächtig ist,<br />
die Hand zur eigenen Rettung zu rühren.<br />
Die Verbrü<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeiter mit den Soldaten im Oktober erwuchs nicht, wie im<br />
Februar, aus einem offenen Straßenzusammenstoß, son<strong>der</strong>n ging dem Aufstande voraus.<br />
Wenn die Bolschewiki diesmal zum Generalstreik nicht aufriefen, so nicht deshalb, weil<br />
ihnen die Möglichkeit dazu fehlte, son<strong>der</strong>n weil sie keine Notwendigkeit dafür sahen.<br />
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee fühlte sich bereits vor <strong>der</strong> Umwälzung als Herr <strong>der</strong><br />
Lage: es kannte jeden Truppenteil in <strong>der</strong> Garnison, dessen Stimmung, innere Gruppierung;<br />
es erhielt täglich Informationen, keine aufgemachten, son<strong>der</strong>n solche, die aussprachen,<br />
was ist; es konnte zu je<strong>der</strong> Zeit in jedes Regiment einen bevollmächtigten<br />
Kommissar, einen Radler mit einem Befehl schicken, konnte sich telephonisch mit dem<br />
Komitee eines Truppenteils verbinden o<strong>der</strong> <strong>der</strong> wachthabenden Kompanie eine Or<strong>der</strong><br />
erteilen. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee nahm den Truppen gegenüber die Stellung<br />
eines Regierungsstabes, nicht aber eines Verschwörerstabes ein.<br />
Gewiß, die Kommandohöhen des Staates blieben noch in Händen <strong>der</strong> Regierung. Doch<br />
die materielle Basis war ihnen entrissen. Ministerien und Stäbe thronten über einer Leere.<br />
Telephon und Telegraph waren, wie die Staatsbank, noch im Dienste <strong>der</strong> Regierung.<br />
Doch die militärische Macht, um diese Institutionen in <strong>der</strong> Hand zu behalten, besaß die<br />
Regierung bereits nicht mehr. Winterpalais und Smolny hatten gleichsam die Plätze<br />
gewechselt. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee brachte die gespenstische Regierung in<br />
eine Lage, in <strong>der</strong> sie, ohne die Garnison nie<strong>der</strong>gerungen zu haben, nichts unternehmen<br />
konnte. Undje<strong>der</strong> Versuch Kerenskis, einen Schlag zu führen gegen die Garnison,<br />
beschleunigte nur die Lösung.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 730
Doch die Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung war noch immer ungelöst. Fe<strong>der</strong> und Gesamtmechanismus<br />
<strong>der</strong> Uhr lagen in <strong>der</strong> Hand des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees. Diesem<br />
aber fehlten Zifferblatt und Zeiger. Und ohne diese Details kann eine Uhr ihre Bestimmung<br />
nicht erfüllen. Ohne Telegraph, Telephon, Bank und ohne Stab konnte das Militärische<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee nicht regieren. Es verfügte fast über sämtliche realen<br />
Voraussetzungen und Elemente <strong>der</strong> Macht, aber nicht über die Macht selbst.<br />
Im Februar dachten die Arbeiter nicht an die Besetzung <strong>der</strong> Bank und des<br />
Winterpalais, son<strong>der</strong>n daran, wie <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Armee zu brechen wäre. Sie kämpften<br />
nicht um einzelne Kommandohöhen, son<strong>der</strong>n um die Seele des Soldaten. Als auf<br />
diesem Felde <strong>der</strong> Sieg errungen war, lösten sich alle übrigen Aufgaben von selbst:<br />
nachdem sie ihre Gardebataillone abgegeben hatte, versuchte die Monarchie nicht weiter,<br />
ihre Schlösser und ihre Stäbe zu verteidigen.<br />
Im Oktober klammerte sich Kerenskis Regierung, als sie die Seele des Soldaten<br />
unwi<strong>der</strong>ruflich verloren hatte, noch an die Kommandohöhen. In ihren Händen bildeten<br />
Stäbe, Banken, Telephone nur die Fassade <strong>der</strong> Macht. In die Hände <strong>der</strong> Sowjets gelegt,<br />
mußten sie den Besitz <strong>der</strong> vollen Macht garantieren. Das war die Lage am Vorabend des<br />
Aufstandes: sie bestimmte auch das Handeln in den letzten vierundzwanzig Stunden.<br />
Demonstrationen, Straßenkämpfe, Barrikaden, alles, was in den gewohnten Begriff des<br />
Aufstandes fällt, gab es fast nicht: die <strong>Revolution</strong> hatte nicht nötig, die bereits gelöste<br />
Aufgabe zu lösen. Die Eroberung des Regierungsapparates ließ sich planmäßig durchführen,<br />
mit Hilfe verhältnismäßig weniger, von einem Zentrum aus geleiteter bewaffneter<br />
Abteilungen. Kasernen, Festung, Lager, alle jene Einrichtungen, in denen Arbeiter und<br />
Soldaten ihre Tätigkeit ausübten, konnte man mit <strong>der</strong>en eigenen inneren Kräften erobern.<br />
Aber we<strong>der</strong> Winterpalais, noch Vorparlament, Kreisstab, Ministerien, Junkerschulen<br />
waren von innen her zu nehmen. Das galt auch für Telephon, Telegraph, Post, Staatsbank<br />
die Angestellten dieser Anstalten, von kleinem Gewicht in <strong>der</strong> Gesamtkombination <strong>der</strong><br />
Kräfte, herrschten noch in ihren vier Wänden, die überdies unter verstärktem<br />
Wachschutz standen. In die bürokratischen Höhen mußte man von außen eindringen. Die<br />
politische Eroberung mußte hier durch gewaltsame Eroberung ersetzt werden. Da jedoch<br />
die vorausgegangene Verdrängung <strong>der</strong> Regierung aus ihren militärischen Basen ihr den<br />
Wi<strong>der</strong>stand fast unmöglich machte, verlief die gewaltsame Einnahme <strong>der</strong> letzten<br />
Kommandohöhen in <strong>der</strong> Regel ohne Zusammenstöße.<br />
Allerdings ging es nicht völlig ohne Kämpfe ab: das Winterpalais mußte im Sturm<br />
genommen werden. Aber gerade die Tatsache, daß <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Regierung auf das<br />
Verteidigen des Palais hinauslief, bestimmt klar den Platz des 25. Oktober im Gange des<br />
Kampfes. Das Winterpalais war die letzte Schanze des politisch während <strong>der</strong> acht<br />
Monate seines Bestehens geschlagenen und in den letzten zwei Wochen vollends<br />
entwaffneten Regimes.<br />
Elemente <strong>der</strong> Verschwörung, versteht man darunter Plan und zentralisierte Leitung,<br />
nahmen in <strong>der</strong> Februarrevolution einen verschwindenden Platz ein. Das ergab sich schon<br />
aus <strong>der</strong> Schwäche und Zersplitterung <strong>der</strong> revolutionären Gruppen dank dem Druck des<br />
Zarismus und des Krieges. Eine um so größere Aufgabe fiel den Massen zu. Die<br />
Aufständischen waren keine menschlichen Heuschrecken. Sie hatten ihre politische<br />
Erfahrung, ihre Traditionen, ihre Parolen, ihre namenlosen Führer. Waren aber die im<br />
Aufstande zerstreuten Elemente <strong>der</strong> Führung ausreichend für den Sturz <strong>der</strong> Monarchie,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 731
so reichten sie bei weitem nicht aus, um den Siegern die Früchte ihres eigenen Sieges<br />
einzuhändigen.<br />
Die Ruhe in den Oktoberstraßen, das Fehlen von Massen und Kämpfen gaben den<br />
Gegnern Anlaß, von Verschwörung einer verschwindenden Min<strong>der</strong>heit, vom Abenteuer<br />
eines Häufleins Bolschewiki zu sprechen. Diese Formel wurde in den dem Aufstande<br />
folgenden Tagen, Monaten und sogar Jahren unzählige Male wie<strong>der</strong>holt. Offenbar um<br />
die Reputation <strong>der</strong> proletarischen Umwälzung zu verbessern, schreibt Jaroslawski über<br />
den Tag des 25. Oktober: »Dichte Massen des Petrogra<strong>der</strong> Proletariats stellten sich auf<br />
den Ruf des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees unter dessen Banner und überschwemmten<br />
die Straßen Petrograds.« Der offizielle Historiker vergißt zu erklären, zu welchem<br />
Zweck das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee die Massen auf die Straße gerufen hatte und<br />
was sie dort eigentlich getan haben.<br />
Aus <strong>der</strong> Verbindung von Macht und Schwäche <strong>der</strong> Februar-revolution erwuchs <strong>der</strong>en<br />
offizielle Idealisierung als einer allnationalen <strong>Revolution</strong> zum Unterschiede von <strong>der</strong><br />
Oktoberumwälzung als einer Verschwörung. In Wirklichkeit konnten die Bolschewiki im<br />
letzten Moment den Kampf um die Macht auf eine "Verschwörung" beschränken, nicht<br />
weil sie eine kleine Min<strong>der</strong>heit waren, son<strong>der</strong>n im Gegenteil, weil sie in den Arbeitervierteln<br />
und eine erdrückende, geschlossene, organisierte und diplinierte Mehrheit hinter<br />
sich hatten.<br />
Richtig die Oktoberumwälzung verstehen kann man nur dann, wenn man das Blickfeld<br />
nicht auf ihr abschließendes Glied beschränkt. Ende Februar wurde die Schachpartie des<br />
Auftandes vom ersten bis zum letzten Zug gespielt, das heißt bis zur Waffenstreckung<br />
des Gegners; Ende Oktober lag die Grundpartie bereits zurück, und am Tage des<br />
Aulstandes war nur die ziemlich enge Aufgabe zu lösen: Matt in zwei Zügen. Die<br />
Umwälzungsperiode muß man deshalb vom 9. Oktober rechnen, wo <strong>der</strong> Konflikt wegen<br />
<strong>der</strong> Garnison begann, o<strong>der</strong> vorn 12., wo die Gründung des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />
beschlossen wurde. Das Vernebelungsmanöver zog sich über zwei Wochen hin.<br />
Sein entscheidendster Teil dauerte fünf bis sechs Tage vom Moment <strong>der</strong> Entstehung des<br />
Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees ab. Während dieser ganzen Periode wirkten unmittelbar<br />
Hun<strong>der</strong>ttausende Arbeiter und Soldaten, defensiv <strong>der</strong> Form, offensiv dem Wesen<br />
nach. Die Schlußetappe, als die Aufständischen die Konventionen <strong>der</strong> Doppelherrschaft<br />
mit <strong>der</strong>en zweifelhafter Legalität und Defensiv-Phraseologie endgültig fallen ließen,<br />
nahm genau vierundzwanzig Stunden in Anspruch: von 2 Uhr nachts zum 25. bis 2 Uhr<br />
nachts auf den 26. Innerhalb dieser Frist wandte das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
offen Waffen an zur Eroberung <strong>der</strong> Stadt und Gefangennahme <strong>der</strong> Regierung: an den<br />
Operationen nahmen im allgemeinen so viel Kräfte teil, wie zur Lösung <strong>der</strong> begrenzten<br />
Aufgabe notwendig waren, jedenfalls kaum mehr als fünfundzwanzig bis dreißig<br />
Tausend.<br />
Ein italienischer Schriftsteller, <strong>der</strong> Bücher nicht nur über "Nächte <strong>der</strong> Eunuchen",<br />
son<strong>der</strong>n auch über höhere Staatsprobleme schreibt, besuchte 1929 Sowjet-Moskau, warf<br />
das wenige durcheinan<strong>der</strong>, was er aus fünftem und zehntem Munde gehört hatte, und<br />
baute auf diesem Fundament ein Buch auf über "Technik des Staatsstreichs". Der Name<br />
dieses Schriftstellers, Malaparte, gestattet, ihn leicht von einem an<strong>der</strong>en Spezialisten in<br />
Staatsstreichen zu unterscheiden, <strong>der</strong> den Namen Bonaparte trug.<br />
Im Gegensatz zu "Lenins Strategie", die mit den sozialen und politischen Bedingungen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 732
Rußlands von 1917 verbunden ist, »ist dagegen Trotzkis Taktik«, nach Malapartes<br />
Worten, »mit den Gesamtbedingungen des Landes nicht verknüpft!« Auf Lenins Betrachtungen<br />
über die politischen Voraussetzungen <strong>der</strong> Umwälzung läßt <strong>der</strong> Autor Trotzki<br />
antworten: »Ihre Strategie erfor<strong>der</strong>t zuviel günstige Bedingungen: die Insurrektion erfor<strong>der</strong>t<br />
nichts. Sie genügt sich selbst.« Wohl kaum ist eine Absurdität denkbar, die mehr<br />
sich selbst genügt. Malaparte wie<strong>der</strong>holt mehreremal, im Oktober habe nicht Lenins<br />
Strategie, son<strong>der</strong>n Trotzkis Taktik gesiegt. Diese Taktik bedrohe auch jetzt die Ruhe <strong>der</strong><br />
europäischen Staaten. »Lenins Strategie bildet keine unmittelbare Gefahr für Europas<br />
Regierungen. Eine aktuelle und dabei ständige Gefahr für sie ist Trotzkis Taktik.« Noch<br />
konkreter: »Man setze an die Stelle Kerenskis Poincaré, - <strong>der</strong> bolschewistische Staatsstreich<br />
vom Oktober 1917 wäre ebensogut gelungen.« Wir würden vergeblich danach<br />
forschen, wozu Lenins von historischen Bedingungen abhängige Strategie überhauptnotwendig<br />
ist, wenn Trotzkis Taktik die gleiche Aufgabe unter allen Bedingungen löst. Es<br />
bleibt hinzuzufügen, daß das hervorragende Buch bereits in mehreren Sprachen vorliegt.<br />
Staatsmänner lernen offenbar nach ihm, Staatsstreiche abzuwehren. Wollen wir ihnen<br />
allen Erfolg wünschen.<br />
Eine Kritik <strong>der</strong> rein militärischen Operationen vom 25. Oktober ist bis jetzt nicht unternommen<br />
worden. Was über diese Frage in <strong>der</strong> Sowjetliteratur existiert, trägt nicht kritischen,<br />
son<strong>der</strong>n rein apologetischen Charakter. Neben den Schriften des Epigonentums<br />
gesehen, hebt sich sogar Suchanows Kritik, trotz all ihren Wi<strong>der</strong>sprüchen, durch<br />
aufmerksames Verhalten zu den Tatsachen günstig ab.<br />
In <strong>der</strong> Bewertung <strong>der</strong> Organisierung des Oktoberaufstandes äußerte Suchanow im<br />
Laufe von einem bis zwei Jahren zwei geradezu diametral entgegengesetzte Ansichten.<br />
In dem <strong>der</strong> Februarrevolution gewidmeten Bande sagt er: »Ich werde später aufgrund<br />
persönlicher Erinnerungen die nach Noten heruntergespielte Oktoberumwälzung<br />
beschreiben.« Jaroslawski wie<strong>der</strong>holt diese Äußerung Suchanows wörtlich. »Der<br />
Aufstand in Petrograd« sagt er, »war gut vorbereitet und wurde von <strong>der</strong> Partei wie nach<br />
Noten heruntergespielt.« Wohl noch entschiedener äußert sich Claude Anet, ein gegnerischer;<br />
aber aufmerksamer, wenn auch nicht tiefer Beobachter: »Der Staatsstreich vom 7.<br />
November läßt nur Bewun<strong>der</strong>ung zu. Nicht eine Bresche, nicht ein Spalt, die Regierung<br />
fällt, ehe sie noch "Uff!" schreien kann.« Hingegen erzählt Suchanow in dem <strong>der</strong><br />
Oktoberumwälzung gewidmeten Bande, wie <strong>der</strong> Smolny »leise, tastend, behutsam und<br />
verworren« an die Liquidierung <strong>der</strong> Provisorischen Regierung heranging.<br />
Übertreibung ist sowohl im zweiten wie im ersten Urteil enthalten. Doch kann man<br />
unter einem weiten Gesichtspunkte zugeben, daß beide Einschätzungen, so sehr sie sich<br />
auch wi<strong>der</strong>sprechhen, auf Tatsachen fußen. Die Planmäßigkeit <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
erwuchs hauptsächlich aus objektiven Verhältnissen, aus <strong>der</strong> Reife <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> als<br />
Ganzes, aus <strong>der</strong> Lage Petrograds im Lande, aus <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> Regierung in Petrograd, aus<br />
<strong>der</strong> gesamten vorangegangenen Arbeit <strong>der</strong> Partei, endlich aus <strong>der</strong> richtigen Politik <strong>der</strong><br />
Umwälzung. Aber es blieb noch die Aufgabe <strong>der</strong> Kriegstechnik. Da gab es <strong>der</strong> einzelnen<br />
Fehlgriffe nicht wenig, und es kann, faßt man sie zusammen, leicht <strong>der</strong> Eindruck einer<br />
Arbeit ins Blinde hinein entstehen.<br />
Suchanow verweist mehrere Male auf die militärische Schutzlosigkeit des Smolny in<br />
den letzten Tagen vor dem Aufstande. In <strong>der</strong> Tat, noch am 23. war <strong>der</strong> Stab <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
nicht viel besser geschützt als das Winterpalais. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomi-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 733
tee sicherte seine Unangreifharkeit vor allem dadurch, daß es die Verbindung mit <strong>der</strong><br />
Garnison festigte und durch sie die Möglichkeit bekam, alle militärischen Bewegungen<br />
des Gegners zu verfolgen. Ernstere Maßnahmen kriegstechnischer Art traf das Komitee<br />
erst etwa vierundzwanzig Stunden früher als die Regierung. Suchanow ist <strong>der</strong> Überzeugung,<br />
daß die Regierung während des 23. und in <strong>der</strong> Nacht zum 24., hätte sie Initiative<br />
entwickelt, imstande gewesen wäre, das Komitee zu verhaften: »Eine gute Abteilung von<br />
fünfhun<strong>der</strong>t Mann hätte vollständig genügt, um das Smolny mit seinem gesamten Inhalt<br />
zu liquidieren.« Möglich. Doch erstens hätte die Regierung dazu Entschlossenheit und<br />
Mut nötig gehabt, das heißt Eigenschaften, die ihrer Natur entgegengesetzt waren.<br />
Zweitens war »eine gute Abteilung von fünfhun<strong>der</strong>t Mann« erfor<strong>der</strong>lich. Wo sollte man<br />
sie hernehmen? Aus Offizieren zusammenstellen? Wir haben sie Ende August in <strong>der</strong><br />
Verschwörerrolle gesehen: man mußte sie in Nachtlokalen suchen. Die Kampfmannschaften<br />
<strong>der</strong> Versöhnler waren auseinan<strong>der</strong>gefallen. In den Junkerschulen schuf jede<br />
akute Frage Gruppierungen. Noch schlimmer stand es bei den Kosaken. Eine Abteilung<br />
durch individuelle Auslese aus verschiedenen Truppenteilen zusammenzustellen, hätte<br />
bedeutet, sich zehnmal verraten, ehe das Unternehmen beendet gewesen wäre.<br />
Aber auch das Vorhandensein <strong>der</strong> Abteilung hätte noch nichts entschieden. Der erste<br />
Schuß vor dem Smolny würde in den Arbeiterbezirken und in den Kasernen einen<br />
donnernden Wi<strong>der</strong>hall geweckt haben. Dem bedrohten Zentrum <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wären zu<br />
je<strong>der</strong> Tages- und Nachtstundc Zehntausende bewaffneter und halbbewaffneter Menschen<br />
zu Hilfe geeilt. Schließlich hatte auch die Gefangennahme des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />
die Regierung nicht zu retten vermocht. Außerhalb <strong>der</strong> Smolnymauern gab es<br />
Lenin und das mit ihm verbundene Zentralkomitee und Petrogra<strong>der</strong> Komitee. In <strong>der</strong><br />
Peter-Paul-Festung saß ein zweiter Stab, auf <strong>der</strong> "Aurora" ein dritter, eigene Stäbe - in<br />
den Bezirken. Die Massen wären nicht ohne Führung geblieben. Die Arbeiter und Soldaten<br />
aber wollten trotz aller Schwerfälligkeit siegen um jeden Preis.<br />
Zweifellos hätte man ergänzende Maßnahmen militärischer Vorsicht immerhin einige<br />
Tage früher ergreifen können und ergreifen sollen. Suchanows Kritik ist in diesem Teil<br />
richtig. Der militärische <strong>Revolution</strong>sapparat arbeitet ungelenk, mit Verspätüngen und<br />
Versäumnissen, die Gesamtleitung ist allzusehr geneigt, Technik durch Politik zu ersetzen.<br />
Lenins Auge fehlt im Smolny sehr. Die an<strong>der</strong>en haben's noch nicht gelernt.<br />
Suchanow hat auch darin recht, daß das Winterpalais in <strong>der</strong> Nacht auf den 25. o<strong>der</strong> am<br />
Morgen dieses Tages unvergleichlich leichter einzunehmen gewesen wäre als in <strong>der</strong><br />
folgenden Nacht. Das Palais wie das benachbarte Stabsgebäude waren von den üblichen<br />
Junkerposten bewacht: ein überraschen<strong>der</strong> Überfall hätte fast mit Bestimmtheit Erfolg<br />
garantiert. Am Morgen fuhr Kerenski unbehin<strong>der</strong>t im Automobil weg: schon das zeigt,<br />
daß es keinen ernsthaften Beobachtungsdienst in bezug auf das Winterpalais gab. Hier<br />
bestand eine offenbare Lücke!<br />
Mit <strong>der</strong> Beobachtung <strong>der</strong> provisorischen Regierung wurden - allerdings viel zu spät:<br />
am 24! - Swerdlow und dessen Gehilfen Laschewitsch und Blagonrawow betraut.<br />
Höchstwahrscheinlich ist Swerdlow, <strong>der</strong> sich ohnehin in Stücke zerriß, kaum an diese<br />
neue Aufgabe herangetreten. Es ist sogar möglich, daß <strong>der</strong> Beschluß selbst, obwohl<br />
protokolliert, in <strong>der</strong> Hitze jener Stunden vergessen ward.<br />
Im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee überschätzte man, trotz allem, die Hilfsquellen<br />
<strong>der</strong> Regierung, insbeson<strong>der</strong>e den Schutz des Winterpalais. Wenn den unmittelbaren<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 734
Leitern <strong>der</strong> Belagerung die inneren Kräfte des Palais auch bekannt waren, so mußten sie<br />
doch befürchten, daß auf den ersten Alarm Verstärkungen eintreffen würden: Junker,<br />
Kosaken, Stoßbrigadler. Der Plan zur Einnahme des Winterpalais war im Stile einer<br />
großen Operation ausgearbeitet: wenn Zivilisten o<strong>der</strong> Halbzivilisten an die Lösung einer<br />
rein militärischen Aufgabe herangehen, neigen sie stets zu strategischen Klügeleien.<br />
Neben übermäßigem Pedantismus mußten sie dabei auch reichlich Unbeholfenheit<br />
entwickeln.<br />
Das Durcheinan<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Einnahme des Palais läßt sich bis zum gewissen Grade auch<br />
mit den persönlichen Eigenschaften <strong>der</strong> Hauptführer erklären. Podwojski, Antonow-<br />
Owssejenko, Tschudnowski - waren Menschen von heroischer Art. Aber vielleicht am<br />
wenigsten Menschen systematischen und disziplinierten Denkens. Podwojski, <strong>der</strong> sich in<br />
den Julitagen zu weit hervorgewagt hatte, war viel vorsichtiger geworden, sogar skeptischer<br />
in bezug auf die nächsten Perspektiven. Doch im wesentlichen blieb er sich treu:<br />
Angesichts einer praktischen Aufgabe war er organisch bestrebt, über ihren Rahmen<br />
hinauszugehen, den Plan zu erweitern, alles und alle hineinzuziehen, ein Maximum dort<br />
zu leisten, wo ein Minimum genügt hätte. An dem Hyperbolischen des Planes läßt sich<br />
mühelos <strong>der</strong> Stempel seines Geistes entdecken. Antonow-Owssejenko, von Charakter<br />
impulsiver Optimist, war viel fähiger zu Improvisation als zu Berechnung. Als ehemaliger<br />
kleiner Offizier verfügte er über etliche militärische Kenntnisse. Während des großen<br />
Krieges Emigrant, leitete er in <strong>der</strong> Pariser Zeitung 'Nasche Slowo' die Kriegsübersicht<br />
und bewies dabei häufig strategischen Spürsinn. Sein empfänglicher Dilettantismus<br />
konnte kein Gegengewicht schaffen zu Podwojskis Überschwenglichkeiten. Der dritte<br />
<strong>der</strong> Heerführer, Tschudnowski, hatte einige Monate an einer passiven Front als Agitator<br />
verbracht: damit war seine militärische Erfahrung erschöpft. Zum rechten Flügel hinneigend,<br />
pflegte jedoch Tschudnowski sich als erster ins Gefecht zu stürzen und stets die<br />
Stellen zu suchen, wo es am heißesten herging. Persönflcher Mut und politische<br />
Kühnheit halten sich bekanntlich nicht immer die Waage. Einige Tage nach <strong>der</strong> Umwälzung<br />
wurde Tschudnowski in <strong>der</strong> Nähe von Petrograd bei einem Zusammenstoß mit<br />
Kerenskis Kosaken verwundet und wenige Monate später in <strong>der</strong> Ukraine getötet. Es ist<br />
klar, daß auch <strong>der</strong> redselige, impulsive Tschudnowski nicht das ersetzen konnte, was den<br />
beiden an<strong>der</strong>en Führern fehlte. Nicht einer von ihnen hatte Sinn für Details, schon<br />
deshalb, weil sie nicht in das Geheimnis des Handwerks eingeweiht waren. Im Gefühl<br />
ihrer Schwäche in Fragen <strong>der</strong> Erkundung, Verbindung, Manövrierung, verspürten die<br />
roten Marschälle das Bedürfnis, sich mit solcher Übermacht auf das Winterpalais zu<br />
wälzen, daß sich die Frage <strong>der</strong> praktischen Führung erledigte: das Kolossalische eines<br />
Planes kommt dem Fehlen eines solchen fast gleich. Das Gesagte bedeutet keinesfalls,<br />
daß man im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee o<strong>der</strong> in dessen Umgebung bewan<strong>der</strong>tere<br />
militärische Leiter hätte finden können, jedenfalls nicht ergebenere und aufopferungsfähigere.<br />
Der Kampf um das Winterpalais begann mit <strong>der</strong> Umfassung des Bezirks in weiter<br />
Peripherie. Bei Unerfahrenheit <strong>der</strong> Kommandeure, lückenhafter Verbindung,<br />
Ungewandtheit <strong>der</strong> rotgardistischen Abteilungen, Schwerfälligkeit <strong>der</strong> regulären<br />
Truppenteile entwickelte sich die komplizierte Operation äußerst langsam. In den<br />
gleichen Stunden, während die roten Abteilungen den Ring allmählich abdichteten und<br />
Reserven hinter sich sammelten, drangen Junkerkompanien, Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 735
Georgskavaliere und ein Frauenbataillon zum Winterpalais durch. Die Faust des Wi<strong>der</strong>standes<br />
formierte sich gleichzeitig mit dem Angriffsring. Man darf behaupten, daß die<br />
Aufgabe selbst aus jenem allzu großen Umweg erwachsen war, <strong>der</strong> zu ihrer Lösung<br />
angewandt wurde. Indes würde ein vermessener Überfall in <strong>der</strong> Nacht o<strong>der</strong> ein kühner<br />
Angriff bei Tage nicht mehr Opfer gekostet haben als die schleichende Operation. Den<br />
moralischen Effekt <strong>der</strong> "Aurora"-Artillerie hätte man jedenfalls um zwölf und sogar um<br />
vierundzwanzig Stunden früher ausprobieren können: <strong>der</strong> Kreuzer stand in voller Bereitschaft<br />
auf <strong>der</strong> Newa, und die Matrosen klagten nicht über Mangel an Geschützöl. Doch<br />
die Leiter <strong>der</strong> Operation hofften, die Frage ohne Kampf zu entscheiden, schickten Parlamentäre,<br />
stellten Ultimatums und hielten dann die Fristen nicht inne. Rechtzeitig die<br />
Artillerie <strong>der</strong> Peter-Paul-Festung nachzuprüfen, darauf war man gerade deshalb nicht<br />
gekommen, weil man damit rechnete, ihre Hilfe entbehren zu können.<br />
Die mangelhafte Vorbereitung <strong>der</strong> militärischen Leitung offenbarte sich noch krasser<br />
in Moskau, wo das Kräfteverhältuis als <strong>der</strong>art günstig galt, daß Lenin dringend empfahl,<br />
mit Moskau sogar zu beginnen: »Der Sieg ist sicher, und es ist niemand da, <strong>der</strong> kämpfen<br />
könnte.« In Wirklichkeit nahm <strong>der</strong> Aufstand gerade in Moskau den Charakter sich<br />
hinziehen<strong>der</strong> Kämpfe an, die mit Unterbrechungen acht Tage dauerten. »Bei dieser<br />
heißen Arbeit«, schreibt Muralow, einer <strong>der</strong> Hauptleiter des Moskauer Aufstandes,<br />
»waren wir nicht immer und nicht in allem fest und entschlossen. Obwohl wir zahlenmäßig<br />
vielleicht zehnfach überlegen waren, zogen wir die Kämpfe eine Woche lang hin ...<br />
infolge unserer geringen Fähigkeit, Kampfmassen zu lenken, infolge <strong>der</strong>en Undiszipliniertheit<br />
und einer völligen Unkenntnis <strong>der</strong> Straßenkampftaktik, sowohl bei den Vorgesetzten<br />
wie bei den Soldaten.« Muralow besitzt die Gewohnheit, die Dinge beim Namen<br />
zu nennen: nicht umsonst sitzt er jetzt in <strong>der</strong> sibirischen Verbannung. Doch indem er<br />
vermeidet, die Verantwortung von sich auf an<strong>der</strong>e abzuwälzen, schiebt Muralow in<br />
diesem Falle auf das militärische Kommando den Hauptteil <strong>der</strong> Schuld <strong>der</strong> politischen<br />
Führung, die sich in Moskau durch Wankelmut auszeichnete und dem Einfluß <strong>der</strong><br />
Versöhnlerkreise leicht unterlag. Man darf jedoch auch hier nicht außer acht lassen, daß<br />
die Arbeiter des alten Moskau, <strong>der</strong> Textil- und Le<strong>der</strong>stadt, hinter dem Petrogra<strong>der</strong> Proletariat<br />
sehr weit zurückstanden. Im Februar hatte Moskau sich nicht zu erheben gebraucht:<br />
<strong>der</strong> Sturz <strong>der</strong> Monarchie fiel restlos Petrograd zu. Im Juli war Moskau wie<strong>der</strong>um ruhig<br />
geblieben. Das kam im Oktober zum Ausdruck: Arbeiter und Soldaten besaßen keine<br />
Kampierfahrung.<br />
Die Technik des Aufstandes vollendet, was die Politik nicht getan hat. Das gigantische<br />
Anwachsen des Bolschewismus schwächte zweifellos die Aufmerksamkeit ab für die<br />
militärische Seite <strong>der</strong> Sache: Lenins leidenschaftliche Vorwürfe waren berechtigt genug.<br />
Die militärische Leitung war unvergleichlich schwächer als die politische. Wie konnte es<br />
auch an<strong>der</strong>s sein? Noch während einer Reihe von Monaten wird die neue revolutionäre<br />
Macht beträchtliche Ungeschicklichkeit in all den Fällen beweisen, wo es notwendig sein<br />
wird, zur Waffe zu greifen.<br />
Und doch stellten die militärischen Autoritäten des Regierungslagers in Petrograd <strong>der</strong><br />
militärischen Leitung <strong>der</strong> Umwälzung ein durchwegs glänzendes Zeugnis aus. »Die<br />
Aufständischen bewahren Ordnung und Disziplin«, berichtete per Draht das Kriegsministerium<br />
ins Hauptquartier gleich nach dem Fall des Winterpalais. »Plün<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong><br />
Pogrome unterblieben völlig, im Gegenteil, Patrouillen Aufständischer nahmen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 736
torkelnde Soldaten fest ... Der Aufstandsplan war zweifellos im voraus ausgearbeitet<br />
worden und wurde unbeirrt und glatt durchgeführt ...« Nicht ganz »nach Noten«, wie<br />
Suchanow und Jaroslawski schrieben, aber auch nicht gar so »verworren«, wie <strong>der</strong> erste<br />
<strong>der</strong> beiden Autoren später behauptete. Außerdem krönt selbst vor dem Gericht <strong>der</strong> allerstrengsten<br />
Kritik <strong>der</strong> Erfolg die Sache.<br />
Der Kongreß <strong>der</strong> Sowjetdiktatur<br />
Am 25. Oktober sollte im Smolny das demokratischste aller Parlamente <strong>der</strong> Weltgeschichte<br />
eröffnet werden. Wer weiß: vielleicht auch das bedeutendste.<br />
Nachdem sie sich vom Einfluß <strong>der</strong> Versöhnlerintelligenz befreit hatten, entsandten die<br />
Lokalsowjets vorwiegend Arbeiter und Soldaten. Das waren meist Menschen ohne<br />
großen Namen, dafür aber durch die Tat erprobte, die sich daheim das feste Vertrauen<br />
erobert hatten. Als Delegierte <strong>der</strong> aktiven Armee hatten die Blockade <strong>der</strong> Armeekomitees<br />
und <strong>der</strong> Stäbe fast nur einfache Soldaten durchbrochen. Die meisten von ihnen waren erst<br />
mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zum politischen Leben erwacht. Die Erfahrung von acht Monaten<br />
hatte sie geformt. Ihr Wissen war nicht groß, aber fest. Das Äußere des Kongresses gab<br />
ein Bild von seiner Zusammensetzung. Offizierachselstücke, Intellektuellenbrillen und<br />
Krawatten des ersten Kongresses waren fast völlig verschwunden. Ungeteilt herrschte die<br />
graue Farbe, in <strong>der</strong> Kleidung wie auf den Gesichtern. Alles war durch die Dauer des<br />
Krieges abgetragen. Viele städtische Arbeiter hatten sich Soldatenmäntel zugelegt. Die<br />
Schützengrabendelegierten sahen gar nicht malerisch aus: seit langem unrasiert, in alten,<br />
zerrissenen Mänteln, in schweren Pelzmützen, aus denen nicht selten Watte herausquoll<br />
über zerzaustem Haar. Grobe verwittene Gesichter, schwere, rissige Hände, von Tabak<br />
gelbe Finger, abgerissene Knöpft, herabhängende Mantelgurte, verschrumpfte, rotgelbe,<br />
längst nicht mehr geschmierte Stiefel. Die plebejische Nation hatte zum erstenmal eine<br />
ehrliche, ungeschminkte Vertretung nach ihrem eigenen Ebenbild entsandt.<br />
Die Statistik des Kongresses, <strong>der</strong> sich in den Stunden des Aufstandes versammelte, ist<br />
äußerst unvollständig. Bei <strong>der</strong> Eröffnung wurden sechshun<strong>der</strong>tfünfzig Teilnehmer mit<br />
beschließen<strong>der</strong> Stimme gezählt. Auf die Bolschewiki entfielen dreihun<strong>der</strong>tueunzig<br />
Delegierte; bei weitern nicht sämtlich Parteimitglie<strong>der</strong>, waren sie dafür Fleisch vom<br />
Fleische <strong>der</strong> Massen; den Massen aber waren keine an<strong>der</strong>en Wege außer den bolschewistischen<br />
übriggeblieben. Viele <strong>der</strong> Delegierten, die Zweifel mitgebracht hatten, reiften<br />
schnell in <strong>der</strong> glühenden Atmosphäre Petrograds.<br />
Wie gründlich war es den Menschewiki und Sozialrevolutionären gelungen, das politische<br />
Kapital <strong>der</strong> Februarrevolution zu vergeuden! Auf dem Sowjetkongreß im Juni<br />
hatten die Versöhnler sechshun<strong>der</strong>t Stimmen bei einer Gesamtzahl von achthun<strong>der</strong>tzweiunddreißig<br />
Delegierten. Jetzt betrug die Versöhnleropposition aller Schattierungen kaum<br />
ein Viertel des Kongresses. Menschewiki zusammen mit den an sie angelehnten nationalen<br />
Gruppen zählte man achtzig Mann, davon etwa die Hälfte "Linke". Von den einhun<strong>der</strong>tneunundfünfzig,<br />
nach an<strong>der</strong>en Angaben einhundenneunzig Sozialrevolutionären<br />
bildeten die Linken etwa drei Fünftel, wobei die Rechten im Verlauf <strong>der</strong> Tagung immer<br />
mehr zusammenschmolzen. Gegen Ende des Kongresses erreichte die Delegiertenzahl<br />
nach manchen Aufstellungen annähernd neunhun<strong>der</strong>t Mann; doch diese nicht wenige<br />
beratende Stimmen einschließende Zahl erfaßt an<strong>der</strong>erseits nicht alle die beschließenden.<br />
Die Registrierung wurde mit Unterbrechungen vorgenommen, Dokumente gingen verlo-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 737
en, die Angaben über Parteizugehörigkeit sind nicht vollständig. Jedenfalls blieb die<br />
vorherrschende Stellung <strong>der</strong> Bolschewiki auf dem Kongreß unbestritten.<br />
Eine unter den Delegierten vorgenommene Enquete ergab, daß fünfhun<strong>der</strong>t Sowjets für<br />
die Übergabe <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets waren; sechsundachtzig für die Macht<br />
<strong>der</strong> "Demokratie"; fünfundfünfzig für eine Koalition; einundzwanzig für eine Koalition,<br />
jedoch ohne Kadetten. Beredt zwar auch in dieser Form, geben jedoch die Zahlen eine<br />
übertriebene Vorstellung vom Rest des Versöhnlereinflusses: für Demokratie und Koalition<br />
waren die Sowjets <strong>der</strong> rückständigsten Gebiete und unwichtigsten Punkte.<br />
Am 25., vom frühen Morgen an, gingen im Smolny Fraktionssitzungen. Bei den<br />
Bolschewiki waren nur jene anwesend, die von Kampfaufträgen frei waren. Die Kongreßeröffnung<br />
verzögerte sich: die bolschewistische Führung wollte vorerst mit dem<br />
Winterpalais Schluß machen. Aber auch die feindlichen Fraktionen trieben nicht zur Eile:<br />
sie mußten beschließen, was zu tun, und das war nicht leicht. Es vergingen Stunden. In<br />
den Fraktionen stritten die Unterfraktionen. Die Spaltung <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre erfolgte,<br />
nachdem die Resolution über das Verlassen des Kongresses mit zweiundneunzig<br />
gegen sechzig Stimmen abgelehnt worden war. Erst am Spätabend begannen linke und<br />
rechte Sozialrevolutionäre in getrennten Zimmern zu tagen. Die Menschewiki ersuchten<br />
uni 8 Uhr um eine neue Vertagung: bei ihnen gab es zu viele Meinungen. Die Nacht<br />
rückte näher heran. Die Operation vor dem Winterpalais zog sich hin. Doch länger zu<br />
warten, war unmöglich: man mußte dem aufhorchenden Lande ein klares Wort sagen.<br />
Die <strong>Revolution</strong> lehrte die Kunst <strong>der</strong> Verdichtung. Delegierte; Gäste, Wachen drängten<br />
sich in <strong>der</strong> Aula des Instituts für adelige Mädchen, um neuen und neuen Eintreffenden<br />
Raum zu lassen. Warnungen vor <strong>der</strong> Gefahr des Fußbodendurchbruchs blieben unbeachtet,<br />
wie auch Ermahnungen, weniger zu rauchen. Alle engten sich ein und rauchten das<br />
Doppelte. Mit Mühe bahnte sich John Reed den Weg durch die lärmende Menge an <strong>der</strong><br />
Tür. Der Saal war nicht geheizt, aber die Luft drückend und heiß.<br />
Zusammengepfercht in Saaltüren und Seitengängen, alle Fensterbretter voll besetzt,<br />
warteten die Delegierten geduldig auf die Klingel des Vorsitzenden. Auf <strong>der</strong> Tribüne<br />
waren we<strong>der</strong> Zeretelli, noch Tscheidse, noch Tschernow. Nur Führer zweiten Ranges<br />
waren zu ihrem Begräbnis erschienen. Ein Mann von kleinem Wuchs, in <strong>der</strong> Uniform<br />
eines Militärarztes, eröffnete, abends 10 Uhr 40, im Namen des Exekutivkomitees die<br />
Tagung. Der Kongreß versammele sich unter so »außerordentlichen Umständen«, daß er,<br />
Dan, den Auftrag des Zentral-Exekutivkomitees erfüllend, von einer politischen Ansprache<br />
absehen wolle: befanden sich doch seine Parteifreunde zur Stunde unter Beschießung<br />
im Winterpalais, wo sie »in aufopfern<strong>der</strong> Weise ihre Pflicht als Minister erfüllen«. Die<br />
Delegierten hatten am allerwenigsten auf den Segen des Zentral-Exekutivkomitees<br />
gewartet. Sie blickten feindselig zur Tribüne hin: falls diese Menschen politisch noch<br />
existieren, welche Beziehung haben sie zu uns und zu unserer Sache?<br />
Im Namen <strong>der</strong> Bolschewiki schlägt <strong>der</strong> Moskauer Delegierte Awanesow ein Präsidium<br />
auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Proportionalität vor: vierzehn Bolschewiki, sieben Sozialrevolutionäre,<br />
drei Menschewiki, ein Internationalist. Die Rechten lehnen sogleich die Teilnahme am<br />
Präsidium ab. Martows Gruppe hält sich vorläufig zurück: sie ist sich noch nicht schlüssig.<br />
Sieben Stimmen gehen zu den linken Sozialrevohitionären über. Der Kongreß<br />
verfolgt düster diese einleitenden Konflikte.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 738
Awanesow verliest die bolschewistischen Präsidiumskandidaten: Lenin, Trotzki,<br />
Sinowjew, Kamenjew, Rykow, Nogin, Skljanski, Krylenko, Antonow-Owssejenko,<br />
Rjasanow, Muranow, Lunatscharski, Kollontay und Stutschka. »Das Präsidium wird<br />
gebildet«, schreibt Suchanow, »aus den wichtigsten bolschewistischen Führern und<br />
sechs [in Wirklichkeit sieben] linken Sozialrevolutionären.« Als autoritäre Parteinamen<br />
werden Sinowjew und Kamenjew in das Präsidium aufgenommen, trotz ihrem Kampf<br />
gegen den Aufstand; Rykow und Nogin als Vertreter des Moskauer Sowjets; Lunatscharski<br />
und Kollontay als in jener Periode populäre Agitatoren; Rjasanow als Vertreter<br />
<strong>der</strong> Gewerkschaften; Muranow als alter Arbeiterbolschewik, <strong>der</strong> sich während <strong>der</strong><br />
Gerichtsverhandlung gegen die Dumadeputierten mutig gehalten hatte; Stutschka als<br />
Führer <strong>der</strong> lettischen Organisation; Krylenko und Skljanski als Vertreter <strong>der</strong> Armee;<br />
Antonow-Owssejenko als Leiter <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Kämpfe. Das Fehlen von Swerdlows<br />
Namen läßt sich damit erklären, daß er selbst die Liste zusammengestellt und im Trubel<br />
sie keiner korrigiert hatte. Für die damaligen Parteigebräuche ist es charakteristisch, daß<br />
ins Präsidium <strong>der</strong> gesamte Stab <strong>der</strong> Gegner des Aufstandes kam: Sinowjew, Kamenjew,<br />
Nogin, Rykow, Lunatscharski, Rjasanow. Von den linken Sozialrevolutionären genoß<br />
damals in ganz Rußland Berühmtheit nur die kleine, gebrechliche und mutige Spiridonowa,<br />
die viele Jahre Katorga hinter sich hatte wegen Tötung des Henkers <strong>der</strong> Tambower<br />
Bauern. An<strong>der</strong>e "Namen" besaßen die linken Sozialrevolutionäre nicht. Dafür aber war<br />
den Rechten außer Namen schon fast nichts mehr übriggeblieben.<br />
Der Kongreß begrüßt leidenschaftlich sein Präsidium. Lenin ist nicht auf <strong>der</strong> Tribüne.<br />
Während die Fraktionen sich versammelten und berieten, saß Lenin, noch nicht<br />
abgeschminkt, in Perücke und großer Brille, in Gesellschaft von zwei - drei Bolschewiki<br />
in einem Durchgangszimmer. Unterwegs zu ihrer Fraktion blieben Dan und Skobeljew<br />
vor dem Tische <strong>der</strong> Verschwörer stehen, blickten diese prüfend an und erkannten sichtlich<br />
Lenin. Das bedeutete: es ist Zeit, die Maske abzulegen!<br />
Lenin beeilte sich aber nicht, öffentlich aufzutreten. Er wollte vorläufig noch beobachten,<br />
die Fäden fester in seinen Händen anziehen und einstweilen hinter den Kulissen<br />
bleiben. In seinen im Jahre 1924 veröffentlichten Erinnerungen schreibt Trotzki:<br />
»Im Smolny ging die erste Sitzung des zweiten Sowjetkongresses. Lenin erschien da<br />
nicht. Er blieb in einem Zimmer des Smolny, in dem, wie ich mich entsinne, aus<br />
irgendeinem Grunde kein o<strong>der</strong> fast kein Möbelstück stand. Erst später breitete jemand<br />
Decken auf dem Fußboden aus und legte zwei Kissen darauf Zusammen mit Wladimir<br />
lljitsch ruhten wir aus, nebeneinan<strong>der</strong> liegend. Aber schon nach wenigen Minuten rief<br />
man mich: "Dan 12 spricht, man muß antworten." Nach meiner Replik zurückgekehrt,<br />
legte ich mich wie<strong>der</strong> neben Wladimir Iljitsch, <strong>der</strong> selbstverständlich nicht daran<br />
gedacht harte, einzuschlafen. Wie hätte das auch sein können! Alle fünf bis zehn<br />
Minuten kam jemand aus dem Sitzungssaal gelaufen, um mitzuteilen, was dort<br />
vorgeht.«<br />
Die Glocke des Vorsitzenden kommt in Kamenjews Hände, eines jener Phlegmatiker,<br />
die von <strong>der</strong> Natur selbst bestimmt sind zum Vorsitzführen. Auf <strong>der</strong> Tagesordnung,<br />
verkündet er, stehen drei Fragen: Organisierung <strong>der</strong> Macht; Krieg und Frieden; Einberufung<br />
<strong>der</strong> Konstitutierenden Versammlung. Ein seltsames, dumpfes, beunruhigendes<br />
Krachen durchschneidet von außen her den Versammlungslärm: die Peter-Paul-Festung<br />
12 Es handelte sich wohl um Martow, dem Trotzki antwortete.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 739
ekräftigte die Tagesordnung durch einen Artillerieschuß. Eine Welle <strong>der</strong> Hochspannung<br />
durchläuft den Kongreß, <strong>der</strong> sich sogleich als das zu fühlen beginnt, was er in Wirklichkeit<br />
ist: <strong>der</strong> Konvent des Bürgerkrieges.<br />
Losowski, Gegner des Aufstandes, for<strong>der</strong>t den Bericht vom Petrogra<strong>der</strong> Sowjet. Doch<br />
das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee hat sich verspätet: die Artillerierepliken beweisen,<br />
daß <strong>der</strong> Bericht noch nicht fertig ist. Der Aufstand ist in vollem Gange. Die Führer <strong>der</strong><br />
Bolschewiki verschwinden fortwährend in dem Raume des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees,<br />
um Informationen entgegenzunehmen o<strong>der</strong> Verfügungen zu treffen. Das Echo <strong>der</strong><br />
Kämpfe dringt in den Sitzungssaal wie Flammenzungen. Bei Abstimmungen heben sich<br />
Arme hoch zwischen Bajonettspitzen. Der grau-blaue, beißende Rauch des Machorkatabaks<br />
verhüllt die herrlichen weißen Säulen und Lüster.<br />
Die Wortscharmützel <strong>der</strong> zwei Lager erhalten auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> Kanonade<br />
ungeahnte Bedeutsamkeit. Das Wort verlangt Martow. Der Moment, wo die Waagschalen<br />
noch schwanken, ist sein Moment, dieses erfin<strong>der</strong>ischsten Politikers <strong>der</strong> ewigen<br />
Schwankungen. Mit seiner heiseren, tuberkulösen Stimme reagiert Martow sogleich auf<br />
die metallische Stimme <strong>der</strong> Geschütze: »Es ist unbedingt notwendig, die Kriegshandlungen<br />
auf beiden Seiten einzustellen ... Die Frage <strong>der</strong> Macht begann man mittels einer<br />
Verschwörung zu entscheiden ... Alle revolutionären Parteien sind vor eine vollendete<br />
Tatsache gestellt worden ... Der Bürgerkrieg droht mit dem Ausbruch <strong>der</strong> Konterrevolution.<br />
Die friedliche Lösung <strong>der</strong> Krise kann nur durch Schaffung einer Macht erreicht<br />
werden, die von <strong>der</strong> gesamten Demokratie anerkannt ist.« Ein beträchtlicher Teil des<br />
Kongresses applaudiert. Suchanow bemerkt ironisch: »Viele und viele Bolschewiki, die<br />
den Geist <strong>der</strong> Lehre von Lenin und Trotzki nicht erfaßt haben, wären wohl froh, ebendiesen<br />
Weg zu gehen.« Dem Vorschlag zu friedlichen Verhandlungen schließen sich die<br />
linken Sozialrevolutionäre und die Gruppe <strong>der</strong> vereinigten Internationalisten an. Der<br />
rechte Flügel, vielleicht aber auch Martows nächste Gesinnungsgenossen sind überzeugt,<br />
die Bolschewiki werden den Vorschlag ablehnen. Sie irren. Die Bolschewiki schicken<br />
auf die Tribüne ihren friedliebendsten, samtweichen Redner, Lunatscharski: »Die<br />
Fraktion <strong>der</strong> Bolschewiki hat absolut nichts gegen Martows Vorschlag.« Die Gegner<br />
sind verblüfft. »Lenin und Trotzki kommen ihren eigenen Massen entgegen«, kommentiert<br />
Suchanow, »und entreißen damit gleichzeitig den Rechten den Boden unter den<br />
Füßen.« Martows Vorschlag wird einstimmig angenommen. »Gehen die Menschewiki<br />
und Sozialrevolutionäre jetzt weg, dann haben sie selbst über sich das Kreuz gestellt«,<br />
erwägt man in Martows Gruppe. Man dürfe deshalb hoffen, daß <strong>der</strong> Kongreß »den richtigen<br />
Weg zur Schaffung einer demokratischen Einheitsfront betreten wird«. Eine<br />
Hoffnung! Eine <strong>Revolution</strong> bewegt sich niemals nach <strong>der</strong> Diagonale.<br />
Der rechte Flügel verletzt sofort die soeben gebilligte Initiative zu friedlichen Verhandlungen.<br />
Der Menschewik Charasch, Delegierter <strong>der</strong> 12. Armee, mit Hauptmannssternen<br />
auf den Achseln, gibt eine Erklärung ab: »Politische Heuchler schlagen vor, über die<br />
Frage <strong>der</strong> Macht zu entscheiden. Indes wird sie hinter unsere Rucken entschieden... Die<br />
Schläge gegen das Winterpalais treiben Nägel in den Sarg jener Partei, die ein solches<br />
Abenteuer unternommen hat ...« Die Herausfor<strong>der</strong>ung des Hauptmanns beantwortet <strong>der</strong><br />
Kongreß mit empörtem Murren.<br />
Leutnant Kutschin, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Staatsberatung in Moskau im Namen <strong>der</strong> Front gesprochen<br />
hatte, versucht auch hier durch die Autorität <strong>der</strong> Armeeorganisationen zu wirken:<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 740
»Dieser Kongreß ist unzeitgemäß und sogar unrechtmäßig.« In wessen Namen sprechen<br />
Sie? rufen die zeffetzten Uniformmäntel, auf denen das Mandat mit dem Lehm <strong>der</strong><br />
Schützengräben geschrieben steht. Kutschin zählt sorgfältig elf Armeen auf Doch hier<br />
kann das niemand täuschen. An <strong>der</strong> Front wie im Hinterlande sind die Generale des<br />
Versöhnlertums ohne Soldaten geblieben. Die Frontgruppe, fährt <strong>der</strong> menschewistische<br />
Leutnant fort,. »lehnt jede Verantwortung für die Folgen dieses Abenteuers ab«; das<br />
bedeutet: völliger Bruch mit <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. »Von nun an wird die Kampfarena in die<br />
einzelnen Orte verlegt«; das bedeutet: Veremigung mit <strong>der</strong> Konterrevolution gegen die<br />
Sowjets. Und als Abschluß: »die Frontgruppe ... verläßt diesen Kongreß«.<br />
Einer nach dem an<strong>der</strong>en besteigen Vertreter <strong>der</strong> Rechten die Tribüne. Sie haben<br />
Pfarren und Kirchen verloren, aber in ihren Händen sind die Glockenstühle geblieben;<br />
sie beeilen sich zum letztenmal, die gesprungenen Glocken läuten zu lassen. <strong>Sozialisten</strong><br />
und Demokraten, die mit allen Mitteln die Verständigung mit <strong>der</strong> imperialistischen<br />
Bourgeoisie verwirklicht hatten, lehnen heute kategorisch eine Verständigung mit dem<br />
aufständischen Volke ab. Ihre politische Berechnung liegt auf <strong>der</strong> Hand: die Bolschewiki<br />
werden in wenigen Tagen herunterpurzeln; man muß sich so schnell wie möglich von<br />
ihnen abgrenzen, sogar sie stürzen helfen, um damit sich und die eigene Zukunft<br />
möglichst zu sichern.<br />
Im Namen <strong>der</strong> Fraktion <strong>der</strong> rechten Menschewiki gibt Chintschuk, ehemaliger Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des Moskauer Sowjets und künftiger Sowjetgesandter in Berlin, eine Erklärung<br />
ab. »Die militärische Verschwörung <strong>der</strong> Bolschewiki ... stürzt das Land in Bru<strong>der</strong>krieg,<br />
sprengt die Konstituierende Versammlung, droht mit einer Kriegskatastrophe und führt<br />
zum Triumph <strong>der</strong> Konterrevolution.« Der einzige Ausweg: »Verhandlungen mit <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung über Bildung einer auf alle Schichten <strong>der</strong> Demokratie sich<br />
stützenden Regierung.« Unbelehrbar, schlagen diese Menschen dem Kongreß vor, ein<br />
Kreuz über den Aufstand zu machen und zu Kerenski zurückzukehren. Durch den Lärm,<br />
das Gebrüll und sogar Pfeifen kann man die Worte des Vertreters <strong>der</strong> rechten Sozialrevolutionäre<br />
kaum verstehen. Die Deklaration seiner Partei verkündet die »Unmöglichkeit<br />
einer gemeinsamen Arbeit« mit den Bolschewiki und erklärt den Sowjetkongreß selbst,<br />
einberufen und eröffnet durch das versöhnlerische Zentral-Exekutivkomitee, für unrechtmäßig.<br />
Die Demonstration <strong>der</strong> Rechten schreckt nicht, son<strong>der</strong>n wirkt nur störend, aufreizend.<br />
Bei den meisten Delegierten hat sich in <strong>der</strong> Seele zu viel Bitternis angesammelt über die<br />
anmaßenden und beschränkten Führer, die anfangs mit Phrasen und dann mit Repressalien<br />
fütterten. Beabsichtigen etwa die Dan, Chintschuk und Kutschin noch weiter zu<br />
belehren und zu kommandieren? Der lettische Soldat Peterson, mit <strong>der</strong> tuberkulösen Röte<br />
<strong>der</strong> Wangen und vor Haß brennenden Augen, entlarvt Charasch und Kutschin als<br />
Mandatsusurpatoren. »Genug <strong>der</strong> Resolutionen und des Geschwätzes! Wir brauchen<br />
Taten! Die Macht muß in unseren Händen liegen. Die Delegierten, die keiner hergeschickt<br />
hat, sollen den Kongreß verlassen, - die Armee ist nicht mit ihnen!« Diese vor<br />
Leidenschaft bebende Stimme erleichtert die Seele des Kongresses, auf den es bis dahin<br />
nur Beleidigungen gehagelt hat. An<strong>der</strong>e Frontler eilen Peterson zu Hilfe. »Die Kutschins<br />
vertreten die Meinung von Häuflein, die seit April in den Armeekomitees sitzen. Die<br />
Armee for<strong>der</strong>t längst <strong>der</strong>en Neuwahl.« - »Die Insassen <strong>der</strong> Schützengräben erwarten mit<br />
Ungeduld den Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände <strong>der</strong> Sowjets.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 741
Aber die Rechten sind noch im Besitz <strong>der</strong> Glockenstühle. Der Vertreter des "Bund"<br />
erklärt für ein »Unglück all das, was in Petrograd geschieht«, und ruft die Delegierten<br />
auf, sich den Dumaabgeordneten anzuschließen, die drauf und dran sind, unbewaffnet<br />
zum Winterpalais zu ziehen, um zusammen mit <strong>der</strong> Regierung zu sterben. »Aus dem<br />
Lärm«, schreibt Suchanow, »ertönen höhnische Bemerkungen, teils roher, teils giftiger<br />
Art.« Der pathetische Redner hat sich offenbar im Auditorium geirrt. Schluß! Deserteure!<br />
rufen Delegierte, Gäste, Rotgardisten, Soldaten <strong>der</strong> Wache den Abziehenden nach. Geht<br />
doch zu Kornilow! Volksfeinde!<br />
Der Abzug <strong>der</strong> Rechten hinterläßt keinen leeren Platz. Die grauen Delegierten lehnen<br />
es offen ab, sich Offizieren und Junkern anzuschließen für den Kampf gegen die Arbeiter<br />
und Soldaten. Von <strong>der</strong> Fraktion des rechten Flügels verließen den Saal etwa siebzig<br />
Delegierte, das heißt etwas mehr als <strong>der</strong>en Hälfte. Die Schwankenden rückten zu den<br />
Mittelgruppcn, die beschlossen hatten, den Kongreß nicht zu verlassen. Wurde vor <strong>der</strong><br />
Eröffnung <strong>der</strong> Sitzung die Zahl <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre aller Richtungen mit einhun<strong>der</strong>tneunzig<br />
gezählt, so stieg in den nächsten Stunden die Zahl allein <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre<br />
auf einhun<strong>der</strong>tachtzig: ihnen gesellten sich all jene zu, die es noch nicht wagten,<br />
sich den Bolschewiki anzuschließen, aber schon bereit waren, diese zu unterstützen.<br />
In <strong>der</strong> Provisorischen Regierung o<strong>der</strong> irgendeinem Vorparlament waren die Menschewiki<br />
und Sonalrevolurionäre bedingungslos geblieben. In <strong>der</strong> Tat, kann man denn mit <strong>der</strong><br />
gebildeten Gesellschaft brechen? Aber die Sowjets - das ist doch nur das Volk. Sowjets<br />
sind gut, solange man sich auf sie für Verständigung mit <strong>der</strong> Bourgeoisie stützen kann.<br />
Ist es aber denkbar, Sowjets zu dulden, die sich einbilden, Herren des Landes zu sein?<br />
»Die Bolschewiki blieben allein«, schrieb später <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Sensinow, »und<br />
von diesem Moment an begannen sie, sich nur auf die rohe physische Gewalt zu stützen.«<br />
Zweifellos hatte das moralische Prinzip gemeinsam mit Dan und Goz die Türe hinter sich<br />
zugewoffen. Das moralische Prinzip wird in einer Prozession von dreihun<strong>der</strong>t Mann, mit<br />
zwei Laternen, zum Winterpalais ziehen, um auf die rohe physische Gewalt <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
zu stoßen und - den Rückzug anzutreten.<br />
Der vom Sowjet gutgeheißene Vorschlag zu friedlichen Verhandlungen blieb in <strong>der</strong><br />
Luft hängen. Hätten die Rechten den Gedanken an eine Verständigung mit dem siegreichen<br />
Proletariat für möglich gehalten, sie hätten sich nicht so beeilt, mit dem Kongreß zu<br />
brechen. Martow muß, das einsehen. Doch er klammert sich an die Idee eines Kompromisses,<br />
mit <strong>der</strong> seine gesamte Politik steht und fällt. »Man muß das Blutvergießen<br />
einstellen« ..., beginnt er wie<strong>der</strong>. - »Das sind nur Gerüchte!« ruft man von den Plätzen. -<br />
»Hierher dringen nicht nur Gerüchte«, antwortet er, »wenn ihr zu den Fenstern geht,<br />
werdet ihr auch Kanonenschüsse hören.« Das läßt sich nicht bestreiten: schweigt <strong>der</strong><br />
Kongreß, dann hört man die Schüsse nicht nur an den Fenstern.<br />
Die von Martow verlesene Erklärung, den Bolschewiki durch und durch feindselig und<br />
in den Schlußfolgerungen leblos, verurteilt den Umsturz als »allein nur von <strong>der</strong> bolschewistischen<br />
Partei vollzogen mit den Mitteln <strong>der</strong> reinen militärischen Verschwörung« und<br />
verlangt, die Arbeit des Kongresses einzustellen bis zur Verständigung mit »allen sozialistischen<br />
Parteien«. In <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> <strong>der</strong> Resultante nachzujagen, ist schlimmer, als<br />
seinen eigenen Schatten fangen zu wollen!<br />
In diesem Moment erscheint in <strong>der</strong> Sitzung, mit Joffe, dem künftigen ersten Sowjetgesandten<br />
in Berlin, an <strong>der</strong> Spitze, die bolschewistische Fraktion <strong>der</strong> Stadtduma, die darauf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 742
verzichtet hat, den problematischen Tod vor den Mauern des Winterpalais zu suchen.<br />
Der Kongreß verdichtet sich erneut und empfängt seine Freunde mit freudigen Begrüßungen.<br />
Doch man muß Martow eine Zurückweisung erteilen. Diese Aufgabe fällt Trotzki zu.<br />
»Jetzt, nach dem Auszug <strong>der</strong> Rechten, ist seine Position«, gesteht Suchanow, »ebenso<br />
stark, wie Martows Position schwach ist.« Die Gegner stehen nebeneinan<strong>der</strong> auf <strong>der</strong><br />
Tribüne, von allen Seiten durch einen dichten Ring erregter Delegierten eingezwängt.<br />
»Das, was geschehen ist«, sagt Trotzki, »ist ein Aufstand und keine Verschwörung. Der<br />
Aufstand <strong>der</strong> Volksmassen bedarf nicht <strong>der</strong> Rechtfertigung. Wir haben die revolutionäre<br />
Energie <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten gestählt. Wir haben offen den Willen <strong>der</strong><br />
Massen für den Aufstand und nicht für die Verschwörung geschmiedet ... Unser Aufstand<br />
hat gesiegt. Und jetzt schlägt man uns vor: verzichtet auf euren Sieg, geht eine Verständigung<br />
ein. Mit wem? Ich frage: mit wem sollen wir die Verständigung eingehen? Mit<br />
jenen kläglichen Häuflein, die davongelauten sind? ... Aber wir haben sie in all ihrer<br />
Größe gesehen. Hinter ihnen steht niemand in Rußland. Mit ihnen sollen sich verständigen,<br />
als Gleiche mit Gleichen, Millionen auf diesem Kongreß vertretene Arbeiter und<br />
Bauern, die jene gegen eine Gunst <strong>der</strong> Bourgeoisie nicht zum ersten - und nicht zum<br />
letztenmal auszutauschen bereit sind. Nein, hier ist eine Verständigung nicht am Platz!<br />
Jenen, die von hier weggegangen sind, wie jenen, die mit solchen Vorschlägen kommen,<br />
müssen wir sagen: ihr seid armselige Einzelgänger, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist<br />
ausgespielt, schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong>!« ...<br />
»Dann gehen wir!« schreit Martow, ohne eine Abstimmung des Kongresses abzuwarten.<br />
»Martow bahnte sich im Zorn und Affekt«, bedauert Suchanow, »den Weg zum<br />
Rampenausgang. Während ich daranging, unsere Fraktion zu einer außerordentlichen<br />
Beratung zusammenzurufen« ... Es hatte sich aber gar nicht um einen Affekt gehandelt.<br />
Ein Hamlet des demokratischen Sozialismus, machte Martow einen Schritt vorwärts,<br />
wenn die <strong>Revolution</strong> im Absteigen war, wie im Juli; jetzt, wo die <strong>Revolution</strong> daran war,<br />
einen Löwensprung zu tun, trat Martow den Rückzug an. Der Abmarsch <strong>der</strong> Rechten<br />
beraubte ihn <strong>der</strong> Möglichkeit des parlamentarischen Manövrierens. Ihm wurde sogleich<br />
ungemütlich. Er eilte, den Kongreß zu verlassen, um sich vom Aufstand loszureißen.<br />
Suchanow opponierte, so gut er konnte. Die Fraktion teilte sich in fast zwei gleiche<br />
Hälften: mit vierzehn gegen zwölf Stimmen siegte Martow.<br />
Trotzki empfiehlt dem Kongreß eine Resolution - einen Anklageakt gegen die<br />
Versöhnler: sie haben den unheilvollen Angriff vom 18. Juni vorbereitet; sie haben die<br />
Regierung des Volksverrats gestützt; sie haben den Betrug an den Bauern in <strong>der</strong> Bodenfrage<br />
gedeckt; sie haben die Entwaffnung <strong>der</strong> Arbeiter durchgeführt; sie sind für die<br />
sinnlose Kriegsverlängerung verantwortlich; sie haben <strong>der</strong> Bourgeoisie erlaubt, den<br />
Wirtschaftszerfall zu vertiefen; nachdem sie das Vertrauen <strong>der</strong> Massen verloren, haben<br />
sie sich <strong>der</strong> Einberufung des Sowjetkongresses wi<strong>der</strong>setzt; schließlich haben sie, in die<br />
Min<strong>der</strong>heit geraten, mit den Sowjets gebrochen.<br />
Wie<strong>der</strong> eine Erklärung außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung: wahrhaftig, die Geduld des<br />
bolschewistischen Präsidiums kennt keine Grenzen. Ein Vertreter vom Exekutivkomitee<br />
<strong>der</strong> Bauemsowjets sei mit dem Auftrag gekommen, die Bauern aufzufor<strong>der</strong>n, diesen<br />
»unzeitgemäßen« Kongreß zu verlassen und zum Winterpalais zu ziehen, »um gemein-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 743
sam mit jenen zu sterben, die hingeschickt wurden, unseren Willen in die Tat<br />
umzusetzen.« Die Aufrufe, unter den Ruinen des Winterpalais zu sterben, wirken durch<br />
ihre Monotonie schon reichlich langweilig. Ein soeben im Kongreß erschienener Matrose<br />
<strong>der</strong> "Aurora" erklärt ironisch, es gäbe keine Ruinen, da man vom Kreuzer aus nur Blindschüsse<br />
abgegeben habe. »Setzt die Arbeiten unbesorgt fort.« Der Kongreß ruht seelisch<br />
aus an diesem großartigen, schwarzbärtigen Matrosen, <strong>der</strong> den einfachen und gebieterischen<br />
Willen des Aufstandes verkörpert. Martow mit seiner Gefühls- und Gedankenmosaik<br />
gehört einer an<strong>der</strong>en Welt an: deshalb eben bricht er mit dem Kongreß.<br />
Noch eine Erklärung außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung, diesmal halbfreundschaftlich: »Die<br />
rechten Soziatrevolutionäre«, sagt Kamkow, »sind weggegangen, aber wir, linken, sind<br />
geblieben.« Der Kongreß begrüßt die Dagebliebenen. Aber auch sie erachten die<br />
Verwirklichung <strong>der</strong> revolutionären Einheitsfront für notwendig und sind gegen Trotzkis<br />
scharfe Resolution, die die Türen vor einer Verständigung mit <strong>der</strong> gemäßigten Demokratie<br />
verschließt.<br />
Die Bolschewiki zeigen auch hierbei Entgegenkommen. Derart nachgiebig hat man sie<br />
wohl noch nie gesehen. Nicht verwun<strong>der</strong>lich: sie sind die Herren <strong>der</strong> Lage und haben es<br />
nicht nötig, auf Worte zu bestehen. Auf <strong>der</strong> Tribüne ist wie<strong>der</strong> Lunatscharski. »Die<br />
Schwierigkeit <strong>der</strong> Aufgabe, die uns zugefallen ist, - unterliegt keinem Zweifel.« Eine<br />
Vereinigung aller wahrhaft revolutionären Elemente <strong>der</strong> Demokratie ist notwendig. Aber<br />
haben wir, Bolschewiki, irgendeinen Schritt getan, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Gruppen abstößt? Haben<br />
wir nicht einstimmig Martows Vorschlag angenommen? Man hat uns darauf mit<br />
Beschuldigungen und Drohungen geantwortet. Ist es denn nicht offensichtlich, daß jene,<br />
die den Kongreß verlassen haben, »sogar ihre versöhnlerische Tätigkeit einstellen und<br />
offen ins Lager <strong>der</strong> Kornilowianer übergehen?«<br />
Die Bolschewiki bestehen nicht auf sofortige Abstimmung über Trotzkis Resolution:<br />
sie wollen die Versuche nicht stören, eine Verständigung auf <strong>der</strong> Sowjetbasis zu erreichen.<br />
Die Methode des Anschauungsunterrichts kann auch unter Artilleriebegleitung<br />
erfolgreich angewandt werden! Wie früher die Annahme des Martowschen Antrages, so<br />
enthüllt jetzt auch das Zugeständnis an Kamkow nur die Ohnmacht <strong>der</strong> Versöhnlerzukkungen.<br />
Zum Unterschiede von den linken Menschewiki verlassen jedoch die linken<br />
Sozialrevolutionäre den Kongreß nicht: sie verspüren allzu unmittelbar an sich selbst den<br />
Druck des aufständischen Dorfes.<br />
Die gegenseitige Abtastung ist vorgenommen. Die Ausgangspositionen sind bezogen.<br />
In <strong>der</strong> Entwicklung des Kongresses gibt's eine Stockung. Grundlegende Dekrete annehmen<br />
und eine Sowjetregierung schaffen? Unmöglich: noch sitzt die alte Regierung im<br />
Winterpalais, in dem halbdunklen Saal, wo die einzige Lampe auf dem Tisch mit einer<br />
Zeitung abgedeckt ist. Nach 2 Uhr nachts, verkündet das Präsidium eine Pause von einer<br />
halben Stunde.<br />
Die roten Marschälle nutzten die ihnen gebotene kurze Frist erfolgreich aus. Irgend<br />
etwas Neues wehte in <strong>der</strong> Kongreßatmosphäre, als die Sitzung wie<strong>der</strong> aufgenommen<br />
wurde. Kamenjew verkündet von <strong>der</strong> Tribüne herab, die soeben von Antonow übermittelte<br />
telephonische Meldung: das Winterpalais ist von den Truppen des Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitees genommen; mit Ausnahme von Kerenski ist die gesamte Provisorische<br />
Regierung mit dem Diktator Kischkin an <strong>der</strong> Spitze verhaftet. Obwohl bereits alle<br />
die Kunde von Mund zu Mund effahren hatten, fällt die offizielle Mitteilung gewichtiger<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 744
als ein Kanonensalut. Der Sprung über den Abgrund, <strong>der</strong> die revolutionäre Klasse von<br />
<strong>der</strong> Macht getrennt hatte, ist getan. Im Juli aus <strong>der</strong> Villa Kschessinskaja verjagt, treten<br />
