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Zur Kritik philosophischer Unbedingtheitsansprüche - Oliver Puke

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(as well as Dewey’s) arguments for the scientic method itself: in the two famous articles<br />

in Popular Science Monthly in which Peirce launched the pragmatist movement,<br />

he argued that we have learned from experience that the method of authority, the<br />

method of tenacity, and the method of what is agreeable to reason don’t work. In a<br />

similar vein, Dewey’s Logic conceives of the theory of inquiry as a product of the<br />

very sort of inquiry that it describes: epistemology is hypothesis.“ 881<br />

Mit dem Konzept des demokratischen Experimentalismus gewinnt Putnam einen<br />

epistemischen Begri von Objektivität, den er trotz aller Dierenzen mit Habermas<br />

teilt. In diesem Punkt tritt er in eine eindeutige Opposition zu McDowell, dem er<br />

vorhält, daß wenn bereits in den Erfahrungen begriiche Fähigkeiten am Werke<br />

sind, Objektivität mehr voraussetzt als nur die Aneignung der Standards der zweiten<br />

Natur. Andererseits sind die Regeln, nach denen die wissenschaliche Forschung<br />

organisiert ist, für Putnam kein Derivat deontologisch begründeter Sollensvorschrien,<br />

sondern erfahrungsbewährte Regeln, die sich zum Ethos des demokratischen<br />

Experimentalismus verdichtet haben. Dieses Ethos des demokratischen<br />

Experimentalismus bindet den rationalen Willen freier Subjekte durchaus im Sinne<br />

McDowells durch inhaltliche, nicht durch formale, von der motivationalen Konstitution<br />

der Subjekte abgehobene Gründe, ohne daß die Begründung der Moralität<br />

mit den Standards des demokratischen Experimentalismus an ein bestimmtes gemeinschaliches<br />

Ethos gebunden ist und damit lediglich ein beliebiges Handlungsziel<br />

qualiziert.<br />

Konklusion<br />

Kritische Gesellschastheorie ohne philosophische <strong>Unbedingtheitsansprüche</strong><br />

Obwohl Habermas’ Transformation der kritischen Gesellschastheorie am Institut<br />

für Sozialforschung mit dem Vollzug des pragmatic turn das Attribut ‚pragmatisch‘<br />

ausweist, ist seine Vorstellung von der Erneuerung kritischen Denkens kaum weniger<br />

weit vom Grundgedanken des amerikanischen Pragmatismus entfernt als von<br />

Horkheimers originärem Verständnis kritischer Gesellschastheorie. Dabei setzt<br />

Habermas lediglich die von Marcuse im Kreis des Instituts für Sozialforschung proklamierte<br />

Auassung um, daß einzig ein starker Begri der Vernun „das kritische<br />

Verhalten seiner Naturwüchsigkeit entkleiden und das Interesse an der Veränderung<br />

der Verhältnisse als allgemeines Interesse ausweisen“ 882 kann. Mit der Lösung der<br />

881 Putnam, Dewey’s Logic, a.a.O., S. 216.<br />

882 Brunkhorst, Dialektischer Positivismus des Glücks, a.a.O., S. 373.<br />

268


esultierenden Aufgabenstellung will er einen Weg aus der Aporie weisen, in die die<br />

kritische Gesellschastheorie als eine Kultur- und Zivilisationskritik im Stile der<br />

Dialektik der Aulärung geraten ist.<br />

Tatsächlich zerfällt mit der Widerlegung der Verdinglichungs- und Klassenbewußtseinsthese<br />

die Klammer zwischen dem Erkenntnisinteresse und der Forschungsarbeit<br />

am Institut für Sozialforschung, so daß sich Gesellschas- und Wissenschaskritik<br />

nicht mehr an der Einsicht in den Zusammenhang von eorie und<br />

Praxis, sondern nur mehr an den Voraussetzungen der eorie bemessen lassen.<br />

Weil diese Voraussetzungen nach Horkheimers Abkehr vom ursprünglichen Konzept<br />

der kritischen Gesellschastheorie für keinen der eoretiker am Institut für<br />

Sozialforschung mehr die gleichen sind, strengt Habermas mit der beabsichtigten<br />

Aulärung über die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschastheorie<br />

eine grundlegende Erneuerung der kritischen Gesellschastheorie an. Wenn er sich<br />

dazu eines Begris der kommunikativen Vernun bedient, mittels dessen er die kritische<br />

Gesellschastheorie von den bewußtseinsphilosophisch geprägten Lukács-<br />

esen auf eine Kommunikationstheorie umstellt, die dem linguistic turn in der<br />

Philosophie Rechnung trägt, dann steht diese Hinwendung zum Medium der Sprache<br />

