Étienne Bonnot de Condillac - Peter Ruben PHILOSOPHISCHE ...
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<strong>Peter</strong> <strong>Ruben</strong><br />
Philosophische Schriften<br />
Online-Edition peter-ruben.<strong>de</strong>, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Berlin 2011<br />
© <strong>Peter</strong> <strong>Ruben</strong>. Nähere Angaben zum Copyright im Impressum<br />
Hans-Christoph Rauh und <strong>Peter</strong> <strong>Ruben</strong><br />
<strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
o<strong>de</strong>r<br />
Die Dialektik <strong>de</strong>r Aufklärung und das Problem <strong>de</strong>r Erkenntnis 1<br />
Am 3. August 1780, vor nun 200 Jahren also, starb <strong>de</strong>r katholische Abbé Etienne Bon-<br />
not <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>, Bru<strong>de</strong>r Mablys, <strong>de</strong>s utopischen Kommunisten, Cousin d’Alemberts,<br />
<strong>de</strong>s Begrün<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Systemmechanik und be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Mathematikers, einer <strong>de</strong>r wich-<br />
tigsten Repräsentanten <strong>de</strong>r klassischen bürgerlichen Aufklärung <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts. In<br />
Grenoble 1715 geboren, von seinem Bru<strong>de</strong>r in die Pariser „Gesellschaft“ eingeführt,<br />
seinen erwählten Beruf auf sich beruhen lassend, übersetzte <strong>Condillac</strong> J. Locke, <strong>de</strong>n<br />
Erben <strong>de</strong>r englischen Revolution, ins Französische und erkannte dabei <strong>de</strong>n unüberwun<strong>de</strong>nen,<br />
von Locke nur ins erkennen<strong>de</strong> (individuelle) Subjekt verlegten Dualismus <strong>de</strong>r<br />
Sinnlichkeit und <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s als die aufzuheben<strong>de</strong> Beschränktheit <strong>de</strong>r angelsächsischen<br />
Frühaufklärung. Diese Aufhebung vollzog er durch <strong>de</strong>n Übergang auf <strong>de</strong>n Standpunkt,<br />
<strong>de</strong>n Verstand als das geschichtliche Resultat <strong>de</strong>r im Verhältnis zwischen Bedürfnis<br />
und Fähigkeit sich in äußeren Bedingungen entfalten<strong>de</strong>n Sinnlichkeit zu bestimmen<br />
– und zwar nicht als Produkt <strong>de</strong>s robinsonadischen Individuums, son<strong>de</strong>rn als Erzeugnis<br />
<strong>de</strong>r untereinan<strong>de</strong>r verkehren<strong>de</strong>n, kommunizieren<strong>de</strong>n Individuen, die in dieser Kommunikation<br />
ihre Gemeinschaftlichkeit, ihre Sozialität bil<strong>de</strong>n. Solche Bestimmung <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s<br />
freilich begriff er nicht als das empirisch wirkliche Ergebnis, das man etwa um<br />
die Mitte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts in Frankreich, im Reiche <strong>de</strong>s „allerchristlichen Monarchen“,<br />
hätte sinnlich wahrnehmen können. Er begriff sie vielmehr als die genetische<br />
Konsequenz einer „natürlichen“ Revolution, die in <strong>de</strong>m Augenblick eintreten wür<strong>de</strong>, in<br />
1 Erstveröffentlichung 1980 in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 28(1980)11, S. 1343-1354.
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
<strong>de</strong>m die Menschen mit <strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>n „unnatürlichen“, d. h. feudalabsolutistischen,<br />
Verhältnissen Schluß machten. Daß die dann eintreten<strong>de</strong>n „natürlichen“ Verhältnisse<br />
vielmehr die politischen Bestimmungen <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r kapitalistischen Profitmacher<br />
wären, konnte <strong>de</strong>r Erkenntnistheoretiker <strong>de</strong>r klassischen bürgerlichen Aufklärung<br />
selbstre<strong>de</strong>nd nicht voraussehen. Was er vor sich sah, über<strong>de</strong>utlich im bekannten „Nach<br />
uns die Sintflut!“ von <strong>de</strong>n Herrschen<strong>de</strong>n selbst ausgedrückt, war, mit Hegel zu sprechen,<br />
jenes „Positive“, das nichts als „das Negative <strong>de</strong>r Vernunft“ 2 sein konnte. Was er<br />
also zu antizipieren vermochte, konnte nichts an<strong>de</strong>res sein als die Realisierung <strong>de</strong>r Vernunft,<br />
die sich in <strong>de</strong>r Negation <strong>de</strong>s bestehen<strong>de</strong>n Positiven bestimmte, die als Gesamtheit<br />
allgemeiner Gedanken, als „eine abstrakte I<strong>de</strong>e, Gedanken <strong>de</strong>ssen, wie es sein soll –<br />
nicht die Weise <strong>de</strong>r Ausführung angeben“ könnend 3 –, real erscheinen mußte. Die wirkliche<br />
Ausführung begann am 14. Juli 1789, als <strong>Condillac</strong> bereits neun Jahre verschie<strong>de</strong>n<br />
war.<br />
Es gehört zum philosophiehistorischen Lehrgut, <strong>Condillac</strong> erkenntnistheoretisch zu<br />
klassifizieren. So gilt er <strong>de</strong>nn als Vertreter <strong>de</strong>s reinen o<strong>de</strong>r radikalen Sensualismus, <strong>de</strong>r<br />
mit <strong>de</strong>m alten Rationalismus aufgeräumt habe. Mit solchen Subsumtionen empfängt<br />
man zugleich <strong>de</strong>n Eindruck, als sei <strong>de</strong>r Rationalismus eine metaphysische Schrulle <strong>de</strong>s<br />
17. Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>de</strong>r Sensualismus dagegen <strong>de</strong>r aufklärerische Fortschritt und <strong>Condillac</strong><br />
einer seiner Bahnbrecher. Aber Rationalismus und Sensualismus sind einseitige Lehren<br />
<strong>de</strong>s Erkennens, die je<strong>de</strong> für sich Verstand und Sinnlichkeit, die doch untrennbaren Momente<br />
<strong>de</strong>s wirklichen Erkennens, gegeneinan<strong>de</strong>r fixieren und in diesem äußerlich gefaßten<br />
Gegensatz wechselseitig untereinan<strong>de</strong>r subsumieren. Der Rationalist Descartes zielt<br />
auf <strong>de</strong>m Standpunkt <strong>de</strong>s abstrakt gefaßten Verstan<strong>de</strong>s auf die <strong>de</strong>duktive Erklärung <strong>de</strong>r<br />
sinnlich erfahrenen physikalischen Realität, und <strong>de</strong>r Sensualist <strong>Condillac</strong> zielt auf <strong>de</strong>m<br />
Standpunkt <strong>de</strong>r abstrakt gefaßten Sinnlichkeit, d. h. <strong>de</strong>r Empfindungsfähigkeit als solcher,<br />
auf die genetische Erklärung eben <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>n Sinnen. Eine wirkliche<br />