jetzt die Bolschewiki als Herrscher ins Winterpalais ein. In Rußland gibt es keine an<strong>der</strong>e<br />
Macht außer diesem Kongreß. Der komplizierte Gefühlsknäuel macht sich Luft in Beifall<br />
und Zurufen: Triumph, Hoffnung, aber auch Besorgnis. Neue, immer zuversichtlichere<br />
Beifallsausbrüche. Es ist vollbracht! Auch das allergünstigste Kräfteverhälmis birgt<br />
Überraschungen in sich. Der Sieg wird unbestreitbar, wenn <strong>der</strong> feindliche Stab gefangen<br />
ist.<br />
Kamenjew verliest eindrucksvoll die Liste <strong>der</strong> Verhafteten. Die bekanntesten Namen<br />
rufen beim Kongreß feindselige o<strong>der</strong> ironische Ausrufe hervor. Mit beson<strong>der</strong>er Erbitterung<br />
wird Tereschtschenkos Namen aufgenommen, des Lenkers <strong>der</strong> Außengeschicke<br />
Rußlands. Und Kerenski? Kerenski? Es ist bekannt, daß er um 10 Uhr morgens ohne<br />
großen Erfolg vor <strong>der</strong> Garnison in Gatschina sprach. »Wohin er sich dann begeben hat,<br />
ist nicht genau bekannt: nach Gerüchten - zur Front.«<br />
Die Mitläufer des Umsturzes fühlen sich nicht ganz wohl. Sie ahnen, daß <strong>der</strong> Schritt<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki von nun an fester werden wird. Einer <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre<br />
protestiert gegen die Gefangennahme <strong>der</strong> sozialistischen Minister. Der Vertreter <strong>der</strong><br />
vereinigten Internationalisten warnt: <strong>der</strong> Ackerbauminister Maslow könnte in die gleiche<br />
Zelle geraten, in <strong>der</strong> er unter <strong>der</strong> Monarchie saß. »Die politische Gefangennahme«,<br />
antwortet Trotzki, <strong>der</strong> unter dem Minister Maslow in dem gleichen "Kresty" gesessen<br />
hatte wie unter Nikolaus, »ist keine Frage <strong>der</strong> Rache; sie ist diktiert ... von Erwägungen<br />
<strong>der</strong> Zweckmäßigkeit. Die Regierung ... muß vor Gericht gestellt werden, in erster Linie<br />
für ihre unbestreitbare Verbindung mit Kornilow ... Die Minister-<strong>Sozialisten</strong> werden nur<br />
in Hausarrest gehalten werden.« Einfacher und präziser wäre es gewesen zu sagen, die<br />
Festnahme <strong>der</strong> alten Regierung sei diktiert von den Notwendigkeiten des noch nicht<br />
abgeschlossenen Kampfes. Es ging um die politische Enthauptung des feindlichen Lagers<br />
und nicht um Strafe für vergangene Sünden.<br />
Doch die parlamentarische Anfrage bezüglich <strong>der</strong> Verhaftungen wird sofort von einer<br />
an<strong>der</strong>en, unermeßlich wichtigeren Episode verdrängt: das 3. Radfahrerbataillon, von<br />
Kerenski gegen Petrograd geschickt, ist auf die Seite des revolutionären Volkes übergegangen!<br />
Die allzugünstige Nachricht wirkt unwahrscheinlich; aber es verhält sich<br />
dennoch so: <strong>der</strong> erlesene Truppenteil, als erster von <strong>der</strong> gesamten aktiven Armee ausgeson<strong>der</strong>t,<br />
hatte sich, noch ehe er die Hauptstadt erreichte, dem Aufstande angeschlossen.<br />
War in <strong>der</strong> Freude über die Verhaftung <strong>der</strong> Minister ein Schatten von Zurückhaltung, so<br />
erfaßt jetzt den Kongreß ungeteilte und unaufhaltsame Begeisterung.<br />
Auf <strong>der</strong> Tribüne steht <strong>der</strong> bolschewistische Kommissar von Zarskoje Selo neben dem<br />
Delegierten des Radfahrerbataillons: beide sind soeben eingetroffen, dem Kongreß<br />
Bericht zu erstatten. »Die Garnison von Zarskoje Selo bewacht die Anmarschstraßen zu<br />
Petrograd.« Die Landesverteidiger haben den Sowjet verlassen. »Die gesamte Arbeit fiel<br />
uns allein zu.« Als er vom Herannahen <strong>der</strong> Radfahrer Kenntnis erhielt, machte sich <strong>der</strong><br />
Sowjet von Zarskoje Selo auf eine Abwehr bereit. Aber die Besorgnis erwies sich zum<br />
Glück als überflüssig: »unter den Radfahrern gibt es keine Feinde des<br />
Sowjetkongresses«. Bald wird in Zarskoje ein an<strong>der</strong>es Bataillon eintreffen: diesem bereitet<br />
man schon einen freundschaftlichen Empfang vor. Der Kongreß schlürft diesen<br />
Bericht Schluck um Schluck.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 745
Der Vertreter <strong>der</strong> Radfahrer wird mit einem Sturm, einem Wirbel, einem Zyklon<br />
empfangen. Von <strong>der</strong> Südwestfront hatte man das 3. Bataillon plötzlich auf telegraphischen<br />
Befehl hin nach dem Norden kommandiert: »Petrograd verteidigen.« Die Radfahrer<br />
waren »mit verbundenen Augen« vorgerückt, nur dunkel ahnend, um was es ging.<br />
Auf <strong>der</strong> Station Peredolsk waren sie mit einer Staffel des 5. Radfahrerbataillons zusammengetroffen,<br />
die man ebenfalls nach Petrograd führte. Bei einem gemeinsamen Meering<br />
an Ort und Stelle auf <strong>der</strong> Station ergab sich, daß »unter allen Radfahrern nicht ein Mann<br />
zu finden ist, <strong>der</strong> bereit wäre, gegen die Brü<strong>der</strong> zu kämpfen«. Gemeinsam wird beschlossen:<br />
<strong>der</strong> Regierung den Gehorsam zu verweigern. »Ich erkläre euch konkret«, sagt <strong>der</strong><br />
Radfahrer, »wir werden die Macht keiner Regierung geben, an <strong>der</strong>en Spitze Bourgeois<br />
und Gutsbesitzer stehen!« Das Wort "konkret", von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in den Volksgebrauch<br />
eingeführt, klingt gut in diesem Augenblick!<br />
Ist's lange her, daß man von dieser Tribüne herab dem Kongreß mit Strafen seitens <strong>der</strong><br />
Front drohte? Jetzt hat die Front selbst ihr "konkretes" Wort gesprochen. Mögen die<br />
Armeekomitees den Kongreß sabotieren. Mag <strong>der</strong> einfachen Soldatenmasse es nur in<br />
Ausnahmefällen gelungen sein, ihre Delegierten zu schicken. Mag man in vielen<br />
Regimentern und Divisionen noch nicht gelernt haben, einen Bolschewik von einem<br />
Sozialrevolutionär zu unterscheiden. Das bleibt sich gleich! Die Stimme von <strong>der</strong> Station<br />
Peredolsk ist die echte, unbeirrte, unwi<strong>der</strong>legbare Stimme <strong>der</strong> Armee. Gegen dieses<br />
Verdikt gibt es keine Appellation, Die Bolschewiki und nur sie allein haben rechtzeitig<br />
erkannt, daß <strong>der</strong> Militärkoch des Radfahrerbataillons unermeßlich besser die Front<br />
verkörpert als alle die Charasch und Kutschin mit ihren verwesten Mandaten. In <strong>der</strong><br />
Stimmung <strong>der</strong> Delegierten vollzieht sich eine bedeutsame Wendung. »Man beginnt zu<br />
fühlen«, schreibt Suchanow, »daß die Sache glatt und glücklich verläuft, daß die von<br />
rechts angekündigten Schrecken gar nicht so gefährlich sind und daß die Führer<br />
vielleicht auch in allem an<strong>der</strong>en Recht behalten könnten.«<br />
Diesen Augenblick wählten die unglückseligen linken Menschewiki, um sich in<br />
Erinnerung zu bringen. Sie sind, wie sich herausstellt, noch nicht weggegangen. Sie<br />
haben in ihrer Fraktion nur die Frage beraten, was zu tun sei. In dem Bestreben, die<br />
schwankenden Gruppen mitzureißen, nennt Kapelinski, beauftragt, den angenommenen<br />
Beschluß dem Kongreß mitzuteilen, endlich laut das offenherzigste Argument für den<br />
Bruch mit den Bolschewiki: »Denkt daran, daß nach Petrograd Truppen unterwegs sind.<br />
Uns droht eine Katastrophe.« Was, ihr seid noch hier? ertönt es von verschiedenen<br />
Seiten des Saales. Ihr seid doch schon einmal Weggegangen! Die Menschewiki bewegen<br />
sich im kleinen Häuflein dem Ausgang zu, unter verächtlichen Geleitworten. »Wir<br />
entfernten uns«, trauert Suchanow, »und gaben den Bolschewiki die Hände völlig frei,<br />
indem wir ihnen die gesamte Arena <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> überließen.« Nicht viel hätte sich<br />
geän<strong>der</strong>t, auch wenn sie geblieben wären. Jedenfalls gehen sie auf Grund. Die Wellen<br />
<strong>der</strong> Ereignisse schließen sich unbarmherzig über ihren Köpfen.<br />
Es wäre nun Zeit, daß <strong>der</strong> Kongreß sich mit einem Aufruf an das Volk wendet. Doch<br />
besteht <strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> Sitzung wie früher nur aus Erklärungen außerhalb <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />
Die Ereignisse wollen sich <strong>der</strong> Tagesordnung absolut nicht anpassen. Um 5 Uhr 17<br />
Minuten, morgens besteigt schwankend vor Müdigkeit Krylenko mit einem Telegramm<br />
in <strong>der</strong> Hand die Tribüne: die 12. Armee entsendet dem Kongreß ihren Gruß und meldet<br />
die Bildung eines Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, das die Überwachung <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 746
Nordfront übernahm. Versuche <strong>der</strong> Regierung, bewaffnete Hilfe zu bekommen, sind an<br />
dem Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Truppen zerschellt. Der Hauptkommandierende <strong>der</strong> Nordfront,<br />
General Tscheremissow, hat sich dem Komitee untergeordnet. Der Kommissar <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung, Wojtinski, hat demissioniert und wartet auf den Nachfolger.<br />
Delegationen von den nach Petrograd entsandten Staffeln erklären eine nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n<br />
dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee ihren Anschluß an die Petrogra<strong>der</strong> Garnison. »Es<br />
trat etwas Unbeschreibliches ein«, schreibt Reed, »Menschen weinten, einan<strong>der</strong><br />
umarmend.«<br />
Lunatschanki erhält endlich die Möglichkeit, den Aufruf an die Arbeiter, Soldaten und<br />
Bauern zu verlesen. Doch ist es nicht einfach ein Aufruf: schon durch die Darstellung<br />
dessen, was geschehen und was beabsichtigt ist, legt das in aller Eile verfaßte Dokument<br />
den Grundstein zum neuen Staatsregime. »Die Vollmachten des versöhnlerischen<br />
Zentral-Exekutivkomitees sind zu Ende. Die Provisorische Regierung ist abgesetzt. Der<br />
Kongreß nimmt die Macht in seine Hände.« Die Sowjetregierung werde einen sofortigen<br />
Frieden anbieten, den Boden den Bauern übergeben, die Armee demokratisieren,<br />
Kontrolle über die Produktion errichten, beizeiten die Konstituierende Versammlung<br />
einberufen, den Nationen Rußlands das Recht auf Selbstbestimmung garantieren. »Der<br />
Kongreß bestimmt: die ganze Macht an den Orten geht auf die Sowjets über.« Je<strong>der</strong><br />
verlesene Satz löst im Saal Beifalissalven aus. »Soldaten! Seid auf <strong>der</strong> Hut! Eisenbahner!<br />
Haltet alle von Kerenski gegen Petrograd ausgesandten Staffeln auf! ... In euren Händen<br />
liegt das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und das Schicksal des demokratischen Friedens!«<br />
Als sie von Boden hören, horchen die Bauern auf. Statutengemäß vertritt <strong>der</strong> Kongreß<br />
nur die Arbeiter- und Soldatensowjets; doch nehmen an ihm auch Delegierte einzelner<br />
Bauernsowjets teil: jetzt verlangen sie, daß man auch sie im Dokument erwähne. Es wird<br />
ihnen sofort das Recht <strong>der</strong> beschließenden Stimme zugebilligt. Der Vertreter des Petrogra<strong>der</strong><br />
Bauernsowjets unterschreibt »mit Händen und Füßen« den Aufruf. Das bis jetzt<br />
schweigsam gewesene Mitglied des Awksentjewschen Exekutivkomitees, Beresin, teilt<br />
mit, daß von den achtundsechzig Bauernsowjets, die auf eine telegraphische Umfrage<br />
antworteten, die Hälfte sich für den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Sowjets ausgesprochen<br />
habe, die an<strong>der</strong>e Hälfte für den Übergang <strong>der</strong> Macht an die Konstituierende Versammlung.<br />
Wenn das die Stimmung <strong>der</strong> halbbeamteten Gouvernementssowjets ist, kann man<br />
da zweifeln, daß <strong>der</strong> künftige Bauernkongreß die Sowjetmacht unterstützen wird?<br />
Während er die Delegierten im allgemeinen fester zusammenschließt, schreckt und<br />
stößt <strong>der</strong> Aufruf durch seine Unwi<strong>der</strong>ruflichkeit manchen Mitläufer ab. Wie<strong>der</strong> defilieren<br />
auf <strong>der</strong> Tribüne kleine Fraktionen und Absplitterungen. Zum drittenmal bricht mit dem<br />
Kongreß ein Häuflein Menschewiki, wohl die allerlinkesten. Es zeigt sich, daß sie<br />
weggehen, nur um die Möglichkeit zu behalten, die Bolschewiki zu retten: »an<strong>der</strong>nfalls<br />
richtet ihr euch, uns und die <strong>Revolution</strong> zugrunde«. Der Vertreter <strong>der</strong> polnischen sozialistischen<br />
Partei, Lapinski, bleibt zwar auf dem Kongreß, um »den eigenen Standpunkt bis<br />
zu Ende zu verteidigen«, schließt sich jedoch im Wesen Martows Resolution an: »die<br />
Bolschewiki werden mit <strong>der</strong> Macht, die sie übernehmen, nicht fertigwerden«. Die vereinigte<br />
jüdische Arbeiterpartei enthält sich <strong>der</strong> Abstimmung. Ebenso die vereinigten Internationalisten.<br />
Wieviel werden alle diese "Vereinigten" zusammen ausmachen? Der<br />
Aufruf wird mit allen gegen zwei Stimmen, bei zwölf Stimmenthaltungen, angenommen!<br />
Die Kräfte <strong>der</strong> Delegierten reichen kaum noch für den Beifall aus.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 747
Die Sitzung wird endlich gegen 7 Uhr morgens geschlossen. Über <strong>der</strong> Stadt dämmert<br />
ein kalter, grauer Herbstmorgen. In den sich allmählich erhellenden Straßen erlöschen<br />
die brennenden Flecke <strong>der</strong> Holzfeuer. Die fahlen Gesichter <strong>der</strong> Soldaten und <strong>der</strong> Arbeiter<br />
mit Gewehren sind verschlossen und ungewöhnlich. Hat es in Petrograd Astrologen<br />
gegeben, sie müssen wichtige Himmelserscheinungen beobachtet haben.<br />
Die Hauptstadt erwacht unter einer neuen Macht. Einwohner, Beamte, Intellektuelle,<br />
mit <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong> Ereignisse nicht verbunden, stürzen sich morgens auf die Zeitungen,<br />
um zu erfahren, an welches Ufer die nächtliche Welle sie geschlagen hat. Doch ist es<br />
nicht leicht, Klarheit darüber zu gewinnen, was vorgefallen ist. Zwar berichten die<br />
Zeitungen, die Verschwörer hätten sich des Winterpalais und <strong>der</strong> Minister bemächtigt,<br />
aber doch nur wie über eine flüchtige Episode. Kerenski sei ins Hauptquartier abgereist,<br />
über das Schicksal <strong>der</strong> Regierung werde die Front entscheiden. Kongreßberichte bringen<br />
nur die Erklärungen <strong>der</strong> Rechten, führen die Namen jener an, die den Kongreß verlassen<br />
haben, und entlarven die Ohnmacht <strong>der</strong> Verbliebenen. Die politischen Artikel, geschrieben<br />
noch vor <strong>der</strong> Einnahme des Winterpalais, atmen wolkenlosen Optimismus.<br />
Die Gerüchte <strong>der</strong> Straße entsprechen nicht ganz dem Ton <strong>der</strong> Zeitungen. Immerhin<br />
säßen die Minister ja in <strong>der</strong> Festung. Von Kerenskis Verstärkungen sei vorläufig nichts<br />
zu sehen. Beamte und Offiziere sind erregt und beraten miteinan<strong>der</strong>. Journalisten und<br />
Advokaten telephonieren sich gegenseitig an. Die Redaktionen sammeln ihre Gedanken.<br />
Die Salonorakel sagen: man müsse die Usurpatoren mit einer Blockade allgemeiner<br />
Verachtung umgeben. Kaufleute sind im Zweifel: sollen sie die Läden öffnen o<strong>der</strong><br />
geschlossen halten. Die neue Behörde befiehlt, die Läden zu öffnen. Die Restaurants<br />
werden aufgemacht. Die Trambahn fährt. Die Banken werden von schlimmen Ahnungen<br />
gequält. Die Seismographen <strong>der</strong> Börse zeichnen eine konvulsive Kurve. Gewiß, die<br />
Bolschewiki werden sich nicht lange halten, aber bevor sie stürzen, können sie viel<br />
Unheil anrichten.<br />
Der reaktionäre französische Journalist Claude Anet schrieb an diesem Tage: »Die<br />
Sieger singen ein Siegeslied. Und mit vollem Recht. Zwischen all diesen Schwätzern<br />
haben sie gehandelt ... Heute ernten sie die Früchte. Bravo! Tüchtige Arbeit.« Ganz<br />
an<strong>der</strong>s schätzten die Menschewiki die Lage ein. »Vierundzwanzig Stunden sind im<br />
ganzen seit dem "Siege" <strong>der</strong> Bolschewiki vergangen«, schrieb Dans Zeitung, »aber schon<br />
beginnt das historische Geschick sich bitter an ihnen zu rächen ..., um sie herrscht eine<br />
Leere, die sie selbst geschaffen haben ..., sie sind von allen isoliert ..., <strong>der</strong> gesamte<br />
beamtete und technische Apparat verweigert ihnen den Dienst ... Sie ... stürzen just im<br />
Moment ihres Triumphes in den Abgrund .«<br />
Von <strong>der</strong> Beamtensabotage und dem eigenen Leichtsinn ermuntert, glaubten die liberalen<br />
und die Versöhnlerkreise seltsamerweise an ihre Straffreiheit. Über die Bolschewiki<br />
redete und schrieb man in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Julitage: »Wilhelms Mietlinge«, »die Taschen<br />
<strong>der</strong> Rotgardisten sind mit deutscher Mark angefüllt«, »den Aufstand befehligten deutsche<br />
Offiziere«... Die neue Macht mußte diesen Menschen erst ihre feste Hand zeigen, ehe sie<br />
begannen, an diese zu glauben. Die zügellosesten <strong>der</strong> Zeitungen wurden schon in <strong>der</strong><br />
Nacht auf den 26. beschlagnahmt. Einige an<strong>der</strong>e während des Tages konfisziert. Die<br />
sozialistische Presse blieb fürs erste geschont: man mußte den linken Sozialrevolutionären,<br />
aber auch einigen Elementen <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, Zeit lassen, sich zu<br />
überzeugen von <strong>der</strong> Grundlosigkeit <strong>der</strong> Hoffnungen auf eine Koalition mit <strong>der</strong> offiziellen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 748
Demokratie.<br />
Zwischen Sabotage und Chaos entwickelten die Bolschewiki ihren Sieg weiter. Der in<br />
<strong>der</strong> Nacht gebildete provisorische Kriegsstab ging an die Verteidiger Petrograds für den<br />
Fall eines Angriffs seitens Kerenskis. In die Telephonzentrale, wo ein Streik begann,<br />
wurden militärische Telephonisten abkommandiert. Den Armeen wurde vorgeschlagen,<br />
eigene Militärische <strong>Revolution</strong>skomitees zu schaffen. An die Front und in die Provinz<br />
entsandte man haufenweise nach dem Siege frei gewordene Agitatoren und Organisatoren.<br />
Das Zentralorgan <strong>der</strong> Partei schrieb: »Der Petrogra<strong>der</strong> Sowjet hat begonnen - die<br />
Reihe ist nun an den an<strong>der</strong>en Sowjets.«<br />
Im Laufe des Tages kam eine Nachricht, die beson<strong>der</strong>s die Soldaten in Harnisch brachte:<br />
Kornilow ist geflüchtet. In Wirklichkeit war <strong>der</strong> hohe Arrestant, <strong>der</strong> in Bychow unter<br />
Schutz <strong>der</strong> ihm treu ergebenen Tekiner lebte und durch Kerenskis Hauptquartier über alle<br />
Ereignisse informiert wurde, am 26. zu <strong>der</strong> Einsicht gelangt, die Sache nehme eine ernste<br />
Wendung, und hatte ohne alle Schwierigkeiten sein Scheingefängnis verlassen. Die<br />
Verbindung zwischen Kerenski und Kornilow erhielt vor den Augen <strong>der</strong> Massen neuerdings<br />
anschauliche Bestätigung. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee rief telegraphisch<br />
Soldaten und revolutionäre Offiziere auf, beide ehemaligen Höchstkommandierenden zu<br />
fangen und nach Petrograd zu bringen.<br />
Wie im Februar das Taurische Palais, so wurdejetzt das Smolny Mittelpunkt aller<br />
Hauptstadt- und Staatsfunktionen. Hier tagten sämtliche Regierungsinstitutionen. Von<br />
hier ergingen die Befehle, und hierher kam man, sie in Empfang zu nehmen. Hier wurden<br />
Waffen angefor<strong>der</strong>t, und hierher wurden die bei den Feinden konfiszierten Gewehre und<br />
Revolver gebracht. Aus verschiedenen Stadtteilen lieferte man Gefangene ein. Schon<br />
strömten, Recht suchend, Gekränkte herbei. Das bürgerliche Publikum und die verängstigten<br />
Droschkenkutscher machten um den Smolnybezirk einen großen Bogen.<br />
Das Automobil ist ein viel echteres Zeichen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Macht als Zepter und<br />
Krone. Während des Regimes <strong>der</strong> Doppelherrschaft waren die Automobile unter Regierung,<br />
Zentral-Exekutivkomitee und Privatbesitzern verteilt. Jetzt konzentrierten sich alle<br />
beschlagnahmten Kraftwagen im Lager des Aufstandes. Der Smolnybezirk ähnelte einer<br />
gigantischen Feldgarage. Die besten Automobile qualmten vom schlechten Brennstoff.<br />
Die Motorrä<strong>der</strong> knatterten ungeduldig und bedrohlich im Halbdunkel. Die Panzerwagen<br />
heulten mit den Sirenen. Das Smolny schien Fabrik, Bahnhof und Kraftzentrale <strong>der</strong><br />
Umwälzung.<br />
Über die Trottoirs <strong>der</strong> anliegenden Straßen zogen Menschen im dichten Strom. An den<br />
Außen- und Innentoren brannten Holzfeuer. In ihrem flackernden Lichte prüften bewaffnete<br />
Arbeiter und Soldaten streng die Passierscheine. Einige Panzerwagen ratterten im<br />
Hofe mit den angestellten Motoren. Niemand woflte stillstehen, we<strong>der</strong> Maschinen noch<br />
Menschen. An jedem Eingang waren Maschinengewehre, versehen mit zahlreichen<br />
Patronenstreifen. Die endlosen, schwach erhellten, düsteren Korridore hallten von<br />
Stiefelgestampf, Stimmen und Rufen. Kommende und Gehende hasteten die breiten<br />
Treppen auf und nie<strong>der</strong>. Die dichte Menschenlava durchschnitten einzelne ungeduldig<br />
und herrisch, Arbeiter des Smolny, Kuriere, Kommissare, mit Mandaten o<strong>der</strong> Befehlen in<br />
<strong>der</strong> erhobenen Hand, die Flinte an einem Strick auf dem Rücken o<strong>der</strong> die Aktentasche<br />
unterm Arm.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 749
Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee unterbrach die Arbeit nicht für eine Minute,<br />
empfing Delegierte, Kuriere, freiwillige Informatoren, aufopfernde Freunde und auch<br />
Gauner, entsandte in alle Winkel <strong>der</strong> Stadt Kommissare, drückte zahllose Stempel auf<br />
Befehle und Vollmachten - all das unter einem Kreuzfeuer von Auskünften, Eilnachrichten,<br />
Telephonläuten und Waffengeklirr. Erschöpfte Menschen, die seit langem nicht<br />
geschlafen und nichts mehr gegessen hatten, unrasiert, in schmutziger Wäsche, mit<br />
entzündeten Augen, schrien mit heiseren Stimmen, gestikulierten übertrieben, und fielen<br />
sie nicht bewußtlos um, so, wie es schien, nur infolge des sie umgebenden Chaos, das sie<br />
herumwirbelte und auf seinen ungezügelten Flügeln trug.<br />
Abenteurer, Hochstapler, <strong>der</strong> schlimmste Auswurf <strong>der</strong> alten Regime schnupperten in<br />
<strong>der</strong> Luft herum und suchten Passierscheine zum Smolny. Einige fanden auch. Sie wußten<br />
irgendein kleines Geheimnis <strong>der</strong> Verwaltung: wer die Schlüssel zum diplomatischen<br />
Briefwechsel hat, wie Kassenscheine geschrieben werden, wie man in den Besitz von<br />
Benzin o<strong>der</strong> einer Schreibmaschine gelangen kann, und hauptsächlich, wo die besten<br />
Schloßweine aufbewahrt werden. Ins Gefängnis o<strong>der</strong> vor die Kugel gerieten sie nicht<br />
sogleich.<br />
Seit Erschaffung <strong>der</strong> Welt waren nicht so viel Befehle erteilt worden, mündlich, mit<br />
Bleistift, auf <strong>der</strong> Schreibmaschine, telephonisch, einer dem an<strong>der</strong>n nacheilend -<br />
Tausende, Myriaden Befehle -, nicht immer durch jene, die dazu befugt waren, und<br />
selten für einen, <strong>der</strong> fähig war, ihn auszuführen. Doch darin bestand eben das Wun<strong>der</strong>,<br />
daß in diesem verrückten Wirbel ein innerer Sinn war; den Menschen gelang es, sich zu<br />
verständigen, das Wichtigste und Dringlichste wurde doch erledigi; um den alten<br />
Verwaltungsapparat abzulösen, spannten sich die ersten Fäden des neuen, die <strong>Revolution</strong><br />
erstarkte.<br />
Tagsüber arbeitete im Smolny das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki: Es stand die Frage<br />
<strong>der</strong> neuen Regierung in Rußland zur Entscheidung. Protokolle wurden nicht geführt o<strong>der</strong><br />
sind nicht erhalten geblieben. Niemand sorgte sich um die künftigen Historiker, obwohl<br />
gerade für sie nicht wenig Mühe vorbereitet wurde. In <strong>der</strong> Abendsitzung des Kongresses<br />
soll das Ministerkabinett gebildet werden. Mini-ster? Welch kornpromittiertes Wort! Es<br />
stinkt nach hoher bürokratischer Karriere o<strong>der</strong> Krönung des Parlamentsehrgeizes. Man<br />
kommt überein, die Regierung als Rat <strong>der</strong> Volkskommissare zu bezeichnen: das klingt<br />
immerhin frischer. Da die Verhandlungen über eine Koalition <strong>der</strong> "gesamten<br />
Demokratie" vorläufig zu keinem Ergebnis geführt haben, vereinfacht sich die Frage <strong>der</strong><br />
parteimäßigen und personellen Zusammensetzung <strong>der</strong> Regierung. Die linken Sozialrevolutionäre<br />
zieren sich und machen Umstände: sie, die soeben mit Kerenskis Partei gebrochen,<br />
wissen selbst noch nicht recht, was mit sich anzufangen. Das Zentralkomitee<br />
akzeptiert noch als das einzig Denkbare Lenins Vorschlag: eine Regierung nur aus<br />
Bolschewiki zu bilden.<br />
An die Türe dieser Sitzung klopfte Martow an, als Bittgänger für die verhafteten<br />
Minister-<strong>Sozialisten</strong>. Vor gar nicht so langer Zeit hatte er sich bei den Minister-<strong>Sozialisten</strong><br />
für eine Befreiung <strong>der</strong> Bolschewiki verwendet. Das Rad hatte eine tüchtige Drehung<br />
gemacht. Durch ein zu Martow für Verhandlungen hinausgesandtes Mitglied, am<br />
wahrscheinlichsten Kamenjew, ließ das Zentralkomitee wie<strong>der</strong>holen, die Minister-<strong>Sozialisten</strong><br />
würden in Hausarrest übergeführt werden: allem Anschein nach hätte man sie in<br />
<strong>der</strong> Arbeit vergessen, o<strong>der</strong> aber sie hatten die Privilegien abgelehnt, um auch in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 750
Trubetzkoi-Festung das Prinzip <strong>der</strong> ministeriellen Solidarität zu wahren<br />
Die Kongreßsitzung begann um 9 Uhr abends. »Das Bild unterschied sich im allgemeinen<br />
nicht sehr vom gestrigen. Weniger Waffen, weniger Gedränge.« Suchanow, nun<br />
nicht mehr als Delegierter anwesend, son<strong>der</strong>n unter dem Publikum, hat sogar einen freien<br />
Platz gefunden. In dieser Sitzung stand bevor, die Fragen über Frieden, Boden und<br />
Regierung zu entscheiden. Nur drei Fragen: den Krieg beenden, dem Volke Boden<br />
geben, die sozialistische Diktatur errichten. Kamenjew beginnt mit dem Bericht über die<br />
vom Präsidium während des Tages geleistete Arbeit die Todesstrafe an <strong>der</strong> Front, von<br />
Kerenski eingeführt, ist abgeschafft die Agitationsfreiheit in vollem Umfange wie<strong>der</strong>hergestellt<br />
Befehl erteilt, die wegen politischer Überzeugung festgesetzten Soldaten und die<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Landkomitees aus den Gefängnissen zu befreien; sämtliche Kommissare<br />
<strong>der</strong> Provisorischen Regierung sind abgesetzt; es ist befohlen, Kerenski und Kornilow zu<br />
verhaften und herbeizuschaffen. Der Kongreß billigt und bestätigt.<br />
Wie<strong>der</strong>um treten unter Ungeduld und Mißfallen des Saales irgendwelche Splitter von<br />
Splittern auf: die einen erklären, sie gingen weg »im Augenblick des Sieges des Aufstandes,<br />
nicht aber im Augenblick <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage«, die an<strong>der</strong>en dagegen rühmen sich dessen,<br />
daß sie dableiben. Der Vertreter <strong>der</strong> Donez-Bergarheiter ermahnt, eiligst Maßnahmen zu<br />
ergreifen, damit Kaledin nicht den Norden von <strong>der</strong> Kohle abschneidet. Es wird nicht<br />
wenig Zeit vergehen, bis die <strong>Revolution</strong> gelernt hat, Maßnahmen von solchem Umfange<br />
zu ergreifen. Endlich kann man zum ersten Punkt <strong>der</strong> Tagesordnung übergehen.<br />
Lenin, den <strong>der</strong> Kongreß noch nicht gesehen hat, erhält das Wort zur Friedensfrage.<br />
Sein Erscheinen auf <strong>der</strong> Tribüne ruft nicht endenwollende Begrüßungen hervor. Die<br />
Schützengrabendelegierten betrachten mit großen Augen den geheimnisvollen Mann, den<br />
man sie hassen gelehrt und den sie lieben gelernt haben, ehe sie ihn sahen. »Die Hände<br />
fest am Rand des Rednerpultes und mit seinen kleinen Augen die Menge betrachtend,<br />
steht Lenin wartend, offensichtlich ohne die nicht endende Ovation zu beachten, die<br />
Minuten andauert. Als <strong>der</strong> Beifallssturm verstummte, sagte er einfach: "Wir beginnen<br />
jetzt mit dem Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen Ordnung."«<br />
Kongreßprotokolle sind nicht erhalten geblieben. Die zur Nie<strong>der</strong>schrift <strong>der</strong> Verhandlungen<br />
hinzugezogenen Parlamentsstenographinnen hatten zusammen mit den Menschewiki<br />
und Sozial-revolutionären das Smolny verlassen: das war eine <strong>der</strong> ersten<br />
Sabotageepisoden. Die Aufzeichnungen <strong>der</strong> Schriftführer sind im Strudel <strong>der</strong> Ereignisse<br />
spurlos untergegangen. Es sind nur hastige und tendenziöse Zeitungsberichte erhalten<br />
geblieben, geschrieben unter den Klängen <strong>der</strong> Artillerie und dem Zähneknirschen des<br />
politischen Kampfes. Beson<strong>der</strong>s gelitten haben Lenins Reden: infolge des schnellen<br />
Sprechens und <strong>der</strong> komplizierten Satzkonstruktion ließen sie sich auch unter günstigeren<br />
Bedingungen nicht leicht nie<strong>der</strong>schreiben. Jener Einleitungssatz, den John Reed Lenin in<br />
den Mund legt, ist in keinem Zeitungsbericht enthalten. Doch er entspricht durchaus dem<br />
Geiste des Redners. Ausdenken konnte John Reed ihn nicht. Gerade so muß Lenin sein<br />
Auftreten auf dem Sowjetkongreß eingeleitet haben, einfach, ohne Pathos, mit unerschütterlicher<br />
Sicherheit: »Wir beginnen jetzt mit dem Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen Ordnung.«<br />
Aber dazu ist vor allem nötig, mit dem Kriege Schluß zu machen. in <strong>der</strong> Schweizer<br />
Emigration hatte Lenin die Losung erhoben: den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg<br />
umzuwandeln. Jetzt heißt es, den siegreichen Bürgerkrieg in den Frieden<br />
umzuwandeln. Der Referent beginnt sofort mit <strong>der</strong> Verlesung des Entwurfs <strong>der</strong> Deklara-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 751
tion, die von <strong>der</strong> jetzt zu wählenden Regierung herausgegeben werden soll. Der Text<br />
wird nicht verteilt: <strong>der</strong> technische Apparat ist noch sehr schwach. Der Kongreß dringt<br />
gierig in jedes Wort des Dokuments ein.<br />
»Die Arbeiter- und Bauernregierung, aus <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vom 25. und 26. Oktober<br />
hervorgegangen und gestützt auf die Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten,<br />
schlägt allen kriegführenden Völkern und <strong>der</strong>en Regierungen vor, unverzüglich<br />
in Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden einzutreten.«<br />
Gerechte Bedingungen schließen Annexionen und Kontributionen aus. Unter Annexionen<br />
ist gewaltsame Einverleibung frem<strong>der</strong> Völker o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Festhaltung gegen ihren<br />
Willen zu verstehen, in Europa wie in den fernen überseeischen Län<strong>der</strong>n. »Gleichzeitig<br />
erklärt die Regierung, daß sie keinesfalls die obengenannten Friedensbedingungen als<br />
ultimativ betrachtet, das heißt, daß sie bereit ist, auch jede an<strong>der</strong>e Bedingung zu prüfen«,<br />
sie verlangt nur schnellste Einleitung <strong>der</strong> Verhandlungen vor aller Öffentlichkeit. Ihrerseits<br />
schafft die Sowjetregierung die Geheimdiplomatie ab und schreitet an die Veröffentlichung<br />
<strong>der</strong> bis zum 25. Oktober 1917 abgeschlossenen Geheimverträge. Alles, was<br />
in diesen Verträgen darauf abzielt, den <strong>russischen</strong> Gutsbesitzern und Kapitalisten Privilegien<br />
und Vorteile zu sichern und an<strong>der</strong>e Völker durch die Großrussen zu unterdrücken,<br />
»wird von <strong>der</strong> Regierung bedingungslos und sofort annulliert«. Um in die Verhandlungen<br />
einzutreten, regt die Regierung den Abschluß eines sofortigen Waffenstillstandes<br />
von mindestens drei Monaten an. Mit ihrem Vorschlag wendet sich die Arbeiter- und<br />
Bauernregierung gleichzeitig »an die Regierungen und an die Völker aller kriegführenden<br />
Län<strong>der</strong> ..., insbeson<strong>der</strong>e an die klassenbewußten Arbeiter <strong>der</strong> drei fortgeschrittensten<br />
Nationen«, England, Frankreich und Deutschland, in <strong>der</strong> Überzeugung, daß gerade<br />
diese »uns helfen werden, erfolgreich die Sache des Friedens und damit die Sache <strong>der</strong><br />
Befreiung <strong>der</strong> werktätigen und ausgebeuteten Mass-sen von jeglicher Sklaverei und jeglicher<br />
Ausbeutung zu Ende zu führen«.<br />
Lenin beschränkt sich auf kurze Erläuterungen zum Text <strong>der</strong> Deklaration. »Wir dürfen<br />
die Regierungen nicht ignorieren, da dies den Abschluß des Friedens hinauszögern<br />
könnte ..., doch haben wir nicht das Recht, uns nicht gleichzeitig auch an die Völker zu<br />
wenden. Überall sind Regierungen und Völker uneins, wir aber müssen den Völkern<br />
helfen, sich in die Fragen von Krieg und Frieden einzumischen« ... »Wir werden selbstverständlich<br />
unser Programm eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen mit<br />
allen Mitteln verteidigen«, doch wir dürfen unsere Bedingungen nicht ultimativ gestalten,<br />
um den Regierungen eine Ablehnung <strong>der</strong> Verhandlungen nicht zu erleichtern. Wir<br />
werden auch alle an<strong>der</strong>en Vorschläge prüfen. »Prüfen - das bedeutet noch nicht, daß wir<br />
sie annehmen werden.«<br />
Das von den Versöhnlern am 14. Mai herausgegebene Manifest hatte den Arbeitern <strong>der</strong><br />
übrigen Län<strong>der</strong> vorgeschlagen, im Namen des Friedens die Bankiers zu stürzen; die<br />
Versöhnler selbst aber hatten nicht nur zum Sturze <strong>der</strong> eigenen Bankiers aufgeruien,<br />
son<strong>der</strong>n mit diesen ein Bündnis abgeschlossen. »Jetzt haben wir die Regierung <strong>der</strong><br />
Bankiers gestürzt.« Das gibt uns das Recht, auch die an<strong>der</strong>en Völker dazu aufzurufen.<br />
Wir haben alle Hoffnung auf den Sieg: »man darf nicht vergessen, daß wir nicht in <strong>der</strong><br />
Tiefe Afrikas wohnen, son<strong>der</strong>n in Europa, wo alles schnell bekannt werden kann«. Das<br />
Siegespfand sieht Lenin, wie stets, in <strong>der</strong> Umwandlung <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong> in eine<br />
internationale. »Die Arbeiterbewegung wird siegen und sich den Weg zu Frieden und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 752
Sozialismus bahnen.«<br />
Die linken Sozialrevolutionäre lassen durch ihren Vertreter erklären, daß sie sich <strong>der</strong><br />
verkündeten Deklaration anschlössen: <strong>der</strong>en »Geist und Sinn ihnen verwandt und<br />
verständlich ist«. Die vereinigten Internationalisten sind für die Deklaration, aber unter<br />
<strong>der</strong> Bedingung, daß sie von einer Regierung <strong>der</strong> gesamten Demokratie ausgeht. Lapinski<br />
begrüßt namens <strong>der</strong> polnischen linken Menschewiki »den gesunden proletarischen<br />
Realismus« des Dokuments, Dserschinski von <strong>der</strong> Sozialdemokratie Polens und Litauens,<br />
Stutschka von <strong>der</strong> Sozialdemokratie Lettlands, Kapsukas von <strong>der</strong> litauischen Sozialdemokratie<br />
schließen sich <strong>der</strong> Deklaration vorbehaltlos an. Mit Einwendungen trat nur <strong>der</strong><br />
Bolschewik Jeremejew auf <strong>der</strong> verlangte, daß den Friedeusbedingungen ultimativer<br />
Charakter verliehen werde; an<strong>der</strong>nfalls »könnte man glauben, wir seien schwach, wir<br />
hätten Angst«.<br />
Lenin wi<strong>der</strong>spricht entschieden, ja sogar ungehalten einer ultimativen Formulierung<br />
<strong>der</strong> Bedingungen: damit würden wir nur »unseren Feinden die Möglichkeit geben, die<br />
volle Wahrheit vor dem Volke zu verheimlichen, sie hinter unserer Unversöhnlichkeit zu<br />
verbergen«. Man sagt, daß »unsere nicht ultimative Form unsere Ohnmacht zeigen<br />
würde«. Es ist Zeit, auf die bürgerliche Verlogenheit in <strong>der</strong> Politik zu verzichten. »Wir<br />
brauchen uns nicht zu fürchten, die Wahrheit über die Müdigkeit auszuspreehen« ... Die<br />
späteren Brest-Litowsker Meinungsverschiedenheiten leuchten bereits durch diese<br />
Episode hindurch.<br />
Kamenjew for<strong>der</strong>t auf: wer für die Deklaration ist, möge seine Delegiertenkarte<br />
hochheben. »Ein Delegierter«, schreibt Reed, »wagt es, die Hand dagegen zu erheben,<br />
doch <strong>der</strong> Ausbruch <strong>der</strong> Empörung um ihn herum zwingt ihn, die Hand<br />
herunterzulassen.« Der Appell an die Völker und die Regierungen wird einstimmig<br />
angenommen. Es ist vollbracht! Dieser Akt packt alle Teilnehmer durch die Greifbarkeit<br />
und Nähe seiner Größe.<br />
Suchanow, <strong>der</strong> aufmerksame, wenn auch voreingenommene Beobachter, hatte mehr als<br />
einmal den trägen Verlauf <strong>der</strong> ersten Sitzung des Kongresses vermerkt. Unbestreitbar<br />
waren die Delegierten wie das ganze Volk müde <strong>der</strong> Versammlungen, Kongresse, Reden,<br />
Resolutionen, überhaupt des ganzen Herumstampfens auf einem Platze. Sie waren sich<br />
dessen nicht sicher, daß dieser Kongreß es verstehen und fähig sein würde, die Sache zu<br />
Ende zu führen. Wird nicht das Grandiose <strong>der</strong> Aufgaben und das Unüberwindliche <strong>der</strong><br />
Wi<strong>der</strong>stände zwingen, auch diesmal den Rückzug anzutreten? Zustrom von Sicherheit<br />
brachten die Nachrichten von <strong>der</strong> Einnahme des Winterpalais und danach von dem<br />
Übergang <strong>der</strong> Radfahrer auf die Seite des Aufstandes. Doch diese beiden Tatsachen<br />
hatten sich bezogen auf die Mechanik <strong>der</strong> Umwälzung. Erst jetzt enthüllte sich in<br />
Wirklichkeit ihr historischer Sinn. Der siegreiche Aufstand hatte dem Kongreß <strong>der</strong><br />
Arbeiter und Soldaten das unerschütterliche Fundament <strong>der</strong> Macht errichtet. Die<br />
Delegierten stimmten diesmal ab, nicht für eine Resolution, nicht für einen Aufruf,<br />
son<strong>der</strong>n für einen Regierungsakt von unermeßlicher Bedeutung.<br />
Höret, Völker! Die <strong>Revolution</strong> bietet euch den Frieden an. Man wird sie <strong>der</strong> Verletzung<br />
von Verträgen anklagen. Aber sie ist stolz darauf Bündnisse blutiger Raubgier zu<br />
zerreißen, ist größtes historisches Verdienst. Die Bolschewiki haben's gewagt. Sie allein<br />
haben es gewagt. Stolz sprengt die Brust. Die Augen brennen. Alle haben sich erhoben.<br />
Niemand raucht mehr. Es scheint, als atme niemand. Präsidium, Delegierte, Gäste,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 753
Wachen verschmelzen in den Hymnus des Aufstandes und <strong>der</strong> Verbrü<strong>der</strong>ung. »Plötzlich,<br />
wie auf einen gemeinsamen Impuls«, wird John Reed, Beobachter und Teilnehmer,<br />
Chronist und Poet <strong>der</strong> Umwälzung, uns bald erzählen, »standen wir alle und fielen in die<br />
aufrüttelnden Klänge <strong>der</strong> "<strong>Internationale</strong>" ein. Ein alter, ergrauter Soldat weinte wie ein<br />
Kind. Alexandra Kollontay blinzelte mit den Augen, um nicht in Tränen auszubrechen.<br />
Die mächtigen Klänge brausten durch den Saal, drangen durch Fenster und Türen und<br />
stiegen zum Himmel empor.« Zum Himmel? Eher zu den herbstlichen Schützengräben,<br />
die das unglückliche gekreuzigte Europa durchschnitten, zu dessen verwüsteten Städten<br />
und Dörfern, zu den Frauen und Müttern in Trauer. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde,<br />
die stets man noch zum Hunger zwang!« Die Worte <strong>der</strong> Hymne befreiten sich von ihrem<br />
bedingten Charakter. Sie verschmolzen mit dem Regierungsakt. Deshalb klang aus ihnen<br />
die Kraft <strong>der</strong> direkten Tat. Je<strong>der</strong> fühlte sich größer und bedeuten<strong>der</strong> in dieser Stunde. Das<br />
Herz <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> dehnte sich aus über die ganze Welt. »Uns aus dem Elend zu<br />
erlösen ...« Den Geist <strong>der</strong> Selbständigkeit, Initiative, Kühnheit, jene glückseligen Gefühle,<br />
<strong>der</strong>en die Unterdrückten unter den üblichen Lebensbedingungen beraubt sind, das<br />
brachte jetzt die <strong>Revolution</strong> ... »Das können nur wir selber run!« Wir, die Millionen, die<br />
Monarchie und Bourgeoisie gestürzt haben, werden jetzt den Krieg erdrosseln. Der<br />
Rotgardist des Wyborger Bezirks, <strong>der</strong> graue Frontler mit <strong>der</strong> Narbe, <strong>der</strong> alte<br />
<strong>Revolution</strong>är, <strong>der</strong> Jahre Katorga hinter sich hat, <strong>der</strong> junge schwarzbärtige Matrose von<br />
<strong>der</strong> "Aurora", alle schwören, den letzten, entscheidenden Kampf zu Ende kämpfen zu<br />
wollen. »Wir wollen neu die Welt erbauen!« Erbauen. In diesem Wort, das sich <strong>der</strong><br />
menschlichen Brust entrang, waren schon die späteren Jahre des Bürgerkrieges und die<br />
künftigen Fünfjahrpläne <strong>der</strong> Arbeit und Entbehrungen enthalten. »Nichts sind wir, laßt<br />
uns alles sein!« Alles! Wenn mehr als einmal die Wirklichkeit <strong>der</strong> Vergangenheit zum<br />
Liede wurde, warum soll nicht ein Lied morgige Wirklichkeit werden? Die Schützengrabenmäntel<br />
scheinen nicht mehr Zuchthausgewän<strong>der</strong>. Die Pelzmützen mit <strong>der</strong> hervorquellenden<br />
Watte sitzen auf an<strong>der</strong>e Art über den leuchtenden Augen. »Die <strong>Internationale</strong>,<br />
das wird die Menschheit sein!« Ist es denn auch denkbar, daß sie nicht sein, nicht erstehen<br />
wird aus Unglück und Erniedrigung, aus Schmutz und Blut des Krieges?<br />
»Das gesamte Präsidium mit Lenin an <strong>der</strong> Spitze stand und sang mit erregten, vergeistigten<br />
Gesichtern und brennenden Augen.« So bezeugt <strong>der</strong> Skeptiker, <strong>der</strong> schweren<br />
Gefühls einem fremden Fest zuschaut. »Wie gern wollte ich mich ihm anschließen«,<br />
gesteht Suchanow, »in Gefühl und Stmimung mit dieser Masse und ihren Führern<br />
verschmelzen. Aber ich konnte nicht ...«<br />
Es verklang <strong>der</strong> letzte Laut des Refrains, aber noch immer stand <strong>der</strong> Kongreß zu einer<br />
menschlichen Masse verschmolzen, verzaubert von <strong>der</strong> Größe des Erlebten. Die Blicke<br />
vieler blieben haften auf <strong>der</strong> kleinen, untersetzten Gestalt des Mannes auf <strong>der</strong> Tribüne,<br />
mit dem ungewöhnlichen Kopf, den einfachen Zügen des breitknochigen Gesichts, jetzt<br />
durch das rasierte Kinn verän<strong>der</strong>t, mit durchdringendem Blick <strong>der</strong> kleinen, etwas mongolenhaften<br />
Augen. Vier Monate war er fern gewesen, sein Name hatte sich inzwischen von<br />
dein lebendigen Bilde fast getrennt. Doch nein, er ist kein Mythos, da steht er mitten<br />
unter den Seinen - wie viele "Seine" gibt es jetzt! - mit den Blättern <strong>der</strong> Friedensbotschaft<br />
an die Völker in den Händen. Sogar die Allernächsten, jene, die seinen Platz in <strong>der</strong> Partei<br />
gut kannten, empfanden zum erstenmal restlos, was er für die <strong>Revolution</strong>, für das Volk,<br />
für die Völker bedeutete. Das hat er erzogen. Das hat er gelehrt. Eine Stimme aus <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 754
Tiefe <strong>der</strong> Versammlung schrie einen Hochruf auf den Führer. Als habe <strong>der</strong> Saal nur auf<br />
dies Signal gewartet. Hoch Lenin! Überstandene Aufregungen, überwundene Zweifel,<br />
Stolz auf das Beginnen, Triumph des Sieges, große Hoffhungen, - alles verschmolz im<br />
vulkanischen Ausbruch von Dankbarkeit und Begeisterung. Der skeptische Zeuge<br />
bemerkt trocken: »Zweifellos ein Aufschwung <strong>der</strong> Stimmung ... Man grüßte Lenin, schrie<br />
hoch, warf Mützen in die Luft. Der Trauermarsch wurde gesungen, zum Andenken an die<br />
Kriegsopfer. Und wie<strong>der</strong> Applaus, Schreie und Werfen <strong>der</strong> Mützen.«<br />
Das, was <strong>der</strong> Kongreß in diesen Minuten durchlebte, durchlebte, wenn auch nicht so<br />
konzentriert, am nächsten Tag das ganze Volk. »Man muß sagen«, schreibt Stankewitsch<br />
in seinen Erinnerungen, »daß die kühne Geste <strong>der</strong> Bolschewiki, ihre Fähigkeit, über die<br />
Stacheldrähte hinwegzuschreiten, die vier Jahre lang uns von den Nachbarvölkern<br />
getrennt gehalten haben, an sich gewaltigen Eindruck machte.« Plumper, doch nicht<br />
weniger deutlich, drückt sich Baron Budberg in seinem Tagebuch aus: »Die neue Regierung<br />
des Genossen Lenin entlud sich mit einem Dekret über sofortigen Frieden ... Es ist<br />
im Augenblick ein genialer Schachzug, um die Soldatenmassen für sich zu gewinnen; ich<br />
konnte dies an <strong>der</strong> Stimmung in mehreren Regimentern beobachten, die ich heute bereist<br />
habe. Lenins Telegramm über einen sofortigen Waffenstillstand für drei Monate und<br />
darauffolgenden Frieden hat überall kolossalen Eindruck gemacht und einen Freu-densturm<br />
ausgelöst. Jetzt sind uns die letzten Chancen auf Rettung <strong>der</strong> Front genommen.«<br />
Unter Rettung <strong>der</strong> von ihnen zugrunde gerichteten Front verstanden diese Menschen<br />
schon längst nur die Rettung <strong>der</strong> eigenen sozialen Positionen.<br />
Würde die <strong>Revolution</strong> in sich die Entschlossenheit gefunden haben, im März-April<br />
über die Stacheldrähte hinwegzuschreiten, sie hätte damals noch vermocht, die Armee<br />
eine Zeitlang zusammenzuhalten, vorausgesetzt, daß sie sie gleichzeitig auf die Hälfte<br />
o<strong>der</strong> ein Drittel herabgesetzt und somit für die Außenpolitik eine Position von außerordentlicher<br />
Stärke geschaffen hätte. Aber die Stunde mutiger Taten schlug erst im<br />
Oktober, wo auch nur einen Teil <strong>der</strong> Armee zu retten, und wenn auch nur für eine kurze<br />
Frist, bereits undenkbar war. Das neue Regime mußte auf seine Schultern nehmen nicht<br />
nur die Kosten für den Krieg des Zarismus, son<strong>der</strong>n auch für den verschwen<strong>der</strong>ischen<br />
Leichtsinn <strong>der</strong> Provisorischen Regierung. In dieser furchtbaren, für alle an<strong>der</strong>en Parteien<br />
hofihungslosen Situation konnte nur <strong>der</strong> Bolschewismus das Land auf einen offenen<br />
Weg hinausführen, indem er durch die Oktoberumwälzung unerschöpfliche Quellen <strong>der</strong><br />
Volksenergie erschloß.<br />
Lenin ist wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Tribüne, diesmal mit Blättchen des Bodendekrets. Er beginnt<br />
mit Anklagen gegen die gestürzte Regierung und die Versöhnlerparteien, die durch<br />
Verschleppung <strong>der</strong> Bodenfrage das Land zum Bauernaufstand gebracht haben. »Wie Lug<br />
und feiger Betrug klingen ihre Worte über Pogrome und Anarchie im Dorfe. Wo und<br />
wann wurden Pogrome und Anarchie durch vernünftige Maßnahmen hervorgerufen?«...<br />
Der Dekretentwurf ist nicht vervielfältigt zum Verteilen: <strong>der</strong> Redner hält in den Händen<br />
das einzige Exemplar in Rohfassung, und es ist, nach Suchanows "Erinnerungen", »so<br />
schlecht ni<strong>der</strong>geschrieben, daß Lenin heim Lesen stolpert, sich nicht zurechtfmdet und<br />
schließlich abbricht. Jemand aus <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Tribüne zusammengedrängten Menge<br />
kommt ihm zu Hilfe. Lenin überläßt diesem willig den Platz und das unleserliche<br />
Papier«. Diese Unebenheiten verringern aber in den Augen des plebejischen Parlaments<br />
nicht um ein Jota die Größe des Sichvollziehenden.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 755
Der Kern des Dekrets ist in den zwei Zeilen des ersten Punktes enthalten: »Das<br />
gutsherrliche Eigentumsrecht an Grund und Boden wird mit sofortiger Wirkung ohne<br />
jede Entschädigung aufgehoben.« Über Guts-, Kron-, Kloster- und Kirchenlän<strong>der</strong>eien<br />
mit lebendem und totem Inventar verfügen bis zur Konstituierenden Versammlung die<br />
Gemeinde-Landkomitees und die Kreissowjets <strong>der</strong> Bauerndeputierten. Der konfiszierte<br />
Besitz wird als Volksvermögen erklärt und unter den Schutz <strong>der</strong> Lokalsowjets gestellt.<br />
Der Boden <strong>der</strong> werktätigen Bauern und Kosaken ist vor Konfiskation gesichert. Das<br />
gesamte Dekret zählt keine drei Dutzend Zeilen: es durchhaut den gordischen Knoten mit<br />
dem Beil.<br />
Dem Haupttext ist eine etwas umfangreichere Instruktion angeschlossen, die restlos<br />
den Bauern selbst entlehnt ist. In den 'Iswestja <strong>der</strong> Bauernsowjets' war am 19. August<br />
eine Zusammenstellung von zweihun<strong>der</strong>tzweiundvierzig "Instruktionen" veröffentlicht,<br />
erteilt von den Wählern an ihre Vertreter auf dem ersten Kongreß <strong>der</strong> Bauerndeputierten.<br />
Obwohl die Ausarbeitung <strong>der</strong> synthetischen Instruktion von Sozialrevolutionären stammte,<br />
hatte dies Lenin nicht abgehalten, das Dokument restlos und vollständig dem Dekret<br />
beizugeben »als Anleitung zur Verwirklichung <strong>der</strong> großen Bodenumgestaltungen«. Die<br />
zusammenfassende Instruktion lautet: »Das Recht des Privateigentums an Boden wird<br />
für alle Ewigkeit abgeschafft.« - »Das Recht <strong>der</strong> Bodennutznießung erhalten alle Bürger<br />
..., die ihn selbst bearbeiten wollen.« - »Lohnarbeit ist unzulässig.« - »Die Bodenbenutzung<br />
muß auf dem Prinzips des Ausgleichs beruhen, das heißt, <strong>der</strong> Boden wird verteilt<br />
unter den Werktätigen, je nach örtlichen Verhältnissen, Arbeits- o<strong>der</strong> Bedarßnorm.«<br />
Bei <strong>der</strong> Aufrechterhaltung des bürgerlichen Regimes, nicht zu reden von <strong>der</strong> Koalition<br />
mit den Gutsbesitzern, mußte die sozial-revolutionäre Instruktion leblose Utopie bleiben,<br />
wenn nicht sich in bewußte Lüge verwandeln. Sie konnte auch unter <strong>der</strong> Herrschaft des<br />
Proletariats nicht in allen ihren Teilen verwirklicht werden. Doch das Schicksal <strong>der</strong><br />
Instruktion verän<strong>der</strong>te sich radikal zusammen mit dem verän<strong>der</strong>ten Verhalten <strong>der</strong> Regierung<br />
ihr gegenüber. Der Arbeiterstaat ließ <strong>der</strong> Bauernschaft Zeit, ihr wi<strong>der</strong>spruchsvolles<br />
Programm in <strong>der</strong> Wirklichkeit zu überprüfen.<br />
»Die Bauern wollen ihre Kleinwirtschaft beibehalten, sie gleichmäßig normieren, sie<br />
periodisch wie<strong>der</strong> ausgleichen«, schrieb Lenin im August. »Sei es. Deswegen wird<br />
kein vernünftiger Sozialist sich mit <strong>der</strong> Bauernarmut streiten. Wenn <strong>der</strong> Boden erst<br />
konfisziert sein wird, so heißt das, die Herrschaft <strong>der</strong> Banken ist gebrochen -, wenn<br />
das Inventar konfisziert sein wird, so heißt das, die Herrschaft des Kapitals ist gebrochen,<br />
dann ... nach Ubergang <strong>der</strong> politischen Macht an das Proletariat, wird das übrig<br />
e... die Praxis selbst diktieren.«<br />
Sehr viele, nicht nur Feinde, son<strong>der</strong>n auch Freunde, haben diese weitblickende, in<br />
hohem Maße pädagogische Stellungnahme <strong>der</strong> bolschewistischen Partei zur Bauernschaft<br />
und ihrem Agrarprogramm nicht begriffen. Die ausgleichende Verteilung des Bodens,<br />
erwi<strong>der</strong>te beispielsweise Rosa Luxemburg, habe mit Sozialismus nichts gemein. Aber in<br />
dieser Hinsicht machten sich auch die Bolschewiki natürlich keine Illusionen. Im Gegenteil,<br />
schon die Konstruktion des Dekrets bezeugt die kritische Wachsamkeit des Gesetzgebers.<br />
Während die Instruktionssammlung lautet, daß <strong>der</strong> gesamte sowohl gutsherrliche<br />
wie bäuerliche Boden »Volkseigentum wird«, verschweigt das Hauptdekret die neue<br />
Form des Bodeneigentums überhaupt. Auch <strong>der</strong> nicht allzu pedantische Jurist muß über<br />
die Tatsache entsetzt sein, daß die Nationalisierung des Bodens, das neue soziale Prinzip<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 756
von welthistorischer Bedeutung, festgelegt wird als Instruktion zum Hauptgesetz. Doch<br />
hegt darin keine redaktionelle Nachlässigkeit. Lenin wollte so wenig wie möglich Partei<br />
und Sowjetmacht auf dem noch unerforschten historischen Gebiet a priori binden. Mit<br />
beispielloser Kühnheit vereinigte er auch hier äußerste Vorsicht. Es stand erst noch<br />
bevor, aus <strong>der</strong> Erfahrung zu erkennen, wie die Bauern selbst den Übergang des Bodens<br />
»in Volkseigentum« verstehen. Sich weit vorwagend, mußte man die Position auch für<br />
den Fall eines Rückzuges sichern: die Verteilung des gutsherrlichen Bodens unter den<br />
Bauern schloß, ohne vor einer bürgerlichen Konterrevolution zu schützen, unter allen<br />
Umständen die feudal-monarchistische Restauration aus.<br />
Von sozialistischen Perspektiven konnte nur gesprochen werden bei Errichtung und<br />
Sicherung <strong>der</strong> Macht des Proletariats; diese Macht aber war nicht an<strong>der</strong>s zu sichern als<br />
dadurch, daß dem Bauern bei <strong>der</strong> Durchführung seiner <strong>Revolution</strong> entschiedene Hilfe<br />
geleistet wurde. Festigte die Bodenaufteilung die sozialistische Regierung politisch, so<br />
war sie damit als nächste Maßnahme vollauf gerechtfertigt. Man mußte den Bauern so<br />
nehmen, wie ihn die <strong>Revolution</strong> vorgefunden hatte. Ihn umzubilden wird erst das neue<br />
Regime imstande sein, und auch nicht jäh, son<strong>der</strong>n im Laufe von vielen Jahren, im Laufe<br />
von Generationen, mit Hilfe einer neuen Technik und einer neuen Wirtschaftsorganisation.<br />
Das Dekret in Verbindung mit <strong>der</strong> Instruktion bedeutete für die Diktatur des Proletariats<br />
die Verpflichtung, sich nicht nur aufmerksam zu verhalten den Interessen des<br />
bäuerlichen Werktätigen gegenüber, son<strong>der</strong>n auch geduldig gegenüber dessen Illusionen<br />
als kleinem Eigentümer. Es war von vornherein klar, daß es in <strong>der</strong> Agrarrevolution noch<br />
manche Etappen und Wendungen geben werde. Die Instruktionssammlung war am allerwenigsten<br />
das letzte Wort. Sie stellte nur die Ausgangsposition dar, die einzunehmen die<br />
Arbeiter bereit waren, um den Bauern bei <strong>der</strong> Verwirklichung ihrer fortschrittlichen<br />
For<strong>der</strong>ungen zu helfen und um sie vor falschen Schritten zu warnen.<br />
»Wir könnten«, sagt Lenin in seiner Rede, »den Beschluß <strong>der</strong> unteren Volksschichten<br />
nicht übergehen, auch wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären ... Wir müsscn den<br />
Volksmassen vollste schöpferische Freiheit lassen ... Es handelt sich darum, daß die<br />
Bauernschaft die feste Uberzeugung gewinnt, daß es im Dorfe keine Gutsbesitzer mehr<br />
gibt und die Bauern alle Fragen selbst entscheiden und ihr Leben selbst einrichten<br />
können.« Opportunismus? Nein, revolutionärer Realismus.<br />
Noch bevor <strong>der</strong> Beifall verstummt war, trat <strong>der</strong> rechte Sozial-revolutionär Pjanych,<br />
vom Bauern-Exekutivkomitee, auf die Tribüne mit einem wütenden Protest darüber, daß<br />
die sozialistischen Minister in Haft wären. »In den letzten Tagen geht etwas vor«, schreit<br />
<strong>der</strong> Redner und hämmert wie besessen auf den Tisch, »was noch in keiner <strong>Revolution</strong><br />
geschah. Unsere Genossen, Mitglie<strong>der</strong> des Exekutivkomitees, Maslow und Salaskin, sind<br />
ins Gefängnis gesperrt. Wir verlangen ihre sofortige Freilassung!« - »Wenn von ihrem<br />
Haupte auch nur ein Haar fällt ...«, droht ein an<strong>der</strong>er Bote in Militäruniform. Beide<br />
erscheinen sie dem Kongreß wie Boten aus dem Jenseits.<br />
Im Moment des Umsturzes saßen unter <strong>der</strong> Anklage des Bolschewismus im Dwinsker<br />
Gefängnis etwa achthun<strong>der</strong>t Mann, in Minsk etwa sechstausend, in Kiew fünfhun<strong>der</strong>tfünfunddreißig,<br />
vorwiegend Soldaten. Und wieviel Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauernkomitees<br />
weilten in verschiedenen Teilen des Landes hinter Schloß und Riegel! Schließlich ist ein<br />
guter Teil <strong>der</strong> Kongreßdelegierten selbst, beginnend mit dem Präsidium, nach dem Juli<br />
durch Kerenskis Gefängnisse hindurchgegangen. Ist es da verwun<strong>der</strong>lich, daß die Entrü-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 757
stung <strong>der</strong> Freunde <strong>der</strong> Provisorischen Regierung nicht damit rechnen durfte, in dieser<br />
Versammlung die Herzen zu erschüttern? Um das Unglück voll zu machen, erhob sich<br />
von seinem Platze ein völlig unbekannter Delegierter, ein Twerer Bauer, mit langem<br />
Haar, im Schafpelz, verneigte sich höflich nach allen vier Seiten und beschwor den<br />
Kongreß im Namen seiner Wähler, auch vor <strong>der</strong> Verhaftung des gesamten Awksentjewschen<br />
Exekutivkomitees nicht haltzumachen: »Das sind nicht Bauerndeputierte,<br />
son<strong>der</strong>n Kadetten.... ihr Platz ist im Gefängnis.« So standen sich diese zwei Gestalten<br />
gegenüber: <strong>der</strong> Sozialrevolutionär Pjanych, erfahrener Parlamentarier, Vertrauter <strong>der</strong><br />
Minister, Bolschewikenhasser, und <strong>der</strong> namenlose Twerer Bauer, <strong>der</strong> von seinen<br />
Wählern Lenin einen heißen Gruß gebracht hatte. Zwei soziale Schichten, zwei <strong>Revolution</strong>en:<br />
Pjanych sprach im Namen des Februar, <strong>der</strong> Twerer Bauer kämpfte für den<br />
Oktober. Der Kongreß bereitet dem Delegierten im Schafspelz eine wahre Ovation. Die<br />
Boten des Exekutivkomitees entfernen sich fluchend.<br />
»Die Fraktion <strong>der</strong> Sozialrevolutionäre begrüßt Lenins Projekt als den Sieg ihrer Idee«,<br />
erklärt Kalegajew. Jedoch angesichts <strong>der</strong> außerordentlichen Wichtigkeit <strong>der</strong> Frage sei<br />
eine fraktionelle Beratung erfor<strong>der</strong>lich. Ein Maximalist, Vertreter des äußersten linken<br />
Flügels <strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>gefallenen sozialrevolutionären Partei, drängt auf sofortige<br />
Abstimmung: »Wir müßten Ehre einer Partei erweisen, die gleich am ersten Tage, ohne<br />
zu schwatzen, an die Durchführung einer solchen Maßnahme geht.« Lenin besteht<br />
darauf, daß die Pause jedenfalls möglichst kurz sei. »Die für Rußland so wichtigen<br />
Neuigkeiten müssen bis zum Morgen veröffentlicht werden. Keine Verzögerungen!« Das<br />
Bodendekret - das ist nicht nur die Grundlage des neuen Regimes, son<strong>der</strong>n auch das<br />
Werkzeug <strong>der</strong> Umwälzung, die noch vor <strong>der</strong> Aufgabe steht, das Land zu erobern. Nicht<br />
umsonst notiert Reed in diesem Moment eine gebieterische Stimme, die den Saal durchschneidet:<br />
»Fünfzehn Agitatoren ins Zimmer 17. Sofort! Sollen an die Front geschickt<br />
werden!«<br />
Um 1 Uhr nachts beklagt sich <strong>der</strong> Delegierte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Truppen in Mazedonien,<br />
die verschiedenen Petrogra<strong>der</strong> Regierungen, die einan<strong>der</strong> ablösten, hätten sie vergessen.<br />
Die Unterstützung <strong>der</strong> Parole für Frieden und Land sei seitens <strong>der</strong> Soldaten in Mazedonien<br />
sicher! Dies ist die neue Überprüfung <strong>der</strong> Stimmungen in <strong>der</strong> Armee, diesmal im<br />
fernen Winkel des europäischen Südostens. Kamenjew berichtet: das 10. Radfahrerbataillon,<br />
das die Regierung von <strong>der</strong> Front kommen ließ, sei heute morgen in Petrograd<br />
einmarschiert und habe sich, wie seine Vorgänger, dem Sowjetkongreß angeschlossen.<br />
Lebhaftes Händeklatschen beweist, daß immer aufs neue wie<strong>der</strong>holte Bestätigungen <strong>der</strong><br />
eigenen Kraft niemals überflüssig sind.<br />
Nachdem einstimmig und debattelos eine Resolution angenommen ist, die besagt, daß<br />
es Ehrensache <strong>der</strong> Lokalsowjets sei, jüdische und an<strong>der</strong>e Pogrome nicht zu dulden, wird<br />
<strong>der</strong> Gesetzentwurf über den Boden zur Abstimmung gestellt. Gegen eine Stimme bei acht<br />
Stimmenthaltungen nimmt <strong>der</strong> Kongreß unter neuem Ausbruch von Enthusiasmus das<br />
Dekret an, das Schluß macht mit <strong>der</strong> Leibeigenschaft, dieser Grundlage aller Grundlagen<br />
<strong>der</strong> alten <strong>russischen</strong> Kultur. Nunmehr ist die Agrarrevolution Gesetz geworden. Die<br />
<strong>Revolution</strong> des Proletariats gewinnt damit eine mathtvolle Basis.<br />
Bleibt die letzte Aufgabe: Schaffung einer Rcgierung. Kamenjew verliest den vom<br />
Zentralkoinitee <strong>der</strong> Bolschewiki ausgearbeiteten Entwurf. Mit <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> einzelnen<br />
Teile des Staatslebens werden Kommissionen betraut, <strong>der</strong>en Arbeit im Durchführen des<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 758
vom Sowjetkongreß verkündeten Programms zu bestehen hat »in enger Einheit mit den<br />
Massenorganisationen <strong>der</strong> Arbeiter, Arbeiterinnen, Matrosen, Soldaten, Bauern und<br />
Angestellten«. Die Regierungsmacht ist in den Händen eines Kollegiums konzentriert,<br />
das aus Vorsitzenden dieser Kommissionen besteht unter dem Namen Rat <strong>der</strong> Volkskommissare.<br />
Die Kontrolle über die Tätigkeit <strong>der</strong> Regierung hat <strong>der</strong> Sowjetkongreß und sein<br />
Zentral-Exekutivkomitee.<br />
Für den ersten Rat <strong>der</strong> Volkskommissare sind sieben Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees<br />
<strong>der</strong> bolschewistischen Partei in Aussicht genommen: Lenin als Haupt <strong>der</strong> Regierung,<br />
ohne Portefeuille; Rykow als Volkskommissar des Innern; Miljutin als Volkskommissar<br />
für Landwirtschaft; Nogin für Handel und Industrie; Trotzki als Leiter des Auswärtigen;<br />
Lomow - Justiz; Stalin als Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommission für Angelegenheiten <strong>der</strong> Nationalitäten.<br />
Das Kriegs- und Marineamt wird einem Komitee, bestehend aus Antonow-<br />
Owssejenko, Krylenko und Dybenko, übertragen; für die Leitung des<br />
Arbeitskommissariats ist Schljapnikow in Aussicht genommen; das Volksbildungswesen<br />
soll Lunatscharski leiten; die schwere und undankbare Sorge um die Ernährung wird<br />
Teodorowitsch auferlegt; Post und Telegraph dem Arbeiter Glebow. Unbesetzt bleibt<br />
vorläufig <strong>der</strong> Posten des Volkskommissars für Verkehrswesen: die Türe ist offen gelassen<br />
für eine Verständigung mit den Eisenbahnerorganisationen.<br />
Alle fünfzehn Kandidaten, vier Arbeiter und elf Intellektuelle, zählen in ihrer Vergangenheit<br />