– die Reexion auf die Regeln des kommunikativen Sprachgebrauchs – also<br />

ganz im Zeichen einer Erneuerung, wie sie von Marcuse in Philosophie und kritische<br />

eorie Horkheimer gegenüber angemahnt wird.<br />

In seiner Auseinandersetzung mit Apel vertritt Habermas die Auassung, den<br />

Unbedingtheitsanspruch kritischen Denkens – die Begründung der unbedingten<br />

Geltungsansprüche auf propositionale Wahrheit und normative Richtigkeit – ohne<br />

die Voraussetzung eines fundamentalen Bezugspunktes der <strong>Kritik</strong> – einer unbestreitbaren<br />

Prinzipienaussage – erbringen zu können. Indem er den reklamierten<br />

Unbedingtheitsanspruch kritischen Denkens mit der Faktizität der lebensweltlichen<br />

Verständigungsverhältnisse begründet, trägt er den beschworenen Einsichten<br />

des historischen Materialismus 883 jedoch nicht dahingehend Rechnung, daß er die<br />

normativen Grundlagen der kritischen Gesellschastheorie ohne den Rekurs auf<br />

<strong>Unbedingtheitsansprüche</strong> erklärt. Allenfalls unternimmt er den Versuch, den<br />

Denkansatz des historischen Materialismus auf dem Wege eines „rekonstruktiven<br />

Naturalismus der Geltungsrechtfertigung“ (Apel) in sein Konzept einer erneuerten,<br />

universalistischen Gesellschastheorie zu inkorporieren. Ganz in diesem Sinne hält<br />

Habermas bis zur partiellen Revision seines Standpunktes im Zuge der erkenntnisrealistischen<br />

Wende an einem epistemischen Verständnis von Wahrheits- und Sollgeltung<br />

fest. Das eorem der vier unbedingten Geltungsansprüche, die im argumentativen<br />

Diskurs konsensual eingelöst werden müssen, bleibt als Grundpfeiler<br />

883 Habermas, eorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a.a.O., S. 586.<br />

269


der kritischen Gesellschastheorie nach dem linguistic turn eine unverzichtbare<br />

Voraussetzung dafür, daß Fragen der Wahrheit und der Moral auf kognitivem Wege<br />

allgemeinverbindlich entschieden werden können. Auch wenn Habermas diesen<br />

Kognitivismus nach der erkenntnisrealistischen Wende in Frage stellt, den Unbedingtheitsanspruch<br />

der Geltungsansprüche sieht er de facto nicht, das heißt allein<br />

durch die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten eingeschränkt, die durch die vorherrschende<br />

Lebensform erönet werden.<br />

Mit dem Unbedingtheitsanspruch kritischen Denkens widerspricht Habermas<br />

dem Kontextualismus der kritischen Gesellschastheorie am Institut für Sozialforschung<br />

und des amerikanischen Pragmatismus in der Tradition von James und<br />

Dewey. Diesen Standpunkt vertritt Habermas, obwohl sich zeigt, daß sich die Formel<br />

‚theoretische Unbedingtheit durch faktische Unhintergehbarkeit‘ letztlich als<br />

ein Formelkompromiß erweist, der ihn nicht davor bewahrt, mit Annahmen zu<br />

operieren, die dem Konzept der universalen Diskursmoral die Grundlage entziehen.<br />

Auch die Anerkennungsverhältnisse der kommunikativen Alltagspraxis können<br />

jedoch die Begründungsleistung nicht erbringen, die ihnen Habermas als Surrogat<br />

einer genuin moralischen Begründung des Moralprinzips zuschreibt. Nicht ohne<br />

Grund sieht sich Habermas schließlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, die<br />

Diskurstheorie der Moral um eine Diskurstheorie des Rechts zu erweitern, die mit<br />

der Begründung des Systems der Rechte ein System der Verhaltenssicherheit scha,<br />

das die antizipierte Spannung zwischen moralischer Einsicht und ethischem Selbstverständnis<br />

auebt. Die Krux besteht hier nicht etwa darin, daß sich Habermas zur<br />

Einführung eines staatlich bewährten Rechtssystems gezwungen sieht, das die Praktikabilität<br />

einer universalen Diskursmoral sicherstellt, oder daß er dieses Rechtssystem<br />

selbst wiederum von den Ressourcen lebensweltlicher Sittlichkeit abhängig<br />

macht; die Krux besteht darin, daß eine als deontologische Pichtethik konzipierte<br />

Diskurstheorie der Moral ihren Verpichtungscharakter nicht aus den – de facto<br />

fragilen – Anerkennungsverhältnissen kommunikativ strukturierter Lebenswelten<br />

gewinnen kann, wenn diese Anerkennungsverhältnisse nicht bereits für sich genommen<br />