Trennung <strong>de</strong>r Sinnlichkeit vom Verstand liegt also we<strong>de</strong>r bei Descartes noch bei <strong>Condillac</strong><br />
vor, wohl allerdings eine bemerkenswert verschie<strong>de</strong>ne begriffliche Fassung <strong>de</strong>s<br />
Verhältnisses bei<strong>de</strong>r Momente <strong>de</strong>s Erkennens zueinan<strong>de</strong>r.<br />
Die Frage ist natürlich: Warum dolmetscht <strong>Condillac</strong> Locke auf eine Weise, daß er<br />
als Sensualist gegen <strong>de</strong>n Rationalismus erscheint, obwohl doch seine ganze Lehre <strong>de</strong>n<br />
wirklichen Sinn hat, <strong>de</strong>n Verstand in die gesellschaftliche Wirklichkeit einzubil<strong>de</strong>n, also<br />
die Wirklichkeit nach <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s (bürgerlichen) Verstan<strong>de</strong>s neu zu fassen?<br />
Warum tritt <strong>de</strong>r wirkliche Rationalist sensualistisch auf? Denn das ist nach unserer Mei-<br />
2 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. 3. Bd. Hrsg. von G. Irrlitz. Leipzig<br />
1971. Hegel nennt hier das „Positive“ auch „<strong>de</strong>n Zustand einer Ausartung, ja allgemeinen, vollkommenen<br />
Lüge“ (S. 443) und die „blin<strong>de</strong>ste Herrschaft <strong>de</strong>r Minister und ihrer Dirnen, Weiber, Kammerdiener;<br />
so daß ein ungeheures Heer von kleinen Tyrannen und Müßiggängern es für ein göttliches<br />
Recht ansahen, die Einnahme <strong>de</strong>s Staats und <strong>de</strong>n Schweiß <strong>de</strong>s Volks zu plün<strong>de</strong>rn“. (S. 445)<br />
3 Ebd.<br />
2
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
nung <strong>de</strong>r tatsächliche Gehalt <strong>de</strong>r Philosophie <strong>Condillac</strong>s, daß sie <strong>de</strong>n Verstand aus <strong>de</strong>n<br />
Sinnen erklärt, um <strong>de</strong>n faktisch bestehen<strong>de</strong>n Unverstand als überflüssig und liquidierbar<br />
zu <strong>de</strong>monstrieren, zu zeigen, daß die „natürliche“ Sinnlichkeit jenseits <strong>de</strong>r feudalabsolutistischen<br />
Institutionen ihren eigenen Verstand zu konstituieren vermag! <strong>Condillac</strong><br />
bricht nicht mit <strong>de</strong>m französischen Erbe, son<strong>de</strong>rn hebt es auf; er wirft – was keineswegs<br />
nur seine Logik (bzw. „Kunst <strong>de</strong>s Denkens“) zeigt – <strong>de</strong>n Verstand keinen Augenblick<br />
beiseite. Er wird nicht, wie ihm später C. H. <strong>de</strong> Saint-Simon vorwirft, zum Repräsentanten<br />
<strong>de</strong>s „englischen wissenschaftlichen Jochs“, zum Erzeuger „armseliger Gedanken<br />
über die Metho<strong>de</strong>“, die „nur die von Locke gemachten . . . Ent<strong>de</strong>ckungen ausbauen, die<br />
ihrerseits nichts an<strong>de</strong>res vorstellen als eine Wi<strong>de</strong>rlegung einiger unserem großen<br />
Descartes unterlaufener Irrtümer“ 4 . <strong>Condillac</strong> verrät Descartes nicht, son<strong>de</strong>rn bestimmt<br />
die Bedingungen seiner wirklichen allgemeinen Geltung.<br />
Um die – natürlich mit Bezug auf die Erhellung <strong>de</strong>r „Dialektik <strong>de</strong>r Aufklärung“ 5 gestellte<br />
– Frage zu beantworten, bleibt kein an<strong>de</strong>rer Weg, als die Reduktion <strong>de</strong>s Urteils<br />
über <strong>Condillac</strong> auf eine rein erkenntnistheoretische Klassifikation (Rationalismus contra<br />
Sensualismus) aufzugeben, <strong>Condillac</strong>s Philosophie als wesentliches Moment in <strong>de</strong>r Geschichte<br />
<strong>de</strong>s bürgerlichen europäischen Materialismus aufzufassen, worauf erst in <strong>de</strong>n<br />
letzten Jahrzehnten, insbeson<strong>de</strong>re durch die marxistisch-leninistische Forschung 6 , verstärkt<br />
aufmerksam gemacht wur<strong>de</strong>. Als <strong>de</strong>r „unmittelbare Schüler und französische<br />
Dolmetscher Lockes . . . richtete (<strong>Condillac</strong>) <strong>de</strong>n Lockeschen Sensualismus sogleich<br />
gegen die Metaphysik <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Er bewies, daß die Franzosen dieselbe mit<br />
Recht als ein Machwerk <strong>de</strong>r Einbildungskraft und theologischer Vorurteile verworfen<br />
hätten.“ Er führte „Lockes Gedanken aus und bewies, daß nicht nur die Seele, son<strong>de</strong>rn<br />
4<br />
C. H. <strong>de</strong> Saint-Simon: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von L. Zahn. Berlin 1977. S. 87<br />
5<br />
Wenn wir von „Dialektik <strong>de</strong>r Aufklärung“ sprechen, so meinen wir natürlich nicht M. Horkheimers<br />
und Th. W. Adornos Denunziation, daß die aufklärerische For<strong>de</strong>rung, die Naturbedingungen <strong>de</strong>r Menschen<br />
zu beherrschen, als Herrschaft über Menschen realisiert wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Umstand, daß die<br />
Aufklärung die Metaphysik mit <strong>de</strong>r klassischen <strong>de</strong>utschen Philosophie vermittelt und alle drei Gestaltungen<br />
in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r klassischen bürgerlichen Philosophie sind.<br />
6<br />
Vgl.: G. Klaus: Einleitung <strong>de</strong>s Herausgebers zu: E. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Die Logik o<strong>de</strong>r die Anfänge <strong>de</strong>r<br />
Kunst <strong>de</strong>s Denkens. Die Sprache <strong>de</strong>s Rechnens. Berlin 1959; U. Ricken: Einführung <strong>de</strong>s Herausgebers<br />
zu: E. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse. Leipzig 1977; H.<br />
Bergmann: Die Überwindung metaphysischen Denkens in <strong>de</strong>r sensualistischen Erkenntnistheorie. In:<br />
Französische Aufklärung. Autorenkollektiv u. Ltg. von W. Schrö<strong>de</strong>r. Leipzig 1974; H. Bergmann/P.<br />
<strong>Ruben</strong>: Dialektik und System<strong>de</strong>nken in <strong>de</strong>r französischen Aufklärung. In: H. Bergmann/U. Hedtke/P.<br />
<strong>Ruben</strong>/C. Warnke: Dialektik und System<strong>de</strong>nken. Berlin 1977. In <strong>de</strong>r Forschung über die französische<br />
Aufklärung überhaupt besitzt die DDR dank W. Krauss eine hervorragen<strong>de</strong>, speziell auch in Frankreich<br />
hochgeschätzte Tradition, in <strong>de</strong>r Wesentliches zum mo<strong>de</strong>rnen Bild <strong>de</strong>r klassischen französischen<br />
Aufklärung erarbeitet wor<strong>de</strong>n ist. Dies ist eine literaturwissenschaftliche Leistung, für die Fachphilosophen<br />
nur dankbar sein können. Wir verweisen auf: W. Krauss: Cartaud <strong>de</strong> la Villate. Ein Beitrag zur<br />