Jahre Gefängnis, Verbannung und Emigration; fünf von ihnen saßen bereits unter<br />
dem Regime <strong>der</strong> demokratischen Republik im Gefängnis; <strong>der</strong> künftige Premier ist erst<br />
gestern aus <strong>der</strong> demokratischen Illegalität gekommen. Kamenjew und Sinowjew sind<br />
dem Rat <strong>der</strong> Volkskommissare nicht angeschlossen worden: <strong>der</strong> erstere war als Vorsitzen<strong>der</strong><br />
des neuen Zentral-Exekutivkomitees in Aussicht genommen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e als<br />
Redakteur des offiziellen Sowjetorgans. »Als Kamenjew die Liste <strong>der</strong> Volkskommissare<br />
verlas«, schreibt Reed, »folgte nach jedem Namen ein Beifallssturm, beson<strong>der</strong>s nach<br />
Lenins und Trotzkis Namen.« Suchanow fügt noch Lunatscharski hinzu.<br />
Gegen die vorgeschlagene Regierungsliste tritt mit einer großen Rede als Vertreter <strong>der</strong><br />
vereinigten Internationalisten Awilow auf, ehemaliger Bolschewik, Mitarbeiter <strong>der</strong><br />
Gorkischen Zeitung. Gewissenhaft zählt er die Schwierigkeiten auf, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
auf dem Gebiete <strong>der</strong> Innen- und Außenpolitik stehen. Man müsse »sich klar Rechenschaft<br />
darüber ablegen ... wohin wir gehen ... Vor <strong>der</strong> neuen Regierung stehen die alten<br />
Fragen: Brot und Frieden. Wenn sie diese Fragen nicht lösen wird, wird sie gestürzt<br />
werden«. Brot gebe es im Lande wenig es ist in Händen <strong>der</strong> wohlhabenden Bauernschaft.<br />
Es sei nichts da, was man im Austausch für Brot geben könnte: die Industrie sinke. Es<br />
fehle an Brennmaterial und Rohstoff. Durch Zwangsmaßnahmen in Besitz des Getreides<br />
zu kommen - sei schwierig, langwierig und gefährlich. Man müsse deshalb eine solche<br />
Regierung schaffen, mit <strong>der</strong> nicht nur die Armut, son<strong>der</strong>n auch die wohlhabende Bauernschaft<br />
sympathisieren würde. Dafür sei eine Koalition notwendig.<br />
»Noch schwieriger ist es, einen Frieden zu erlangen.« Auf den Vorschlag des<br />
Kongresses über einen sofortigen Waffenstillstand würden die Ententeregierungen nicht<br />
reagieren. Die Gesandten <strong>der</strong> Alliierten beabsichtigen ohnehin, abzureisen. Die neue<br />
Macht werde isoliert sein, ihre Friedensinitiative in <strong>der</strong> Luft hängen bleiben. Die Volksmassen<br />
<strong>der</strong> kriegführenden Län<strong>der</strong> seien vorläufig von einer <strong>Revolution</strong> noch sehr fern.<br />
Die Folgen könnten zweierlei sein: entwe<strong>der</strong> eine Nie<strong>der</strong>schlagung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 759
die Truppen <strong>der</strong> Hohenzollern o<strong>der</strong> Separatfrieden. Die Friedensbedingungen würden in<br />
beiden Fällen für Rußland von allerschwerster Art sein. Fertig werden mit allen Schwierigkeiten<br />
könnte nur eine »Mehrheit des Volkes«. Das Unglück liege jedoch in <strong>der</strong><br />
Zerspaltenheit <strong>der</strong> Demokratie, <strong>der</strong>en linker Teil im Smolny eine rein bolschewistische<br />
Regierung bilden wolle, während <strong>der</strong> rechte in <strong>der</strong> Stadtduma ein Komitee <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Sicherheit organisiere. Für die Rettung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> müsse eine Regierung aus<br />
beiden Gruppen gebildet werden.<br />
Im gleichen Geiste spricht sich <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> linken Sozial-revolutionäre, Karelin,<br />
aus. Es sei unmöglich, das beschlossene Programm ohne jene Parteien durchzuführen,<br />
die den Kongreß verlassen haben. Allerdings, »die Bolschewiki haben dieses Weggehen<br />
nicht verschuldet«. Das Programm des Kongresses müßte die gesamte Demokratie vereinigen.<br />
»Wir wollen nicht den Weg gehen, <strong>der</strong> zur Isolierung <strong>der</strong> Bolschewiki führt, denn<br />
wir wissen, daß mit dem Schicksal <strong>der</strong> Bolschewiki das Schicksal <strong>der</strong> ganzen <strong>Revolution</strong><br />
verbunden ist: ihr Untergang wird <strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> sein.« Wenn sie, die<br />
linken Sozialrevolutionäre, nichtsdestoweniger den Vorschlag, in die Regierung einzutreten,<br />
ablehnten, so in bester Absicht: ihre Hände frei zu behalten für eine Vermittlung<br />
zwischen Bolschewiki und den Parteien, die den Kongreß verlassen haben. »In dieser<br />
Vermittlung ... erblicken die linken Sozialrevolutionärc im gegenwärtigen Moment ihre<br />
Hauptaufgabe.« Die Arbeit <strong>der</strong> neuen Regierung zur Lösung unaufschiebbarer Fragen<br />
würden die linken Sozialrevolutionäre unterstützen. Gleichzeitig stimmen sie gegen die<br />
vorgeschlagene Regierung. Mit einem Wort, die junge Partei verwirrte, so sehr sie nur<br />
konnte.<br />
»Um eine rein bolschewistische Regierung zu verteidigen«, erzählt Suchanow, <strong>der</strong><br />
restlos mit Awilow sympathisierte und hinter den Kulissen Karelin inspirierte, »trat<br />
Trotzki auf. Er war sehr blendend, scharf und hatte in vielem durchaus recht. Aber er<br />
wollte nicht begreifen, worin <strong>der</strong> Kernpunkt <strong>der</strong> Argumentation seiner Gegner bestand«<br />
... Der Kernpunkt <strong>der</strong> Argumentation bestand in einer idealen Diagonale. Im März hatte<br />
man versucht, diese zwischen Bourgeoisie und Versölinlersowjets zu führen. Jetzt träumten<br />
die Suchanow von einer Diagonale zwischen Versöhnlerdemokratie und Diktatur des<br />
Proletariats. Aber <strong>Revolution</strong>en entwickeln sich nicht nach Diagonalen.<br />
»Mit einer Möglichkeit <strong>der</strong> Isolierung des linken Flügels«, sagt Trotzki, »hat man uns<br />
wie<strong>der</strong>holt geschreckt. Vor einigen Tagen, als die Frage des Aufstandes offen gestellt<br />
wurde, sagte man uns, wir gingen dem sicheren Untergang entgegen. Und in <strong>der</strong> Tat,<br />
urteilt man nach <strong>der</strong> politischen Presse über die Kräftegruppierung, dann hat uns<br />
durch den Aufstand <strong>der</strong> sichere Untergang gedroht. Gegen uns standen nicht nur die<br />
konterrevolutionären Banden, son<strong>der</strong>n auch die Landesverteidiger aller Abarten; die<br />
linken Sozialrevolutionäre arbeiteten nur mit einem ihrer Flügel mit uns mutig zusammen<br />
im Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee; ihr an<strong>der</strong>er Teil nahm die Position abwarten<strong>der</strong><br />
Neutralität ein. Und dennoch, unter diesen ungünstigen Bedingungen, wo, wie<br />
es schien, wir von allen verlassen waren, hat <strong>der</strong> Aufstand gesiegt ...<br />
Wären die realen Kräfte tatsächlich gegen uns gewesen, wie hätte es geschehen<br />
können, daß wir den Sieg fast ohne Blutvergießen errungen haben? Nein, isoliert<br />
waren nicht wir, son<strong>der</strong>n die Regierung und die Quasidemokraten. Durch ihre<br />
Schwankungen, durch ihr Versöhnlertum haben sie sich aus den Reihen <strong>der</strong> wahren<br />
Demokratie ausgestrichen. Unser großer Vorzug als Partei besteht darin, daß wir eine<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 760
Koalition mit den Klassenkräften geschlossen und das Bündnis <strong>der</strong> Arbeiter, Soldaten<br />
und ärmsten Bauern hergestellt haben.<br />
Politische Gruppierungen verschwinden, doch die grundlegenden Klasseninteressen<br />
bleiben. Es siegt jene Partei, die fähig ist, die grundlegenden For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Klasse<br />
zu fühlen und zu erfüllen ... Auf die Koalition unserer hauptsächlich bäuerlichen<br />
Garnison mit <strong>der</strong> Arbeiterklasse können wir stolz sein. Sie, diese Koalition, ist im<br />
Feuer erprobt. Die Petrogra<strong>der</strong> Garnison und das Proletariat sind gemeinsam in den<br />
großen Kampf eingetreten, <strong>der</strong> ein klassisches Beispiel bleiben wird in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>sgeschichte<br />
aller Völker.<br />
Awilow hat von den allergrößten Schwierigkeiten gesprochen, die vor uns stehen. Zur<br />
Behebung dieser Schwierigkeiten schlägt er eine Koalition vor. Dabei aber macht er<br />
keinen Venuch, diese Formel aufzulösen und zu sagen: welcher Art Koalition - von<br />
Gruppen, Klassen, o<strong>der</strong> einfach eine Zeitungskoalition? ...<br />
Es wird gesagt, die Spaltung bei <strong>der</strong> Demokratie sei ein Miß-verständnis. Wenn<br />
Kerenski gegen uns Stoßtruppler anmarschieren läßt, wenn man uns mit Genehmigung<br />
des Zentral-Exekutivkomitees im schärfsten Moment unseres Kampfes gegen die<br />
Bourgeoisie des Telephons beraubt, wenn man uns einen Schlag nach dem an<strong>der</strong>en<br />
versetzt, - kann man da wirklich von Mißverständnis sprechen?<br />
Awilow sagt uns: das Brot ist knapp, man braucht eine Koalition mit den Landesverteidigern.<br />
Würde aber diese Koalition das Brotquantum vergrößern? Die Frage des<br />
Brotes - das ist die Frage des Aktionsprogramms. Der Kampf gegen den Wirtschaftszerfall<br />
erfor<strong>der</strong>t ein bestimmtes System von unten, nicht aber politische Gruppierungen<br />
an <strong>der</strong> Spitze.<br />
Awilow sprach von einem Bündnis mit <strong>der</strong> Bauernschaft; aber wie<strong>der</strong>um: von welcher<br />
Bauernschaft ist die Rede? Heute hat hier ein Bauernvertreter des Twerer Gouvernernents<br />
die Verhaftung Awksentjews verlangt. Man muß wählen zwischen diesem Twerer<br />
Bauern und Awksentjew, <strong>der</strong> die Gefängnisse mit Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bauernkomitees<br />
gefüllt hat. Eine Koalition mit den Kulakenelementen <strong>der</strong> Bauernschaft lehnen wir<br />
entschieden ab im Namen einer Koalition <strong>der</strong> Arbeiterklasse mit den ärmsten Bauern.<br />
Wir sind mit den Twerer Bauern gegen Awksentjew, wir sind mit ihnen bis ans Ende<br />
unzertrennlich.<br />
Wer dem Schatten einer Koalition nachjagt, isoliert sich völlig vom Leben. Die linken<br />
Sozialrevolutionäre werden die Stütze in den Massen verlieren, wenn es ihnen einfallen<br />
sollte, unserer Partei entgegenzuwirken. Jede Gruppe, die sich in Gegensatz stellt zur<br />
Partei des mit <strong>der</strong> Dorfarmut verbundenen Proletariats, isoliert sich von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Offen, vor dem Angesicht des ganzen Volkes, haben wir das Banner des Aufstandes<br />
erhoben. Die politische Formel dieses Aufstandes ist: Alle Macht den Sowjets durch<br />
den Sowjetkongreß. Man sagt uns: ihr habt mit dem Umsturz nicht auf den Kongreß<br />
gewartet. Wir hätten schon gewartet, aber Kerenski wollte nicht warten: die Konterrevolutionäre<br />
haben nicht geschlafen. Wir als Partei haben es als unsere Aufgabe<br />
betrachtet, die reale Möglichkeit für den Sowjetkongreß zu schaffen, die Macht in seine<br />
Hände zu nehmen. Wäre <strong>der</strong> Kongreß von Junkern umstellt worden, wie hätte er die<br />
Macht ergreifen können? Um diese Aufgabe zu verwirklichen, war eine Partei nötig,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 761
die die Macht den Händen <strong>der</strong> Konterrevolution entwinden und euch sagen konnte:<br />
"Hier ist die Macht, ihr habt die Pflicht, sie zu nehmen!" [Stürmischer, nicht enden<br />
wollen<strong>der</strong> Beifall.]<br />
Ungeachtet dessen, daß die Landesverteidiger aller Schattierungen im Kampfe gegen<br />
uns vor nichts zurückschreckten, haben wir sie nicht weggestoßen, - wir haben dem<br />
Kongreß in seiner Gesamtheit angeboten, die Macht zu übernehmen. Wie muß man die<br />
Perspektive entstellen, um nach all dem, was vorgefallen ist, von deser Tribüne herab<br />
von unserer Unversöhnlichkeit zu sprechen! Wenn die in Pulverrauch gehüllte Partei<br />
zu ihnen kommt und sagt: "Nehmen wir die Macht gemeinsam!", dann laufen sie in die<br />
Stadtduma und vereinigen sich dort mit den offenen Konterrevolutionären. Sie sind<br />
Verräter an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, mit denen wir uns niemals vereinigen werden!<br />
Für den Kampf um den Frieden, sagt Awilow, sei die Koalition mit den Versöhnlern<br />
notwendig. Gleichzeitig gesteht er, daß die Alliierten einen Frieden nicht schließen<br />
wollen ... Den Margarinedemokraten Skobelew, berichtet Awilow, hätten die alliierten<br />
Imperialisten ausgelacht. Wenn ihr aber einen Block mit den Margarinedemokraten<br />
schließt, wäre die Sache des Friedens gesichert.<br />
Es gibt zwei Wege im Kampfe um Frieden. Der eine Weg: den Regierungen <strong>der</strong><br />
verbündeten und <strong>der</strong> feindlichen Län<strong>der</strong> die moralische und materielle. Macht <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> entgegenzustellen. Der zweite Weg: ein Block mit Skobeljew, was einen<br />
Block mit Tereschtschenko und völlige Unterwerfung unter den alliierten Imperialismus<br />
bedeutet. In unserem Friedensangebot wenden wir uns gleichzeitig an die Regierungen<br />
und an die Völker. Doch ist das nur eine formelle Symmetrie. Wir glauben<br />
selbstverständlich nicht, die imperialistischen Regierungen mit unseren Aufrufen<br />
beeinflussen zu können; aber solange sie existieren, können wir sie nicht ignorieren.<br />
Unsere ganze Hoffnung jedoch setzen wir darauf, daß unsere <strong>Revolution</strong> die europäische<br />
<strong>Revolution</strong> entfesseln wird. Werden die aufständischen Völker Europas den<br />
Imperialismus nicht erwürgen, dann werden wir erwürgt werden - das ist<br />
unbestreitbar. Entwe<strong>der</strong> wird die russische <strong>Revolution</strong> einen Kampfwirbel im Westen<br />
hervorrufen, o<strong>der</strong> die Kapitalisten aller Län<strong>der</strong> werden unsere <strong>Revolution</strong> erdrosseln.«<br />
»Es gibt einen dritten Weg«, schallt es von einem Platze.<br />
»Der dritte Weg«, antwortet Trotzki, »ist <strong>der</strong> Weg des Zentral-Exekutivkomitees, das<br />
einerseits Delegationen zu den westeuropäischen Arbeitern schickt und an<strong>der</strong>erseits<br />
ein Bündnis schließt mit den Kischkin und Konowalow. Das ist <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Lüge und<br />
Heuchelei, den wir niemals beschreiten werden!<br />
Selbssverständlich wollen wir nicht sagen, daß nur <strong>der</strong> Tag des Aufstandes <strong>der</strong><br />
europäischen Arbeiter <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> Friedensunterzeichnung sein wird. Es ist auch<br />
möglich, daß die Bourgeoisie, eingeschüchtert durch den herannahenden Aufstand <strong>der</strong><br />
Unterdrückten, sich beeilen wird, Frieden zu schließen. Termine sind hier nicht<br />
gegeben. Konkrete Formen vorauszusehen, ist nicht möglich. Aber es ist wichtig und<br />
notwendig, eine Kampfmethode zu bestimmen, die im Prinzip sich gleich bleibt in <strong>der</strong><br />
Außen- wie Innenpolitik. Ein Bündnis <strong>der</strong> Unterdrückten überall und aller Orts - das<br />
ist unser Weg.«<br />
»Die Kongreßdelegierten«, schreibt Reed, »feierten ihn mit einem grenzenlosen<br />
Beifallssturm, entzündet vom kühnen Gedanken, Vorkämpfer <strong>der</strong> Menschheit zu sein.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 762
Jedenfalls konnte es damals keinem <strong>der</strong> Bolschewiki in den Sinn kommen, dagegen zu<br />
protestieren, daß das Schicksal <strong>der</strong> Sowjetrepublik in einer offiziellen Rede namens <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei in direkte Abhängigkeit gestellt wurde von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
Weltrevolution.<br />
Das dramatische Gesetz dieses Kongresses bestand darin, daß je<strong>der</strong> bedeutsame Akt<br />
schloß o<strong>der</strong> sogar unterbrochen wurde durch ein kurzes Intermedium, in dem plötzlich<br />
auf <strong>der</strong> Bühne eine Gestalt aus dem an<strong>der</strong>en Lager erschien, Protest einzulegen, mit<br />
einem Ultimatum zu drohen o<strong>der</strong> ein solches zu stellen. Der Vertreter des Wikschel, des<br />
Exekutivkomitees des All<strong>russischen</strong> Eisenbahnerverbandes, will sofort und unverzüglich<br />
das Wort haben; er muß in die Versammlung eine Bombe werfen noch vor <strong>der</strong> Abstimmung<br />
über die Regierungsfrage. Der Redner, von dessen Gesicht Reed unversöhnliche<br />
Feindschaft ablas, beginnt mit <strong>der</strong> Anklage: seine Organisation, »die stärkste in<br />
Rußland«, sei zum Kongreß nicht eingeladen worden. »Dann hat Sie das Zentral-Exekutivkomitee<br />
nicht eingeladen!« ruft man ihm von allen Seiten zu. Man möge zur Kenntnis<br />
nehmen: <strong>der</strong> ursprüngliche Beschluß des Wikschel betreffs Unterstützung des Sowjetkongresses<br />
ist wi<strong>der</strong>rufen! Der Redner beeilt sich, das bereits telegraphisch im ganzen<br />
Lande verbreitete Ultimatum zu verlesen:<br />
<strong>der</strong> Wikschel verurteile die Machtergreifung durch eine Partei; die Regierung müsse<br />
verantwortlich sein <strong>der</strong> »gesamten revolutionären Demokratie«; bis zur Schaffung einer<br />
demokratischen Regierung verfüge über das Eisenbahnnetz ausschließlich <strong>der</strong> Wikschel.<br />
Der Redner setzt hinzu, konterrevolutionäre Truppen würden nach Petrograd nicht<br />
durchgelassen werden; überhaupt würden Truppenbewegungen von nun an nur auf<br />
Befehl des alten Zentral-Exekutivkomitees erfolgen. Im Falle von Repressivmaßnahmen<br />
gegen die Eisenbahner werde <strong>der</strong> Wikschel Petrograd ohne Lebensmittel lassen.<br />
Der Kongreß zuckte auf wie unter einem Hieb. Die Gewaltigen des Eisenbahnerverbandes<br />
versuchten mit <strong>der</strong> Volksvertretung wie von Macht zu Macht zu verhandeln.<br />
Wenn Arbeiter, Soldaten und Bauern die Leitung des Staates in ihre Hände nehmen, will<br />
<strong>der</strong> Wikschel über Arbeiter, Soldaten und Bauern kommandieren. Das gestürzte System<br />
<strong>der</strong> Doppelherrschaft versucht er in kleine Münze umzusetzen. Bemüht, sich nicht auf<br />
ihre zahlenmäßige Stärke, son<strong>der</strong>n auf die außerordentliche Bedeutung <strong>der</strong> Eisenbahn für<br />
Wirtschaft und Kultur des Landes zu stützen, entlarven die Demokraten des Wikschel die<br />
ganze Wackligkeit <strong>der</strong> Kriterien <strong>der</strong> formalen Demokratie in den Grundfragen des sozialen<br />
Kampfes. Wahrlich, die <strong>Revolution</strong> geizt nicht mit genialen Belehrungen!<br />
Den Moment für den Hieb haben die Versöhnler jedenfalls nicht übel gewählt. Die<br />
Gesichter des Präsidiums sind besorgt. Zum Glück ist <strong>der</strong> Wikschel kein unumschränkter<br />
Herr <strong>der</strong> Verkehrswege. Im Lande gehören die Eisenbahner den Lokalsowjets an. Schon<br />
hier, auf dem Kongreß, ruft das Ultimatum des Wikschel Zurückweisung hervor. »Die<br />
gesamte Eisenbahnermasse unseres Gebiets«, sagt <strong>der</strong> Delegierte von Taschkent, »ist für<br />
die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets.« Ein an<strong>der</strong>er Vertreter <strong>der</strong> Eisenbahnarbeiter<br />
nennt den Wikschel eine »politische Leiche«; Das ist wohl übertrieben. Gestützt auf die<br />
recht zahlreiche Oberschicht <strong>der</strong> Eisenbahnangestellten hat <strong>der</strong> Wikschel mehr Lebenskräfte<br />
behalten als an<strong>der</strong>e Spitzenorganisationen <strong>der</strong> Versöhnler. Doch gehört er zweifellos<br />
zum gleichen Typus wie die Armeekomitees o<strong>der</strong> das Zentral-Exekutivkomitee. Seine<br />
Planetenbahn ist im rapiden Nie<strong>der</strong>gang. Die Arbeiter grenzen sich überall von den<br />
Angestellten ab. Die unteren Angestellten stehen in Gegensatz zu den oberen. Das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 763
anmaßende Ultimatum des Wikschel wird diese Prozesse unausbleiblich beschleunigen.<br />
Nein, nicht die Stationsvorsteher werden den Zug <strong>der</strong> Oktoberrevolution aufhalten!<br />
»Es kann keine Rede sein von <strong>der</strong> Unrechtmäßigkeit des Kongresses«, erklärt autoritativ<br />
Karnenjew. »Das Quorum des Kongresses ist nicht von uns bestimmt worden,<br />
son<strong>der</strong>n vom alten Exekutivkomitee ... Der Kongreß ist das oberste Organ <strong>der</strong> Arbeiterund<br />
Soldatenmassen!« Einfacher Übergang zur Tagesordnung!<br />
Der Rat <strong>der</strong> Volkikommissare ist mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit bestätigt. Awilows<br />
Resolution vereinte nach <strong>der</strong> außerordentlich freigebigen Schätzung Suchanows etwa<br />
hun<strong>der</strong>tfünfzig Stimmen, hauptsächlich linker Sozialrevolutionäre. Der Kongreß bestätigt<br />
danach einmütig die Zusammensetzung des neuen Zentral-Exekutivkomitees: von<br />
hun<strong>der</strong>tundeinem Mitglied - zweiundsechzig Bolschewiki, neunundzwanzig linke Sozialrevolutionäre.<br />
Das Zentral-Exekutivkomitee soll später durch Vertreter <strong>der</strong> Bauernsowjets<br />
und <strong>der</strong> neu zu wählenden Armeeorganisationen ergänzt werden. Den Fraktionen,<br />
die den Sowjet verlassen haben, wird anheimgestellt, ihre Delegierten in das Zentral-Exekutivkomitee<br />
auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Proportionalität zu entsenden.<br />
Die Tagesordnung des Kongresses ist erschöpft. Die Sowjetmacht geschaffen. Sie hat<br />
ein Programm. Man kann an die Arbeit gehen, an <strong>der</strong> kein Mangel ist. Um 5 Uhr 15<br />
morgens schließt Kamenjew den Konstituierenden Kongreß des Sowjetregimes. Zu den<br />
Bahnhöfen! Nach Hause! An die Front, in die Fabriken und Kasernen, in die Bergwerke<br />
und fernen Dörfer! Mit den Kongreßdekreten werden die Delegierten die Hefe <strong>der</strong> proletarischen<br />
Umwälzung in alle Enden des Landes tragen.<br />
An diesem Morgen schrieb das Zentralorgan <strong>der</strong> bolschewistischen Partei, das wie<strong>der</strong><br />
den alten Namen 'Prawda' angenommen hatte: »Sie wollen, daß wir allein die Macht<br />
übernehmen, daß wir allein mit den furchtbaren Schwierigkeiten, die vor dem Lande<br />
stehen, fertig werden ... Nun, wir übernehmen die Macht allein, gestützt auf die Stimme<br />
des Landes und in Erwartung <strong>der</strong> freundschaftlichen Hilfe des europäischen<br />
Proletariats. Aber im Besitze <strong>der</strong> Macht, werden wir gegen die Feinde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
und gegen <strong>der</strong>en Saboteure den eisernen Fausthandschuh anwenden. Sie haben von <strong>der</strong><br />
Diktatur Kornilow geträumt... Wir geben ihnen die Diktatur des Proletariats ...«<br />
Nachwort<br />
In <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>, gerade weil es eine wahrhafte Volksrevolution<br />
ist, die Millionen und Abermillionen in Bewegung brachte, läßt sich eine bemerkenswerte<br />
Folgerichtigkeit <strong>der</strong> Etappen beobachten. Ereignisse lösen einan<strong>der</strong> ab,<br />
gleichsam den Gesetzen <strong>der</strong> Schwere gehorchend. Das Kräfteverhältuis wird an je<strong>der</strong><br />
Etappe zweifach überprüft: zuerst zeigen die Macht ihres Vorstoßes die Massen; danach<br />
enthüllen die besitzenden Klassen, in dem Bestreben, Revanche zu nehmen, um so greller<br />
ihre Isoliertheit.<br />
Im Februar hatten sich die Arbeiter und Soldaten Petrograds zum Aufstand erhoben -<br />
nicht nur entgegen dem patriotischen Willen aller gebildeten Klassen, son<strong>der</strong>n auch<br />
entgegen den Berechnungen <strong>der</strong> revolutionären Organisationen. Die Massen bewiesen,<br />
daß sie unüberwindlich sind. Wären sie sich dessen selbst bewußt gewesen, sie wären die<br />
Macht geworden. Doch stand an ihrer Spitze noch keine starke und autoritäre revolutionäre<br />
Partei. Die Macht geriet in die Hände <strong>der</strong> kleinbürgerlichen Demokratie, gefärbt in<br />
sozialistische Schutztönungen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre waren unfähig, für<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 764
das Vertrauen <strong>der</strong> Massen eme an<strong>der</strong>e Verwendung zu finden, als die liberale Bourgeoisie<br />
ans Steuer zu berufen, welche ihrerseits nichts an<strong>der</strong>es vermochte, als die ihr von den<br />
Versöhnlern unterschobene Macht in den Dienst <strong>der</strong> Entente-Interessen zu stellen.<br />
In den Apriltagen treten empörte Regimenter und Betriebe - wie<strong>der</strong>um ohne Auffor<strong>der</strong>ung<br />
seitens irgendeiner Partei - auf die Straßen Petrograds, um <strong>der</strong> imperialistischen<br />
Politik einer ihnen von den Versöhnlern aufgezwungenen Regierung Wi<strong>der</strong>stand zu<br />
leisten. Die bewaiffnete Demonstration erringt den Schein eines Erfolges. Miljukow, das<br />
Haupt des <strong>russischen</strong> Imperialismus, wird von <strong>der</strong> Macht entfernt. Die Versöhnler treten<br />
in die Regierung ein, nach außen hin als Bevollmächtigte des Volkes, in Wirklichkeit als<br />
Kommis <strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />
Ohne auch nur eine einzige <strong>der</strong> Aufgaben, die die <strong>Revolution</strong> erzeugt hatten, zu lösen,<br />
bricht im Juni die Koalitionsregierung den faktisch entstandenen Waffenstillstand an <strong>der</strong><br />
Front, indem sie die Truppen in eine Offensive wirft. Mit diesem Akt fügt sich das<br />
Februarregime, das ohnehin gekennzeichnet ist durch schwindendes Vertrauen <strong>der</strong><br />
Massen zu den Versöhnlem, einen fatalen Schlag zu. Es beginnt die Periode <strong>der</strong> unmittelbaren<br />
Vorbereitung <strong>der</strong> zweiten <strong>Revolution</strong>.<br />
Anfang Juli verfolgte die Regierung, die hinter sich alle besitzenden und gebildeten<br />
Klassen hatte, jegliche revolutionäre Äußerung als Vaterlandsverrat und Hilfe für den<br />
Feind. Die offiziellen Massenorganisationen - Sowjets und sozialpatriotische Parteien -<br />
kämpften mit den letzten Kräften gegen jede revolutionäre Aktion. Die Bolschewiki<br />
hielten aus taktischen Erwägungen die Arbeiter und Soldaten davor zurück, auf die<br />
Straße zugehen. Dennoch traten die Massen hervor. Die Bewegung erwies sich als unaufhaltsam<br />
und allgemein. Die Regierung war nicht zu sehen. Die Versöhnler hielten sich<br />
versteckt. Die Arbeiter und Soldaten waren in <strong>der</strong> Hauptstadt die Herren <strong>der</strong> Lage. Der<br />
Vorstoß zerschellte jedoch an <strong>der</strong> unzureichenden Vorbereitung <strong>der</strong> Provinz und <strong>der</strong><br />
Front.<br />
Ende August waren sämtliche Organe und Institutionen <strong>der</strong> besitzenden Klassen für<br />
eine konterrevolutionäre Umwälzung: Ententediplomatie, Banken, Verbände <strong>der</strong> Gutsbesitzer<br />
und industriellen, Kadettenpartei, Stäbe, Offizierkorps, große Presse. Als Organisator<br />
<strong>der</strong> Umwälzung trat kein Geringerer hervor als <strong>der</strong> Höchstkommandierende, gestützt<br />
auf den Kommandoapparat <strong>der</strong> Vielmillionenarmee. Beson<strong>der</strong>e, an allen Fronten ausgewählte<br />
Truppenteile wurden nach einer Geheimverständigung mit dem Regierungsoberhaupt<br />
unter dem Schein strategischer Notwendigkeiten auf Petrograd geworfen.<br />
In <strong>der</strong> Hauptstadt schien alles für den Erfolg des Unternehmens vorbereitet: die Arbeiter<br />
von den Behörden unter Mitwirkung <strong>der</strong> Versöhnler entwaffnet; die Bolschewiki<br />
unter dauernden Schlägen gehalten; die revolutionärsten Truppenteile aus <strong>der</strong> Stadt<br />
entfernt; Hun<strong>der</strong>te ausgesuchter Offiziere zu einer Stoßfaust konzentriert; zusammen mit<br />
den Junkerschulen und Kosakenabteilungen sollten sie eine imposante Macht darstellen.<br />
Und was geschah? Die Verschwörung, die, wie es schien, die Götter selbst begünstigten,<br />
zerfiel, kaum auf das revolutionäre Volk gestoßen, sofort zu Staub.<br />
Diese beiden Bewegungen, vom Anfang Juli und Ende August, verhielten sich zueinan<strong>der</strong><br />
wie ein. direktes und ein umgekehrtes Theorem. Die Julitage zeigten die Macht <strong>der</strong><br />
spontanen Massenbewegung. Die Augusttage enthüllten die völlige Ohnmacht <strong>der</strong> Regierenden.<br />
Dieses Verhältnis kündete die Unvermeidlichkeit eines neuen Zusammenstoßes.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 765
Provinz und Front schlossen sich unterdessen enger <strong>der</strong> Hauptstadt an. Dies war vorbestimmend<br />
für den Oktobersieg.<br />
»Die Leichtigkeit, mit <strong>der</strong> es Lenin und Trotzki gelang, die letzte Koalitionsregierung<br />
Kerenskis zu stürzen«, schrieb <strong>der</strong> Kadett Nabokow, »enthüllte die innere Ohnmacht<br />
dieser Regierung. Der Grad dieser Ohnmacht verblüffte damals sogar gut informiene<br />
Menschen.« Nabokow kommt offenbar gar nicht darauf, daß es um seine eigene<br />
Ohnmacht ging, um die Ohnmacht seiner Klasse, seiner Gesellschaftsordnung.<br />
Wie von <strong>der</strong> bewaffneten Julidemonstration die Kurve zum Oktoberaufstand führt, so<br />
läßt sich in <strong>der</strong> Kornilow-Bewegung eine Probe des in den letzten Oktobertagen von<br />
Kerenski unternommenen konterrevolutionären Feldzuges erkennen. Die einzige militärische<br />
Kraft, die <strong>der</strong> unter Deckung eines amerikanischen Fähnchens flüchtige demokratische<br />
Höchstkommandierende an <strong>der</strong> Front gegen die Bolschewiki fand, war das gleiche<br />
3. Kavalleriekorps, das zwei Monate zuvor von Kornilow zum Sturze Kerenskis ausersehen<br />
worden war. An <strong>der</strong> Spitze des Korps stand noch immer <strong>der</strong> Kosakengeneral Krassnow,<br />
kämpferischer Monarchist, auf seinen Posten von Kornilow gestellt: ein<br />
passen<strong>der</strong>er Heerführer konnte zur Verteidigung <strong>der</strong> Demokratie eben nicht gefunden<br />
werden.<br />
Vom Korps war allerdings nur noch <strong>der</strong> Name übriggeblieben: es bestand aus einigen<br />
Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften, die nach dem mißlungenen Versuch <strong>der</strong> Offensive gegen die<br />
Roten sich bei Petrograd mit den revolutionären Matrosen verbrü<strong>der</strong>ten. und Krassnow<br />
den Bolschewiki auslieferten. Kerenski war gezwungen zu flüchten - sowohl vor den<br />
Kosaken wie vor den Matrosen. So stellten sich acht Monate nach dem Sturze <strong>der</strong><br />
Monarchie an die Spitze des Landes die Arbeiter. Und stellten sich fest und sicher hin.<br />
»Wer vermag es zu glauben«, schrieb aus diesem Anlaß mit Entrüstung einer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Generale, Salesski, »daß <strong>der</strong> Portier o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wächter eines Gerichtsgebäudes<br />
plötzlich zum Vorsitzenden eines Friedensrichterkollegiums wird? O<strong>der</strong> <strong>der</strong> Krankenhauswärter<br />
zum Lazarettleiter; <strong>der</strong> Barbier zum hohen Beamten; <strong>der</strong> gestrige<br />
Fähnrich zum Höchstkommandierenden; <strong>der</strong> gestrige Lakai o<strong>der</strong> ungelernte Arbeiter<br />
zum Stadthauptmann; <strong>der</strong> gestrige Wagenschmierer - zum Revier- o<strong>der</strong> Bahnhofsvorsteher;<br />
<strong>der</strong> gestrige Schlosser - zum Werkstattdirektor?«<br />
»Wer vermag es zu glauben?« Man mußte es schon glauben. Wie nicht glauben,<br />
nachdem die Fähnriche Generale geschlagen; ein Stadthauptmann, ungelernter Arbeiter,<br />
den Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> gestrigen Herren nie<strong>der</strong>rang, Wagenschmierer den Transport ordneten;<br />
Schlosser als Direktoren die Industrie in Gang brachten.<br />
Die wichtigste Aufgabe eines politischen Regimes besteht nach einem bekannten englischen<br />
Aphorismus darin, richtige Männer auf den richtigen Platz zu stellen. Wie sieht<br />
unter diesem Gesichtswinkel die Erfahrung von 1917 aus? In den ersten zwei Monaten<br />
befehligte Rußland noch, nach dem Recht <strong>der</strong> Erbmonarchie, ein von <strong>der</strong> Natur benachteiligter<br />
Mann, <strong>der</strong> an Reliquien glaubte und Rasputin gehorchte. Während <strong>der</strong> weiteren<br />
acht Monate versuchten Liberale und Demokraten von ihren Regierungshöhen herab dem<br />
Volke nachzuweisen, <strong>Revolution</strong>en würden dazu gemacht, daß alles beim alten bleibe. Es<br />
ist nicht verwun<strong>der</strong>lich, wenn diese Menschen über das Land hinweggingen wie schwankende<br />
Schatten, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vom 25. Oktober ab trat an Rußlands<br />
Spitze Lenin, die größte Figur <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> politischen <strong>Geschichte</strong>. Es umgab ihn ein<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 766
Stab von Mitarbeitern, die; nach dem Geständnis <strong>der</strong> grimmigsten Feinde, wußten, was<br />
sie wollten, und die für ihre Ziele zu kämpfen verstanden. Welches nun von diesen drei<br />
Systemen hatte sich unter den konkreten Bedingungen fähig gezeigt, richtige Männer auf<br />
den richtigen Platz zu stellen?<br />
Den historischen Aufitieg <strong>der</strong> Menschheit kann man, im ganzen genommen, resümieren<br />
als eine Kette von Siegen des Bewußtseins über die blinden Kräfte - in Natur, Gesellschaft<br />
und im Menschen selbst. Der kritische und schöpferische Gedanke konnte sich bis<br />
auf den heutigen Tag <strong>der</strong> größten Erfolge rühmen im Kampfe mit <strong>der</strong> Natur. Die physikalisch-chemischen<br />
Wissenschaften sind bereits an dem Punkt angelangt, wo <strong>der</strong> Mensch<br />
sich offensichtlich anschickt, Herr <strong>der</strong> Materie zu werden. Die gesellschaftlichen Beziehungen<br />
jedoch gestalten sich noch immer in <strong>der</strong> Art von Koralleninseln. Der Parlamentarismus<br />
hat ein Licht nur auf die Oberfläche <strong>der</strong> Gesellschaft geworfen, und auch da nur<br />
ein recht künstliches Licht. Im Vergleich zur Monarchie und an<strong>der</strong>en Erbschaften von<br />
Menschenfresserei und wildem Höhlenzustand stellt die Demokratie gewiß eine große<br />
Errungenschaft dar. Doch läßt sie das blinde Spiel <strong>der</strong> Kräfte in den sozialen Wechselbeziehungen<br />
<strong>der</strong> Menschen unberührt. Gerade gegen dieses tiefste Gebiet des Unbewußten<br />
erhob zum erstenmal die Hand die Oktoberumwälzung. Das Sowjetsystem will Ziel und<br />
Plan hineintragen in das Fundament <strong>der</strong> Gesellschaft, wo bis jetzt nur angehäufte Folgen<br />
herrschten.<br />
Die Gegner triumphieren schadenfroh darüber, daß das Land <strong>der</strong> Sowjets an<strong>der</strong>thalb<br />
Jahrzehnte nach <strong>der</strong> Umwälzung einem Reiche des allgemeinen Wohlstandes noch sehr<br />
wenig ähulich sieht. Ein solches Argument könnte diktiert sein von einer übermäßigen<br />
Anbetung <strong>der</strong> magischen Kraft sozialistischer Methoden, wäre es in Wirklichkeit nicht<br />
mit <strong>der</strong> Verblendung <strong>der</strong> Feindseligkeit zu erklären. Der Kapitalismus hat Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
gebraucht, um durch Steigerung <strong>der</strong> Wissenschaft und Technik die Menschheit in die<br />
Hölle des Krieges und <strong>der</strong> Krise zu stürzen. Dem Sozialismus lassen die Feinde nur<br />
an<strong>der</strong>thalb Jahrzehnte, um das Paradies auf Erden zu errichten und einzurichten. Solche<br />
Verpflichtungen haben wir nicht übernommen. Solche Fristen niemals gestellt. Prozesse<br />
großer Umwandlungen müssen mit den ihnen adäquaten Maßstäben gemessen werden.<br />
Aber das Elend, das über die lebendigen Menschen hereinbricht? Aber Feuer und Blut<br />
des Bürgerkrieges? Rechtfertigen überhaupt die Ergebnisse <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> die durch sie<br />
verursachten Opfer? Die Frage ist teleologisch und deshalb unfruchtbar. Mit gleichem<br />
Recht kann man angesichts <strong>der</strong> Mühen und Leiden des persönlichen Daseins fragen:<br />
lohnt es sich überhaupt, geboren zu werden? Melancholische Betrachtungen aber haben<br />
die Menschen bis jetzt, nicht gehin<strong>der</strong>t, zu gebären und geboren zu werden. Sogar in <strong>der</strong><br />
Zeit <strong>der</strong> heutigen unerträglichen Leiden greift zum Selbstmord trotz allem nur ein kleiner<br />
Prozentsatz <strong>der</strong> Bevölkerung unseres Planeten. Die Völker jedoch suchen aus den<br />
unerträglichen Schwierigkeiten einen Ausweg in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.<br />
Ist es nicht bemerkenswert, daß über die Opfer sozialer Umwälzungen mit größter<br />
Entrüstung am häufigsten jene sprechen, die, wenn sie nicht die unmittelbaren Urheber<br />
<strong>der</strong> Opfer des, Weltkrieges waren, so doch ihn vorbereitet, gepriesen o<strong>der</strong> sich mindestens<br />
mit ihm abgefunden hatten. Wir sind an <strong>der</strong> Reihe, zu fragen: hat sich <strong>der</strong> Krieg<br />
gelohnt? was hat er ergeben? was gelehrt?<br />
Man braucht jetzt wohl kaum bei den Behauptungen <strong>der</strong> gekränkten <strong>russischen</strong> Besitzenden<br />
zu verweilen, die <strong>Revolution</strong> habe zum kulturellen Abstieg des Landes geführt.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 767
Die von <strong>der</strong> Oktoberumwälzung gestürzte Adelskultur stellte letzten Endes nur eine<br />
oberflächliche Nachahmung <strong>der</strong> höheren Muster des Westens dar. Unerreichbar für das<br />
russische Volk, hatte sie nichts Wesentliches zum Schatze <strong>der</strong> Menschheit beigetragen.<br />
Die Oktobcrrevolution hat das Fundament zu einer neuen Kultur gelegt, berechnet für<br />
alle, und gerade darum hat sie internationale Bedeutung. Sogar wenn das Sowjetregime<br />
infolge ungünstiger Umstände und feindlicher Schläge - nehmen wir das für einen<br />
Augenblick an - vorübergehend gestürzt werden sollte, <strong>der</strong> unauslöschliche Stempel <strong>der</strong><br />
Oktoberumwälzung würde dennoch auf <strong>der</strong> ganzen weiteren Menschheitsentwicklung<br />
verbleiben.<br />
Die Sprache <strong>der</strong> zivilisierten Nationen hat deutlich zwei Epochen in Rußlands<br />
Entwicklung vermerkt. Wenn die Adelskultur in den Weltgebrauch solche Barbarismen<br />
luneingetragen hat wie Zar, Pogrom und Nagajka, so hat <strong>der</strong> Oktober solche Worte international<br />
gemacht wie Bolschewik, Sowjet, Pjatilletka. Das allein rechtfertigt die proletarische<br />
<strong>Revolution</strong>, nimmt man überhaupt an, daß sie einer Rechtfertigung bedarf.<br />
<br />
Anhang zu Band 1<br />
Anhang 1<br />
Zum Kapitel "Die Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands"<br />
Die Frage nach den Eigenarten <strong>der</strong> historischen Entwicklung Rußlands und in Zusammenhang<br />
damit nach seinen zukünftigen Schicksalen bildete fast während des ganzen 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts die Grundlage aller Streitigkeiten und Gruppierungen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Intelligenz.<br />
Das Slawophilentuin und das Westlertum entschieden diese Frage in entgegengesetzten<br />
Richtungen, aber in gleicher Weise kategorisch. Sie wurden von dem<br />
Narodnikitum und dem Marxismus abgelöst. Bevor das Narodnikitum unter dem Einfluß<br />
des bürgerlichen Liberalismus endgültig verblaßte, hatte es lange und beharrlich einen<br />
eigenartigen Entwicklungsweg Rußlands unter Umgehung des Kapitalismus verteidigt.<br />
In diesetn Sinne setzten die Narodniki die slawophile Tradition fort, wobei sie sie jedoch<br />
von den monarchistisch-kirchlich-panslawistischen Elementen reinigten und ihr einen<br />
revolutionär-demokratischen Charakter verliehen.<br />
Im wesentlichen waren die Konzeptionen des Slawophilentums, bei all ihrer reaktionären<br />
Phantasterei, wie auch die des Narodnikitums bei all ihrer demokratischen Illusion,<br />
keinesfalls nackte Spekulationen, son<strong>der</strong>n stützten sieh auf unbestreitbare und dabei<br />
tiefe, bloß einseitig erfaßte und falsch bewertete Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands.<br />
Der russische Marxismus, <strong>der</strong> die Identität <strong>der</strong> Eistwicklungsgesetze für alle Län<strong>der</strong><br />
nachwies, verfiel im Kampfe mit den Narodniki nicht selten in dogmatische Schablonisierung<br />
und zeigte dabei Neigung, mit dem Seifenwasser auch das Kind aus dem Bade zu<br />
schütten. Beson<strong>der</strong>s kraß äußert sich diese Neigung in vielen Arbeiten des bekannten<br />
Professors Pokrowski.<br />
Im Jahre 1922 fiel Pokrowski über die historische Konzeption des Autors dieses<br />
Buches, <strong>der</strong>en Grundlage die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> bildet, her. Wir erachten<br />
es als nützlich, mindestens für Leser, die sich nicht nur für den dramatischen Verlauf<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 768
<strong>der</strong> Ereignisse, son<strong>der</strong>n auch für die Doktrin <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> interessieren, die wesentlichsten<br />
Auszüge aus unserer Antwort an Professor Pokrowski, die in zwei Nummern des<br />
Zentralorgans <strong>der</strong> Partei, 'Prawda' vom 1. und 2. Juli 1922, publiziert wurde, hier<br />
anzuführen.<br />
Über die Eigenarten <strong>der</strong> historischen Entwicklung Rußlands<br />
Pokrowski veröffentlichte einen meinem Buche "1905" gewidmeten Artikel, <strong>der</strong> ein<br />
lei<strong>der</strong> negatives! - Zeugnis dafür ist, welch komplizierte Sache die Anuiendung <strong>der</strong><br />
Methoden des historischen Materialismus auf die lebendige menschliche <strong>Geschichte</strong><br />
darstellt und unter welche Schablonen sogar so weitgehend informierte Menschen wie<br />
Pokrowski nicht selten die <strong>Geschichte</strong> bringen.<br />
Das Buch (das Pukrowski einer Kritik unterwarf) ist in <strong>der</strong> unmittelbaren Absicht<br />
entstanden, die Losung <strong>der</strong> Machteroberung durch das Proletariat sowohl im Gegensatz<br />
zur Losung <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen Republik wie auch zur Losung <strong>der</strong> demokratischen<br />
Regierung des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft historisch zu begründen und<br />
theoretisch zu rechtfertigen ... Dieser Gedankengang hat bei einer nicht geringen Anzahl<br />
Marxisten, richtiger gesagt, bei <strong>der</strong> überwiegenden Mehrheit, die hellste theoretische<br />
Entrüsrung hervorgerufen. Träger dieser Entrüstung waren nicht nur die Menschewiki,<br />
son<strong>der</strong>n auch Kamenew und Roschkow (ein bolsehewistiseher Historiker). Ihr Standpunkt<br />
war im großen und ganzen folgen<strong>der</strong>: die politische Herrschaft <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
muß <strong>der</strong> politischen Herrschaft des Proletariats vorangehen; die bürgerlich-demokratische<br />
Republik muß eine lange historische Schule für das Proletariat sein; <strong>der</strong> Versuch,<br />
diese Stufe zu überspringen, ist Abenteurertum; wenn die Arbeiterklasse im Westen die<br />
Macht nicht erobert hat, wie darf dann das russische Proletariat sich diese Aufgabe<br />
stellen, usw. usw. Vom Standpunkte dieses Scheinmarxismus, <strong>der</strong> sieh auf historische<br />
Schablonen und formale Analogien beschränkt, historische Epochen in eine logische<br />
Aufeinan<strong>der</strong>folge unbeugsamer sozialer Kategorien verwandelt (Feudalismus, Kapitalismus,<br />
Sozialismus, Selbstherrschertum, bürgerliche Repubhk, Diktatur des Proletariats), -<br />
von diesem Standpunkte aus muß die Losung <strong>der</strong> Machteroberung durch die Arbeiterklasse<br />
in Rullland als ungeheuerlicher Verzicht auf den Marxismus erscheinen. Indes<br />
beweist schon eine ernsthafte empirische Bewertung <strong>der</strong> sozialen Kräfte, wie sie in den<br />
Jahren 1903-05 zum Ausdruck kamen, gebieteriseh die ganze Lebensfülle des Kampfes<br />
<strong>der</strong> Arbeiterklasse um die Eroberung <strong>der</strong> Macht. Ist es eine Eigenart, o<strong>der</strong> ist es keine?<br />
Setzt sie tiefe Eigenarten <strong>der</strong> gesamten historischen Entwicklung voraus o<strong>der</strong> nicht? Auf<br />
welche Weise erstand eine solche Aufgabe vor dem Proletariat Rußlands, das beißt des<br />
(mit Pokrowskis Erlaubnis) rückständigsten Landes Europas?<br />
Und worin besteht die Rückständigkeit Rußlands? Darin, daß Rußland die <strong>Geschichte</strong><br />
<strong>der</strong> westeuropäischen Län<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>holt, nur mit einer Verspätung? Aber konnte man<br />
dann von <strong>der</strong> Machteroberung durch das russische Proletariat sprechen? Diese Macht<br />
jedoch hat das Proletariat (wir nehmen uns die Freiheit, daran zu erinnern) erobert.<br />
Worum handelt es sich denn eigentlich? Darum, daß unter Druck und Einfluß <strong>der</strong><br />
höheren Kultur des Westens die unzweifelhafte und unbestrittene Verspätung <strong>der</strong><br />
Entwicklung Rußlands nicht eine einfache Wie<strong>der</strong>holung des westeuropäischen historischen<br />
Prozesses ergibt, son<strong>der</strong>n tiefe Beson<strong>der</strong>heiten, die ein selbständiges Studium<br />
erfor<strong>der</strong>n.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 769
Die tiefe Eigenart unserer politischen Situation, die vor Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in<br />
Europa zur siegreichen Oktoberrevolution geführt hat, war in dem beson<strong>der</strong>en Kräfteverhältuis<br />
zwischen den verschiedenen Klassen und <strong>der</strong> Staatsmacht enthalten. Als<br />
Pokrowski und Roschkow sieh mit Narodniki o<strong>der</strong> Liberalen herumstritten und nachwiesen,<br />
daß Organisation und Politik des Zarismus von <strong>der</strong> wirtschaftlichen Entwicklung<br />
und den Interessen <strong>der</strong> besitzenden Klassen bestimmt wurden, hatten sie im wesentlichen<br />
recht. Wenn aber Pokrowski dies gegen mich zu wie<strong>der</strong>holen versucht, trifft er einfach<br />
daneben.<br />
Folge unserer verspäteten historischen Entwicklung unter den Bedingungen <strong>der</strong><br />
imperialistischen Umkreisung war, daß unsere Bourgeoirie nicht Zeit fand, den Zarismus<br />
beiseite zu stoßen, bevor sich das Proletariat in eine selbständige revolutionäre Kraft<br />
verwandelt hatte.<br />
Für Pokrowski jedoch existiert jene Frage, die für uns das zentrale Thema <strong>der</strong> Untersuchung<br />
bildet, überhaupt nicht ...<br />
Pokrowski schreibt: »Auf dem Hintergrunde <strong>der</strong> gesamteuropäischen Beeziehungen<br />
jener Zeit das moskowitische Rußland des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu schil<strong>der</strong>n, ist eine höchst<br />
verlockende Aufgabe. Durch nichts läßt sich das bis heute, sogar in marxistischen<br />
Kreisen, herrschende Vorurteil über die angebliche "Primitivität" jener ökonomischen<br />
Basis, auf <strong>der</strong> das russische Selbstherrschertum entstanden ist, besser wi<strong>der</strong>legen.« Und<br />
ferner: »Dieses Selbstherrschertum in seinem wahren historischen Zusammenhang zu<br />
zeigen, als einen <strong>der</strong> Aspekte des handelskapitalistischen Europa ... das ist eine nicht nur<br />
für den Historiker äußerst interessante, son<strong>der</strong>n auch für das lesende Publikum pädagogisch<br />
sehr wichtige Aufgabe: es gibt kein radikaleres Mittel, mit <strong>der</strong> Legende von <strong>der</strong><br />
"Eigenart" des <strong>russischen</strong> historischen Prozesses Schluß zu machen.« Wie wir sehen,<br />
leugnet Pokrowski völlig die Primitivität und Rückständigkeit unserer wirtschaftlichen<br />
Entwicklung und führt gleichzeitig die Eigenart des <strong>russischen</strong> historischen Prozesses in<br />
das Reich <strong>der</strong> Legende zurück. Der Kern <strong>der</strong> ganzen Sache liegt aber darin, daß<br />
Pokrowski durch die von ihm wie auch von Roschkow beobachtete verhältnismäßig<br />
weitgehende Entwicklung des <strong>russischen</strong> Handels im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t völlig hypnotisiert<br />
ist. Es ist schwer begreiflich, wie Pokrowski in einen solchen Irrtum verfallen konnte.<br />
Man müßte tatsächlich annehmen, <strong>der</strong> Handel bilde die Basis des Wirtschaftslebens und<br />
dessen unfehlbaren Maßstab. Der deutsche Nationalökonom Karl Bücher hatte vor etwa<br />
zwanzig Jahren versucht, im Handel (dem Weg vom Produzenten zum Konsumenten)<br />
das Kriterium <strong>der</strong> gesamten Wirtschaftsentwicklung zu entdecken. Struve beeilte sich<br />
natürlich, diese "Entdeckung" in die russische ökonomische "Wissenschaft" zu verpflanzen.<br />
Büchers Theorie fand damals sofort eine ganz selbstverständliche Zurückweisung<br />
seitens <strong>der</strong> Marxisten. Wir suchen das Kriterium <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung in <strong>der</strong><br />
Produktion - in <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong> gesellschaftlichen Organisierung <strong>der</strong> Arbeit -,<br />
während wir den Weg, den das Erzeugnis vom Produzenten zum Konsunsenten durehmacht,<br />
als eine Erscheinung zweiter Ordnung betrachten, <strong>der</strong>en Wurzeln in <strong>der</strong> gleichen<br />
Produktion zu suchen sind.<br />
Das wenigstens in räumlicher Hinsicht große Ausmaß des <strong>russischen</strong> Handels im 16.<br />
Jalsrhun<strong>der</strong>t läßt sich - so paradox das vom Standpunkte des Bücher-Struveschen Kriteriums<br />
auch erscheinen mag gerade mit <strong>der</strong> außerordentlichen Primitivität und Rückständigkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirtschaft erklären. Die westeuropäische Stadt beherrsehten<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 770
Handwerkszünfte und Handelsgilden. Bei uns waren die Städte in erster Linie administrativ-militätische,<br />
folglich konsumierende und nicht produzierende Zentren. Die<br />
handwerklich-zünftige Lebensform des Westens entstand auf einem verhältnismäßig<br />
hohen Niveau <strong>der</strong> Wirtscaftsentwicklung, als alle grundlegenden Prozesse <strong>der</strong> bearbeitenden<br />
Industrie sich vom Ackerbau getrennt, in selbständige Handwerkszwege verwandelt<br />
und egene Organisationen, ein eigenes Zentrum gebildet hatten, die Stadt, mit einem,<br />
wenn auch in <strong>der</strong> ersten Zeit auf bestimmte Gebiete beschränkten, so doch festen Markt.<br />
Die Grundlage <strong>der</strong> mittelalterlich europäischen Stadt war folglich eine verhältnismäßig<br />
hohe Differenzierung <strong>der</strong> Wirtschaft, die zwischen dem Zentrum Stadt und seiner<br />
landwirtschaftlichen Peripherie geordnete Beziehungen schuf. Dagegen fand unsere<br />
wirtschaftliche Rückständigkeit ihren Ausdruck vor allem darin, daß sich Handwerk von<br />
Ackerbau nicht getrennt in Form von Heimarbeit bewahrt hatte. Hier sind wir Indien<br />
näher als Europa, wie unsere mittelalterlichen Städte den asiatischen näher waren als den<br />
europäischen, und wie unser Selhstherrschertum, zwischen europäischem Absolutismus<br />
und asiatischer Despotie stehend, sich in vielen Zügen <strong>der</strong> letzteren näherte.<br />
Der Austausch <strong>der</strong> Erzeugnisse setzte bei <strong>der</strong> Unermeßlichkeit unseres Raumes und <strong>der</strong><br />
Dünne <strong>der</strong> Bevölkerung (man sollte glauben, ein ebenfalls genügend objektives Merkmal<br />
<strong>der</strong> Rückständigkeit) die Vermittlerrolle des Handelskapitals in breitestem Ausmaße<br />
voraus. Dieses Ausmaß war eben dadurch möglich, daß <strong>der</strong> Westen auf einem viel<br />
höheren Entwicklungsniveau stand, seine komplizierten Bedürfnisse hatte, seine<br />
Kaufleute und seine Ware sandte und damit bei uns den Handelsumsatz auf unserer<br />
primitivsten und zum großen Teil barbarischen Wirtschaftsgrundlage vorwärtsstieß.<br />
Diese größte Eigenart unserer historischen Entwicklung außer acht lassen, heißt unsere<br />
ganze <strong>Geschichte</strong> übersehen.<br />
Mein sibirischer Arbeitgeber (ich hatte bei ihm zwei Monate lang die Pud und Arschin<br />
in das Handelsbuch einzutragen) Jakow Andrejewitsch Tschernych - es war nicht im 16.<br />
son<strong>der</strong>n zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts - herrschte vermittels seiner Handelsoperationen<br />
fast uneingeschränkt in den Grenzen des Kirenskischen Kreises. Jakow Andrejewitsch<br />
kaufte bei den Tungusen Rauchware auf, bei den Popen <strong>der</strong> entlegenen Dorfbezirke das<br />
Deputatgetreide, brachte von den Jahrmärkten in Irbit und Nishnij-Nowgorod Kattun<br />
heim und war hauptsächlich Lieferant von Schnaps (im Gouvernement Irkutsk war zu<br />
jener Zeit das Branntweinmonopol noch nicht eingeführt). Jakow Andrejewitseh war<br />
Analphabet, jedoch Millionär (nach dem damaligen, nicht nach dem heutigen Gewicht<br />
<strong>der</strong> "Nullen"). Seine "Diktatur" als des Vertreters des Handelskapitals war unbestritten.<br />
Er pflegte sogar nicht an<strong>der</strong>s als von »meinen Tungus'chen« zu sprechen. Die Städte<br />
Kirensk, Wercholensk, wie Nischne-Ilimsk waren Hauptstädte <strong>der</strong> Isprawniks und<br />
Pristaws, <strong>der</strong> Kulaken von gegenseitiger hierarchischer Abhängigkeit, allerhand kleiner<br />
Beamter und irgendwelcher armseliger Handwerker. Ich konnte dort kein organisiertes<br />
Handwerk, als die Basis eines städtischen Wirtschaftslebens entdecken, we<strong>der</strong> Zünfte,<br />
noch Zunftfestlichkeiten, noch Gilden, obwohl Jakow Andrejewitsch als »Kaufmann<br />
zweiter Gilde« zählte. Wahrlich, dieses lebendige Stück sibirischer Wirklichkeit führt uns<br />
viel tiefer in das Verständnis für die historischen Eigenarten <strong>der</strong> Entwicklung Rußlands<br />
ein als das, was Pokrowski darüber sagt. In <strong>der</strong> Tat. Jakow Andrejewitschs Handelsoperationen<br />
erstreckten sich vom Mittellauf <strong>der</strong> Lena und ihren östlichen Nebenflüssen bis<br />
nach Nishnij-Nowgorod und sogar Moskau. Nicht viele Handelsfirmen des kontinentalen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 771
Europa sind in <strong>der</strong> Lage, solche Entfernungen auf ihrer Handelskarte zu verzeichnen.<br />
Indes war dieser Handelsdiktator - in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> sibirischen Bauern <strong>der</strong> »Kreuzkönig«<br />
- das vollendetste und überzeugendste Symbol unserer wirtschaftlichen Rückständigkeit,<br />
Barbarei, Primitivität, Bevölkerungsdünne, Verstreutheit <strong>der</strong> Bauerndörfer und<br />
Gemeinden, <strong>der</strong> unpassierbaren Landwege, die während des Hochwassers im Frühling<br />
und Herbst für die Dauer von zwei Monaten um ganze Kreise, Bezirke und Dörfer eine<br />
Sumpfblockade errichten, wie auch des allgemeinen Analphabetismus, usw. usw.<br />
Tschernych vermochte auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> sibirischen (Mittel-Lena) Barbarei zu<br />
seiner Handelsbedeutung emporzusteigen, weil <strong>der</strong> Westen - »Rußland«, »Moskaus -<br />
drückte und Sibirien ins Schlepptau nahm und so eine Mischung von wirtschaftlich-nomadenhaftem<br />
Urzustand und Warschauer Weckeruhr hervorbrachte.<br />
Das Zunfthandwerk bildete das Fundament <strong>der</strong> mittelalterlichen Stadtkultur, die auch<br />
auf das Dorf ausstrahlte. Mittelalterliche Wissenschaft, Scholastik, religiöse Reformation<br />
erwuchsen auf dem Boden <strong>der</strong> Handwerkszunft. Bei uns gab es das nicht. Gewiß kann<br />
man Keime, Symptome, Anzeichen finden, im Westen aber waren es nicht Anzeichen,<br />
son<strong>der</strong>n gewaltige wirtschaftlich-kulturelle Formationen mit einem handwerkszünftigen<br />
Fundament. Darauf basierte die mittelalterliche europäische Stadt, darauf erwuchs sie,<br />
trat in Kampf gegen Kirche und Feudale und reichte <strong>der</strong> Monarchie die Hand gegen die<br />
Feudalen. Die gleiche Stadt schuf in Form von Feuerwaffen auch die technischen<br />
Voraussetzungen für die stehenden Heere.<br />
Wo gab es denn bei uns Städte mit Handwerkszünften, die auch nur im Entferntesten<br />
den Städten Westeuropas ähnelten? Wo ihren Kampf gegen die Feudalen? O<strong>der</strong> hat <strong>der</strong><br />
Kampf <strong>der</strong> gewerbe- und handeltreibenden Stadt gegen die Feudalen die Basis für die<br />
Entwicklung des <strong>russischen</strong> Selbstherrsehertums geschaffen? Einen solchen Kampf hat<br />
es bei uns schon wegen des Charakters unserer Städte nicht gegeben, wie es bei uns<br />
keine Reformation gegeben hat. Ist das eine Eigenart, o<strong>der</strong> ist es keine?<br />
Unser Handwerk verblieb auf dem Stadium <strong>der</strong> Heimarbeit, das heißt es son<strong>der</strong>te sich<br />
vom bäuerlichen Ackerbau nicht ab. Die Reformation blieb im Stadium bäuerlicher<br />
Sekten, da sie keine Führung seitens <strong>der</strong> Städte fand. Primitivität und Rückständigkeit<br />
schreien hier zum Himmel ...<br />
Der Zarismus als selbständige Staatsorganisation (und dies wie<strong>der</strong>um nur verhältnismäßig,<br />
in den Grenzen des Kampfes <strong>der</strong> lebendigen historischen Kräfte auf wirtschaftlicher<br />
Basis) wuchs empor nicht dank dem Kampfe mächtiger Städte gegen mächtige<br />
Feudale, son<strong>der</strong>n trotz <strong>der</strong> völligen industriellen Blutarmut unserer Städte und dank <strong>der</strong><br />
Blutarmut unserer Feudalen.<br />
Polen stand seiner sozialen Struktur nach zwischen Rußland und dem Westen, wie<br />
Rußland zwischen Asien und Europa. Den polnischen Städten war das Zunfthandwerk<br />
weitaus bekannter als den <strong>russischen</strong>. Aber es gelang ihnen nicht, sich <strong>der</strong>art zu erheben,<br />
um <strong>der</strong> Königsmacht zu helfen, die Feudalen zu besiegen. Die Staatsmacht blieb unmittelbar<br />
in den Händen des Adels. Die Folge: völlige Ohnmacht des Staates und sein<br />
Zerfall.<br />
Was über den Zarismus gesagt ist, gilt auch für Kapital und Proletariat: unbegreiflich,<br />
weshalb Pokrowski seinen Zorn nur gegen das erste Kapitel richtet, das vom Zarismus<br />
handelt. Der russische Kapitalismus hat sich nicht vom Handwerk über die Manufaktur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 772
zur Fabrik entwickelt, weil das europäische Kapital, und zwar anfangs in Form des<br />
Handels- und später in Form des Finanz- und Industriekapitals, sich in jener Periode auf<br />
uns warf, wo das russische Handwerk in seiner Masse sich noch nicht vom Ackerbau<br />
losgelöst hatte. Daher das Auftreten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen kapitalistischen Industrie in Rußland<br />
im Umkreis wirtschaftlicher Primitivität: eine belgische o<strong>der</strong> amerikanische Fabrik, und<br />
ringsherum Siedlungen, Dörfer aus Stroh und Holz, die alljährlich abbrennen, und so<br />
weiter. Die allerprimitivsten Anfänge und die allerletzten europäischen Fortschritte.<br />
Daher - die gewaltige Rolle des westeuropäischen Kapitals in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Wirtschaft.<br />
Daher - die politische Schwäche <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie. Daher - die Leichtigkeit, mit<br />
<strong>der</strong> wir mit <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie fertig wurden. Daher - die weiteren Schwierigkeiten,<br />
als sich die europäische Bourgeoisie in die Sache einmischte...<br />
Und unser Proletariat? Ist es durch die Schule <strong>der</strong> mittelalterlichen Brü<strong>der</strong>schaften <strong>der</strong><br />
Handwerksgehilfen gegangen? Besitzt es die jahrhun<strong>der</strong>tealten Traditionen <strong>der</strong> Zünfte?<br />
Nichts davon. Es wurde vom Holzpflug losgerissen und unmittelbar an den Fabrikkessel<br />
geworfen ... Daher - das Fehlen konservativer Traditionen, das Fehlen von Kasten im<br />
Proletariat selbst, die revolutionäre Frische und daher, neben an<strong>der</strong>en Gründen, <strong>der</strong><br />
Oktober, die erste Atbeiterregierung <strong>der</strong> Welt. Aber daher auch Analphabetismus,<br />
Rückständigkeit, Mangel an Organisationsgewohnheiten, an Systematik bei <strong>der</strong> Arbeit,<br />
an kultureller und technischer Erziehung. Wir spüren all diese Mankos in unserem<br />
wirtschaftlich-kulturellen Aufbau auf Schritt und Tritt.<br />
Der russische Staat prallte wie<strong>der</strong>holt mit den militärischen Organisadenen <strong>der</strong><br />
Westnationen, die auf einer ökononsisch, politisch und kulturell höheren Basis standen,<br />
zusammen. So stieß auch das russische Kapital bei seinen ersten Schritten mit dem viel<br />
entwickelteren und mächtigeren Kapital des Westens zusammen und geriet unter dessen<br />
Führung. Und so fand auch die russische Arbeiterklasse bei ihren ersten Schritten fertige,<br />
von <strong>der</strong> Erfahrung des westeuropäischen Proletariats ausgearbeitete Waffen vor: die<br />
marxistische Theorie, die Gewerkschaften, die politische Partei. Wer Wesen und Politik<br />
des Selbstherrschertums nur mit den Interessen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> besitzenden Klassen<br />
erklärt, <strong>der</strong> vergißt, daß es außer den rückständigen, ärmeren und ungebildeteren<br />
Ausbeutern Rußlands auch die reicheren, mächtigeren Ausbeuter des Westens gegeben<br />
bat. Die besitzenden Klassen Rußlands waren gezwungen, mit den, feindlichen o<strong>der</strong><br />
halbfeindlichen, besitzenden Klassen Europas zusatnmenzustoßen. Diese Zusammenstöße<br />
vollzogen sich vermittels <strong>der</strong> Staatsorganisation. Diese Organisarion war das<br />
Selbstherrschertum. Die gesamte Struktur und <strong>Geschichte</strong> des Selbstherrschertums wäre<br />
eine an<strong>der</strong>e geworden, hätte es nicht die europäischen Städte, das eurepäische Pulver<br />
(denn nicht wir haben es erfunden) und die europäische Börse gegeben.<br />
In <strong>der</strong> letzten Epoche seines Daseins war das Selbstherrschertum nicht nur das Organ<br />
<strong>der</strong> besitzenden Klassen Rußlands, son<strong>der</strong>n auch eine Organisation <strong>der</strong> europäischen<br />
Börse zur Ausbeutung Rußlands. Diese doppelte Rolle wie<strong>der</strong>um verlieh ihm eine sehr<br />
beträchtliche Selbständigkeit. Ein krasser Ausdruck dafür war die Tatsache, daß die<br />
französische Börse zur Unterstützung des Selbstherrschertums diesem im Jahre 1905<br />
gegen den Willen <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Bourgeoisie eine Anleihe gab.<br />
Der Zarismus wurde im imperialistischen Kriege zertrümmert. Weshalb? Weil unter<br />
ihm ein zu niedriges Produktionsfundament stand ("Primitivität"). In kriegstechnischer<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 773
Beziehung war <strong>der</strong> Zarismus bestrebt, sich den vollkommensten Vorbil<strong>der</strong>n<br />
anzugleichen. Die reicheren und zivilisierteren Verbündeten unterstützten ihn darin auf<br />
jede Weise. Deshalb standen dem Zarismus die vollkommensten Kriegsmittel zur Verfügung.<br />
Aber er besaß nicht die Möglichkeit (und konnte sie nicht besitzen), diese Mittel<br />