– also prinzipiell – einer moralischen Verpichtung Ausdruck verleihen.<br />

Tatsächlich macht der Blick auf die Korrekturen, die Habermas in den Jahren<br />

seines Schaens an den Determinanten seines Denkansatzes vorgenommen hat,<br />

deutlich, daß diese Korrekturen, so grundlegend sie sind, die Ambivalenz der Begründung<br />

von Unbedingtheit ohne Fundamentalismus völlig unberührt lassen. Die<br />

Ablösung der methodologischen durch die „direkte“ sprachpragmatische Begründung<br />

der kritischen Gesellschastheorie, der Rekurs auf die substantielle Sittlichkeit<br />

der Lebenswelt, die Einführung der Institution des Rechts und später der Idee<br />

des evolutionären Lernens als dem Komplement zum Kognitivismus der Geltungsrechtfertigung,<br />

nicht zuletzt schließlich die erkenntnisrealistische Wende, in deren<br />

270


Konsequenz die kognitivistische Begründung universaler Geltungsansprüche widerlegt,<br />

der epistemische Wahrheitsbegri preisgegeben und der Universalitätsanspruch<br />

der deontologischen Diskursethik nur noch lose mit dem Konzept der Universalpragmatik<br />

verbunden wird, also selbst die völlige Demontage des ursprünglichen<br />

Projekts der pragmatischen Transformation der Transzendentalphilosophie<br />

Kants dient ausschließlich dem Zweck, den Unbedingtheitsanspruch kritischen<br />

Denkens aufrechtzuerhalten, ohne dafür den Preis zahlen zu müssen, die Begründungsfunktion<br />

der Philosophie – wie Apel – auf den Nachweis kontexttranszendenter,<br />

a priori universaler Geltungsansprüche zurückzuführen.<br />

Ohne Frage, der Fundamentalismusvorwurf wiegt schwer, noch dazu für einen<br />

eoretiker, der wie Habermas in der Tradition der kritischen Gesellschastheorie<br />

am Institut für Sozialforschung steht. Wenn Apel dagegen die kommunikative<br />

Vernun mit einem starken transzendentalpragmatischen Begründungsanspruch<br />

belastet, macht er das, was Habermas bezweckt, nämlich, der kritischen Gesellschastheorie<br />

einen verbindlichen, universalistischen Bezugspunkt der <strong>Kritik</strong> zu<br />

verschaen. Mit der Insistenz auf der Unterscheidung zwischen den antifundamentalistischen<br />

Voraussetzungen der empirisch-hypothetischen Wissenschaen und der<br />

philosophischen Begründung prinzipiell unbestreitbarer, universal gültiger Geltungsansprüche<br />

kann er für sich in Anspruch nehmen, die Ambivalenz der von<br />

Habermas verfolgten Begründungsstrategie zu vermeiden. Wenn sich freilich auch<br />

Apels starke, ‚philosophische‘ Begründung der kritischen Gesellschastheorie einer<br />

berechtigten <strong>Kritik</strong> an den Unterstellungen der Konsenstheorie der Wahrheit und<br />

dem Konzept einer – durch das Selbsteinholungsprinzip der rekonstruktiven Wissenschaen<br />

eingeschränkten – deontologischen Diskursethik aussetzt, liegt es immerhin<br />

nahe, die Erneuerung der kritischen Gesellschastheorie im Rekurs auf<br />

<strong>Unbedingtheitsansprüche</strong> grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.<br />

Der Verfall des Forschungszusammenhangs der kritischen Gesellschastheorie am<br />

Institut für Sozialforschung seit den ausgehenden dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts<br />

steht auch für das Scheitern eines Forschungsansatzes, der mit den<br />

Lukács-esen auf Denkvoraussetzungen fußt, die den Anspruch einer nachmetaphysischen<br />

Erklärung des „kollektiven Ganzen, in dem wir leben“ (Horkheimer) –<br />

als dem Schlüssel zur Veränderung der gesellschalichen Verhältnisse – nicht zu tragen<br />

vermögen. Die von Habermas angestrebte Erneuerung der kritischen Gesellschastheorie<br />

versteht sich insofern – und eingedenk der Aporien, in die die eoretiker<br />

am Institut für Sozialforschung bei der Weiterführung des eorieprojektes<br />

von 1931 geraten – als ein sinnfälliger und notwendiger Schritt der eorieentwicklung.<br />

271


Anders als Horkheimer, Adorno und Marcuse, die, ausgehend vom Ansatz der<br />

<strong>Kritik</strong> der politischen Ökonomie, das Stereotyp vom tiefgründigen deutschen und<br />

oberächlichen anglo-amerikanischen Denken reproduzieren und die Philosophie<br />

des amerikanischen Pragmatismus als eine Entäußerungsform des falschen Bewußtseins<br />

deklassieren, önet Habermas das kritische Denken für die sprachphilosophischen<br />

Arbeiten in der Tradition von Peirce und Wittgenstein. Er stellt die kritische<br />

Gesellschastheorie auf eine Kommunikationstheorie um und macht den normativen<br />