Entstehung <strong>de</strong>s geschichtlichen Weltbil<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r französischen Aufklärung. 2 B<strong>de</strong>. Berlin 1960; W.<br />
Krauss: Einleitung zu: C. A. Helvétius: Vom Geist. Berlin/Weimar 1973; M. Naumann: D’Holbach<br />
und das Materialismusproblem in <strong>de</strong>r französischen Aufklärung. In: D’Holbach: System <strong>de</strong>r Natur.<br />
Berlin 1960; M. Naumann: Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s „Christianisme dévoilé“, <strong>de</strong>r „Théologie portative“ und<br />
<strong>de</strong>r „Lettres à Eugénie“ für die weltanschaulichen Kämpfe in <strong>de</strong>r französischen Aufklärung zwischen<br />
1760 und 1770. In: D’Holbach: Religionskritische Schriften. Berlin/Weimar 1970<br />
3
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
auch die Sinne, nicht nur die Kunst, I<strong>de</strong>en zu machen, son<strong>de</strong>rn auch die Kunst <strong>de</strong>r sinnlichen<br />
Empfindung Sache <strong>de</strong>r Erfahrung und Gewohnheit sei. Von <strong>de</strong>r Erziehung und<br />
<strong>de</strong>n äußeren Umstän<strong>de</strong>n hängt daher die ganze Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen ab. <strong>Condillac</strong><br />
ist erst durch die eklektische Philosophie aus <strong>de</strong>n französischen Schulen verdrängt<br />
wor<strong>de</strong>n.“ 7 Mit diesen gewichtigen Sätzen charakterisieren bereits Engels und Marx<br />
1845 in ihrer ersten größeren gemeinsamen Arbeit <strong>Condillac</strong>s Stellung im klassischen<br />
bürgerlichen französischen Materialismus, und sie verteidigen ihn zusammen mit Feuerbach<br />
– vollständig in <strong>de</strong>r philosophischen Tradition <strong>de</strong>s Materialismus seit Demokrit<br />
und Epikur stehend 8 — gegen die damaligen junghegelianischen „kritisch-kritischen“<br />
Attacken, „Wi<strong>de</strong>rlegungen“ und Verfälschungen dieses Erbes. Eine fast gänzliche Ignorierung<br />
hatte <strong>Condillac</strong> als Person allerdings bereits durch Hegels vorangegangene allgemeine<br />
Herabsetzung und oftmals ziemlich willkürliche Konstruktion <strong>de</strong>r Geschichte<br />
speziell <strong>de</strong>s französischen Materialismus erfahren, wenn sich auch verschie<strong>de</strong>ne Hinweise<br />
auf <strong>de</strong>ssen abstrakten und metaphysischen Charakter als durchaus zutreffend erweisen.<br />
9<br />
<strong>Condillac</strong>s gründliche Kritik (worin ihm vor allem P. Bayle vorangegangen war) und<br />
schließliche Überwindung <strong>de</strong>r klassischen Metaphysik <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts, also speziell<br />
<strong>de</strong>r Systeme von Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz 10 , kann man aber<br />
nach Marx und Engels (sie konzipierten 1844/45 gera<strong>de</strong> die Grundzüge ihrer dialektisch-materialistischen<br />
Geschichtsauffassung und wandten sie schon theoretischmethodologisch<br />
auf die Analyse und Erklärung <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie selbst<br />
an!) „nur insofern aus <strong>de</strong>r materialistischen Theorie <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts erklären, als<br />
man diese theoretische Bewegung selbst aus <strong>de</strong>r praktischen Gestaltung <strong>de</strong>s damaligen<br />
französischen Lebens erklärt. Dieses Leben war auf die unmittelbare Gegenwart, auf<br />
<strong>de</strong>n weltlichen Genuß und die weltlichen Interessen, auf die irdische Welt gerichtet.<br />
7<br />
F. Engels/K. Marx: Die heilige Familie o<strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r kritischen Kritik. In: K. Marx/F. Engels: Werke.<br />
Bd. 2. Berlin 1958. S. 137<br />
8<br />
Marx hatte bekanntlich erst einige Jahre zuvor (1839 bis 1841) seine Doktordissertation zur „Differenz<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>mokritischen und epikureischen Naturphilosophie“ geschrieben, und in <strong>de</strong>r „Heiligen Familie“<br />
betonen Engels und Marx gemeinsam: „Der französische und englische Materialismus blieb immer in<br />
einem innigen Verhältnis zu Demokrit und Epikur.“ (Ebd. S. 133)<br />
9<br />
Vgl.: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. 3. Bd. S. 433ff. Eine gewisse<br />
„Richtigstellung“ dieser offensichtlichen Vereinseitigungen, vor allem in historischer, nicht in theoretisch-systematischer<br />
Hinsicht (hier „irrte“ Hegel weit weniger!), nahm bereits F. A. Lange in seiner<br />
„Geschichte <strong>de</strong>s Materialismus“, 1. Buch, Leipzig 1873, S. 433 ff., vor. Um so beschämen<strong>de</strong>r und unverständlicher<br />
ist es, wenn A. Baruzzi, Herausgeber eines Sammelban<strong>de</strong>s „Aufklärung und Materialismus<br />
im Frankreich <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts“ (München 1968) in seiner ansonsten wenig qualifizierten<br />
„Einleitung“ durchgehend von <strong>de</strong>n französischen Materialisten Lamettrie, Helvétius, <strong>Condillac</strong>,<br />
Di<strong>de</strong>rot, Holbach und <strong>de</strong> Sa<strong>de</strong> als „Denkern zweiten Ranges“ spricht. Noch aufschlußreicher ist es aber<br />
zu hören, worin <strong>de</strong>nn nun diese angebliche „Zweitrangigkeit dieser Denker“ bestehe. Diese liege nicht<br />
so sehr darin, daß sie oft schlechte Schriftsteller und fast immer schlechte Denker seien (!), als vielmehr<br />
darin, daß sie <strong>de</strong>n Menschen zu einer neuen Realität aufklärten (!!), ihm einen neuen Rang zuweisen<br />
wollten (S. 8). Ja allerdings, darin lag gera<strong>de</strong>wegs die vortreffliche „Dialektik <strong>de</strong>r Aufklärung“<br />
begrün<strong>de</strong>t, wie wir meinen!<br />
10<br />
Vgl. E. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Traité <strong>de</strong>s systèmes. Amsterdam 1749<br />
4
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
Seiner antitheologischen, antimetaphysischen, seiner materialistischen Praxis mußten<br />
antitheologische, antimetaphysische, materialistische Theorien entsprechen.“ 11<br />
Wie bekannt unterschei<strong>de</strong>n Marx und Engels weiterhin zwei sich allerdings mehr-<br />
fach durchkreuzen<strong>de</strong> Richtungen <strong>de</strong>s französischen Materialismus, „wovon die eine<br />
ihren Ursprung von Descartes, die andre ihren Ursprung von Locke herleitet. Der letzte-<br />
re ist vorzugsweise ein französisches Bildungselement und mün<strong>de</strong>t direkt in <strong>de</strong>n Sozia-<br />
