21.09.2013 Aufrufe

Es ist normal, verschieden zu sein - Psychose.de

Es ist normal, verschieden zu sein - Psychose.de

Es ist normal, verschieden zu sein - Psychose.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

„<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>,<br />

<strong>verschie<strong>de</strong>n</strong><br />

<strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“<br />

Verständnis und Behandlung<br />

von <strong>Psychose</strong>n<br />

aus <strong>de</strong>r Sicht von<br />

Erfahrenen und Experten<br />

Arbeitsgemeinschaft <strong>de</strong>r <strong>Psychose</strong>seminare (Hg.)


Impressum<br />

V.i.S.d.P.:<br />

Th. Bock (Hamburg), S. Heim (Köln), J. Kotulla (Hei<strong>de</strong>lberg),<br />

((?)) Schmitt ((???)), ((?)) Schwarz (Potsdam)<br />

Herstellung:<br />

Die Brücke Neumünster gGmbH<br />

Ehndorfer Straße 13–17, 24537 Neumünster


Inhalt<br />

Grundverständnis<br />

5 <strong>Psychose</strong>n - ein all<strong>zu</strong>menschliche Phänomen<br />

6 Wesentliche Verän<strong>de</strong>rungen von Stimmung und Energie<br />

(Affektive <strong>Psychose</strong>n, Manien / Depressionen)<br />

8 Wesentliche Verän<strong>de</strong>rungen von Wahrnehmen und Denken<br />

(Kognitive <strong>Psychose</strong>n /„Schizophrenien“)<br />

Menschlicher Zugang<br />

10 Normal und beson<strong>de</strong>rs - fließen<strong>de</strong> Übergänge<br />

11 Thesen <strong>zu</strong>m menschlichen Verständnis von <strong>Psychose</strong>n<br />

15 Beson<strong>de</strong>re Aspekte von Manie und Depression<br />

17 Vorurteile und ihre Entkräftung<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n<br />

18 Respekt und umfassen<strong>de</strong> Wahrnehmung<br />

19 Hilfen im Dialog<br />

23 Stellenwert von Pharmakotherapie<br />

24 Anregungen für Angehörige<br />

27 Selbstschutzmaßnahmen<br />

29 Anhang: Offener Brief und weiterführen<strong>de</strong> Literatur


„Nach unsewrem heutigen Wissen<br />

be<strong>de</strong>utet Schizophrenie<br />

in <strong>de</strong>n me<strong>ist</strong>en Fällen<br />

die beson<strong>de</strong>re Entwicklung,<br />

<strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Lebensweg eines Menschen<br />

unter beson<strong>de</strong>rs schwerwiegen<strong>de</strong>n<br />

inneren und äußeren<br />

disharmonischen Bedingungen,<br />

welche Entwicklung<br />

einen Schwellenwertt überschritten hat,<br />

nach welchem die Konfrontation<br />

<strong>de</strong>r persönlichen inneren Welt<br />

mit <strong>de</strong>r Realität und <strong>de</strong>r Notwendigkeit<br />

<strong>zu</strong>r Vereinheitlichung <strong>zu</strong> schwierig<br />

und <strong>zu</strong> schmerzhaft gewor<strong>de</strong>n <strong>ist</strong><br />

und aufgegeben wor<strong>de</strong>n <strong>ist</strong>”<br />

M. BL E U L E R


Grundverständnis<br />

<strong>Psychose</strong>n – ein „all<strong>zu</strong>-menschliches Phänomen“<br />

Menschen müssen im Unterschied <strong>zu</strong> an<strong>de</strong>ren Lebenwesen um ihr<br />

Selbstverständnis ringen. <strong>Es</strong> gehört <strong>zu</strong> unseren Fähigkeiten, an uns<br />

<strong>zu</strong> zweifeln, an<strong>de</strong>re(s) <strong>zu</strong> be-zweifeln und dabei auch <strong>zu</strong> ver-zweifeln,<br />

über uns hinaus <strong>zu</strong> <strong>de</strong>nken und uns dabei <strong>zu</strong> verlieren.<br />

• Wer längere Zeit verzweifelt <strong>ist</strong>, ohne Halt und Trost <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n,<br />

wer <strong>sein</strong>e Gefühle nicht mehr mitteilen kann und nicht mehr<br />

aushält, kann <strong>de</strong>pressiv wer<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r wenn er die Flucht nach<br />

vorne ergreift, manisch.<br />

• Wer sich selbst verliert, verliert auch <strong>sein</strong>e Begren<strong>zu</strong>ng und Abgren<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>zu</strong> an<strong>de</strong>ren. Entsprechend verän<strong>de</strong>rt sich die Art, Dinge<br />

und Personen um sich herum wahr<strong>zu</strong>nehmen. Die Gedanken<br />

wer<strong>de</strong>n sprunghaft statt logisch.<br />

Dauert dieser Zustand an, sprechen wir von <strong>Psychose</strong>n. Wer psychotisch<br />

wird, <strong>ist</strong> also kein „Wesen vom an<strong>de</strong>ren Stern“, reagiert<br />

nicht menschen-untypisch, son<strong>de</strong>rn „all<strong>zu</strong> menschlich“.<br />

„<strong>Psychose</strong>“ <strong>ist</strong> ein Sammelbegriff für tiefe ex<strong>ist</strong>enzielle Krisen, eine<br />

me<strong>ist</strong> alle Lebensbereiche umfassen<strong>de</strong> Verunsicherung. Subjektiv<br />

<strong>ist</strong> nichts mehr, wie es war, auch wenn sich vielleicht objektiv<br />

gar nicht viel verän<strong>de</strong>rt hat. Stimmung, Lebensgefühl und Lebensenergie<br />

können wesentlich verän<strong>de</strong>rt <strong>sein</strong>, ohne dass die Art <strong>de</strong>r<br />

Wahrnehmung, <strong>de</strong>s Denkens und <strong>de</strong>r Sprache beeinträchtigt <strong>ist</strong>.<br />

Dann spricht die Psychiatrie von „Affektiver <strong>Psychose</strong>“. O<strong>de</strong>r es<br />

<strong>ist</strong> eher umgekehrt: Die Sinneswahrnehmungen verselbständigen<br />

sich, das Denken wird sprunghaft und die Sprache unverständlich,<br />

ohne dass Stimmung und Energie damit automatisch verän<strong>de</strong>rt erscheinen.<br />

Das nennen Psychiater „Schizophrene <strong>Psychose</strong>“, präziser<br />

und weniger belastend wäre „Kognitive <strong>Psychose</strong>“.<br />

Da Stimmung und Wahrnehmung <strong>zu</strong>sammenhängen, erscheint<br />

diese Trennung künstlich. Letztlich <strong>ist</strong> je<strong>de</strong> <strong>Psychose</strong> an<strong>de</strong>rs und<br />

immer in ihrer individuellen Beson<strong>de</strong>rheit, im sozialen Zusammenhang<br />

und mit all ihren subjektiven Be<strong>de</strong>utungen <strong>zu</strong> betrachten.<br />

Nur so <strong>ist</strong> möglich, ansatzweise <strong>zu</strong> verstehen, wie ein Mensch<br />

da<strong>zu</strong> kommt, vorübergehend die Realität <strong>zu</strong> übersteigen, aus <strong>de</strong>r<br />

Grundverständnis 5<br />

Eine „menschliche<br />

Begabung”?<br />

Ex<strong>ist</strong>entielle Krise<br />

beson<strong>de</strong>rs dünnhäutiger<br />

Menschen<br />

Affektive und<br />

kognitive <strong>Psychose</strong>n<br />

Je<strong>de</strong> <strong>Psychose</strong> an<strong>de</strong>rs


Individualität, Respekt<br />

<strong>Psychose</strong> und Neurose<br />

Extreme Stimmung,<br />

verän<strong>de</strong>rter Energie-<br />

haushalt<br />

Depression<br />

nicht gleich Trauer<br />

Realität aus<strong>zu</strong>steigen. Nur so kann auch eine therapeutisch tragfähige<br />

Beziehung entstehen. Die aber <strong>ist</strong> die Grundlage je<strong>de</strong>r Behandlung.<br />

Je<strong>de</strong> schematische Betrachtung führt <strong>zu</strong> „standardisierter“<br />

Behandlung. Die aber <strong>ist</strong> gera<strong>de</strong> bei <strong>Psychose</strong>n mit Sicherheit<br />

unangemessen: <strong>Psychose</strong>erfahrene spüren sehr genau und reagieren<br />

empfindlich, wenn man sie nicht als individuelle Person wahrnimmt<br />

und mit entsprechen<strong>de</strong>m Respekt behan<strong>de</strong>lt.<br />

Sehr stark vereinfachend könnte man sagen: Neurosen sind Störungen<br />

in <strong>de</strong>r Beziehung <strong>zu</strong> an<strong>de</strong>ren, <strong>Psychose</strong>n Störungen in <strong>de</strong>r<br />

Beziehung <strong>zu</strong> sich selbst. Doch das stimmt sicher nicht ganz. Denn<br />

<strong>zu</strong>m einen wirkt die Beziehung <strong>zu</strong> sich immer auch auf die <strong>zu</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

(und umgekehrt). Außer<strong>de</strong>m <strong>ist</strong> es keineswegs so, dass <strong>Psychose</strong>n<br />

die Beziehung <strong>zu</strong>r eigenen Person nur stören. Sie können<br />

auch da<strong>zu</strong> führen, eigene Seiten und Bedürfnisse neu, an<strong>de</strong>rs, vollständiger<br />

wahr<strong>zu</strong>nehmen.<br />

Wesentliche Verän<strong>de</strong>rungen von Stimmung<br />

und Energie (Affektive <strong>Psychose</strong>n)<br />

Wer verzweifelt <strong>ist</strong>, ohne Halt und Trost <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n, wer <strong>sein</strong>e Gefühle<br />

nicht mehr mitteilen und nicht mehr aushalten kann, kann<br />

<strong>de</strong>pressiv wer<strong>de</strong>n. O<strong>de</strong>r, wenn er die Flucht nach vorne ergreift,<br />

manisch.<br />

Alles erscheint grau in grau o<strong>de</strong>r man sieht und fühlt sich selbst<br />

auf rosa Wolken schwebend. Der Energiehaushalt <strong>ist</strong> eingefroren<br />

o<strong>de</strong>r läuft auf Hochtouren, das Selbstbewusst<strong>sein</strong> <strong>ist</strong> auf ein<br />

Nichts <strong>zu</strong>sammen geschrumpft o<strong>de</strong>r allumfassend grenzenlos.<br />

Man traut sich gar nichts mehr o<strong>de</strong>r alles. Bei<strong>de</strong> Zustän<strong>de</strong> können<br />

alleine (als ”unipolare” Störung) o<strong>de</strong>r abwechselnd (”bipolare”<br />

Störung) auftreten. Bei<strong>de</strong> Zustän<strong>de</strong> wirken gegensätzlich und sind<br />

doch zwei Seiten <strong>de</strong>rselben Medaille. Sie haben einen Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong><br />

<strong>de</strong>m, was je<strong>de</strong>r als Stimmungsphasen aus <strong>de</strong>m Alltag kennt und<br />

sind doch in ihrer beson<strong>de</strong>ren Qualität davon <strong>de</strong>utlich <strong>zu</strong> unterschei<strong>de</strong>n:<br />

• Depression <strong>ist</strong> nicht gleich Trauer. Wer wirklich trauert und dabei<br />

Halt fin<strong>de</strong>t, braucht nicht <strong>de</strong>pressiv <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n. Wer <strong>de</strong>pressiv<br />

wird, <strong>ist</strong> verzweifelt traurig. Er trauert und versucht <strong>zu</strong>gleich<br />

6 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


<strong>de</strong>r Trauer <strong>zu</strong> entkommen. Er flieht in eine Leere, in eine<br />