Begri der Verständigung zur Grundlage der kritischen eorie der Pathologie<br />

der Moderne und der Diskurstheorie der Wahrheit und der Moral. Doch so einschneidend<br />

die Zäsur ist, die sich mit dem linguistic turn der kritischen Gesellschastheorie<br />

verbindet, eine Abkehr vom historischen Projekt der kritischen<br />

Gesellschastheorie stellt nicht die kommunikationstheoretische Wende, sondern<br />

die kontexttranszendente Begründung unbedingter Geltungsansprüche dar. Der<br />

Anspruch, der kritischen Gesellschastheorie ein „Moment von Unbedingtheit“<br />

einzuschreiben, das, entfaltet aus den Regeln des kommunikativen Sprachgebrauchs,<br />

zum normativen Bezugspunkt des Interesses an einer Gesellscha ohne<br />

Ausbeutung und Unterdrückung wird, bleibt letztlich unvereinbar mit dem Anliegen<br />

einer realitätsbezogenen und undogmatischen Gesellschastheorie. Dabei zeigt<br />

der Rekurs auf die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus, seine frühen<br />

Begründer und späten Adepten, daß sich der linguistic turn als eine zentrale Voraussetzung<br />

der Erneuerung der kritischen Gesellschastheorie entfalten läßt, ohne daß<br />

es zum Bruch mit Horkheimers Grundlegung der kritischen Gesellschastheorie<br />

kommen muß; ja mehr noch, daß die konzeptionellen Grundlagen der kritischen<br />

Gesellschastheorie im Sinne Horkheimers nicht nur mit den Grundsätzen des<br />

amerikanischen Pragmatismus korrespondieren, sondern daß sich beide eorieansätze<br />

in ein produktives Wechselverhältnis bringen lassen.<br />

Ein neuralgischer Punkt im Verhältnis von amerikanischem Pragmatismus und<br />

kritischer Gesellschastheorie betri die Frage nach der Art und Weise, wie das<br />

allem progressiven Denken gemeinsame Interesse an gesellschalichem Fortschritt<br />

in die Tat umgesetzt werden kann. Gibt die Vernun, wie sie nach dem Vorbild der<br />

Hermeneutik aus dem Wirklichen zu extrahieren ist, ein Ziel des gesellschalichen<br />

Fortschritts vor, das womöglich nur durch einen großen Sprung nach vorne verwirklicht<br />

werden kann, oder bestimmt sich das, was vernünig ist, im experimentellen<br />

Umgang mit praktischen Problemen stetig neu, so daß sich der gesellschaliche<br />

Fortschritt als ein kontinuierlicher Anpassungsprozeß in der Zeit vollzieht? Auch<br />

wenn die Vertreter der kritischen Gesellschastheorie hier gleichermaßen vor der<br />

Klu zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit stehen – entweder, weil die ese<br />

vom falschen Bewußtsein mit der Unterscheidung von subjektivem Wunsch und<br />

objektiver Wünschbarkeit keine Generalisierung des in der Gegenwart Wünschens-<br />

272


werten erlaubt oder weil das Konzept einer universalen Prinzipienethik den Kon-<br />

ikt zwischen Sollen und Wollen theoretisch vorentscheidet –, bietet Horkheimers<br />

Konzept der kritischen Gesellschastheorie noch die besten Anschlußmöglichkeiten<br />

an die konkurrierende Sicht des amerikanischen Pragmatismus. Tatsächlich ist<br />

mit der Widerlegung der Lukács-esen, die letztlich zu dem Schluß führen, daß<br />

jede eorie, die sich armativ auf die gesellschalichen Verhältnisse bezieht, in<br />

den Verdacht geraten mußte, das kritische Denken dem – wie es Adorno ausdrückt<br />

– gesellschalich Approbierten unterzuordnen, 884 das größte Rezeptionshemmnis<br />

des amerikanischen Pragmatismus ausgeräumt. Der unverstellte Blick auf die<br />

Grundlagen des amerikanischen Pragmatismus erlaubt es nunmehr, die Gemeinsamkeiten<br />

beider Denkansätze zu erkennen und eine Perspektive für die Weiterführung<br />

der kritischen Gesellschastheorie jenseits der Alternative von Dekontextualisierung<br />

und Fundamentalisierung zu erönen.<br />

Tatsächlich fußt die Konzeption des demokratischen Experimentalismus nach<br />

Dewey auf weitgehend den gleichen Voraussetzungen wie die Konzeption der kritischen<br />

Gesellschastheorie nach Horkheimer. Die Betonung der Bildbarkeit des<br />

menschlichen Wesens und der Voluntarität des menschlichen Handelns, der Hinweis<br />

auf die Komplementarität von emotiver Sinnes- und rationaler Verstandestätigkeit,<br />

die Auebung der Grenze zwischen moralischem und politischem Handeln,<br />

die Betonung der Handlungswirklichkeit gegenüber der Begründung universaler<br />

Normen, die Hervorhebung der Kontextualität und Fallibilität aller menschlichen<br />

Erkenntnistätigkeit und schließlich die Vorstellung einer oenen, menschengemachten<br />