zu erzeugen und sie (wie auch die Menschenmassen) mit genügen<strong>der</strong> Schnelligkeit auf<br />
Eisenbahnen und Wasserwegen zu transportieren. Mit an<strong>der</strong>en Worten, <strong>der</strong> Zarismus<br />
verteidigte die Interessen <strong>der</strong> besitzenden Klassen Rußlands im internationalen Kampfe,<br />
gestützt auf ein primitiveres Wirt-schaftsfundament als seine Feinde und Verbündeten.<br />
Dieses Fundament beutete <strong>der</strong> Zarismus im Kriege schonungslos aus, das heißt er<br />
verschlang einen viel höheren Prozentsatz an nationalem Besitz und nationalen Einnahmen<br />
als die mächtigen Feinde und Verbündeten. Diese Tatsache fand ihren Ausdruck<br />
einerseits ins System <strong>der</strong> Kriegsschulden, an<strong>der</strong>erseits im völligen Ruin Rußlands...<br />
Alle diese Umstände, die die Oktoberrevolution, den Sieg des Proletariats und dessen<br />
weitere Schwierigkeiten unmittelbar vorausbestimmten, werden durch die Gemeinplätze<br />
Pokrowskis durchaus nicht geklärt.<br />
Anhang 2<br />
Zum Kapitel "Die Umbewaffnung <strong>der</strong> Partei"<br />
In <strong>der</strong> New Yorker Tageszeitung 'Nowyi Mir' ('Neue Welt'), die für russische Arbeiter<br />
in Amerika bestimmt war, versuchte <strong>der</strong> Autor dieses Buches, gestützt auf spärliche<br />
Informationen <strong>der</strong> amerikanischen Presse, die Analyse und die Prognose <strong>der</strong> Entwicklung<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu geben. »Die innere <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> sich entwickelnden<br />
Ereignisse«, schrieb <strong>der</strong> Autor am 6. März (alten Stils), »ist uns nur aus Bruchstücken<br />
und Anspielungen, die in den offiziellen Telegrammen durchschlüpfen, bekannt.« Die <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> gewidmete Artikelserie beginnt am 27. Februar und bricht, infolge <strong>der</strong><br />
Abreise des Autors aus New York, am 14. März ab. Wir bringen aus dieser Serie in<br />
chronologischer Folge Auszüge, die einen Begriff geben können von den Ansichten über<br />
die <strong>Revolution</strong>, mit denen <strong>der</strong> Autor am, 4. Mai nach Rußland kam.<br />
Am 27. Februar:<br />
»Die desorganisierte, kompromittierte, uneinige Regierung an <strong>der</strong> Spitze; die bis in<br />
ihre Tiefen aufgelockerte Armee, die Unzufriedenheit, Unsicherheit und Angst <strong>der</strong> besitzenden<br />
Klassen; die tiefe Erbitterung <strong>der</strong> Volksmassen; das zahlenmäßige Anwachsen<br />
des im Feuer <strong>der</strong> Ereignisse gestählten Proletariats, - all das gibt uns das Recht, zu<br />
behaupten, daß wir Zeugen <strong>der</strong> beginnenden Zweiten Russischen <strong>Revolution</strong> sind.<br />
Hoffen wir, daß viele von uns ihre Teilnehmer sein werden.«<br />
Am 3. März:<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 774
»Zu früh haben die Rodsjanko und Miljukow von Ordnung zu reden begonnen, und<br />
nicht so bald wird sich das aufgewühlte Rußland beruhigen. Schicht um Schicht wird<br />
sieh das Land jetzt erheben - alle vom Zarismus und den herrschenden Klassen Unterdrückten,<br />
dem Elend Preisgegebenen, Ausgeplün<strong>der</strong>ten - auf dem ganzen unermeßlichen<br />
Raum des all<strong>russischen</strong> Völkergefängnisses. Die Petrogra<strong>der</strong> Ereignisse sind nur <strong>der</strong><br />
Anfang. An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Volksmassen Rußlands wird das revolutionäre Proletariat<br />
seine historische Arbeit verrichten; es wird die monarchische und adlige Reaktion aus all<br />
ihren Zufluchtsstätten vertreiben und seine Hand dem Proletatiat Deutschlands und des<br />
gesamten Europa reichen. Denn nicht nur <strong>der</strong> Zarismus, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Krieg muß<br />
liquidiert werden,«<br />
»Schon stürzt die zweite Welle <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> übcr die Häupter <strong>der</strong> Rodsjanko und<br />
Miljukow hinweg, die um Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ordnung und Verständigung mit <strong>der</strong><br />
Monarchie bemüht sind. Aus dem eigenen Schoß wird die <strong>Revolution</strong> ihre Macht hervorbringen,<br />
- das revolutionäre Organ des zum Siege schreitenden Volkes. Hauptschlachten<br />
wie Hauptopfer stehen noch bevor. Und dann erst wird <strong>der</strong> volle und wahre Sieg<br />
kommen.«<br />
Am 4. März:<br />
»Die lang zurückgehaltene Unzufriedenheit <strong>der</strong> Massen drang erst so spät, im 32.<br />
Kriegsmonat, nach außen, nicht weil ein Polizeidamm vor den Massen stand - dieser war<br />
im Kriege überaus gelockert -, son<strong>der</strong>n weil alle liberalen Institutionen und Organe,<br />
einschließlich ihrer sozialpatriotischen Handlanger, einen gewaltigen politischen Druck<br />
auf die unaufgeklärtesten Arbeiterschichten ausübten, indem sie ihnen die Notwendigkeit<br />
"patriotischer" Disziplin und Ordnung suggerierten.«<br />
»Jetzt erst (nach dem Siege des Aufstandes) kam die Duma an die Reihe. Der Zar<br />
versuchte im letzten Augenblick, sie auseinan<strong>der</strong>zujagen. Sie wäre auch "nach dem<br />
Beispiel <strong>der</strong> früheren Jahre" gehorsam auseinan<strong>der</strong>gegangen, wenn sie nur die Möglichkeit<br />
gehabt hätte, auseinan<strong>der</strong>zugehen. Doch in den Hauptstädten herrschte schon das<br />
revolutionäre Volk, dasselbe, das gegen den Willen <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie zum<br />
Kampf auf die Straße gegangen war. Mit dem Volke war die Armee. Hätte die Bourgeoisie<br />
den Versuch, ihre Macht zu organisieren, nicht unternommen, die revolutionäre<br />
Regierung wäre aus <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> aufständischen Arbeitermassen hervorgegangen. Nie<br />
hätte die Duma des 3. Juni sich entschlossen, die Macht den Händen des Zarismus zu<br />
entreißen. Doch konnte sie das entstandene Interregnum nicht ungenutzt lassen: die<br />
Monarchie war einstweilen von <strong>der</strong> Erdoberfläche verschwunden, die revolutionäre<br />
Macht aber noch nicht zustande gekommen.«<br />
Am 6. März:<br />
»Der offene Konflikt zwischen den Kräften <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, an <strong>der</strong>en Spitze das städtische<br />
Proletariat steht, und <strong>der</strong> antirevolutionären liberalen Bourgeoisie, die vorübergehend<br />
an <strong>der</strong> Macht ist, ist völlig unausbleiblich. Man könnte natürlich - und das werden<br />
die liberalen Bourgeois und die Auchsozialisten kleinbürgerlichen Typs eifrig tun - viele<br />
rührselige Worte finden über den großen Vorzug <strong>der</strong> nationalen Einigkeit vor <strong>der</strong><br />
Klassenspaltung. Doch ist es noch nie und niemand gelungen, durch solche Beschwörun-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 775
gen soziale Gegensätze zu beseitigen und die natürliche Entwicklung des revolutionären<br />
Kampfes aufzuhalten.«<br />
»Das revolutionäre Proletariat muß schon jetzt, sofort, seine revolutionären Organe, die<br />
Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, den Exekutivorganen <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung entgegenstellen. In diesem Kampfe muß sich das Proletariat, indem<br />
es die aufständischen Volksmassen um sich sammelt, die Machteroberung als sein direktes<br />
Ziel stellen. Nur die revolutionäre Arbeiterregierung wird Willen und Fähigkeit besitzen,<br />
schon während <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung eine radikale<br />
demokratische Säuberung im Lande vorzunehmen, die Armee von oben bis unten<br />
umzubauen, in eine revolutionäre Miliz zu verwandeln und die unteren Bauernschichten<br />
durch die Tat zu überzeugen, daß ihre Rettung ausschließlich in <strong>der</strong> Unterstützung des<br />
revolutionären Arbeiterregimes liegt.«<br />
Am 7. März:<br />
»Solange die Clique Nikolaus II. an <strong>der</strong> Macht stand, überwogen in <strong>der</strong> Außenpolitik<br />
dynastisehe und reaktionär-adlige Interessen. Gerade deshalb hoffte man in Berlin und<br />
Wien die ganze Zeit auf einen Separatfrieden mit Rußland. Jetzt jedoch stehen auf dem<br />
Regierungsbanner die Interessen des reinen Imperialismus. "Die zaristische Regierung<br />
existiert nicht mehr", sagen die Gutschkow und Miljukow dem Volke, "jetzt müßt ihr<br />
euer Blut für all-nationale Interessen vergießen!" Unter nationalen Interessen aber verstehen<br />
die <strong>russischen</strong> Imperialisten die Zurücknahme Polens, die Eroberung Galiziens,<br />
Konstantinopels, Armeniens, Persiens. Mit an<strong>der</strong>en Worten, Rußland stellt sich jetzt in<br />
die allgemeine imperialistische Front mit den übrigen europäischen Staaten, vor allem<br />
mit seinen Alliierten England und Frankreich.«<br />
»Der Übergang vom dynastisch-adligen zum rein bürgerlichen Imperialismus kann das<br />
Proletariat Rußlands keinesfalls mit dem Kriege aussöhnen. <strong>Internationale</strong>r Kampf gegen<br />
Weltschlächterei und Imperialismus ist heute mehr als je unsere Aufgabe.«<br />
»Die imperialistische Prahlerei Miljukows, Deutschland, Österreich-Ungarn und die<br />
Türkei zu zertrümmern, kommt jetzt Hohenzollern und Habsburg nur zu gelegen. Miljukow<br />
wird nun für sie die Rolle einer Vogelscheuche spielen. Noch bevor die neue<br />
liberalimperialistische Regierung zu Reformen in <strong>der</strong> Armee geschritten ist, hilft sie dem<br />
Hohenzollern den patriotischen Geist zu heben und die in allen Nähten krachende "nationale<br />
Einigkeit" des deutschen Volkes wie<strong>der</strong>herzustellen. Bekäme das deutsche Proletariat<br />
das Recht, zu glauben, daß hinter <strong>der</strong> neuen bürgerlichen Regierung Rußlands das<br />
gesamte Volk steht mitsamt <strong>der</strong> Hauptkraft <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, dem <strong>russischen</strong> Proletariat, -<br />
so wäre das ein furchtbarer Schlag für unsere Gesinnungsgenossen, die revolutionären<br />
<strong>Sozialisten</strong> Deutschlands.«<br />
»Direkte Pflicht des revolutionären Proletariats Rußlands ist, zu zeigen, daß hinter dem<br />
bösen imperialistischen Willen <strong>der</strong> liberalen Bourgeoisie keine Macht steht, da ihr die<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Arbeitermassen fehlt. Die russische <strong>Revolution</strong> muß vor aller Welt ihr<br />
wahres Antlitz enthüllen, das heißt ihre unversöhnliche Feindschaft nicht nur gegen die<br />
dynastisch-adlige Reaktion, son<strong>der</strong>n auch gegen den liberalen Imperialismus.«<br />
Am 8. März:<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 776
»Unter dem Banner "Rettung des Landes" versuchen die liberalen Bourgeois die<br />
Leitung des revolutionären Volkes in ihren Händen festzuhalten, und ziehen zu diesem<br />
Zwecke nicht nur den patriotischen Trudowik Kerenski, son<strong>der</strong>n auch, wie es scheint,<br />
Tschcheidse, den Vertreter <strong>der</strong> opportunistischen Elemente <strong>der</strong> Sozialdemokratie, im<br />
Schlepptau hinter sich her.«<br />
»Die Agrarfrage wird einen tiefen Keil in den heutigen adlig-bürgerlich-sozialpatriotischen<br />
Block treiben. Kerenski wird wählen müssen zwischen den "Liberalen" des<br />
3. Juni 13 , die die ganze <strong>Revolution</strong> für kapitalistische Ziele bestehlen wollen, und dem<br />
revolutionären Proletariat, das sein Programm <strong>der</strong> Agrarrevolution in aller Breite entrollen<br />
wird, das heißt: Konfiszierung <strong>der</strong> zaristischen, gutsherrlichen, fürstlichen, klösterlichen<br />
und kirchlichen Län<strong>der</strong>eien zugunsten des Volkes. Wie die persönliche Wahl<br />
Kerenskis ausfallen wird, ist ohne Bedeutung - An<strong>der</strong>s steht es mit den bäucrliehen<br />
Massen, den unteren Dorfschichten. Sie auf die Seite des Proletariats zu ziehen, ist die<br />
unaufschiebbarste, brennendste Aufgabe.«<br />
»Der Versuch, diese Aufgabe (die Heranziehung <strong>der</strong> Bauernschaft) durch Anpassung<br />
unserer Politik an die nationalpatriotische Beschränktheit des Dorfes zu lösen, wäre ein<br />
Verbrechen: <strong>der</strong> russische Arbeiter beginge Selbstmord, würde er das Bündnis mit <strong>der</strong><br />
Bauernschaft um den Preis des Bruches seines Bündnisses mit dem europäischen Proletariat<br />
erkaufen. Aber dafür besteht auch gar keine politische Notwendigkeit. Wir haben<br />
eine stärkere Waffe in Händen: Während die heutige Provisorische Regierung und das<br />
Ministerium Lwow-Gutschkow-Miljukow-Kerenski 14 gezwungen sind im Namen <strong>der</strong><br />
Erhaltung ihrer Einheit -, die Agrarfrage zu umgehen, können und müssen wir sie in<br />
ihrem ganzen Ausmaß vor den Bauernmassen Ruß lands stellen.<br />
- Wenn eine Agrarreform unmöglich ist, dann sind wir für einen imperialistischen<br />
Krieg! - sagte die russische Bourgeoisie nach <strong>der</strong> Erfahrung von 1905-1907.<br />
- Kehrt dem imperialistischen Krieg deis Rücken, stellt ihm die Agrarrevelution entgegen!<br />
- werden wir den Bauernmassen sagen, indem wir uns auf die Erfahrung von 1914-<br />
1917 berufen.<br />
»Dieselbe Frage, die des Bodenhesitzes, wird eine gewaltige Rolle beim Vereinigungswerk<br />
<strong>der</strong> proletarischen Ka<strong>der</strong> <strong>der</strong> Armee mit <strong>der</strong>en bäuerlichen Schichten spielen. "Den<br />
gutsherrlichen Boden, aber nicht Konstantinopel!" wird <strong>der</strong> Soldat-Proletarier dem<br />
Soldaten-Bauern sagen und ihm auseinan<strong>der</strong>setzen, wem und welchen Zwecken <strong>der</strong><br />
imperialistische Krieg dient. Und vom Erfolge unserer Agitation und unseres Kampfes<br />
gegen den Krieg - zuallererst unter den Arbeitern und in zweiter Linie unter den Bauernund<br />
Soldatenmassen wird es abhängen, wie schnell die liberalimperialistisehe Regierung<br />
von einer revolutionären Arbeiterregierung abgelöst werden wird, die sich unmittelbar<br />
auf das Proletariat und die sich ihm anschließenden armen Schichten des Dorfes stützt.«<br />
»Die Rodsjanko, Gutschkow, Miljukow werden alles tun, um eine Konstituierende<br />
Versammlung nach ihrem Ebenbilde zu schaffen. Der stärkste Trumpf in ihren Händen<br />
wird <strong>der</strong> allnationale Krieg gegen den äußeren Feind sein. Sie werden dann natürlich von<br />
<strong>der</strong> Notwendigkeit sprechen, die "Errungenschaften <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>" vor dem Anschlag<br />
des Hohenzollern zu verteidigen. Und die Sozialpatrioten werden bald das Lied mitsingen.«<br />
13 Das heißt den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> aus dem Staatsstreieh vom 3. Juni 1907 hervorgegangenen Duma.<br />
14 Unter <strong>der</strong> Provisorischen Regierung verstand die amerikanische Presse das Provisorische Dumakomitee.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 777
»"Gäbe es nur etwas zu verteidigen," wollen wir ihnen antworten. In erster Linie muß<br />
man die <strong>Revolution</strong> gegen den inneren Feind sichern. Man muß, ohne die Konstituierende<br />
Versammlung abzuwarten, das Gerümpel des Monarchismus und <strong>der</strong> Leibeigenschaft<br />
aus allen Winkeln wegfegen. Man muß den <strong>russischen</strong> Bauern lehren, den<br />
Versprechungen Rodsjankos und <strong>der</strong> patriotischen Lüge Miljukows zu mißtrauen. Man<br />
muß die Millionen Bauern unter dem Banner <strong>der</strong> Agrarrevolution und <strong>der</strong> Republik<br />
gegen die liberalen Imperialisten vereinigen. Diese Arbeit in ihrem ganzen Umfange zu<br />
verrichten, ist nur eine revolutionäre Regierung imstande, die, gestützt auf das<br />
Proletariat, die Miljukow und Gutschkow von <strong>der</strong> Macht entfernen wird. Diese Atbeiterregierung<br />
wird alle Mittel <strong>der</strong> Staatsmacht dazu benutzen, um die rückständigsten,<br />
finstersten Schichten <strong>der</strong> werktätigen Massen in Stadt und Land aufzurichten, aufzuklären<br />
und zusammenzuschließen.«<br />
- »Und wenn das deutsche Proletariat sich nicht erheben wird? Was werden wir dann<br />
tun?<br />
- Das heißt, Sie vermuten, die russische <strong>Revolution</strong> könnte spurlos an Deutschland<br />
vorübergehen, auch dann, wenn die <strong>Revolution</strong> bei uns eine Arbeiterregierung an die<br />
Macht brächte? Aber das ist ja völlig unwahrscheinlich.<br />
- Nun, und wenn dennoch? ...<br />
»... Wenn das Uniwahrscheinliche geschehen, wenn die konservative sozialpatriotische<br />
Organisation die deutsche Arbeiterklasse in <strong>der</strong> nächsten Epoche verhin<strong>der</strong>n sollte, sich<br />
gegen ihre herrschenden Klassen zu erheben, - dann wird selbstverständlich die russische<br />
Arbeiterklasse mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand die <strong>Revolution</strong> verteidigen. Die revolutionäre<br />
Arbeiterregierung würde gegen Hohenzollern Krieg führen und das deutsche Bru<strong>der</strong>proletariat<br />
aufrufen, gegen den gemeinsamen Feind aufzustehen. Ebenso wie auch das<br />
deutsche Proletariat, käme es in <strong>der</strong> nächsten Epoche an die Macht, nicht nur das<br />
"Recht", son<strong>der</strong>n die Pflicht hätte, gegen Gntschkow-Miljukow Krieg zu führen, um den<br />
<strong>russischen</strong> Arbeitern zu helfen, mit ihrem imperialistischen Feind fertig zu werden. In<br />
beiden Fällen wäre <strong>der</strong> von <strong>der</strong> proletarischen Regierung geleitete Krieg nur eine bewaffnete<br />
<strong>Revolution</strong>. Es würde nicht um die "Vaterlandsverteidigung" gehen, son<strong>der</strong>n um die<br />
Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Übertragung auf an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>.«<br />
Man braucht wohl kaum zu beweisen, daß in den oben angeführten Auszügen aus den<br />
für Arbeiter bestimmten populären Artikeln die gleiche Ansicht über die Entwicklung <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> vertreten wird, die in Lenins Thesen vom 4. April Ausdruck gefunden hat.<br />
Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Krise, die die bolschewistische Partei in den ersten zwei<br />
Monaten <strong>der</strong> Februarrevolution durchmachte, ist es angebracht, hier ein Zitat aus einem<br />
im Jahre 1909 vom Autor dieses Buches für die polnische Zeitschrift Rosa Luxemburgs<br />
geschriebenen Artikel anzuführen:<br />
»Wenn die Menschewiki, die von <strong>der</strong> Abstraktion ausgehen, "unsere <strong>Revolution</strong> ist<br />
bürgerlich", zu <strong>der</strong> Idee kommen, die gesamte Taktik des Proletariats <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong><br />
liberalen Bourgeoisie, einschließlich <strong>der</strong> Machteroberung durch diese, anzupassen,<br />
kommen die Bolschewiki, ausgehend aus einer ebensolchen reinen Abstraktion:<br />
"demokratische aber nicht sozialistische Diktatur", zur Idee <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen<br />
Selbstbeschränkung des Proletariats, in dessen Händen sich die Staatsmacht befindet.<br />
Gewiß ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen beiden in dieser Frage sehr bedeutend: während<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 778
die antirevolutionären Seiten des Menschewismus sich schon jetzt in all ihrer Stärke<br />
äußern, drohen die antirevolutionären Züge des Bolschewismus erst im Falle des revolutionären<br />
Sieges mit größter Gefahr.«<br />
Diese Worte wurden nach 1923 von den Epigonen im Kampfe gegen den<br />
"Trotzkismus" weitgehend ausgenutzt. Indes gehen sie - acht Jahre vor den Ereignissen -<br />
eine ganz genaue Charakteristik des Verhaltens <strong>der</strong> heutigen Epigonen »im Falle des<br />
revolutionären Sieges«.<br />
Die Partei ist aus <strong>der</strong> Aprilkrise in Ehren hervorgegangen, indem sie mit den "antirevolutionären<br />
Zügen" ihrer herrschenden Schicht fertig wurde. Gerade aus diesem Grunde<br />
versah <strong>der</strong> Autor im Jahre 1922 die obenangeführte Stelle mit folgen<strong>der</strong> Anmerkung:<br />
»Das ist bekanntlich nicht eingetroffen, da <strong>der</strong> Bolschewismus im Frühling 1917, das<br />
heißt vor <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Macht, unter Lenins Leitung (nicht ohne inneren Kampf)<br />
seine geistige Umbewaffnung in dieser wichtigen Frage vorgenommen hatte.«<br />
Im Kampfe mit den opportunistischen Tendenzen <strong>der</strong> führenden Schicht <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
schrieb Lenin im April 1917<br />
»Die bolschewistischen Losungen und Ideen haben sich im allgemeinen vollständig<br />
bestätigt, konkret aber haben sich die Dinge an<strong>der</strong>s gestaltet, als man (wer auch immer)<br />
erwarten konnte, origineller, eigenartiger, bunter. Diese Tatsache zu ignorieren, zu<br />
vergessen, hieße, es jenen "alten Bolschewiki" gleichtun, die schon mehr als einmal eine<br />
traurige Rolle in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine<br />
auswendiggelernte Formel wie<strong>der</strong>holen, anstatt die Eigenart <strong>der</strong> neuen, lebendigen<br />
Wirklichkeit zu untersuchen. Wer jetzt lediglich von "revolutionär-demokratischer Diktatur<br />
des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft" spricht, ist hinter dem Leben zurückgeblieben,<br />
ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, ist gegen den proletarischen<br />
Klassenkampf und gehört in das Archiv für "bolschewistische" vorrevolutionäre Raritäten<br />
(man könnte es nennen Archiv "alter Bolschewiki").«<br />
Anhang 3<br />
Zum Kapitel "Sowjetkongreß und Junidemonstrarion"<br />
An Professor A. Kahun Kalifornien<br />
Universität<br />
Sie interessieren sich dafür, wieweit Suchanow meine Begegnung im Mai 1917 mit <strong>der</strong><br />
formell von Maxim Gorki repräsentierten Redaktion <strong>der</strong> 'Nowaja Schisn' richtig darstellt.<br />
Zum weiteren Verständnis muß ich einige Worte über den allgemeinen Charakter des<br />
siebenbändigen Werkes Suchanows "Aufzeichnungen über die <strong>Revolution</strong>" sagen. Bei<br />
allen Mängeln dieser Arbeit (Weitschweifigkeit, Impressionismus, politische Kurzsichtigkeit),<br />
die mitunter <strong>der</strong>en Lektüre unerträglich gestalten, muß man dennoch die Gewissenhaftigkeit<br />
des Autors anerkennen, die die "Aufzeichnungen" zu einer wertvollen<br />
Quelle für den Historiker macht. Juristen wissen jedoch, daß die Gewissenhaftigkeit des<br />
Zeugen noch keinesfalls die Zuverlässigkeit seiner Aussagen verbürgt: man muß zudem<br />
das Entwicklungsniveau des Zeugen, die Kraft seines Blickes, Gehörs und<br />
Gedächtnisses, seine Stimmung im Augenblick des Vorganges usw. berücksichtigen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 779
Suchanow, Impressionist intellektuellen Typs, ist, wie die Mehrzahl solcher Menschen,<br />
<strong>der</strong> Fähigkeit bar, die politische Psychologie An<strong>der</strong>sgearteter zu begreifen. Trotzdem er<br />
im Jahre 1917 am linken Rande des Versöhnlerlagers, folglich in naher Nachbarschaft<br />
<strong>der</strong> Bolschewiki stand, war und blieb er aus seiner Hamletnatur heraus <strong>der</strong> Antipode<br />
eines Bolschewiken. In ihm lebt stets das Gefühl feindseliger Abstoßung, von fertigen<br />
Menschen, die sicher wissen, was sie wollen und wohin sie gehen. All das führt dazu,<br />
daß Suchanow in seinen "Aufzeichnungen", sobald er nur versucht, die Beweggründe <strong>der</strong><br />
Handlungen <strong>der</strong> Bolschewiki zu begreifen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en geheime Triebfe<strong>der</strong>n aufzudecken,<br />
durchaus gewissenhaft Fehler auf Fehler häuft. Manchmal scheint es, als verwirre er<br />
bewußt klare und einfache Fragen. In Wirklichkeit ist er, mindestens in <strong>der</strong> Politik,<br />
organisch unfähig, die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten zu finden.<br />
Suchanow bemüht sich nicht wenig, meine Linie <strong>der</strong> Leninschen entgegenzustellen.<br />
Sehr feinfühlig für Couloirstimmungen und Gerüchte intellektueller Kreise - darin liegt<br />
nebenbei einer <strong>der</strong> Vorzüge <strong>der</strong> "Aufzeichnungen", die viel Material zur Charakteristik<br />
<strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> liberalen, radikalen und sozialistischen Spitzen liefern -, wiegte sich<br />
Suchanow natürlicherweise in Hoffnungen und Entstehung von Meinungsverschiedenheiten<br />
zwischen Lenin und Trotzki, um so mehr, als dies, mindestens teilweise, das<br />
wenig beneidenswerte Los <strong>der</strong> 'Nowaja Schisn' zwischen Sozialpatrioten und Bolschewiki<br />
zu stehen, erleichtern mußte. In seinen "Aufzeichnungen" lebt Suchanow unter dem<br />
Schein politischer Erinnerungen und nachträglicher Vermutungen noch immer in <strong>der</strong><br />
Atmosphäre dieser unerfüllten Hoffnungen. Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> Persönlichkeit, des<br />
Temperaments, des Stils versucht er als beson<strong>der</strong>en politischen Kurs zu deuten.<br />
Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> nicht stattgefundenen Kundgebung vom 10. Juni und<br />
hauptsächlich mit den bewaffneten Demonstrationen <strong>der</strong> Julitage sucht Suchanow seitenlang<br />
zu beweisen, daß Lenin in jenen Tagen die unmittelbare Machtergreifung durch<br />
Verschwörung und Aufstand, Trotzki dagegen die wirkliche Macht <strong>der</strong> Sowjets durch die<br />
damals herrschenden Parteien, das heißt die Sozialrevolutionäre und Menschewiki,<br />
angestrebt hätten. All das hat nicht den Schatten einer Begründung für sich.<br />
Auf dem ersten Sowjetkongreß, am 4. Juni, sagte Zeretelli in seiner Rede nebenbei: »in<br />
Rußland gibt es im gegenwärtigen Augenblick keine politische Partei, die sagen würde:<br />
Gebt die Macht in unsere Hände.« Im gleichen Augenblick ertönte <strong>der</strong> Zwischenruf »Es<br />
gibt eine!« Lenin liebte es nicht, Redner zu unterbrechen, und liebte nicht, wenn man ihn<br />
unterbrach. Nur ernste Erwägungen konnten ihn bewegen, diesmal auf seine übliche<br />
Zurückhaltung zu verzichten, Aus <strong>der</strong> Logik Zeretellis ergab sich, daß man, gerät ein<br />
Volk in das Geflecht größter Schwierigkeiten, vor allem bestrebt sein müsse, die Macht<br />
an<strong>der</strong>en zuzuschieben. Darin bestand im Grunde die Weisheit des <strong>russischen</strong> Versöhnlertums,<br />
als es nach dem Februaraufstand die Macht den Liberalen zuschob. Der wenig<br />
anmutigen Angst vor <strong>der</strong> Verantwortung verlieh Zeretelli die Färbung politischer<br />
Uneigennützigkeit und außlerordentlichen Weitblicks. Für einen <strong>Revolution</strong>är, <strong>der</strong> an die<br />
Mission seiner Partei glaubt, ist eine solch feige Prahlerei ganz unerträglich. Eine revolutionäre<br />
Partei, die fähig ist, bei schwierigen Verhältnissen <strong>der</strong> Macht auszuweichen,<br />
verdient nur Verachtung.<br />
In seiner Rede während <strong>der</strong> gleichen Sitzung erläuterte Lenin seinen Zwischenruf:<br />
»Der Bürger-Minister für Post- und Telegraphenwesen, Zeretelli ... sagte, daß es in<br />
Rußland keine politische Partei gäbe, die ihre Bereitschaft aussprechen würde, die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 780
Macht ganz zu übernehmen. Ich antworte, es gibt eine; keine Partei darf darauf verzichten,<br />
und unsere Partei verzichtet darauf nicht. Jeden Augenblick ist sie bereit, die ganze<br />
Macht zu übernehmen (Applaus und Lachen). Ihr mögt Lachen, soviel ihr wollt; wird uns<br />
aber <strong>der</strong> Bürger-Minister vor diese Frage stellen ... er wird die nötige Antwort erhalten.«<br />
Es sollte scheinen, <strong>der</strong> Gedanke Lenins ist absolut klar.<br />
Auf dem gleichen Sowjetkongreß äußerte ich mich, als ich nach dem Ackerbauminister<br />
Pjeschechonow das Wort nahm, folgen<strong>der</strong>maßen: »Ich gehöre mit ihm (Pjeschechonow)<br />
nicht <strong>der</strong> gleichen Partei an, aber wenn man mir sagte, das Ministerium würde aus zwölf<br />
Pjeschechonows gebildet werden, dann würde ich erwi<strong>der</strong>n, es sei ein riesiger Schritt<br />
vorwärts ...«<br />
Ich glaube nicht, daß schon damals, während <strong>der</strong> Ereignisse, meine Worte über ein<br />
Ministerium <strong>der</strong> Pjeschechonows als Antithese zur Leninschen Bereitschaft, die Macht<br />
zu übernehmen, verstanden werden konnten. Als Theoretiker dieser vermeintlichen<br />
Antithese tritt nachträglich Suchanow auf. Indem er die Vorbereitung <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
zur Demonstration vom 10. Juni zugunsten <strong>der</strong> Sowjetmacht als Vorbereitung zur Machtergreifung<br />
deutet, schreibt Suchanow: »Zwei, drei Tage vor <strong>der</strong> "Kundgebung" sagte<br />
Lenin öffentlich, daß er bereit sei, die Macht zu übernehmen; während Trotzki damals<br />
sagte, er wünsche zwölf Pjeschechonows an <strong>der</strong> Macht zu sehen. Das ist ein Unterschied.<br />
Dennoch nehme ich an, daß Trotzki zur Aktion des 10. Juni hinzugezogen worden war.<br />
Lenin war auch damals nicht geneigt, ohne den zweifelhaften "Interrayonisten" 15 in den<br />
entscheidenden Kampf zu gehen. Denn Trotzki war ein ihm ähnlicher monumentaler<br />
Partner im monumentalen Spiel, während in Lenins eigener Partei nach ihm lange,<br />
lange, lange niemand kam.«<br />
Diese ganze Stelle ist voller Wi<strong>der</strong>sprüche. Nach Suchanow plante Lenin angeblich<br />
das, wessen ihn Zeretelli beschuldigte: »Die sofortige Machtergreifung durch die proletarische<br />
Min<strong>der</strong>heit.« Den Beweis für diesen Blanquismus sieht Suchanow, so unwahrscheinlich<br />
das ist, in Lenins Worten von <strong>der</strong> Bereitschaft <strong>der</strong> Bolschewiki, trotz allen<br />
Schwierigkeiten, die Macht zu übernehmen. Hätte aber Lenin tatsächlich die Absicht<br />
gehabt, am 10. Juni durch eine Verschwörung die Macht zu übernehmen, er würde wohl<br />
kaum am 4. Juni in <strong>der</strong> Plenarsitzung des Sowjets die Feinde gewarnt haben. Muß man<br />
daran erinnern, daß Lenin seit dem ersten Tag seiner Ankunft in Petrograd <strong>der</strong> Partei<br />
einschärfte, die Bolschewiki könnten sich die Aufgabe des Sturzes <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung erst nach Eroberung <strong>der</strong> Sowjetmehrheit stellen. In den Apriltagen trat Lenin<br />
entschieden gegen jene Bolschewiki auf, die die Losung: "Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Provisorischen<br />
Regierung" als Aufgabe des Tages gestellt hatten. Die Leninsche Republik vom 4. Juni<br />
hatte nur einen Sinn: Wir Bolschewiki sind schon heute bereit, die Macht zu<br />
übernehmen, wenn die Arbeiter und Soldaten uns ihr Vertrauen schenken; damit unterscheiden<br />
wir uns von den Versöhnlern, die, im Besitz des Vertrauens <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Soldaten, nicht wagen, die Macht zu übernehmen.<br />
Suchanow stellt Trotzki, den Realisten, Lenin, dem Blanquisten gegenüber. »Ohne<br />
Lenin zu akzeptieren, konnte man sich <strong>der</strong> Fragestellung Trotzkis völlig anschließen.«<br />
15 Suchanow nennt mich einen »zweifelhaften Interrayonisten« (Mitglied <strong>der</strong> "Zwischenbezirksorganisation <strong>der</strong><br />
vereinigten Sozialdemokraten" Russisch abgekürzt "Meschrayonzy" genannt), womit er offenbar sagen will,<br />
daß ich in Wirklichkeit Bolschewik war. Das letztere ist jedenfalls richtig. Ich blieb nur deshalb in <strong>der</strong><br />
"Zwischenbezirksorganisation", um sie in die bolschewistische Partei üherzuleiten, was auch im August<br />
verwirklicht wurde.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 781
Gleichzeitig erklärt Suchanow, daß »Trotzki zur Aktion des 10. Juni hinzugezogen<br />
worden war«, das heißt zur Verschwörung zum Ziele <strong>der</strong> Machtergreifung. Indem er<br />
zwei Linien aufdeckt, wo es keine gab, kann Suchanow sich nicht das Vergnügen versagen,<br />
diese zwei Linien später in eine zusammenzuschließen, um die Möglichkeit zu<br />
haben, auch mich des Abenteuertums zu besehuldigen. Das ist eine eigenartige und etwas<br />
platonische Revanche für die getäuschten Hoffisungen <strong>der</strong> linken Intelligenz auf einen<br />
Zwiespalt zwischen Lenin und Trotzki.<br />
Auf den Plakaten, die von den Bolschewiki für die abgesagte Demonstration vom 10,<br />
Juni vorbereitet worden waren und die dann die Demonstranten des 18. Juni trugen,<br />
stand die Parole "Nie<strong>der</strong> mit den zehn Minister-Kapitalisten" im Mittelpunkt. Als Ästhet<br />
bewun<strong>der</strong>te Suchanow das schlicht Ausdrucksvolle dieser Losung, doch als Politiker<br />
bezeugt er völhges Unverständnis für <strong>der</strong>en Sinn. In <strong>der</strong> Regierung saßen außer den zehn<br />
"Minister-Kapitalisten" noch sechs Minister-Versöhnler. Auf diese unternahmen die<br />
bolschewistischen Plakate kein Attentat. Im Gegenteil, nach dem Sinn <strong>der</strong> Losung<br />
mußten die Minister-Kapitalisten durch Minister-Versöhnler, Vertreter <strong>der</strong> Sowjetmehrheit,<br />
ersetzt werden. Gerade diesen Gedanken <strong>der</strong> bolschewistischen Plakate hatte ich auf<br />
dens Sowjetkongreß ausgesprochen: Zerreißt den Block mit den Liberalen, entfernt die<br />
bürgerlichen und ersetzt sie durch eigene Pjeschechonows. Indem die Bolschewiki die<br />
Sowjetmehrheit auffor<strong>der</strong>ten, die Macht zu übernehmen, hatten sie sich selbstverständlich<br />
in bezug auf die Pjeschechonows die Hände nicht gebunden; im Gegenteil, sie<br />
verheimlichten nicht, daß sie im Rahmen <strong>der</strong> Sowjetdemokratie gegen diese einen unversöhnlichen<br />
Kampf führen würden - um die Mehrheit in den Sowjets und um die Macht.<br />
Das alles sind schließlich Abc-Wahrheiten. Nur die oben angeführten Eigenschaften<br />
mehr des Typs als <strong>der</strong> Person Suchanows erklären, wie dieser Teilnehmer und Beobachter<br />
<strong>der</strong> Ereignisse in einer so ernsten und gleichzeitig so einfachen Frage solch heillose<br />
Verwirrung anrichten konnte.<br />
Im Lichte <strong>der</strong> untersuchten politischen Episode wird jene falsche Beleuchtung begreiflicher,<br />
die Suchanow meiner Sie interessierenden Begegnung mit <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong><br />
'Nowaja Schisn' gibt. Die Moral meines Zusammenstoßes mit dem Kreise Maxim Gorkis<br />
drückt Suchanow in dem mir in den Mund gelegten Schlußsatz aus: »Ich sehe jetzt, daß<br />
mir nichts an<strong>der</strong>es übrig bleibt, als zusammen mit Lenin eine Zeitung zu gründen.« Es<br />
ergibt sich, daß nur die Unmöglichkeit einer Verständigung mit Gorki und Suchanow,<br />
das heißt mit Menschen, die ich niemals für Politiker o<strong>der</strong> für <strong>Revolution</strong>äre gehalten<br />
habe, mich zwang, den Weg zu Lenin zu finden. Es genügt, diesen Gedanken klar zu<br />
formulieren, um seine Unhaltbarkeit zu zeigen.<br />
Wie charakteristisch ist, nebenbei bemerkt, für Suchanow <strong>der</strong> Satz »zusammen mit<br />
Lenin eine Zeitung zu gründen«, - als liefen die Aufgaben <strong>der</strong> revolutionären Politik auf<br />
eine Zeitung hinaus Für einen Menschen mit <strong>der</strong> kleinsten schöpferischen Einbildungskraft<br />
muß es klar sein, daß ich we<strong>der</strong> so denken, noch meine Aufgaben so bestimmen<br />
konnte.<br />
Um meinen Besuch beim Zeitungszirkel Gorkis zu erklären, muß man daran erinnern,<br />
daß ich Anfang Mai, mehr als zwei Monate nach <strong>der</strong> Umwälzung, einen Monat nach<br />
Lenin in Petrograd ankam. In dieser Zeit war bereits vieles geklärt und festgelegt<br />
worden. Ich brauchte eine unmittelbare, sozusagen empirisehe Orientierung nicht nur<br />
über die grundlegenden Kräfte <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, die Stimmungen <strong>der</strong> Arbeiter und Solda-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 782
ten, son<strong>der</strong>n auch über alle Gruppierungen und politischen Schattierungen <strong>der</strong> "gebildeten"<br />
Gesellschaft. Der Besuch bei <strong>der</strong> Redaktion <strong>der</strong> 'Nowaja Schisn' war für mich eine<br />
kleine politische Auskundschaftung, um die Anziehungs- und Abstoßungskräfte in dieser<br />
"linken" Gruppe, die Chancen einer möglichen Abspaltung <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Elemente, und so weiter, kennenzulernen. Eine kurze Unterhaltung überzeugte mich von<br />
<strong>der</strong> Hoffnungslosigkeit dieses Zirkelchens spintisieren<strong>der</strong> Literaten, für die die <strong>Revolution</strong><br />
auf einen Leitartikel hinauslief. Da sie zudem die Bolschewiki <strong>der</strong> "Selbstisolierung"<br />
bezichtigten und die Schuld dafür Lenin und seinen Aprilthesen zuschrieben, konnte ich<br />
selbstverständlich ihnen nichts an<strong>der</strong>es sagen, als daß ihre Reden mir zum Überfluß<br />
bewiesen, wie recht Lenin hat, die Partei von ihnen, o<strong>der</strong> richtiger, sie von <strong>der</strong> Partei zu<br />
isolieren. Diese Schlußfolgerung, die ich wegen <strong>der</strong> Wirkung auf die Teilnehmer an <strong>der</strong><br />
Unterhaltung, Rjasanow und Lunatscharski, den Wi<strong>der</strong>sachern einer Vereinigung mit<br />
Lenin, beson<strong>der</strong>s energisch unterstreichen mußte, gab offenbar Anlaß zur Suchanowschen<br />
Version.<br />
Sie haben selbstverständlich mit ihrer Vermutung vollständig recht, daß ich im Herbst<br />
1917 mich keinesfalls bereit erklärt haben würde, von <strong>der</strong> Tribüne des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets zum Jubiläum Gorkis zu sprechen. Suchanow tat diesmal gut daran, auf einen<br />
seiner grillenhaften Gedanken zu verzichten: mich am Vorabend des Oktoberaufstandes<br />
in eine Sache zur Ehrung Gorkis hineinzuziehen, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Barrikade<br />
stand.<br />
Prinkipo, den 29. September 1930<br />
L. Trotzki<br />
Anhang zu Band 2<br />
Außer <strong>der</strong> geschichtlichen Information zur Frage über die Theorie <strong>der</strong> "Permanenten<br />
<strong>Revolution</strong>" haben wir in diesem Anhang zwei selbständige Kapitel verlegt: "Legenden<br />
<strong>der</strong> Bürokratie" und "Sozialismus in einem Lande?" Das Kapitel "Legenden" ist <strong>der</strong> kritischen<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung einer Reihe von Tatsachen und Episoden <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
gewidmet, die von <strong>der</strong> Epigonen-Historiographie entstellt wurden. Einer <strong>der</strong><br />
Nebenzwecke dieses Kapitels besteht darin, träge Gehirne zu hin<strong>der</strong>n, statt an eine<br />
Durcharbeitung des Tatsachenmarerial heranzugehen, sich von vornherein bei <strong>der</strong> billigen<br />
Schlußfolgerung zu beruhigen: »Die Wahrheit wird schon irgendwo in <strong>der</strong> Mitte<br />
liegen.«<br />
Das Kapitel "Sozialismus in einem Lande?" ist <strong>der</strong> wichtigen Frage in <strong>der</strong> Ideologie<br />
und dem Programns <strong>der</strong> bolschewistischen Partei gewidmet. Die von uns historisch<br />
beleuchtete Frage behält heute nicht nur ihr volles theoretisches Interesse, son<strong>der</strong>n hat in<br />
den letzten Jahren praktische Bedeutung ersten Ranges gewonnen.<br />
Wir haben die zwei genannten Kapitel aus dem Gesamttext, dessen integralen Teil sie<br />
bilden, nur deshalb abgeson<strong>der</strong>t, um jenem Leser die Sache zu erleichtern, <strong>der</strong> nicht dazu<br />
neigt, sieh mit strittigen Fragen zweiter Ordnung o<strong>der</strong> mit komplizierten theoretischen<br />
Problemen zu beschäftigen. Wenn aber <strong>der</strong> zehnte o<strong>der</strong> auch nur <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tste Teil <strong>der</strong><br />
Leser dieses Buches sich die Mühe nehmen wird, diesen Anhang aufmerksam zu lesen,<br />
wird sich <strong>der</strong> Autor als völlig belohnt betrachten für die von ihm ausgeführte große<br />
Arbeit: durch den nachdenkenden, fleißigen und kritischen Mensehen bahnt sich die<br />
Wahrheit schließlich den Weg zu breiteren Kreisen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 783
Legenden <strong>der</strong> Bürokratie<br />
Die in diesem Buch entwickelte Konzeption <strong>der</strong> Oktoberunswälzung hat <strong>der</strong> Autor<br />
wie<strong>der</strong>holt, allerdings nur in allgemeinen Zügen, bereits in den ersten Jahren des Sowjetregimes<br />
dargestellt. Um seinen Gedanken greller zu beleuchten, gab er ihm mitunter<br />
quantitativen Ausdruck: die Aufgabe <strong>der</strong> Umwälzung, schrieb er, »war zu drei Viertel,<br />
wenn nicht zu neun Zehntel« bereits vor dem 25. Oktober gelöst durch die Methode des<br />
"stillen" o<strong>der</strong> "trockenen" Aufstandes. Verleiht man Zahlen keine größere Bedeutung als<br />
jene, auf die sie in diesem Falle Anspruch erheben dürfen, bleibt <strong>der</strong> Gedanke an sich<br />
unbestreitbar. Seit <strong>der</strong> Zeit jedoch, wo die Umwertung <strong>der</strong> Werte begann, wurde unsere<br />
Konzeption auch in diesem ihrem Teil einer erbitterten Kritik ausgesetzt.<br />
»... War am 9. Oktober <strong>der</strong> "siegreiche" Aufstand zu neun Zehntel bereits vollzogene<br />
Tatsache«, schrieb Kamenjew, »wie soll man dann die geistigen Fähigkeiten jener<br />
einschätzen, die im Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki saßen und am 10. Oktober leidenschaftlich<br />
darüber stritten, ob man den Aufstand beginnen und wann man ihn beginnen<br />
solle? Was kann man von Menschen sagen, die sich am 16. Oktober versammelten ... und<br />
wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> die Chancen des Aufstandes berieten? ... Es stellt sich ja heraus, er<br />
war bereits am 9. "still" und "legal" durchgeführt, und zwar so still, daß we<strong>der</strong> die<br />
Partei noch das Zentralkomitee es erfahren hatten.« Dieses äußerlich so effektvolle<br />
Argument, das von <strong>der</strong> Literatur des Epigonentums kanonisiert wurde und seinen Autor<br />
politisch überlebt hat, ist in Wahrheit eine bestechende Anhäufung von Irrtümern.<br />
Am 9. Oktober konnte <strong>der</strong> Aufstand noch keinesfalls »zu neun Zehntele vollzogene<br />
Tatsache gewesen sein, denn erst an diesem Tage wurde die Frage <strong>der</strong> Versetzung <strong>der</strong><br />
Garnison im Sowjet gestellt, und man konnte nicht wissen, welche Entwicklung sie in<br />
<strong>der</strong> Folge nehnten würde. Gerade deshalb hatte Trotzki am nächsten Tage, dem 10., als er<br />
die Wichtigkeit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Truppenversetzung betonte, noch keine genügenden<br />
Gründe für die For<strong>der</strong>ung, den Konflikt <strong>der</strong> Garnison mit dem Kommando zur Grundlage<br />
des gesamten Planes zu machen. Erst nach zwei Wochen hartnäckiger täglicher Arbeit<br />
war die Hauptaufgabe des Aufstandes - die feste Gewinnung <strong>der</strong> Regierungitruppen für<br />
die Sache des Volkes - »zu drei Viertel, wenn nicht zu neun Zehntel« gelöst. Dies war<br />
noch nicht <strong>der</strong> Fall am 10., auch nicht am 16. Oktober, als das Zentralkomitee zum<br />
zweiten Male die Frage des Aufstandes beriet und Krylenko bereits mit voller Bestimmtheit<br />
die Frage <strong>der</strong> Garnison in den Mittelpunkt stellte.<br />
Aber selbst wenn die Umwälzung schon am 9. zu neun Zehntel gesiegt hätte, wie<br />
Kamenjew unseren Gedanken irrtümlich wie<strong>der</strong>gibt, dies mit Sicherheit festzustellen,<br />
wäre nicht durch Vermutungen möglich gewesen, son<strong>der</strong>n einzig durch die Tat, das heißt<br />
durch den Aufstand: die »geistigen Fähigkeiten« <strong>der</strong> Zentralkomiteemitglie<strong>der</strong> sind auch<br />
in diesem rein hypothetischcn Falle durch die Teilnahme an den leidenschaftlichen<br />
Debatten vom 10. und 16. Oktober nicht im mindesten kompromittiert. Aber auch wenn<br />
die Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees schon am 10. durch apriorische Einschätzungen<br />
vermocht hätten, unerschütterlich festzustellen, <strong>der</strong> Sieg sei tatsächlich zu neun Zehntel<br />
errungen, wäre noch nötig geblieben, das letzte Zehntel zu vollbringen; und dies hätte die<br />
gleiche Aufmerksamkeit erfor<strong>der</strong>t, als wenn es sich um alle zehn Zehntel handelte.<br />
Wieviel solcher "fast" gewonnenen Schlachten und Aufstände zeigt die <strong>Geschichte</strong>, die<br />
Nie<strong>der</strong>lagen brachten nur deshalb, weil sie nicht rechtzeitig bis zur völligen Zerschmetterung<br />
des Gegners durchgeführt wurden! Schließlich - Kamenjew gelingt es, auch dies zu<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 784
vergessen - war <strong>der</strong> Wirkungskreis des Militärischen Revtlutionikomitees auf Petrograd<br />
beschränkt. So groß auch die Bedeutung <strong>der</strong> Hauptstadt ist, es exutiert außer ihr immerhin<br />
noch das Land. Und unter diesem Gesichtspunkte hatte das Zentralkomitee Grund<br />
genug, die Chancen des Aufstandes sorgfältigst zu erwägen, nicht nur am 10. und 16.,<br />
son<strong>der</strong>n auch noch am 26., das heißt nach dem Siege in Petrograd.<br />
In <strong>der</strong> untersuchten Abhandlung nimmt Kamenjew Lenin in Schutz - alle Epigonen<br />
verteidigen sich unter diesem wirkungsvollen Pseudonym-: wie hätte denn Lenin so<br />
leidenschaftlich für den Aufstand kämpfen können, wenn dieser bereits zu neun Zehntel<br />
vollzogen gewesen wäre! Doch schrieb Lenin selbst Anfang Oktober: »Es ist sehr<br />
möglich, daß man gerade jetzt die Macht ohne Aufstand übernehmen kann ...« Mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten, Lenin ließ den Gedanken zu, daß eine "stille" Umwälzung schon vor<br />
dem 9. sich vollzogen hätte, und zwar nicht zu neun, son<strong>der</strong>n zu zehn Zehntel, Er begriff<br />
jedoch, daß man diese optimistische Hypothese nicht an<strong>der</strong>s als durch die Tat nachprüfen<br />
könne. Deshalb sagte Lenin im gleichen Brief: »Kann man die Macht nicht ohne<br />
Aufstand übernehmen, dann muß man an den Aufstand sofort herangehen.« Und<br />
ebendiese Frage wurde am 10., 16. und an den übrigen Tagen erwogen.<br />
Die neueste Sowjet-Historiographie hat aus <strong>der</strong> Oktoberrevolution völlig das äußerst<br />
bedeutsame und lehrreiche Kapitel über Lenins Meinungsversehiedenheiten mit dens<br />
Zentralkomitee gestrichen, sowohl im Grundsätzlichen und Prinzipiellen, wo Lenin recht<br />
hatte, wie auch in jenen partiellen, aber äußerst wichtigen Fragen, wo das Recht auf<br />
seiten des Zentralkomitees war: nach <strong>der</strong> neuen Doktrin konnten we<strong>der</strong> das Zentralkomitee<br />
noch Lenin irren, mithin konnte es zwischen ihnen auch keine Konflikte geben. In<br />
den Fällen, wo Meinungsverschiedenheiten nicht abzuleugnen sind, werden sie, einer<br />
allgemeinen Vorschrift entsprechend, auf Trotzki übertragen.<br />
Die Tatsachen aber sprechen an<strong>der</strong>s. Lenin drängte auf Einleitung des Aufstandes in<br />
den Tagen <strong>der</strong> Demokratischen Beratung: nicht ein Mitglied des Zentralkomitees unterstützte<br />
ihn. Eine Woche später schlug Lenin Smilga vor, den Aufstandsstab in Finnland<br />
zu organisieren und von dort mit den Kräften <strong>der</strong> Seeleute einen Schlag gegen die Regierung<br />
zu führen. Nach weiteren zehn Tagen drängte er darauf; den Nordkongreß zum<br />
Ausgangsmoment des Aufstandes zu machen. Auf dem Kongreß unterstützte niemand<br />
diesen Vorschlag. Lenin betrachtete Ende September ein Hinausziehen des Aufstandes<br />
um drei Wochen, bis zum Sowjetkongreß, als verhängnisvoll. Indes endete <strong>der</strong> Aufstand,<br />
vertagt bis zum Vorabend des Kongresses, während dessen Tagung. Lenin hatte vorgeschlagen,<br />
den Kampf in Moskau zu eröffnen, in <strong>der</strong> Annahme, dort werde sich die Sache<br />
ohne Waffengang entscheiden. In Wirklichkeit dauerte <strong>der</strong> Aufstand in Moskau, trotz<br />
dem vorangegangenen Sieg in Petrograd, acht Tage und for<strong>der</strong>te viele Opfer.<br />
Was Lenins Politik charakterisierte, war die Verbindung von kühnen Perspektiven mit<br />
sorgfältiger Einschätzung kleiner Tatsachen und Symptome. Lenins lsolierthrit hin<strong>der</strong>te<br />
ihn nicht, mit unvergleichlicher Tiefe die grundlegenden Etappen und Wendungen <strong>der</strong><br />
Bewegung festzustellen, nahm ihm aber die Möglichkeit, episodische Faktoren und<br />
konjunkturmäßige Verän<strong>der</strong>ungen rechtzeitig einzuschätzen. Die pohtische Situation war<br />
im allgemeinen <strong>der</strong>art günstig für den Aufstand, daß sie die Möglichkeit eines Sieges<br />
-unter mannigfachen Varianten zuließ. Wäre Lenin in Petrograd gewesen und hätte er<br />
Anfang Oktober den Beschluß über den sofortigen Aufstand durchgesetzt, unabhängig<br />
vom Sowjetkongreß, er hätte zweifellos die Durchführung seines eigenen Planes<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 785
politisch <strong>der</strong>art gestaltet, daß dessen Nachteile aufein Minimum hinausgelaufen wären.<br />
Aber es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, daß er in diesem Falle selbst jenen Plan<br />
gewählt hätte, <strong>der</strong> tatsächlich durchgeführt wurde.<br />
Lenin war kein Automat für unfehlbare Beschlüsse. Er war "nur" ein genialer Mensch,<br />
und nichts Menschliches war ihm fremd, darunter auch nicht die Eigenschaft, zu irren.<br />
Lenin sagt über das Verhältnis von Epigonen zu großen <strong>Revolution</strong>ären: »Nach ihrem<br />
Tode versucht man, sie in harmlose Heiligenbil<strong>der</strong> zu verwandeln, sozusagen sie zu<br />
kanonisieren, ihrem Namen einen gebührenden Ruhm zu belassen ...«, um sie in<br />
Wirklichkeit desto gefahrloser zu verraten. Die Epigonen for<strong>der</strong>n Anerkennung <strong>der</strong><br />
Unfehlbarkeit Lenins, um desto leichter dieses Dogma auf sich selbst übertragen zu<br />
können. 16<br />
Die Einschätzung <strong>der</strong> Rolle Lenins in <strong>der</strong> Gesamtstrategie <strong>der</strong> Umwälzung haben wir<br />
in einem beson<strong>der</strong>en Kapitel gegeben. Um unsern Gedanken über die taktischen<br />
Vorschläge Lenins zu präzisieren, wollen wir hinzufügen: ohne Lenins Druck, ohne sein<br />
Drängen, seine Vorschläge und Varianten würde sich das Beschreiten des Weges zum<br />
Aufstande mit unermeßlich größeren Schwierigkriten vollzogen haben; wäre Lenin in<br />
den kritischen Wochen im Smolny gewesen, die Gesamtleitung des Aufstandes hätte,<br />
und #zwar nicht nur in Petrograd, son<strong>der</strong>n auch in Moskau, ein bedeutend höheres<br />
Niveau gehabt; doch Lenin in <strong>der</strong> "Emigration" konnte nicht Lenin im Smolny ersetzen.<br />
Am schärfsten empfand seine ungenügende taktische Orientiertheit Lenin selbst. Am<br />
24. September schreibt er im 'Rabotschyj Putj': »offenkundig wächst eine neue <strong>Revolution</strong><br />
heran wir wissen lei<strong>der</strong> wenig über Auwsdehnung und Tempo dieses Anwachsens«.<br />
Diese Worte bilden sowohl einen Vorwurf an die Adresse <strong>der</strong> Parteileitung wie Klage<br />
über die eigene Uninformiertheit. In seinen Briefen an die wichtigsten Aufstandsregeln<br />
erinnernd, vergißt Lenin nicht, hinzuzufügen: »Das alles als Beispiel, nur zur lllustration<br />
natürlich.« Am 8. Oktober schreibt Lenin an den Sowjetkongreß des Norddistrikts: »Ich<br />
will versuchen, mit meinen Ratschlägen eines Außenstehenden hervorzutreten, für den<br />
Fall, daß die wahrscheinliche Aktion <strong>der</strong> Arbeiter und Soldaten Petrograds ... bald stattfinden<br />
wird, aber noch nicht statt-gefunden hat.« Seine Polemik gegen Sinowjew und<br />
Kamenjew beginnt Lenin mit den Worten: »Der Publizist, <strong>der</strong> durch den Willen des<br />
Geschicks ein wenig abseits vom Hauptstrom <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> gestellt ist, läuft ständig<br />
Gefahr, sich zu verspäten o<strong>der</strong> sich uninformiert zu erweisen, beson<strong>der</strong>s wenn seine<br />
Beiträge mit Venpätung das Licht <strong>der</strong> Welt erblicken.« Hier wie<strong>der</strong>um die Klage über<br />
seine Isoliertheit neben dem Vorwurf an die Redaktion, die die Veröffentlichung allzu<br />
scharfer Artikel Lenins zurückhält o<strong>der</strong> die stacheligsten Stellen aus ihnen hinauswirft.<br />
Eine Woche vor <strong>der</strong> Umwälzung schreibt Lenin in einem konspirativen Brief an die<br />
Parteimitglie<strong>der</strong>: »Was die Frage des Aufstandes betrifft, jetzt, so nah an den 20.<br />
Oktober, so kann ich aus <strong>der</strong> Ferne nicht beurteilen, wieweit die Sache durch das streikbrecherische<br />
Auftreten (Sinowjews und Kamenjews) in <strong>der</strong> außerparteilichen Presse<br />
verdorben ist.« Die Worte »aus <strong>der</strong> Ferne« hat Lenin selbst unterstrichen.<br />
16 Während des dritten Kongresses <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> berief sich Lenin, um seine Schläge<br />
gegen einige "Ultralinke" zu mil<strong>der</strong>n, darauf; daß auch er ultralinke Fehler begangen hätte, beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong><br />
Emigration, darunter auch in <strong>der</strong> letzten "Emigration", im Jahre 1917 in Finnland, als er einen ungünstigeren<br />
Aufstandaplan verteidigte als jenen, <strong>der</strong> tatsächlich verwirklicht wurde Auf diesen seinen Fehler verwies<br />
Lenin, wenn uns das Gedächtnis nicht trügt, auch in einer schriftlichen Erklärung in <strong>der</strong> Kommission des<br />
Kongresses für deutsche Angelegenheiten. Lei<strong>der</strong> ist uns das Archiv <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />
nicht zugänglich; die uns hier interessierende Erklärung Lenins ist aber offenbar nicht veröffentlicht worden.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 786
Wie erklärt nun die Epigonenschule das Mißverhältnis zwischen Lenins taktischen<br />
Vorschlägen und dem tatsächlichen Verlauf des Aufstandes in Petrograd? Sie verleiht<br />
den Konflikten entwe<strong>der</strong> andnymen und formlosen Charakter o<strong>der</strong> geht an den<br />
Meinungsverschiedenheiten vorüber, mit <strong>der</strong> Erklärung, daß sie keine Aufmerksamkeit<br />
verdienten; o<strong>der</strong> versucht, feststehende Tatsachen zu bestreiten; o<strong>der</strong> Trotzkis Namen<br />
dort vorzuschieben, wo bei Lenin die Rede vom Zentralkomitee als Ganzem o<strong>der</strong> von<br />
den Gegnern des Aufstandes innerhalb des Zentralkomitees die Rede ist; o<strong>der</strong> aber sie<br />
kombiniert schließlich alle diese Methoden, ohne um <strong>der</strong>en Übereinstimmung besorgt zu<br />
sein.<br />
»Als Muster <strong>der</strong> (bolschewistischen) Strategie«, schreibt Stalin, »kann man die Durchführung<br />
des Oktoberaufstandes betrachten. Die Verletzung dieser Bedingung (<strong>der</strong> richtigen<br />
Wahl des Moments) führt zu dem gefährlichen Fehler, <strong>der</strong> sich "Tempoverlust"<br />
nennt, wo die Partei- hinter dem Gang <strong>der</strong> Bewegung zurückbleibt o<strong>der</strong> ihr vorauseilt<br />
und dabei die Gefahr des Zusammenbruchs heraufbeschwört. Als Beispiel eines solchen<br />
"Tempoverlusts", als Beispiel dafür, wie man den Zeitpunkt des Aufitandes nicht wählen<br />
darf; kann <strong>der</strong> Versuch eines Teiles <strong>der</strong> Genossen gelten, den Aufstand mit <strong>der</strong> Verhaftung<br />
<strong>der</strong> Demokratischen Beratung im August 1917 zu beginnen.« Unter <strong>der</strong> Bezeichnung<br />
»eines Teiles <strong>der</strong> Genossen« figuriert in diesen Zeilen Lenin. Niemand außer ihm<br />
hat vorgeschlagen, den Aufstand mit <strong>der</strong> Verhaftung <strong>der</strong> Demokratischen Beratung zu<br />
beginnen, und niemand hat diesen Vorschlag unterstützt. Lenins taktischen Plan<br />
empfiehlt Stalin als »Beispiel dafür, wie man den Zeitpunkt des Aufstandes nicht wählen<br />
darf«. Die anonyme Formel <strong>der</strong> Darstellung erlaubt Stalin gleichzeitig, die Meinungsverschiedenheiten<br />
zwischen Lenin und dem Zentralkomitee rundweg abzuleugnen.<br />
Noch einfacher zieht sich Jaroslawski aus den Schwierigkeiten. »Es handelt sich natürlich<br />
nicht um Einzelheiten«, schreibt er, »es handelt sich nicht darum, ob <strong>der</strong> Aufstand in<br />
Moskau o<strong>der</strong> Pctrograd begonnen hat«, es handelt sich darum, daß <strong>der</strong> gesamte Verlauf<br />
<strong>der</strong> Ereignisse »die Richtigkeit <strong>der</strong> Leninsehen Linie unserer Partei« bewies. Der findige<br />
Historiker vereinfacht aufs äußerste seine Aufgabe. Daß <strong>der</strong> Oktober eine Nachprüfung<br />
<strong>der</strong> Leninschen Strategie gegeben und im beson<strong>der</strong>en gezeigt hat, welche Bedeutung sein<br />
Aprilsieg über die führende Schicht <strong>der</strong> "alten Bolschewiki" hatte - ist unbestreitbar.<br />
Handelt es sich aber überhaupt nicht darum, wo zu beginnen, wann zu beginnen und wie<br />
zu beginnen, so bleibt nicht nur von den episodischen Meinungsverschiedenhcitcn mit<br />
Lenin, son<strong>der</strong>n auch von <strong>der</strong> Taktik überhaupt nichts übrig.<br />
In John Reeds Buch gibt es eine Schil<strong>der</strong>ung, wonach die Führer <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
angeblich am 21. Oktober eine »zweite historische Sitzung« gehabt hätten, in <strong>der</strong>, wie<br />
man Reed berichtete, Lenin gesagt haben soll: »Am 24. Oktober zu beginnen, ist verfrüht:<br />
für den Aufstand ist eine allrussische Basis notwendig, am 24. aber werden noch nicht<br />
alle Kongreß-Delegierten eingetroffen sein. An<strong>der</strong>erseits wird <strong>der</strong> 26. zu spät sein zur<br />
Einleitung <strong>der</strong> Aktion ... Wir müssen am 25. beginnen, am Eröffnungstage des Kongresses<br />
.,,« Reed war ein außerordentlich feiner Beobachter, <strong>der</strong> es vermocht hat, auf die<br />
Seiten seines Buches Gefühle und Leidenschaften <strong>der</strong> entscheidenden <strong>Revolution</strong>stage zu<br />
bannen. Ebendeshalb wünschte Lenin seinerzeit Reeds unvergleichlicher Chronik eine<br />
Verbreitung in Millionen Exemplaren in allen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Welt. Doch Arbeit im Feuer<br />
<strong>der</strong> Ereignisse, Notizen, aufgezeichnet in Korridoren, auf <strong>der</strong> Straße, an Wachtfeuern, im<br />
Fluge erfaßte Gespräche o<strong>der</strong> Bruchteile von Sätzen, die Notwendigkeit, Hilfe von<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 787
Dolmetschern in Anspruch zu nehmen, all das machte einzelne Irrtümer unvermeidlich.<br />
Der Bericht über die Sitzung vom 21. Oktober bildet einen <strong>der</strong> krassesten Irrtümer in<br />
Reeds Buch. Die Erwägung <strong>der</strong> Notwendigkeit einer "all<strong>russischen</strong> Sowjetbasis" für den<br />
Aufstand konnte keinesfalls von Lenin stammen, denn mehr als einmal hatte dieser die<br />
Jagd nach einer solchen Basis glattweg als »vollkommenen Idiotismus und vollkommenen<br />
Verrat« bezeichnet. Lenins konnte nicht sagen, am 24. sei es verfrüht, sich zu erheben,<br />
denn schon seit Ende September hatte er die Verschiebung des Aufstandes auch nur um<br />
einen Tag für unzulässig gehalten: eine Verspätung ist möglich, aber »Verfrühtes kann es<br />
in dieser Hinsicht jetzt nicht geben«. Jedoch außer diesen an sich entscheidenden<br />
Erwägungen wird Reeds Bericht durch die einfache Tatsache wi<strong>der</strong>legt, daß am 21. keine<br />
»zweite historische Sitzung« stattgefunden hat: eine solche Beratung würde Spuren in<br />
Dokumenten und im Gedächtnis <strong>der</strong> Teilnehmer hinterlassen haben. Es gab nur zwei<br />
Beratungen unter Lenins Teilnahme: am 10. und am 16. Reed konnte das nicht wissen.<br />
Doch die danach veröffentlichten Dokumente lassen keinen Platz für die »historische<br />
Sitzung« vom 21. Oktober. Die Epigonenhistoriographie jedoch hat unbedenklich Reeds<br />
offenkundig irrige Angabe in sämtliche offiziellen Veröffentlichungen übernommen:<br />
dadurch wird das zeitliche Zusammentreffen <strong>der</strong> Leninschen Direktiven mit dem wirklichen<br />
Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse äußerlich erreicht. Zwar bringen dabei die offiziellen Historiographen<br />
Lenin in unverständliche und unerklärliche Wi<strong>der</strong>sprüche mit sich selbst.<br />
Doch handelt es sich im Grunde ja gar nicht um Lenin: die Epigonen haben Lenin<br />
einfach in ihr eigenes historisches Pseudonym verwandelt und bedienen sich seiner<br />
ungeniert zur nachträglichen Bestätigung <strong>der</strong> eigenen Unfehlbarkeit.<br />
Die offiziellen Historiker gehen in <strong>der</strong> Anpassung <strong>der</strong> Tatsachen an die Marschroute<br />
noch weiter. So schreibt Jaroslawski in seiner <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Partei: »In <strong>der</strong> Sitzung des<br />
Zentralkomitees vom 24. Oktober, <strong>der</strong> letzten vor dem Aufstande, war Lenin anwesend.«<br />
Die offiziellen Protokolle, die eine genaue namenthehe Aufzählung <strong>der</strong> Teilnehmer<br />
enthalten, beweisen, daß Lenin nicht anwesend war. »Lenin und Kamenjew wurden<br />
beauftragt, Verhandlungen mit den linken Sozialrevolutionären zu führen«, schreibt<br />
Jaroslawski. Die Protokolle sagen, dieser Auftrag sei Kamenjew und Bersin erteilt<br />
worden. Aber auch ohne die Protokolle dürfte es klar sein, daß das Zentralkomitee mit<br />
zweitrangigen "diplomatischen" Aufträgen nicht Lenin bedacht hätte. Die entscheidende<br />
Zentralkomiteesitzung fand morgens statt. Lenin traf im Smolny erst in <strong>der</strong> Nacht ein.<br />
Ein Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Komitees, Sweschnikow, erzählt, daß Lenin »am Abend<br />
(des 24.) sich entfernte und im Zimmer einen Zettel gelassen hatte, er sei dann und dann<br />
weggegangen. Als wir es erfuhren, ängstigten wir uns in <strong>der</strong> Seele um IIjitich ...« Im<br />
Bezirk wurde bereits »spät abends« bekannt, daß Lenin sich ins Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee<br />
begeben hatte.<br />
Am seltsamsten jedoch ist, daß Jaroslawski ein politisch und menschlich höchst wichtiges<br />
Dokument unbeachtet läßt: den Brief an die Bezirksleiter, geschrieben von Lenin in<br />
den Stunden, wo <strong>der</strong> offene, Aufstand eigentlich schon begonnen hatte. »Genossen! Ich<br />
schreibe diese Zeilen am Abend des 24. ... Mit Aufbietung all meiner Kräfte möchte ich<br />
die Genossen davon überzeugen, daß jetzt alles an einem Haar hängt, daß auf <strong>der</strong><br />
Tagesordnung Fragen stehen, die nicht durch Beratungen, nicht durch Kongresse (seien<br />
es auch Sowjetkongresse) entschieden werden, son<strong>der</strong>n ausschließlich durch die Völker,<br />
durch die Masse, durch den Kampf bewaffneter Massen... Man muß um jeden Preis heute<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 788
abend, heute nacht die Regierung verhaften, indem man die Junker und so weiter<br />
entwaffnet (wenn sie Wi<strong>der</strong>stand leisten, sie nie<strong>der</strong>ringt).« Lenin befürchtet in solchem<br />