D<strong>ist</strong>anz von sich selbst, die freilich die eigene Verzweiflung um<br />

so mehr nährt, je größer <strong>de</strong>r Abstand wird.<br />

• Manie <strong>ist</strong> nicht gleich Glück. Wer wirklich glücklich <strong>ist</strong>, wem<br />

das Leben glückt, <strong>de</strong>r braucht nicht manisch <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n. Wer<br />

manisch wird, <strong>ist</strong> verzweifelt glücklich. Er sucht das Glück, wo<br />

er es nie fin<strong>de</strong>n wird - weit weg von sich selbst. Die eigene Anstrengung<br />

geht dabei so sehr über alle Kräfte, dass die anfängliche<br />

Euphorie bald <strong>de</strong>r Angst weicht und die Verzweiflung immer<br />

größer wird.<br />

Bei<strong>de</strong> Zustän<strong>de</strong> können sich gera<strong>de</strong><strong>zu</strong> wechselseitig bedingen: Wer<br />

eine Manie voll auskostet, kann sich und <strong>sein</strong>e Angehörigen dabei<br />

in eine so umfassen<strong>de</strong> Erschöpfung bringen, dass <strong>de</strong>r Absturz<br />

in die Depression wie von selbst nachfolgt. Umgekehrt kann eine<br />

Depression so tief und uferlos empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, dass als Weg<br />

nach draußen nur die Flucht nach vorne bleibt.<br />

Gemeinsam <strong>ist</strong> bei<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n, dass me<strong>ist</strong>ens <strong>de</strong>r Schlaf <strong>de</strong>utlich<br />

gestört <strong>ist</strong>, mit <strong>de</strong>m Unterschied, dass Schlaflosigkeit in <strong>de</strong>r<br />

Depression als sehr quälend empfun<strong>de</strong>n wird, während in <strong>de</strong>r Manie<br />

das Schlafbedürfnis ohnehin erheblich reduziert <strong>ist</strong>.<br />

Ebenfalls in bei<strong>de</strong>n Phasen verän<strong>de</strong>rt <strong>ist</strong> das Zeitgefühl: In <strong>de</strong>r Depression<br />

herrscht ein Gefühl von ewigem Stillstand; die aktuelle<br />

Not hat kein En<strong>de</strong>. Gute Erfahrungen aus früherer Zeit o<strong>de</strong>r<br />

Hoffnungen auf die Zukunft sind un<strong>zu</strong>gänglich. O<strong>de</strong>r die Zeit<br />

läuft einem davon, man fühlt sich gelähmt und gleichzeitig gehetzt.<br />

In <strong>de</strong>r Manie scheint alles gleichzeitig möglich. Vergangenheit,<br />

Gegenwart und Zukunft verschmelzen so, daß eine real<strong>ist</strong>ische<br />

(Selbst-) Einschät<strong>zu</strong>ng kaum noch gelingt.<br />

Zahlen<br />

Depressionen ca. 5 %<br />

inkl. leichte Depressionen 20 %<br />

Manien ca. 2 %<br />

Personen<br />

Unter schweren Depressionen litten …<br />

· Winston Churchill (Britischer Premier<br />

im Zweiten Weltkrieg<br />

· Prinz Klaus von Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n<br />

· ((xxxx xxxxxxxxxx)), Min<strong>ist</strong>erpräsi<strong>de</strong>ntin<br />

von Norwegen<br />

Grundverständnis 7<br />

Manie nicht gleich<br />

Glück<br />

Zwei Seiten einer<br />

Medaille<br />

Schlafrhythmus<br />

und Zeitgefühl


Verselbständigte Sinne,<br />

sprunghaftes Denken,<br />

eigenwillige Sprache<br />

Extreme Form <strong>de</strong>s<br />

Eigensinns<br />

Zuviel von innen und<br />

<strong>zu</strong>wenig von außen?<br />

Den ganzen<br />

Menschen sehen<br />

Wesentliche Verän<strong>de</strong>rung von Wahrnehmung<br />

und Denken (Kognitive <strong>Psychose</strong>/Schizophrenie)<br />

Wer sich in Krisen selbst aus <strong>de</strong>m Blick verliert, wer keine Orientierung<br />

mehr hat, verliert dann leicht auch <strong>sein</strong>e Abgren<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong><br />

an<strong>de</strong>ren. Die Art und Weise, Dinge und Personen wahr<strong>zu</strong>nehmen,<br />

kann sich verän<strong>de</strong>rn. Die Gedanken können sprunghaft statt logisch<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Im Unterschied <strong>zu</strong> <strong>de</strong>n affektiven <strong>Psychose</strong>n sind bei schizophrenen<br />

<strong>Psychose</strong>n vor allem die Wahrnehmungen, die Sprache und<br />

das Denken verän<strong>de</strong>rt. Man spricht <strong>de</strong>shalb auch von kognitiven<br />

<strong>Psychose</strong>n. Diese Bezeichnung hat <strong>de</strong>n Vorteil, dass sie h<strong>ist</strong>orisch<br />

nicht so belastet <strong>ist</strong>; <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Nationalsozialismus wur<strong>de</strong>n<br />

Menschen mit <strong>de</strong>r Diagnose Schizophrenie als lebensunwert<br />

betrachtet und umgebracht. Diese grausamen Verbrechen <strong>de</strong>r damaligen<br />

Psychiatrie beinflussen das öffentliche Bild bis heute.<br />

In einer eher kognitiven psychotischen Krise sind Geräusche o<strong>de</strong>r<br />

Stimmen <strong>zu</strong> hören, Bil<strong>de</strong>r <strong>zu</strong> sehen o<strong>de</strong>r (seltener), Berührungen<br />

auf <strong>de</strong>r Haut <strong>zu</strong> spüren, ohne dass es dafür einen entsprechen<strong>de</strong>n<br />

Reiz gibt. Das be<strong>de</strong>utet nicht, dass die Sinnesorgane beschädigt<br />

sind. Vielmehr trägt das Gehirn, das alle Wahrnehmungen transportiert,<br />

die Verantwortung für diese Eigendynamik <strong>de</strong>r schillern<strong>de</strong>n<br />

Be<strong>de</strong>utungen. <strong>Es</strong> setzt so<strong>zu</strong>sagen innere Impulse (unbewusste<br />

Erinnerungen, Gefühle, Spannungen, Hoffnungen und Befürchtungen)<br />

in Außenreize um. <strong>Es</strong> tut das vor allem dann, …<br />

• wenn von außen entwe<strong>de</strong>r <strong>zu</strong> wenig Reize ankommen (z. B. aufgrund<br />

von sozialer Isolation und bei Schwerhörigkeit) o<strong>de</strong>r <strong>zu</strong>viele<br />

Informationen auf einmal das Fassungsvermögen sprengen,<br />

und<br />

• wenn in Krisenzeiten aus <strong>de</strong>m Unbewußten <strong>zu</strong> viele Eindrücke<br />

auf einmal ins Bewusst<strong>sein</strong> drängen, sodass unsere Verdrängungs-<br />

und Verarbeitungsmöglichkeiten (Be<strong>de</strong>nken, Vergessen,<br />

Träumen) nicht ausreichen.<br />

Verän<strong>de</strong>rungen im Denken und in <strong>de</strong>r Sprache hängen damit <strong>zu</strong>sammen.<br />

Das Denken <strong>ist</strong> weniger logisch, weniger „folgerichtig“,<br />

eher sprunghaft und assoziativ kreativ; die Sprache <strong>ist</strong> weniger<br />

selbstverständlich, son<strong>de</strong>rn entwe<strong>de</strong>r eingeschränkt (Wortwie<strong>de</strong>rholungen,<br />

Kreisen um bestimmte Begriffe) o<strong>de</strong>r erweitert (kreati-<br />

8 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


ve Neuschöpfungen). Selbstverständlich hängen Stimmung und<br />

Wahrnehmung <strong>zu</strong>sammen, beeinflussen sich affektiven und kognitiven<br />

Ve r ä n d e rungen gegenseitig: Wer <strong>de</strong>pressiv <strong>ist</strong>, „sieht<br />

schwarz“, wer hochgestimmt <strong>ist</strong>, durch eine „rosarote Brille“.<br />

Umgekehrt können affektive Verän<strong>de</strong>rungen Auslöser von schizophrenen<br />

<strong>Psychose</strong>n <strong>sein</strong> o<strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>ren Folge.<br />

Zahlen<br />

kogn. <strong>Psychose</strong>n/Schizophrenien: ca. 1%,<br />

davon …<br />

ein Drittel – einmal und nicht wie<strong>de</strong>r<br />

ein Drittel – in Krisen erneut,<br />

dazwischen stabil<br />

ein Drittel – über längere Zeit auf Hilfen<br />

angewiesen<br />

Personen<br />

Berühmte „Stimmenhörer“ waren …<br />

· Jungfrau von Orleans<br />

· Hilgegard von Bingen<br />

· Gottfried E. Lessing<br />

Grundverständnis 9


<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong><br />

<strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong><br />

Immer gleiche<br />

Stimmung?<br />

Verständigung<br />

ein Wun<strong>de</strong>r?<br />

Vielfalt und Toleranz<br />

Menschlicher Zugang<br />

„Normal“ und „beson<strong>de</strong>rs“ – fließen<strong>de</strong> Übergänge<br />

Hinsichtlich Ausmaß, Dauer und Häufigkeit von psychotischen<br />

Symptomen gibt es alle Abstufungen und Schattierungen. Niemand<br />

<strong>ist</strong> nur krank o<strong>de</strong>r nur gesund. Das lässt sich am besten<br />

nachvollziehen, wenn man sich das an<strong>de</strong>re Extrem ver<strong>de</strong>utlicht:<br />

• Eine immer gleichbleiben<strong>de</strong> Stimmungslage, ein immer gleicher<br />

Aktivitätspegel und eine immer gleiche Wahrnehmung <strong>de</strong>r selben<br />

Dinge <strong>ist</strong> kaum vorstellbar und wenn überhaupt möglich,<br />

extrem langweilig. Fast alle Menschen kennen nicht nur momentane<br />

Schwankungen, vor allem auch lange andauern<strong>de</strong><br />

kreative Schaffensphasen und Zeiten, die von irrealen Selbstzweifeln<br />

geprägt sind. Das dringt nicht immer nach draußen,<br />

Werbung und Kultur zeichnen ein an<strong>de</strong>res Bild, wie die Menschen<br />

<strong>sein</strong> sollen: ewig jung, ewig aktiv und penetrant schön.<br />

Wer sich einmal im Freun<strong>de</strong>skreis outet, hört von vielen schwere<br />

Krisen und kaum nachvollziehbare Zustän<strong>de</strong>. <strong>Es</strong> macht keinen<br />

Sinn, alle Abweichungen von <strong>de</strong>r Norm als Vorstufe von<br />

Krankheit an<strong>zu</strong>sehen.<br />

• Auch bezogen auf unsere Wahrnehmungen und unser Denken<br />

kann man sich von einem grundsätzlichen philosophischen<br />

Standpunkt aus nur wun<strong>de</strong>rn, wie selbstverständlich wir bestimmten<br />

Begriffen und Beobachtungen eine allgemeingültige<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>zu</strong>ordnen, obwohl doch je<strong>de</strong>r einzelne Mensch ganz<br />

persönliche, höchst unterschiedliche Erfahrungen damit verbin<strong>de</strong>t.<br />

Über weite Strecken funktioniert unsere Verständigung auf<br />

dieser Basis erstaunlich gut. Aber je<strong>de</strong>r kennt auch aus gesun<strong>de</strong>n<br />

Zeiten, dass bestimmte Wörter, Begriffe, Farben o<strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r<br />

plötzlich eine ganz an<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung bekommen können – sei<br />

es durch eine beson<strong>de</strong>re künstlerische Darstellung, eine literarischen<br />