Zukun – Annahmen wie diese lassen Gemeinsamkeiten erkennen, an die<br />

sich konstruktiv, d.h. im Sinne des demokratischen Experimentalismus, anknüpfen<br />

läßt, um das Interesse an einer Gesellscha ohne Ausbeutung und Unterdrückung<br />

in eine emanzipatorische eorie der gesellschalichen Praxis zu überführen. Wenn<br />

sich damit für die Vertreter der kritischen Gesellschastheorie die Notwendigkeit<br />

verbindet, mit dem Ideologiebegri von Lukács zu brechen, dann verlegt sich damit<br />

auch der Weg in die Aporie, in die das kritische Denken unweigerlich geraten muß,<br />

wenn es sich gegen eine Praxis abschließt, die der Möglichkeit der Einrichtung einer<br />

menschengerechteren Gesellscha enträt. Das unter der Voraussetzung des Axioms<br />

884 Mit der Denition von Klassenbewußtsein als „klassenmäßig bestimmte Unbewußtheit über<br />

die eigene gesellschalich-geschichtliche ökonomische Lage“ erhebt Lukács den Gegensatz<br />

zwischen dem durch die objektiv-ökonomische Struktur geprägten gesellschalichen Verblendungszusammenhang<br />

und dem durch die kritische eorie gebildeten richtigen Bewußtsein<br />

der gesellschalichen Zustände zum Grundsatz und schränkt mit der Möglichkeit des<br />

armativen Bezugs zur gesellschalichen Praxis auch die Möglichkeit gezielter gesellschalicher<br />

Veränderungen ein (Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische<br />

Dialektik, London 2000 [Reprint der Erstausgabe von 1923], S. 63).<br />

273


von der Glückswürdigkeit der menschlichen Existenz mit der Möglichkeit gesellschalicher<br />

Veränderungen begründete Interesse an der Einrichtung einer menschengerechteren<br />

Gesellscha behält damit seinen emanzipatorischen Impetus und<br />

muß angesichts der Klu zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen nicht –<br />

sozusagen als eine Abwehrreaktion des richtigen Bewußtseins gegen ein Aziertwerden<br />

durch das Falsche 885 – zu einer defaitistischen Kulturkritik sublimiert werden.<br />

Als das reektierte Erkenntnisinteresse kritischer Gesellschastheorie behält es<br />

darüber hinaus eine wichtige Funktion für die progressive Gesellschastheorie<br />

schlechthin, denn es verleiht mit dem Anspruch, die normativen Maßstäbe der <strong>Kritik</strong><br />

auszuweisen, auch der Überzeugung Ausdruck, daß Interessen einer rationalen<br />

Beurteilung zugänglich sind und daß die kognitive Auseinandersetzung mit Interessen<br />

zu Aussagen über ihren Geltungsanspruch führt. In diesem Punkt bietet sich die<br />

kritische Gesellschastheorie als ein Korrektiv zu einem falsch verstandenen Pragmatismus<br />

an, der als Inbegri szientisch-technologischer Rationalität alles Denken<br />

in ethischen Kategorien des Bezugs zur diskursiven Vernun beraubt und aus dem<br />

Bereich des öentlich Beurteilbaren in den Bereich der privaten Entscheidung<br />

verlegt. 886<br />

Unter den Vorzeichen einer emanzipatorisch wirksamen Gesellschastheorie konvergiert<br />

die im Konzept des demokratischen Experimentalismus sich verdichtende<br />

Tradition des amerikanischen Pragmatismus weder mit dem Inkrementalismus<br />

eines muddling through noch mit einer Fortschreibung ‚blinden Naturzwangs‘; die<br />

Antwort auf die von Peirce gestellte Frage nach der Möglichkeit und Gültigkeit<br />

einer intersubjektiven Verständigung über den Sinn und die Wahrheit von Sätzen<br />

bietet vielmehr die Grundlage für einen Begri der wissenschalichen Forschung,<br />

der seiner Bedeutung nach weit über den Instrumentalismus der bloßen Anpassung<br />

von Mitteln an Zwecke hinausreicht – in diesem Punkt behält Habermas gegen<br />

Horkheimer und dessen Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung Recht. Tatsächlich<br />

geht ja auch Putnam davon aus, daß die wissenschaliche Forschung als eine<br />

kooperative menschliche Tätigkeit zur Bildung und Überprüfung neuer Ideen<br />

beiträgt, und daß dazu auch Prinzipien wie jene eingehalten werden müssen, die<br />

Habermas unter die Bedingungen der idealen Sprechsituation faßt. Die Determinante<br />

‚demokratisch‘ im Begri ‚demokratischer Experimentalismus‘ zeigt ja eben<br />

dies an: daß die Wissenscha zu ihrer vollen Entfaltung an die Geltung von Standards<br />

verwiesen ist, die die Standards der wissenschalichen Forschung selbst strukturieren.<br />

885 Vgl. ebd.<br />

886 Vgl. Apel, Peirces Denkweg vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, a.a.O., S. 210.<br />

274


Wenn das Konzept des demokratischen Experimentalismus insofern eine bestimmte<br />

Ethik voraussetzt, dann schließt diese Ethik freilich Verhaltensregeln ein,<br />

die im Sinne Putnams dichte ethische Begrie umfassen, Begrie wie gegenseitige<br />