Maße Unentschlossenheit seitens des Zentralkomitees, daß er versucht, im allerletzten<br />
Moment einen Druck von unten zu organisieren. »Es ist notwendig«, schreibt er, »daß<br />
alle Bezirke, alle Regimenter, alle Kräfte sofort mobilisiert werden und unverzüglich<br />
Delegationen in das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee, in das Zentralkomitee <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
entsenden mit <strong>der</strong> dringenden For<strong>der</strong>ung: auf keinen Fall die Macht in den Händen<br />
<strong>der</strong> Kerenski & Co. bis zuns 25. zu lassen, unter keinen Umständen - die Sache muß<br />
unbedingt heute, abends o<strong>der</strong> nachts, entschieden werden.« Während Lenin diese Zeilen<br />
schrieb, waren die Regimenter und Bezirke, die er aufrief; sich für einen Druck auf das<br />
Militärische <strong>Revolution</strong>skomitce zu mobilisieren, von diesem bereits mobilisiert für die<br />
Eroberung <strong>der</strong> Stadt und den Sturz <strong>der</strong> Regierung. Aus dem Brief, in dem jede Zeile von<br />
Besorgnis und Leidenschaft bebt, ist jedenfalls erkennbar, daß Lenin we<strong>der</strong> am 21. die<br />
Verschiebung des Aufstandes bis zum 25. vorgeschlagen noch an <strong>der</strong> Morgensitzung<br />
vom 24. teilgenommen haben konnte, wo beschlossen worden war, sofort zum Angriff<br />
überzugehen.<br />
Der Brief enthält immerhin ein rätselhaftes Element: wie konnte Lenin, <strong>der</strong> sich im<br />
Wyborger Bezirk verbarg, bis zum Abend von einem so außerordendich wichtigen<br />
Beschluß keine Kenntnis gehabt haben? Aus <strong>der</strong> Erzählung des gleichen Sweschnikow<br />
wie aus an<strong>der</strong>en Quellen ist ersichtlich, daß die Verbindung mit Lenin an diesem Tage<br />
durch Stalin unterhalten wurde. Es bleibt nur die Vermutung übrig, daß Stalin, <strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Morgensitzung des Zentralkomitees nicht erschienen war, bis zum Abend von dem<br />
gefaßten Beschluß nichts erfahren hatte.<br />
Unmittelbarer Anstoß zu Lenins Besorgnis konnten auch die bewußt und beharrlich an<br />
diesem Tage vom Smolny aus verbreiteten Gerüchte gewesen sein, vor Beschluß des<br />
Sowjetkongresses würden keine entscheidenden Schritte unternommen werden. Am<br />
Abend dieses Tages sagte Trotzki in einer außerordentlichen Sitzung des Petrogra<strong>der</strong><br />
Sowjets bei einem Bericht über die Tätigkeit des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees:<br />
»Ein bewaffneter Konflikt heute o<strong>der</strong> morgen gehört nicht in unsere Pläne hinein - an<br />
<strong>der</strong> Schwelle des all<strong>russischen</strong> Sowjetkongresses. Wir glauben, daß <strong>der</strong> Kongreß unsere<br />
Parole mit größter Kraft und Autorität durchführen wird. Wenn die Regierung aber<br />
versuchen sollte, die Frist, die ihr zu leben noch geblieben ist - vierundzwanzig, achtundvierzig<br />
o<strong>der</strong> zweiundsiebzig Stunden -, auszunutzen, um <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> das Messer in<br />
den Rücken zu stoßen, so werden wir Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren.«<br />
Das war das Leitmotiv des ganzen Tages. Die Defensiverklärungen hatten zur Aufgabe,<br />
im letzten Monsent vor dem Schlage die ohnehin nicht übermäßig aktive Wachsamkeit<br />
des Gegners einzuschläfern. Und ebendieses Manöver gab aller Wahrscheinlichkeit nach<br />
Dan Veranlassung, Kerenski in <strong>der</strong> Nacht auf den 25. zu versichern, die Bolschewiki<br />
dächten in diesem Augenblick keinesfalls an einen Aufstand. An<strong>der</strong>erseits aber konnte<br />
auch Lenin, wenn ihn eine dieser beruhigenden Erklärungen des Smolny erreichte, im<br />
Zustande gespannten Mißtrauens die Kriegslist für bare Münze nehmen.<br />
List bildet ein notwendiges Element <strong>der</strong> Kriegskunst. Schlimm indes ist jene List, die<br />
gleichzeitig das eigene Lager zu täuschen vermag. Hätte es sich darum gehandelt, die<br />
Massen insgesamt auf die Straße zu rufen, die Worte von den »nächsten zweiundsiebzig<br />
Stunden« hätten unheilvolle Wirkung ausüben können. Doch am 24. bedurfte die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 789
Umwälzung bereits nicht mehr revolutionärer Aufrufe ohne Adresse. Bewaffnete Abteilungen,<br />
bestimmt für Besetzung <strong>der</strong> wichtigsten Punkte <strong>der</strong> Hauptstadt, standen bereit<br />
und warteten auf das Aufstandssignal ihrer durch Telephon mit den nächsten revolutionären<br />
Stäben verbundenen Kommandeure. Unter diesen Umständen war die zweischneidige<br />
Kriegslist des <strong>Revolution</strong>sstabes durchaus am richtigen Platze.<br />
In den Fällen, wo die offiziellen Forscher auf ein unangenehmes Dokument stoßen,<br />
än<strong>der</strong>n sie auf ihm die Adresse. So schreibt Jakowljew: »Die Bolschewiki fielen auf die<br />
"konstitutionellen Illusionen" nicht hinein, als sie Trotzkis Vorschlag, den Aufstand<br />
unbedingt dem zweiten Sowjetkongreß anzupassen, ablehnten und die Macht vor<br />
Kongreßbeginn übernahmen.« Von welchem Vorschlag Trotzkis hier die Rede ist, wo<br />
und wann er beraten wurde, welche Bolschewiki ihn ablehnten - vermerkt <strong>der</strong> Autor<br />
nicht, und keinesfalls zufällig: vergeblich würde man in Protokollen o<strong>der</strong> in beliebigen<br />
Erinnerungen Hinweise suchen auf Trotzkis Vorschlag, den Aufstand »unbedingt dem<br />
zweiten Sowjetkongreß anzupassen«. Jakowljews Behauptung beruht auf einem etwas<br />
stilisierten Mißverständnis, das längst von niemand an<strong>der</strong>em als Lenin aufgeklärt worden<br />
ist.<br />
Wie aus verschiedenen vor langer Zeit veröffentlichten Erinnerungen ersichtlich ist,<br />
hatte Trotzki seit Ende September die Gegner des Aufstandes wie<strong>der</strong>holt darauf verwiesen,<br />
daß die Festsetzung eines Termins des Sowjetkongresses für die Bolschewiki gleichbedeutend<br />
sei mit <strong>der</strong> Festsetzung des Aufstandes. Das sollte natürlich nicht heißen, die<br />
Umwälzung dürfe nicht an<strong>der</strong>s als auf Beschluß des Sowjetkongresses erfolgen - von<br />
solch kindlichem Formalismus konnte nicht die Rede sein. Es handelte sich um die letzte<br />
Frist: man durfte den Aufstand nicht auf unbestimmte Zeit nach dem Sowjetkongteß<br />
verschieben. Durch wen und in welcher Form diese Diskussionen im Zentralkomitee<br />
Lenin erreicht hatten, ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich. Zusammenkünfte mit<br />
Trotzki, <strong>der</strong> den Augen <strong>der</strong> Feinde zu stark ausgesetzt war, hätten eine zu große Gefahr<br />
für Lenin gebildet. Bei seinem damaligen Argwohn konnte Lenin leicht befürchten,<br />
Trotzki lege die Betonung auf Kongreß und nicht auf Aufstand, leiste jedenfalls<br />
Sinowjews und Kamenjews »konstitutionellen Illusionen« nicht den nötigen Wi<strong>der</strong>stand.<br />
Auch die ihm wenig bekannten neuen Zentralkomiteemitglie<strong>der</strong>, frühere Interrayonisten<br />
(o<strong>der</strong> Vereinigungsanhänger), Joffe und Uritzki, mochten Lenins Besorgnis erregt haben.<br />
Einen direkten Hinweis darauf enthält Lenins Rede nach dein Siege in <strong>der</strong> Sitzung des<br />
Petrogra<strong>der</strong> Komitees vom 1. November. »Es wurde in <strong>der</strong> Sitzung (vom 10. Oktober) die<br />
Frage des Aufstandes erhoben. Ich befürchtete Opportunisnsus seitens <strong>der</strong> auf dem<br />
Boden <strong>der</strong> Vereinigung stehenden Internationalisten, doch die Befürchtungen zerstreuten<br />
sich; in unserer Partei waren etliche Mitglie<strong>der</strong> (des Zentralkomitees) nicht einverstanden.<br />
Das hatte mich aufs äußerste betrübt.« Am 10. überzeugte sich Lenin, nach seinen<br />
eigenen Worten, daß nicht nur Trotzki, son<strong>der</strong>n auch die unter dessen direktem Einfluß<br />
stehenden Joffe und Uritzki entschieden für den Aufstand eintraten. Die Frage <strong>der</strong><br />
Termine wurde übehaupt zum erstenmal in jener Sitzung gestellt. Wann also und von<br />
wem wurde »Trotzkis Vorschlag« abgelehnt, den Aufstand nicht ohne vorherigen<br />
Beschluß des Sowjetkongresses zu beginnen? Gleichsam speziell zu dem Zwecke, dem<br />
Radius des Wirrwarrs noch zu vergrößern, schieben die offiziellen Nachschlagwerke,<br />
wie wir bereits wissen, einen gleicheis Vorschlag Lenin zu, unter Berufung auf den<br />
apokryphen Beschluß vom 21. Oktober.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 790
Hier greift Stalin in den Streit ein mit einer neuen Version, die Jakowljew und mit ihm<br />
vieles an<strong>der</strong>e umwirft. Es stellt sieh heraus, daß die Verschiebung des Aufstandes bis<br />
zum Tage des Kongresses, das heißt bis zum 25., an sich Lenins Wi<strong>der</strong>spruch nicht<br />
hervorgerufen hat; die Sache wurde aber verdorben durch die vorzeitige Veröffentlichung<br />
des Aufstandstermins. Überlassen wir jedoch das Wort Stalin selbst: »Der Fehler<br />
des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, <strong>der</strong> den Tag des Aufstandes (den 25. Oktober) offen angesetzt<br />
und veröffentlicht hatte, konnte nicht an<strong>der</strong>s gut gemacht werden als durch den faktischen<br />
Aufstand vor diesens legalen Aufstandsdatum.« Diese Behauptung entwaffnet<br />
durch ihre Unzulänglichkeit. Als habe es sich bei dem Streit mit Lenin um die Wahl<br />
zwischen dem 24. und 25. Oktober gehandelt! In Wirklichkeit schrieb Lenin fast einen<br />
Monat vor dem Aufstande; »Auf den Sowjetkongreß zu warten, ist völlige Idiotie, denn<br />
das heißt Wochen verstreichen lassen, aber Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt<br />
alles.« Wo und wann hatte an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> Sowjet das Datum des Aufstandes veröffentlicht?<br />
Es ist sogar schwer, Motive auszudenken, aus denen heraus er einen solchen<br />
Unsinn hätte begehen können. In Wahrheit war auf den 25. im voraus und öffentlich<br />
nicht <strong>der</strong> Aufstand, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Sowjetkongreß angesetzt; das geschah nicht durch den<br />
Petrogra<strong>der</strong> Sowjet, son<strong>der</strong>n durch das versöhnlerische Zentral-Exekutivkomitee. Aus<br />
dieser Tatsache heraus, und nicht aus angeblicher Unvorsichtigkeit des Sowjets, ergaben<br />
sich für den Gegner gewisse Schlußfolgerungen: Die Bolschewiki werden, wollen sie<br />
nicht von <strong>der</strong> Bühne verschwinden, versuchen müssen, im Augenblick des Kongresses<br />
die Macht zu erobern. »Aus <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge«, schrieben wir später, »ergab sich, daß<br />
wir den Aufstand auf den 25. Oktober ansetzten. So verstand die Sache auch die gesamte<br />
bürgerliche Presse.« Verschwommene Erinnerungen an die "Logik <strong>der</strong> Dinge" verwandelten<br />
sich bei Stalin in »unvorsichtige« Bekanntgabe des Aufstandstages. So wird<br />
<strong>Geschichte</strong> geschrieben!<br />
Am zweiten Jahrestag <strong>der</strong> Umwälzung verwies <strong>der</strong> Autor dieses Buches in dem soeben<br />
dargelegten Sinne darauf; daß <strong>der</strong> »Oktoberaufstand sozusagen im voraus auf ein<br />
bestimmtes Datum, den 25. Oktober, festgesetzt« und an diesem Tage auch vollbracht<br />
war, und fügte hinzu; vergeblich würden wir in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> das zweite Beispiel eines<br />
Aufstandes suchen, <strong>der</strong> durch den Gang <strong>der</strong> Dinge von vornherein einem bestimmten<br />
Datum angepaßt war. Diese Behauptung ist irrig: <strong>der</strong> Aufstand vom 10. August 1792 war<br />
ebenfalls etwa acht Tage zuvor auf ein bestimmtes Datum festgelegt worden, und gleichfalls<br />
nicht aus Unvorsichtigkeit, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Dinge heraus.<br />
Am 3. August beschloß die Gesetzgebende Versammlung, die Petitionen <strong>der</strong> Pariser<br />
Sektionen, die die Absetzung des Königs for<strong>der</strong>ten, am 9. zur Beratung zu stellen.<br />
»Indem sie den Tag <strong>der</strong> Beratung festlegte«, schreibt Jaurès, <strong>der</strong> manches bemerkt hat,<br />
was den alten Historikern entgangen war, »setzte sie damit allein auch den Tag des<br />
Aufstandes an.« Der Führer <strong>der</strong> Sektionen, Danton, nahm eine Defensivposition ein:<br />
»Bricht eine neue <strong>Revolution</strong> aus«, erklärte er beharriich, »so wird sie ... eine Antwort<br />
auf den Treubrueh <strong>der</strong> Regierung sein.« Die Verweisung <strong>der</strong> Frage durch die Sektionen<br />
zur Beratung an die Gesetzgebende Versammlung war keinesfalls eine »konstitutionelle<br />
Illusion«: sie war nur eine Methode <strong>der</strong> Vorbereitung des Aufstandes und gleichzeitig<br />
dessen legale Deckung. Zur Unterstützung ihrer Positionen erhoben sich bekanntlich die<br />
Sektionen auf ein Sturmläuten mit <strong>der</strong> Waffe in <strong>der</strong> Hand.<br />
Der Ähnlichkeitszug <strong>der</strong> zwei voneinan<strong>der</strong> durch einen Abstand von hun<strong>der</strong>tfünfund-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 791
zwanzig Jahren getrennten Umwälzungen ergibt sich keineswegs zufällig. Beide<br />
Aufstände spielen sich nicht zu Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ab, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong>en zweiter<br />
Etappe, was sie politisch viel bewußter und planvoller macht. In beiden Fällen erreicht<br />
die revolutionäre Krise hohe Reife. Die Massen legen sich im voraus Rechenschaft ab<br />
über die Unabwendbarkeit und Nähe <strong>der</strong> Umwälzung. Das Bedürfnis nach Tateinheit<br />
zwingt sie, ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes "legales" Datum zu konzentrieren<br />
als auf den Brennpunkt <strong>der</strong> heranrückenden Ereignisse. Dieser Logik <strong>der</strong> Massenbewegung<br />
unterwirft sich die Leitung. Bereits die politische Lage beherrschend, schon<br />
fast die Hand auf dens Sieg, nimmt sie nach außen hin eine Defensivposition ein. Den<br />
geschwächten Gegner provozierend, wälzt sie auf ihn im voraus die Verantwortung für<br />
die nahenden Zusammenstöße. So vollzieht sich ein Aufstand an einem »im voraus bestinimten<br />
Datum«.<br />
Die durch ihre Ungereimtheiten verblüffenden Behauptungen Stalins - einige von<br />
ihnen sind in den vorangegangenen Kapiteln angeführt - beweisen, wie wenig er über die<br />
Ereigmsse von 1917 in ihrem inneren Zusammenhang nachgedacht und welch summarische<br />
Spur sie in seinem Gedächtnis hinterlassen haben. Wie das erklären? Es ist bekannt,<br />
daß Menschen <strong>Geschichte</strong> machen, ohne <strong>der</strong>en Gesetze zu kennen, wie sie Speisen<br />
verdauen, ohne einen Begriff von <strong>der</strong> Physiologie <strong>der</strong> Verdauung zu haben. Es mag<br />
scheinen, dieses könne sich nicht auf führende Politiker, dazu noch Führer einer Partei<br />
beziehen, die sich auf ein wissenschaftlich fundiertes Programm stützt. Indes bleibt es<br />
Tatsache, daß viele <strong>Revolution</strong>äre, die auf sichtbaren Posten an <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> teilnahmen,<br />
schon nach sehr kurzer Zeit nicht mehr die Fähigkeiten besitzen, den inneren Sinn<br />
dessen zu begreifen, was unter ihrer unmittelbaren Teilnahme geschah. Der außerordentliche<br />
Reichtum <strong>der</strong> Literatur des Epigonentums erweckt den Eindruck, als seien die<br />
gewaltigen Ereignisse über menschliche Gehirne hinweggegangen und hätten sie<br />
zerquetscht, wie eine Eisenwalze Hände und Füße zerquetscht. Bis zu einem gewissen<br />
Grade ist es auch so: eine außerordentlich psychische Spannung verbraucht die<br />
Menschen schnell. Viel wichtiger ist jedoch ein an<strong>der</strong>er Umstand: die siegreiehe <strong>Revolution</strong><br />
verän<strong>der</strong>t radikal die Lage <strong>der</strong> gestrigen <strong>Revolution</strong>äre, schläfert <strong>der</strong>en wissenschaftlichen<br />
Eifer ein, versöhnt sie mit <strong>der</strong> Schablone und läßt sie den gestrigen Tag unter dem<br />
Einfluß neuer Interessen einschätzen. So verschleiert das Gewebe <strong>der</strong> bürokratischen<br />
Legende immer dichter die wirklichen Umrisse <strong>der</strong> Ereignisse.<br />
Im Jahre 1924 versuchte <strong>der</strong> Autor dieses Buches in seiner Arbeit "Die Lehren des<br />
Oktober" klarzulegen, weshalb Lenin gezwungen war, während er die Partei zum<br />
Aufstande führte, mit solcher Schärfe gegen den rechten Flügel, verkörpert durch<br />
Sinowjew und Kamenjew, zu kämpfen. Stalin erwi<strong>der</strong>te darauf: »Waren damals<br />
Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei? Ja; sie waren da. Doch trugen sie<br />
ausschließlich sachlichen Charakter, entgegen den Behauptungen Trotzkis, <strong>der</strong> einen<br />
"rechten" und einen "linken" Flügel <strong>der</strong> Partei zu entdecken bemüht ist ...« »Trotzki<br />
versichert, daß wir in <strong>der</strong> Person Kamenjews und Sinowjews im Oktober einen rechten<br />
Flügel unserer Partei hatten ... Wie konnte es geschehen, daß die Meinungsverschiedenheiten<br />
mit Kamenjew und Sinowjew nur wenige Tage dauerten?... Eine Spaltung hat es<br />
nicht gegeben, die Meinungsverschiedenheiten aber währten deshalb und nur deshalb im<br />
ganzen wenige Tage, weil wir in Kamenjew und Sinowjew Leninisten, Bolschewiki<br />
besaßen.« Hat nicht Stalin genauso sieben Jahre zuvor, fünf Tage vor dem Aufstand,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 792
Lenin übertriebener Schärfe beschuldigt und behauptet, Sinowjew und Kamenjew<br />
ständen auf dem gemeinsamen Boden des "Bolschewismus"? Durch Stalins sämtliche<br />
Zickzacks zieht sieh eine gewisse Kontinuität, die sieh nicht aus durchdachter Weltanschauung,<br />
son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> gesamten Charakteranlage ergibt. Sieben Jahre nach <strong>der</strong><br />
Umwälzung, wie am Vorabend des Aufstandes, konnte er sich in gleicher Weise nur<br />
unklar die Tiefe <strong>der</strong> Meinungsverschiedenheiten in <strong>der</strong> Partei vorstellen.<br />
Prüfstein für einen revolutionären Politiker ist die Frage des Staates. In ihrem gegen<br />
den Aufstand gerichteten Brief vom 11. Oktober schrieben Sinowjew und Kamenjew:<br />
»Bei einer richtigen Taktik können wir ein Drittel und auch mehr Plätze in <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung bekommen ... Konstituierende Versammlung und Sowjets - das ist<br />
jener kombinierte Typus <strong>der</strong> Staatsinstitution, dem wir entgegengehen.« »Richtige<br />
Taktik« bedeutete Verzieht auf Machteroberung durch das Proletariat. »Kombinierter<br />
Typus« des Staates bedeutete Verbindung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung, in <strong>der</strong> die<br />
bürgerlichen Parteien zwei Drittel bilden, mit den Sowjets, in denen die Partei des Proletariats<br />
herrscht. Dieser Typus des kombinierten Staates lag späterhin <strong>der</strong> Hilferdingschen<br />
Idee zugrunde, die Räte in <strong>der</strong> Weimarer Verfassung zu verankern. General von Linsingen,<br />
Oberbefehlshaber in den Marken, <strong>der</strong> am 7. November 1918 die Bildung von Räten<br />
aus dem Grunde verbot, »weil diese Institutionen <strong>der</strong> bestehenden Staatsordesung wi<strong>der</strong>sprechen«,<br />
bewies jedenfalls unvergleichlich größeten Scharfsinn als die Austromarxisten<br />
und die deutsche Unabhängige Partei.<br />
Daß die Konstituierende Versammlung in den Hintergrund treten würde, hatte Lenin<br />
bereits seit April vorausgesagt; dennoch verzichteten we<strong>der</strong> er noch die Partei in ihrer<br />
Gesamtheit während des ganzen Jahres 1917 formell auf die Idee <strong>der</strong> demokratischen<br />
Vertretung: man konnte nicht im voraus mit Bestimmtheit sagen, wie weit die <strong>Revolution</strong><br />
kommen würde. Man nahm an, es würde den Sowjets nach Übernahme <strong>der</strong> Macht<br />
schnell genug gelingen, Armee und Bauern zu gewinnen, so daß die Konstituierende<br />
Versammlung, vor allem bei Erweiterung des Wahlrechts (Lenin schlug insbeson<strong>der</strong>e<br />
vor, das Wahlalter auf achtzehn Jahre herabzusetzen), den Bolschewiki eine Mehrheit<br />
bringen und nur die formelle Krönung des Sowjetregimes darstellen würde. In diesem<br />
Sinne sprach Lenin manchmal vom »kombinierten Typus« des Staates, das heißt von <strong>der</strong><br />
Anpassung <strong>der</strong> Konstituierenden Versammlung an die Sowjetdiktatur. In Wirklichkeit<br />
nahm die Entwicklung einen an<strong>der</strong>en Weg. Trotz Lenins Drängen entschloß sich das<br />
Zentralkomitee nach <strong>der</strong> Machteroberung nicht, die Einberufung <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung um einige Wochen zu vertagen, und an<strong>der</strong>s war es unmöglich, das<br />
Wahlrecht zu erweitern und vor allem den Bauern Gelegenheit zu geben, ihre Stellung zu<br />
den Sozialrevolutionären und Bolschewiki auf neue Art festzulegen. Die Konstituierende<br />
Versammlung kam in Konflikt mit den Sowjets und wurde aufgelöst. Die in <strong>der</strong><br />
Versammlung vorhandenen feindlichen Lager traten in den Zustand des Bürgerkrieges<br />
ein, <strong>der</strong> Jahre andauerte. Im System <strong>der</strong> Sowjetdiktatur fand sich für die demokratische<br />
Vertretung kein noch so untergeordneter Platz. Die Frage des »kombinierten Typus« war<br />
praktisch von <strong>der</strong> Tagesordnung abgesetzt. Theoretisch jedoch behielt sie ihre ganze<br />
Bedeutung, wie nachträglich die Erfahrung <strong>der</strong> Unabhängigen Sozialdemokratischen<br />
Partei in Deutschland zeigte.<br />
Im Jahre 1924, als Stalin, den For<strong>der</strong>ungen des innerparteilichen Kampfes gehorchend,<br />
zum erstenmal versuchte, die Erfahrtnig <strong>der</strong> Vergangenheit selbständig zu bewerten,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 793
nahm er Sinowjews »kombinierten Staat« unter seinen Schutz und berief sich dabei auf -<br />
Lenin. »Trotzki begreift nicht ... die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> bolschewistischen Taktik, wenn<br />
er gegen die Theorie <strong>der</strong> Verbindung von Konstituieren<strong>der</strong> Versammlung und Sowjets<br />
wie gegen eine Hilferdingiade schnaubt«, schrieb in <strong>der</strong> ihm eigenen Manier Stalin.<br />
»Sinowjew, den Trotzki bereit ist, in einen Hilferdingianer zu verwandeln, hatte voll und<br />
ganz Lenins Standpunkt geteilt.« Das bedeutet: sieben Jahre nach den theoretischen und<br />
politischen Kämpfen Von 1917 hatte Stalin noch immer absolut nicht begriffen, daß bei<br />
Sinowjew wie bei Hilferding die Rede war von <strong>der</strong> Übereinstimmung und Versöhnung<br />
<strong>der</strong> Macht zweier Klassen, <strong>der</strong> Bourgeoisie durch die Konstituierende Versammlung, des<br />
Proletariats durch die Sowjets; während bei Lenin die Rede war von einer kombinierten<br />
Institution, die die Macht ein und <strong>der</strong>selben Klasse, des Proletariats, ausdrückt.<br />
Sinowjews Idee stand, wie Lenin schon damals auseinan<strong>der</strong>setzte, im Gegensatz zu den<br />
marxistischen Elementarlehren vom Staate. »Wenn die Macht in den Händen <strong>der</strong> Sowjets<br />
ist ...«, schreibt Lenin am 17. Oktober gegen Sinowjew und Kamenjew, »lassen alle<br />
diesen "kombinierten Typus" gelten; aber mit dem Wörtehen "kombinierter Typus" jetzt<br />
den Verzicht auf die Übergabe <strong>der</strong> Macht an die Sowjets einschmuggeln ... läßt sich zur<br />
Charakterisierung dieses Verhaltens ein parlamentarischer Ausdruck finden?« Wir<br />
sehen: zur Kennzeichnung <strong>der</strong> Sinowjewschen Idee, die Stalin für eine von Trotzki<br />
angeblich nicht begriffene »Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> bolschewistischen Taktik« erklärt, fällt es<br />
Lenin sogar schwer, einen parlamentarischen Ausdruck zu finden, obwohl er sich in<br />
dieser Hinsicht durch übermäßige Hemmungen nicht auszuzeichnen pflegte. Über ein<br />
Jahr später schrieb Lenin unter Hinweis auf Deutschland: »... Der Versuch, die Diktatur<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie mit <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats zu verbinden, ist völlige Preisgabe<br />
sowohl des Marxismus wie des Sozialismus überhaupt ...« Und hätte Lenin an<strong>der</strong>s schreiben<br />
können?<br />
Sinowjews »kombinierter Typus« bedeutete seinem Wesen nach den Versuch, die<br />
Doppelherrschaft zu verewigen, das heißt die Wie<strong>der</strong>belebung des von den Menschewiki<br />
restlos erschöpften Experiments. Und wenn Stalin im Jahre 1924 wie früher in dieser<br />
Frage auf gemeinsamem Boden mit Sintwjew stand, so hieß das, daß er, obwohl er sich<br />
Lenins Thesen angeschlossen hatte, noch immer, wenigstens zur Hälfte, jener Philosophie<br />
<strong>der</strong> Doppelherrschaft treugeblieben war, die er selbst in seiner Rede vom 29. März<br />
1917 entwickelt hatte: »Die Rollen sind verteilt, <strong>der</strong> Sowjet hat faktisch die Initiative zu<br />
revolutionären Umgestaltungen ergriffen ... Die Provisorische Regierung dagegen hat<br />
faktisch die Rolle des Befestigers <strong>der</strong> Errungenschaften des revolutionären Volkes<br />
übernommen.« Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat<br />
werden hier als einfache politische Arbeitsteilung gedeutet.<br />
In <strong>der</strong> letzten Woche vor dem Aufstande manövrierte Stalin offensichtlich zwischen<br />
Lenin, Trotzki und Swerdlow einerseits, Kamenjew und Sinowjew an<strong>der</strong>erseits. Die<br />
redaktionelle Erklärung vom 20., die die Gegner des Aufstandes vor Lenins Schlägen in<br />
Schutz nahm, konnte gerade bei Stalin kein Zufall sein: in Fragen innerparteilichen<br />
Manövrierens ist seine Meisterschaft unbestreitbar. Wie im April, nach Lenins Ankunft,<br />
Stalin vorsichtig Kamenjew vorschob und selbst schweigend abseits wartete, bevor er<br />
sich neu engagierte, so bereitete er sich offensichtlich auch jetzt, am Vorabend <strong>der</strong><br />
Umwälzung, für den eventuellen Fall eines Mißerfolges den Rückzug auf die Linie<br />
Sinowjew-Kamenjew vor. Stalin erreicht auf diesem Wege die Grenze, hinter <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 794
Bruch mit <strong>der</strong> Mehrheit des Zentralkomitees beginnt. Diese Perspektive schreckt ihn. In<br />
<strong>der</strong> Sitzung vom 21. stellt Stalin die halbabgebrochene Brücke zum linken Flügel des<br />
Zentralkomitees wie<strong>der</strong> her, indem er vorschlägt, Lenin mit <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> Thesen<br />
über die Kernfragen des Sowjetkongresses zu beauftragen und Trotzki mit dem politischen<br />
Referat zu betrauen. Das eine wie das an<strong>der</strong>e wird einstimmig angenommen.<br />
Nachdem er sich nach links gesichert hat, tritt Stalin im letzten Augenblick in den Schatten:<br />
er wartet ab. Alle neueren Historiker, beginnend mit Jaroslawski, umgehen<br />
sorgsamst die Tatsache, daß Stalin bei <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees vom 24. im<br />
Smolny nicht anwesend war und keine Funktion bei <strong>der</strong> Organisierung des Aufstandes<br />
übernahm! Indes charakterisiert diese dokumentarisch unwi<strong>der</strong>legbar festzustellende<br />
Tatsache am allerbesten Stalins politische Persönlichkeit und Methoden.<br />
Seit dem Jahre 1924 wurden unzählige Anstrengungen gemacht, den leeren Platz, den<br />
<strong>der</strong> Oktober in Stalins politischer Biographie darstellt, auszufüllen. Das geschah unter<br />
zwei Pseudonymen: »Zentralkomitee« und »praktisches Zentrum«. Wir würden we<strong>der</strong><br />
die Mechanik <strong>der</strong> Oktoberleitung noch die Mechanik <strong>der</strong> späteren Epigonenlegende<br />
verstehen, wollten wir nicht an die personelle Zusammensetzung des damaligen Zentralkomitees<br />
etwas näher herangehen.<br />
Lenin, anerkannter Führer, Autorität für alle, doch, wie die Tatsachen beweisen,<br />
keinesfalls "Diktator" in <strong>der</strong> Partei, beteiligte sich vier Monate lang an <strong>der</strong> Arbeit des<br />
Zentralkomitees nicht unmittelbar und stand in einer Reihe taktischer Fragen zu diesem<br />
in scharfer Opposition. Als angesehene Führer galten im alten bolschewistischen Kern, in<br />
großem Abstande von Lenin, aber auch von jenen, die nach ihnen kamen, Sinowjew und<br />
Kamenjew. Sinowjew hielt sich, wie Lenin, verborgen. Vor dem Oktober standen<br />
Sinowjcw und Kamenjew in entschiedener Opposition zu Lenin und <strong>der</strong> Mehrheit des<br />
Zentralkomitees: das entfernte beide aus <strong>der</strong> Front. Von den alten Bolschewiki tat sich<br />
schnell Swerdlow hervor. Doch war er damals noch Neuling im Zentralkomitee. Seine<br />
Begabung als Organisator entfaltete sich erst später, in den Aufbaujahren des Sowjetstaates.<br />
Dserschinski, <strong>der</strong> sich kurz vorher <strong>der</strong> Partei angeschlossen hatte, zeichnete sich<br />
durch revolutionäres Temperament aus, erhob jedoch keinen Anspruch auf selbständige<br />
politische Autorität. Bucharin, Rykow und Nogin lebten in Moskau, Bucharin galt als<br />
begabter, aber unzuverlässiger Theoretiker. Rykow und Nogin waren Gegner des<br />
Aufstandes. Lomow, Bubnow und Miljutin wurden bei Entscheidung großer Fragen<br />
kaum von jemand in Rechnung gezogen; außerdem arbeitete Lomow in Moskau, Miljutin<br />
war meist auf Reisen. Joffe und Uritzki waren durch ihre Emigrantenvergangenheit eng<br />
mit Trotzki verbunden und handelten im Einvernehmen mit ihm. Der junge Smilga arbeitete<br />
in Finnland. Zusammensetzung und innerer Zustand des Zentralkomitees erklären<br />
zur Genüge, weshalb <strong>der</strong> Parteistab vor Lenins Rückkehr an die unmittelbare Leitung<br />
auch nicht im entferntesten jene Rolle spielte und spielen konnte, die ihm später zuteil<br />
wurde. Die Protokolle beweisen, daß die wichtigsten Fragen: des Sowjetkongresses, <strong>der</strong><br />
Garnison, des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees, nicht vorher im Zentralkomitee<br />
beraten wurden, nicht seiner Initiative entsprangen, son<strong>der</strong>n im Smolny, aus <strong>der</strong> Praxis<br />
des Sowjets entstanden und im Kreise <strong>der</strong> Sowjetführer, am häufigsten unter Swerdlows<br />
Mitwirkung ausgearbeitet wurden.<br />
Stalin ließ sieh im Smolny überhaupt nicht blicken. Je entschiedener <strong>der</strong> Druck <strong>der</strong><br />
revolutionären Massen, je größer <strong>der</strong> Schwung <strong>der</strong> Ereignisse, um so mehr taucht Stalin<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 795
unter, um so mehr verblaßt sein politischer Gedanke, um so schwächer wird seine Initiative.<br />
So war es im Jahre 1905. So im Herbst 1917. Das gleiche wie<strong>der</strong>holte sich auch<br />
später jedesmal, wenn große historische Fragen in <strong>der</strong> Weltarena auftauchten. Als es sich<br />
ergab, daß die Veröffentlichung <strong>der</strong> Protokolle des Zentralkomitees über das Jahr 1917<br />
die Oktoberlücke in Stalins Biographie nur entblößte, schuf die bürokratische Historiographie<br />
die Legende vom "praktischen Zentrum", Die Aufklärung dieser in den letzten<br />
Jahren breit popularisierten Version bildet ein notwendiges Element <strong>der</strong> kritischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Oktoberumwälzung.<br />
Bei <strong>der</strong> Beratung des Zentralkomitees im Lessnoy, am 16. Oktober, war eines <strong>der</strong><br />
Argumente gegen die Forcierung des Aufstandes <strong>der</strong> Hinweis, daß »wir noch nicht mal<br />
ein Zentrum haben«. Auf Lenins Antrag beschloß das Zentralkomitee an Ort und Stelle,<br />
in einer im Winkel abgehaltenen fliegenden Sitzung, diese Lücke auszufüllen. Das Protokoll<br />
lautet: »Das Zentralkomitee organisiert ein militärisch-revolutionäres Zentrum in<br />
folgen<strong>der</strong> Zusammensetzung: Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzki und Dserschinski.<br />
Dieses Zentrum wird dem <strong>Revolution</strong>ären Sowjetkomitee einverleibt,« Die von allen<br />
vergessene Verfügung wurde in den Archiven zum erstenmal im Jahre 1924 entdeckt.<br />
Man begann sie zu zitieren wie ein wichtiges historisches Dokument. So schrieb<br />
Jaroslawski: »Dieses Organ (und kein an<strong>der</strong>es) leitete alle Organisationen, die am<br />
Aufstande teilnahmen (revolutionäre Truppenteile, Rote Garde).« Die Worte »und kein<br />
an<strong>der</strong>es« zeigen freimütig genug den Zweck dieser ganzen nachträglichen Konstruktion.<br />
Noch freimütiger schrieb Stalin: »In das praktische Zentrum, berufen, den Aufstand zu<br />
leiten, kam seltsamerweise nicht hinein ... Trotzki.« Um die Möglichkeit zu haben, sich<br />
über dieses Thema zu verbreiten, war Stalin gezwungen, die zweite Hälfte <strong>der</strong> Verfügung<br />
wegzulassen: »Dieses Zentrum wird dem <strong>Revolution</strong>ären Sowjetkomitee einverleibt.«<br />
Berücksichtigt man, daß an <strong>der</strong> Spitze des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees Trotzki<br />
stand, dann ist nicht schwer zu begreifen, weshalb sich das Zentralkomitee beschränkte<br />
auf Ernennung neuer Arbeiter zur Unterstützung jener, die bereits ohnehin im Mittelpunkt<br />
<strong>der</strong> Arbeit standen. We<strong>der</strong> Stalin noch Jaroslawski erklärten darüber hinaus,<br />
weshalb man sich des »praktischen Zentrums« zum erstenmal ins Jahre 1924 erinnerte.<br />
Zwischen dem 16. und 20. Oktober stellt sich <strong>der</strong> Aufstand, wie wir gesehen haben,<br />
endgültig auf das Sowjet-Geleise. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee konzentriert in<br />
seinen Händen von den ersten Schritten an die unmittelbare Leitung nicht nur <strong>der</strong> Garnison,<br />
son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Roten Garde, die schon seit dem 13. Oktober dem Pettogra<strong>der</strong><br />
Exekutivkomitee untersteht. Für irgendein an<strong>der</strong>es leitendes Zentrum bleibt kein Platz<br />
übrig. Jedenfalls kann man we<strong>der</strong> in den Protokollen des Zentralkomitees noch in irgendwelchen<br />
an<strong>der</strong>en Materialien aus <strong>der</strong> zweiten Oktoberhälfte die geringste Spur finden<br />
von <strong>der</strong> Tätigkeit eines, wie man doch meinen müßte, so wichtigen Organs. Niemand<br />
berichtet über seine Arbeit, keine Aufträge werden ihm zugeteilt, selbst sein Name wird<br />
von keinem erwähnt, obwohl seine Mitglie<strong>der</strong> in den Sitzungen des Zentralkomitees<br />
anwesend sind und an <strong>der</strong> Lösung jener Fragen teilnelimen, die die direkte Kompetenz<br />
des "praktischen Zentrums" bilden müßten.<br />
Sweschnikow, Mitglied des Petrogra<strong>der</strong> Parteikomitees, <strong>der</strong> während <strong>der</strong> zweiten<br />
Oktoberhälfte fast ununterbrochen im Smolny als Verbindungsmann Wachdienst tat,<br />
müßte doch jedenfalls wissen, wo praktische Anweisungen in Fragen des Aufstandes zu<br />
suchen gewesen waren. Er schreibt folgendes: »Es entsteht das Militärische Revolurions-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 796
komitee. Mit seiner Entstehung gewinnt das Elementare <strong>der</strong> revolutionären Aktivität des<br />
Proletariats ein führendes Zentrum.« Kajurow, den wir aus den Februartagen gut<br />
kennen, erzählt, wie <strong>der</strong> Wyborger Bezirk gespannt auf das Signal aus dem Smolny<br />
wartete: »gegen Abend (des 24.) kam die Antwort des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees<br />
- die Rote Garde für den Kampf bereitzuhalten«. Kajurow weiß nichts von irgendeinem<br />
an<strong>der</strong>en Zentrum im Moment des Übergangs zum offenen Aufstand. Mit gleichem Recht<br />
kann man auf die Erinnerungen Sadowskis, Podwojskis, Antonows, Mechonoschins,<br />
Blagonrawows und an<strong>der</strong>er unmittelbarer Teilnehmer <strong>der</strong> Umwälzung verweisen: nicht<br />
einer von ihnen erwähnt das "praktische Zentrum", das nach Jaroslawskis Behauptung<br />
sämtliche Organisationen geleitet haben soll. Schließlich begnügt sich Jaroslawski selbst<br />
in seiner <strong>Geschichte</strong> mit <strong>der</strong> nackten Mitteilung von <strong>der</strong> Schaffung des Zentrums: über<br />
dessen Tätigkeit sagt er kein Wort. Die Schlußfolgerung drängt sich von selbst auf: ein<br />
leitendes Zentrum, das keiner <strong>der</strong> Geleiteten kennt, existiert für die <strong>Geschichte</strong> nicht.<br />
Doch lassen sich auch direktere Beweise für das Seheindasein des "praktischen<br />
Zentrums" anführen. In <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees vom 20. Oktober verliest<br />
Swerdlow eine Erklärung <strong>der</strong> Militärischen Organisation, die, wie aus <strong>der</strong> Diskussion<br />
ersichtlich ist, die For<strong>der</strong>ung enthält, die Leiter <strong>der</strong> Militärischen Organisation bei<br />
Entschließungen in Fragen des Aufstandes hinzuzuziehen. Joffe schlägt vor, diese For<strong>der</strong>ung<br />
abzulehnen: »Alle, die den Willen zur Arbeit haben, können in das im Sowjet bestehende<br />
<strong>Revolution</strong>äre Zentrum hineingehen.« Trotzki verleiht Joffes Vorschlag eine<br />
gemil<strong>der</strong>te Formulierung: »Alle unsere Organisationen können in das <strong>Revolution</strong>äre<br />
Zentrum hineingehen und dort in unserer Fraktion sämtliche sie interessierenden Fragen<br />
behandeln.« Der in dieser Form angenommene Beschluß zeigt, daß es nur ein <strong>Revolution</strong>äres<br />
Zentrum gab: beim Sowjet, das heißt das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee. Hätte<br />
für die Leitung des Aufstandes irgendein an<strong>der</strong>es revolutionäres Zentrum existiert,<br />
irgendwer hätte mindestens an seine Existenz erinnert. Doch es erinnerte niemand daran,<br />
auch nicht Swerdlow, dessen Name in <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>reihe des "praktischen Zentrums" an<br />
erster Stelle stand.<br />
Womöglich noch lehrreicher ist in dieser Hinsicht das Sitzungsprotokoll vom 24.<br />
Oktober: In den Stunden, die <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Stadt unmittelbar vorangingen, ist nicht<br />
nur keine Rede von dem "praktischen Zentrum" des Aufstandes, auch <strong>der</strong> Beschluß über<br />
seine Schaffung ist im Trubel <strong>der</strong> verflossenen acht Tage <strong>der</strong>art in Vergessenheit geraten,<br />
daß auf Trotzkis Antrag »zur Verfügung des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees« ernannt<br />
werden: Swerdlow, Dserschinski und Bubnow, das heißt jene Mitglie<strong>der</strong> des Zentralkomitees,<br />
die nach dem Sinn des Beschlusses vom 16. Oktober ohnehin zum Militärischen<br />
<strong>Revolution</strong>skomitee gehören sollten. Die Möglichkeit eines solchen Mißverständnisses<br />
selbst läßt sich so erklären, daß das kaum aus <strong>der</strong> Illegalität herausgenommene Zentralkomitee<br />
sehr wenig <strong>der</strong> gewaltigen allumfassenden Kanzlei späterer Jahre ähnlich war.<br />
Den Hauptteil des Zentralkomitee-Apparats trug Swerdlow in <strong>der</strong> Brusttasche.<br />
Episodische Organe, entstanden am Ende einer Sitzung und sofort in Vergessenheit<br />
versunken, hat es in jener heißen Zeit nicht wenig gegeben. In <strong>der</strong> Sitzung des Zentralkomitees<br />
vom 7. Oktober wurde geschaffen ein "Informationsbüro zum Kampf gegen die<br />
Konterrevolution": das war die Chiffre des ersten Organs zur Bearbeitung von Fragen<br />
des Aufstandes. Über seine Zusammensetzung sagt das Protokoll: »Vom Zentralkomitee<br />
werden in das Büro drei Mann gewählt: Trotzki, Swerdlow und Bubnow, die mit <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 797
Zusammensetzung des Büros beauftragt sind.« Hat dieses erste "praktische Zentrum" des<br />
Aufstandes existiert? Offenbar nicht, da es keine Spuren hinterlassen hat. Das politische<br />
Büro, das in <strong>der</strong> Sitzung vom 10. geschaffen wurde, erwies sich ebenfalls als lebensunfähig,<br />
denn es trat in keiner Weise hervor: es hat wohl kaum auch nur ein einziges Mal<br />
getagt. Damit die Petrogra<strong>der</strong> Parteiorganisation, die in den Bezirken die Arbeit unmittelbar<br />
leitete, nicht die Verbindung mit dem Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitee verlöre,<br />
wurde auf Lenins Initiative, <strong>der</strong> das System <strong>der</strong> doppelten und dreifachen Sicherung<br />
liebte, Trotzki für die kritischen Wochen in die leitende Spitze des Petrogra<strong>der</strong> Komitees<br />
hineingewählt. Auch dieser Beschluß blieb jedoch auf dem Papier: nicht eine Sitzung hat<br />
unter Trotzkis Beteiligung stattgefunden. Das gleiche Schicksal ereilte auch das<br />
sogenannte "praktische Zentrum". Als selbständige Institution sollte es ja seiner Bestimmung<br />
nach ohnehin nicht existieren, aber auch als Hilfsorgan hat es nicht existiert.<br />
Von den für die Zusammensetzung des "Zentrums" vorgesehenen Fünf widmeten sich<br />
Dserschinski und Uritzki <strong>der</strong> Arbeit des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees völlig erst<br />
nach <strong>der</strong> Umwälzung. Swerdlow spielte die größte Rolle im Verbindungsdienst zwischen<br />
Militärischem <strong>Revolution</strong>skomitee und Partei. Stalin nahm an <strong>der</strong> Arbeit des Militärischen<br />
Rcvolurionskomitees keinen Anteil und erschien niemals in dessen Sitzungen. In<br />
den zahlreichen Dokumenten, Zeugen- und Teilnehmerangaben wie in späteren Erinnerungen<br />
kommt Stalins Name kein einziges Mal vor.<br />
In dem offiziellen Nachschlagewerk für die <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ist dem Monat<br />
Oktober ein selbständiger Band gewidmet, <strong>der</strong> nach Tagen alle tatsächlichen Berichte aus<br />
Zeitungen, Protokollen, Archiven, Erinnerungen <strong>der</strong> Teilnehmer und so weiter gruppiert.<br />
Obwohl das Sammelwerk im Jahre 1925 erschien, als die Revision <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
bereits in voller Entfaltung war, versieht das Personenregister am Ende des Buches<br />
Stalins Namen nur mit einer einzigen Zahl, und schlagen wir die entsprechende Seite auf;<br />
so finden wir immer den gleichen Text des Zentralkomiteebeschlusses über das "praktische<br />
Zentrum" mit <strong>der</strong> Erwähnung des Namens Stalin als eines <strong>der</strong> fünf Mitglie<strong>der</strong>.<br />
Vergeblich würden wir in diesem, sogar an drittrangigem Material so reichhaltigen<br />
Sammelwerk Angaben darüber suchen, welche Arbeit eigentlich Stalin im Oktober innerhalb<br />
des "Zentrums" o<strong>der</strong> außerhalb desselben geleistet hat.<br />
Um Stalins politische Physiognomie mir einem Wort zu kennzeichnen: er war stets<br />
"Zentrist" im Bolschewismus, das heißt organisch bestrebt, zwischen Marxismus und<br />
Opportunismus zu stehen. Doch es war ein Zentrist, <strong>der</strong> Lenin fürchtete. Je<strong>der</strong> Abschnitt<br />
<strong>der</strong> Stalinschen Kreisbahn bis zum Jahre 1924 läßt sich stets in folgende zwei Kräfte<br />
zerlegen in die eigene zentristische Natur und den revolutionären Druck Lenins. Die<br />
Unzulänglichkeit des Zentrismus zeigt sich am vollkommensten bei <strong>der</strong> Nachprüfung<br />
durch große historische Ereignisse. »Unsere Lage ist wi<strong>der</strong>spruchsvoll«, sagte Stalin am<br />
20. Oktober zur Rechtfertigung Sinowjews und Kamenjews. In Wirklichkeit verhin<strong>der</strong>te<br />
die wi<strong>der</strong>spruchsvolle Natur des Zentrismus Stalin, einen einigermaßen selbständigen<br />
Platz in <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> einzunehmen. Dagegen mußten die gleichen Züge, die ihn an<br />
großen geschichtlichen Kreuzungspunkten paralysierten - Abwarten und empirisches<br />
Lavieren -, ihm ernstliche Vorteile sichern, sobald die Massenbewegung wie<strong>der</strong> in die<br />
Ufer zurückzutreten begann und in den Vor<strong>der</strong>grund <strong>der</strong> Beamte rückte, <strong>der</strong> danach<br />
strebte, das Errungene zu festigen, das heißt, vor allem seine eigene Lage gegen neue<br />
Erschütterungen zu sichern. Der im Namen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> herrschende Tschinownik<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 798
edarf <strong>der</strong> revolutionären Autorität. Als "alter Bolschewik" war Stalin die geeignetste<br />
Verkörperung dieser Autorität. Indem er die Massen zuiückdrängt, sagt ihnen <strong>der</strong> Kollektiv-Tschinownik:<br />
»Das alles haben wir für euch getan.« Er beginnt nicht nur über die<br />
Gegenwart zu verfügen, son<strong>der</strong>n auch über die Vergangenheit. Der beamtete Historiker<br />
modelt die <strong>Geschichte</strong> um, repariert Biographien, schafft Reputationen. Es war notwendig,<br />
die <strong>Revolution</strong> zu bürokratisieren, bevor Stalin sie krönen konnte.<br />
In Stalins persönlichem Schicksal, das für die marxistische Analyse von hervorragendem<br />
Interesse ist, besitzen wir eine neue Brechung <strong>der</strong> Gesetze aller <strong>Revolution</strong>en die<br />
Entwicklung des durch den Umsturz geschaffenen Regimes verläuft unvermeidlich durch<br />
Ebben und Fluten, die nach Jahren zählen, wobei Perioden geistiger Reaktion jene<br />
Figuren in den Vor<strong>der</strong>grund rücken, die nach all ihren Haupteigenschaften eine führende<br />
Rolle während des Aufstiegs we<strong>der</strong> gespielt noch zu spielen vermocht hatten.<br />
Die bürokratische Revidierung <strong>der</strong> Partei- und <strong>Revolution</strong>sgeschichte leitet Stalin<br />
unmittelbar. Die Marksteine dieser Arbeit bezeichnen grell die Entwicklungsetappen des<br />
Sowjetapparats. Am 6. November (neuen Stils) 1918 schrieb Stalin in einem Jubiläumsartikel<br />
<strong>der</strong> 'Prawda': »Seele <strong>der</strong> Umwälzung war von Anfang bis zu Ende das Zentralkomitee<br />
<strong>der</strong> Partei mit Genossen Lenin an <strong>der</strong> Spitze. Wladimir lljitsch lebte damals in<br />
Petrograd, auf <strong>der</strong> Wyborger Seite, in einer konspirativen Wohnung. Am 24. Oktober<br />
abends wurde er nach dem Smolny gerufen, um die gesamte Bewegung zu leiten. Die<br />
ganze Arbeit <strong>der</strong> praktischen Organisierung des Aufstandes ging unter <strong>der</strong> unmittelbaren<br />
Leitung des Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets, des Genossen Trotzki. Man darf mit<br />
Bestimmtheit behaupten, daß die Partei den schnellen Übergang <strong>der</strong> Garnison auf die<br />
Seite des Sowjets und die geschickte Arbeitsmethode des Militärischen <strong>Revolution</strong>akomitees<br />
vor allem und hauptsächlich dem Genossen Trotzki verdankt. Die Genossen<br />
Antonow und Podwojski waren die Haupthilfskräfte des Genossen Trotzki.«<br />
We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Autor dieses Buches noch, wie anzunehmen ist, Lenin, <strong>der</strong> sich von den<br />
sozialrevolutionären Kugeln erholte, beachteten in jenen Tagen diese retrospektive<br />
Rollen- und Verdiensrverteilung. Der Artikel erschien erst einige Jahre später in an<strong>der</strong>em<br />
Lichte und zeigte, daß Stalin schon in den schweren Herbstmonaten 1918 eine neue,<br />
vorläufig äußerst behutsame Darstellung <strong>der</strong> Parteiführung vom Oktober vorbereitete.<br />
»Seele <strong>der</strong> Umwälzung war von Anfang bis zu Ende das Zentralkomitee <strong>der</strong> Partei mit<br />
Lenin an <strong>der</strong> Spitze.« Dieser Satz enthält eine Polemik gegen jene, die berechtigterweise<br />
glaubten, die wirkliche Seele des Aufstandes sei Lenin gewesen, in hohem Maße im<br />
Kampfe gegen das Zentralkomitee. In dieser Periode konnte Stalin seine Oktoberschwankungen<br />
nicht an<strong>der</strong>s verschleiern als durch das unpersönliche Pseudonym<br />
Zentralkomitee. Die weiteren zwei Sätze, wonach Lenin in einer konspirativen Wohnung<br />
in Petrograd lebte und am Abend des 24. nach dem Smolny gerufen wurde, um die<br />
gesamte Bewegung zu leiten, verfolgen den Zweck, die in <strong>der</strong> Partei vorherrschende<br />
Ansicht, die Umwälzung hätte Trotzki geleitet, abzuschwächen. Die dann folgenden<br />
Trotzki gewidmeten Sätze klingen in <strong>der</strong> heutigen politischen Akustik wie Panegyrik; in<br />
Wirklichkeit waren sie das mindeste, was Stalin, und seine polemischen Anspielungen zu<br />
verschleiern, zu sagen gezwungen war. Die Kompliziertheit <strong>der</strong> Konstruktion und die<br />
vorsorglich gönnerhafte Färbung dieses "Juhiläums"-Arrikels gehen an sich keine<br />
schlechte Vorstellung von <strong>der</strong> damaligen öffentlichen Parteimeinung.<br />
Im Artikel wird, nebenbei gesagt, das "praktische Zentrum" mit keinem Wort erwähnt.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 799
Im Gegenteil, Stalin erklärt kategorisch: »die ganze Arbeit <strong>der</strong> praktischen Organisierung<br />
des Aufstandes ging unter <strong>der</strong> unmittelbaren Leitung von ... Trotzki«. Trotzki aber<br />
gehörte doch dem praktischen Zentrum nicht an; und von Jaroslawski haben wirja<br />
vernommen, daß angeblich »dieses Organ (und kein an<strong>der</strong>es) sämtliche am Aufstand<br />
beteiligten Organisationen leitete«. Die Lösung des Wi<strong>der</strong>spruchs ist einfach: im Jahre<br />
1918 waren die Ereignisse allen noch zu frisch im Gedächtnis, und ein Versuch, aus den<br />
Protokollen den Beschluß über ein "Zentrum" herauszuziehen, das nie existierte, hätte<br />
nicht auf Erfolg rechnen können.<br />
Im Jahre 1924, als vieles bereits vergessen war, erklärte Stalin folgen<strong>der</strong>maßen,<br />
weshalb Trotzki nicht in das "praktische Zentrum" hineinkam: »Ich muß sagen, daß<br />
Trotzki im Oktoberaufstand keine beson<strong>der</strong>e Rolle gespielt hat und auch nicht spielen<br />
konnte.« Stalin verkündete in diesem Jahre direkt als Aufgabe <strong>der</strong> Historiker die Zerstörung<br />
»<strong>der</strong> Legende von Trotzkis beson<strong>der</strong>er Rolle im Oktoberaufstand«. Wie aber bringt<br />
Stalin diese neue Version in Einklang mit seinem eigenen Artikel von 1918? Sehr<br />
einfach: er verbietet, seinen alten Artikel zu zitieren. Historiker, die den Versuch<br />
machen, eine Mittellinie zwischen Stalin von 1918 und Stalin von 1924 zu nehmen,<br />
werden unverzüglich aus <strong>der</strong> Partei ausgeschlossen.<br />
Es existieren jedoch autoritärere Zeugnisse als Stalins erster Jubiläumsartikel. In den<br />
Anmerkungen zur offiziellen Ausgabe <strong>der</strong> Werke Lenins heißt es unter dem Wort Trotzki:<br />
»Wurde, nachdem <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Sowjet in die Hände <strong>der</strong> Bolschewiki übergegangen<br />
war, zu dessen Vorsitzenden gewählt, in welcher Eigenschaft er den Aufstand vom<br />
25. Oktober organisiert und geleitet hat.« Auf diese Weise ist die »Legende von <strong>der</strong><br />
beson<strong>der</strong>en Rolle« fest eingegangen in Lenins Werke zu Lebzeiten ihres Autors.<br />
An Hand <strong>der</strong> offiziellen Nachschlagewerke läßt sich <strong>der</strong> Bearbeitungsprozeß des historischen<br />
Materials von Jahr zu Jahr verfolgen. So schreibt noch im Jahre 1925, als die<br />
Kampagne gegen Trotzki bereits in voller Blüte war, das offizielle Jahrbuch "Kalen<strong>der</strong><br />
des Kommunisten": »An <strong>der</strong> Oktoberrevolution nimmt Trotzki aktivsten führenden Anteil.<br />
Im Oktober 1917 wird er zum Vorsitzenden des Petrogra<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>skomitees<br />
gewählt, das den bewaffneten Aufstand organisierte.« In <strong>der</strong> Ausgabe von 1926 ist diese<br />
Stelle durch einen kurzen neutralen Satz abgelöst: »Oktober 1917 - Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
Leningra<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>skomitees.« Seit 1927 stellt Stalins Schule eine neue Version auf;<br />
die in alle Sowjetlehrbücher einging: als Gegncr des "Sozialismus in einem Lande"<br />
mußte Trotzki Gegner des Oktoberaufstandes sein. Glücklicherweise existierte ja das<br />
"praktische Zentrum", das die Sache einens glücklichen Ende zuführte! Die findigen<br />
Historiker unterlassen nur zu erklären, weshalb <strong>der</strong> bolschewistische Sowjet Trotzki zum<br />
Vorsitzenden gewählt und weshalb <strong>der</strong> gleiche Sowjet, von <strong>der</strong> Partei geleitet, Trotzki an<br />
die Spitze des Militärischen <strong>Revolution</strong>skomitees gestellt hat.<br />
Lenin war nicht vertrauensselig, beson<strong>der</strong>s in einer Frage, wo es um das Schicksal <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> ging. Mit Wortversicherungen konnte man ihn nicht beruhigen. Aus <strong>der</strong><br />
Ferne war er geneigt, jedes Anzeichen nach <strong>der</strong> schlimmeren Seite hin zu deuten. Er<br />
gewann erst dann endgültig den Glauben, daß die Sache richtig geführt wird, als er sich<br />
mit eigenen Augen davon hatte überzeugen können, das heißt, als er selbst im Smolny<br />
erschien. Trotzki erzählt darüber in seinen Erinnerungen von 1924: »Ich entsinne mich,<br />
welch gewaltigen Eindruck es auf Lenin machte, als er vernahm, wie ich durch schriftlichen<br />
Befehl eine Kompagnie des Litowsker Regiments herbeigeholt hatte, um das<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 800
Erscheinen unserer Partei- und Sowjetzeitung zu sichern ... Lenin war begeistert, was<br />
sich in Ausrufen, Lachen und Hän<strong>der</strong>eiben äußerte. Dann wurde er schweigsam, dachte<br />
nach und sagte: "Nun, man kann auch so. Es kommt nur darauf an, die Macht zu ergreifen."<br />
Mir wurde klar, daß er sich erst in diesem Augenblick mit unserem Verzicht, die<br />
Macht durch konspirative Verschwörung zu ergreifen, aussöhnte. Bis zur letzten Stunde<br />
hatte er befürchtet, <strong>der</strong> Feind könnte uns den Weg abschneiden und überrumpeln. Erst<br />
jetzt ... beruhigte er sich und sanktionierte enelgültig die Bahn, die die Ereignisse<br />
genommen hatten.«<br />
Auch diese Darstellung wurde später bestritten. Indes stützt sie sich erschütterlich auf<br />
die objektive Lage. Am Abend des 24. wurde Lenin vom letzten Ausbruch <strong>der</strong> Besorgnis<br />
<strong>der</strong>art erfaßt, daß er den verspäteten Versuch machte, Soldaten und Arbeiter für einen<br />
Druck auf das Smolny zu mobilisieren. Wie stürmisch mußte seine Stimmung umschlagen,<br />
als er, einige Stunden später die tatsächliche Lage im Smolny erfuhr! Ist es da nicht<br />
klar, daß er, wenn auch nur in einigen Sätzen, in einigen Worten ein Fazit ziehen mußte<br />
unter seine Besorgnis, seine direkten und indirekten Vorwürfe an die Adresse des<br />
Smolny? Komplizierte Erklärungen waren nicht nötig! Jedem <strong>der</strong> beiden Gesprächspartner,<br />
die sich in dieser ungewöhnlichen Stunde Auge in Auge trafen, waren die Quellen<br />
<strong>der</strong> Mißverständnisse vollkommen klar. Jetzt waren sie liquidiert. Es verlohnte nicht, zu<br />
ihnen zurückzukehren. Der eine Satz genügte: »Man kann auch so!« Das hieß:<br />
»Vielleicht war ich zu weit gegangen in nörglerischem Argwohn, aber Sie verstehen<br />
doch? ...« Wer hätte auch nicht verstehen können! Lenin neigte nicht zu Sentimentalitäten.<br />
Sein Satz: »Man kann auch so«, mit dem beson<strong>der</strong>en Lächeln, genügte vollkommen,<br />
um die episodischen Mißverständnisse des gestrigen Tages wegzuräumen und die Bande<br />
des Vertrauens fester zu knüpfen.<br />
Lenins Stimmung am Tage des 25. zeigte sich am krassesten in <strong>der</strong> durch Wolodarski<br />
eingebrachten Resolution, die den Aufstand charakterisierte als »ausnehmend unblutig<br />
und ausnehmend erfolgreich«. Die Tatsache, daß Lenin diese, wie immer hei ihm, an<br />
Worten karge, dem Wesen nach aber sehr hohe Bewertung <strong>der</strong> Umwälzung auf sich<br />
nahm, ist kein Zufall. Gerade er, als Autor <strong>der</strong> "Ratschläge eines Außenstehenden", hielt<br />
sich für unabhängig genug, um nicht nur dem Heroismus <strong>der</strong> Massen, son<strong>der</strong>n auch den<br />
Verdiensten <strong>der</strong> Führung den gebührenden Tribut zu entrichten. Man braucht wohl kaum<br />
daran zu zweifeh, daß Lenin dafür auch ergänzende psychologische Motive besaß: er<br />
hatte die ganze Zeit hindurch den vom Smolny zu langsam genommenen Kurs gefürchtet,<br />
und er beeilte sich nun als erster, dessen durch die Wirklichkeit bewiesene Vorzüge<br />
anzuerkennen.<br />
Von dem Augenblick an, wo Lenin im Smolny erscheint, stellt er sich naturnotwendig<br />
an die Spitze <strong>der</strong> gesamten Arbeit: <strong>der</strong> politischen, organisatorischen und technischen.<br />
Am 29. findet in Petrograd ein Aufstand <strong>der</strong> Junker statt. Kerenski greift an <strong>der</strong> Spitze<br />
einiger Kosakenhun<strong>der</strong>tschaften Petrograd an. Das Militärische <strong>Revolution</strong>skomitee steht<br />
vor <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Verteidigung. Diese Arbeit leitet Lenin. In seinen Erinnerungen<br />
schreibt Trotzki: »Ein schneller Erfolg entwaffnet, genau wie eine Nie<strong>der</strong>lage. Den<br />
Hauptfaden <strong>der</strong> Ereignisse nicht aus den Augen verlieren; nach jedem Erfolg sich sagen:<br />
es ist noch nichts erreicht, noch nichts gesichert; fünf Minuten vor dem entscheidenden<br />
Sieg mit <strong>der</strong> gleichen Sorgfalt, Energie, mit dem gleichen Druck wie fünf Minuten vor<br />
dem Beginn <strong>der</strong> bewaffneten Handlungen; fünf Minuten nach dem Siege, noch ehe die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 801
ersten Begrüßungsworte verklungen sind, sich sagen: das Errungene ist noch nicht<br />
gesichert, man darf keine Minute verlieren das ist die Einstellung, das ist die<br />
Handlungsweise, das ist die Methode Lenins, das ist das organische Wesen seines politischen<br />
Charakters, seines revolutionären Geistes.«<br />
Die oben erwähnte Sitzung des Petrogra<strong>der</strong> Komitees vom 1. November, wo Lenin<br />
über seine unbereehtigt gewesenen Befürchtungen bezüglich <strong>der</strong> lnterrayonisten sprach,<br />
war <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Koalitionsregierung mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären<br />
gewidmet. Auf eine Koalition drängen nach dem Siege die Rechten: Sinowjew, Kamenjew,<br />
Rykow, Lunatscharski, Rjasanow, Miljutin und an<strong>der</strong>e. Lenin und Trotzki treten<br />
entschieden gegen jegliche Koalition auf; die über den Rahmen des zweiten Sowjetkongresses<br />
hinausgeht. »Die Meinungsverschiedenheiten«, erklärt Trotzki, »waren von<br />
bedeuten<strong>der</strong> Tiefe vor dem Aufstande - im Zentralkomitee wie in breiten Kreisen unserer<br />
Partei ... Man sagte dasselbe, wie jetzt nach dem siegreichen Aufstand: es werde <strong>der</strong><br />
technische Apparat fehlen. Man trug die Farben dick auf, um zu schrecken, wie jetzt, um<br />
den Sieg nicht auszunutzen.« Hand in Hand mit Lenin führt Trotzki gegen die Anhänger<br />
<strong>der</strong> Koalition den gleichen Kampf; den er vor dem Umsturz gegen die Gegner des<br />
Aufstandes geführt hatte. Lenin sagt in dieser Sitzung: »Verständigung? Ich kann<br />
darüber nicht mal ernsthaft sprechen. Trotzki hat längst gcsagt, eine Vereinigung ist<br />
unmöglich. Trotzki hat das begriffen, und seitdem hat es keinen besseren Bolschewik<br />
gegeben.«<br />
Unter den wichtigsten Bedingungen einer Verständigung stellten die Sozialrevolutionäre<br />
und Menschewiki die For<strong>der</strong>ung auf, aus <strong>der</strong> Regierung die zwei ihnen verhaßtesten<br />
Figuren zu entfernen, »die persönlichen Urheber <strong>der</strong> Oktoberumwälzung, Lenin und<br />
Trotzki«. Das Verhalten des Zentralkomitees und <strong>der</strong> Partei zu dieser For<strong>der</strong>ung war so,<br />
daß Kamenjew, äußerster Anhänger <strong>der</strong> Verständigung, persönlich auch zu dieser<br />
Konzession bereit, es als notwendig erachtete, in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees<br />
vom 2. November zu erklären: »Der Vorschlag, Lenin und Trotzki auszuschließen,<br />
ist ein Vorschlag zur Enthauptung unserer Partei, und wir nehmen ihn nicht an.«<br />
Den revolutionären Standpunkt - für den Aufstand, gegen die Koalition mit den<br />
Versöhnlern - nannte man in den Bezirken »Lenins und Trotzkis Standpunkt«. Dieser<br />
Ausdruck wurde, wie Dokumente und Protokolle bezeugen, allgemein gebräuchlich. Im<br />
Augenblick <strong>der</strong> Krise innerhalb des Zentralkomitees nahm eine überfüllte Arbeiterinnenkonferenz<br />
in Petrograd einstimmig die Resolution an: »Wir begüßen die Politik des<br />
Zentralkomitees unserer Partei, geführt von Lenin und Trotzki.« Baron Budberg schrieb<br />
bereits im November 1917 in seinem Tagebuch von den »neuen Duumvirn Lenin und<br />
Trotzki«. Als eine Gruppe von Sozialrevolutionären im Dezember beschloß, »den<br />
bolschewistischen Kopf abzuschneiden«, da war es für sie, nach den Worten Boris<br />
Sokolows, eines <strong>der</strong> Verschwörer, »klar, daß die schädlichsten und bedeutendsten <strong>der</strong><br />
Bolschewiki Lenin und Trotzki sind. Man muß mit ihnen beginnen.« In den Jahren des<br />
Bürgerkrieges wurden diese zwei Namen stets zusammen genannt, als wäre die Rede von<br />
einer Person. Parvus, ehemals revolutionärer Marxist und später wüten<strong>der</strong> Feind <strong>der</strong><br />
Oktoberrevolution, schrieb: »Lenin und Trotzki, das ist <strong>der</strong> Sammelname für alle jene,<br />
die aus Idealismus den bolschewistischen Weg gegangen sind ...« Rosa Luxemburg, die<br />
die Politik <strong>der</strong> Oktoberrevolution hart kritisiert hat, bezog ihre Kritik in gleicher Weise<br />
auf Lenin wie auf Trotzki. Sie schrieb: »Lenin und Trotzki mir ihren Freunden waren die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 802
ersten, die dem Welrproletariat mit dem Beispiel vorangingen. Sie sind auch jetzt noch<br />
die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!« Im Oktober 1918<br />
zitierte Lenin in einer feierlichen Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees die ausländische<br />
bürgerliche Presse: »Die italienischen Arbeiter benehmen sich so, daß sie, scheint's, nur<br />
Lenin und Trotzki das Reisen in Italien erlauben würden.« Solche Zeugnisse sind<br />
zahllos. Sie ziehen sieh wie ein Leitmotiv durch die ersten Jahre des Sowjetregimes und<br />
<strong>der</strong> Kommunistisehen <strong>Internationale</strong>. Teilnehmer und Beobachter, Freunde und Feinde,<br />
Nah- und Fernstehende haben Lenins und Trotzkis Tätigkeit in <strong>der</strong> Oktoberumwälzung<br />
mit einem so festen Knoten verknüpft, daß ihn zu lösen o<strong>der</strong> zu durchhauen <strong>der</strong> Epigonen-Historiographie<br />
nicht gelingen wird.<br />
Sozialismus in einem Lande?<br />
»Das industriell entwickeltere Land zeigt dem min<strong>der</strong> entwickelten nur das Bild <strong>der</strong><br />
eigenen Zukunft.« Dieser Marxsche Grundsatz, methodologisch nicht von <strong>der</strong> Weltwirtschaft<br />