Verarbeitung o<strong>de</strong>r einen schlechten Traum.<br />

Die Verän<strong>de</strong>rung von Stimmung, Wahrnehmung und Denken allein<br />

<strong>ist</strong> also nicht unbedingt etwas Bedrohliches. Doch können die<br />

Verän<strong>de</strong>rungen so weit gehen, dass alle Selbstverständlichkeit aufgehoben<br />

erscheint und <strong>de</strong>r einzelne Mensch, <strong>sein</strong>e Familie und<br />

<strong>sein</strong>e Umgebung nur selten damit alleine fertig wer<strong>de</strong>n. Wie viel<br />

Beson<strong>de</strong>rheit wir integrieren können, hängt nicht nur von <strong>de</strong>n Er-<br />

10 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


fahrungen je<strong>de</strong>s einzelnen ab, son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r Kultur, in <strong>de</strong>r<br />

wir leben und von <strong>de</strong>m Menschenbild, das wir haben. Hier <strong>ist</strong> es<br />

wenig hilfreich, wenn die Psychiatrie ein sehr enges Bild von Normalität<br />

vertritt und immer eiliger und sehr formal Spielarten <strong>de</strong>s<br />

Seins als krank bezeichnet.<br />

Zitat<br />

„Ich kenne viele Künstler, die intensiver<br />

als ich mit ihrer Seele re<strong>de</strong>n und die<br />

sagen, ohne diese para<strong>normal</strong>en Fähig-<br />

keiten könnte ich nicht arbeiten. Die<br />

Psychiatrie läuft heute in Gefahr, alles<br />

ungewöhnliche Seelenleben, das in <strong>de</strong>r<br />

Romantik noch positive Nebenklänge<br />

hatte, als pathologisch <strong>zu</strong> etikettieren<br />

und <strong>zu</strong> bekämpfen.“<br />

(Prof. Emrich, Ordinarius für Psychiatrie<br />

an <strong>de</strong>r Medizinischen Hochschule<br />

Hannover)<br />

Zitat<br />

„Vielleicht müssen die Erfahrungen so<br />

krankhaften Charakter annehmen, weil<br />

sie in einer gewissen Alltäglichkeit als<br />

Schrulligkeit o<strong>de</strong>r Originalität nicht mehr<br />

akzeptiert wer<strong>de</strong>n".<br />

(Dr. Schubert, Theologe aus Hamburg)<br />

Thesen <strong>zu</strong>m Verständnis von /für <strong>Psychose</strong>n<br />

<strong>Es</strong> gibt keine ein<strong>de</strong>utigen allgemeingültigen Erklärungen für <strong>Psychose</strong>n.<br />

Sicher <strong>ist</strong>, daß alle (= monokausalen) Erklärungen, die nur<br />

eine einzige Ursache verantwortlich machen, <strong>zu</strong> kurz greifen, egal,<br />

ob sie nun biologischer, sozialer o<strong>de</strong>r psychologischer Natur sind.<br />

Alle Versuche <strong>de</strong>r Wissenschaft, das komplexe Geschehen auf eine<br />

einzige Ursache <strong>zu</strong> reduzieren, haben <strong>de</strong>utlich mehr Scha<strong>de</strong>n als<br />

Nutzen gebracht.Das gilt für die sogenannte „schizophrenogene“<br />

Mutter ebenso wie für <strong>de</strong>n Hirnstoffwechsel. Schizophrenie <strong>ist</strong><br />

mehr als eine Hirnstörung!<br />

Insgesamt wer<strong>de</strong>n so viele Menschen in so <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>en Situationen<br />

und Kulturen psychotisch, dass man davon ausgehen muss,<br />

dass es <strong>zu</strong>r menschlichen Möglichkeit gehört und vermutlich immer<br />

gehören wird, in Krisen die Realitätsebenen <strong>zu</strong> wechseln und<br />

gedanklich o<strong>de</strong>r stimmungsmäßig aus sich selbst heraus<strong>zu</strong>treten.<br />

Vielleicht sollten wir also weniger versuchen, <strong>Psychose</strong>n ein für al-<br />

Menschlicher Zugang 11<br />

Verstehen statt Erklären


Menschen behan<strong>de</strong>ln,<br />

nicht Diagnosen<br />

Psychotisch wer<strong>de</strong>n<br />

kann je<strong>de</strong>r<br />

Durchbruch <strong>de</strong>s<br />

Unbewußten<br />

Kindliche<br />

Wahrnehmung<br />

Phasen, die für je<strong>de</strong>n<br />

kritisch sind<br />

lemal <strong>zu</strong> erklären, als im Einzelnen und Beson<strong>de</strong>ren <strong>zu</strong> verstehen.<br />

Die folgen<strong>de</strong>n Thesen sollen helfen, <strong>Psychose</strong>n selbstverständlicher<br />

<strong>zu</strong> sehen, ohne sie <strong>zu</strong> verharmlosen:<br />

[1] Je<strong>de</strong> <strong>Psychose</strong> einzigartig<br />

Je<strong>de</strong> <strong>Psychose</strong> <strong>ist</strong> an<strong>de</strong>res und erzählt eine eigene Geschichte. Sie<br />

<strong>ist</strong> immer ein individueller Vorgang, <strong>de</strong>r nur mit subjektiven Deutungen<br />

und im sozialen Zusammenhang <strong>zu</strong> verstehen <strong>ist</strong>. Diagnosen<br />

mögen für die professionelle Verständigung wichtig <strong>sein</strong>, können<br />

aber keine neuen „Tatsachen“ schaffen. Diagnosen dürfen<br />

nicht da<strong>zu</strong> verführen, nur noch eine allgemeine Krankheit und<br />

nicht mehr einen unverwechselbaren Menschen <strong>zu</strong> behan<strong>de</strong>ln.<br />

[2] <strong>Psychose</strong>n in je<strong>de</strong>m Menschen angelegt<br />

Die Möglichkeit, psychotisch <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n, trägt je<strong>de</strong>r Mensch in<br />

sich. Je nach<strong>de</strong>m wie dünnhäutig o<strong>de</strong>r dickfellig jemand <strong>ist</strong>,<br />

braucht es mehr o<strong>de</strong>r weniger Stress, Reizüberflutung o<strong>de</strong>r Isolation,<br />

um eine <strong>Psychose</strong> aus<strong>zu</strong>lösen. Doch niemand kann sicher davor<br />

<strong>sein</strong>. Eine Ahnung von psychotischem Erleben kann je<strong>de</strong>(r)<br />

von uns bekommen, wenn wir ans Träumen <strong>de</strong>nken o<strong>de</strong>r an bestimmte<br />

Zeiten kindlicher Wahrnehmung:<br />

[3] <strong>Psychose</strong> und Traum<br />

<strong>Psychose</strong>n haben manche Ähnlichkeit mit Träumen. Unbewusstes<br />

bricht sich Bahn. Wünsche und Ängste mischen sich. So wie es<br />

Wunsch- und Alpträume gibt, so gibt es auch Wunsch- und Angstanteile<br />

in <strong>Psychose</strong>n. Ein wichtiger Unterschied <strong>ist</strong>, dass wir im<br />

Traum durch <strong>de</strong>n Schlaf geschützt sind. Doch auch im Wach<strong>zu</strong>stand<br />

haben wir alle schon ähnliche Erfahrungen gemacht:<br />

[4] Rückgriff auf kindliche Wahrnehmung?<br />

Wenn ein Kind mit zwei o<strong>de</strong>r drei Jahren die ganze Welt „egozentrisch“<br />

wahrnimmt, alle Spannungen auf sich bezieht, sprechen<br />

wir von einem notwendigen Entwicklungsstadium. Bei einem Erwachsenen<br />

sprechen wir von einer paranoi<strong>de</strong>n <strong>Psychose</strong>. Der<br />

Rückgriff auf eine Durchgangsform kindlicher Wahrnehmung<br />

könnte <strong>de</strong>mnach auch einen entwicklungspsychologischen Sinn<br />

haben.<br />

[5] Krisen und Risiken<br />

<strong>Psychose</strong>n wer<strong>de</strong>n me<strong>ist</strong> in Phasen ausgelöst, die für je<strong>de</strong>n Menschen<br />

kritisch sind. Krisen sind jedoch im Leben unvermeidbar.<br />

12 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


Gemeint sind Phasen, in <strong>de</strong>nen man sich neu „verorten“ muss,<br />

biographische Krisen wie die Loslösung vom Elternhaus, die Bindung<br />

an einen Partner, die Geburt eines Kin<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Eintritt ins Berufsleben,<br />

sowie alle Formen <strong>de</strong>r Trennung u.v.a. Solche Phasen<br />

bringen für je<strong>de</strong>n Menschen eine tiefe Verunsicherung <strong>de</strong>s eigenen<br />

Selbstbil<strong>de</strong>s und die Notwendigkeit, sich neu <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n. Sie können<br />

aber von Menschen, die <strong>zu</strong> <strong>Psychose</strong>n neigen, als ex<strong>ist</strong>entiell<br />

bedrohlich erlebt wer<strong>de</strong>n. Ziel von Behandlung kann nicht <strong>sein</strong>,<br />

Krisen dieser Art um je<strong>de</strong>n Preis <strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n und ein risikoloses<br />

und damit weitgehend farbloses Leben <strong>zu</strong> verordnen. Vielmehr<br />

gilt es, mit <strong>Psychose</strong>erfahrenen langfr<strong>ist</strong>ige therapeutische Beziehungen<br />

<strong>zu</strong> entwickeln, die in Krisen schnell erreichbar und abrufbar<br />

sind.<br />

[6] Menschheits-Themen<br />

Nicht nur die Anlässe, auch die grundlegen<strong>de</strong>n Themen <strong>de</strong>r me<strong>ist</strong>en<br />

<strong>Psychose</strong>n spiegeln menschliche Grundkonflikte: z. B. das<br />

schwierige Ringen um eine unverwechselbare Eigenheit, die Gratwan<strong>de</strong>rung<br />

zwischen <strong>de</strong>m Angewiesen<strong>sein</strong> auf an<strong>de</strong>re Menschen<br />

und einer unvermeidlichen Einsamkeit, die Balance von Nähe und<br />

D<strong>ist</strong>anz, die Orientierung in einer <strong>zu</strong>nehmend unübersichtlichen<br />

Welt, die Au<strong>sein</strong>an<strong>de</strong>rset<strong>zu</strong>ng mit Endlichkeit und Transzen<strong>de</strong>nz<br />

usw. In <strong>de</strong>r Regel haben sich Spannungen über eine lange Zeit<br />

aufgebaut. Oft sind Erwartungen an<strong>de</strong>rer mit <strong>de</strong>r eigenen Wirklichkeit<br />

nicht vereinbar, passen Selbst- und Fremdbild nicht <strong>zu</strong>sammen.<br />

Manchmal passen Einflüsse aus fernerer Vergangenheit<br />

(frühere Generationen, Rituale, Normen) nicht <strong>zu</strong> <strong>de</strong>n tatsächlichen<br />

o<strong>de</strong>r vermeintlichen Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Gegenwart o<strong>de</strong>r <strong>zu</strong><br />

<strong>de</strong>n Befürchtungen und Erwartungen an die Zukunft.<br />

Dünnhäutige Menschen wer<strong>de</strong>n von diesen Themen und Konflikten<br />

mehr gebeutelt als an<strong>de</strong>re. Aber es tut ihnen gut, wenn wir<br />

nicht von vorneherein die hintergründigen Konflikte, Themen und<br />

Spannungen als krank betrachten und behan<strong>de</strong>ln, son<strong>de</strong>rn einen<br />

Verbindung <strong>zu</strong> eigenen Lebensthemen <strong>zu</strong>lassen.<br />