Rücksichtnahme oder symmetrische Reziprozität, die nicht mit den formalen Eigenschaen<br />

der idealen Sprechsituation konvergieren und als solche weder relativ<br />

zu einem bestimmten Wertekonsens gelten noch vom Gegenstandsbereich einer<br />

deontologischen Pichtethik geschieden werden können. In diesem Sinne muß zuletzt<br />

auch Habermas einräumen, daß die formalistische Diskurstheorie Verhaltensdispositionen<br />

wie Solidarität oder einen Sinn für Angemessenheit nicht aus sich<br />

selbst heraus erzeugen kann, sondern von außen voraussetzen muß. Daß Apel von<br />

einer Minimalethik der gegenseitigen Anerkennung ausgeht, also dem Diskursprinzip<br />

einen moralischen Gehalt zuschreibt und mit der transzendentalpragmatischen<br />

Reexion auf den normativen Gehalt der Argumentationsvoraussetzungen eine<br />

spezische Verpichtung des Moralischseins begründet, weist in diese Richtung.<br />

Freilich geht es Apel nicht darum, substantielle Hintergrundannahmen des argumentativen<br />

Diskurses aufzuzeigen, sondern a priori gültige Vernunsätze.<br />

Entscheidend für das Verständnis des demokratischen Experimentalismus bleibt<br />

demgegenüber der Bruch mit der Vorstellung, es bedürfe einer Philosophie, die<br />

qualizieren muß, was als propositional wahr bzw. moralisch geboten universale<br />

Geltung beanspruchen kann. Gerade was seinen emanzipatorischen Gehalt angeht,<br />

ist das Konzept des demokratischen Experimentalismus nicht auf einen Universalisierungsgrundsatz<br />

angelegt, nach dessen Maßgabe sich die Objektivität von Geltungsansprüchen<br />

am Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit bemißt. Statt auf<br />

die Annäherung an eine Universe’s Own Moral eory oder eine Universe’s Own<br />

Scientic eory legt Putnam den Forschungsansatz des amerikanischen Pragmatismus<br />

auf Experimente der Zusammenarbeit fest, die er als zukunsoene Lernprozesse<br />

mit korrigierbaren Ergebnissen auf der Grundlage eines inhaltlich spezischen,<br />

gleichwohl aber der „Geltung tout court“ fähigen Wertewissens begrei. Der<br />

Objektivitätsanspruch von moralischen und assertorischen Aussagen wird dabei<br />

auch aus der Perspektive des demokratischen Experimentalismus nicht in Abrede<br />

gestellt. Weder Dewey noch Putnam sehen mit den Werten des demokratischen<br />

Experimentalismus den Boden für einen kulturellen Relativismus bereitet, der keine<br />

Aussagen mehr darüber erlaubt, was wahr ist und was falsch.<br />

In Abgrenzung zu einem szientistischen Verikationismus, der für Putnam nicht<br />

nur das Denken von Dewey und James, sondern auch das Denken von Apel und<br />

Habermas kennzeichnet, nimmt Putnam auch Denkmotive auf, die den Bedenken<br />

hinsichtlich der vorschnellen Gleichsetzung von Begri und Begrienem Rechnung<br />

tragen. Wie für Habermas ist auch für Putnam klar, daß es unmöglich ist, aus dem<br />

Korsett der Sprache auszubrechen, und wie Habermas hält Putnam – in prominen-<br />

275


ter Opposition zu Rorty – am Objektivitätsanspruch der diskursiven Vernun fest.<br />

Anders als Habermas begründet er diesen Objektivitätsanspruch jedoch nicht mit<br />

einem – ontologisch eingeschränkten – diskursiven Verfahren der Begründung universaler<br />

Geltungsansprüche, sondern mit einem Konzept der begriichen Wahrheit,<br />

das er im Anschluß an Wittgenstein mit einem inferentiell strukturierten System<br />

von Sätzen begründet, das die Summe der Bezüge all dessen bildet, was sich<br />

sinnvoll denken läßt. Objektivität liegt in diesem Sinne wohl in Erfahrungsurteilen<br />

begründet, jedoch nicht in der mit einer Erfahrung des qualitativen Soseins der<br />

Dinge verbundenen Möglichkeit der Verizierung Satz für Satz. Demnach können<br />

Begrie zwar an sich wahr sein, jedoch nicht als einzelner Begri, sondern als Begri<br />

in einem Geecht von Begrien. Als Teil dieses Geechts steht jeder Begri<br />

für eine Urteilsqualität und bemißt sich an der Erfahrung, wobei er seinerseits die<br />