als Ganzem ausgehend, son<strong>der</strong>n vom einzelnen kapitalistischen Lande als Typ,<br />
wurde immer weniger anwendbar, je mehr die kapitalistische Entwicklung alle Län<strong>der</strong><br />
erfaßte, unabhängig von ihrem vorangegangenen Schicksal und ihrem ökonomischen<br />
Niveau. England zeigte seiner Zeit die Zukunft Frankreichs, beträchtlich weniger<br />
Deutschlands und schon gar nicht Rußlands o<strong>der</strong> Indiens. Indes nahmen die <strong>russischen</strong><br />
Menschewiki Marxens bedingten Grundsatz unbedingt: das rückständige Rußland habe<br />
nicht vorauszueilen, son<strong>der</strong>n gehorsam den fertigen Mustern nachzufolgen. Mit solchem<br />
"Marxismus" waren auch die Liberalen einverstanden.<br />
Eine an<strong>der</strong>e, nicht weniger populäre Marxsche Formel: »eine Gesellsehaftsformation<br />
geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist ...«<br />
geht dagegen nicht von einem einzeln genommenen Lande aus, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong><br />
Ablösung universeller Gesellschaftsformen (Sklaverei, Mittelalter, Kapitalismus). Indes<br />
kamen die Mensehewiki, diesen Grundsatz im Aspekt eines Einzelstaates betrachtend, zu<br />
<strong>der</strong> Schlußfolgerung, <strong>der</strong> russische Kapitalismus habe noch einen großen Weg zurückzulegen,<br />
bevor er das europäische o<strong>der</strong> amerikanische Niveau erreichen werde. Aber<br />
Produktivkräfte entwickeln sich nicht im luftleeren Raum! Man kann nicht von Möglichkeiten<br />
eines nationalen Kapitalismus sprechen und außer acht lassen einerseits den auf<br />
seiner Grundlage sich entwickelnden Klassenkampf; an<strong>der</strong>erseits seine Abhängigkeit von<br />
den Weltbedingungen. Der Sturz <strong>der</strong> Bourgeoisie durch das Proletariat erwuchs aus dem<br />
realen <strong>russischen</strong> Kapitalismus und verwandelte damit allein dessen abstrakte ökonomische<br />
Möglichkeiten in Nichts. Die Struktur <strong>der</strong> Wirtschaft wie <strong>der</strong> Charakter des<br />
Klassenkampfes in Rußland wurden in entscheidendem Maße von internationalen Bedingungen<br />
bestimmt. Der Kapitalismus erreichte in <strong>der</strong> Weltarena jenen Stand, wo er<br />
aufhörte, die Unkosten <strong>der</strong> Produktion zu rechtfertigen, nicht im kommerziellen, son<strong>der</strong>n<br />
im soziologischen Sinne verstanden: Zollämter, Militarismus, Krisen, Kriege, diplomatische<br />
Konferenzen und an<strong>der</strong>e Geißeln verschlingen und vergeuden so viel schöpferische<br />
Energie, daß trotz allen technischen Errungenschaften für Wachstum von Wohlstand und<br />
Kultur kein Platz übrigbleibt.<br />
Die dem Anschein nach paradoxe Tatsache, daß als erstes Opfer für die Sünden des<br />
Weltsystems die Bourgeoisie eines rückständigen Landes stürzte, ist in Wirklichkeit<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 803
vollkommen gesetzmäßig. Schon Marx hat ihre Erklärung für seine Epoche vermerkt:<br />
»In den Extremitäten des bürgerlichen Körpers muß es natürlich eher zu gewaltsamen<br />
Ausbrüchen kommen als in seinem Herzen, da hier die Möglichkeit <strong>der</strong> Ausgleichung<br />
größer ist als dort.« Unter den ungeheuerlichen Lasten des Imperialismus mußte zu allererst<br />
ein Staat fallen, <strong>der</strong> noch keine Zeit gefunden hatte, ein großes nationales Kapital<br />
anzuhäufen, dem aber die Weltrivalität keinerlei Rabatt gewährte. Der Zusammenbruch<br />
des <strong>russischen</strong> Kapitalismus war ein lokaler Einsturz <strong>der</strong> universellen Gesellschaftsformation.<br />
»Die richtige Einschätzung unserer <strong>Revolution</strong>«, sagte Lenin, »ist nur vom internationalen<br />
Standpunkte aus möglich.«<br />
Die Oktoberumwälzung fübrten wir zurück letzten Endes nicht auf die Tatsache <strong>der</strong><br />
Rückständigkeit Rußlands, son<strong>der</strong>n auf das Gesetz <strong>der</strong> kombinierten Entwicklung. Die<br />
historische Dialektik kennt keine nackte Rückständigkeit, wie auch keine chemisch reine<br />
Fortscheittlichkeit. Alles hegt an den konkreten Wechselbeziehungen. Die gegenwärtige<br />
Menschheitsgeschichte ist voller "Paradoxe", nicht so grandioser wie die Entstehung <strong>der</strong><br />
proletarischen Diktatur in einem rückständigen Lande, aber doch vom gleichen historischen<br />
Typ. Die Tatsache, daß Studenten und Arbeiter des rückständigen Chinas sich<br />
gierig die Doktrin des Materialismus aneignen, während die Arheiterführer des zivilisierten<br />
Englands auf die magische Kraft kirchlicher Beschwörung vertrauen, beweist<br />
unzweideutig, daß China auf gewissen Gebieten England überholt hat. Doch die Verachtung<br />
<strong>der</strong> chinesischen Arbeiter für den mittelalterlichen Stumpfsinn Macdonalds bietet<br />
keine Gründe zu <strong>der</strong> Schlußfolgerung, China stehe seiner Gesamtentwicklung nach höher<br />
als Großbritannien. Im Gegenteil, das ökonomische und kulturelle Übergewicht des<br />
letzteren kann in genauen Zahlen ausgedrückt werden. Deren Eindringlichkeit wird aber<br />
nicht hin<strong>der</strong>n, daß die Arbeiter Chinas eher an die Macht gelangen können als die Arbeiter<br />
Großbritanniens. Wie<strong>der</strong>um würde die Diktatur des chinesischen Proletariats noch<br />
keinesfalls den Aufbau des Sozialismus innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> großen chinesischen<br />
Mauer bedeuten. Schulmäßige, geradlinig-pedantische o<strong>der</strong> zu kurze nationale Kriterien<br />
taugen nicht für unsere Epoche. Rußland wurde aus seiner Rückständigkeit und seinem<br />
Asiatentum durch die Weltentwicklung hinausgestoßen. Außerhalb <strong>der</strong> Verflechtung<br />
ihrer Wege ist auch sein weiteres Schicksal nicht zu verstehen.<br />
Die bürgerlichen <strong>Revolution</strong>en richteten sich im gleichen Maße gegen die feudalen<br />
Eigentumsverhältnisse wie gegen den Partikularismus <strong>der</strong> Provinzen. Auf den Befreiungsbannern<br />
stand neben Liberalismus - Nationalismus. Die westliche Menschheit hat<br />
diese Kin<strong>der</strong>schuhe längst ausgetreten. Die Produktivkräfte unserer Zeit sind nicht nur<br />
den bürgerlichen Eigentumsformen entwachsen, son<strong>der</strong>n auch den Grenzen <strong>der</strong> Natiossalstaaten.<br />
Liberalismus und Nationalismus wurden in gleichem Maße Fesseln <strong>der</strong><br />
Weltwirtschaft. Die proletarische <strong>Revolution</strong> richtet sich sowohl gegen Privatbesitz an<br />
Produktionsmitteln wie auch gegen nationale Zersplitteiung <strong>der</strong> Weltwirtschaft. Der<br />
Unabhängigkeitskampf <strong>der</strong> Ostvölker ist in diesen Weltprozeß eingeschlossen, um dann<br />
mit ihm zu verschmelzen. Die Schaffung einer nationalen sozialistischen Gesellschaft,<br />
wäre ein solches Ziel überhaupt zu verwirklichen, würde die äußerste Herabmin<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> ökonomischen Macht des Menschen bedeuten; und gerade deshalb ist sie undurchführbar.<br />
Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, son<strong>der</strong>n Ausdruck einer<br />
ökonomischen Tatsache. Wie <strong>der</strong> Liberalismus national war, so ist <strong>der</strong> Sozialismus international.<br />
Ausgehend von <strong>der</strong> internationalen Arbeitsteilung, hat <strong>der</strong> Sozialismus zur<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 804
Aufgabe, den internationalen Austausch von Gütern und Leistungen zur höchsten Blüte<br />
zu bringen.<br />
Eine <strong>Revolution</strong> hat noch niemals und nirgend vollständig mit den Vorstellungen<br />
übereingestimmt und übereinstimmen können, die sich ihre Teilnehmer von ihr gemacht<br />
hatten. Nichtsdestoweniger bilden Ideen und Ziele <strong>der</strong> Kampfteilnehmer einen wichtigen<br />
Bestandteil in ihr. Das bezieht sich beson<strong>der</strong>s auf die Oktoberumwälzung, denn noch<br />
niemals in <strong>der</strong> Vergangenheit hatten sich die Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>äre von <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> dem wirklichen Wesen <strong>der</strong> Ereignisse so stark genähert wie im Jahre 1917.<br />
Eine Arbeit über die Oktoberrevolution würde unvollständig bleiben, wenn sie nicht<br />
mit <strong>der</strong> größtmöglichen historischen Genauigkeit die Frage beantwortetet: wie hatte sich<br />
die Partei auf <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Ereignisse die weitere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vorgestellt<br />
und was erwartete sie von ihr?<br />
Die Frage gewinnt um so größere Bedeutung, je mehr <strong>der</strong> gestrige Tag vom Spiel<br />
neuer lnteressen verdunkelt wird. Die Politik sucht stets einen Stützpunkt in <strong>der</strong> Vergangenheit,<br />
und bekommt sie ihn nicht freiwillig, dann beginnt sie häufig, ihn sich gewaltsam<br />
zu erzwingen. Die heutige offizielle Politik <strong>der</strong> Sowjetunion geht von <strong>der</strong> Theorie<br />
des "Sozialismus in einem Lande" aus, als <strong>der</strong> angeblich traditionellen Auffassung <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei. Die jungen Generationen, nicht nur <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
<strong>Internationale</strong>, son<strong>der</strong>n vielleicht auch aller an<strong>der</strong>en Parteien, werden in <strong>der</strong> Überzeugung<br />
erzogen, die Sowjetmacht sei erobert worden ins Namen des Aufbaus einer<br />
selbständigen sozialistischen Gesellschaft in Rußland.<br />
Die historische Wirklichkeit hatte mit diesem Mythos nichts gemein. Bis zum Jahre<br />
1917 ließ die Partei den Gedanken überhaupt nicht zu, die proletarische <strong>Revolution</strong><br />
könnte sieh in Rußland früher vollziehen ah im Westen. Auf <strong>der</strong> Aprilkonferenz<br />
bekannte sich die Partei unter dem Druck <strong>der</strong> restlos enthüllten Situation zum erstenmal<br />
zu dem Ziel <strong>der</strong> Machteroberung. Während es ein neues Kapitel in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> des<br />
Bolschewismus einleitete, hatte dieses Bekenntnis jedoch nichts gemein mit <strong>der</strong> Perspektive<br />
einer selbständigen sozialistischen Gesellschaft. Im Gegenteil, die Bolschewiki<br />
lehnten kategorisch die ihnen von den Menschewiki unterschobene karikierte Idee des<br />
Aufbaus eines "bäuerlichen Sozialismus" in einem rückständigen Lande ab. Die Diktatur<br />
des Proletariats war für die Bolschewiki eine Brücke zur <strong>Revolution</strong> im Westen. Die<br />
Aufgabe <strong>der</strong> sozialistischen Umgestaltung <strong>der</strong> Gesellschaft wurde als eine ihrem Wesen<br />
nach internationale Aufgabe erklärt.<br />
Erst im Jahre 1924 vollzog sich in dieser Kernfrage ein Umschwung. Zum erstenmal<br />
wurde verkündet, daß <strong>der</strong> Aufbau des Sozialismus innerhalb <strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> Sowjetunion<br />
durchaus möglich sei, unabhängig von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> übrigen Menschheit,<br />
wenn nur die Imperialisten die Sowjetmacht nicht vermittels einer Militärintervention<br />
stürzen. Der neuen Theorie wurde sofort rückwirkende Kraft verliehen. Hätte die Partei<br />
im Jahre 1917 nicht an die Möglichkeit geglaubt, eine selbständige sozialistische Gesellschaft<br />
in Rußland aufzubauen - erklärten die Epigonen -, sie hätte nicht das Recht gehabt,<br />
die Macht in ihre Hände zu nehmen. Im Jahre 1926 verurteilte die Kommunistische <strong>Internationale</strong><br />
offiziell die Nichtanerkennung <strong>der</strong> Theorie des Sozialismus in einem Lande,<br />
wobei dieses Urteil auf die gesamte Vergangenheit ausgedehnt wurde, beginnend mit<br />
dem Jahre 1905.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 805
Drei Ideenreihen wurden von nun an als dem Bolschewismus feindlich deklariert: die<br />
Verneinung <strong>der</strong> Möglichkeit für die Sowjetunion, sich unbestimmt lange Zeit in kapitalistischer<br />
Umzingelung zu halten (Problem <strong>der</strong> militärischen Intervention); die Verneinung<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit, mit eigenen Mitteln und in nationalen Grenzen den Wi<strong>der</strong>spruch<br />
zwischen Stadt und Land zu überwinden (Problem <strong>der</strong> ökonomischen Rückständigkeit<br />
und Problem <strong>der</strong> Bauernschaft); die Verneinung <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaus einer<br />
isolierten sozialistischen Gesellschaft (Problem <strong>der</strong> intertiationalen Arbeitsteilung). Die<br />
Unantastbarkeit <strong>der</strong> Sowjetunion sei, nach <strong>der</strong> neuen Schule, zu schützen möglichst auch<br />
ohne <strong>Revolution</strong> in den au<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n: durch »Neutralisierung <strong>der</strong> Bourgeoisie«. Die<br />
Mitarbeit <strong>der</strong> Bauernschaft auf dem Gebiete des sozialistischen Aufbaus sei als gesichert<br />
anzuerkennen. Die Ahhängigkeit von <strong>der</strong> Weltwirtschaft sei durch die Oktoberumwälzung<br />
und die Wirtschaftserfolge <strong>der</strong> Sowjets liquidiert. Die Nichtanerkennung dieser drei<br />
Thesen sei "Trotzkismus", das heißt eine mit dem Bolschewismus unvereinbare Doktrin.<br />
Eine historische Arbeit stößt hier an die Aufgabe <strong>der</strong> ideologischen Restauration: es ist<br />
notwendig, die wahren Ansichten und Ziele <strong>der</strong> revolutionären Partei von den späteren<br />
politischen Ablagerungen zu befreien. Trotz <strong>der</strong> Kürze <strong>der</strong> einan<strong>der</strong> ablösenden Perioden<br />
erhält diese Aufgabe um so mehr Ähnlichkeit mit <strong>der</strong> Entzifferung von Palimpsesten, als<br />
die Konstruktionen <strong>der</strong> Epigonenschule sich bei weitem nicht immer über die theologischen<br />
Klügeleien erheben, um <strong>der</strong>entwillen die Mönche des VII. und VIII. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
Pergament und Papyrus <strong>der</strong> Klassiker vernichteten.<br />
Wenn wir auf den Seiten dieses Buches im allgemeinen vermieden, die Darstellung<br />
durch zahlreiche Zitate zu überhäufen, so wird das vorliegende Kapitel, dem Wesen <strong>der</strong><br />
Aufgabe entsprechend, dem Leser Originaltexte bieten müssen, und zwar in einem<br />
Umfange, <strong>der</strong> schon den Gedanken an eine künstliche Auswahl ausschließt. Es ist<br />
notwendig, den Bolschewismus in seiner eigenen Sprache sprechen zu lassen: unter dem<br />
Regime <strong>der</strong> Stalinschen Bürokratie ist er dieser Möglichkeit beraubt.<br />
Die bolschewistische Partei war seit dem Tage ihrer Entstehung eine Partei des revolutionären<br />
Sozialismus, Doch die nächste historische Aufgabe erblickte sie, notgedrungen,<br />
im Sturze des Zarismus und in <strong>der</strong> Errichtung des demokratischen Regimes. Hauptinhalt<br />
<strong>der</strong> Umwälzung sollte die demokratische Lösung <strong>der</strong> Agrarfrage sein. Die sozialistische<br />
<strong>Revolution</strong> wurde in eine recht ferne, jedenfalls unbestimmte Zukunft gerückt. Es galt als<br />
unbestreitbar, daß sie praktisch auf die Tagesordnung gestellt werden könnte erst nach<br />
dem Siege des Proletariats im Westen. Diese Grundsätze, geschmiedet vom <strong>russischen</strong><br />
Marxismus im Kampfe gegen Narodnitschestwo und Anarchismus, bildeten das eherne<br />
Inventar <strong>der</strong> Partei. Weiter folgten hypothetische Erwägungen: sollte die demokratische<br />
<strong>Revolution</strong> in Rußland machtvollen Schwung erreichen, dann könnte sie unmittelbaren<br />
Anstoß zur sozialistischen <strong>Revolution</strong> im Westen geben, und dies wie<strong>der</strong> würde dann<br />
dem <strong>russischen</strong> Proletariat erlauben; in besehleunigtem Marsch zur Macht zu kommen.<br />
Die allgemeine historische Perspektive än<strong>der</strong>te sich auch bei dieser allergünstigsten<br />
Variante nicht: nur <strong>der</strong> Gang <strong>der</strong> Entwicklung wurde beschleunigt und die Fristen nähergerückt.<br />
Eben im Geiste dieser Anschauungen schrieb Lenin im September 1905: »Von <strong>der</strong><br />
demokratischen <strong>Revolution</strong> werden wir, und zwar im Ausmaß unserer Kräfte, <strong>der</strong> Kräfte<br />
des klassenbewußten und organisierten Proletariats, beginnen, zur sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> überzugehen. Wir sind für die ununterbrochene <strong>Revolution</strong>. Wir werden nicht<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 806
auf halbem Wege stehenbleiben.« Dieses Zitat, so seltsam das ist, diente Stalin zur Identifizierung<br />
<strong>der</strong> alten Prognose <strong>der</strong> Partei mit dem wirklichen Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse im<br />
Jahrc 1917. Es ist nur unbegreiflich, wie dann die Parteika<strong>der</strong> durch Lenins<br />
"Aprilthesen" überrascht werden konnten.<br />
In Wirklichkeit hätte sieh nach <strong>der</strong> alten Konzeption <strong>der</strong> Kampf des Proletariats um die<br />
Macht erst entwickeln können, nachdem die Agrarfrage im Rahmen <strong>der</strong> bürgerlich-demokratischen<br />
<strong>Revolution</strong> gelöst worden wäre. Das Unglück aber ist, daß die in ihrem<br />
Landhunger befriedigte Bauernschaft dann keine Veranlassung gehabt hätte, eine neue<br />
<strong>Revolution</strong> zu unterstützen. Da aber die russische Arbeiterklasse, als fraglose Min<strong>der</strong>heit<br />
im Lande, nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen wäre, aus eigener Kraft die Macht zu erobern, so<br />
betrachtete Lenin, durchaus folgerichtig, es als unmöglich, von <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats<br />
in Rußland zu sprechen vor dem Siege des Proletariats im Westen.<br />
»Der volle Sieg <strong>der</strong> gegenwärtigen <strong>Revolution</strong>«, schrieb Lenin im Jahre 1905, »wird<br />
das Ende <strong>der</strong> demokratischen Umwälzung und <strong>der</strong> Beginn des entscheidenden Kampfes<br />
um die sozialistische Umwälzung sein. Die Verwirklichung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> heutigen<br />
Bauernschaft, vollständige Zertrümmerung <strong>der</strong> Reaktion, Eroberung <strong>der</strong> demokratischen<br />
Republik wird das restlose Ende des <strong>Revolution</strong>arismus <strong>der</strong> Bourgeoisie und sogar<br />
<strong>der</strong> Kleinbourgeoisie bedeuten - wird <strong>der</strong> Beginn des echten Kampfes des Proletariats<br />
um den Sozialismus sein...« Mit <strong>der</strong> Bezeichnung Kleinbourgeoisie ist hier vor allem die<br />
Bauernschaft gemeint.<br />
Wie sollte unter diesen Umständen die "ununterbrochene" <strong>Revolution</strong> entstehen? Lenin<br />
antwortete darauf: die <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>äre, auf den Schultern einer ganzen Reihe<br />
von revolutionären Generationen Europas stehend, haben das Recht, davon zu "träumen",<br />
daß es ihnen gelingen werde, »mit noch ungeahnter Fülle alle demokratischen Umgestaltungen,<br />
unser ganzes Minimalprogramm zu verwirklichen ... Und wenn das gelingt, -<br />
dann ... dann wird ein revolutionärer Brand Europa entzünden ... Der europäische<br />
Arbeiter wird sich seinerseits erheben und uns zeigen, "wie das gemacht wird"; dann<br />
wird <strong>der</strong> revolutionäre Aufschwung Europas eine Rückwirkung auf Rußland ausüben und<br />
aus <strong>der</strong> Epoche einiger <strong>Revolution</strong>sjahre eine Epoche mehrerer <strong>Revolution</strong>sjahrzchnte<br />
machen«. Der selbständige Inhalt <strong>der</strong> russssehen <strong>Revolution</strong>, sogar in ihrer allerhöchsten<br />
Entwicklung, geht noch über die Grenzen <strong>der</strong> bürgerlich-demokrarischen Umwälzung<br />
nicht hinaus. Erst die siegreiche <strong>Revolution</strong> im Westen wird imstande sein, die Ära des<br />
Kampfes um die Macht auch für das russische Proletariat zu eröffnen. Diese Konzeption<br />
behielt in <strong>der</strong> Partei ihre volle Macht bis zum April 1917.<br />
Läßt man episodische Ablagerungen, polemische Übertreibungen und Einzelirrtümer<br />
beiseite, so drehte sich während <strong>der</strong> Jahre 1905-1917 <strong>der</strong> Kern des Streites in <strong>der</strong> Frage<br />
<strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> nicht darum, ob das russische Proletariat, nachdem es die<br />
Macht erobert hat, imstande sein würde, eine nationale sozialistische Gesellschaft aufzubauen<br />
- das hat überhaupt kein russischer Marxist bis zum Jahre 1924 jemals mit einens<br />
Wort erwähnt -, son<strong>der</strong>n darum, ob noch in Rußland eine bürgerliche <strong>Revolution</strong><br />
möglich sei, die tatsächlich fähig wäre, die Agrarfrage zu lösen; o<strong>der</strong> aber ob für die<br />
Verwirklichung dieser Arbeit die Diktatur des Proletariats notwendig ist.<br />
Welchen Teil <strong>der</strong> alten Anschauungen hat Lenin in den Aprilthesen einer Revision<br />
unterworfen? Er hat nicht für eine Minute we<strong>der</strong> die Lehre vom internationalen Charakter<br />
<strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> preisgegeben, noch den Gedanken, daß <strong>der</strong> Übergang<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 807
auf den Weg des Sozialismus für das rückständige Rußland durchführbar ist nur unter<br />
direkter Mitwirkung des Westens. Aber Lenin hatte hier zum erstenmal verkündet, daß<br />
das russische Proletariat, gerade infolge <strong>der</strong> Verspätung <strong>der</strong> nationalen Bedingungen,<br />
früher an die Macht kommen kann als das Proletariat <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>.<br />
Die Fehruarrevolution erwies sich als ohnmächtig, die Agrarfrage wie die nationale<br />
Frage zu lösen. Die Bauernschaft und die unterdrückten Völker Rußlands waren durch<br />
ihren Kampf um demokratische Aufgaben gezwungen, die Oktoberumwälzung zu unterstützen.<br />
Nur deshalb, weil die russische kleinbürgerliche Demokratie nicht vermocht<br />
hatte, jene historische Arbeit zu leisten, die ihre ältere Schwester im Westen vollzogen<br />
hat, erhielt das russische Proletariat den Zutritt zur Macht früher als das Proletariat des<br />
Westens. Im Jahre 1905 beabsichtigte <strong>der</strong> Bolschewismus erst nach Vollendung <strong>der</strong><br />
demokratischen Aufgaben an den Kampf um die Diktatur des Proletariats heranzugehen.<br />
Im Jahre 1917 erwuchs die Diktatur des Proletariats aus <strong>der</strong> Nichtvollendung <strong>der</strong><br />
demokratischen Aufgaben.<br />
Der kombinierte Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> machte hierbei nicht halt. Die<br />
Machteroberung durch die Arbeiterklasse vernichtete automatisch die Scheidelinie<br />
zwischen "Minimalprogramm" und "Maximalprogramm". Unter <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats<br />
- aber nur unter ihr! - wurde das Hineinwachsen <strong>der</strong> demokratiselsen Aufgaben in<br />
sozialistische unvermeidlich, obwohl die Arbeiter Europas noch nicht Zeit gehibt hatten,<br />
zu zeigen, »wie das gemacht wird«.<br />
Die Umstellung <strong>der</strong> revolutionären Reihenfolge zwischen Westen und Osten ist jedoch<br />
bei all ihrer Wichtigkeit für die Geschicke Rußlands wie <strong>der</strong> ganzen Welt von historisch<br />
beschränkter Bedeutung. Wie weit auch die russische <strong>Revolution</strong> vorausgeeilt sei, ihre<br />
Abhängigkeit von <strong>der</strong> Weltrevolution ist nicht geschwunden und sogar nicht kleiner<br />
geworden. Unmittelbar ergeben sich die Möglichkeiten des Hineinwachsens demokratischer<br />
Reformen in sozialistische durch Verknüpfung innerer Bedingungen, vor allem des<br />
Verhältnisses zwischen Proletariat und Bauernschaft. Aber in letzter Instanz werden die<br />
Grenzen <strong>der</strong> sozialistischen Umgestaltungen vom Stande <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong> Pohtik<br />
in <strong>der</strong> Weltarena bestimmt. So groß auch <strong>der</strong> nationale Anlauf sein mag, die Möglichkeit,<br />
über den Planeten hinwegzuspringen, bietet er nicht.<br />
Bei ihrer Verurteilung des "Totzkismus" fiel die Kommunistische <strong>Internationale</strong> mit<br />
beson<strong>der</strong>er Heftigkeit über jene Ansicht her, nach <strong>der</strong> das russische Proletariat, wenn es<br />
das Steuer ergreift und keine Unterstützung vom Westen bekommt, »feindlich zusammenstoßen<br />
wird ... mit den breiten Massen <strong>der</strong> Bauernschaft, mit <strong>der</strong>en Hilfe es zur<br />
Macht gekommen ist« ... Selbst wenn man glaubt, die historische Erfahrung habe jene<br />
Prognose vollständig wi<strong>der</strong>legt, die Trotzki im Jahre 1905 formulierte, als noch kein<br />
einziger <strong>der</strong> heutigen Kritiker auch nur den Gedanken an die Diktatur des Proletariats in<br />
Rußland zuließ, so bleibt es auch in diesem Falle unumstößliehe Tatsache, daß die<br />
Meinung über die Bauernschaft, als einen unzuverlässigen und treulosen Verbündeten,<br />
Gemeingut aller <strong>russischen</strong> Marxisten, einschließlich Lenins, war. Die wirkliche Tradition<br />
des Bolschewismus hat nichts zu tun mit <strong>der</strong> Lehre von <strong>der</strong> prädestinierten lnteressenharmonie<br />
zwischen Arbeitern und Bauern. Im Gegenteil, die Kritik dieser<br />
kleinbürgerlichen Theorie bildete stets ein wichtiges Element im langjägrigen Kampfe<br />
zwischen Marxisten und Narodniki.<br />
»Ist für Rußland die Epoche <strong>der</strong> demokratischen <strong>Revolution</strong> vorbei«, schrieb Lenin im<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 808
Jahre 1905, »dann wird es lächerlich sein, vom "Einheitswillen" des Proletariats und <strong>der</strong><br />
Bauernschaft auch nur zu sprechen« ... »Die Bauernschaft als bodenbesitzende Klasse<br />
wird in diesem Kampfe (um den Sozialismus) die gleiche verräterische, schwankende<br />
Rolle spielen wie jetzt die Bourgeoisie im Kampfe um die Demokratie. Dies vergessen,<br />
heißt den Sozialismus vergessen, sich und an<strong>der</strong>e über die wahren Interessen und Aufgaben<br />
des Proletariats täuschen.«<br />
Während er, Ende 1905, für sich an einem Schema <strong>der</strong> Klassenbeziehungen im Verlauf<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> arbeitete, charakterisierte Lenin mit folgenden Worten die Situation, die<br />
nach <strong>der</strong> Liquidierung des gutsherrlichen Bodenbesitzes entstehen würde: »Das Proletariat<br />
kämpft bereits um die Erhaltung <strong>der</strong> densokratisehen Errungenschaften namens <strong>der</strong><br />
sozialistischen Umwälzung. Dieser Kampf wäre fast hoffnungslos für das russische<br />
Proletariat allein, und seine Nie<strong>der</strong>lage wäre unvermeidlich ... wenn dem <strong>russischen</strong><br />
Proletariat nicht das europäische sozialistische Proletariat zu Hilfe kommt ... In diesem<br />
Stadium organisieren die liberale Bourgeoisie und die wohlhabende (plus teils mittlere)<br />
Bauernschaft die Konterrevolution. Das russische Proletariat plus europäisches Proletariat<br />
organisieren die <strong>Revolution</strong>. Unter diesen Bedingungen kann das russische Proletariat<br />
einen zweiten Sieg erringen. Die Sache ist nicht mehr hoffnungslos. Der zweite Sieg<br />
wird die sozialistische Umwälzung in Europa sein. Die europäischen Arbeiter werden<br />
uns zeigen, "wie das gemacht wird".«<br />
Ungefähr in den gleichen Tagen schrieb Trotzki: »Die Wi<strong>der</strong>sprüche in <strong>der</strong> Lage einer<br />
Arbeiterregierung in einem rückständigen Lande mit erdrücken<strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Bauernbevölkerung<br />
werden ihre Lösung nur im internationalen Maßstabe, in <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong><br />
proletarischen Weltrevolution finden können.« Stalin führte später gerade diese Worte<br />
an, um zu zeigen »die ganze Kluft, die die Leninsche Theorie <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats<br />
von Trotzkis Theorie trennt«. Indes beweist das Zitat, daß, unbeschadet <strong>der</strong> zweifellosen<br />
Unterschiede in den damaligen revolutionären Konzeptionen von Lenin und Trotzki,<br />
ihre Ansichten gerade in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> "schwankenden" und "verräterischen" Rolle <strong>der</strong><br />
Bauernschaft im wesentlichen bereits in jenen fernen Tagen sich deckten.<br />
Im Februar 1906 schreibt Lenin: »Wir unterstützen die Bauernbewegung restlos, aber<br />
wir müssen daran denken, daß es die Bewegung einer fremden Klasse ist, nicht jener, die<br />
die sozialistische Umwälzung vollziehen kann und vollziehen wird.« - »Die russische<br />
<strong>Revolution</strong>«, erklärt er im April 1906, »hat genügend eigene Kräfte, um zu siegen. Aher<br />
sie hat nicht genügend Kräfte, um die Früchte des Sieges festzuhalten ... denn in einem<br />
Lande mit riesiger Entwicklung <strong>der</strong> Kleinwirtschaft werden sich die kleinen Warenerzeuger,<br />
darunter auch die Bauern, unvermeidlich gegen den Proletarier wenden, wenn<br />
dieser von <strong>der</strong> Freiheit zum Sozialismus gehen wird ... Um einer Restauration vorzubeugen.<br />
braucht die russische <strong>Revolution</strong> eine nichtrussische Reserve, es ist Hilfe von außen<br />
nötig. Gibt es eine solche Reserve in <strong>der</strong> Welt? Die gibt es: das sozialistische Proletariat<br />
im Westen.«<br />
In verschiedenen Verhindungen, aber unabän<strong>der</strong>lich im Kern, gehen diese Gedanken<br />
durch die ganzen Jahre <strong>der</strong> Reaktion und des Krieges hindurch. Es ist nicht nötig, die<br />
Beispiele zu häufen. Die Vorstellungen <strong>der</strong> Partei von <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> werden die höchste<br />
Geschlossenheit und Deutlichkeit im Feuer <strong>der</strong> revolutionären Ereignisse erhalten<br />
müssen. Hätten die Theoretiker des Bolschewismus bereits vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zum<br />
Sozialismus in einem Lande geneigt, diese Theorie müßte die höchste Blüte in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 809
Periode des unmittelbaren Kampfes um die Macht erreicht haben. Wie war es in<br />
Wirklichkeit? Die Antwort darauf wird das Jahr 1917 geben.<br />
Vor seiner Abreise nach Rußland, nach <strong>der</strong> Februarrevolution, schrieb Lenin in dem<br />
Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter: »Das russische Proletariat kann mit seinen<br />
eigenen Kräften allein die sozialistische <strong>Revolution</strong> nicht siegreich beenden. Aber es<br />
kann ... seinem wichtigsten, seinem zuverlässigsten Bundesgenossen, dem europäischen<br />
und amerikanischen sozialistischen Proletariat, die Bedingungen für den Eintritt in<br />
entscheidende Kämpfe erleichtern.«<br />
Lenins von <strong>der</strong> Aprilkonferenz gutgeheißene Resolution lautet: »Das Proletariat<br />
Rußlands, das in einem <strong>der</strong> rückständigsten Län<strong>der</strong> Europas wirkt, inmitten kleinbäuerlieher<br />
Bevölkerungsmassen, kann sich nicht die sofortige Verwirklichung <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Umgestaltung zum Ziel setzen.« In diesen einleitenden Zeilen sich dicht an die<br />
theoretische Tradition <strong>der</strong> Partei anlehnend, macht die Resolution jedoch einen entscheidenden<br />
Schritt auf dem neuen Weg. Sie erklärt: Die Unmöglichkeit einer selbständigen<br />
sozialistischen Umgestaltung des bäuerlichen Rußland berechtigt keinesfalls zum<br />
Verzicht auf die Machteroberung, sowohl im Namen <strong>der</strong> demokratischen Aufgaben wie<br />
auch im Namen »einer Reihe praktisch herangereifter Schritte zum Sozialismus«, wie<br />
Nationalisierung des Bodens, Kontrolle über Banken und so weiter. Die antikapitalistischen<br />
Maßnahmen werden weitere Entfaltung erfahren können, dank dem Vorhandensein<br />
»objektiver Voraussetzungen <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> ... in den entwickeltsten<br />
fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n«. Gerade davon muß man ausgehen. »Nur von den <strong>russischen</strong><br />
Bedingungen zu sprechen«, erläutert Lenin in seiner Rede, »ist ein Fehler ... Welche<br />
Aufgaben werden dem <strong>russischen</strong> Proletariat erstehen, wenn die Weltbewegung uns vor<br />
die Tatsache <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> strellt - das ist die Hauptfrage, die in dieser Resolution<br />
behandelt wird.« Es ist klar: Die neue Ausgangsposition, die die Partei im April<br />
1917 bezog, nachdem Lenin einen Sieg über die demokratische Beschränktheit <strong>der</strong> "alten<br />
Bolschewiki" errungen hatte, ist von <strong>der</strong> Theorie des Sozialismus in einem Lande<br />
entfernt wie Himmel und Erde!<br />
In allen Parteiorganisationcn, in <strong>der</strong> Hauptstadt wie in <strong>der</strong> Provinz, finden wir von nun<br />
an die gleiche Fragestellung; Im Kampfe um die Macht darf man nicht vergessen, daß<br />
das weitere Schicksal <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, als einer sozialistischen,, bestimmt werden wird<br />
vom Sieg des Proletariats <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>. Diese Formel stößt bei niemand<br />
auf Wi<strong>der</strong>spruch; im Gegenteil, sie bildet die Voraussetzung bei allen Diskussionen, als<br />
ein von allen in gleicher Weise anerkannter Grundsatz.<br />
Am 16. Juli erklärt in <strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Parteikonferenz Charitonow, einer <strong>der</strong> mit Lenin<br />
im "plombierten" Wagen eingetroffenen Bolschewiki: »Wir sagen es überall, wenn es im<br />
Westen keine <strong>Revolution</strong> geben wird, ist unsere Sache verloren.« Charitonow ist kein<br />
Theoretiker; er ist ein Durchsehnittsagitator <strong>der</strong> Partei. In den Protokollen <strong>der</strong> gleichen<br />
Konferenz lesen wir: »Pawlow verweist auf den von den Bolschewiki hervorgehobenen<br />
allgemeinen Grundsatz, daß die russische <strong>Revolution</strong> sich nur dann weiter entwickeln<br />
wird, wenn sie von <strong>der</strong> Weltrevolution, die nur als eine sozialistische denkbar ist, unterstützt<br />
werden wird.« ... Dutzende und Hun<strong>der</strong>te Charitonows und Pawlows entwickeln<br />
den Kerngedanken <strong>der</strong> Aprilkonferenz. Niemand kommt es in den Sinn, sie zu wi<strong>der</strong>legen<br />
o<strong>der</strong> zu korrigieren.<br />
Der VI. Parteitag, <strong>der</strong> Ende uli stattfand, definierte die Diktatur des Proletariats als<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 810
Machteroberung durch die Arbeiter und ärmsten Bauern. »Nur diese Klassen werden ...<br />
durch die Tat zum Fortschreiten <strong>der</strong> internationalen proletarischen <strong>Revolution</strong><br />
beitragen, die nicht nur den Krieg, son<strong>der</strong>n auch die kapitalistische Sklaverei liquidieren<br />
wird.« Das Referat Bucharins war aufgebaut auf dem Gedaken, daß die sozialistische<br />
Weltrevolution <strong>der</strong> einzige Ausweg aus <strong>der</strong> entstandenen Lage sei. »Siegt die <strong>Revolution</strong><br />
in Rußland, bevor die <strong>Revolution</strong> im Westen ausbricht, - dann haben wir die Aufgabe ...<br />
den Brand <strong>der</strong> sozialistischen Weltrevolution zu schüren.« Auch Stalin war in jener Zeit<br />
gezwungen, die Frage nicht viel an<strong>der</strong>s zu stellen: »Es wird <strong>der</strong> Moment kommen« sagte<br />
er, »wo die Arbeiter die armen Schichten <strong>der</strong> Bauernschaft emporheben und um sich<br />
scharen werden, das Banner <strong>der</strong> Arbeiterrevolution emporheben und die Ära <strong>der</strong> sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> im Westen einleiten werden.«<br />
Die Anfang August tagende Moskauer Distriktskonferenz gestattet uns am allerbesten,<br />
in das Laboratorium des Parteigedankens hineinzublicken. In einem einführenden<br />
Bericht, <strong>der</strong> die Beschlüsse des VI. Parteitages erläuterte, sagt Sokolnikow, Mitglied des<br />
Zentralkomitees: »Es ist begreiflich zu machen, daß die russische <strong>Revolution</strong> sich gegen<br />
den Weltimperialismus erheben o<strong>der</strong> aber umkommen wird, von dem gleichen lmperialismus<br />
erdrosselt.« Im gleichen Geiste spricht sich eine Reihe Delegierter aus. Witolin:<br />
»Wir müssen uns auf die soziale <strong>Revolution</strong> vorbereiten, die ein Anstoß sein wird zur<br />
Entfachung <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> in Westeuropa.« Der Delegierte Belenki: »Will man<br />
die Frage im nationalen Rahmen lösen, gibt es für uns keinen Ausweg. Sokolnikow hat<br />
ganz richtig gesagt, daß die russische <strong>Revolution</strong> siegen wird nur als internationale<br />
<strong>Revolution</strong> ... In Rußland sind die Bedingungen für den Sozialismus noch nicht reif;<br />
beginnt aber in Europa die <strong>Revolution</strong>, werden wir Westeuropa folgen.« Stukow »Der<br />
Grundsatz: - die russische <strong>Revolution</strong> wird nur als internationale <strong>Revolution</strong> siegen -<br />
kann keinen Zweifel erwecken ... Die sozialistische <strong>Revolution</strong> ist nur im Weltmaßstabe<br />
möglich.«<br />
Alle stimmen in den drei Hauptgrundsätzen überein: <strong>der</strong> Arbeiterstaat kann sich nicht<br />
halten, wenn <strong>der</strong> Imperialismus im Westen nicht gestürzt wird; in Rußland sind die<br />
Bedingungen für den Sozialismus noch nicht reif; die Aufgabe <strong>der</strong> sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> ist ihrem Wesen nach international. Würden neben diesen Ansichten, die<br />
nach sieben bis acht Jahren als Ketzerei verurteilt werden, in <strong>der</strong> Partei an<strong>der</strong>e, heute als<br />
reehtgläubig und traditionell bezeichneten Ansichten existiert haben, sie müßten auf <strong>der</strong><br />
Moskauer Konferenz wie auf dem ihr vorangegangenen Parteitag einen Ausdruck gefunden<br />
haben. Aber we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Referent, noch Diskussionsredner, noch Zeitungsartikel<br />
erwähnten auch nur mit einem Wort das Vorhandensein bolsehewistischer Ansichten in<br />
<strong>der</strong> Partei als Gegensatz zu den "trotzkistischen".<br />
Auf <strong>der</strong> Stadtkonferenz in Kiew, die dem Parteitag voranging, sagte <strong>der</strong> Referent<br />
Horowitz: »Der Kampf um die Rettung unserer <strong>Revolution</strong> kann nur im internationalen<br />
Maßstabe geführt werden. Vor uns sind zwei Perspektiven: siegt die <strong>Revolution</strong>, dann<br />
schaffen wir einen Übergangsstaat zum Sozialismus, wenn nicht dann geraten wir unter<br />
die Gewalt des internationalen Imperialismus.« Nach dem Parteitag, Anfang August,<br />
sagte Pjatakow auf einer neuen Kiewer Konferenz: »Wir haben seit Beginn <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
stets wie<strong>der</strong>holt, daß das Schicksal des <strong>russischen</strong> Proletariats völlig abhängig ist<br />
von dem Gang <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> im Westen ... Wir treten somit in das<br />
Stadium <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> ein.« Anläßlich Pjatakows Referat erklärt <strong>der</strong> uns<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 811
ereits bekannte Horowitz: »Ich bin mit Pjatakow durchaus einverstanden in seiner<br />
Bezeichnung unserer <strong>Revolution</strong> als einer permanenten.« ... Pjatakow; »... Die einzig<br />
mögliche Rettung für die russische <strong>Revolution</strong> liegt in <strong>der</strong> Weltrevolution, die den Beginn<br />
<strong>der</strong> sozialen Umwälzung bilden wird.« Vielleicht aber vertraten diese zwei Redner eine<br />
Min<strong>der</strong>heit? Nein, niemand hat in dieser Kernfrage Wi<strong>der</strong>spruch erhoben; bei <strong>der</strong> Wahl<br />
des Kiewer Komitees erhielten beide die größte Stimmenzahl.<br />
Man kann somit als festgestellt erachten, daß auf <strong>der</strong> Parteikonferenz vom April, auf<br />
dem Parteitag vom Juli, den Konferenzen in Petrograd, Moskau und Kiew jene Ansichten<br />
dargelegt und durch Abstimmung bestätigt wurden, die man später als mit dem<br />
Bolschewismus unvereinbar proklamierte. Mehr noch: es erhob sich nicht eine Stimme in<br />
<strong>der</strong> Partei, die man als eine Vorahnung <strong>der</strong> späteren Theorie des Sozialismus in einem<br />
Lande hätte auslegen können, auch nur in dem Maße, wie in den Psalmen des Königs<br />
David ein Vorgefühl <strong>der</strong> Predigten Christi zu finden ist.<br />
Am 13. August erläutert das Zentralorgan <strong>der</strong> Partei: »Die Allmacht <strong>der</strong> Sowjets, noch<br />
kreinesfalls "Sozialismus" bedeutend, würde jedenfalls den Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
brechen und, dem Vorhandensein <strong>der</strong> Produktivkräfte und <strong>der</strong> Lage im Westen entsprechend,<br />
dem ökonomischen Leben im Interesse <strong>der</strong> werktätigen Massen Richtung und<br />
Gestaltung verleihen. Nachdem sie die Fesseln <strong>der</strong> kapitalistischen Macht von sich<br />
geworfen hat, würde die <strong>Revolution</strong> permanent geworden sein, das heißt, ununterbrochen;<br />
sie würde die Staatsmacht anwenden nicht, um das Regime <strong>der</strong> kapitalistischen<br />
Ausbeutung zu festigen, son<strong>der</strong>n, im Gegenteil, um es zu überwinden. Ihr endgültiger<br />
Sieg auf diesem Wege würde von den Erfolgen <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong> in Europa<br />
abhängen ... Dies war und bleibt die einzige reale Perspektive <strong>der</strong> weiteren Entwicklung<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>.« Autor des Artikels war Trotzki, <strong>der</strong> ihn aus dem "Kresty"-Gefängnis<br />
schrieb. Redakteur <strong>der</strong> Zeitung war Stalin. Die Bedeutung des Zitats wird schon allein<br />
dadurch bestimmt, daß <strong>der</strong> Terminus "permanente <strong>Revolution</strong>" bis zum Jahre 1917 in <strong>der</strong><br />
bolschewistischen Partei ausschließlich zur Kennzeichnung des Trotzkischen Standpunktes<br />
gebraucht worden war. Einige Jahre später wird Stalin erklären »Lenin kämpfte gegen<br />
die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> bis ans Ende seiner Tage.« Stalin selbst hat<br />
jedenfalls nicht dagegen gekämpft: <strong>der</strong> Artikel erschien ohne jegliche Anmerkungen<br />
seitens <strong>der</strong> Redaktion.<br />
Zehn Tage später schrieb Trotzki in <strong>der</strong> gleichen Zeitung: »Internationalismus ist für<br />
uns keine abstrakte Idee ..., son<strong>der</strong>n ein unmittelbar leitendes, tiefpraktisches Prinzip.<br />
Ein sicherer, entscheiden<strong>der</strong> Erfolg ist für uns undenkbar außerhalb <strong>der</strong> europäischen<br />
<strong>Revolution</strong>.« Stalin wi<strong>der</strong>sprach abermals nicht. Mehr noch, zwei Tage später wie<strong>der</strong>holte<br />
er selbst: »Sie (die Arbeiter und Soldaten) mögen wissen, nur im Bunde mit den<br />
Arbeitern des Westens, nur wenn die Grundlagen des Kapitalismus im Westen erschüttert<br />
sind, darf man mit einem Triumph <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in Rußland rechnen!« Unter »Triumph<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>« wurde nicht <strong>der</strong> Aufbau des Sozialismus verstanden - davon war vorläufig<br />
überhaupt nicht die Rede -, son<strong>der</strong>n nur die Eroberung und Sicherung <strong>der</strong> Macht.<br />
»Die Bourgeois schreien«, schrieb Lenin im September, »von <strong>der</strong> unvermeidlichen<br />
Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Kommune in Rußland, das heißt, von <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage des Proletariats,<br />
falls es die Macht erobert.« Man brauche vor diesem Geschrei keine Furcht zu haben:<br />
»Die Macht einmal erobert, hat das Proletariat in Rußland alle Chancen, sie zu halten<br />
und Rußland bis zur siegreichen <strong>Revolution</strong> im Westen zu führen.« Die Perspektive <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 812
Umwälzung wird hier mit aller Klarheit bestimmt: die Macht festzuhalten bis zum<br />
Beginn <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> in Europa. Diese Formel ist nicht in aller Eile<br />
hingeworfen; sie wie<strong>der</strong>holt sich bei Lenin tagein, tagaus. Den Programmartikel<br />
"Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behalten" resümiert Lenin mit den Worten: »...<br />
es wird sich keine Macht auf <strong>der</strong> Erde finden, die die Bolschewiki, wenn diese sich nicht<br />
einschüchtern lassen und es verstehen, die Macht zu ergreifen, hin<strong>der</strong>n könnte, sie bis<br />
zum Siege <strong>der</strong> sozialistischen Weltrevolution zu halten.«<br />
Der rechte Flügel <strong>der</strong> Bolschewiki for<strong>der</strong>te eine Koalition mit den Versöhnlern, wobei<br />
er sich darauf berief, die Bolschewiki "allein" würden die Macht nicht halten können.<br />
Lenin antwortete ihnen am 1. November, schon nach <strong>der</strong> Umwälzung: »Man sagt, wir<br />
werden die Macht allein nicht halten können, und so weiter. Aber wir sind nicht<br />
allein.Vor uns ist das ganze Europa. Wir müssen beginnen.« Aus den Dialogen Lenins<br />
mit den Rechten tritt beson<strong>der</strong>s klar hervor, daß nicht einer <strong>der</strong> streitenden Richtungen<br />
<strong>der</strong> Gedanke vom selbständigen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in Rußland in<br />
den Sinn kam.<br />
John Reed erzählt, wie auf einem Petrogra<strong>der</strong> Meeting. im Obuchow-Werk, ein Soldat<br />
von <strong>der</strong> rumänischen Front rief: »Wir werden uns mit allen Kräften halten, bis sich die<br />
Völker <strong>der</strong> ganzen Welt erheben und uns helfen.« Diese Formel war nicht vom Himmel<br />
gefallen und we<strong>der</strong> von dem namenlosen Soldaten noch von Reed ausgedacht: sie war<br />
den Massen von den bolschewistischen Agitatoren eingeimpft. Die Stimme des Soldaten<br />
von <strong>der</strong> rumänischen Front war die Stimme <strong>der</strong> Partei, die Stimme <strong>der</strong><br />
Oktoberrevolution.<br />
"Die Deklaration <strong>der</strong> Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" - ein<br />
programmatischer Staatsakt, im Namen <strong>der</strong> Sowjetmacht in <strong>der</strong> Konstituierenden<br />
Versammlung eingebracht - verkündete als Aufgabe des neuen Regimes »Errichtung <strong>der</strong><br />
sozialistischen Gesellschaftsorganisation und des Sieges des Sozialismus in allen<br />
Län<strong>der</strong>n ... Die Sowjetmacht wird fest diesen Weg verfolgen bis zum vollständigen Siege<br />
des internationalen Arheiteraufstandes gegen das Joch des Kapitals.« Die Leninsche<br />
"Deklaration <strong>der</strong> Rechte", formell bis auf den heutigen Tag nicht abgeschafft, verwandelte<br />
die permanente <strong>Revolution</strong> in ein Grundgesetz <strong>der</strong> Sowjetrepublik.<br />
Würde Rosa Luxemburg, die leidenschaftlich und eifrig vom Gefängnis aus Taten und<br />
Worte <strong>der</strong> Bolschewiki verfolgte, einen Schatten von nationalem Sozialismus verspürt<br />
haben, sie hätte sofort Alarm geschlagen: in jenen Tagen kritisierte sie sehr streng - im<br />
Kern fehlerhaft - die Politik <strong>der</strong> Bolschewiki. Aber nein, folgendes schrieb sie über die<br />
Generallinie <strong>der</strong> Partei: »Daß die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution<br />
des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen<br />
Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.«<br />
Gerade jene Ansichten, die Lenin tagaus, tagein entwickelte; die im Zentralorgan <strong>der</strong><br />
Partei, unter Stalin als Redakteur, gepredigt wurden; die die Reden <strong>der</strong> großen und<br />
kleinen Agitatoren inspirierten; die die Soldaten <strong>der</strong> entferntesten Frontabschnitte<br />
wie<strong>der</strong>holten; die Rosa Luxemburg als höchstes Zeugnis des politischen Weitblicks <strong>der</strong><br />
Bolschewiki betrachtete, gerade diese Ansichten verurteilte die Bürokratie <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
lnternationale im Jahre 1926. »Die Ansichten Trotzkis und seiner Gesinnungsgenossen<br />
in <strong>der</strong> Kernfrage über Charakter und Perspektiven unserer <strong>Revolution</strong>« - lautet<br />
<strong>der</strong> Beschluß des VII. Plenums <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> -, »haben nichts<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 813
gemein mit den Ansichten unserer Partei, mit Leninismus.« So reehneten die Epigonen<br />
des Bolschewismus mit ihrer eigenen Vergangenheit ab.<br />
Wenn jemand im Jahre 1917 tatsächlich gegen die Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong><br />
kämpfte, so waren es die Kadetten und die Versöhnler. Miljukow und Dan enthüllten<br />
»die revolutionären Illusionen des Trotzkismus« als die Hauptursache des<br />
Zusammenbruchs <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905. In <strong>der</strong> Eröffnusrgsrede auf <strong>der</strong> Demokratischen<br />
Beratung geißelte Tschcheidse das Bestreben, »den Brand des kapitalistischen<br />
Krieges zu löschen durch Umwandlung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in eine sozialistische und internationale«.<br />
Am 13. Oktober sagte Ketenski im Vorparlament: »Es gibt jetzt keinen gefährlicheren<br />
Feind <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, <strong>der</strong> Demokratie und aller Errungenschaften <strong>der</strong> Freiheit<br />
als jene, die ... unter dem Vorgehen <strong>der</strong> Vertiefung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Umwandlung<br />
in eine permanente soziale <strong>Revolution</strong>, die Massen demoralisieren und sie anscheinend<br />
schon densoralisiert haben...« Tschcheidse und Kerenski waren Gegner <strong>der</strong><br />
permanenten <strong>Revolution</strong> aus dem gleichen Grunde, aus dem sie Feinde <strong>der</strong> Bolschewiki<br />
waren.<br />
Auf dem zweiten Sowjetkongreß, im Augenblick <strong>der</strong> Machtergreifung, sagte Trotzki:<br />
»Wenn die aufständischen Völker Europas den Imperialismus nicht zermalmen, dann<br />
werden wir zermalmt werden - das ist sicher. Entwe<strong>der</strong> wird die russische <strong>Revolution</strong><br />
einen Kampfwirbel im Westen entfesseln, o<strong>der</strong> die Kapitalisten aller Län<strong>der</strong> werden<br />
unsere <strong>Revolution</strong> erdrosseln...« - »Es gibt einen dritten Weg«, ertönt es von einem<br />
Platze. Vielleicht war es Stalins Stimme? Nein, es war die Stimme eines Menschewiken.<br />
Die Bolschewiki entdeckten den »dritten Weg« erst einige Jahre später.<br />
Unter dem Einfluß unzähliger Wie<strong>der</strong>holungen <strong>der</strong> Stalinschen Presse in aller Welt gilt<br />
für die verschiedensten politischen Kreise fast als feststehend, daß den Brest-Litowsker<br />
Meinungsverschiedenheiten angeblich zwei Konzeptionen zugrunde lagen: die eine ging<br />
von <strong>der</strong> Möglichkeit aus, sich nicht nur zu halten, son<strong>der</strong>n auch den Sozialismus mit den<br />
eigenen Kräften Russlands aufzubauen; die an<strong>der</strong>e hoffte ausschließlich auf den<br />
Aufstand in Europa. In Wirklichkeit wurde diese Gegenüberstellung erst einige Jahre<br />
später geschaffen, wobei sich ihre Autoren nicht die Mühe nahmen, ihre Erfindung auch<br />
nur äußerlich mit den historischen Dokumenten in Einklang zu bringen. Allerdings, dies<br />
wäre auch nicht leicht gewesen: alle Bolschewiki, ohne eine Ausnahme, vertraten in <strong>der</strong><br />
Brester Zeit in gleicher Weise die Ansicht, daß, wenn die <strong>Revolution</strong> in <strong>der</strong> allernächsten<br />
Zeit in Europa nicht ausbricht, die Sowjetrepublik dem Untergang geweiht ist. Die einen<br />
rechneten mit Wochen, die an<strong>der</strong>en mit Monaten, niemand mit Jahren.<br />
»Seit Anbeginn <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>...«, schrieb Bucharin am 28. Januar 1918,<br />
»erklärte die Partei des revolutionären Proletariats: entwe<strong>der</strong> wird die durch die<br />
<strong>Revolution</strong> in Rußland entfesselte internationale <strong>Revolution</strong> den Krieg und das Kapital<br />
erdrosseln, o<strong>der</strong> das internationale Kapital wird die russische <strong>Revolution</strong> erdrosseln.«<br />
Vielleicht aber hat Bucharin, <strong>der</strong> in jenen Tagen die Anhänger eines revolutionären<br />
Krieges gegen Deutschland vertrat, die Ansichten seiner Fraktion auf die gesamte Partei<br />
übertragen? So natürlich eine solche Vermutung auch sein mag, sie wird durch die<br />
Dokumente radikal wi<strong>der</strong>legt.<br />
Die im Jahre 1929 vom Zentralkomitee herausgegebenen Protokolle für das Jahr 1917<br />
und Anfang 1918 bieten, trotz ihrer Unvollständigkeit und tendenziösen Bearbeitung<br />
auch in dieser Frage unschätzbare Angaben. »Sitzung vom 11. Januar 1918. Gen. Serge-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 814
jew (Artem) verweist darauf, daß alle Redner darin übereinstimmen, daß unserer sozialistischen<br />
Republik Untergang droht beim Ausbleiben <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> im<br />
Westen.« Sergejew vertrat Lenins Position, das heißt, er war für die Unterzeichnung des<br />
Friedens. Niemand wi<strong>der</strong>sprach Sergejew. Alle drei kämpfenden Gruppen appellierten<br />
wetteifernd an die gleiche Voraussetzung: ohne Weltrevolution kann das Ende nicht gut<br />
sein.<br />
Stalin trägt allerdings eine neue Nuance in die Debatten hinein: die Notwendigkeit, den<br />
Separatfrieden zu unterzeichnen, motiviert er damit, daß es »eine revolutionäre<br />
Bewegung im Westen nicht gibt, es bestehen keine Tatsachen, es gibt nur eine Potenz, mit<br />
<strong>der</strong> Potenz aber können wir nicht rechnen«. Noch recht weit von <strong>der</strong> Theorie des Sozialisusus<br />
in einem Lande entfernt, enthüllt er jedoch in diesen Worten deutlich seinen<br />
organischen Unglauben an die internationale Bewegung. »Mit <strong>der</strong> Potenz können wir<br />
nicht rechnen!« Lenin grenzt sieh sofort »in gewissen Teilen« gegen die Stalinsche<br />
Unterstützung ab: daß die <strong>Revolution</strong> im Westen noch nicht begonnen hat, ist richtig,<br />
»wollten wir jedoch deshalb unsere Taktik än<strong>der</strong>n, wir wären Verräter am internationalen<br />
Sozialismus«. Wenn er, Lenin, für einen sofortigen Separatfrieden sei, so nicht<br />
deshalb, weil er an die revolutionäre Bewegung im Westen nicht glaube, und noch<br />
weniger, weil er an die Lebensfähigkeit einer isolierten <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> glaube:<br />
»Es ist für uns wichtig, uns bis zum Eintritt <strong>der</strong> allgemeinen sozialistischen <strong>Revolution</strong> zu<br />
halten, und dies können wir erreichen nur durch den Friedensabschluß.« Der Sinn <strong>der</strong><br />
Brester Kapitulation erschöpft sich für Lenin in dem Wort "Atempause".<br />
Die Protokolle beweisen, daß Stalin nach <strong>der</strong> Leninschen Warnung Gelegenheit suchte,<br />
sich zu korrigieren. »Sitzung vom 23. Februar 1918. Gen. Stalin ... Auch wir setzen auf<br />
die <strong>Revolution</strong>, aber ihr rechnet mit Wochen, und (wir) - mit Monaten.« Stalin wie<strong>der</strong>holt<br />
hier wörtlich Lenins Formel. Die Entfernung zwischen den äußersten Flügeln des<br />
Zentralkomitees in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Weltrevolution ist die Entfernung zwischen Wochen<br />
und Monaten.<br />
Während er auf dem VII. Parteitag, im März 1918, die Unterzeichnung des Brester<br />
Friedens verteidigte, sagte Lenin: »Es ist eine absolute Wahrheit, daß wir ohne die<br />
deutsche <strong>Revolution</strong> verloren sind. Verloren vielleicht nicht in Petrograd o<strong>der</strong> Moskau,<br />
aber in Wladiwostok o<strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>en fernen Platz, wohin wir gezwungen sein<br />
werden uns zurückzuziehen..., auf jeden Fall sind wir unter allen denkbaren Varianten,<br />
kommt die deutsche <strong>Revolution</strong> nicht, verloren.« Doch es handelt sich nicht nur um<br />
Deutschland. »Der internationale Imperialismus, <strong>der</strong> ... eine gigantische reale Macht<br />
darstellt kann in keinem Fall und unter keinen Bedingungen die Nachbarschaft einer<br />
Sowjetrepublik dulden ... Der Konflikt erscheint hier unvermeidlich. Hier liegt... das<br />
größte historische Problem. .. die Notwendigkeit, die internationale <strong>Revolution</strong> hervorzurufen.«<br />
In einem angenommenen Geheimbeschluß heißt es: »Der Parteitag sieht die<br />
zuverlässigste Garantie für die Festigung <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong>, die in Rußland<br />
gesiegt hat, nur in <strong>der</strong> Umwandlung dieser <strong>Revolution</strong> in eine internationale Arbeiterrevolution.«<br />
Einige Tage später sagte Lenin auf dem Sowjetkongreß: »Der Weltimperialismus kann<br />
neben sich einen siegreichen Vormarsch <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> nicht dulden.« Am 23.<br />
April sprach er in <strong>der</strong> Sitzung des Moskauer Sowjets: »Unsere Rückständigkeit hat uns<br />
vorwärtsgestoßen, doch wir sind verloren, wenn wir nicht imstande sein werden, uns so<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 815
lange zu halten, bis wir kraftvolle Hilfe seitens <strong>der</strong> aufständischen Arbeiter <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Län<strong>der</strong> bekommen.« ».... Man muß sich (vor dem Imperialismus) zurückziehen, sei es<br />
auch bis zum Ural«, schreibt er im Mai 1918, »denn dies ist die einzige Gewinnehance<br />
für die Periode des Heranreifens <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Westen ...«<br />
Lenin legte sich klar Rechenschaft darüber ab, daß das Hinausziehen <strong>der</strong> Verhandlungen<br />
in Brest die Friedeushedingungen verschlechtere. Aber er stellte die internationalen<br />
revolutionären Aufgaben über die "nationalen". Am 28. Juni 1918, auf <strong>der</strong> Moskauer<br />
Gewerkschaftskonferenz, sagte Lenin trotz den episodischen Meinungsverschiedenheiten<br />
mit Trotzki in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Unterzeichnung des Friedens: »Als es zu den Brester<br />
Verhandlungen kam, wurden da nicht die Enthüllungen des Gen. Trotzki <strong>der</strong> ganzen Welt<br />
sichtbar, und hat nicht diese Politik dazu geführt, daß in einem feindlichen Lande ...<br />
während des Krieges eine gewaltige revolutionäre Bewegung entstand?« ... Eine Woche<br />
später kehrt er in dem Bericht des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vor dem fünften Sowjetkongreß<br />
zu dieser Frage zurück: »Wir haben unsere Pflicht vor allen Völkern erfüllt ...<br />
durch unsere Brester Delegation mit dem Gen. Trotzki an <strong>der</strong> Spüze...« Ein Jahr später<br />
erinnerte Lenin: »In <strong>der</strong> Epoche des Brester Friedens ... hat die Sowjetmaeht die Weltdiktatur<br />
des Proletariats und die Weltrevolution über alle nationalen Opfer gestellt, so<br />
schwer sie auch waren.«<br />
»Welchen Sinn«, fragte Stalin, als die Zeit die ohnehin nicht übermäßig deutlichen<br />
ldeenabgrenzungen in seinem Gedächmis verwischt hatte, »kann Trotzkis Erklärung<br />
haben, das revolutionäre Rußland werde sich angesichts eines konservativen Europa<br />
nicht halten können? Doch nur den einen Sinn: Trotzki fühlt die innere Macht unserer<br />
<strong>Revolution</strong> nicht.«<br />
In Wirklichkeit war die gesamte Partei einmütig <strong>der</strong> Überzeugung, »angesichts eines<br />
konservativen Europa« würde sich die Sowjetrepublik nicht halten können. Doch war<br />
das nur die Kehrseite <strong>der</strong> Überzeugung, daß ein konservatives Europa sich nicht würde<br />
halten können angesichts eines revolutionären Rußland. In <strong>der</strong> negativen Form kam <strong>der</strong><br />
unerschütterliche Glaube an die internationale Kraft <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> zum<br />
Ausdruck. Und im Kern hatte die Partei sich nicht geirrt. Vollständig hat das konservative<br />
Europa sich jedenfalls nicht halten können. Sogar die von <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />
verratene deutsche <strong>Revolution</strong> erwies sieh als stark genug, um Ludendorff und Hoffmann<br />
die Krallen zu beschneiden: ohne diese Operation aber wäre <strong>der</strong> Sowjetrepublik kaum<br />
<strong>der</strong> Untergang erspart geblieben.<br />
Doch auch nach dem Zusammenbruch des deutschen Militarismus hatte sich die allgemeine<br />
Einschätzung <strong>der</strong> internationalen Lage nicht verän<strong>der</strong>t. »Unsere Bemühungen<br />
führen unvermeidlich zur Weltrevolution...«, sagte Lenin in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees<br />
Ende Juli 1918. »Die Sache verhält sieh so, daß ... während wir ... aus<br />
dem Krieg mit <strong>der</strong> einen Koalition hinaustraten, (wir) sogleich einen Druck des Imperialismus<br />
von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite verspürten.« Im August, als an <strong>der</strong> Wolga <strong>der</strong> Bürgerkrieg<br />
unter Teilnahme <strong>der</strong> Tschechoslowaken entbrannte, sprach Lenin auf einem Meeting in<br />
Moskau: »Unsere <strong>Revolution</strong> trat auf als eine internationale <strong>Revolution</strong> ... Die proletarischen<br />
Massen werden <strong>der</strong> Sowjetrepublik den Sieg über die Tschechoslowaken sichern<br />
und die Möglichkeit schaffen, sich so lange zu halten; bis die sozialistische Weltrevolution<br />
ausbrechen wird.« Sich halten, bis die <strong>Revolution</strong> im Westen ausbrechen wird - das<br />
ist in alter Weise die Formel <strong>der</strong> Partei.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 816
In den gleichen Tagen schrieb Lenin an die amerikanischen Arbeiter: »Wir befinden<br />
uns in einer belagerten Festung, solange uns das Heer <strong>der</strong> sozialistisehen Weltrevolution<br />
nicht zu Hilfe kommt.« Noch kategorischer drückt er sich im November aus: »...Tatsachen<br />
<strong>der</strong> Weltgeschichte beweisen, daß die Umwandlung unserer, <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong><br />
in eine sozialistische nicht ein Abenteuer, son<strong>der</strong>n eine Notwendigkeit war, denn<br />
eine an<strong>der</strong>e Wahl hat es nicht gegeben: <strong>der</strong> anglo-französische und <strong>der</strong> amerikanische<br />
Imperialismus werden unvermeidlich Rußlands Unabhängigkeit und Freiheit ersticken,<br />
wenn die sozialistische Weltrevolution, <strong>der</strong> Weltbolschewismus, nicht siegt.« In Stalins<br />
Sprache: Lenin fühlt offenbar die »innere Kraft unserer <strong>Revolution</strong>« nicht.<br />
Der erste Jahrestag <strong>der</strong> Umwälzung ist vorbei. Die Partei hat Zeit genug gehabt, sich<br />
umzusehen. Nichtsdestoweniger erklärt Lenin in seiner Rede auf dem VIII. Parteitag, im<br />