[7] Von Natur aus <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>?<br />

Je empfindsamer ein Mensch <strong>ist</strong>, <strong>de</strong>sto eher kann er in Krisen „außer<br />

sich geraten“. Dünnhäutig kann man wer<strong>de</strong>n, z. B. durch beson<strong>de</strong>re<br />

Belastungen o<strong>de</strong>r durch ausbleiben<strong>de</strong> Bestätigung. Dünnhäutig<br />

kann man aber auch von Natur aus <strong>sein</strong>. Selbstverständlich<br />

sind wir Menschen von Geburt an <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> dünnhäutig o<strong>de</strong>r<br />

dickfellig. Und es wäre merkwürdig, wenn Vererbung dabei gar<br />

Menschlicher Zugang 13<br />

Themen,<br />

die je<strong>de</strong>n angehen<br />

<strong>Psychose</strong>n nicht vererbt


Visionen und<br />

Stimmen<br />

Reizüberflutung<br />

„Biologische Narben“<br />

<strong>de</strong>n ganzen Menschen<br />

ernstnehmen<br />

keine Rolle spielen wür<strong>de</strong>. Doch inwischen <strong>ist</strong> auch hier die Wissenschaft<br />

gezwungen und in <strong>de</strong>r Lage <strong>zu</strong> differenzieren: Vererbung<br />

be<strong>de</strong>utet nicht die Festlegung eines Menschen, vielmehr können<br />

sogar die Gene schlummern o<strong>de</strong>r wach <strong>sein</strong>, also durch eine beson<strong>de</strong>re<br />

Belastung in einer bestimmten Situation aktiviert, in ihrer<br />

Wirksamkeit „geweckt“ wer<strong>de</strong>n. Die <strong>Psychose</strong> selbst wird mit Sicherheit<br />

nicht vererbt.<br />

[8] Dünnhäutigkeit in bei<strong>de</strong> Richtungen<br />

Eine schizophrene <strong>Psychose</strong> <strong>ist</strong> <strong>zu</strong> verstehen als ein Zustand extremer<br />

Dünnhäutigkeit – mit <strong>de</strong>m Risiko <strong>de</strong>r Überflutung durch<br />

Wahrnehmungen von Außen und Impulsen von Innen und <strong>de</strong>r<br />

Flucht in eine an<strong>de</strong>re /eigene Realität als Schutz. Diese Durchlässigkeit<br />

gilt in bei<strong>de</strong> Richtungen:<br />

Inneres dringt ungehin<strong>de</strong>rt nach Außen und nimmt als Vision<br />

o<strong>de</strong>r Stimme Gestalt an. Reale äußere Reize, Spannungen und<br />

Konflikte, die wir im „<strong>normal</strong>en“ Zustand filtern und verdrängen,<br />

treffen ohne je<strong>de</strong> Abwehrchance ins Innere. In <strong>de</strong>r Regel kann/sollte<br />

Therapie sich nicht mit <strong>de</strong>m Herstellen eines dickeren Fells begnügen:<br />

Sie darf sich bei <strong>de</strong>r Analyse angstauslösen<strong>de</strong>r Reize nicht<br />

von vorneherein auf das Innenleben beschränken (mit <strong>de</strong>r Gefahr<br />

alles <strong>zu</strong> „psychologisieren“), son<strong>de</strong>rn muss auch die Gefahren <strong>de</strong>s<br />

realen Lebens ernstnehmen.<br />

[9] Körper als Spiegel <strong>de</strong>r Seele<br />

Bei allen tiefen Gefühlen – und sicher auch bei exientiellen Krisen<br />

von psychotischen Ausmaßen – <strong>ist</strong> <strong>de</strong>r Körper auf vielen Ebenen<br />

beteiligt. Herzfrequenz, Blutdruck, Hirnstoffwechsel u. a. reagieren<br />

auf Belastungen <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>ster Art. Bei anhalten<strong>de</strong>n Krisen<br />

können alle diese Systeme eine Eigendynamik entwickeln: Der<br />

Bluthochdruck kann <strong>zu</strong> einem Dauer<strong>zu</strong>stand wer<strong>de</strong>n, die Verän<strong>de</strong>rungen<br />

<strong>de</strong>s Hirnstoffwechsels können einen Menschen für Reizüberflutung<br />

anfälliger machen. Wie eine Art „biologische Narbe“.<br />

Die körperlichen Verän<strong>de</strong>rungen sind also in <strong>de</strong>r Regel nicht die<br />

Ursache, son<strong>de</strong>rn gewissermaßen aus <strong>de</strong>m Ru<strong>de</strong>r laufen<strong>de</strong> körperliche<br />

Selbsthilfesysteme. Deshalb <strong>ist</strong> ein <strong>zu</strong> enger Krankheitsbegriff<br />

irreführend, die Allein<strong>zu</strong>ständigkeit <strong>de</strong>r Körpermedizin falsch. Gegen<br />

die Eigendynamik <strong>de</strong>s Körpers können Medikamente jedoch<br />

hilfreich <strong>sein</strong>. <strong>Psychose</strong>n <strong>de</strong>shalb als rein körperlich bedingt <strong>zu</strong> betrachten<br />

<strong>ist</strong> unangemessen, nicht <strong>zu</strong> En<strong>de</strong> gedacht und <strong>zu</strong><strong>de</strong>m wenig<br />

hilfreich. Menschen, die sich und ihre <strong>Psychose</strong> vollständiger<br />

wahrnehmen und umfassen<strong>de</strong>r verstehen (wollen) wer<strong>de</strong>n so in<br />

14 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


die Ablehnung von Medikamenten getrieben (Non-Compliance),<br />

auch wenn diese eine begrenzte Hilfe <strong>sein</strong> könnten.<br />

[10] Aktives Han<strong>de</strong>ln<br />

Die <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>en therapeutischen Schulen haben sich im Sinne eines<br />

kleinsten gemeinsamen Nenners auf die Vorstellung geeinigt,<br />

<strong>Psychose</strong>n seien multifaktoriell bedingt: Verschie<strong>de</strong>ne Faktoren<br />

kommen <strong>zu</strong>sammen und bringen eine <strong>Psychose</strong> hervor. Diese<br />

Sichtweise verkennt, dass immer auch aktives Han<strong>de</strong>ln beteiligt<br />

<strong>ist</strong>. Der Mensch <strong>ist</strong> kein Ding. Auch die <strong>Psychose</strong> <strong>ist</strong> nicht nur bedingt,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>zu</strong>gleich immer auch Ausdruck, eines aktiven Han<strong>de</strong>lns,<br />

eines aktiven Ringens mit sich selbst, mit bestimmten<br />

Wi<strong>de</strong>rsprüchen und widrigen Umsträn<strong>de</strong>n. Das Selbst bleibt gewissermaßen<br />

erhalten und funktioniert weiter, aber auf einem an<strong>de</strong>ren<br />

ex<strong>ist</strong>entiellen Niveau. Inzwischen wird diese Position von<br />

<strong>de</strong>n <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>sten therapeutischen Schulen gestützt, bleibt in <strong>de</strong>r<br />

Praxis aber <strong>de</strong>nnoch häufig unbeachtet.<br />

Beson<strong>de</strong>re Aspekte von Manie und Depression<br />

Während bei kognitiven/schizophrenen <strong>Psychose</strong>n oft das Selbstgefühl<br />

verän<strong>de</strong>rt <strong>ist</strong>, können Depressionen und Manien vor allem<br />

Ausdruck eines un<strong>zu</strong>reichen<strong>de</strong>n Selbstwertgefühls <strong>sein</strong>. Auf <strong>de</strong>m<br />

Hintergrund eines vielleicht ohnehin geringen „Grundkapitals an<br />

Selbstbewusst<strong>sein</strong>“ führen <strong>zu</strong>sätzliche Kränkungen und Misserfolge<br />

in Verbindung mit me<strong>ist</strong> überhöhten Anfor<strong>de</strong>rungen und Erwartungen<br />

in die Depression. Die Depression selbst beschleunigt<br />

dann noch <strong>de</strong>n Teufelskreis von Selbstentwertung. Aber auch im<br />

Hochgefühl <strong>de</strong>r Manie wird das Selbstwertgefühl nicht wirklich<br />

genährt, die Selbstabwertung geschieht nur verzögert und oft erst<br />

vermittelt durch die negativen Reaktionen <strong>de</strong>r Umgebung.<br />

Eigene Maßstäbe<br />

Menschen, die in diesem Sinne <strong>zu</strong> Extremen neigen, sind in <strong>de</strong>r<br />

Regel nicht <strong>zu</strong> wenig, son<strong>de</strong>rn <strong>zu</strong> viel von einengen<strong>de</strong>n Normen<br />

geprägt und fühlen sich frem<strong>de</strong>n Erwartungen ohnmächtig ausgeliefert.<br />

In Depressionen <strong>ist</strong> das offenkundig. (Das „Über-Ich“<br />

scheint das Ich <strong>zu</strong> erdrücken.) Doch entgegen <strong>de</strong>m Anschein haben<br />

auch Menschen, die <strong>zu</strong> Manien neigen, die herrschen<strong>de</strong>n sozialen<br />

Normen me<strong>ist</strong> eher <strong>zu</strong> tief verinnerlicht. Manische Men-<br />

Menschlicher Zugang 15<br />

Eigenverantwortung<br />

auch im Kleinen<br />

Geringes<br />

Selbstwertgefühl<br />

Teufelskreis<br />

Frem<strong>de</strong>n Erwartungen<br />

ausgeliefert


Gelernte Hilflosigkeit<br />

Manie als Abwehr<br />

Deprssion als<br />

Selbstschutz<br />

Ringen um<br />

Selbstverständnis<br />

Nicht ob,<br />

son<strong>de</strong>rn wie…<br />

schen stellen die Normen manchmal in provozieren<strong>de</strong>r Weise in<br />

Frage, me<strong>ist</strong> jedoch, ohne sie wirklich aufgeben <strong>zu</strong> können. (Das<br />

Über-Ich scheint außer Kraft gesetzt, doch das Ich kann <strong>de</strong>n Raum<br />

nicht füllen.) Auch manische Menschen brauchen Ermutigung, ihre<br />

Unkonventionellen Seiten im Normalen <strong>zu</strong> iuntegrieren, statt<br />

sie immer nur für die Manie auf<strong>zu</strong>heben.<br />

Schutzmechanismen<br />

Bei<strong>de</strong> Zustän<strong>de</strong> – Manie und Depression – be<strong>de</strong>uten nicht nur Störung,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>zu</strong>gleich, wenn auch nur vorübergehend und un<strong>zu</strong>reichend,<br />

eine Stabilisierung <strong>de</strong>s inneren emotionalen Gleichgewichts.<br />

Die Manie entlastet, in<strong>de</strong>m sie frem<strong>de</strong> Erwartungen und<br />

eigene Normen durcbricht, vor allem aber die eigene Angst davor,<br />

abwehren hilft – allerdings um einen hohen Preis, weil diese Abwehr<br />

auf Dauer nicht gelingen kann. Die Depression schützt, in<strong>de</strong>m<br />

sie Verzweiflung bin<strong>de</strong>t, gewissermaßen einfriert und <strong>zu</strong>gleich<br />

<strong>de</strong>r Umset<strong>zu</strong>ng von Selbsttötungsabsichten eine innere<br />

Lähmung entgegensetzt. Alle Schlechtigkeiten <strong>de</strong>r Welt im Inneren<br />

vorweg<strong>zu</strong>nehmen, <strong>ist</strong> ein <strong>de</strong>pressionstypischer Teufelskreis. Das<br />

eigene Scheitern permanent selbst <strong>zu</strong> organisieren und <strong>zu</strong> beweisen,<br />

erweckt <strong>zu</strong>min<strong>de</strong>st <strong>de</strong>n Anschein von Souveränität.<br />