lismus.“ 12 In einer Anmerkung betonen Engels und Marx nochmals diesen direkten Zu-<br />
sammenhang <strong>de</strong>s Materialismus <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts mit <strong>de</strong>m englischen und französi-<br />
schen Sozialismus und Kommunismus <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts, <strong>de</strong>r allerdings noch einer<br />
ausführlichen Darstellung bedürfe. Ansonsten verweisen sie namentlich auf Helvétius,<br />
Holbach und Bentham 13 sowie an an<strong>de</strong>rer Stelle natürlich auf Fourier, Owen, Cabet,<br />
Dézamy, Gay und an<strong>de</strong>re, die „die Lehre <strong>de</strong>s Materialismus als die Lehre <strong>de</strong>s realen<br />
Humanismus und als die logische Basis <strong>de</strong>s Kommunismus“ entwickelten. 14 „Es bedarf<br />
keines großen Scharfsinnes“, so erklären Engels und Marx diesen Zusammenhang weiter,<br />
„um aus <strong>de</strong>n Lehren <strong>de</strong>s Materialismus von <strong>de</strong>r ursprünglichen Güte und gleichen<br />
intelligenten Begabung <strong>de</strong>r Menschen, <strong>de</strong>r Allmacht <strong>de</strong>r Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung,<br />
<strong>de</strong>m Einflüsse <strong>de</strong>r äußern Umstän<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>r hohen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
Industrie, <strong>de</strong>r Berechtigung <strong>de</strong>s Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit<br />
<strong>de</strong>m Kommunismus und Sozialismus einzusehen. Wenn <strong>de</strong>r Mensch aus <strong>de</strong>r Sinnenwelt<br />
und <strong>de</strong>r Erfahrung in <strong>de</strong>r Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bil<strong>de</strong>t, so<br />
kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft<br />
Menschliche in ihr erfährt ... Wenn <strong>de</strong>r Mensch von <strong>de</strong>n Umstän<strong>de</strong>n gebil<strong>de</strong>t wird, so<br />
muß man die Umstän<strong>de</strong> menschlich bil<strong>de</strong>n.“ 15<br />
Wir glauben, daß man erst in dieser Relation und umfassen<strong>de</strong>n i<strong>de</strong>ologie- wie sozialgeschichtlichen<br />
Einordnung <strong>Condillac</strong>s philosophische Gedanken und Arbeiten, <strong>de</strong>ren<br />
unverkennbare Herkunft, eigenständige Ausbildung und umfassen<strong>de</strong> Fortwirkung,<br />
sachgerecht zu erfassen vermag. Bei aller beson<strong>de</strong>ren Be<strong>de</strong>utung gera<strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>s für<br />
die philosophisch-theoretische Grundlegung und Ausrichtung <strong>de</strong>s gesamten französischen<br />
Materialismus auf <strong>de</strong>n Sensualismus kann aber nicht behauptet wer<strong>de</strong>n, daß allein<br />
er, wie »alle Klassiker <strong>de</strong>r Neuzeit, von Bacon und Descartes bis Kant und über ihn<br />
11<br />
F. Engels/K. Marx: Die heilige Familie o<strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r kritischen Kritik. A. a. O. S. 134 (Hervorhebung<br />
z. T. von uns – H.-C. R./P. R.). Auf diese sozialen und i<strong>de</strong>ologischen Hintergrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r französischen<br />
Aufklärung ist später vor allem Engels im „Anti-Dühring“ sowie in <strong>de</strong>r „Dialektik <strong>de</strong>r Natur“ eingegangen.<br />
Vgl. <strong>de</strong>s Weiteren hierzu die ausführliche Darstellung <strong>de</strong>r historischen Bedingungen und<br />
Hauptetappen dieser Entwicklung in: Französische Aufklärung. Autorenkollektiv u. Ltg. von W.<br />
Schrö<strong>de</strong>r, worauf hier nicht weiter eingegangen zu wer<strong>de</strong>n braucht.<br />
12<br />
F. Engels/K. Marx: Die heilige Familie o<strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r kritischen Kritik. A. a. O., S. 132<br />
13<br />
Vgl. Ebd., S. 140<br />
14<br />
Ebd., S. 139<br />
15<br />
Ebd. S. 138<br />
5
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
hinaus ..., <strong>de</strong>r Philosophie die Erkenntnistheorie zugrun<strong>de</strong> gelegt“ habe. 16 Von einer<br />
<strong>de</strong>rartig verselbständigten Erkenntnistheorie kann – das sei daher nochmals betont –<br />
we<strong>de</strong>r bei <strong>Condillac</strong> noch bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Hauptrepräsentanten <strong>de</strong>s alten Materialismus<br />
wie allen an<strong>de</strong>ren Vertretern <strong>de</strong>s gesamten bürgerlichen philosophischen Denkens die<br />
Re<strong>de</strong> sein, auch wenn sie fast durchgehend ihre jeweiligen philosophischen Hauptschriften<br />
mit „Versuch über <strong>de</strong>n menschlichen Verstand“ (Locke), „Über <strong>de</strong>n Geist“<br />
(Helvétius), „Kritik <strong>de</strong>r reinen Vernunft“ (Kant) o<strong>de</strong>r „Phänomenologie <strong>de</strong>s Geistes“<br />
(Hegel) überschrieben und auch so verstan<strong>de</strong>n haben. Letzteres hat seinen Grund offensichtlich<br />
in <strong>de</strong>r generellen bürgerlich-i<strong>de</strong>ologischen Ausrichtung, wesentlich durch Aufklärung<br />
17 nicht nur das herrschen<strong>de</strong> gesellschaftliche Bewußtsein, son<strong>de</strong>rn überhaupt<br />
die Wirklichkeit praktisch verän<strong>de</strong>rn bzw. vernünftig gestalten zu können. Daher die<br />
vielen grundsätzlichen Analysen und Untersuchungen <strong>de</strong>s menschlichen Denkens und<br />
Erkennens, <strong>de</strong>r Kritik überkommener I<strong>de</strong>en und Vorurteile sowie die schließlichen Vorschläge<br />
zur Reform und Erziehung <strong>de</strong>s menschlichen Geistes und Bewußtseins, für die<br />
nicht zuletzt gera<strong>de</strong> <strong>Condillac</strong> mit allen seinen Werken kennzeichnend ist und die ihn<br />
während <strong>de</strong>r kurzen nachrevolutionären Aufklärungszeit (bis zum endgültigen Machtantritt<br />
Napoleons) zum theoretischen Ausgangspunkt einer keineswegs nur wissenschaftsund<br />
bildungspolitisch sehr einflußreichen so genannten I<strong>de</strong>ologiegruppe um P. J.<br />
Cabanis und D. <strong>de</strong> Tracy wer<strong>de</strong>n ließen, welche schließlich ihre gesamte Philosophie<br />
selbst als „I<strong>de</strong>ologie“, im Sinne einer universellen I<strong>de</strong>enlehre, verstan<strong>de</strong>n und bezeichneten.<br />
18 Und so bestimmte <strong>Condillac</strong> einmal selbst<br />
16<br />
O. Ewald: Die französische Aufklärungsphilosophie. München 1924. S. 29. Auch in B. Groethuysens<br />