Grundlage bleibt für die Interpretation der Erfahrung.<br />

Eingebettet in die Forschungspraxis des demokratischen Experimentalismus<br />

scha der Bedeutungsholismus Wittgensteins die Voraussetzung für ein Verständnis<br />

von Objektivität, das es erlaubt, einen direkten, sinnlichen und kognitiven Zugang<br />

zu den Gegenständen der äußeren Welt zu erönen, ohne die einzelnen Gegenstände<br />

zu einem ‚Ding an sich‘ zu hypostasieren und ‚Wahrheit‘ auf das Verizierbare<br />

zu reduzieren. Dabei önet der Blick auf die Grenzen, an die Putnam mit<br />

seinem Versuch gerät, die Einsicht des Verikationismus mit dem Konzept der begriichen<br />

Wahrheit zu vermitteln, die Sicht auf die Produktivität einer Dialektik<br />

der Begrisbildung, wie sie Adorno für die kritische Gesellschastheorie vorbereitet<br />

hat. Denn so wie es Wittgenstein nicht darum geht, den Zirkel zwischen Begri<br />

und Begrienem zu durchbrechen, kann es auch nicht der Anspruch Putnams sein,<br />

mit dem Nachweis der mit der Unbestreitbarkeit des natürlichen Objektes ‚Stuhl‘<br />

behaupteten Notwendigkeit der Fähigkeit zur Verikation der Gegenwart eines Gegenstandes<br />

namens ‚Stuhl‘ der Unmöglichkeit zu begegnen, einen Begri oder ein<br />

Begrissystem gegenüber alternativen Kategorisierungen der Wirklichkeit hervorzuheben.<br />

Kaum ein Teilnehmer der Realismus-Debatte wird sich heute noch auf die<br />

Aussage versteifen, daß sich der Wahrheitsanspruch propositionaler Äußerungen<br />

a limine an einer von den Prägungen des menschlichen Geistes unabhängigen<br />

Wirklichkeit festmachen läßt. Objectivity without objects im Sinne des Konzepts der<br />

conceptual truth fällt auch für Putnam nicht hinter die Einsicht einer conceptual relativity<br />

zurück, die besagt, daß es keinen durch die äußere Welt vorgegebenen Weg<br />

gibt, die Welt in Objekte und Eigenschaen einzuteilen.<br />

Tatsächlich enden Putnams Überlegungen an einem Punkt, an dem der Begri<br />

als Teil eines erfahrungsbasierten inferentialistisch gegliederten Begrissystems Begrien<br />

in alternativen Begrissystemen gegenübersteht, ohne daß sich sagen ließe,<br />

welche Begrie die richtigen sind, oder wie der Prozeß der Begrisbildung funktio-<br />

276


niert, wenn Begrie nicht aus Sinnes-Erlebnissen induktiv zu gewinnen sind, sondern<br />

als freie Schöpfungen des Denkens auch von sich aus vernünig sein können.<br />

Vittorio Hösle dokumentiert diesen Gedankengang mit einer ese über Hegel, für<br />

den die Wirklichkeit notwendig sei, so daß in ihr die vernünigen Begrie instantiiert<br />

sind. 887 Den vermeintlichen Endpunkt des Versuchs, ‚mit dem Begri über den<br />

Begri hinauszugelangen‘, markiert Putnam nicht umsonst mit der Paraphrase:<br />

„is is where my spade is turned. is is what I do, this is what I say“. An diesem<br />

Punkt endet also auch ein pragmatischer Rationalismus im Sinne Putnams mit<br />

einem Dogma und erhellt sich die von Hösle an Sellars, McDowell und Brandom<br />

gerichtete <strong>Kritik</strong>, nach der Entzauberung des Mythos vom Gegebenen laufe die<br />

neuere analytische Philosophie nunmehr Gefahr, die Begrie selbst zu etwas<br />

Gegebenem zu machen. Wenn Hösle in dieser Hinsicht die Rückbesinnung auf<br />

Hegels Essentialismus empehlt, um auf diesem Wege der Erkenntnis Rechnung zu<br />

tragen, daß nicht alle Begrie gleichermaßen die Wirklichkeit erfassen, mag das im<br />

Kontext dieser Überlegungen unwesentlich sein. Maßgeblich ist jedoch sein Hinweis<br />

auf Hegels eorie der Begrisbildung. 888 Tatsächlich zeigt sich die Bedeutung<br />

der kritischen Gesellschastheorie für die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus<br />

nicht zuletzt darin, daß die dialektische Methode der Begrisbildung und<br />

Begriskritik dazu beitragen kann, die Reichweite der diskursiven Vernun zu<br />

erweitern.<br />

So nahe wie Putnams Überlegungen zum Konzept der begriichen Relativität,<br />

der Unmöglichkeit einer von den Begrissystemen unabhängigen Wirklichkeit,<br />

dem Denken McDowells stehen, reichen die Konsequenzen dieser Einsicht für<br />

Putnam – nicht anders als für McDowell – bis hin zur Ethik. Demnach läßt sich das<br />