Biologische Narben<br />

In affektiven <strong>Psychose</strong>n stehen psychische Eindrücke, biografische<br />

Erfahrungen und Hirnstoffwechsel in einer komplizierten und<br />

subtilen Wechselwirkung. Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Hirnstoffwechsels<br />

sind nicht ursächlich und nicht allein für die extremen Stimmungsschwankungen<br />

verantwortlich <strong>zu</strong> machen. Sie beruhen vielmehr<br />

auf nachhaltigen psychischen Erfahrungen. Allerdings können<br />

Verän<strong>de</strong>rungen im Hirnstoffwechsel die Empfindlichkeit für<br />

Kränkungen <strong>zu</strong>sätzlich erhöhen. Insofern kann es sinnvoll <strong>sein</strong>,<br />

Medikamente <strong>zu</strong>r Entlastung ein<strong>zu</strong>setzen. Die eigene biografische<br />

Erfahrung und das eigene psychologische Selbstverständnis wer<strong>de</strong>n<br />

dadurch keineswegs be<strong>de</strong>utungslos.<br />

Chancen<br />

Auch bei affektiven <strong>Psychose</strong> kommt es auf eine psychotherapeutische<br />

Einbettung einer möglichen medikamentösen Behandlung<br />

an. Nur die Symptome schnellstmöglichst <strong>zu</strong> beseitigen, <strong>ist</strong> für<br />

alle Seiten verführerisch, greift aber <strong>zu</strong> kurz und lässt auch Chancen<br />

ungenutzt.<br />

16 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


• Nicht allein, ob jemand aus <strong>de</strong>r Depression wie<strong>de</strong>r auftaucht,<br />

<strong>ist</strong> entschei<strong>de</strong>nd, son<strong>de</strong>rn auch, wie er es tut.<br />

• Nicht allein, ob jemand nach einer Manie wie<strong>de</strong>r lan<strong>de</strong>t, <strong>ist</strong> entschei<strong>de</strong>nd,<br />

son<strong>de</strong>rn auch, was er dabei für ein besseres Verständnis<br />

von sich selbst mitnimmt.<br />

Insofern <strong>ist</strong> es wichtig, <strong>de</strong>n Weg durch die Depression <strong>zu</strong> begleiten<br />

und auch diese schreckliche Zeit <strong>zu</strong> nutzen, so viel über sich <strong>zu</strong> erfahren,<br />

dass neue Depressionen möglichst unnötig wer<strong>de</strong>n. Bei<br />

guter Begleitung und Nachsorge kann man in wenigen Wochen<br />

Manie mehr über sich selbst erfahren, als durch jahrelange Psychotherapie.<br />

Oft gelingt das nicht im ersten Anlauf, vielleicht auch<br />

nicht in <strong>de</strong>r akuten Zeit. Eine längerfr<strong>ist</strong>ige Begleitung in psychotherapeutischen<br />

Gruppen kann aber, allein schon durch die<br />

Gegenwart <strong>de</strong>r jeweils verdrängten an<strong>de</strong>ren Seite, die Ten<strong>de</strong>nz <strong>zu</strong>r<br />

Mitte stärken und die Reflexion über sich selbst för<strong>de</strong>rn.<br />

Vorurteile und ihre Entkräftigung<br />

(s. Text aus Österreich <strong>zu</strong> „Gefährlichkeit“,<br />

„Unberechenbarkeit“)<br />

Menschlicher Zugang 17<br />

Gruppen-<br />

Psychotherapie


<strong>Psychose</strong>n als<br />

menschlich erkennen…<br />

…und nicht<br />

verharmlosen<br />

Den ganzen<br />

Menschen sehen<br />

Eigendynamik<br />

von <strong>Psychose</strong>n<br />

Umfassen<strong>de</strong> Hilfe<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n<br />

Respekt und umfassen<strong>de</strong> Wahrnehmung<br />

<strong>Psychose</strong>n gehören <strong>zu</strong>m menschlichen Repertoire, verweisen auf<br />

die „Brüchigkeit“ unseres Da<strong>sein</strong>s, sind „all<strong>zu</strong>menschlich“. Doch<br />

das darf nicht be<strong>de</strong>uten, sie <strong>zu</strong> verharmlosen. Die Spannweite <strong>de</strong>r<br />

Möglichkeiten, wie Menschen <strong>sein</strong> und fühlen können, <strong>ist</strong> „irrsinnig“<br />

groß. Auch das unterschei<strong>de</strong>t uns von an<strong>de</strong>ren Lebewesen.<br />

• Eine psychotische Depression kann bis <strong>zu</strong> einem Zustand tiefer<br />

Lähmung und bis <strong>zu</strong>r Selbsttötung führen (wobei das eine<br />

gleichzeitig vor <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren schützt).<br />

• Eine Manie kann große Verzweiflung und Scham hinterlassen<br />

und lange gewachsene soziale Bindungen tief verstören.<br />

• Eine kognitive/schizophrene <strong>Psychose</strong> kann in eine tiefe nachhaltige<br />

Verwirrung führen und eine große Orientierungslosigkeit<br />

bewirken bzw. sie ver<strong>de</strong>utlichen.<br />

Wenn Menschen in eine tiefe ex<strong>ist</strong>enzielle Krise geraten, sind alle<br />

Ebenen <strong>de</strong>s Lebens berührt. Seele, Körper und soziale Situation<br />

sind so eng verflochten, daß es oftmals müßig erscheint, Ursachen<br />

und Folgen voneinan<strong>de</strong>r <strong>zu</strong> trennen. Zugleich kann es bei einer<br />

<strong>Psychose</strong> auf allen drei Ebenen <strong>zu</strong> einer gewissen Eigendynamik<br />

kommen:<br />

• Das Individuum verän<strong>de</strong>rt in <strong>sein</strong>er <strong>Psychose</strong> <strong>sein</strong>en Bewußt<strong>sein</strong>s<strong>zu</strong>stand<br />

ohne Drogen, um einer Belastung, Krise, Überfor<strong>de</strong>rung<br />

vorübergehend <strong>zu</strong> entkommen, fin<strong>de</strong>t dann aber u.U.<br />

nicht ohne Weiteres in die Realität <strong>zu</strong>rück.<br />

• Das familiäre und soziale System wird möglicherweise in einen<br />

Stru<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Verunsicherung hineingezogen, so dass es, um weiter<br />

hilfreich <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>, <strong>de</strong>r Unterstüt<strong>zu</strong>ng bedarf.<br />

• Der Körper, vor allem <strong>de</strong>r Hirnstoffwechsel, reagiert auf die<br />

psychische Belastung, macht dabei aber u.U. für neuen Stress<br />

noch empfindlicher.<br />

Hilfe muss alle drei Ebenen beachten, muss Psycho, Sozio- und<br />

Pharmakotherapie verbin<strong>de</strong>n. Unser Hilfesystem aber <strong>ist</strong> einseitig<br />

biologisch ausgerichtet: Medikamente wer<strong>de</strong>n gegeben ohne<br />

gleichzeitige und selbstverständliche (psycho-) therapeutische Bin-<br />

18 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


dung über ausreichend lange Zeit. Die Familien wer<strong>de</strong>n allein gelassen.<br />

Ein <strong>de</strong>r Situation angemessenes <strong>Psychose</strong>verständnis bleibt<br />

unberücksichtigt. Gleichzeitig formuliert unsere Kultur einen unbarmherzigen<br />

Anspruch an Le<strong>ist</strong>ung, Jugend und Schönheit. Gefühle<br />

wer<strong>de</strong>n in Talkshows entwertet. Reizüberflutung wird <strong>zu</strong>m<br />

Massenphänomen. Persönliche und familiäre Dramen sind nicht<br />

mehr selbstverständlich. Für innere Vielfalt und Toleranz gibt es<br />

keine Sprache. Und gesellschaftliche Instanzen, die Orientierung<br />

bieten, sind kaum mehr in Sicht. Eine Medizin/Psychiatrie, die immer<br />

pathologischer <strong>de</strong>nkt und auf ausschließlich pharmakologische<br />

Hilfe setzt, <strong>ist</strong> keine langfr<strong>ist</strong>ig tragfähige Hilfe. Diese Entmächtigung<br />

aber <strong>ist</strong> es, die viele <strong>Psychose</strong>erfahrene in <strong>zu</strong>sätzliche<br />

Verzweiflung und bis in <strong>de</strong>n Tod treibt.<br />

Hilfen im Dialog<br />

Fragt man psychoseerfahrene Menschen, was sie in akuten Krisen<br />

brauchen, o<strong>de</strong>r im Nachhinein, was <strong>zu</strong>r Genesung beigetragen<br />

hat, so sind scheinbar unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Dinge wichtig:<br />

• Authentische also selbstverständliche bzw. das „<strong>normal</strong>e“<br />

Selbstverständnis för<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Erlebnisse,<br />

• Erfahrungen von Normalität,<br />

• Zeit, Ruhe, Geduld,<br />

• Rück<strong>zu</strong>gsraum, „Spielraum“,<br />

• Gewohnheiten und Eigenarten, die <strong>de</strong>n „Eigen-Sinn“ för<strong>de</strong>rn<br />

(Träume, Tagebücher, Naturerlebnisse, usw.),<br />

• Angehörige und Freun<strong>de</strong>, die <strong>zu</strong> einem halten, Menschen,<br />

die einfach nur da sind.<br />

Hilfe muss ganzheitlich <strong>sein</strong>, im gewohnten Lebensumfeld ansetzen,<br />

sich auf die vorhan<strong>de</strong>nen Ressourcen beziehen und sich vor<br />

allem auf eine verlässliche langfr<strong>ist</strong>ige Begleitung stützen.<br />

Gegenüber <strong>sein</strong><br />

Wer in eine ex<strong>ist</strong>enzielle Krise gerät, braucht einen Menschen<br />

gegenüber, um sich wie<strong>de</strong>r <strong>zu</strong> orientieren und sich in an<strong>de</strong>ren <strong>zu</strong><br />

spüren und <strong>zu</strong> spiegeln. Wenn dieses Gegenüber einen weißen Kittel<br />

trägt und nicht mehr als eine Pille für nötig hält, spiegelt sich<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n 19<br />

Orientierung geben<br />

Authentische Erlebnisse<br />

Orientierung fin<strong>de</strong>n


Ressourcen stützen<br />

Selbsthilfe<br />

immer <strong>zu</strong>erst<br />

Inseln <strong>de</strong>r Klarheit<br />

im an<strong>de</strong>ren ausschließlich Krankheit. So wird etwas verfestigt,<br />

was eigentlich aufgelöst wer<strong>de</strong>n soll. Eine Medikation kann hilfreich<br />

<strong>sein</strong>, aber nur im Kontext einer tragfähigen Beziehung, die<br />

Selbstwahrnehmung und Selbstverständlichkeit (wie<strong>de</strong>r) <strong>zu</strong>lässt,<br />

die es ermöglicht, sich wie<strong>de</strong>r ganz <strong>zu</strong> spüren, Verunsichertes <strong>zu</strong>min<strong>de</strong>st<br />

<strong>zu</strong> benennen und Erwartungen neu an<strong>zu</strong>passen. Wer als<br />

Therapeut die Be<strong>de</strong>utung von Stimmen, Bil<strong>de</strong>rn und Halluzinationen<br />

ausklammert bleiben, vertieft die innere Abspaltung von Erleben,<br />

statt sie überwin<strong>de</strong>n <strong>zu</strong> helfen. Ob und wie eine Hilfe (auch<br />

eine medikamentöse) wirkt, das entschei<strong>de</strong>t sich im Inneren eines<br />