März 1919, wie<strong>der</strong>um: »Wir leben nicht nur in einem Staat, son<strong>der</strong>n in einem Staatensystem,<br />
und das Bestehen einer Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten für<br />
längere Zeit ist undenkbar. Letzten Endes wird entwe<strong>der</strong> das eine o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e<br />
siegen.«<br />
Am dritten Jahrestag, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Weißen zusammenfiel, hielt Lenin<br />
Rückschau und zog die Verallgemeinerung: »Wenn man uns in jener Nacht (<strong>der</strong> Nacht<br />
<strong>der</strong> Oktoberumwälzung) gesagt hätte, daß wir nach drei Jahren ... im Besitze dieses<br />
unseres Sieges sein werden, - niemand, sogar <strong>der</strong> eingefleischteste Optimist nicht, hätte<br />
das geglaubt. Wir wußten damals, daß unser Sieg nur dann ein Sieg sein wird, wenn<br />
unsere Sache die ganze Welt erobert, weil wir ja unsere Sache auch begonnen haben<br />
ausschließlich mit Berechnung auf die Weltrevolution.« Einen unwi<strong>der</strong>legbareren Beweis<br />
kann man nicht verlangen: Ins Augenblick <strong>der</strong> Oktoberumwälzung hatte <strong>der</strong> "eingefleischteste<br />
Optimist" nicht nur von einem Aufbau des nationalen Sozialismus nicht<br />
geträumt, son<strong>der</strong>n auch nicht an die Möglichkeit <strong>der</strong> Verteidigung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> ohne<br />
direkte Hilfe von außen geglaubt. »Wir haben unsere Sache ausschließlich mit Berechnung<br />
auf die Weltrevolution begonnen.« Um in dreijährigen Kämpfen den Sieg über die<br />
Unzahl <strong>der</strong> Feinde zu sichern, hatte we<strong>der</strong> die Partei noch die Rote Armee die Mythe<br />
vom Sozialismus in einem Lande nötig gehabt.<br />
Die internationale Lage gestaltete sieh günstiger, als man es hatte erwarten können. Die<br />
Massen bewiesen eine außerordentliche Aufopferungsfähigkeit im Namen <strong>der</strong> neuen<br />
Ziele. Die Führung hatte die Wi<strong>der</strong>sprüche des Imperialismus in <strong>der</strong> ersten, schwierigsten<br />
Periode geschickt ausgenützt. Im Ergebnis hatte die <strong>Revolution</strong> größere Wi<strong>der</strong>standskraft<br />
gezeigt, als die "eingefleischtesten Optimisten" es geglaubt hatten. Dabei aber<br />
bewahrte die Partei in ihrer Gesamtheit die frühere internationale Einstellung.<br />
»Gäbe es keinen Krieg«, erklärte Lenin im Januar 1918, »wir würden die Vereinigung<br />
<strong>der</strong> Kapitalisten <strong>der</strong> ganzen Welt sehen: einen Zusammenschluß auf dem Boden des<br />
Kampfes gegen uns.« - »Warum bekamen wir in den Wochen und Monaten ... nach dem<br />
Oktober die Möglichkeit, so leicht von Triumph zu Triumph zu schreiten?« fragte er auf<br />
dem VII. Parteitag: »Nur deshalb, weil die beson<strong>der</strong>e internationale Konjunktur uns<br />
vorübergehend vor dem Imperialismus deckte.« Im April sagte Lenin in einer Sitzung des<br />
Zentral-Exekutivkomitees: »Wir haben eine Atempause nur deshalb bekommen, weil im<br />
Westen die imperialistische Schlächterei noch weiter andauert und im Fernen Osten das<br />
imperialistische Wetteifern immer breiter entbrennt; nur das erklärt das Bestehen <strong>der</strong><br />
Sowjetrepublik.«<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 817
Die beson<strong>der</strong>e Fügung <strong>der</strong> Umstände konnte nicht ewig dauern. »Wir sind jetzt vom<br />
Krieg zum Frieden übergegangen«, sagte Lenin im November 1920, »aber wir haben<br />
nicht vergessen, daß <strong>der</strong> Krieg wie<strong>der</strong>kehren wird. Solange Kapitalismus und Sozialismus<br />
geblieben sind, können wir nicht im Frieden leben: <strong>der</strong> eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wird letzten<br />
Endes siegen; entwe<strong>der</strong> wird man <strong>der</strong> Sowjetrepublik Totenmessen singen o<strong>der</strong> aber dem<br />
Weltkapitalismus. Das ist <strong>der</strong> Aufschub im Kriege.«<br />
Die Umwandlung <strong>der</strong> ursprünglichen "Atempause" in eine längere Periode schwankenden<br />
Gleichgewichts wurde nicht nur durch den Kampf <strong>der</strong> kapitalistischen Gruppierungen<br />
gesichert, son<strong>der</strong>n auch durch die internationale revolutionäre Bewegung. Unter dem<br />
Einfluß <strong>der</strong> Novemberumwälzung in Deutschland mußten die deutschen Truppen die<br />
Ukraine, die Baltischen Provinzen und Finnland räumen. Das Eindringen des rebellischen<br />
Geistes in die Heere <strong>der</strong> Entente zwang die französische, englische und amerikanische<br />
Regierung. ihre Truppen von den Süd- und Nordküsten Rußlands zu entfernen. Die<br />
proletarische <strong>Revolution</strong> im Westen siegte nicht, deckte aber auf dem Wege zum Siege<br />
für eine Reihe von Jahren den Sowjetstaat.<br />
Ins Juli 1921 zog Lenin das Fazit; »Es entstand, wenn auch ein äußerst unsicheres und<br />
äußerst unstabiles, aber doch ein <strong>der</strong>artiges Gleichgewicht, daß die sozialistische<br />
Republik - natürlich nicht lange Zeit - in kapitalistischer Umkreisung existieren kann.«<br />
So gewöhnte sich die Partei, von Wochen zu Monaten und von Monaten zu Jahren<br />
schreitend, allmählich an den Gedanken, daß <strong>der</strong> Arbeiterstaat eine gewisse - »natürlich<br />
nicht lange Zeit« friedlich in kapitalistischer Umkreisung existieren kann.<br />
Eine nicht unwichtige Schlußfolgerung ergibt sich aus den erwähnten Angaben ganz<br />
unbestreitbar: Wenn nach <strong>der</strong> allgemeinen Überzeugung det Bolschewiki <strong>der</strong> Sowjetstaat<br />
sich nicht lange ohne einen Sieg des Proletariats im Westen halten konnte, so schloß dies<br />
allein schon praktisch das Programm des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande aus;<br />
die Frage selbst wurde gewissermaßen im voraus von <strong>der</strong> Tagesordnung abgesetzt.<br />
Es wäre jedoch ganz irrig, zu glauben, wie das in den letzten Jahren die Epigonenschule<br />
zu suggeeieren versuchte, die Partei habe als einziges Hin<strong>der</strong>nis auf dem Wege<br />
zur nationalen sozialistischen Gesellschaft die kapitalistischen Heere betrachtet. Die<br />
Bedrohung durch eine bewaffnete Intervention stand praktisch tatsächlich im Vor<strong>der</strong>grund.<br />
Doch bildete die Kriegsgefahr nur den schärfsten Ausdruck des technisch-industriellen<br />
Übergewichts <strong>der</strong> kapitalistischen Län<strong>der</strong>. Letzten Endes lief das Problem auf<br />
die Isoliertheit <strong>der</strong> Sowjetrepublik und auf <strong>der</strong>en Rückständigkeit hinaus.<br />
Sozialismus ist Organisierung einer planmäßigen und harmonischen gesellschaftlichen<br />
Produktion für die Befriedigung <strong>der</strong> menschlichen Bedürfnisse. Kollekriveigentum an<br />
Produktionsmitteln ist noch nicht Sozialismus, son<strong>der</strong>n lediglich seine rechtliche Voraussetzung.<br />
Das Problem <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft läßt sich vom Problem <strong>der</strong> Produktivkräfte<br />
nicht trennen, das im heutigen Stadium <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung seinem<br />
Wesen nach ein Weltproblem ist. Der Einzelstaat, zu eng geworden für den<br />
Kapitalismus, ist um so weniger fähig, die Arena einer vollendeten sozialistischen<br />
Gesellschaft zu sein. Die Rückständigkeit eines revolutionären Landes steigert darüber<br />
hinaus für dieses die Gefahr, zum Kapitalismus zurückgeworfen zu werden. Indem sie<br />
die Perspektive einer isolierten sozialistischen Entwicklung verwarfen, hatten die<br />
Bolschewiki kein mechanisch abgeson<strong>der</strong>tes Interventionsproblem vor Augen, son<strong>der</strong>n<br />
die Gesamtheit <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> internationalen wirtschaftlichen Grundiage des Sozialismus<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 818
verbundenen Fragen.<br />
Auf dem VII. Parteitag sagte Lenin: »Geht jetzt Rußland - und es geht zweifellose -<br />
vom "Tilsiter" Frieden zum nationalen Aufstieg..., so ist <strong>der</strong> Ausgang zu diesem Aufstieg<br />
nicht <strong>der</strong> Ausgang zum bürgerlichen Staat, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Ausgang zur internationalen<br />
sozialistischen <strong>Revolution</strong>.« Das ist die Alternative: entwe<strong>der</strong> internationale <strong>Revolution</strong><br />
o<strong>der</strong> Rückstoß - zum Kapitalismus. Für einen nationalen Sozialismus gibt es keinen<br />
Platz. »Wie viele Übergangsetappen zum Sozialismus es noch geben wird, wissen wir<br />
nicht, und können wir nicht wissen. Das hängt davon ab, wann die europäische sozialistische<br />
<strong>Revolution</strong> im richtigen Maßstabe beginnen wird.«<br />
Während er im April des gleichen Jahres aufruft, die Reihen auf praktische Arbeit<br />
umzustellen, schreibt Lenin: »Der wegen einer Anzahl von Umständen verspäteten sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> im Westen werden wir nur in dem Maße ernste Hilfe leisten können,<br />
in dem wir fähig sein werden, die vor uns stehende organisatorische Aufgabe zu lösen.«<br />
Der Beginn des wirtschaftlichen Aufbaues wird sogleich dem internationalen Schema<br />
angeglie<strong>der</strong>t: es handelt sich um die »Hilfe <strong>der</strong> sozialistischen <strong>Revolution</strong> ins Westen«<br />
und nicht um Schaffung einer selbstgenügsamen sozialistischen Herrschaft im Osten.<br />
Anläßlich des drohenden Hungers sagt Lenin den Moskauer Arbeitern: »Wir müssen in<br />
unserer gesamten Agitation ... erklären, daß das Unheil, das über uns hereinbrach, ein<br />
internationales Unheil ist und daß es aus ihm einen Ausweg außer <strong>der</strong> internationalen<br />
<strong>Revolution</strong> nicht gibt.« Um den Hunger zu besiegen, ist die Weltrevolution des Proletariats<br />
notwendig, sagt Lenin. Um die sozialistische Gesellschaft aufzubauen, genügt die<br />
<strong>Revolution</strong> in einem Lande, antworteten die Epigonen. Dies ist die Schwingungsweite<br />
<strong>der</strong> Meinunsgsverschiedenheiten! Wer hat recht? Vergessen wir auf keinen Fall, daß<br />
trotz den Erfolgen <strong>der</strong> Industrialisierung <strong>der</strong> Hunger bis auf den heutigen Tag nicht<br />
besiegt ist.<br />
Der Sowjetkongreß <strong>der</strong> Volkswirtschaft formulierte im Dezember 1918 das Schema<br />
des sozialistischen Aufbaues in folgenden Worten: »Die Diktatur des Weltproletariats<br />
wird eine historische Unentrinnbarkeit ... Das bestimmt die Entwicklung sowohl <strong>der</strong><br />
Gesellschaft im Weltmaßstabe wie jedes Landes im einzelnen. Die Errichtung <strong>der</strong> Diktatur<br />
des Proletariats und <strong>der</strong> Sowjetform <strong>der</strong> Regierung in den an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n wird die<br />
Herstellung engster ökonomischer Beziehungen zwischen den Län<strong>der</strong>n ermöglichen,<br />
internationale Arbeitsteilung <strong>der</strong> Produktion und schließlich Organisierung internationaler<br />
wirtschaftlicher Verwaltungsorgane.« Die Tatsache, daß eine solche Resolution auf<br />
einem Kongreß staatlicher Organe angenommen werden konnte, vor dem rein praktische<br />
Aufgaben standen - Kohle, Holz, Rüben -, beweist am besten, wie uneingeschränkt in<br />
jener Periode die Perspektive <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> das Bewußtsein <strong>der</strong> Partei<br />
beherrschte.<br />
Im "ABC des Kommunismus", einem von Bucharin und Preobraschenski zusammengestellten<br />
Parteilehrbuch, das eine große Auflagenzahl erlebt hat, lesen wir: »Die<br />
kommunistische <strong>Revolution</strong> kann nur siegen als Weltrevolution ... In einer Situation, wo<br />
die Arbeiter nur in einem Lande gesiegt haben, ist <strong>der</strong> ökonomische Aufbau sehr schwierig<br />
... Für den Sieg des Kommunismus ist <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> Weltrevolution notwendig.«<br />
Im Geiste <strong>der</strong> gleichen Ideen schrieb Bucharin in einer populären Broschüre, die<br />
mehrfach von <strong>der</strong> Partei neu aufgelegt und in fremde Sprachen übersetzt wurde: »...Vor<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 819
dem <strong>russischen</strong> Proletariat ersteht so scharf wie nie das Problem <strong>der</strong> internationalen<br />
<strong>Revolution</strong> ... Die permanente <strong>Revolution</strong> in Rußland geht über in die europäische<br />
<strong>Revolution</strong> des Proletariats.«<br />
In dem bekannten Buche von Stepanow Skworzow, "Elektrifizierung", erschienen<br />
unter <strong>der</strong> Redaktion und mit einem Vorwort von Lenin, wird in einem vom Redakteur<br />
dem Leser beson<strong>der</strong>s heiß empfohlenen Kapitel gesagt: »Rußlands Proletariat hat<br />
niemals daran gedacht, einen isolierten sozialistischen Staat zu schaffen. Ein selbstgenügsamer<br />
"sozialistischer" Staat ist ein kleinbürgerliches Ideal! Eine gewisse Annäherung<br />
an ihn ist denkbar unter <strong>der</strong> ökonomischen und politischen Vorherrschaft <strong>der</strong><br />
Kleinbourgeoisie; in <strong>der</strong> Abson<strong>der</strong>ung von <strong>der</strong> Außenwelt sucht sie das Mittel zur Festigung<br />
ihrer ökonomischen Formen, die durch die neue Technik und die neue Ökonomik in<br />
die allerschwankendsten Formen verwandelt sind.« Diese hervorragenden Zeilen, die<br />
zweifellos Spuren von Lenins Hand tragen, werfen ein grelles Licht auf die spätere<br />
Evolution <strong>der</strong> Epigonen!<br />
In den Thesen über die nationale und koloniale Frage zum II. Kongreß <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
<strong>Internationale</strong> bezeichnet Lenin als Gesamtaufgabe des Sozialismus, die sich<br />
über die nationalen Etappen des Kampfes erhebt, die »Schaffung einer einheitlichen,<br />
nach einem Gesamtplan des Proletariats aller Nationen regulierten Weltwirtschaft als<br />
Ganzes, welche Tendenz sich bereits unter dem Kapitalismus sehr deutlich gezeigt hat<br />
und unbedingt eine weitere Entwicklung und völlige Vollendung unter dem Sozialismus<br />
finden wird«. Angesichts dieser kontinuierlichen und fortschrittlichen Tendenz ist die<br />
Idee einer sozialistischen Gesellschaft in einem Lande reaktionär.<br />
Die Bedingungen <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats und die Bedingungen<br />
des Aufbaues <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft sind nicht identisch, nicht gleichartig, in<br />
gewissem Sinne sogar antagonistisch. Die Tatsache, daß das russische Proletariat als<br />
erstes zur Macht gelangt ist, bedeutet noch keinesfalls, daß es als erstes zum Sozialismus<br />
kommen wird. Die wi<strong>der</strong>spruchsvolle Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> Entwicklung, die zur<br />
Oktoberumwälzung führte, ist mit <strong>der</strong>en Abschluß nicht verschwunden: es erwies sich,<br />
daß sie im Fundament des ersten Arbeiterstaates enthalten ist.<br />
»Je rückständiger ein Land ist, das kraft des Zickzacks <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> gezwungen war,<br />
seine sozialistische <strong>Revolution</strong> zu beginnen«. sagte Lenin im März 1918, »um so schwieriger<br />
wird ihm <strong>der</strong> Übergang von den alten kapitalistischen Beziehungen zu sozialistischen.«<br />
Dieser Gedanke geht durch Lenins Reden und Artikel jahraus, jahrein. »Für uns<br />
ist es leicht, die <strong>Revolution</strong> zu beginnen, und schwieriger, sie fortzusetzen«, sagt er im<br />
Mai des gleichen Jahres, »im Westen ist es schwieriger, die <strong>Revolution</strong> zu beginnen, aber<br />
dort wird es leichter sein, sie fortzusetzen.« Im Dezember entwickelt Lenin den gleichen<br />
Gedanken vor einem Bauernauditorium, dem es am allerschwierigsten fällt, sich über<br />
nationale Grenzen hinwegzuversetzen: »Dort (im Westen) wird <strong>der</strong> Übergang zur sozialistischen<br />
Wirtschaft sich schneller und leichter vollziehen als bei uns ... Im Bunde mit dem<br />
sozialistischen Proletariat <strong>der</strong> ganzen Welt wird die russische werktätige Bauernschaft<br />
alle Unbilden überwinden...« - »Im Vergleich mit den fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n«,<br />
wie<strong>der</strong>holt er 1919, »war es den Russen leichter, die große proletarische <strong>Revolution</strong> zu<br />
beginnen, aber es wird ihnen schwieriger sein, sie fortzusetzen und zum endgültigen<br />
Siege zu führen, im Sinne <strong>der</strong> völligen Organisierung <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft.«<br />
»Rußland«, beharrt Lenin am 27. April 1920, »war es leicht, die sozialistische Revolu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 820
tion zu beginnen. aber sie fortzusetzen und zu Ende zu führen, wird Rußland schwerer<br />
fallen als den europäischen Län<strong>der</strong>n. Ich hatte bereits Anfang 1918 Gelegenheit, auf<br />
diese Tatsache hinzuweisen, und die zweijährige Erfahrung hat danach die Richtigkeit<br />
dieser Erwägung vollauf bestätigt...«<br />
Die Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> leben in Form von verschiedenen Kulturniveaus. Zur<br />
Überwindung <strong>der</strong> Vergangenheit ist Zeit nötig, nicht neue Jahrhun<strong>der</strong>te, aber Jahrzehnte.<br />
»Es ist fraglich, ob die nächste Generation, eine entwickeltere, den völligen Übergang<br />
zum Sozialismus vollziehen wird«, sagte Lenin in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees<br />
am 29. April 1918. Fast zwei Jahre später, auf dem Kongreß <strong>der</strong> landwirtschaftlichen<br />
Kommunen, nennt er noch fernerliegende Fristen: »Sofort die sozialistische Ordnung<br />
einführen - können wir nicht, gebe Gott, daß sie unter unseren Kin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> vielleicht<br />
Enkelkin<strong>der</strong>n bei uns errichtet wird.« Die russischeis Arbeiter hätten früher als die<br />
an<strong>der</strong>en den Weg betreten, würden aber später als die an<strong>der</strong>en ans Ziel kommen. Das ist<br />
nicht Pessimismus, son<strong>der</strong>n historischer Realismus.<br />
»...Wir, das Proletariat Rußlands, sind fortgeschrittener als ein England o<strong>der</strong> ein<br />
Deutschland unserem politischen Regime nach...«, schrieb Lenin im Mai 1918, »und<br />
gleichzeitig hinter dem rückständigstcn <strong>der</strong> westeuropäischen Staaten ... nach dem<br />
Grade <strong>der</strong> Vorbereitung für die materiell-industrielle Einführung des Sozialismus...«<br />
Dem gleichen Gedanken verleiht er bei einer Gegenüberstellung zweier Staaten<br />
Ausdruck: »Deutschland und Rußland verkörperten im Jahre 1918 am anschaulichsten<br />
die materielle Verwirklichung einerseits <strong>der</strong> ökonomischen, industriellen, gesellschaftswirtschaftlichen,<br />
an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> politischen Bedingungen des Sozialismus.« Die<br />
Elemente <strong>der</strong> zukünftigen Gesellschaft seien gleichsam zersplittert zwischen verschiedenen<br />
Län<strong>der</strong>n. »Sie zu sammeln und zueinan<strong>der</strong> in ein richtiges Verhältnis zu bringen, ist<br />
Aufgabe einer Reihe von nationalen Umwälzungen, die sich summieren zur Weltrevolution.«<br />
Den Gedanken an einen selbstgenügsamen Charakter <strong>der</strong> Sowjetwirtschaft hat Lenin<br />
im voraus verspottet! »Solange unser Sowjetrußland eine vereinzelte Grenzmark <strong>der</strong><br />
gesannen kapitalistischen Welt bleibt«, sagte er im Dezember 1920 auf dem VIII.<br />
Sowjetkongreß, »wäre <strong>der</strong> Gedanke an unsere völlige ökonomische Unabhängigkeit ...<br />
eine ganz lächerliche Phantasterei und Utopie.« Am 27. März 1922 warnte Lenin auf<br />
dem XI. Parteitag: uns steht bevor »ein Examen, das uns durch den <strong>russischen</strong> und den<br />
internationalen Markt auferlegt wird, von dem wir abhängen, mit dem wir verbunden<br />
sind, von dem wir uni nicht losreißen können; dieses Examen ist ernst, denn hier kann<br />
man uns sowohl ökonomisch wie politisch schlagen«.<br />
Den Gedanken an die Abhängigkeit <strong>der</strong> Sowjetwirtschaft von <strong>der</strong> Weltwirtschaft hält<br />
die Kommunistische <strong>Internationale</strong> heute für "konterrevolutionär": <strong>der</strong> Sozialismus<br />
könne nicht vom Kapitalismus abhängen! Die Epigonen waren so weise, zu vergessen,<br />
daß Kapitalismus wie Sozialismus sich auf internationale Arbeitsteilung stützen, die<br />
gerade im Sozialismus die höchste Blüte erreichen muß. Der wirtschaftliche Aufbau in<br />
einem isolierten Arbeiterstaate, so wichtig er an und für sich ist, wird beschnitten, beengt<br />
und wi<strong>der</strong>spruchsvoll bleiben: die Höhen einer neuen harmonischen Gesellschaft kann er<br />
nicht erreichen.<br />
»Der wahre Aufstieg <strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaft in Rußland«, schrieb Trotzki im<br />
Jahre 1922, »wird erst möglich werden nach dem Siege des Proletariats in den wichtig-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 821
sten Län<strong>der</strong>n Europas.« Diese Worte sind in den Anklageakt eingegangen; indessen<br />
hatten sie ihrerzeit einen allgemeinen Gedanken <strong>der</strong> Partei ausgedrückt. »Die Sache des<br />
Aufbaus«, sagt Lenin im Jahre 1919; »hängt völlig davon ab, wie schnell die <strong>Revolution</strong><br />
in den wichtigsten Län<strong>der</strong>n Europas siegen wird. Erst nach diesem Siege können wir<br />
ernstlich an die Sache des Aufbaus herangehen.« Diese Worte drückten nicht Unglauben<br />
an die russische <strong>Revolution</strong> aus, son<strong>der</strong>n Glauben an die Nähe <strong>der</strong> Weltrevolution. Aber<br />
auch jetzt, nach den größten wirtschaftlichen Erfolgen <strong>der</strong> Union, bleibt es richtig, daß<br />
<strong>der</strong> »wahre Aufstieg <strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaft« nur auf internationaler Basis möglich<br />
ist.<br />
Unter dem gleichen Gesichtswinkel betrachtete die Partei auch das Problem <strong>der</strong><br />
Kollektivisierung <strong>der</strong> Landwirtschaft. Das Proletariat kann die neue Gesellschaft nicht<br />
aufbauen, ohne durch eine Reihe von Übergangsstufen die Bauernschaft zum Sozialismus<br />
zu bringen, die einen bedeutenden, in einer Reihe von Län<strong>der</strong>n den überwiegenden<br />
Bevölkerungsteil und eine offenkundige Mehrheit auf dem ganzen Erdball darstellt. Die<br />
Lösung dieses schwierigsten aller Probleme hängt letzten Endes von den quantitativen<br />
und qualitativen Wechselbeziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft ab: die<br />
Bauernschaft wird um so williger und erfolgreicher den Weg <strong>der</strong> Kollektivisierung<br />
beschreiten, je freigebiger die Stadt imstande sein wird, die Ökonomik und Kultur <strong>der</strong><br />
Bauern zu befruchten.<br />
Gibt es aber eine für die Umgestaltung des Dorfes hinreichende Industrie? Lenin hat<br />
auch diese Aufgabe über die nationalen Grenzen hinausgeführt. »Betrachtet man die<br />
Frage im Weltmaßstabe«, sagte er auf dem IX. Sowjetkongreß, » - eine solche blühende<br />
Großindustrie, die die Welt mit allen Produkten versorgen kann, gibt es auf <strong>der</strong> Erde ...<br />
Wir legen das unseren Berechnungen zugrunde.« Das Verhältnis zwischen Industrie und<br />
Landwirtschaft, in Rußland unvergleichlich ungünstiger als in den Westlän<strong>der</strong>n, bleibt<br />
bis auf den heutigen Tag die Grundlage <strong>der</strong> ökononsischen und politischen Krisen, die in<br />
gewissen Momenten die Stabilität des Sowjetsystems bedrohen.<br />
Die Politik des sogenannten "Kriegskommunismus" beabsichtigte, wie aus dem Gesagten<br />
klar hervorgeht, keinesfalls den Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft in nationalen<br />
Grenzen: nur die Menschewiki, höhnend über die Sowjetmacht, schrieben ihr solche<br />
Absichten zu. Für die Bolschewiki stand das weitere Schicksal des spartanischen<br />
Regimes, aufgezwungen durch Wirtschaftszerfall und Bürgerkrieg, in direkter Abhängigkeit<br />
von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Westen. Im Januar 1919, auf <strong>der</strong> Höhe des<br />
Kriegskommunismus, sagte Lenin: »Wir werden die Grundlagen unserer kommunistischen<br />
Ernährungspolitik schützen und sie bis zu <strong>der</strong> Zeit unerschüttert erhalten, wo die<br />
Ära des vollen und internationalen Sieges des Kommunismus kommen wird.« Zusammen<br />
mit <strong>der</strong> ganzen Partei irrte Lenin. Man war gezwungen, die Ernährnngspobtik zu än<strong>der</strong>n.<br />
Es darf jetzt als feststehend gelten, daß, sogar wenn die sozialistische Umwälzung in<br />
Europa in den ersten zwei, drei Jahren nach dem Oktober gekommen wäre, <strong>der</strong> Rückzug<br />
auf den Weg <strong>der</strong> Nep ("Neuen ökonomischen Politik") dennoch unvermeidlich gewesen<br />
sein würde. Doch bei <strong>der</strong> rückblickenden Einschätzung <strong>der</strong> ersten Etappe <strong>der</strong> Diktatur<br />
wird es beson<strong>der</strong>s klar, bis zu welchem Grade sich die Methoden des Kriegskommunismus<br />
und seine Illusionen mit <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> eng verflochten.<br />
Die tiefe innere Krise am Ausgang <strong>der</strong> drei Bürgerkriegsjahre bedeutete die Bedrohung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 822
mit einem direkten Bruch zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen Partei und<br />
Proletariat. Es wurde eine radikale Revision <strong>der</strong> Methoden <strong>der</strong> Sowjetmacht notwendig.<br />
»...Wir müssen ökonomisch die mittlere Bauernschaft befriedigen und zur Freiheit des<br />
Warenverkehrs greifen«, setzte Lenin auseinan<strong>der</strong>, »an<strong>der</strong>nfalls ist die Erhaltung <strong>der</strong><br />
Macht des Proletariats in Rußland bei Verzögerung <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong><br />
unmöglich...« War aber vielleicht <strong>der</strong> Übergang zur Nep von dem prinzipiellen Bruch mit<br />
<strong>der</strong> Verknüpfung zwischen inneren und internationalen Problemen begleitet?<br />
Eine Gesamteinschätzung <strong>der</strong> beginnenden Etappe gab Lenin in seinen Thesen zum III.<br />
Kongreß <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>: »...Vom Standpunkte <strong>der</strong> proletarischen<br />
Weltrevolution als eines Gesamtprozesses besteht die Bedeutung <strong>der</strong> Epoche, die<br />
Rußland jetzt durchmacht, darin, daß das Proletariat, das die Staatsmacht in seinen<br />
Händen hält, seine Politik in bezug auf die kleinbürgerliche Masse praktisch anwendet<br />
und überprüft.« Schon die Kennzeichnung des Rahmens <strong>der</strong> Nep verwirft radikal das<br />
Problem des Sozialismus in einem Lande.<br />
Nicht weniger lehrreich sind jene Zeilen, die Lenin in den Tagen <strong>der</strong> Beratung und<br />
Ausarbeitung <strong>der</strong> neuen Wirtschafismethoden für sich aufnorierte: »Zehn - zwanzig<br />
Jahre richtiger Beziehungen zur Bauernschaft, und <strong>der</strong> Sieg im Weltmaßstabc ist<br />
gesichert (sogar bei Verzögerung <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>en, die heranwachsen).«<br />
Das Ziel ist gestellt: sich den neuen längeren Fristen anpassen, die nötig werden können<br />
für das Heranreifen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> im Westen. In diesem und nur in diesem Sinne sprach<br />
Lenin die Überzeugung aus, daß »aus dem Rußland <strong>der</strong> Ncp ein sozialistisches Rußland<br />
werden wird«.<br />
Es ist noch zuwenig, wenn man sagt, die Idee <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> wurde<br />
nicht revidiert; in gewissem Sinne erhält sie jetzt tieferen und klareren Ausdruck. »In<br />
Län<strong>der</strong>n des entwickelten Kapitalismus«, sagt Lenin auf dem X. Parteitag, den historischen<br />
Platz <strong>der</strong> Nep erläuternd, »gibt es eine im Laufe von Jahrzehnten herausgebildete<br />
Klasse <strong>der</strong> lapdwirtsehaftlichen Lohnarbeiter ... Wo diese Klasse genügend entwickelt<br />
ist, ist <strong>der</strong> Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus möglich. Wir unterstrichen in<br />
einer Reihe von Werken, in allen unseren Reden, in <strong>der</strong> gesamten Presse, daß es sich in<br />
Rußland nicht so verhält, daß wir in Rußland vielmehr eine Min<strong>der</strong>heit von Arbeitern in<br />
<strong>der</strong> Industrie und eine gewaltige Mehrheit kleiner Bodenbesitzer haben. Die soziale<br />
<strong>Revolution</strong> kann in einem solchen Lande nur unter zwei Bedingungen von endgültigem<br />
Erfolg sein: Erstens, daß sie rechtzeitig durch die soziale <strong>Revolution</strong> in einem o<strong>der</strong><br />
mehreren fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>n unterstützt wird... Die zweite Bedingung - ist das<br />
Einvernehmen zwischen dem Proletariat, das die Staatsmacht in seiner Hand hält, und<br />
<strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Bauernbevölkerung ... Nur die Einigkeit mit <strong>der</strong> Bauernschaft kann die<br />
sozialistische <strong>Revolution</strong> in Rußland retten, solange die <strong>Revolution</strong> in den an<strong>der</strong>en<br />
Län<strong>der</strong>n nicht gekommen ist.« Alle Elemente des Problems sind in eins verknüpft. Das<br />
Bündnis mit <strong>der</strong> Bauernschaft kt notwendig für das Bestehen <strong>der</strong> Sowjetmacht, aber es<br />
ersetzt die internationale <strong>Revolution</strong> nicht, die allein die ökonomische Basis <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Geseflschaft schaffen kann.<br />
Auf dem gleichen X. Kongreß gibt es, diktiert durch die Verzögerung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
im Westen, noch ein beson<strong>der</strong>es Referat: »Die Sowjetrepublik in kapitalistischer Umzingelung.«<br />
Als Referent des Zentralkomitees spricht Kamenjew. »Niemals haben wir uns<br />
zur Aufgabe gestellt«, sagt er wie etwas für alle Unbestreitbares, »die kommunistische<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 823
Gesellschaftsordnung in einem isolierten Lande aufzubauen. Doch wurden wir in die<br />
Lage versetzt, daß wir das Fundament <strong>der</strong> kommunistischen Gesellschaftsordnung, das<br />
Fundament des sozialistischen Staates, die proletarische Sowjetrepublik, von allen Seiten<br />
umgeben von kapitalistischen Beziehungen, unbedingt halten müssen. Werden wir diese<br />
Aufgabe lösen? Ich glaube, das ist eine scholastische Frage. Auf eine solche Fragestellung<br />
kann man keise Antwort geben. Die Frage steht so: Wie ist die Sowjetmacht unter<br />
den gegebenen Verhältnissen zu halten, und zwar zu halten bis zu dem Moment, wo das<br />
Proletariat des einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Landes uns zu Hilfe kommt?« Wenn die Ideen des<br />
Referenten, <strong>der</strong> seinen Konspekt zweifellos mehr als einmal mit Lenin in Übereinstimmung<br />
gebracht hat, im Wi<strong>der</strong>spruch zur Tradition des Bolschewismus standen, wie<br />
konnte dann <strong>der</strong> Parteitag nicht protestieren? Wieso fand sich kein einziger Delegierter,<br />
<strong>der</strong> darauf hinwies, daß Kamenjew in <strong>der</strong> Kernfrage <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> Ansichten<br />
entwickelt, die mit den Ansichten des Bolschewismus »nichts gemein« haben? Wie<br />
konnte in <strong>der</strong> ganzen Partei niemand diese Ketzerei entdecken?<br />
»Nach Lenin«, behauptet Stalin, »schöpft die <strong>Revolution</strong> ihre Kräfte vor allem bei den<br />
Arbeitern und Bauern Rußlands. Bei Trotzki aber ergibt sich, daß man die notwendigen<br />
Kräfte nur in <strong>der</strong> Arena <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution schöpfen kann.« Auf diese<br />
Gegenüberstellung, wie auf vieles an<strong>der</strong>e, hatte Lenin im voraus geantwortet: »Wir<br />
haben für keine Minute vergessen und vergessen auch jetzt nicht«, sagte er am 14. Mai<br />
1918 in einer Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees, »die Schwäche <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
Arbeiterklasse im Vergleich zu den an<strong>der</strong>en Abteilungen des internationalen Proletariats<br />
... Aber wir müssen auf diesem Posten ausharren, bis unser Verbündeter, das internationale<br />
Proletariat, erscheint.« Am dritten Jahrestag <strong>der</strong> Oktoberumwälzung bekräftigte<br />
Lenin: »Unser Einsatz war ein Einsatz auf die internationale <strong>Revolution</strong>, und dieser<br />
Einsatz war unbedingt richtig ... Wir haben stets betont, daß man in einem Lande eine<br />
solche Sache wie die sozialistische <strong>Revolution</strong> nicht vollbringen kann...« Im Februar<br />
1921 erklärte Lenin auf einem Arbeiterkongreß <strong>der</strong> Bekleidungsindustrie: »Wir haben<br />
immer und immer wie<strong>der</strong> die Arbeiter darauf hingewiesen, daß die grundlegendste,<br />
wichtigste Aufgabe und die Kernbedingung unseres Sieges die Ausdehnung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
auf mindestens einige fortgeschrittenere Län<strong>der</strong> ist.« Nein, Lenin ist durch sein<br />
beharrliches Bestreben, Kräfte in <strong>der</strong> Weltrevolution zu »schöpfen«, zu stark kompromittiert:<br />
man kann ihn nicht reinwaschen!<br />
In ähnlicher Weise, wie man Trotzki Lenin gegenüberstellt, wird Lenin Marx gegenübergestellt<br />
und mit gleichem Recht. Daß Marx vermutet hat, die proletarische <strong>Revolution</strong><br />
werde in Frankreich beginnen, aber nur und unbedingt in England abschließen, läßt<br />
sich nach Stalin damit erklären, daß Marx das Gesetz <strong>der</strong> ungleichmäßigen Entwicklung<br />
noch nicht kannte. In Wirklichkeit ist Marxens Prognose, die ein Land <strong>der</strong> revolutionären<br />
Initiative einem Lande <strong>der</strong> sozialistischen Vollendung gegenüberstellt, völlig auf dem<br />
Gesetz <strong>der</strong> ungleichmäßigen Entwicklung aufgebaut. Jedenfalls hat Lenin, dem die Art,<br />
in großen Fragen etwas zu verschweigen, ganz fremd war, nie und nirgends eine von<br />
Marx und Engels abweichende Meinung bezüglich des internationalen Charakters <strong>der</strong><br />
<strong>Revolution</strong> geäußert. Ganz im Gegenteil! Wenn »die Sache an<strong>der</strong>s gekommen ist, als es<br />
Marx und Engels erwartet haben«, sagte Lenin auf dem III. Sowjetkongreß, »so nur in<br />
Hinsicht <strong>der</strong> historischen Aufeinan<strong>der</strong>folge« <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>: das russische Proletariat erhielt<br />
durch den Gang <strong>der</strong> Dinge »die ehrenvolle Rolle <strong>der</strong> Avantgarde <strong>der</strong> internationalen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 824
sozialistischen <strong>Revolution</strong>, und wir sehen jetzt klar, wie die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
weitergehen wird: <strong>der</strong> Russe hat begonnen - <strong>der</strong> Deutsche, <strong>der</strong> Franzose, <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong><br />
werden die Sache zu Ende führen, und <strong>der</strong> Sozialismus wird siegen...«<br />
Ferner lauert auf uns ein Argument des Staatsprestiges: die Verneinung <strong>der</strong> Theorie<br />
vom nationalen Sozialismus "führt", nach Stalins Worten, »zur Entthronung unseres<br />
Landes«. Allein schon diese für ein marxistisches Ohr unerträgliche Phraseologie verrät<br />
die ganze Tiefe des Bruches mit <strong>der</strong> bolschewistischen Tradition. Nicht »Entthronung«<br />
fürchtete Lenin, son<strong>der</strong>n nationale Prahlerei. »Wir sind«, lehrte er im April 1918 in einer<br />
Sitzung des Moskauer Sowjets, »eine <strong>der</strong> revolutionären Abteilungen <strong>der</strong> Arbeiterklasse,<br />
die vorgerückt ist, nicht weil wir besser sind als die an<strong>der</strong>en ..., son<strong>der</strong>n nur und<br />
ausschließlich darum, weil wir eins <strong>der</strong> rückständigsten Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Welt waren ... Wir<br />
werden zum vollen Siege nur gemeinsam mit den Arbeitern <strong>der</strong> übrigen Län<strong>der</strong>, mit den<br />
Arbeitern <strong>der</strong> ganzen Welt kommen.«<br />
Der Appell an die nüchterne Selbsteinschätzung wird zum Leitmotiv <strong>der</strong> Leninscheis<br />
Reden. »Die russische <strong>Revolution</strong>«, sagt er am 4. Juni 1918, »...ist keinesfalls durch ein<br />
beson<strong>der</strong>es Verdienst des <strong>russischen</strong> Proletariats, son<strong>der</strong>n ... durch den Gang ... <strong>der</strong><br />
historischen Ereignisse hervorgerufen, und dieses Proletariat ist durch den Willen <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> vorübergehend an den ersten Platz gestellt und für eine gewisse Zeit zur<br />
Avantgarde <strong>der</strong> Weltrevolution gemacht.« - »Die erste Rolle des <strong>russischen</strong> Proletariats<br />
in <strong>der</strong> internationalen Arbeiterbewegung«, sagt Lenin auf einer Konferenz <strong>der</strong> Fabrikkomitees<br />
am 23. Juli 1918, »wird nicht durch die wirtschaftliche Fortgeschrittenheit des<br />
Landes erklärt; ganz im Gegenteil: durch die Rückständigkeit Rußlands ... Das russische<br />
Proletariat ist sich dessen klar bewußt, daß die notwendige Bedingung sind die Grundvoraussetzung<br />
seines Sieges das vereinte Auftreten <strong>der</strong> Arbeiter <strong>der</strong> ganzen Welt o<strong>der</strong><br />
einiger in kapitalistischer Hinsicht fortgeschrittener Län<strong>der</strong> ist.« Die Oktoberumwälzung<br />
ist natürlich nicht nur allein durch die Rückständigkeit Rußlands hervorgerufen worden,<br />
und Lenin wußte das sehr wohl. Aber er überbiegt den Stock absichtlich, um ihn geradezurichten.<br />
Auf <strong>der</strong> Tagung <strong>der</strong> Volkswirtschaftsräte, das heißt jener speziell für den Aufbau des<br />
Sozialismus berufenen Organe, sagt Lenin am 26. Mai 1918: »Wir schließen die Augen<br />
nicht davor, daß wir die sozialistische <strong>Revolution</strong> in einem Lande, auch wenn es viel<br />
weniger rückständig wäre als Rußland mit den eigenen Kräften nicht vollständig durchführen<br />
können.« Auch hier den späteren Stimmen <strong>der</strong> bürokratischen Heuchelei zuvorkommend,<br />
setzt <strong>der</strong> Redner auseinan<strong>der</strong>: »Das kann nicht einen Tropfen Pessimismus<br />
erzeugen, denn die Aufgabe, die wir uns stellen, ist eine Aufgabe von welthistorischer<br />
Schwierigkeit.«<br />
Auf dem VI. Sowjetkongreß, am 8. November, sagt er: »Ein voller Sieg <strong>der</strong> sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> ist undenkbar in einem Lande, son<strong>der</strong>n erfor<strong>der</strong>t aktivsie Kampfgcnossenschaft<br />
mindestens einiger fortgeschrittener Län<strong>der</strong>, zu denen wir Rußland nicht<br />
zählen können...« Lenin verweigett Russland nicht nur das Recht auf seinen eigenen<br />
Sozialismus, son<strong>der</strong>n weist ihm demonstrativ einen zweitrangigen Platz an beim Aufbau<br />
des Sozialismus durch an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>. Welch verbrecherische »Entthronung unseres<br />
Landes«!<br />
Im März 1919, auf dem Parteitag, weist Lenin die Übermütigen zurecht: »Wir besitzen<br />
eine praktische Erfahrung über die Verwirklichung <strong>der</strong> ersten Schritte zur Vernichtung<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 825
des Kapitalismus in einem Lande mit einem beson<strong>der</strong>en Verhältisis zwischen Proletariat<br />
und Bauernschaft. Mehr nicht. Wenn wir aus uns einen Frosch machen wollten, keuchen<br />
und uns aufblähen, wir würden das Gespött <strong>der</strong> ganzen Welt sein, wir würden einfach<br />
Prahler sein.« Kann das jemand kränken? »Hat denn«, ruft Lenin am 19. Mai 1921 aus,<br />
»jemals ein Bolschewik bestritten, daß die <strong>Revolution</strong> in endgültiger Form nur dann<br />
siegen kann, wenn sie alle o<strong>der</strong> wenigstens einige <strong>der</strong> fortgeschrittensten Län<strong>der</strong> erfaßt!«<br />
Im November 1920, auf <strong>der</strong> Moskauer Gouvernements-Konferenz <strong>der</strong> Partei, erinnert er<br />
wie<strong>der</strong> daran, daß die Bolschewiki we<strong>der</strong> versprochen noch davon geträumt haben, »mit<br />
Rußlands Kräften allein die ganze Welt zu verän<strong>der</strong>n ... Zu einem solchen Wahnsinn<br />
haben wir uns niemals verstiegen, son<strong>der</strong>n immer gesagt, daß unsere <strong>Revolution</strong> Siegen<br />
wird, wenn die Arbeiter aller Län<strong>der</strong> sie unterstützen werden.«<br />
»Wir haben«, schreibt er Anfang 1922, »nicht einmal das Fundament <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Ökonomik zu Ende geführt. Das können die uns feindlichen Kräfte des sterbenden<br />
Kapitalismus noch zurückholen. Man muß sich dessen klar bewußt werden und es<br />
offen gestehen, denn nichts ist gefährlicher als Illusionen und Kopfschwindel, beson<strong>der</strong>s<br />
in großer Höhe. Und es ist nichts "Schreckliches", nichts, was berechtigten Anlaß<br />
zum geringsten Kleinmut gibt, im Geständnis dieser bitteren Wahrheit; denn wir haben<br />
stets anerkannt und jene ABC-Wahrheit des Marxismus wie<strong>der</strong>holt, daß für den Sieg<br />
des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen <strong>der</strong> Arbeiter einiger fortgeschrittener<br />
Län<strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lich sind.«<br />
Nach etwas über zwei Jahren wird Stalin vom Marxismus die Preisgabe dieser<br />
Kernfrage verlangen. Der Grund? Marx sei in Unkenntnis gewesen hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> Entwicklung, das heißt, des elementarsten Gesetzes <strong>der</strong> Dialektik<br />
<strong>der</strong> Natur wie <strong>der</strong> Gesellschaft. Aber was soll man mit Lenin anfangen, <strong>der</strong> nach Stalin<br />
angeblich als erster an <strong>der</strong> Erfahrung des Imperialismus das Gesetz <strong>der</strong> Ungleichmäßigkeit<br />
»entdeckte« und trotzdem an <strong>der</strong> "ABC-Wahrheit des Marxismus" festhielt! Vergeblich<br />
würden wir eine Erklärung suchen.<br />
»Der Trotzkismus ging und geht«, nach dem Schuldsprueh <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>,<br />
»davon aus, daß unsere <strong>Revolution</strong> an sich [!] im Kern <strong>der</strong> Sache keine sozialistische<br />
bedeutet, daß die Oktoberrevolution nur Signal, Vorstoß und Ausgangspunkt <strong>der</strong><br />
sozialistischen <strong>Revolution</strong> im Westen ist« Die nationale Entartung wird hier in reinste<br />
Scholastik gehüllt. Die Oktoberrevolution »an sich« existiert überhaupt nicht. Sie wäre<br />
unmöglich gewesen ohne die ganze vorangegangene <strong>Geschichte</strong> Europas, und sie wäre<br />
hoffnungslos ohne Fortsetzung in Europa und in <strong>der</strong> ganzen Welt ... »Die russische<br />
<strong>Revolution</strong> ist nur ein Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong>« (Lenin). Ihre<br />
Stärke liegt gerade darin, worin die Epigonen ihre »Entthronung« erblicken. Eben darum<br />
und nur darum, weil sie kein selbstgenügsames Ganzes, son<strong>der</strong>n »Signal«, »Vorstoß«,<br />
»Ausgangspunkt«, »Glied« ist, gewinnt sie sozialistischen Charakter.<br />
»Gewiß ist <strong>der</strong> endgültige Sieg des Sozialismus in einem Lande nicht möglich«, sagte<br />
Lenin auf dem III. Sowjetkongreß im Januar 1918, dafür aber ist ein an<strong>der</strong>es möglich:<br />
»das lebendige Beispiel, das Schreiten zur Tat in einem Lande - das ist es, was die<br />
werktätigen Massen in allen Län<strong>der</strong>is entflammt.« Im Juli in <strong>der</strong> Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees:<br />
»Unsere Aufgabe ist jetzt ... diese Fackel des Sozialismus ... nicht aus<br />
den Händen zu lassen, damit sie möglichst viel Funken ausstreut für den um sich greifenden<br />
Brand <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong>.« Einen Monat später, auf einem Arbeitermeeting<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 826
»Die <strong>Revolution</strong> (die europäische) wächst heran ... Und wir müssen die Sowjetmacht<br />
halten bis zu ihrem Beginn, unsere Fehler müssen dem Westproletariat als Lehre<br />
dienen.« Noch einige Tage später, auf dem Kongreß <strong>der</strong> Volksbildungsarbeiter: »Die<br />
russische <strong>Revolution</strong> ist nur ein Beispiel, nur <strong>der</strong> erste Schritt in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>en.«<br />
Im März 1919, auf dem Parteitag: »Die russische <strong>Revolution</strong> war im wesentlichen<br />
eine Generalprobe ... <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution.« Nicht <strong>Revolution</strong> »an sich«,<br />
son<strong>der</strong>n Fackel, Lehre, nur Beispiel, nur erster Schritt, nur Glied! Kein fertiges Schauspiel,<br />
son<strong>der</strong>n nur Generalprobe! Welch beharrliche und grausame »Entthronung«!<br />
Aber Lenin bleibt auch dabei nicht stehen. »Träte <strong>der</strong> Fall ein«, sagte er am 8. November<br />
1918, »daß wir plötzlich hinweggefegt würden ... wir hätten das Recht zu sagen, ohne<br />
die Fehler zu verheimlichen, daß wir jenen Zeitabschnitt, den uns das Schicksal gewährte,<br />
im vollen Maße für die sozialistische Weltrevolution ausgenutzt haben.« Wie fern ist<br />
das nach Denkmethode und politischer Psychologie von <strong>der</strong> prahlerischen Selbstzufriedenheit<br />
<strong>der</strong> Epigonen, die sich ewiger Nabel <strong>der</strong> Erde dünken.<br />
Das Trügerische in <strong>der</strong> Kernfrage führt, ist das politische Interesse gezwungen, sich<br />
daran zu klammern, zu unzähligen sich daraus ergebenden Fehlern und gestaltet allmählich<br />
das ganze Denken um. »...Unsere Partei hat nicht das Recht, die Arbeiterklasse zu<br />
betrügen«, sagte Stalin im Plenum des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />
im Jahre 1926, »sie hätte die Pflicht, offen zu sagen, daß die fehlende Überzeugung<br />
von <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaues des Sozialismus in unserem Lande zum Rücktritt<br />
von <strong>der</strong> Macht und zum Übergang unserer Partei aus <strong>der</strong> Lage einer Regierungs- in die<br />
Lage einer Oppositionspartei führen muß...« Die Kommunistische <strong>Internationale</strong> kanonisierte<br />
diese Ansicht in ihrer Resolution: »Die Verneinung dieser Möglichkeit (<strong>der</strong> sozialistischen<br />
Gesellschaft in einem Lande) seitens <strong>der</strong> Opposition ist nichts an<strong>der</strong>es als die<br />
Verneinung <strong>der</strong> Voraussetzungen für die sozialistische <strong>Revolution</strong> in Rußland.« »Voraussetzungen«<br />
bedeutet hier nicht Gesamtzustand <strong>der</strong> Weltwirtschaft, nicht innere Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
des Imperialismus, nicht das Klassenverhältnis in Rußland, son<strong>der</strong>n eine im<br />
voraus geleistete Garantie für die Durelsführbarkeit des Sozialismus in einem Lande!<br />
Auf den von den Epigonen 1926 aufgestellten teleologischen Einwand kann man mit<br />
den gleichen Erwägungen antworten, wie wir im Frühling 1905 den Menschewiki<br />
antworteten. »Stellt die objektive Entwicklung des KIassenkassspfes in einem gewissen<br />
Moment <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> vor das Proletariat die Alternative: Rechte und Pflichten <strong>der</strong><br />
Staatsmsacht auf sich zu nehmen o<strong>der</strong> seine Klassenposition aufzugeben, dann betrachtet<br />
die Sozialdemokratie die Eroberung <strong>der</strong> Staatsmacht als ihre nächste Aufgabe. Sie<br />
ignoriert dabei nicht im geringsten die objektiven Entwicklungsprozesse tieferer Art, die<br />
Wachstums- und Konzentrationsprozesse <strong>der</strong> Produktion, aber sie sagt: Wenn die Logik<br />
des Klassenkampfes, <strong>der</strong> sich letzten Endes auf den Gang <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung<br />
stützt, das Proletariat zur Diktatur stößt, bevor die Bourgeoisie ihre ökonomische<br />
Mission erschöpft hat ..., dann bedeutet das nur, daß die <strong>Geschichte</strong> dem Proletariat<br />
gewaltig schwere Aufgaben aufbürdet. Vielleicht wird das Proletariat im Kampfe sogar<br />
zusammenbrechen, unter ihrer Last hinsinken - vielleicht. Aber es kann auf diese Aufgaben<br />
nicht verzichten bei Strafe <strong>der</strong> Klassenzersetzung und des Versinkens des ganzen<br />
Landes in Barbarei.« Dem könnten wir auch jetzt nichts hinzufügen.<br />
»...Ein nicht gutzumachen<strong>der</strong> Fehler«, schrieb Lenin im Mai 1918, »wäre es, zu erklären,<br />
daß, wenn man das Mißverhältnis zwischen unseren ökonomischen und unseren<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 827
politischen Kräften eingestehe, man dann "folglich" die Macht nicht annehmen dürfe ...<br />
So urteilen "Menschen im Futteral", die nicht daran denken, daß ein "richtiges Verhältnis"<br />
niemals bestehen wird, daß es ein solches we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Naturentwicklung noch in<br />
<strong>der</strong> Gesellschaftsentwicklung geben kann, daß nur durch eine Reihe von Versuchen - von<br />
denen je<strong>der</strong>, einzeln genommen, einseitig sein, unter einem gewissen Mißverhältnis<br />
leiden wird - in revolutionärer Bundesgenossensehaft <strong>der</strong> Proletarier aller Län<strong>der</strong> ein<br />
unversehrter Sozialismus entstehen kann.« Die Schwierigkeiten <strong>der</strong> internationalen<br />
<strong>Revolution</strong> werden überwunden nicht durch passive Anpassung, nicht durch Verzicht auf<br />
die Macht, nicht durch nationales Warten auf den allgemeinen Aufstand, son<strong>der</strong>n durch<br />
die lebendige Tat, die Überwindung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche, durch den dynamischen Kampf<br />
und die Verbreitung seines Radius'.<br />
Nimmt man die historische Philosophie <strong>der</strong> Epigonen ernst, dann hätten die Bolschewiki<br />
am Vorabend des Oktobers im voraus wissen müssen: sowohl daß man sich gegen<br />
eine Unzahl von Feindcn werde halten können, wie daß man vom Kriegskommunismus<br />
zur Nep übergehen und im Notfalle seirsen eigenen nationalen Sozialismus aufbauen<br />
werde; kurz, ehe sie daran gingen, die Macht zu übernehmen, hätten sie eine genaue<br />
Bilanz ziehen und das Aktiv-Saldo berechnen müssen. Was indes in Wirklichkeit<br />
geschah, ähnelte sehr wenig dieser frommen Karikatur.<br />
Im Bericht auf dem Parteitag im März 1919 sagte Lenin: »Wir mußten uns stets tastend<br />
vorwärtsbewegen. Diese Tatsache ist am augenfälligsten, wenn wir versuchen, das<br />
Durchlebte mit einem Blick zu erfassen. Doch hat uns das sogar am 10. Oktober 1917<br />
nicht im geringsten schwankend gemacht, als die Frage <strong>der</strong> Machtergreifung zur<br />
Entscheidung stand. Wir zweifelten nicht, daß wir gezwungen sein würden, nach dem<br />
Ausdruck des Genossen Trotzki, zu experimentieren - eineis Versuch zu machen. Wir<br />
unternahmen eine Sache, wie sie in solchem Maßstabe noch keiner unternonsosen<br />
hat.« Und weiter: »Wer hätte jemals eine <strong>der</strong> größten <strong>Revolution</strong>en machen und im<br />
voraus wissen können, wie sie zu Ende führen? Woher ist ein solches Wissen zu holen?<br />
Man kann es aus Büchern nielst schöpfen. Solche Bücher gibt es nicht. Nur aus <strong>der</strong><br />
Erfahrung <strong>der</strong> Massen konnte unser Entschluß geboren werden.«<br />
Eine Garantie, daß man in Rußland eine sozialistische Gesellschaft aufbauen kann,<br />
haben die Bolschewiki nicht gesucht, sie hatten sie nicht nötig, mit ihr war nichts<br />
anzufangen, sie wi<strong>der</strong>sprach allem, was sie in <strong>der</strong> Schule des Marxismus gelernt hatten.<br />
»Die Taktik <strong>der</strong> Bolschewiki«, schrieb Lenin gegen Kautsky, »war die einzig internationalistische<br />
Taktik, denn sie beruhte nicht auf ängstlicher Furcht vor <strong>der</strong> Weltrevolution,<br />
nicht auf spießbürgerlichem Unglauben an sie...« Die Bolschewiki »setzten das<br />
Maximum des in einem Lande zu Verwirklichenden durch zwecks Entwicklung, Unterstützuisg<br />
und Erweckung <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in allen Län<strong>der</strong>n«. Bei dieser Taktik war es<br />
unmöglich, im voraus eine unfehlbare Marschronte zu entwerfen, und noch weniger<br />
konnte man sieh seines nationalen Sieges versichern. Aber die Bolschewiki wußten:<br />
Gefahr ist ein Element <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> wie des Krieges. Mit offenen Augen gingen sie<br />
den Gefahren entgegen.<br />
Während er dem Weltproletariat vorwurfsvoll als Beispiel anführte, wie kühn die<br />
Bourgeoisie im Namen eigener Interessen Kriege riskiert, brandmarkte Lenin voller Haß<br />
jene <strong>Sozialisten</strong>, die »Angst haben, den Kampf zu beginnen, bevor nicht <strong>der</strong> leichte Sieg<br />
"garantiert" ist ... Eine dreifache Verachtung verdienen jene Knoten des internationalen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 828
Sozialismus, jene Lakaien <strong>der</strong> bürgerlichen Moral, die so denken«. Bekanntlich machte<br />
sich Lenin nicht viel Mühe bei <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Ausdrücke, wenn Empörung ihm die Kehle<br />
würgte.<br />
»Und was tun«, forscht Stalin, »wenn es <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong> beschieden ist,<br />
mit Verspätung einzutreffen? Gibt es irgendeinen Ausblick für unsere <strong>Revolution</strong>?<br />
Trotzki läßt keinen Ausblick.« Die Epigonen for<strong>der</strong>n für das russische Proletariat historische<br />
Privilegien: es muß fertige Geleise haben, um sich ununterbrochen zum Sozialismus<br />
zu bewegen, unabhängig davon, was mit <strong>der</strong> übrigen Menschheit geschieht. Lei<strong>der</strong> hat<br />
die <strong>Geschichte</strong> solche Geleise nicht vorbereitet. »Im welthistorischen Maßstabe<br />
gesehen«, sagte Lenin auf dem VII. Parteitag, »unterliegt es keinem Zweifel, daß <strong>der</strong><br />
Ensdsieg unserer <strong>Revolution</strong>, bliebe sie vereinsamt ... hoffnungslos wäre.«<br />
Aber auch in diesem Fall wäre sie nicht unfruchtbar gewesen. »Sogar wenn die<br />
bolschewistische Macht morgen von den Imperialisten gestürzt werden sollte«, sagte<br />
Lenin im Mai 1919 auf dem Pädagogenkongreß, »wir würden nicht eine Sekunde bereuen,<br />
sie ergriffen zu haben. Und nicht ein einziger fortgeschrittener Arbeiter ... wird es<br />
bereuen, wird daran zweifeln, daß unsere <strong>Revolution</strong> nichtsdestoweniger gesiegt hat.«<br />
Denn Lenin sieht den Sieg nur in <strong>der</strong> internationalen Kontinuität <strong>der</strong> Entwicklung und<br />
des Kampfes. »Die neue Gesellschaft ... ist eine Abstraktion, die nicht an<strong>der</strong>s Leben<br />
erhalten kann als durch eine Reihe mannigfaltiger, unvollkommener, konkreter<br />
Versuche, den einen o<strong>der</strong> den an<strong>der</strong>en sozialistischen Staat zu schaffen.« Die deutliche<br />
Scheidung und im gewissen Sinne Gegenüberstellung von »sozialistischem Staat« und<br />
»neuer Gesellschaft« gibt den Schlüssel zu zahlreichen Mißbräuchen, die die Epigonenliteratur<br />
mit den Leninsehen Texten treibt.<br />
Mit äußerster Einfachheit setzte Lenin am Schluß des fünften Jahres <strong>der</strong> Machteroberong<br />
den Sinn <strong>der</strong> bolschewistischen Strategie auseinan<strong>der</strong>. »Als wir seinerzeit die internationale<br />
<strong>Revolution</strong> begannen, taten wir das nicht aus <strong>der</strong> Überzeugung heraus, daß<br />
wir ihrer Entwicklung zuvorkommen könnten, sori<strong>der</strong>n weil eine ganze Reihe von<br />
Umständen uns bewog, diese <strong>Revolution</strong> zu beginnen. Wir dachten: entwe<strong>der</strong> wird uns<br />
die internationale <strong>Revolution</strong> zu Hilfe kommen, dann sind unsere Siege vollauf gesichert,<br />
o<strong>der</strong> aber wir werden unsere bescheidene revolutionäre Arbeit weiter tun im Bewußtsein,<br />
daß wir, im Falle einer Nie<strong>der</strong>lage, trotzdem <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> dienen und daß<br />
unsere Erfahrung den an<strong>der</strong>en <strong>Revolution</strong>en nützlich sein wird. Es war uns klar, ohne<br />
Unterstützung seitens <strong>der</strong> internationalen, <strong>der</strong> Weltrevolution, ist ein Sieg <strong>der</strong> proletarischen<br />
<strong>Revolution</strong> unmöglich. Schon vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> und auch später haben wir<br />
gedacht: gleich o<strong>der</strong> doch wenigstens sehr bald wird die <strong>Revolution</strong> in den übrigen<br />
kapitalistisch entwickelteren Län<strong>der</strong>n beginnen, an<strong>der</strong>nfalls sind wir verloren. Trotz<br />
dieser Einsicht taten wir alles, um unter allen Umständen und um jeden Preis das<br />
Sowjetsystem zu halten, da wir wußten, daß wir nicht nur für uns allein arbeiten, son<strong>der</strong>n<br />
auch für die internationale <strong>Revolution</strong>. Wir wußten das, wir haben diese Überzeugung<br />
wie<strong>der</strong>holt ausgesprochen, vor <strong>der</strong> Oktoberrevolution wie auch unmittelbar nach ihr, wie<br />
auch in <strong>der</strong> Zeit des Brest-Litowsket Friedensabschlusses, Und das war, allgemein<br />
gesprochen, richtig.« Die Fristen hatten sieh verschoben, die Konturen <strong>der</strong> Ereignisse<br />
sich in vielem ungeahnt gestaltet, doch die Grundorientierung war unverän<strong>der</strong>t<br />
geblieben.<br />
Was läßt sich diesen Worten hinzufügen? »Wir begannen ... die internationale Revolu-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 829
tion.« Tritt die Umwälzung im Westen nicht »gleich o<strong>der</strong> wenigstens sehr bald ein«,<br />
dachten die Bolschewiki, »sind wir verloren«. Aber auch in diesem Falle wird die<br />
Machteroberung gerechtfertigt sein: aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Zugrundegegangenen werden<br />
an<strong>der</strong>e lernen. »Wir arbeiten nicht nur für uns, son<strong>der</strong>n auch für die internationale<br />
<strong>Revolution</strong>.« Diese vom Internationalismus völlig durchdrungenen Ideen setzte Lenin auf<br />
einem Kongreß <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> auseinan<strong>der</strong>. Wi<strong>der</strong>sprach ihm<br />
jemand? Erwähnte jemand die Möglichkeit einer nationalen sozialistischen Gesellschaft?<br />
Keiner und nicht mit einem Wort!<br />
Fünf Jahre später, im VII. Plenum des Exekutivkomitees <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong>,<br />
entwickelte Stalin Betrachtungen gerade entgegengesetzten Charakters. Sie<br />
sind uns bereits bekannt: bestehe keine »Überzeugung von <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaus<br />
des Sozialismus in einem Lande«, dann müsse die Partei übergehen »von <strong>der</strong> Lage einer<br />
Regierungs- in die Lage einer Oppositionspartei...« Man müsse sich vorerst des Erfolges<br />
versichern, bevor man die Macht nimmt; diese Versicherung sei nur in den nationalen<br />
Bedingungen zu suchen erlaubt; man müsse von <strong>der</strong> Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus<br />
im bäuerlichcn Rußland überzeugt sein; dafür aber könne man ohne die Überzeugung<br />
von dem Sieg des Weltproletariats auskommen. Jedes dieser logischen Glie<strong>der</strong><br />
schlägt <strong>der</strong> Tradition des Bolschewismus ins Gesicht!<br />
Zur Verschleierung des Bruches mit <strong>der</strong> Vergangenheit versuchte die Stalinsche<br />
Schule einige Leninsche Zeilen auszunutzen, die ihr am wenigsten unpassend schienen.<br />
Ein Artikel von 1915 über die Vereinigten Staaten von Europa enthält nebenbei die<br />
Bemerkung, die Arbeiterklasse müsse in jedem Lande die Macht erobern und zum sozialistischen<br />
Aufbau schreiten, ohne auf die an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong> zu warten. Verbirgt sich hinter<br />
diesen unbestreitbaren Zeilen <strong>der</strong> Gedanke an eine nationale sozialistische Gesellschaft,<br />
wie konnte ihn Lenin im Laufe <strong>der</strong> folgenden Jahre so gründlich vergessen und ihm auf<br />
Schritt und Tritt so beharrlich wi<strong>der</strong>sprechen? Doch man braucht nicht zu indirekten<br />
Argumenten zu greifen, wenn es direkte gibt. Die von Lenin im gleichen Jahre, 1915,<br />
ausgearbeiteten Programmthesen beantworten die Frage präzis und unmittelbar:<br />
»Aufgabe des <strong>russischen</strong> Proletariats ist - die bürgerlich-demokratische <strong>Revolution</strong> in<br />
Rußland zu Ende zu führen, um die sozialistische <strong>Revolution</strong> in Europa zu entfachen.<br />
Diese zweite Aufgabe hat sich jetzt <strong>der</strong> ersten außerordentlich genähert, aber sie bleibt<br />
doch eine beson<strong>der</strong>e zweite Aufgabe, denn es handelt sich um verschiedene Klassen, die<br />
mit dem <strong>russischen</strong> Proletariat gemeinsam kämpfen: für die erste Aufgabe ist sein<br />
Kampfgenosse - die kleinbürgerliche Bauernschaft Rußlands, für die zweite - das Proletariat<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>.« Größere Klarheit kann man nicht veriangen.<br />
Die zweite Berufung auf Lenin ist nicht begründeter. Ein unvollendeter Artikel von<br />
ihm über die Genossenschaften sagt, in <strong>der</strong> Sowjetrepublik sei »alles Notwendige und<br />
Ausreichende« vorhanden, um ohne neue <strong>Revolution</strong>en den Übergang zum Sozialismus<br />
zu vollziehen: die Rede ist, wie aus dem Text ganz klar hervorgeht, von politischen und<br />
rechtlichen Voraussetzungen. Der Autor unterläßt es nicht, an die mangelnden industriellen<br />
und kulturellen Voraussetzungen zu erinnern. Diesen Gedanken hatte Lenin<br />
überhaupt mehr als einmal wie<strong>der</strong>holt. »Uns ... fehlt es«, schrieb er in einem an<strong>der</strong>en<br />
Artikel <strong>der</strong> gleichen Zeit, Anfang 1923, »an Zivilisation, um unmittelbar zum Sozialismus<br />
überzugehen, obwohl wir die pohtischen Voraussetzungen dafür besitzen.« In<br />
diesem wie in allen an<strong>der</strong>en Fällen ging Lenin davon aus, daß neben dem <strong>russischen</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 830
Proletariat und als dessen Avantgarde das Proletariat des Westens zum Sozialismus<br />
marschieren wird. Der Artikel über die Genossenschaften enthält auch nicht die geringste<br />
Anspielung darauf, daß die Sowjetrepublik auf reformistische und harmonische Weise<br />
ihren eigenen nationalen Sozialismus schaffen kann, anstatt im Prozeß <strong>der</strong> anragonistisehen<br />
und revolutionären Entwicklung sich in die sozialistische Weltgesellschaft einzuglie<strong>der</strong>n.<br />
Beide Zitate, sogar in den Programmtext <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong><br />
eingegangen, sind längst in unserer "Kritik des Programms" erläutert worden, wobei die<br />
Gegner es kein einziges Mal versuchten, ihre Sinnentstellungen und Irrtümer zu verteidigen.<br />
Allerdings wäre ein solcher Versuch auch hoffnungslos gewesen.<br />