ansonsten sehr lesenswerten „Philosophie <strong>de</strong>r Französischen Revolution“, Frankfurt a. M/Berlin/Wien<br />
1975, erscheinen Locke und <strong>Condillac</strong> bzw. die „sensualistische Erkenntnistheorie“ unter <strong>de</strong>r Firmierung<br />
„Der wissenschaftliche Positivismus“. (S. 31 ff.)<br />
17<br />
Vgl. hierzu insbeson<strong>de</strong>re: W. Bahner: „Aufklärung“ als Perio<strong>de</strong>nbegriff <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologiegeschichte. Berlin<br />
1973. Hier wird mehrfach direkt von einem „geistesgeschichtlichen“ Epochenbegriff in Bezug auf<br />
die Renaissance und die Aufklärung gesprochen. (Vgl. ebd., S. 5)<br />
18<br />
Vgl.: A. Destutt <strong>de</strong> Tracy: Éléments d’i<strong>de</strong>ologie. Paris 1801 ff. u. 1817. Diese universelle I<strong>de</strong>en- bzw.<br />
Erkenntnislehre glie<strong>de</strong>rt sich in folgen<strong>de</strong> drei Haupteile: I. Geschichte unserer Erkenntnismittel (I<strong>de</strong>ologie,<br />
Grammatik, Logik); II. Anwendung unserer Erkenntnismittel hinsichtlich unserer Handlungen<br />
(Ökonomie, Moral, Staatslehre); III. Anwendung unserer Erkenntnismittel. auf die Außenwelt (Physik,<br />
Geometrie, Zahlenlehre). Unmittelbar ausgehend von Cabanis’ naturwissenschaftlich (physiologisch)<br />
materialistisch vereinheitlichter Körper-, Erkenntnis- und Sittenlehre („Rapports du physique et du moral<br />
<strong>de</strong> l’homme“, 1788 ff.) betrachtet auch Tracy die so breit angelegte Wissenschaft vom menschlichen<br />
Geist, seinen Wirkungen und Gegenstän<strong>de</strong>n, von vornherein als Moment <strong>de</strong>r allgemeinen Naturgeschichte<br />
(wörtlich <strong>de</strong>r „Zoologie“!). Doch lediglich <strong>de</strong>r unter I. genannte Hauptteil seiner „Elemente<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie“ enthält als Lehre von <strong>de</strong>r Bildung unserer I<strong>de</strong>en die eigentliche I<strong>de</strong>enlehre bzw. I<strong>de</strong>ologie,<br />
die aber am Gesamtwerk wie <strong>de</strong>r gesamten philosophischen Richtung jener Jahre schließlich diese<br />
Schulbezeichnung einbrachte. Bereits Hegel meinte jedoch entsprechend seiner generellen Kritik am<br />
französischen Materialismus, daß das, „was die Franzosen I<strong>de</strong>ologie nennen“, nichts sei als „abstrakte<br />
Metaphysik“!, „ein Aufzählen, Analysieren <strong>de</strong>r einfachsten Denkbestimmungen. Sie wer<strong>de</strong>n nicht dialektisch<br />
gefaßt; son<strong>de</strong>rn aus unserer Reflexion, aus unseren Gedanken wird <strong>de</strong>r Stoff genommen: und<br />
an diesem wer<strong>de</strong>n die Bestimmungen, die darin enthalten sind, aufgezeigt.“ (G. W. F. Hegel: Vorlesungen<br />
über die Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. 3. Bd. S. 433)<br />
Von dieser zunächst noch ganz wertfreien Bezeichnung „I<strong>de</strong>ologie“ für eine an Locke und <strong>Condillac</strong><br />
anknüpfen<strong>de</strong> bestimmte und ziemlich geschlossen auftreten<strong>de</strong> philosophisch-erkenntnistheoretische<br />
Orientierung (Lehre/Schule) jener Jahre (um 1895) ist jedoch die nachweislich erst etwas später, offen-<br />
6
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
seine philosophischen Bemühungen: „Unser Hauptgegenstand, <strong>de</strong>n wir niemals aus <strong>de</strong>m<br />
Auge verlieren dürfen, ist die Erforschung <strong>de</strong>s menschlichen Geistes. Nicht um seine<br />
Natur zu ent<strong>de</strong>cken, son<strong>de</strong>rn seine Operationen, die Kunst, diese Operationen miteinan-<br />
<strong>de</strong>r zu kombinieren und sie so zu vollziehen, daß wir alles Verständnis gewinnen, <strong>de</strong>s-<br />
sen wir fähig sind. Wir müssen bis auf <strong>de</strong>n Ursprung unserer I<strong>de</strong>en zurückgehen, ihre<br />
Entstehung und Entwicklung verfolgen bis an die Grenzen, die ihnen von <strong>de</strong>r Natur ge-<br />
setzt sind, damit gleichzeitig <strong>de</strong>n Umfang und die Grenzen unserer Erkenntnisse be-<br />
stimmen und <strong>de</strong>n gesamten menschlichen Verstand erneuern.“ 19 In dieser Hinsicht steht<br />
<strong>Condillac</strong> (in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r vormarxistischen Philosophie und Erkenntnistheorie)<br />
in einer Linie mit Bacon und Locke, ja selbst mit Kant und Hegel, wobei er aber seiner<br />
philosophischen Grundposition nach zum Materialismus gehört und daher heute we<strong>de</strong>r<br />
in einer neukantianischen noch neopositivistischen Weise „empiriokritizistisch“, „erkenntnistheoretisch“<br />
o<strong>de</strong>r „sprachanalytisch“ vereinseitigt wer<strong>de</strong>n darf.<br />
Damit ist auch schon die umfassen<strong>de</strong>, z. T. aber auch wi<strong>de</strong>rsprüchliche Wirkung von<br />
<strong>Condillac</strong> auf die zeitgenössische und nachfolgen<strong>de</strong> philosophische Entwicklung (z. B.<br />
auch gesellschaftstheoretisch über Helvétius) wie einzelwissenschaftliche Forschung<br />
(speziell im Rahmen <strong>de</strong>r Sprachwissenschaft sowie hinsichtlich <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>r Psychologie)<br />
ange<strong>de</strong>utet, die – keineswegs durchgehend – zu einem immer konsequenter<br />
wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n philosophischen Materialismus führen sollte. Diese Wi<strong>de</strong>rsprüchlichkeit lag<br />
offensichtlich schon im sensualistischen Ansatz von Locke selbst begrün<strong>de</strong>t, an <strong>de</strong>n ja<br />
(was mit Marx überhaupt nicht allein i<strong>de</strong>engeschichtlich zu erklären ist) sowohl Berkeley,<br />
Hume und Kant, aber eben auch <strong>Condillac</strong> wie <strong>de</strong>r gesamte französische Materialismus<br />
anknüpfen sollten. Es ist daher weniger <strong>de</strong>r überlieferte zurückhalten<strong>de</strong>, vielleicht<br />
zaghafte Charakter unseres Philosophen als vielmehr <strong>de</strong>r eigentliche theoretische<br />
Ausgangspunkt, <strong>de</strong>r Sensualismus (bzw. Empirismus überhaupt) – also jene gnoseologische<br />
Verselbständigung <strong>de</strong>r Empfindung bzw. Erfahrung –, <strong>de</strong>r, obwohl weit über Lo-<br />
sichtlich unmittelbar zusammenhängend mit <strong>de</strong>m Staatsstreich Napoleons vom 18. Brumaire von 1799<br />
auftreten<strong>de</strong>, ein<strong>de</strong>utig abwerten<strong>de</strong> Bezeichnung „I<strong>de</strong>ologen“ zu unterschei<strong>de</strong>n, gegen die Napoleon<br />