Menschen, hängt also sehr davon ab, wie weit sich dieser Mensch<br />

als ganze Person wahrgenommen und unterstützt fühlt. Viele irren<br />

lange durch das Versorgungssystem, bis sie endlich in einer tragfähigen<br />

therapeutischen Beziehung „andocken“ können.<br />

Unterstüt<strong>zu</strong>ng <strong>de</strong>r Familie<br />

Das gilt auch für die engsten Verwandten und Vertrauten, vor allem<br />

für die Familie – die Ursprungsfamilie und/o<strong>de</strong>r die eigene Familie.<br />

Auch sie brauchen Pflege und Unterstüt<strong>zu</strong>ng, um ihre Ressourcen<br />

erhalten und weiter <strong>zu</strong>r Verfügung stellen <strong>zu</strong> können, um<br />

weiter selbstverständlich da <strong>zu</strong> <strong>sein</strong> und nicht in <strong>de</strong>n Stru<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r<br />

Verwirrung hineingezogen <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n. Die Familie <strong>zu</strong> unterstützen,<br />

sie therapeutisch ein<strong>zu</strong>beziehen, heißt also nicht, sie ihrerseits<br />

<strong>zu</strong>m Patienten <strong>zu</strong> machen. Vielmehr gilt es, familiäre und klinische,<br />

private und öffentliche Ressourcen wahr<strong>zu</strong>nehmen und <strong>zu</strong><br />

verknüpfen<br />

Therapie als Supervision von Eigenbalance<br />

Auch nach Ausbruch einer <strong>Psychose</strong> fin<strong>de</strong>n individuelle Versuche<br />

statt, sie aus<strong>zu</strong>balancieren, ihr gegen<strong>zu</strong>steuern. Dies geschieht immer<br />

schon vor je<strong>de</strong>r professionellen Hilfe und hört nie auf. Eine<br />

Hilfe, die an <strong>de</strong>r Eigenbalance anknüpft, sie ernstnimmt und stützt<br />

bzw. im Sinne einer „Supervision von Eigenhilfe“ aus Sackgassen<br />

herausgeleitet, hat die besten Chancen, unnötige Nebenwirkungen<br />

<strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n. Zu beachten <strong>ist</strong> dabei, dass Nebenwirkungen durch<br />

je<strong>de</strong> Therapie gesetzt wer<strong>de</strong>n, keineswegs nur durch Medikamente.<br />

Selbst in <strong>de</strong>r akutesten <strong>Psychose</strong> gibt es Inseln <strong>de</strong>r Klarheit, Bereiche,<br />

in <strong>de</strong>nen psychische Vorgänge weitgehend <strong>normal</strong> ablaufen.<br />

Diese Inseln gilt es <strong>zu</strong> orten, vorsichtig <strong>zu</strong> betreten, <strong>zu</strong> festigen<br />

und <strong>zu</strong> erweitern. Nicht <strong>zu</strong>letzt for<strong>de</strong>rt auch die Hirnforschung<br />

da<strong>zu</strong> auf, Halluzinationen inhaltlich ernst <strong>zu</strong> nehmen, und die<br />

20 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


physiologisch blockierte Wie<strong>de</strong>raneignung von Erlebnissen psychotherapeutisch<br />

<strong>zu</strong> unterstützen.<br />

Ökologische Bedingungen<br />

Im Zustand akuter Verwirrung wünschen <strong>Psychose</strong>erfahrene vor<br />

allem Ruhe und Zeit, einen gemütlichen Raum und eine tragen<strong>de</strong><br />

Atmosphäre sowie therapeutische Präsenz eines wohlwollen<strong>de</strong>n<br />

Menschen, <strong>de</strong>r nicht <strong>zu</strong> nahe kommt und nicht <strong>zu</strong> viel will und tut.<br />

Damit <strong>ist</strong> ungefähr das Gegenteil <strong>de</strong>ssen beschrieben, was traditionelle<br />

Aufnahmestationen bieten. Ein solches Milieu kann Krisen<br />

entdramatisieren helfen. Das zeigen die Erfahrungen mit außerklinischer<br />

Krisenintervention in „Soteria“-Krisenhäusern und<br />

in häuslicher Umgebung.<br />

Beziehung wichtiger als Technik<br />

Die Erfahrungen <strong>de</strong>r <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>en therapeutischen Schulen zeigen<br />

im Umgang mit <strong>Psychose</strong>erfahrenen eine wechselseitige Annäherung<br />

und Besinnung auf das Wesentliche. Eine flexible, in stabilen<br />

Zeiten auch nie<strong>de</strong>rfrequente, in Krisen aber schnell verfügbare,<br />

dichte und lebensfeldorientierte Hilfe <strong>ist</strong> notwendig. Dabei wer<strong>de</strong>n<br />

strukturübergreifen<strong>de</strong> Angebote immer wichtiger, auch <strong>de</strong>shalb,<br />

weil die immer kürzer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Verweildauer eine abgeschlossene<br />

Spezialisierung <strong>de</strong>r stationären Bereiche <strong>zu</strong>nehmend<br />

unsinnig erscheinen lassen.<br />

Symptombeseitigung kein Selbstzweck<br />

Die Ziele <strong>de</strong>r Behandlung müssen gemeinsam bestimmt wer<strong>de</strong>n.<br />

Symptome <strong>zu</strong> beseitigen kann und darf nicht das einzige Bestreben<br />

<strong>sein</strong>. Oft <strong>ist</strong> ja gera<strong>de</strong> dieses Ziel nicht o<strong>de</strong>r nur auf Umwegen <strong>zu</strong><br />

erreichen o<strong>de</strong>r auch in dieser Absolutheit fragwürdig. Notwendig<br />

<strong>ist</strong> eine feine Abstimmung mit <strong>de</strong>m Patienten: Welche Stimmen<br />

sind leichter <strong>zu</strong> ertragen als die neuroleptischen Nebenwirkungen,<br />

welche sollen <strong>zu</strong>min<strong>de</strong>st leiser wer<strong>de</strong>n und welche erfor<strong>de</strong>rn unsere<br />

volle psychotherapeutische Aufmerksamkeit? Nur <strong>de</strong>r Dialog<br />

führt <strong>zu</strong> einer angemessenen Balance zwischen symptomorientierten<br />

und verstehen<strong>de</strong>n Verfahren.<br />

Rückfallvermeidung kein Selbstzweck<br />

<strong>Psychose</strong>n hängen mit Krisen <strong>zu</strong>sammen. Krisen sind aber nicht<br />

um je<strong>de</strong>n Preis <strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>nfalls macht es keinen Sinn,<br />

<strong>Psychose</strong>-Erfahrene <strong>zu</strong> einem risikolosen und damit armen Leben<br />

<strong>zu</strong> „verdonnern“ – und sie damit in die Noncompliance o<strong>de</strong>r in<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n 21<br />

Akutstationen = Gift!<br />

Halt fin<strong>de</strong>n<br />

Symptome verstehen,<br />

nicht nur bekämpfen


Krisen begleiten,<br />

nicht um je<strong>de</strong>n Preis<br />

verhin<strong>de</strong>rn<br />

Frem<strong>de</strong>s integrieren<br />

„<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> nurmal,<br />

<strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“<br />

die Depression <strong>zu</strong> treiben. Auch ständig auf Frühwarnzeichen <strong>zu</strong><br />

achten, kann das Leben vermiesen. Notwendig <strong>ist</strong> eine gesun<strong>de</strong><br />

Mischung von Fehlerfreundlichkeit und Krisenbegleitung.<br />

Verstehen<strong>de</strong>r Zugang<br />

Ein eigenes, subjektiv passen<strong>de</strong>s Verständnis von <strong>Psychose</strong>n <strong>ist</strong> nur<br />

individuell und durch intensive Au<strong>sein</strong>an<strong>de</strong>rset<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong> erarbeiten.<br />

Die sogenannte Krankheitsuneinsichtigkeit <strong>ist</strong> kein Symptom, son<strong>de</strong>rn<br />

be<strong>de</strong>utet die Ablehnung einseitiger, unmenschlicher Krankheitskonzepte.<br />

Frem<strong>de</strong>s als Eigenes in das Leben integrieren <strong>zu</strong> lernen,<br />

Ausgren<strong>zu</strong>ng selbstbewußt <strong>zu</strong> begegnen und Gesun<strong>de</strong>s im<br />

Kranken <strong>zu</strong> ent<strong>de</strong>cken, <strong>ist</strong> für die me<strong>ist</strong>en ein langfr<strong>ist</strong>iger Weg.<br />

Niemand nur krank<br />

Nicht je<strong>de</strong> Nonkonformität, nicht je<strong>de</strong> unangenehme Eigenart <strong>ist</strong><br />

<strong>zu</strong>r Krankheit <strong>zu</strong> zählen. Die Gefahr <strong>de</strong>r Hospitalisierung beginnt<br />

nicht erst mit <strong>de</strong>r Unterbringung im Krankenhaus, son<strong>de</strong>rn mit<br />

<strong>de</strong>r falschen Zuordnung von Eigenschaften <strong>zu</strong>r Krankheit. Auch<br />

und gera<strong>de</strong> psychisch kranke Menschen sollten so weit wie irgend<br />

möglich die Verantwortung für ihr Tun und Lassen behalten dürfen,<br />

auch wenn ihr Tun gelegentlich exzentrisch anmutet, ihre Lebensentwürfe<br />

manchmal ungewöhnlich sind. <strong>Es</strong> macht keinen<br />

Sinn, für je<strong>de</strong> Normabweichung neue Krankheiten <strong>zu</strong> kreieren.<br />

Gera<strong>de</strong> die <strong>zu</strong>nehmen<strong>de</strong>n, vielfältigen Möglichkeiten von Prävention<br />

und Behandlung erfor<strong>de</strong>rn ein offenes Menschenbild und ein<br />

Krankheitsmo<strong>de</strong>ll, das <strong>de</strong>n psychisch kranken Menschen in <strong>sein</strong>er<br />

Selbstwahrnehmung stützt. Gera<strong>de</strong> psychose-erfahrene Menschen<br />

können gleichzeitig und gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb eigenwillige außergewöhnliche<br />

Persönlichkeiten <strong>sein</strong>.<br />

((Dialogische Behandlungskriterien, Schwerin???))<br />

Pragmatisches Krankheitsverständnis<br />

Menschen, die unter einer <strong>Psychose</strong> lei<strong>de</strong>n, nennen wir insofern krank, als unser Sozial-<br />

versicherungssystem das erfor<strong>de</strong>rt: Wer aus körperlichen o<strong>de</strong>r seelischen Grün<strong>de</strong>n nicht<br />

arbeitsfähig <strong>ist</strong>, hat Anspruch auf Lohnersatzle<strong>ist</strong>ungen, auf Krankengeld o<strong>de</strong>r Rente,<br />

min<strong>de</strong>stens aber ersatzweise auf Sozialhilfe. Hilfe braucht ein Mensch in einer tiefen<br />

Krise auch unabhängig davon, ob wir ihn krank o<strong>de</strong>r gesund nennen. Welche Hilfe<br />

ausschlaggebend <strong>ist</strong>, hängt vom konkreten Menschen ab und nicht von <strong>de</strong>r Definition<br />

<strong>sein</strong>er Krankheit.<br />

22 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


Stellenwert von Pharmakotherapie<br />

Ähnlich wie das Fieber in <strong>de</strong>r somatischen Medizin Entzündungen<br />

anzeigt, stehen <strong>Psychose</strong>n für innere Konflikte. Und so wie wir fiebersenken<strong>de</strong><br />

Mittel nicht sofort und um je<strong>de</strong>n Preis einsetzen, sollten<br />

wir auch mit Neuroleptika vorsichtig <strong>sein</strong>.<br />

Verän<strong>de</strong>rungen im Hirnstoffwechsel sind nicht die alleinige Ursache<br />

von <strong>Psychose</strong>n; aber sie können <strong>Psychose</strong>n begleiten und <strong>zu</strong>sätzlich<br />