Wertesystem liberal-demokratisch verfaßter Gesellschaen nicht anders rechtfertigen<br />

als mit der Aneignung dieser Werte durch die Bildung einer ethischen Persönlichkeit<br />

in dieser Gesellscha. Diese ‚ethische Persönlichkeit‘ ließe sich dem Sinn<br />

nach als der Resonanzraum für den „Impuls“, das ‚Gefühl, daß Leiden nicht sein<br />

soll‘, denken, 889 das dem moralischen Verhalten immanent ist und sich doch – wie<br />

Jean Améry eindringlich vor Augen führt 890 – gegen das Bestreben vorbehaltloser<br />

Rationalisierung sträubt. Das heißt freilich nicht (im Umkehrschluß), daß, wird<br />

887 Vgl. Vittorio Hösle, Was kann man von Hegels objektiv-idealistischer eorie des Begris noch<br />

lernen, das über Sellars’, McDowells und Brandoms Anknüpfungen hinausgeht?, in: AZP<br />

2/2005, S. 139-158, S. 156 (Fußnote 64).<br />

888 Vgl. ebd., S. 152.<br />

889 Und insofern als eine Verkörperung der ‚dichten ethischen Begrie‘ Putnams.<br />

890 Jean Améry, Ressentiments, in: ders., Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche<br />

eines Überwältigten, München 1966, S. 101-130.<br />

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Adornos Negative Dialektik als eine Methode der Begrisbildung ernst genommen,<br />

deren Funktion im Rahmen einer kritischen Gesellschastheorie über die von<br />

Schnädelbach bezeichnete „Vernunkritik als Konstruktion von Rationalität am<br />

Leitfaden der Darstellungsfunktion der Sprache“ hinausgehen könnte und die Dialektik<br />

als eine „Ontologie des falschen Zustandes“ zu erneuern ist – hier muß und<br />

kann der Denkansatz des demokratischen Experimentalismus als ein Korrektiv wirken.<br />

Wie sich die Dialektik in Übereinstimmung mit der Konzeption des amerikanischen<br />

Pragmatismus als eine Methode der Begrisbildung spezizieren läßt, die<br />

mit der ‚Bewegung des Begris‘ die schöpferische Kra des Denkens entfaltet und<br />

mit der fortwährenden <strong>Kritik</strong> des Begris vom Gegenstand jene von Schnädelbach<br />

angesprochene Vernunkritik leistet, um auf diesem Wege den ‚blinden Fleck‘ von<br />

Denkansätzen wie dem direkten Realismus Putnams oder dem aristotelischen Naturalismus<br />

McDowells auszufüllen, erönet die pragmatische eorie des demokratischen<br />

Experimentalismus in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Konzeption<br />

der kritischen Gesellschastheorie einen Ausweg aus der Aporie, in die die kritische<br />

Gesellschastheorie mit der Begründung unbedingter Geltungsansprüche geraten<br />

ist. Denn, um mit Putnam die Pointe des demokratischen Experimentalismus zu<br />

formulieren: „Experiencing ourselves as ethical fallibilists, as persons who do not inherit<br />

values which cannot be questioned, […] we more and more see ethical disputes<br />

as disputes to be settled, if possible, by intelligent argument and inquiry, and not by<br />

appeals to authority or to a priori principles. Now nothing Dewey wrote, and nothing<br />

James wrote, or Peirce wrote, can prove that there are objective ethical norms,<br />

ideals, rules of thumb, or even situation-specic values; but […] if there are ethical<br />

facts to be discovered, then we ought to apply to ethical inquiry just the rules we<br />

have learned to apply to inquiry in general: For what applies to inquiry in general<br />

applies to ethical inquiry in particular.“ 891<br />

Die Regeln jedoch, nach denen die wissenschaliche Forschung organisiert ist,<br />

sind zwar im Sinne Apels – und Deweys – normativ gehaltvoll, jedoch nicht als<br />

deontologisch begründete Sollensvorschrien, sondern als erfahrungsbewährte Regeln,<br />

die sich zum Ethos des demokratischen Experimentalismus verdichtet haben.<br />

Dieses Ethos des demokratischen Experimentalismus bindet den rationalen Willen<br />

freier Subjekte durch inhaltliche, nicht formale, von der motivationalen Konstitution<br />

der Subjekte abgehobene Gründe, ohne daß die Begründung der Moralität mit<br />

den Standards des demokratischen Experimentalismus ein beliebiges Handlungsziel<br />

qualiziert. Das ist es immerhin, was Marcuse bereits früh gegen Habermas eingewendet<br />

hat, daß nämlich die „Vernünigkeit“ nicht in der Organisation einer allge-<br />

891 Hilary Putnam, Pragmatism and Moral Objectivity, in: ders., Words and Life, a.a.O.,<br />

S. 151-181, S. 175.<br />

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meinen Willensbildung als solcher bestehen kann, „sondern nur in einer Organisation,<br />

die von Menschen geschaen worden ist oder geschaen wird, die dieser Vernünigkeit<br />

folgen“ 892 .<br />

892 Marcuse, in: Habermas et al., Gespräch mit Herbert Marcuse, a.a.O., S. 293 (s.o., S. 115).<br />

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