aus praktisch-politischen Grün<strong>de</strong>n tatsächlich persönlich vorging. „Seine Verachtung <strong>de</strong>r industriellen<br />
hommes d’affaires war die Ergänzung zu seiner Verachtung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologen.“ (F.Engels/K.Marx: Die<br />
heilige Familie o<strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r kritischen Kritik. A. a. O. S. 131) In diesem Sinne erschien bereits unmittelbar<br />
nach <strong>de</strong>r Machtergreifung Napoleons und angesichts seiner offiziellen Aussöhnung mit <strong>de</strong>r<br />
katholischen Kirche (entsprechen<strong>de</strong>s Konkordat mit <strong>de</strong>m Vatikan 1801) und <strong>de</strong>r nunmehr immer umfassen<strong>de</strong>r<br />
einsetzen<strong>de</strong>n Abrechnung mit <strong>de</strong>r vorrevolutionären Aufklärungsbewegung, insbeson<strong>de</strong>re<br />
aber mit <strong>de</strong>m französischen Materialismus und Atheismus <strong>de</strong>s vorangegangenen 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts, eine<br />
Schrift mit <strong>de</strong>m bezeichnen<strong>de</strong>n Titel: „Anti-<strong>Condillac</strong> o<strong>de</strong>r Ansprache an die mo<strong>de</strong>rnen I<strong>de</strong>ologen über<br />
die Seele <strong>de</strong>s Menschen, ihre Eigenschaften, ihren Ursprung und die Gewißheit ihrer Erkenntnis, ihre<br />
Unsterblichkeit und ihre Bestimmung“. (J.-B. Aubry: Anti-<strong>Condillac</strong>, ou harangue aux idéologues mo<strong>de</strong>rnes<br />
... Paris 1801) Eine zusammenfassen<strong>de</strong> Darstellung dieser ganzen nachrevolutionären Aufklärungsbewegung,<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie wie ihrer Repräsentanten, gibt erst 100 Jahre später F. Picaret: Les idéologues,<br />
essai sur l’histoire <strong>de</strong>s idées et <strong>de</strong>s théories scientifiques, philosophiques, religieuses en France<br />
<strong>de</strong>puis 1789. Paris 1891. Des Weiteren wären hier zu nennen: H. Hettner: Geschichte <strong>de</strong>r französischen<br />
Literatur im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt. Braunschweig 1894. S. 371 ff.; sowie auch: Ch. N. Momdshian:<br />
Helvetius. Ein streitbarer Atheist <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts. Berlin 1958. S. 389 ff.<br />
19 E. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse. S. 59<br />
7
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
cke hinausgehend, trotz<strong>de</strong>m einen nicht immer konsequent materialistischen Standpunkt<br />
und selbst subjektivistisch und agnostizistisch interpretierbare Ten<strong>de</strong>nzen hervortreten<br />
ließ. So geschah es, daß <strong>de</strong>r wohl „gnoseologisch“, weniger – aber ebenso folgerichtig –<br />
auch „ontologisch“ ausgerichtete sensualistische Materialismus, wie ihn insbeson<strong>de</strong>re<br />
Locke und <strong>Condillac</strong> vertraten, bereits zu Beginn <strong>de</strong>r Laufbahn <strong>de</strong>s letzteren dazu führte,<br />
daß z. B. Di<strong>de</strong>rot, was später auch Lenin in seiner Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m<br />
nachfolgen<strong>de</strong>n Empiriokritizismus wie<strong>de</strong>r herausstellen sollte, auf bestimmte Ähnlichkeiten<br />
<strong>de</strong>r Annahmen <strong>de</strong>s I<strong>de</strong>alisten Berkeley und <strong>de</strong>s Sensualisten <strong>Condillac</strong> aufmerksam<br />
machte: „<strong>Condillac</strong> hätte sich seiner Meinung nach damit abgeben sollen, Berkeley<br />
zu wi<strong>de</strong>rlegen, um so absur<strong>de</strong>n Folgerungen vorzubeugen, die aus <strong>de</strong>r Anschauung<br />
stammen, daß die Empfindungen die einzige Quelle unserer Erkenntnis seien.“ 20<br />
Doch, das sei nochmals hervorgehoben, solcherlei Ähnlichkeiten sind äußerlich und<br />
nur gewinnbar, wenn man verschie<strong>de</strong>ne Philosophen nicht nach ihrer wirklichen geschichtlichen<br />
Stellung, son<strong>de</strong>rn nach ihrem Dasein als mögliche Kandidaten zur Präsentation<br />
abstrakter Klassifizierungen sondiert. Die wirkliche historische Be<strong>de</strong>utung <strong>Condillac</strong>s<br />
ist nur in <strong>de</strong>r objektiven Dialektik <strong>de</strong>r klassischen bürgerlichen Aufklärung bestimmt,<br />
die, in<strong>de</strong>m sie lehrt, wie die „natürliche Ordnung“ <strong>de</strong>r Umstän<strong>de</strong> zur verständigen<br />
Bildung <strong>de</strong>r Sinnlichkeit führen kann, zugleich for<strong>de</strong>rt, die Umstän<strong>de</strong> menschlich<br />
zu bil<strong>de</strong>n. Von dieser Orientierung ist <strong>Condillac</strong> nicht abgewichen.<br />
Dieser generellen aufklärerischen Grundorientierung dienen daher auch alle – hierin<br />
unmittelbar Bacon und Locke folgend – erkenntnistheoretischen und i<strong>de</strong>ologiekritischen<br />
Überlegungen <strong>Condillac</strong>s im Einzelnen. „Es wird nicht genügen, die Irrtümer <strong>de</strong>r Philosophen<br />
zu ent<strong>de</strong>cken, ohne auch gleichzeitig ihre Ursachen zu erkennen.“ 21 Hierbei<br />
drängt es, das sei ebenfalls nochmals betont, <strong>de</strong>n Materialisten und Sensualisten <strong>Condillac</strong><br />
(ganz im Gegensatz zur überkommenen rationalistisch-i<strong>de</strong>alistischen Metaphysik<br />
<strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts) zunehmend dazu, die menschliche Erkenntnis auf die natürlichste<br />
Weise entwicklungsgeschichtlich zu erklären. „Descartes hat we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ursprung noch<br />
die Entwicklung unserer I<strong>de</strong>en erkannt. Daher rührt auch die Unzulänglichkeit seiner<br />
Metho<strong>de</strong>; <strong>de</strong>nn wir wer<strong>de</strong>n keine sichere Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gedankenführung ent<strong>de</strong>cken,<br />
solange wir nicht wissen, wie die Gedanken entstehen.“ 22 Erwiesenermaßen erhielt <strong>de</strong>r<br />
Entwicklungsgedanke <strong>de</strong>r gesamten Aufklärungsbewegung durch Buffons 36bändige<br />
„Allgemeine und spezielle Naturgeschichte“ (1749 bis 1789) entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Auftrieb<br />
und wirkte philosophisch-methodologisch wie weltanschaulich insbeson<strong>de</strong>re auf <strong>Condillac</strong>,<br />
Helvétius und Di<strong>de</strong>rot und bereicherte überhaupt das dialektische Aufklärungs-<br />
20<br />