<strong>zu</strong>r Reizüberflutung beitragen. Die körperlichen Verän<strong>de</strong>rungen<br />

stehen im psychischen Zusammenhang, können eine<br />

Eigendynamik entfalten.<br />

Auf diesem Hintergrund sind Psychopharmaka nüchtern <strong>zu</strong> betrachten:<br />

Sie können <strong>Psychose</strong>n nicht ursächlich heilen, aber sie<br />

können Verän<strong>de</strong>rungen im Hirnstoffwechsel kompensieren helfen,<br />

um so vor Reizüberflutung <strong>zu</strong> schützen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m biologischen<br />

Teufelskreis <strong>de</strong>r Depression entgegen<strong>zu</strong>wirken. Eine solche, nüchterne<br />

Betrachtung erlaubt es auch <strong>de</strong>nen Medikamente <strong>zu</strong> nehmen,<br />

die auf ein umfassen<strong>de</strong>s Verständnis ihrer Person und ihrer<br />

Krise Wert legen. Sie verpflichtet umgekehrt <strong>de</strong>n Arzt, sich mit<br />

reiner Symptombekämpfung nicht vorschnell <strong>zu</strong>frie<strong>de</strong>n<strong>zu</strong>geben.<br />

Psychopharmaka wirken relativ global auf <strong>de</strong>n Hirnstoffwechsel;<br />

d. h. sie beeinflussen das Geschehen nicht nur spezifisch. Auch<br />

Abläufe im Gehirn, die nichts mit <strong>de</strong>r <strong>Psychose</strong> <strong>zu</strong> tun haben, wer<strong>de</strong>n<br />

beeinträchtigt. So können nicht nur die psychotischen Ängste<br />

reduziert <strong>sein</strong>, son<strong>de</strong>rn die Gefühlswelt insgesamt. Deshalb sind<br />

Vor- und Nachteile genau ab<strong>zu</strong>wägen. Während die herkömmlichen<br />

Neuroleptika vor allem motorische Nebenwirkungen haben,<br />

können die neueren atypischen Neuroleptika dick machen<br />

und sexuelle Empfindungen dämpfen.<br />

Zitat<br />

„Mit Neuroleptika beein-<br />

trächitige ich die Gefühls-<br />

welt meiner Patienten so<br />

<strong>de</strong>utlich, daß ich das nur<br />

verantworten kann, wenn<br />

ich vorher eine emotional<br />

tragfähige Beziehung auf-<br />

gebaut habe.”<br />

(Prof. Rüther,<br />

Uni Göttingen)<br />

Zitat<br />

„Mit Neuroleptika ver-<br />

suche ich mich ab<strong>zu</strong>schir-<br />

men, suche Erleichterung,<br />

ohne dass ich mein<br />

Verständnis <strong>de</strong>r <strong>Psychose</strong><br />

und auch mein Selbstver-<br />

ständnis <strong>de</strong>shalb an <strong>de</strong>r<br />

Garr<strong>de</strong>robe <strong>de</strong>s Arztes ab-<br />

geben muss”.<br />

( Frau P., psych o s e e rfa h re n )<br />

Zitat<br />

„Mit Neuroleptika versu-<br />

che ich die Symptome <strong>zu</strong><br />

reduzieren, die an<strong>de</strong>rs<br />

nicht aus<strong>zu</strong>halten sind;<br />

aber dann fängt meine<br />

therapeutische Arbeit, um<br />

Verständnis und Orientie-<br />

rung <strong>zu</strong> ringen, eigentlich<br />

erst an.<br />

(Dr. A., Psychiaterin)<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n 23<br />

Symptomatische<br />

Wirkung<br />

Nüchterne<br />

Betrachtung hilft<br />

Nebenwirkungen


Nicht selbstlos <strong>sein</strong><br />

Gleichzeitigkeit<br />

Chancen<br />

Wirkungen Nebenwirkungen<br />

Neuroleptika Typisch: antipsychotisch, dämpfend bei Manie, oft motorisch,<br />

Reizabschirmung, gegen Wahn, Halluzinationen Gefühlswelt<br />

Atypisch: dto., <strong>zu</strong>m Teil auch gegen Gewicht, Sexualität<br />

Rück<strong>zu</strong>gsten<strong>de</strong>nzen<br />

Anti<strong>de</strong>pressiva gegen körperliche Eigendynamik/Teufelskreis evtl. Gewicht<br />

bei Depression<br />

Phasenprophylaxe Abmil<strong>de</strong>rung, nicht Verhin<strong>de</strong>rung extremer evtl. Gewicht<br />

Stimmungsschwankungen<br />

Anregungen für Angehörige<br />

Versicherung<br />

Wenn eine <strong>Psychose</strong> u. a. eine Verunsicherung <strong>de</strong>s Selbstbewußt<strong>sein</strong>s,<br />

vielleicht auch <strong>de</strong>n Verlust von eigenen Grenzen be<strong>de</strong>utet,<br />

dann macht es keinen Sinn, dass die umgeben<strong>de</strong>n Menschen<br />

„selbst-los“ han<strong>de</strong>ln. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> wichtig, daß Sie zwar Rücksicht nehmen<br />

und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren immer wie<strong>de</strong>r so selbstverständlich wie<br />

möglich einbeziehen, die eigenen Interessen und Gewohnheiten<br />

aber nicht völlig aufgeben.<br />

Entwicklung<br />

Wenn eine <strong>Psychose</strong> auch so etwas <strong>ist</strong> wie ein Rückgriff auf frühere<br />

Entwicklungsstufen, die aktuell (scheinbar) mehr Sicherheit<br />

bieten, dann wird auf diese Weise möglicherweise ein tieferer seelischer<br />

Konflikt vorübergehend aufgehoben, <strong>zu</strong>gleich aber auch<br />

verschärft. Die Gleichzeitigkeit <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>er physischer und psychischer<br />

Entwicklungsstufen be<strong>de</strong>utet vor allem für die Angehörigen<br />

eine schwierige Balance zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Polen, einerseits<br />

Verständnis <strong>zu</strong> zeigen für kindliche o<strong>de</strong>r pubertäre Bedürfnisse,<br />

an<strong>de</strong>rerseits die reale Person und <strong>sein</strong>en realen Entwicklungsstand<br />

<strong>zu</strong> respektieren.<br />

Rätsel<br />

Wenn <strong>Psychose</strong>n Rätsel aufgeben, so steckt darin auch für die Angehörigen<br />

die Chance, mehr über sich, die Wahrnehmungen <strong>de</strong>s<br />

an<strong>de</strong>ren und die Bedingungen <strong>de</strong>s Zusammenlebens <strong>zu</strong> erfahren.<br />

Das kann schmerzhaft <strong>sein</strong> und befreiend. Die psychotische Kommuni-kation<br />

kann <strong>de</strong>r einzige Ausweg aus diesem Dilemma <strong>sein</strong>.<br />

24 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


Alle sind gefor<strong>de</strong>rt, ihre Wahrnehmung <strong>zu</strong> vervollständigen und<br />

mehr von sich selbst wahr-<strong>zu</strong>-machen. Jeweils eigene Fragen und<br />

Antworten <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n, <strong>ist</strong> sicher nicht leicht. Wechselwirkungen<br />

fest<strong>zu</strong>stellen, ohne Schuld <strong>zu</strong> verteilen, <strong>ist</strong> eine hohe Kunst, die<br />

möglicherweise erst mit größerem zeitlichem Abstand gelingen<br />

kann.<br />

Ex<strong>ist</strong>enzsicherung<br />

Wenn eine <strong>Psychose</strong> <strong>zu</strong>m Verlust <strong>de</strong>r eigenen Grenzen führt, kann<br />

das große Gefahr be<strong>de</strong>uten. Eher für <strong>de</strong>n Betreffen<strong>de</strong>n selbst, seltener<br />

auch für an<strong>de</strong>re. An dieser Stelle <strong>ist</strong> Gegnerschaft gefor<strong>de</strong>rt.<br />

Die Orientierung an <strong>de</strong>n Grenzen an<strong>de</strong>rer kann die einzige Orientierung<br />

<strong>sein</strong>. Die Sicherung <strong>de</strong>r eigenen Ex<strong>ist</strong>enz kann vom Han<strong>de</strong>ln<br />

an<strong>de</strong>rer abhängen. Für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gegner/Gegenüber <strong>zu</strong><br />

<strong>sein</strong>, ohne ihn klein <strong>zu</strong> machen, <strong>ist</strong> sehr schwirig. Scheuen Sie<br />

nicht, sich Hilfe <strong>zu</strong> holen.<br />

Dabei<strong>sein</strong><br />

Wenn <strong>Psychose</strong>n mit panischen Ängsten <strong>zu</strong>sammenhängen, so<br />

können sich diese quasi durch die Poren auf an<strong>de</strong>re übertragen.<br />

Das macht es schwer, Notwendiges <strong>zu</strong> verwirklichen: Gelassenheit<br />

und Geduld, räumliche Geborgenheit, Ruhe ohne neue angstauslösen<strong>de</strong><br />

Reize, körperliche Nähe ohne Grenzüberschreitung, Anwesenheit<br />

ohne For<strong>de</strong>rung…<br />

Kontakt<br />

Wenn eine <strong>Psychose</strong> aus menschlicher Isolation erwächst o<strong>de</strong>r<br />

wenn sie sich in Isolation verstärkt, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit<br />

wie auch die Schwierigkeit, <strong>de</strong>n Kontakt <strong>zu</strong> halten,<br />

bzw. her<strong>zu</strong>stellen. Dies geschieht oft in einem langwierigen Ringen.<br />

Angehörige sind in dieser Situation beson<strong>de</strong>rs wichtig. Auch<br />

scheinbar banale Kontakte können dabei wichtig <strong>sein</strong>, wenn sie<br />

„selbstverständlich“ sind, auch seltene, wenn sie verlässlich sind.<br />

Alltägliche Kontakte <strong>zu</strong> Nachbarn, Milchmann, Postbote usw. haben<br />

<strong>de</strong>n Vorteil, dass sie „ungefährlich“ sind.<br />

In <strong>Psychose</strong>n Kontakt <strong>zu</strong> halten, bzw. <strong>zu</strong> bekommen, <strong>ist</strong> schwierig,<br />

weil notwendige Nähe und gefürchtete Grenzüberschreitung<br />

sehr nah beieinan<strong>de</strong>r liegen. In dieser Situation brauchen Angehörige<br />

und Profis eine Abstüt<strong>zu</strong>ng in Angehörigen- o<strong>de</strong>r Balint-<br />

Gruppen, um <strong>de</strong>n Kontakt <strong>zu</strong> sich selbst nicht <strong>zu</strong> verlieren.<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n 25<br />

Gegenüber <strong>sein</strong><br />

Dabei<strong>sein</strong><br />

Balance zwischen<br />

Nähe und D<strong>ist</strong>anz<br />

Selbstverständlichkeit<br />

Verlässlichkeit<br />

Unverständlichkeit<br />

als Schutz?