Im März 1923, das heißt gerade in <strong>der</strong> letzten Periode seiner schöpferischen Arbeit,<br />
schrieb Lenin: »Wir stehen ... im gegenwärtigen Augenblick vor <strong>der</strong> Frage: Wird es uns<br />
bei unserer bäuerlichen Klein- und Kleinstproduktion, bei unserem Wirtschaftsruin<br />
gelingen, uns so lange zu halten, bis die westeuropäischen kapitalistischen Län<strong>der</strong> ihre<br />
Entwicklung zum Sozialismus vollbracht haben werden?« Wir sehen wie<strong>der</strong>um: verschoben<br />
sind die Fristen, verän<strong>der</strong>t ist das Gewebe <strong>der</strong> Ereignisse, aber unerschütterlich bleibt<br />
die internationale Grundlage <strong>der</strong> Politik. Der Glaube an die internationale <strong>Revolution</strong> -<br />
nach Stalin: <strong>der</strong> »Unglaube« an die inneren Kräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - hat den<br />
großen Internationalisten bis zum Grabe begleitet. Erst nachdem sie Lenin durch ein<br />
Mausoleum erdrückt hatten, erhielten die Epigonen die Möglichkeit, seine Ansichten zu<br />
nationalisieren.<br />
Aus <strong>der</strong> internationalen Arbeitsteilung, aus <strong>der</strong> Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> Entwicklung<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Län<strong>der</strong>, aus <strong>der</strong>en ökonomischen Wechselbeziehungen, aus <strong>der</strong><br />
Ungleichmäßigkeit <strong>der</strong> verschiedenen Teile <strong>der</strong> Kultur in den einzelnen Län<strong>der</strong>n, aus <strong>der</strong><br />
Dynamik <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Produktivkräfte ergibt sich, daß die Errichtung <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung nur möglich ist nach einem System <strong>der</strong> ökonomischen<br />
Spirale durch Verteilung innerer Mißverhältnisse eines einzelnen Landes auf eine ganze<br />
Län<strong>der</strong>gruppe, durch gegenseitige Hilfeleistung verschiedener Län<strong>der</strong> und gegenseitige<br />
Ergänzung <strong>der</strong> verschiedenen Zweige ihrer Wirtschaft und Kultur, das heißt letzten<br />
Endes nur möglich ist in <strong>der</strong> Weltarena.<br />
Das alte, im Jahre 1903 angenommene Parteiprogramm beginnt mit den Worten: »Die<br />
Entwicklung des Warenaustausches hat eine so enge Verbindung zwischen den Völkern<br />
<strong>der</strong> zivilisierten Welt hergestellt, daß die große Befreiungsbewegung des Proletariats<br />
international werden mußte und längst geworden ist...« Die Vorbereitung des Proletariats<br />
für die bevorstehende soziale <strong>Revolution</strong> wird als Aufgabe <strong>der</strong> "internationalen Sozialdemokratie"<br />
bezeichnet. Jedoch, »auf dem Wege zum gemeinsamen Endziel ... sind die<br />
Sozialdemokraten <strong>der</strong> verschiedenen Län<strong>der</strong> gezwungen, sich ungleichartige nächste<br />
Aufgaben zu stellen«. In Rußland ist eine solche Aufgabe <strong>der</strong> Sturz des Zarismus. Die<br />
demokratische <strong>Revolution</strong> wird im voraus als nationale Stufe zur internationalen sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> betrachtet.<br />
Die gleiche Konzeption bildet die Grundlage des neuen, schon nach <strong>der</strong> Machtergreifung<br />
durch die Partei angenommenen Programms. Bei <strong>der</strong> vorangegangenen Beratung<br />
des Programmentwurfs auf dem VII. Parteitag brachte Miljutin eine redaktionelle<br />
Verbessernng zu Lenins Resolution ein: »Ich schlage vor«, sagte er, »die Worte "internationale<br />
sozialistische <strong>Revolution</strong>" dort einzufügen, wo "von <strong>der</strong> begonnenen Ära <strong>der</strong><br />
sozialen <strong>Revolution</strong>" gesprochen wird ... Ich glaube, die Begründung dafür erübrigt sich<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 831
... Unsere soziale <strong>Revolution</strong> kann nur siegen als internationale <strong>Revolution</strong>. Sie kann<br />
nicht in Rußland siegen, während in den es einkreisenden Län<strong>der</strong>n das bürgerliche<br />
Regime bestehen bleibt ... Ich schlage vor, zur Vermeidung von Mißverständnissen dieses<br />
einzufügen.« Der Vorsitzende Swerdlow: »Genosse Lenin akzeptiert diese Verbesserung,<br />
so daß sich eine Abstimmung erübrigt.« Die kleine Episode <strong>der</strong> parlamentarischen<br />
Technik (»Die Begründung erübrigt sich«, und »eine Abstimmung erübrigt sich«!) stößt<br />
die falsche Historiographie <strong>der</strong> Epigonen vielleicht überzeugen<strong>der</strong> um als die sorgfältigste<br />
Forschung Die Tatsache, daß Miljutin, wie auch <strong>der</strong> oben zitierte Skworzow-Stepanow,<br />
wie Hun<strong>der</strong>te und Tausende an<strong>der</strong>er ihre eigenen Ansichten bald als "Trotzkismus"<br />
verurteilen werden, än<strong>der</strong>t nichts an <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Dinge. Große historische Ströme sind<br />
stärker ab die menschlichen Rückgrate. Die Flut erhebt, und die Ebbe spült ganze politische<br />
Generationen hinweg. An<strong>der</strong>erseits besitzen Ideen die Fähigkeit, weiterzuleben<br />
auch nach dem physischen o<strong>der</strong> geistigen Tode ihrer Träger.<br />
Ein Jahr später, auf dem VIII. Parteitag, <strong>der</strong> das neue Programm bestätigte, wurde die<br />
gleiche Frage im Austausch scharfer Repliken zwischen Lenin und Podbelski erneut<br />
beleuchtet. Der Moskauer Delegierte hatte dagegen protestiert, daß trotz <strong>der</strong> Oktoherumwälzung<br />
von <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> noch immer in Zukunftsform gesprochen wird.<br />
»Podbelski beanstandete«, sagt Lenin, »daß in einem <strong>der</strong> Paragraphen von <strong>der</strong> bevorstehenden<br />
sozialen <strong>Revolution</strong> gesprochen wird ... Dieses Argument ist offensichtlich<br />
unstichhaltig, denn in unserem Programm ist die Rede von <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> im<br />
Weltmaßstabe.« Wahrhaftig, die Parteigeschichte ließ den Epigonen nicht eine einzige<br />
unbeleuchtete Deckung!<br />
In dem 1921 angenommenen Programm des Komsomol (Jugendverband) ist die<br />
gleiche Frage in beson<strong>der</strong>s populärer und einfacher Form dargelegt. »Rußland besitzt<br />
zwar ungeheure Naturreichtümer«, lautet einer <strong>der</strong> Paragraphen, »ist aber in industrieller<br />
Hinsicht ein rückständiges Land, in dem die kleinbürgerliche Bevölkerung überwiegt.<br />
Es kann zum Sozialismus kommen nur durch die proletarische Weltrevolution, <strong>der</strong>en<br />
Entwicklungsepoche wir beschritten haben.« Dieses seinerzeit vom Politischen Büro<br />
(Politbüro) unter Beteiligung nicht nur von Lenin und Trotzki, son<strong>der</strong>n auch von Stalin<br />
angenommene Programm behielt seine volle Kraft noch bis zum Herbst 1926, wo das<br />
Exekutivkomitee <strong>der</strong> Kommunistischen <strong>Internationale</strong> die Nichtanerkennung des Sozialismus<br />
in einem Lande einer Todsünde gleichstellte.<br />
In den folgenden zwei Jahren sehen sich jedoch die Epigonen gezwungen, die<br />
Programmdokumente <strong>der</strong> Leninschen Epoche ins Archiv zu tun. Dem aus Stückchen<br />
zusammengekleisterten neuen Dokument gaben sie den Namen Programm <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
<strong>Internationale</strong>, War bei Lenin im "<strong>russischen</strong>" Programm die Rede von <strong>der</strong><br />
internationalen <strong>Revolution</strong>, ist bei den Epigonen im internationalen Programm die Rede<br />
vom »<strong>russischen</strong>« Sozialismus.<br />
Wann und wie offenbarte sich zum erstenmal <strong>der</strong> Bruch mit <strong>der</strong> Vergangenheit? Das<br />
historische Datum ist um so leichter zu bezeichnen, als es mit dem Markstein in Stalins<br />
Biographie zusammenfällt. Noch im April 1924, drei Monate nach Lenins Tod, legte<br />
Stalin bescheiden die traditionellen Ansichten <strong>der</strong> Partei dar. »...Die Macht <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einens Lande errichten«, schrieb<br />
er in seinen "Problemen des Leninisissus", »heißt noch nicht den vollen Sieg des Sozialismus<br />
sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus - Organisierung <strong>der</strong> sozialistischen<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 832
Produktion - steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen<br />
Sieg des Sozialismus in einens Lande erreichen ohne gemeinsame Anstrengungen<br />
<strong>der</strong> Proletarier einiger fortgeschrittener Län<strong>der</strong>? Nein, das ist nicht möglich. Zum Sturze<br />
<strong>der</strong> Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes - das sagt uns die <strong>Geschichte</strong><br />
unserer <strong>Revolution</strong>. Für den endgültigen Sieg des Sozialismus, für die Organisierung <strong>der</strong><br />
sozialistischen Produktion sind die Anstrengungen eines Landes, beson<strong>der</strong>s eines so<br />
bäuerlichen Landes wie Rußland, schon ungenügend - dazu sind die Anstrengungen <strong>der</strong><br />
Proletarier einiger fortgeschrittener Län<strong>der</strong> nötig...« Die Darlegung dieser Gedanken<br />
schließt Stalin mit den Worten: »Das sind im allgemeinen die charakteristischen Züge<br />
<strong>der</strong> Leninsehen Theorie <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>.«<br />
Gegen Herbst desselben Jahres ergab sich plötzlich, unter dem Einfluß des Kampfes<br />
gegen den Trotzkismus, daß gerade Rußland, zum Unterschiede von den an<strong>der</strong>en<br />
Län<strong>der</strong>n, mit eigenen Kräften die sozialistische Gesellschaft aufbauen kann, wenn es<br />
durch eine Intervention von außen nicht gestört wird ... »Nachdem es seine Macht<br />
gesichert hat und die Bauernschaft hinter sieh führt«, schrieb Stalin in <strong>der</strong> neuen Auflage<br />
<strong>der</strong> gleichen Arbeit, »kann und muß das Proletariat des siegreichen Landes die sozialistische<br />
Gesellschaft aufbauen.« Kann und muß! Nur zu dem Zwecke, um »das Land<br />
gegen eine Intervention zu sichern ... ist <strong>der</strong> Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> notwendig wenigstens in<br />
einigen Län<strong>der</strong>n«. Die Proklamierung dieser neuen Konzeption, die dem Weltproletariat<br />
die Rolle einer Grenzwache zuweist, schließt mit den gleichen Worten: »...Das sind im<br />
allgemeinen die charakteristischen Züge <strong>der</strong> Leninschen Theorie <strong>der</strong> proletarischen<br />
<strong>Revolution</strong>.« Im Verlaufe eines Jahres unterschiebt Stalin Lenin zwei direkt entgegengesetzte<br />
Ansichten über die Kernfrage des Sozialismus.<br />
Im Plenum des Zentralkomitees 1927 sagte Trotzki bezüglich <strong>der</strong> zwei entgegengesetzten<br />
Ansichten von Stalin: »Man kann sagen Stalin hat geirrt und sich dann korrigiert.<br />
Aber wie konnte er <strong>der</strong>art irren und in einer solchen Frage? Wenn es richtig ist, daß<br />
Lenin schon im Jahre 1915 die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande<br />
aufgestellt hat (was in <strong>der</strong> Wurzel falsch ist); wenn es richtig ist, daß Lenin später diesen<br />
Standpunkt nur bekräftigt und entwickelt hat (was in <strong>der</strong> Wurzel falsch ist), wie konnte<br />
dann, fragt es sich, Stalin in einer so wichtigen Frage bei Lenins Lebzeiten und in Lenins<br />
letzter Lebensperiode sich jene Ansicht aneignen, die mi Stalinschen Zitat vom Jahre<br />
1924 ihren Ausdruck fand? Es ergibt sich, daß Stalin in dieser Kernfrage einfach stets<br />
Trotzkist war und erst nach dem Jahre 1924 aufhörte, es zu sein ... Es wäre nicht übel,<br />
wenn Stalin bei sich auch nur ein Zitat finden würde, welches beweist, daß er auch vor<br />
1924 vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande gesprochen hat. Er wird es nicht<br />
finden!« Auf diese Herausfor<strong>der</strong>ung erfolgte keine Antwort.<br />
Man darf jedoch die tatsächliche Tiefe <strong>der</strong> Wendung, die Stalin vollzog, nicht übertreiben.<br />
Wie in den Fragen des Krieges und <strong>der</strong> Stellung zur Provisorisehen Regierung o<strong>der</strong><br />
in <strong>der</strong> nationalen Frage, so hatte Stalin auch in <strong>der</strong> Frage über die allgemeinen Perspektiven<br />
<strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zwei Positionen: eine selbständige, organische, nicht immer ausgesprochene<br />
o<strong>der</strong> jedenfalls nicht eindeutig ausgesprochene, und eine an<strong>der</strong>e -<br />
konventionelle, phraseologische, bei Lenin entlehnte. Insofern es sich um Menschen<br />
einer gleichen Partei handelt, kann man sich keine tiefere Kluft vorstellen als die, die<br />
Stalin von Lenin trennt, sowohl in Kernfragen <strong>der</strong> revolutionären Konzeption wie auch<br />
in <strong>der</strong> politischen Psychologie. Stalins opportunistische Natur wird dadurch maskiert,<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 833
daß er sich auf eine siegreiche proletarische <strong>Revolution</strong> stützt. Doch sahen wir Stalins<br />
selbständige Position im März 1917: im Rücken die schon vollzogene bürgerliche<br />
<strong>Revolution</strong>, stellte er als Aufgabe <strong>der</strong> Partei hin »Bremsung <strong>der</strong> Absplitterung« <strong>der</strong><br />
Bourgeoisie, das heißt, er wi<strong>der</strong>setzte sich faktisch <strong>der</strong> proletarischen <strong>Revolution</strong>. Daß<br />
sie geschah, ist nicht seine Schuld. Zusammen mit <strong>der</strong> gesamten Bürokratie stellte sich<br />
Stalin auf den Boden <strong>der</strong> Tatsache. Gibt es die Diktatur des Proletariats, dann muß es<br />
auch Sozialismus geben. Indem er die Argumente <strong>der</strong> Mensehewiki gegen die proletarische<br />
<strong>Revolution</strong> in Rußland nach <strong>der</strong> Kehrseite wendete, begann Stalin, sich durch die<br />
Theorie des Sozialismus in einem Lande gegen die internationale <strong>Revolution</strong> abzugrenzen.<br />
Und da er prinzipielle Fragen niemals bis zu Ende durchdachte, so mußte es ihm<br />
scheinen, er habe "eigentlich" stets so gedacht wie im Herbst 1924. Und da er darüber<br />
hinaus sich niemals in Gegensatz zu <strong>der</strong> herrschenden Parteinstimmung gestellt hatte, so<br />
mußte es ihm scheinen, die Partei habe "eigentlich" ebenso gedacht wie er.<br />
Ursprünglich hatte die Unterstellung unbewußten Charaktcr. Es ging nicht um<br />
Fälschung, son<strong>der</strong>n um ideologische Mauserung. Aber in dem Maße, wie die Doktrin des<br />
nationalen Sozialismus auf eine gut ausgerüstete Kritik stieß, wurde eine organisierte,<br />
hauptsächlich chirurgische Eimischung des Apparates notwendig. Die Theorie des nationalen<br />
Sozialismus wurdc dekretiert. Man begann, sie mit <strong>der</strong> Methode vom Entgegengesetzten<br />
zu beweisen: durch Verhaftungen jener, die sie nicht teilten. Gleichzeitig begann<br />
eine Ära <strong>der</strong> systematischen Umarbeitung <strong>der</strong> Parteivergangenheit. Die Parteigeschichte<br />
verwandelte sich in ein Palimpsest. Die Zerstörung <strong>der</strong> Pergamente geht bis auf den<br />
heutigen Tag, und zwar mit immer wachsen<strong>der</strong> Raserei.<br />
Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung waren immerhin nicht die Repressalien und Fälschungen.<br />
Der Triumph <strong>der</strong> neuen Ansichten, die <strong>der</strong> Lage und den Interessen <strong>der</strong> Bürokratie<br />
entsprechen, stützte sich auf objektive - vorübergehende, aber sehr mächtige - Umstände.<br />
Die Möglichkeiten, die sich vor <strong>der</strong> Sowjetrepublik innen- wie außenpolitisch eröffneten,<br />
erwiesen sich viel größer, als es jemand vor <strong>der</strong> Umwälzung hätte glauben können. Der<br />
isolierte Arbeiterstaat blieb nicht nur inmitten einer Unzahl von Feinden bestehen,<br />
son<strong>der</strong>n stieg auch ökonomisch. Diese schwerwiegenden Tatsachen formten die gesellschaftliche<br />
Meinung <strong>der</strong> jungen Generation, die noch nicht gelernt hat, historisch zu<br />
denken, das heißt, Vergleiche zu ziehen und vorauszusehen.<br />
Die europäische Bourgeoisie hatte sich am letzten Krieg zu stark verbrannt, um sich<br />
leicht zu einem neuen zu entschließen. Die Angst vor revolutionären Folgen paralysierte<br />
bis jetzt die Pläne einer kriegerischen Einmischung. Doch ist <strong>der</strong> Angstfaktor kein dauerhafter<br />
Faktor. Eine drohende <strong>Revolution</strong> hat noch niemals die <strong>Revolution</strong> selbst ersetzt.<br />
Eine Gefahr, die sich lange nicht realisiert, verliert ihre Wirkung. Gleichzeitig strebt <strong>der</strong><br />
unversöhnliche Gegensatz zwischen dem Arbeiterstaat und <strong>der</strong> Welt des Imperialismus<br />
nach außen durchzubrechen. Die Ereignisse <strong>der</strong> jüngsten Zeit sind <strong>der</strong>art beredt, daß die<br />
Hoffnungen auf eine "Neutralisierung" <strong>der</strong> Weltbourgeoisie bis zur Vollendung des<br />
sozialistischen Aufbaus heute von <strong>der</strong> regierenden Fraktion aufgegeben sind; im gewissen<br />
Sinne haben sie sich sogar in ihren Gegensatz verwandelt.<br />
Die während <strong>der</strong> Friedensjahre erreichten industriellen Erfolge bilden für alle Zeiten<br />
einen erkämpften Beweis für die unvergleichlichen Vorteile <strong>der</strong> Planwirtschaft. Diese<br />
Tatsache steht in keinem Wi<strong>der</strong>spruch zum internationalen Charakter <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>: <strong>der</strong><br />
Sozialismus könnte sich auch in <strong>der</strong> Weltarena nicht verwirklichen, wenn seine Elemente<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 834
und Stützpunkte in den einzelnen Län<strong>der</strong>n nicht vorbereitet sind. Es ist kein Zufall, daß<br />
gerade die Gegner <strong>der</strong> Theorie des nationalen Sozialismus die Verfechter <strong>der</strong> Industrialisierung,<br />
des Planprinzips, des Fünfjahrplanes und <strong>der</strong> Kollektivisierung waren. Den<br />
Kampf um eine kühne Wirtschaftsinitiative bezahlt Rakowski und mit ihm Tausende<br />
an<strong>der</strong>er Bolschewiki mit Jahren Verbannung und Gefängnis. Aber an<strong>der</strong>erseits waren sie<br />
es auch, die sich als erste wi<strong>der</strong> die Überschätzung <strong>der</strong> erreichten Resultate und wi<strong>der</strong> die<br />
nationale Selbstzufriedenheit wandten. Dagegen haben sich die mißtrauischen und<br />
kurzsichtigen "Praktiker", die anfangs geglaubt hatten, das Proletariat des rückständigen<br />
Rußland werde außerstande sein, die Macht zu erobern, und die nach <strong>der</strong> Machteroberung<br />
die Möglichkeit einer weitgehenden Industrialisierung und Kollektivisierung<br />
bestritten, sich dann auf den entgegengesetzten Standpunkt gestellt die ihren eigenen<br />
Erwartungen zuwi<strong>der</strong> errungenen Erfolge multiplizierten sie einfach mit einer Reihe von<br />
Fünijahrplänen und ersetzten die historische Perspektive durch das Einmaleins - das eben<br />
ist die Theorie des Sozialismus in einem Lande.<br />
In Wirklichkeit bleibt das Wachsen <strong>der</strong> heutigen Sowjetwirtschaft ein antagonistischer<br />
Prozeß. Indem sie den Arbeiterstaat festigen, führen die ökonomischen Erfolge keinesfalls<br />
automatisch zur Schaffung einer harmonischen Gesellschaft. Im Gegenteil, sie<br />
bereiten auf einer höheren Grundlage die Zuspitzung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche des isolierten<br />
sozialistischen Aufbaus vor. Das russische Dorf bedarf nach wie vor eines wirtschaftlichen<br />
Gesamtplanes mit <strong>der</strong> europäischen Stadt. Die internationale Arbeitsteilung steht<br />
über <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats in einem Lande und schreibt ihr gebieterisch die weiteren<br />
Wege vor. Die Oktoberussiwälzung hat Rußland von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> übrigen<br />
Menschheit nicht ausgeschlossen, im Gegenteil, sie hat es mit ihr noch enger verbunden<br />
Rußland ist nicht mehr das Getto <strong>der</strong> Barbarei, aber auch noch hicht das Arkadien des<br />
Sozialismus. Es ist das hervorragendste Übergangsland in unserer Übergangsepoche.<br />
»Die russische <strong>Revolution</strong> ist nur ein Glied in <strong>der</strong> Kette <strong>der</strong> internationalen <strong>Revolution</strong>.«<br />
Der heutige Stand <strong>der</strong> Weltwirtschaft erlaubt es, ohne Bedenken zu sagen: <strong>der</strong> Kapitalismus<br />
ist viel näher an die proletarische <strong>Revolution</strong> herangegangen als die Sowjetunion an<br />
den Sozialismus. Das Schicksal des ersten Arbeiterstaates ist untrennbar verbunden mit<br />
dens Schicksal <strong>der</strong> Befreiungsbewegung im Westen und im Osten. Doch dieses große<br />
Thema erfor<strong>der</strong>t eine selbständige Untersuchung. Wir hoffen, zu ihm zurückzukehren.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 835
Eine geschichtliche Information zur Frage über die Theorie<br />
<strong>der</strong> "permanenten <strong>Revolution</strong>"<br />
Im Anhang zum ersten Band <strong>der</strong> "<strong>Geschichte</strong>" brachten wir längere Auszüge aus einer<br />
Artikelserie, geschrieben vom Autor dieser Arbeit im März 1917 in New York, und aus<br />
seinen späteren polemischen Aufsätzen gegen Professor Pokrowski. In beiden Fällen<br />
handelt es sich um die Analyse <strong>der</strong> Triebkräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong>, zum Teil auch <strong>der</strong> internationalen<br />
<strong>Revolution</strong>. Am Wetzstein dieser Frage wurden im <strong>russischen</strong> revolutionären<br />
Lager seit Beginn des Jahrhun<strong>der</strong>ts grundlegende prinzipielle Gruppierungen festgelegt.<br />
Mit dens Anwachsen <strong>der</strong> revolutionären Flut gewannen sie immer mehr programmatischstrategischen<br />
und schließlich auch unmittelbar taktischen Charakter. Die Jahre 1903-<br />
1906 bilden eine Periode intensiver Formierung <strong>der</strong> politischen Richtungen in <strong>der</strong><br />
damaligen <strong>russischen</strong> Sozialdemokratie. Auf jene Zeit bezieht sieh unsere Arbeit "Ergebnisse<br />
und Perspektiven". Sie wurde bruchstückweise und aus verschiedenartigen Anlässen<br />
geschrieben. Die Gefängnishaft von Dezember 1905 erlaubte dem Autor, seine<br />
Ansichten über den Charakter <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> und <strong>der</strong>en Perspektiven systematischer<br />
darzustellen. Als Buch erschien diese Gesamtarbeit russisch im Jahre 1906.<br />
Damit die aus ihm unten abgedruckten Auszüge im Bewußtsein des Lesers den richtigen<br />
Platz finden, möchten wir noch einmal daran erinnern, daß in denJahren 1904/05 keiner<br />
von den <strong>russischen</strong> Marxisten den Gedanken an die Möglichkeit des Aufbaus <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Gesellschaft in einem Lande überhaupt, und in Rußland im beson<strong>der</strong>en, verteidigte<br />
o<strong>der</strong> aufstellte. Diese Konzeption wurde zum erstenmal in <strong>der</strong> Presse vettreten,<br />
etwa zwanzig Jahre später, im Herbst 1924. In <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> ersten <strong>Revolution</strong> wie in<br />
den Jahren zwischen den zwei <strong>Revolution</strong>en wurde <strong>der</strong> Streit um die Dynamik <strong>der</strong><br />
bürgerlichen <strong>Revolution</strong>, nicht aber um die Chancen und Möglichkeiten einer sozialistischen<br />
<strong>Revolution</strong> geführt. Alle heutigen Anhänger <strong>der</strong> Theorie des Sozialismus in einem<br />
Lande, ohne Ausnahme, beschränkten in jener Periode die Perspektive <strong>der</strong> <strong>russischen</strong><br />
<strong>Revolution</strong> auf die bürgerlich-demokratische Republik und hielten bis April 1917 nicht<br />
nur den Aufbau des nationalen Sozialismus für unmöglich, son<strong>der</strong>n auch die<br />
Machteroberung durch das russische Proletariat, solange nicht die Diktatur des Proletariats<br />
in den fortgeschritteneren Län<strong>der</strong>n errichtet wäre.<br />
Unter "Trotzkismus" verstand man in <strong>der</strong> Periode 1905-1917 jene revolutionäre<br />
Konzeption, nach <strong>der</strong> die bürgerliche <strong>Revolution</strong> in Rußland ihre Aufgaben zu lösen<br />
nicht an<strong>der</strong>s imstande sein würde, als indem sie das Proletariat an die Macht stellt. Erst<br />
im Herbst 1924 begann man unter "Trotzkismus" eine Konzeption zu verstehen, nach <strong>der</strong><br />
das russische Proletariat, an die Macht gekommen, nicht imstande sein würde, mit<br />
eigenen Kräften die nationale sozialistische Gesellschaft aufzubauen.<br />
Zur Bequemlichkeit des Lesers wollen wir den Streit schematisch darstellen, in Form<br />
eines Dialogs, wobei unter T. <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> "trotzkistischen" Konzeption figuriert und<br />
unter S. einer jener <strong>russischen</strong> "Praktiker", die heute die Sowjetbürokratie verkörpern.<br />
1905-1917<br />
T. Die russische <strong>Revolution</strong> wird ihre demokratischen Aufgaben, vor allem die Agrarfrage,<br />
nicht lösen können, ohne die Arbeiterklasse an die Macht zu stellen.<br />
S. Aber das bedeutet ja Diktatur des Proletariats!<br />
T. Zweifelsohne.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 836
S. Im rückständigen Rußland? Früher als in den fortgeschrittenen kapitalistischen<br />
Län<strong>der</strong>n?<br />
T. Allerdings.<br />
S. Aber Sie ignorieren das russische Dorf, das heißt die rückständige Bauernschaft, die<br />
noch in Halbleibeigenschaft steckt.<br />
T. Im Gegenteil: eben die Tiefe <strong>der</strong> Agrarfrage ergibt die unmittelbare Perspektive <strong>der</strong><br />
Diktatur des Proletariats inb Rußland.<br />
S. Sie verneinen mithin die bürgerliche <strong>Revolution</strong>?<br />
T. Nein, ich versuche nur zu beweisen, daß ihre Dynamik zur Diktatur des Proletariats<br />
führt.<br />
S. Aber das heißt ja, daß Rußland für den Aufbau des Sozialismus reif sei?<br />
T. Nein, das heißt es nicht. Die historische Entwicklung hat keinen so planmäßigen<br />
und harmonischen Charakter. Die Machteroberung durch das Proletariat im rückständigen<br />
Rußland ergibt sich unvermeidlich aus dem Kräfteverhälmis in <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
<strong>Revolution</strong>. Welche weiteren ökonomischen Perspektiven die Diktatur des Proletariats<br />
dann eröffnet, hängt von den <strong>russischen</strong> und internationalen Bedingungen ab, unter<br />
denen sie errichtet wird. Selbständig kann Rußland freilich nicht zum Sozialismus<br />
kommen. Aber indem es die Ära sozialistischcr Umwandlungen eröffnet, kann es den<br />
Anstoß geben zur sozialistischen Entwicklung in Europa und damit zum Sozialismus<br />
kommen im Schlepptau <strong>der</strong> fortgeschrittenen Län<strong>der</strong>.<br />
1917-1923<br />
S. Trotzki »hat noch vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> von 1905 die eigenartige und beson<strong>der</strong>s jetzt<br />
bemerkenswerte Theorie <strong>der</strong> permanenten <strong>Revolution</strong> aufgestellt, indem er behauptete,<br />
daß die bürgerliche <strong>Revolution</strong> in Rußland unmittelbar in die sozialistische übergehen<br />
und die erste in <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> nationalen <strong>Revolution</strong>en sein werde«. (Aus einer Anmerkung<br />
zu Lenins "Werken", erschienen zu dessen Lebzeiten.)<br />
1924-1932<br />
S. Also Sie bestreiten, daß unsere <strong>Revolution</strong> zum Sozialismus führen kann?<br />
T. Ich hin in alter Weise <strong>der</strong> Ansieht, daß unsere <strong>Revolution</strong> zum Sozialismus führen<br />
kann und führen muß, indem sie einen internationalen Charakter annimmt.<br />
S. Sie glauben also nicht an die inneren Kräfte <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong>?<br />
T. Seltsam, daß mich das nicht gehin<strong>der</strong>t hat, die Diktatur des Proletariats vorauszusehen<br />
und zu propagieren zu einer Zeit, wo ihr sie als Utopie ablehntet.<br />
S. Aber Sie verneinen immerhin die sozialistische <strong>Revolution</strong> in Rußland?<br />
T. Bis April 1917 habt ihr mich beschuldigt, ich verneinte die bürgerliche <strong>Revolution</strong>.<br />
Das Geheimnis eurer theoretischen Wi<strong>der</strong>sprüche liegt darin, daß ihr sehr lange hinter<br />
dem historischen Prozeß zurückgeblieben watet und ihn jetzt überholen möchtet. Darin<br />
liegt, nebenbei gesagt, auch das Geheimnis eurer wirtschaftlichen Irrtümer.<br />
Der Leser muß sich stets diese drei historischen Etappen in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
revolutionären Konzeptionen in Rußland vor Augen halten, um den wirklichen Inhalt des<br />
heutigen Kampfes <strong>der</strong> Fraktionen und Gruppierungen innerhalb des <strong>russischen</strong> Kommunismus<br />
richtig einschätzen zu können.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 837
Auszüge aus <strong>der</strong> Arbeit Von 1905<br />
"Ergebnisse und Perspektiven"<br />
4. <strong>Revolution</strong> und Proletariat<br />
Das Proletariat wächst und erstarkt zusammen mit dem Wachsen des Kapitalismus. In<br />
diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung des Proletariats zur<br />
Diktatur, Doch Tag und Stunde, wo die Macht in die Hände <strong>der</strong> Arbeiterklasse übergehen<br />
wird, hängen unmittelbar ab nicht vom Niveau <strong>der</strong> Produktivkräfte, son<strong>der</strong>n von den<br />
Bedingungen des Klassenkampfes, von <strong>der</strong> internationalen Situation und schließlich von<br />
einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft...<br />
In einem ökonomisch rückständigeren Lande kann dem Proletariat die Macht früher<br />
zufallen als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Lande ...<br />
Die Vorstellung von irgendeiner automatischen Abhängigkeit <strong>der</strong> proletarischen Diktatur<br />
von den technischen Kräften und Mitteln des Landes bildet ein Vorurteil des aufs<br />
äußerste versimpelten "ökonomischen" Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche<br />
Ansicht nichts gemein.<br />
Die russische <strong>Revolution</strong> schafft unserer Ansicht nach Bedingungen, unter denen die<br />
Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (beim Sieg <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> übergehen<br />
muß), noch bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus die Möglichkeit erhalten,<br />
ihr Staatsgenie in vollem Umfange zu entfalten.<br />
Der Marxismus ist vor allem eine Methode <strong>der</strong> Analyse - nicht <strong>der</strong> Analyse von<br />
Texten, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Analyse sozialer Beziehungen. Ist es, auf Rußland angewandt,<br />
richtig, daß die Schwäche des kapitalistischen Liberalismus unbedingt Schwäche <strong>der</strong><br />
Arbeiterbewegung bedeutet?<br />
Die zahlenmäßige Stärke des Industrieproletariats, seine Konzentriertheit, sein Kulturniveau,<br />
seine politische Bedeutung hängen zwrifellos vom Entwicklungsgrad <strong>der</strong> kapitalistischen<br />
Industrie ab. Doch ist diese Abhängigkeit keine unmittelbare. Zwischen den<br />
Prodnktivkräften des Landes und den politischen Kräften seiner Klassen in jedem<br />
gegebenen Moment schneiden sich verschiedene sozialpolitische Faktoren nationalen<br />
und internationalen Charakters, und diese verbiegen o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>n sogar völlig den<br />
politischen Ausdruck <strong>der</strong> ökonomischen Beziehungen. Obwohl die Produktivkräfte <strong>der</strong><br />
Industrie in den Vereinigten Staaten zehufach höher sind als bei uns, ist die politische<br />
Rolle des <strong>russischen</strong> Proletariats, sein Einfluß auf die Politik seines Landes, die Möglichkeit<br />
seines nahen Einflusses auf die Weltpolitik unvergleichlich größer als die Rolle und<br />
Bedeutung des amerikanischen Proletariats.<br />
5. Das Proletariat an <strong>der</strong> Macht und die Bauernschaft<br />
Im Falle eines entscheidenden Sieges <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> geht die Macht in die Hände <strong>der</strong><br />
Klasse über, die im Kampfe die führende Rolle gespielt hat - mit an<strong>der</strong>en Worten, in die<br />
Hände des Proletariats. Selbstverständlich, wir wollen das gleich sagen, schließt das<br />
keinesfalls aus die Beteiligung revolutionärer Vertreter nichtproletarischer Gesellschafts-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 838
gruppen an <strong>der</strong> Regierung ... Die Frage ist nur, wer <strong>der</strong> Regietungspolitik Inhalt verleiht,<br />
wer in ihr die geschlossene Mehrheit darstellt. Es ist eines, ob an einer Regierung, die <strong>der</strong><br />
Mehrheit ihrer Zusammensetzung nach eine Arbeiterregierung ist, Vertreter demokratischer<br />
Volksschichten teilnehmen - ein an<strong>der</strong>es, ob an einer ausgesprochen bürgerlich-demokratischen<br />
Regierung in <strong>der</strong> Rolle mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> ehrenwerter Geiseln Vertreter<br />
des Proletariats teilnehmen.<br />
Das Proletariat wird seine Macht nicht festigen können, ohne die Basis <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong><br />
zu verbreitern. Viele Schichten <strong>der</strong> werktätigen Massen, hauptsächlich auf dem Lande,<br />
werden zum erstenmal in die <strong>Revolution</strong> einbezogen werden und eine politische Organisation<br />
erhalten erst nachdem die Avantgarde <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>, das Stadtproletariat, am<br />
Staatssteuer stehen wird.<br />
... Der Charakter unserer sozial-historischen Beziehungen, <strong>der</strong> die ganze Schwere <strong>der</strong><br />
bürgerlichen <strong>Revolution</strong> auf die Schultern des Proletariats wälzt, wird für die Arbeiterregierung<br />
nicht nur ungeheure Schwierigkeiten schaffen, son<strong>der</strong>n ihr auch, wenigstens in<br />
<strong>der</strong> ersten Periode ihres Bestehens, unschätzbare Vorteile bringen. Das wird sich in den<br />
Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft äußern.<br />
Die russische <strong>Revolution</strong> verhin<strong>der</strong>t und wird noch lange verhin<strong>der</strong>n die Errichtung<br />
irgendeines bürgerlich-konstitutionellen Regimes, das die primitivsten Aufgaben <strong>der</strong><br />
Demokratie lösen könnte ... Infolgedessen ist das Schicksal <strong>der</strong> elementarsten revolutionären<br />
Interessen <strong>der</strong> Bauernschaft - sogar <strong>der</strong> Gesamtbauernschaft als Stand - mit dem<br />
Schicksal <strong>der</strong> gesamten <strong>Revolution</strong>, das heißt mit dem Schicksal des Proletariats verbunden.<br />
Das Proletariat an <strong>der</strong> Macht wird <strong>der</strong> Bauernschaft als die Befreierklasse erscheinen.<br />
Aber vielleicht wird die Bauernschaft das Proletariat verdrängen und dessen Platz<br />
einnehmen? Das ist unmöglich. Die gesamte historische Erfahrung lehnt sich gegen eine<br />
solche Annahme auf Sie zeigt, daß die Bauernschaft absolut unfähig ist zu einer selbständigen<br />
politischen Rolle.<br />
Die russische Bourgeoisie tritt dem Proletariat alle revolutionären Positionen ab. Sie<br />
wird auch die revolutionäre Hegemonie über die Bauernschaft abtreten müssen. In <strong>der</strong><br />
Situation, die durch den Übergang <strong>der</strong> Macht an das Proletariat entstehen wird, wird <strong>der</strong><br />
Bauernschaft nur übrigbleiben, sieh dem Regime <strong>der</strong> Arbeiterdemokratie anzuschließen.<br />
Auch wenn sie es nicht mit größerer Einsicht tun sollte als <strong>der</strong>, mit <strong>der</strong> sie sich gewöhnlich<br />
dem bürgerlichen Regime anschließt! Doch während jede bürgerliche Partei im<br />
Besitz <strong>der</strong> Baucrnstimmen sich beeilt, die Macht auszunutzen, um die Bauernschaft zu<br />
berauben und in all ihren Hoffnungen und Erwartungen zu betrügen, und danach, im<br />
schlimmsten Falle, den Platz einer an<strong>der</strong>en kapitalistischen Partei abzutreten, wird das<br />
Proletariat, gestützt auf die Bauernschaft, alle Kräfte in Bewegung setzen, um das<br />
Kulturniveau des Dorfes und die Entwicklung <strong>der</strong> politischen Erkenntnis <strong>der</strong> Bauernschaft<br />
zu heben.<br />
6. Das proletarische Regime<br />
Zur Macht gelangen kann das Proletariat nur gestützt auf einen nationalen<br />
Aufschwung, auf die Begeisterung des ganzen Volkes. Das Proletariat wird die Regie-<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 839
ung übernehmen als revolutionärer Vertreter <strong>der</strong> Nation, als anerkannter Volksführer ins<br />
Kampfe gegen Absolutismus und Leibeigenschafisbarharei. Aber an die Macht gekommen,<br />
wird das Proletariat eine neue Epoche eröffnen eine Epoche revolutionärer Gesetzgebung,<br />
positiver Politik -, und hier ist ihm die Beibehaltung <strong>der</strong> Rolle des anerkannten<br />
Repräsentanten <strong>der</strong> Nation keinesfalls gesichert.<br />
Je<strong>der</strong> neue Tag wird die Politik des an <strong>der</strong> Macht stehenden Proletariats vertiefen und<br />
ihren Klassencharakter immer stärker bestimmen. Gleichzeitig damit wird die revolutionäre<br />
Verbindung zwischen Proletariat und Nation Störung erleiden, die klassenmäßige<br />
Zerglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bauernschaft wird in politischen Formen hervortreten, <strong>der</strong> Antagonismus<br />
zwischen den Bestandteilen. wird wachsen in gleichem Maße, wie die Politik <strong>der</strong><br />
Arbeiterregierung aus einer allgemein demokratischen zu einer klassenmäßig bedingten<br />
sich entwickeln wird.<br />
Die Abschaffung <strong>der</strong> ständischen Leibeigenschaft wird die Unterstützung <strong>der</strong> gesamten<br />
Bauernschaft als des Fronstandes finden ... Aber die gesetzgebenden Maßnahmen zum<br />
Schutze des landwirtschaftlichen Proletariats werden nicht nur diese aktive Sympathie<br />
bei <strong>der</strong> Mehrheit nicht finden, son<strong>der</strong>n sogar auf aktiven Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heit<br />
stoßen. Das Proletariat wird sich gezwungen sehen, den Klassenkampf ins Dorf hineinzutragen<br />
und somit jene Interessengemeinschaft zu zerstören, die zweifellos bei <strong>der</strong><br />
Gesamtbauernschaft besteht, wenn auch in verhältnismäßig engem Rahmen. Das Proletariat<br />
wird schon in den nächsten Monaten nach Antritt <strong>der</strong> Herrschaft eine Stütze suchen<br />
müssen in <strong>der</strong> Gegenüberstellung von Dorfarmut und Dorfreichen, landwirtschaftlichem<br />
Proletariat und ackerbauen<strong>der</strong> Bourgeoisie.<br />
Befindet sich die Macht in den Händen einer revolutionären Regierung mit sozialistischer<br />
Mehrheit, dann verliert <strong>der</strong> Unterschied zwischen Minimal- und Maximalprogramm<br />
sofort sowohl die prinzipielle wie die unmittelbar praktische Bedeutung. Im<br />
Rahmen dieser Abgrenzung sich zu halten, wird für eine proletarische Regierung völlig<br />
unmöglich sein.<br />
Indem sie in die Regierung eintreten nicht als ohnmächtige Geiseln, son<strong>der</strong>n als<br />
führende Kraft, vernichten die Vertreter des Proletariats damit allein schon die Grenze<br />
zwischen Minimal- und Maximalprogramm, das heißt, sie stellen den Kollektivismus auf<br />
die Tagesordnung. An welchem Punkte das Proletariat auf diesem Wege aufgehalten<br />
werden wird, hängt von dem Kräfteverhältnis ab, keinesfalls aber von den ursprünglichen<br />
Absichten <strong>der</strong> proletarischen Partei.<br />
Aus diesens Grunde kann nicht die Rede sein von irgendeiner beson<strong>der</strong>en Form <strong>der</strong><br />
proletarischen Diktatur in <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong>, wie etwa von <strong>der</strong> demokratischen<br />
Diktatur des Proletariats (o<strong>der</strong> des Proletariats und <strong>der</strong> Bauernschaft). Die Arbeiterklasse<br />
wird nicht imstande sein, den demokratischen Charakter ihrer Diktatur zu sichern, ohne<br />
die Grenzen ihres demokratischen Programms zu überschreiten. Alle diesbezüglichen<br />
Illusionen wären nur unheilvoll.<br />
Einmal im Besitze <strong>der</strong> Macht, wird die Partei des Proletariats um sie bis zum Ende<br />
kämpfen. Wird eines <strong>der</strong> Mittel dieses Kampfes um die Erhaltung und Sicherung <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 840
Macht Agitation und Organisation sein, beson<strong>der</strong>s auf dem Lande, so wird das an<strong>der</strong>e<br />
Mittel die kollekrivistische Politik darstellen. Der Kollektivismus wird nicht nur unvermeidliche<br />
Schlußfolgerung aus <strong>der</strong> Stellung <strong>der</strong> Partei an <strong>der</strong> Macht werden, sohn<strong>der</strong>n<br />
auch Mittel, diese Stellung, gestützt auf das Proletariat, zu sichern.<br />
Als in <strong>der</strong> sozialistischen Presse die Idee <strong>der</strong> ununterbrochenen <strong>Revolution</strong> formuliert<br />
wurde, die die Liquidierung des Absolutismus und <strong>der</strong> bürgerlichen Leibeigenschaft<br />
verband mit <strong>der</strong> sozialistischen Umwälzung durch eine Reihe anwachsen<strong>der</strong> sozialer<br />
Zusammenstöße, Aufstände neuer Schichten <strong>der</strong> Massen, fortwähren<strong>der</strong> Attacken des<br />
Proletariats gegen die politischen und ökonomischen Privilegien <strong>der</strong> herrschenden<br />
Klassen, erhob unsere "fortschrittliche" Presse ein einmütiges Entrüstungsgeheul.<br />
Die radikaleren Vertreter <strong>der</strong> gleichen Demokratie ... halten nicht nur schon die Idee<br />
einer Arbeiterregierung in Rußland für phantastisch, son<strong>der</strong>n lehnen auch die Möglichkeit<br />
einer sozialistischen <strong>Revolution</strong> in Europa für die nächste historische Epoche ab.<br />
Noch seien die notwendigen "Voraussetzungen" nicht gegeben. Stimmt das? Es handelt<br />
sich selbstverständlich nicht darum, Fristen für die sozialistische <strong>Revolution</strong> festzulegen,<br />
son<strong>der</strong>n darum, sie in ihre realen historischen Perspektiven hineinzustellen...<br />
(Weiter folgen eine Analyse <strong>der</strong> allgemeinen Voraussetzungen <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Wirtschaft und Beweisc dafür, daß gegenwärtig - zu Beginn des XX. Jahrhun<strong>der</strong>ts - diese<br />
Voraussetzungen, wenn man sie im europäischen und im Weltmaßstabe betrachtet,<br />
bereits gegeben sind.)<br />
...Innerhalb <strong>der</strong> abgeschlossenen Grenzen einzelner Staaten könnte die sozialistische<br />
Produktion bereits nicht mehr Platz finden - sowohl aus ökonomischen wie aus politischen<br />
Gründen.<br />
8. Arbeiterregierung in Rußland und Sozialismus<br />
Wir haben oben gezeigt, daß objektive Voraussetzungen für die sozialistische <strong>Revolution</strong><br />
bereits geschaffen sind durch die ökonomische Entwicklung <strong>der</strong> fortgeschrittenen<br />
kapitalistischen Län<strong>der</strong>. Was aber kann man in dieser Hinsieht von Rußlaitd sagen? Darf<br />
man erwarten, daß <strong>der</strong> Übergang <strong>der</strong> Macht in die Hände des <strong>russischen</strong> Proletariats <strong>der</strong><br />
Beginn einer Umwandlung unserer Nationalwirtsehaft auf sozialistischen Grundlagen<br />
sein wird?<br />
Die Pariser Arbeiter haben, wie Marx sagte, von <strong>der</strong> Kommune keine Wun<strong>der</strong> verlangt.<br />
Man darf plötzliche Wun<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats auch jetzt nicht erwarten.<br />
Die Staatsgewalt ist nicht allmächtig. Es wäre unsinnig, zu glauben, es genüge, daß das<br />
Proletariat die Macht bekommt - und es würde mittels einiger Dekrete Kapitalismus<br />
durch Sozialismus ersetzen. Ein ökonomisches Regime ist nicht Produkt einer Staatstätigkeit.<br />
Das Proletariat wird nichts weiter tun können, als mit aller Energie die Staatsmacht<br />
einzusetzen, um den Weg <strong>der</strong> wirtschaftlichen Evolution in Richtung zum<br />
Kollektivismus zu erleichtern und abzukürzen.<br />
Die Vergesellschaftung <strong>der</strong> Produktion wird nur Zweigen beginnen, die dafür die<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 841
geringsten Schwierigkeiten bieten. In <strong>der</strong> ersten Periode wird vergesellsehaftete Produktion<br />
Oascn darstellen, die mit privatwirtschaftlichen Unternehmungen durch Gesetze des<br />
Warenverkehrs verbunden sind. Je breiter das Feld sein wird, das bereits von vergesellschafteter<br />
Wirtschaft erfaßt ist, um so offenbarer werden dessen Vorteile, um so sicherer<br />
wird sich das neue politische Regime fühlen, um so kühner werden die weiteren<br />
Wirtschaftsmaßnahmen des Proletariats sein. Bei diesen Maßnahmen wird es sich nicht<br />
nur auf die nationalen Produktivkräfte stützen können und stützen, son<strong>der</strong>n auch auf die<br />
internationale Technik, ähnlich, wie es sich in seiner revolutionären Politik nicht nur auf<br />
die Erfahrung <strong>der</strong> nationalen Klassen-beziehungen, son<strong>der</strong>n auch auf die gesamte historische<br />
Erfahrung des internationalen Proletariats stützt.<br />
Das proletarische Regime wird gleich zu Beginn an die Lösung <strong>der</strong> Agrarfrage gehen<br />
müssen, mit <strong>der</strong> das Schicksal riesiger Bevölkernngsmassen Rußlands verknüpft ist. Bei<br />
Lösung dieser Frage, wie auch aller übrigen, wird das Proletariat ausgehen von <strong>der</strong><br />
Grundbestrebung seiner ökonomischen Politik: ein möglichst breites Feld für die Organisierung<br />
<strong>der</strong> sozialistischen Wirtschaft zu gewinnen, - wobei Formen und Tempo dieser<br />
Politik in <strong>der</strong> Agrarfrage bestimmt werden müssen sowohl von jenen materiellen Hilfsquellen,<br />
die zu erobern dem Proletariat gelingt, wie auch von <strong>der</strong> Notwendigkeit, sein<br />
Handeln so zu gestalten, daß nicht eventuelle Verbündete in die Reihen <strong>der</strong> Konterrevolution<br />
zurückgestoßen werden.<br />
Wie weit aber kann die sozialistische Politik <strong>der</strong> Arbeiterklasse unter Russlands<br />
Wirtschaftsbedingungen gehen? Man darf mit Bestimmtheit sagen: Sie wird viel früher<br />
auf politische Hin<strong>der</strong>nisse stoßen als auf die technische Rückständigkeit des Landes.<br />
Ohne direkte Staatshilfe seitens des europäischen Proletariats wird sich die Arbeiterklasse<br />
Russlands nicht an <strong>der</strong> Macht halten und ihre vorübergehende Herrschaft nicht in<br />
eine langwährende sozialistische Diktatur verwandeln können ...<br />
Politischer "Optimismus" kann von zweierlei Art sein. Man kann übertrieben seine<br />
Kräfte und die Vorteile <strong>der</strong> revolutionären Situation einschätzen und sich Aufgaben<br />
stellen, <strong>der</strong>en Lösung das gegebene Kräfteverhältnis nicht zuläßt. Man kann aber auch<br />
umgekehrt optimistisch seinen revolutionären Aufgaben eine Schranke setzen, über die<br />
uns die Logik <strong>der</strong> Situation unvermeidlich hinwegsehleu<strong>der</strong>t.<br />
Man kann die Rahmen sänitlicher Fragen <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> durch die Behauptung<br />
einschränken, unsere <strong>Revolution</strong> sei ihren objektiven Zielen, folglich auch den unvermeidlichen<br />
Resultaten nach bürgerlich, und man kann dabei die Augen vor <strong>der</strong> Tatsache<br />
verschließen, daß die wesentlichste wirkende Kraft dieser bürgerlichen <strong>Revolution</strong> das<br />
Proletariat ist, das durch den ganzen Gang <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zur Macht gestoßen wird...<br />
Man kann sich damit trösten, daß die sozialen Bedingungen Russlands für die sozialistische<br />
Wirtschaft noch nicht reif seien - und man kann sich dabei Gedanken darüber<br />
ersparen, daß das Proletariat, an die Macht gelangt, unweigerlich durch die gesamte<br />
Logik seiner Lage dazu gestoßen werden wird, die Wirtschaft auf Kosten dcs Staates zu<br />
führen.<br />
Die allgemeine soziologische Bezeichnung - bürgerliche <strong>Revolution</strong> - löst keinesfalls<br />
jene politisch-taktischen Aufgaben, Wi<strong>der</strong>sprüche und Schwierigkeiten, die von <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 842
Mechanik <strong>der</strong> gegebenen bürgerlichen <strong>Revolution</strong> gestellt werden.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> Ende des XVIII. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die zur objektiven<br />
Aufgabe die Herrschaft des Kapitals hatte, erwies sich die Diktatur <strong>der</strong> Sansculotten<br />
als möglich. In <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> zu Beginn des XX. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die nach ihren<br />
unmittelbaren objektiven Aufgaben ebenfalls bürgerlich ist, zeichnet sieh als nächste<br />
Perspektive die Unvermeidlichkeit o<strong>der</strong> wenigstens doch die Wahrscheinlichkeit <strong>der</strong><br />
politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht eine flüchtige<br />
"Episode" bleibe, wie einige reale Philister hoffen, dafür wird das Proletariat selbst<br />
sorgen. Aber schon jetzt darf man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats<br />
unvermeidlich an dem Rahmen <strong>der</strong> bürgerlichen <strong>Revolution</strong> zerschellen, o<strong>der</strong> kann<br />
sie sich auf den gegebenen weltgeschiehtlichen Grundlagen die Perspektive des Sieges<br />
eröffnen, indem sie diesen einschränkenden Rahmen sprengt?<br />
(Weiter folgt die Entwicklung des Gedankens, daß die russische <strong>Revolution</strong> die proletarische<br />
<strong>Revolution</strong> im Westen entfesseln könne und aller Wahrscheinlichkeit nach<br />
entfesseln werde, was seinerseits wie<strong>der</strong> die sozialistische Entwicklung Rußlands sichern<br />
würde.<br />
Es bleibt noch hinzuzufügen, daß in den ersten Jahren des Bestehens <strong>der</strong> Kommunistischen<br />
<strong>Internationale</strong> die hier zitierte Arbeit offiziell in fremden Sprachen herausgegeben<br />
wurde als theoretische Deutung <strong>der</strong> Oktoberrevolution.)<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 843
Parteien und politische Gruppen<br />
Dekabristen - Teilnehmer an einem mißlungenen Aufstand gegen Nikolaus 1. im Dezember<br />
(russisch: Dekabr) 1825. Dieser Aufstand war <strong>der</strong> erste Versuch einer bürgerlichen<br />
<strong>Revolution</strong> in Rußland.<br />
Kadetten - volkstümlicher Name für die Konstitutionelle Demokratische Partei (K. D.),<br />
auch "Partei <strong>der</strong> Volksfreiheit" genannt; große liberale Partei für konstitutionelle<br />
Monarchie o<strong>der</strong> später Republik, die Partei <strong>der</strong> fortgeschrittenen Gutsbesitzer, des<br />
Mittelbürgertums und <strong>der</strong> bürgerlichen Intelligenz, geführt von Miljukow, Professor<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong>.<br />
Maximalisten - eine extreme Richtung, die sich während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> 1905 von den<br />
Sozialrevolutionären absplitterte.<br />
Menschewiki - gemäßigte sozialistische Partei, auf Marx sich berufend, aber die Verbindung<br />
<strong>der</strong> Arbeiterklasse mit dem liberalen Bürgertum zur Nie<strong>der</strong>werfung des Zarisnsus<br />
und zur Errichtung einer demokratischen Republik for<strong>der</strong>nd.<br />
Menschewiki-Internationalisten - linke Menschewiki, die vor <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> in manchen<br />
Fällen mit den Bolschewiki zusammengingen, <strong>der</strong> Gorkischen Zeitung 'Novaja Schisn'<br />
nahestanden.<br />
Narodniki - die <strong>russischen</strong> revolutionären Intellektuellen, die Anfang <strong>der</strong> siebziger Jahre<br />
ihre Umgebung verließen und als Handwerker, Taglöhner unter dein Volke lebten.<br />
Später Anhänger einer antimarxistischen, kleinbürgerlichen, revolutionären Lehre, die<br />
"Sozialrevolutionäre", Volkssozialisten gehören dieser Richtung an.<br />
Oktobristen - Anhänger <strong>der</strong> im Anschluß an das Zarenmanifest vom 17. (30.) Oktober<br />
1905 gegründeten Partei unter dem Namen "Verein des 17. Oktober". Diese Partei<br />
vertrat die Interessen <strong>der</strong> Großgrundbesitzer und <strong>der</strong> Großbourgeoisie. Der Führer war<br />
Gutschkow.<br />
Progressiver Block - Bündnis <strong>der</strong> meisten Dumadeputierten, während des Krieges eine<br />
starke Regierung for<strong>der</strong>nd.<br />
Schwarze Hun<strong>der</strong>t - volkstümlicher Name für den "Verband des echt <strong>russischen</strong> Volkes",<br />
eine Liga <strong>der</strong> reaktionärsten Monarchisten, die verbrecherischen Terror gegen <strong>Revolution</strong>äre<br />
anwendeten und Hauptanstifter <strong>der</strong> Pogrome waren.<br />
Sozialdemokratie (russische) - Partei, auf den Theorien Karl Marx' begründet, die in den<br />
letzten zwei Jahrzehnten des XIX. Jahrhun<strong>der</strong>ts durch Plechanow in Rußland popularisiert<br />
worden sind. Die Partei spaltete sich 1903 in Menschewiki (Min<strong>der</strong>heitler) und<br />
Bolschewiki (Mehrheitler).<br />
Sozialrevolutionäre - bäuerliche, sozialistische Partei, gegründet zu Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts;<br />
eine Fusion verschiedener Richtungen <strong>der</strong> Narodniki. Sie vertraten die Interessen<br />
des kleinbäuerlichen Landbesitzes während <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong>. Diese Partei spaltete sich<br />
in eine Gruppe <strong>der</strong> linken Sozialrevolutionäre, die nach dem Oktober eine Zeitlang mit<br />
den Bolschewiki in <strong>der</strong> Regierung waren, und in rechte Sozialrevolutionäre, die<br />
Kerenski unterstützten.<br />
Trudowiki - Partei vorsichtiger Intellektueller, die die Bauern gegen Gutsbesitzer verteidigten,<br />
aber nicht weit von den linken Kadetten standen; dieser Partei gehörte Kerenski<br />
in <strong>der</strong> Duma an.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 844
Versöhnler - allgemeine Bezeichnung für die Führer <strong>der</strong> Menschewiki und Sozialrevolutionäre<br />
- jene Parteien in den Sowjets, die, obgleich sich auf sozialistische Grundsätze<br />
stützend, mit den Kadetten Kompromisse schlossen und ihnen bewußt die Macht<br />
aushändigten.<br />
Zimmerwal<strong>der</strong> - den internationalen Prinzipien während des Krieges treugeblienene<br />
<strong>Sozialisten</strong>, genannt nach ihrer Zugehörigkeit zum Programm des <strong>Internationale</strong>n<br />
<strong>Sozialisten</strong>kongreß in Zimmerwald (Schweiz) 1915.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 845
Biographische Anmerkungen<br />
Alexan<strong>der</strong> I. (1777-1825) - russischer Zar, Nachfolger Pauls I., <strong>der</strong> durch eine Palastversehwörung<br />
ermordet wurde. Alexan<strong>der</strong> I. hatte von dieser Verschwörung gegen den<br />
Vater gewußt. In den ersten Regierungsjahren zeigte er eine gewisse Reformfreundlichkeit,<br />
die bald verschwand. Nach Napoleons Sturz gründete er mit dem Kaiser von<br />
Österreich und dem König von Preußen die "Heilige Allianz", <strong>der</strong>en Ziel war, jede<br />
freiheitliche Bewegung <strong>der</strong> Völker auszurotten.<br />
Alexan<strong>der</strong> II. (1818-1881) - regierte 1855-1881. Unter ihm wurde die Leibeigenschaft<br />
aufgehoben, die Abhängigkeit <strong>der</strong> Bauern von den Gutsherren blieb aber bestehen. Die<br />
revolutionäre Bewegung erstarkte unter Führung <strong>der</strong> Narodniki immer mehr, je<br />
reaktionärer seine Regierung wurde. 1881 wurde <strong>der</strong> Zar auf Beschluß <strong>der</strong> "Narodnaja<br />
Wolja" durch eine Bombe getötet.<br />
Awksentjew - rechter Sozialrevolutionär. Unter Kerenski Minister in einer <strong>der</strong> Koalitionsregierungen.<br />
Nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution einer <strong>der</strong> Organisatoren <strong>der</strong><br />
Konterrevolution.<br />
Benkendorf, Graf - russischer Botschafter in London 1903-1917, starb 1917 in London.<br />
Blanqui, Louis Auguste (1801-1881) - berühmter französischer <strong>Revolution</strong>är. Blanquisten<br />
- Anhänger jener Theorie, die für die politische Machtergreifung und die Errichtung<br />
einer revolutionären Diktatur durch eine revolutionäre Min<strong>der</strong>heit zur<br />
Durchführung <strong>der</strong> sozialen <strong>Revolution</strong> eintraten.<br />
Cavaignac (1802-1857) - Führer <strong>der</strong> Regierungstruppen gegen die Arbeiter 1848.<br />
Churchill - konservativer Minister im Kriege, befürwortete die Intervention gegen<br />
Sowjetrußland.<br />
Dan - Führer <strong>der</strong> Mensehewiki, seit Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre in <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> Sozialdemokratie<br />
tätig. Während des Krieges gemäßigter Internationalist, nach <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
Mitglied des Exekutivkomitees des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets und des All<strong>russischen</strong><br />
Zentral-Exckutivkomitees, trat eifrig für Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie ein. Nach <strong>der</strong><br />
Oktoberrevolution bekämpfte er aktiv die Sowjetmacht.<br />
Dubassow - Admiral, Moskauer Generalgouverneur, Unterdrücker des Moskauer<br />
Aufstandes 1905.<br />
Durnowo - einer <strong>der</strong> reaktionärsten Vertreter des Zarismus. Direktor des Polizeidepartements,<br />
Innenminister.<br />
Gapon - Priester, Organisator und Führer des 9. (22.) Januar 1905. Nach dem 9. Januar<br />
legte er das geistliche Gewand ab und floh ins Ausland. Es wurde nachgewiesen, daß<br />
er mit <strong>der</strong> Polizei in Verbindung stand. 1906 wurde er von seinen ehemaligen Anhängern<br />
getötet.<br />
Guesde, Jules - angesehener Führer <strong>der</strong> II. <strong>Internationale</strong>, kämpfte gegen die Reformisten<br />
vor dem Kriege. Nach Ausbruch des Krieges befürwortete er Einigkeit (Union sacrée)<br />
mit <strong>der</strong> Bourgeoisie. Minister ohne Portefeuille in den bürgerlichen Regierungen <strong>der</strong><br />
"Vaterlandsverteidigung".<br />
Gutschkow - gründete 1905 die "Partei des 17. Oktober" (Oktobristen), die die Interessen<br />
<strong>der</strong> reaktionären Großbourgeoisie vertrat. Präsident <strong>der</strong> III. Reichsduma. Kriegs- und<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 846
Marineminister <strong>der</strong> Provisorischen Regierung.<br />
Isgojew - Mitte neunziger Jahre Mitarbeiter marxistischer Zeitschriften, später einer <strong>der</strong><br />
konservativsten Publizisten <strong>der</strong> Kadettenpartei.<br />
Judenitsch - General, Führer <strong>der</strong> weißen Nordwestarmee, leitete den Vormarsch auf<br />
Leningrad.<br />
Kerenski - geb. 1881, Advokat, Sozialrevolutionär, schloß sich den Trudowiki an und<br />
wurde Führer <strong>der</strong> Fraktion. Während des Krieges Sozial-Patriot. Nach <strong>der</strong> Februarrevolution<br />
stellvertreten<strong>der</strong> Vorsitzen<strong>der</strong> des Petrogra<strong>der</strong> Sowjets <strong>der</strong> Arbeiter und<br />
Soldaten, trat er als Justizminister in die bürgerliche provisorische Regierung ein. Im<br />
Mai 1917 übernahm er das Kriegsministerium, nach den Julitagen war er Ministerpräsident<br />
einer Reihe von Koalitionsregierungen, nach dem Oktoberumsturz flüchtete er<br />
ins Ausland.<br />
Kokowzew - russischer Finanzminister, 1911 Ministerpräsident, extrem reaktionär.<br />
Koltschak (1870-1920) - Admiral, Führer <strong>der</strong> weißen Truppen im Kampf gegen die<br />
Sowjets. Chef <strong>der</strong> sibirischen Regierung, von <strong>der</strong> Entente anerkannt, 1919 von <strong>der</strong><br />
Roten Armee vernichtend geschlagen, ergriffen und 1920 erschossen.<br />
Kornilow - General, stellte sich im Dongebiet an die Spitze <strong>der</strong> weißen Truppen, wurde<br />
von den roten Garden geschiagen. 1918 fiel er im Kampf.<br />
Kuropatkin - russischer Kriegsminister und Oberbefehlshaber, wurde im Russisch-Japanischen<br />
Krieg vernichtend geschlagen.<br />
Meschtscherski, Fürst - Verleger und Redakteur des reaktionären Organs "Graschdanin",<br />
Inspirator <strong>der</strong> reaktionären Politik Alexan<strong>der</strong>s III. und Nikolaus II.<br />
Miljukow - Geschichtsprofessor, Führer <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> liberalen Bourgeoisie, Organisator<br />
und Haupt <strong>der</strong> Kadettenpartei. Während des Krieges Verfechter »des Krieges bis<br />
zum siegreichen Ende«. Nach dem Sturz des Zarismus Minister des Äußeren in <strong>der</strong><br />
Provisorischen Regierung. Lebt als Emigrant in Paris, wo er die Zeitung 'Poslednie<br />
Nowosti' ('Letzte Nachrichten') herausgibt.<br />
Parvus (Helphand) - russischer Sozialdemokrat, seit Anfang <strong>der</strong> neunziger Jahre in <strong>der</strong><br />
deutschen Sozialdemokratie tätig, tat sich bei <strong>der</strong> Bekämpfung des Reformismus<br />
hervor. Während des Weltkrieges Haupttheoretiker des deutschen Sozialchauvinismus<br />
und Kriegslieferant.<br />
Plechanow - Begrün<strong>der</strong> des <strong>russischen</strong> Marxisnsus, nach <strong>der</strong> Spaltung 1903 schloß er<br />
sich den Menschewiki an. Während des Krieges nahm Plechanow eine extrem sozialpatriotische<br />
Stellung ein und bekämpfte heftig die Bolschewiki.<br />
Stolypin - zaristischer Premierminister und Minister des Innern seit 1906. Er jagte die II.<br />
Reichsduma auseinan<strong>der</strong> und oktroyierte ein neues Wahlrecht (Staatsstreich vom 3.<br />
Juni 1907). Seine Agrargesetzgebung (Gesetz vom 9. November 1906) erstrebte die<br />
Zerstörung <strong>der</strong> Dorfgemeinde ("Mir") und Schaffung einer wirtschaftlich starken<br />
Bauernschicht als Stützpunkt <strong>der</strong> Regierung. 1911 durch ein Attentat getötet.<br />
Struve - russischer Publizist, ursprünglich Sozialdemokrat, später Mitglied des Zentralkomitees<br />
<strong>der</strong> Kadettenpartei, nach <strong>der</strong> <strong>Revolution</strong> 1905 Führer des äußersten rechten<br />
Flügels <strong>der</strong> Liberalen. lm Bürgerkrieg Minister bei Denikin und später bei Wrangel,<br />
heute Führer einer Grnppe monarchistischer Emigranten.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 847
Tschernow - Führer und Theoretiker <strong>der</strong> sozialrevolutionären Partei. Während des<br />
Krieges rechter Zimmerwal<strong>der</strong>, nach <strong>der</strong> Februarrevolution entschiedener Vaterlandsverteidiger.<br />
Landwirtschaftsminister in <strong>der</strong> ersten Koalitionsregierung.<br />
Zeretelli - georgischer Sozialdemokrat, Menschewik. Nach <strong>der</strong> Februarrevolution trat<br />
Zeretelli für Fortsetzung des Krieges und für die Koalition mit <strong>der</strong> Bourgeoisie ein. In<br />
<strong>der</strong> ersten Koalitionsregierung war er Minister für Post- und Telegraphenwesen.<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>russischen</strong> <strong>Revolution</strong> - 848