W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 14. Berlin 1964. S.<br />
27. <strong>Condillac</strong> hat übrigens Di<strong>de</strong>rots Hinweis im „Traité <strong>de</strong>s sensations“ von 1754 verarbeitet. Aber<br />
schon im „Essai“ ist die materialistische Position elementar ausgesprochen, z. B. wenn das Verhältnis<br />
<strong>de</strong>r Wörter zum Geiste mit <strong>de</strong>m Verhältnis <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong> zur Außenwelt als gleichartig betrachtet<br />
wird.<br />
21<br />
E. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse. S. 59<br />
22<br />
Ebd., S. 58<br />
8
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
<strong>de</strong>nken in Frankreich. 23 Weiterhin war unmittelbar vor <strong>Condillac</strong>s „Essai über <strong>de</strong>n Ur-<br />
sprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse“ Lamettries „Naturgeschichte <strong>de</strong>r Seele“ (1745)<br />
erschienen, in <strong>de</strong>r letzterer unter an<strong>de</strong>rem <strong>de</strong>n später auch von Lenin aufgegriffenen<br />
Gedanken von <strong>de</strong>r universellen Empfindungsfähigkeit <strong>de</strong>r gesamten Materie geäußert<br />
hatte. 24<br />
Aber auch die konsequente Ablehnung <strong>de</strong>r religiös-i<strong>de</strong>alistischen Konzeption <strong>de</strong>r angeborenen<br />
I<strong>de</strong>en und Bestimmung <strong>de</strong>r menschlichen Seele als eine Tabula rasa implizierte<br />
zwangsläufig <strong>de</strong>ren entwicklungsgeschichtliche Fassung und Erklärung, in diesem<br />
Falle <strong>de</strong>r Ableitung aller Verstan<strong>de</strong>skräfte aus <strong>de</strong>r sinnlich-konkreten Aneignung<br />
<strong>de</strong>r Wirklichkeit. Daß dies wesentlich noch auf eine naturhistorische und keineswegs<br />
schon sozialhistorische Erklärungsweise hinauslief, darauf wur<strong>de</strong> schon verwiesen.<br />
Deshalb ist eine wirklich dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie ja bis heute ohne<br />
die Marxsche materialistische Geschichts- und Gesellschaftsauffassung un<strong>de</strong>nkbar.<br />
Ähnlich wie auch verschie<strong>de</strong>ne an<strong>de</strong>re Aufklärungs<strong>de</strong>nker enthält <strong>Condillac</strong>s Beschreibung<br />
<strong>de</strong>r sich über die verschie<strong>de</strong>nen Sinne, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>n Tastsinn (er allein<br />
gewährleistet für ihn die unmittelbare und direkte Verbindung zu <strong>de</strong>n Außendingen),<br />
anreichern<strong>de</strong>n Erkenntnis-Statue“ 25 auch vereinzelte, aber be<strong>de</strong>utsame Hinweise nicht<br />
nur auf die so genannten menschlichen Lei<strong>de</strong>nschaften, son<strong>de</strong>rn ebenso sehr auf die<br />
Rolle von Bedürfnissen <strong>de</strong>r menschlichen Gattung. 26 So, wenn in <strong>de</strong>r „Logik“ die These<br />
(bzw. Überschrift) formuliert wird: „Unsere I<strong>de</strong>en bil<strong>de</strong>n ein System, das <strong>de</strong>m System<br />
unserer Bedürfnisse entspricht.“ 27 Bereits in <strong>de</strong>m „Essai“ hatte <strong>Condillac</strong> diesen Zusammenhang<br />
von Aufmerksamkeit, Bedürfnis und Wirklichkeit wie folgt bestimmt:<br />
„Da die Dinge unsere Aufmerksamkeit nur durch die Beziehung auf sich lenken, die sie<br />
zu unserem Temperament, unseren Lei<strong>de</strong>nschaften, unserem Zustand haben o<strong>de</strong>r – um<br />
es in einem Wort zu sagen – zu unseren Bedürfnissen, so folgt daraus, daß die Aufmerk-<br />
23 Während sich jedoch <strong>de</strong>r tatsächlich vielfältige entwicklungsgeschichtliche und dialektische Gesichtspunkte enthaltene<br />
französische Materialismus in Holbachs „System <strong>de</strong>r Natur“ (1770) gewissermaßen wie<strong>de</strong>r metaphysisch<br />
verfestigte, folgte Linnés „Systema naturae“ (1735) Buffons „Histoire naturelle“ (1749). H. Hettner vermerkt in<br />
diesem Zusammenhang sehr richtig, daß <strong>Condillac</strong>s Erkenntnislehre „zu <strong>de</strong>r Naturbetrachtung <strong>de</strong>r französischen<br />
Materialisten in <strong>de</strong>mselben Verhältnis (steht), wie die Erkenntnislehre Lockes zu <strong>de</strong>r Naturbetrachtung Newtons“.<br />
(H. Hettner: Geschichte <strong>de</strong>r französischen Literatur im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt. S. 374) Hinsichtlich <strong>de</strong>r „Abhandlung<br />
über die Empfindungen“ von 1754 geht Hettner sogar so weit, diese „innere Entwicklungsgeschichte“ direkt (was<br />
sicher übertrieben ist) mit Hegels „Phänomenologie <strong>de</strong>s Geistes“ zu vergleichen! (Ebd. S. 375)<br />
24 So schreibt Lenin, daß angenommen wer<strong>de</strong>n könnte, „daß die ganze Materie eine Eigenschaft besitzt,<br />
die <strong>de</strong>m Wesen nach <strong>de</strong>r Empfindung verwandt ist, die Eigenschaft <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspiegelung“. (W. I.<br />
Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. A. a. O., S. 85)<br />
25 Vgl. hierzu: <strong>Condillac</strong>'s Abhandlung über die Empfindungen. Hrsg. im Rahmen <strong>de</strong>r „Philosophischen<br />
Bibliothek“. Berlin 1870. S. 19 ff. <strong>Condillac</strong> bemühte hier ein für die damalige erkenntnistheoretische<br />
Diskussion übliches Gedankenmo<strong>de</strong>ll.<br />
26 Vgl. Ebd., 4. Teil: Von <strong>de</strong>n Bedürfnissen, Fertigkeiten und Vorstellungen. S. 184 ff.. In <strong>de</strong>n „Essais“<br />
zitiert <strong>Condillac</strong> außer<strong>de</strong>m zustimmend die gewichtige Feststellung eines wissenschaftlichen Sekretärs<br />
<strong>de</strong>r Französischen Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Wissenschaften, „daß <strong>de</strong>r gegenseitige Verkehr <strong>de</strong>r Menschen die<br />
größte Quelle ihrer I<strong>de</strong>en“ sei. (É. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse.<br />
S. 157, 151)<br />
27 É. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Die Logik o<strong>de</strong>r die Anfänge <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Denkens. S. 26, 7, 43<br />
9
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
samkeit gleichzeitig die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Bedürfnisse und diejenigen <strong>de</strong>r Dinge, die sich darauf<br />
beziehen, umfaßt und sie miteinan<strong>de</strong>r verknüpft.“ 28<br />
Natürlich erfahren alle diese Gesichtspunkte keine weitere systematische Ausführung,<br />