Grenzen <strong>de</strong>s Verstehens<br />

Wenn ein Mensch sich in <strong>de</strong>r <strong>Psychose</strong> unverständlich macht, so<br />

schützt er sich damit auch vor <strong>de</strong>m Verstehen. Gewissermaßen<br />

prüft er das Bemühen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren um Verständnis und entflieht<br />

gleichzeitig in einen Bereich, in <strong>de</strong>n letztlich niemand folgen kann.<br />

Das be<strong>de</strong>utet Einsamkeit und Eigenheit/Unangreifbarkeit. Menschen<br />

in <strong>Psychose</strong>n sen<strong>de</strong>n somit eine Doppelbotschaft aus, die <strong>zu</strong>tiefst<br />

menschlich <strong>ist</strong>, weil sie letztlich das Spannungsfeld konzentriert,<br />

<strong>de</strong>m wir alle ausgesetzt sind: das Spanungsfeld zwischen<br />

<strong>de</strong>m sozialen Angewiesen<strong>sein</strong> und <strong>de</strong>r unausweichlichen Einsamkeit<br />

eines je<strong>de</strong>n Menschen. Um Verständnis <strong>zu</strong> ringen, ohne Verstehbarkeit<br />

<strong>zu</strong> for<strong>de</strong>rn, also die Eigenheit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren <strong>zu</strong> respektieren,<br />

erfor<strong>de</strong>rt eine große Genauigkeit mit sich selbst.<br />

Adressen <strong>de</strong>s Angehörigenverban<strong>de</strong>s<br />

…<br />

…<br />

…<br />

…<br />

…<br />

<strong>Psychose</strong>seminare…<br />

26 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“<br />

dienen <strong>de</strong>m Austausch und <strong>de</strong>r gegensei-<br />

tigen Fortbildung <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>er Experten,<br />

<strong>de</strong>nen aus eigener Erfahrung – Patienten<br />

und Angehörige – und <strong>de</strong>nen durch Aus-<br />

bildung und Beruf. Ziel <strong>ist</strong>, eine gemein-<br />

same Sprache <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n und für eine<br />

dialogische Psychiatrie <strong>zu</strong> üben.<br />

Ziel <strong>ist</strong> auch, ein besseres Verständnis <strong>zu</strong><br />

gewinnen, was eine <strong>Psychose</strong> <strong>ist</strong> und was<br />

die <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong>en Beteiligten an Hilfe<br />

brauchen.<br />

Adressen /Infos bei:<br />

...<br />

Internet?


Selbstschutzmaßnahmen<br />

Wenn Sie in eine ex<strong>ist</strong>enzielle Krise geraten und dabei psychotisch<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>ist</strong> es hilfreich, in gewohnter Umgebung <strong>zu</strong> <strong>sein</strong> mit Menschen,<br />

die Ihnen vertraut sind, ohne all<strong>zu</strong> viel <strong>zu</strong> wollen.<br />

• <strong>Es</strong> kann hilfreich <strong>sein</strong>, gewohnte Aktivitäten bei<strong>zu</strong>behalten. Bei<br />

<strong>de</strong>pressiven Ten<strong>de</strong>nzen sollten Sie sich für je<strong>de</strong> kleinste Kleinigkeit,<br />

die Sie noch schaffen, loben und belohnen. Vermei<strong>de</strong>n Sie<br />

frem<strong>de</strong> Maßstäbe, suchen Sie ihre eigenen. Neigen Sie eher <strong>zu</strong><br />

Manien, versuchen Sie heraus<strong>zu</strong>fin<strong>de</strong>n, wie Ungewöhnliches<br />

auch im Alltag <strong>zu</strong> integrieren <strong>ist</strong>. Immer gilt: Sie müssen ihre eigenen<br />

Maßstäbe fin<strong>de</strong>n.<br />

• Schön <strong>ist</strong> es, wenn Sie eine neutrale (therapeutische) Person haben,<br />

auf <strong>de</strong>ren Beziehungs- und Tragfähigkeit sie sich verlassen<br />

können und <strong>de</strong>ren Urteil sie trauen.<br />

• Wenn Sie Medikamente brauchen und nehmen wollen, bestehen<br />

Sie auf einer sorgfältigen Auswahl und Abstimmung, auch<br />

wenn es möglicherweise mehrere Versuche braucht, bis das für<br />

Sie passen<strong>de</strong> Medikament und <strong>sein</strong>e optimale Dosierung gefun<strong>de</strong>n<br />

<strong>ist</strong>. Achten sie auf Nebenwirkungen und besprechen Sie alle<br />

Reaktionen ihres Körpers mit Ihrem Arzt. Er sollte Ihnen <strong>zu</strong>hören,<br />

auch wenn es lange dauert.<br />

• Lassen Sie sich nicht einre<strong>de</strong>n, Ihre Krise sei nur körperlich bedingt,<br />

die <strong>Psychose</strong> nur eine Transmitterstörung. Transmitter<br />

sind ein Zwischenglied im komplexen Zusammenhang von<br />

Körper, Seele und Ge<strong>ist</strong>. Verweisen Sie auf <strong>de</strong>n differenzierten<br />

Umgang von Intern<strong>ist</strong>en mit Fieber, verlangen Sie auch ein<br />

Nach<strong>de</strong>nken über die Hintergrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>s aktuellen Konflikts.<br />

• Wenn Sie an einer Psychoedukation teilnehmen, hören Sie gut<br />

<strong>zu</strong>: Sie wer<strong>de</strong>n ent<strong>de</strong>cken, dass auch das Wissen <strong>de</strong>r Psychiater<br />

relativ begrenzt <strong>ist</strong>. Die wirklichen Antworten lassen sich nicht<br />

per Edukation, son<strong>de</strong>rn nur im Dialog fin<strong>de</strong>n.<br />

• Achten Sie auf die für Sie persönlich wichtigen Frühsignale, lassen<br />

Sie sich aber nicht da<strong>zu</strong> verführen, ständig alarmbereit alles<br />

<strong>zu</strong> hinterfragen und sich <strong>zu</strong> beobachten. Das verwirrt nur und<br />

kann das schönste Leben vermiesen. Suchen Sie Gruppen auf,<br />

Umgang mit <strong>Psychose</strong>n 27<br />

Machen Sie sich<br />

<strong>zu</strong>m Maßstab,<br />

nicht die <strong>Psychose</strong>


um gemeinsam auf sich auf<strong>zu</strong>passen; das macht mehr Spaß.<br />

O<strong>de</strong>r kommen Sie mal ins <strong>Psychose</strong>seminar!<br />

• Achten Sie auf Ihre Grundbedürfnisse, auf gesun<strong>de</strong>s <strong>Es</strong>sen und<br />

Trinken, auf regelmäßigen Schlaf, auf frische Luft.<br />

• Versuchen Sie einen Aktivitätsgrad <strong>zu</strong> fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r für Sie richtig<br />

<strong>ist</strong>, nicht <strong>zu</strong> viel und nicht <strong>zu</strong> wenig. Abwechslung, aber nicht<br />

Verwirrung, Beständigkeit, aber nicht Monotonie. Was für je<strong>de</strong>n<br />

ungesund <strong>ist</strong> (z. B. Schichtarbeit), <strong>ist</strong> für Sie beson<strong>de</strong>rs belastend.<br />

• Achten Sie auch bei Kontakten und Beziehungen auf Ihre ganz<br />

persönlichen Maßstäbe und Bedürfnisse: Wenige gute Freun<strong>de</strong><br />

sind besser als viele schlechte. Manchmal kann auch Rück<strong>zu</strong>g<br />

schützen; aber ein wenig Austausch braucht wohl je<strong>de</strong>r. Auch<br />

entferntere aber <strong>zu</strong>verlässige Kontakte können einen halten.<br />

Sie sind ein Mensch mit Bedürfnissen wie je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re. Ihr Leben<br />

wird Krisen bringen, die nicht <strong>zu</strong> vermei<strong>de</strong>n sind. Achten Sie auf<br />

sich, seien Sie sich selbst ein Freund, das haben viele Normalos<br />

verlernt. Machen Sie sich <strong>zu</strong>m Maßstab, nicht die <strong>Psychose</strong>.<br />

28 „<strong>Es</strong> <strong>ist</strong> <strong>normal</strong>, <strong>verschie<strong>de</strong>n</strong> <strong>zu</strong> <strong>sein</strong>!“


Offener Brief an Kassenvertreter und Berufsverbän<strong>de</strong><br />

Liebe Vorsitzen<strong>de</strong> von Krankenkassen, liebe Stan<strong>de</strong>svertreter,<br />

wenn Sie bis hier gelesen haben: Stellen Sie sich bitte einmal vor,<br />

Ihr Sohn o<strong>de</strong>r Ihre Tochter, Ihre Schwiegermutter o<strong>de</strong>r Sie selbst,<br />

gerieten in eine ex<strong>ist</strong>enzielle Krise und bekämen eine affektive<br />

o<strong>de</strong>r kognitive /schizophrene <strong>Psychose</strong>. Denken Sie nur an eine<br />

psychotische Episo<strong>de</strong>. Stellen Sie sich vor, Ihnen wür<strong>de</strong> nur die sogenannte<br />

Standardtherapie <strong>zu</strong>teil, d. h.: Medikation und Psychoedukation.<br />

Wür<strong>de</strong> Ihnen das genügen? Wären Sie damit <strong>zu</strong>frie<strong>de</strong>n?<br />

Wür<strong>de</strong> es Ihnen reichen, alle vier Wochen <strong>zu</strong>m Arzt <strong>zu</strong> gehen,<br />

um Ihre Dosis ab<strong>zu</strong>holen? Wür<strong>de</strong> es Ihnen reichen, ein edukatives<br />

Training <strong>zu</strong> durchlaufen, das Ihnen die allgemeinen Früherkennungszeichen<br />

und die Wirkmechanismen <strong>de</strong>r Medikamente erklärt?<br />

Um nicht missverstan<strong>de</strong>n <strong>zu</strong> wer<strong>de</strong>n: Solche Erklärungen sind<br />

keineswegs unwichtig. <strong>Es</strong> <strong>ist</strong> eher ein Skandal, dass es nicht immer<br />

selbstverständlich war (und auch noch nicht immer selbstverständlich<br />

<strong>ist</strong>), dass Ärzte ihr durchaus begrenztes Wissen ansatzweise<br />

weitergeben. Diese allgemeine Information aber kann bestenfalls<br />

die Basis <strong>sein</strong>, um dann gleichberechtigt miteinan<strong>de</strong>r <strong>zu</strong><br />

verhan<strong>de</strong>ln und im Dialog besser <strong>zu</strong> verstehen, wie <strong>de</strong>r konkrete<br />

Mensch mit <strong>sein</strong>em sehr beson<strong>de</strong>ren Leben und <strong>sein</strong>er sehr beson<strong>de</strong>ren<br />

<strong>Psychose</strong>erfahrung <strong>zu</strong>recht kommt, und ihn dabei <strong>zu</strong> unterstützen.<br />

Die eigentliche Arbeit beginnt jetzt erst! Pharmakotherapie und<br />

Psycho-Edukation alleine sind noch keine ausreichen<strong>de</strong> <strong>Psychose</strong>ntherapie!<br />

• Wir brauchen eine kontinuierliche psychotherapeutische Begleitung,<br />

die Lebensumfeld und Famlien einbezieht.<br />

• Wir brauchen eine strukturübergreifen<strong>de</strong> Begleitung, unabhängig<br />

vom Status als ambulanter, tagesklinischer o<strong>de</strong>r stationärer<br />

Patient.<br />

• Wir brauchen mehr Vielfalt in <strong>de</strong>r Akutbehandlung, vor allem<br />

von Ersterkrankten, milieutherapeutische „Soteria“-Angebote,<br />

aber auch ambulante Krisenintervention.<br />

• Wenn psychiatrische Abteilungen integrierte Le<strong>ist</strong>ungszentren<br />

wer<strong>de</strong>n, lassen sich stationäre Aufenthalte weiter reduzieren<br />

und in fernen Anstalten ganz vermei<strong>de</strong>n.<br />

Anhang 29<br />

individuelle Behandlung<br />

statt formale Standards<br />

Dialog statt<br />

Fremdbestimmung<br />

Vielfalt in <strong>de</strong>r<br />

Akutbehandlung<br />

Psychotherapeutische<br />

Grundhaltung als<br />

Rahmen

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!