und oftmals erscheinen, wie schon in Bacons Idolenlehre, <strong>de</strong>rartig „genial erahnte“<br />
unmittelbar gesellschaftliche Bezüge – angesichts <strong>de</strong>r eigenen damaligen sozialpolitischen<br />
Erfahrung <strong>de</strong>s immer reaktionärer und <strong>de</strong>moralisieren<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n feudalabsolutistischen<br />
Systems – zumeist nur in ihrer Negativität, d. h. die menschliche Erkenntnis<br />
und Wahrheitsfindung eigentlich behin<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>formieren<strong>de</strong>n Funktion. Daher<br />
<strong>de</strong>r schon betonte Bezug auf die „menschliche Natur“ bzw. die ganz naturgemäße Erklärung<br />
wie Leitung <strong>de</strong>s menschlichen Erkennens, wodurch letztlich auch <strong>Condillac</strong>s<br />
Erkenntnisauffassung charakterisiert ist.<br />
In allen bereits angeführten drei philosophisch-erkenntnistheoretischen Hauptschriften<br />
wer<strong>de</strong>n daher nacheinan<strong>de</strong>r Erkenntnisfähigkeiten bzw. -aktivitäten <strong>de</strong>r Seele wie<br />
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Einbildungskraft, Vergleichen, Urteilen, Reflexion,<br />
Schließen, Verstan<strong>de</strong>stätigkeit usw. auseinan<strong>de</strong>r abgeleitet und entwickelt. 29 Innerhalb<br />
dieser doch noch recht abstrakten entwicklungsgeschichtlichen Verkettung erscheinen<br />
jedoch letztlich we<strong>de</strong>r die menschliche Erkenntnisfähigkeit noch die Erkenntnistätigkeit<br />
und die Erkenntnisresultate in ihrer tatsächlichen historisch-sozialen Determination und<br />
Vermittlung erklärt und dargestellt. Dies gilt eigentlich auch für <strong>Condillac</strong>s ansonsten<br />
ebenso be<strong>de</strong>utsame Hinweise zur dialektischen Einheit von Sprache und Denken, worauf<br />
hier aber nicht weiter eingegangen zu wer<strong>de</strong>n braucht. 30<br />
In <strong>de</strong>r neukantianischen (später auch neopositivistischen) philosophiegeschichtlichen<br />
Tradition ist es üblich, gera<strong>de</strong> Locke und <strong>Condillac</strong> in Abstraktion von ihrer Sozialphilosophie<br />
gewissermaßen als „reine Erkenntnistheoretiker“ erscheinen zu lassen, was<br />
aber nicht nur dazu führt, diese Denker aus ihren eigentlichen sozialen und politischen<br />
Bezügen und Positionen herauszulösen, son<strong>de</strong>rn auch ein entsprechend enthistorisiertes<br />
(i<strong>de</strong>ologiefreies) Konzept von Erkenntnis etablieren soll.<br />
Die For<strong>de</strong>rung von Marx und Engels, die materialistische Theorie <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
aus <strong>de</strong>r praktischen Gestaltung <strong>de</strong>s damaligen französischen Lebens zu erklären,<br />
kann erfüllt wer<strong>de</strong>n, wenn man auf <strong>de</strong>n sozialökonomischen Grund <strong>de</strong>r Aufklärung zu<br />
sprechen kommt. Dieser Grund wird durch <strong>Condillac</strong> (und keineswegs nur durch ihn)<br />
angezeigt, in<strong>de</strong>m wir ihn als häufigen Gast von F. Quesnay in <strong>de</strong>ssen Versailler Quartier<br />
– Quesnay „logierte“ hier als Leibarzt <strong>de</strong>r Königin – sehen, d. h. als Teilnehmer und<br />
späteren theoretischen Wi<strong>de</strong>rsacher <strong>de</strong>r physiokratischen Schule <strong>de</strong>r bürgerlichen Nati-<br />
28<br />
É. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse. S. 91<br />
29<br />
VgL: É. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Die Logik o<strong>de</strong>r die Anfänge <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Denkens. S. 38 ff.; <strong>Condillac</strong>s Abhandlung<br />
über die Empfindungen. S. 39<br />
30<br />
Vgl. hierzu: U. Ricken: <strong>Condillac</strong>s „Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse“ im Rahmen <strong>de</strong>r<br />
philosophischen und sprachtheoretischen Diskussion <strong>de</strong>r Aufklärung. In: É. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung<br />
<strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse. S. 41 ff.<br />
10
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
onalökonomie. Die Physiokratie liquidiert <strong>de</strong>n Merkantilismus theoretisch, nach<strong>de</strong>m ihn<br />
J. Laws Finanzspekulation 1728 bereits praktisch blamiert hat. Und sie liquidiert ihn –<br />
das ist für <strong>de</strong>n philosophischen Gesichtspunkt entschei<strong>de</strong>nd – dadurch, daß sie das ökonomische<br />
Denken von <strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>r Zirkulation für sich zur Betrachtung <strong>de</strong>r<br />
Produktion als einer genetischen Folge von Reproduktionszyklen einer nationalen<br />
Volkswirtschaft führt. Wird Reichtum durch eine Geldmenge, die <strong>de</strong>m französischen<br />
Staatshaushalt ohnehin konstant fehlt, dargestellt, o<strong>de</strong>r ist es nicht vielmehr so, daß das<br />
Mehrprodukt, eine Gebrauchsmenge, für die die Physiokratie <strong>de</strong>n Namen „Nettoprodukt“<br />
(produit net) einführt, <strong>de</strong>n wirklichen Reichtum darstellt? Das ist die ökonomische<br />
Gretchenfrage <strong>de</strong>r Epoche.<br />
Und die klassische Aufklärung ist sich in allen ihren Repräsentanten darin einig, daß<br />
<strong>de</strong>r Mensch nicht vom Gel<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn von Gebrauchswerten, von Gütern lebt, die natürlich<br />
durch Arbeit – für die Physiokratie: durch landwirtschaftliche Arbeit – hergestellt<br />
wer<strong>de</strong>n. Für diesen grundsätzlich neuen Gesichtspunkt (nie zuvor hatte das bürgerliche<br />
Denken die Produktion als theoretischen Gegenstand fixiert!) liefert ebenfalls Locke<br />
<strong>de</strong>n Ansatz, und zwar durch seine Theorie, daß das Eigentum, d. h. das Privateigentum,<br />
durch Arbeit begrün<strong>de</strong>t wird. 31 Darin wird das originäre Gemeineigentum an Grund und<br />
Bo<strong>de</strong>n sehr wohl als historische Voraussetzung gesehen – und als Gegenstand <strong>de</strong>r Kritik:<br />
Es ist eben dieses Gemeineigentum mit seiner korporativen Verfassung, das die<br />
Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität durch Anwendung von Wissenschaft und Technik<br />
ausschließt, das – über allerlei Privilegien vermittelt – die reale Existenz <strong>de</strong>s „natürlichen“<br />
o<strong>de</strong>r „notwendigen. Preises“ nicht zuläßt, das also <strong>de</strong>n eigentlichen Grund für die<br />
ständig leeren Kassen <strong>de</strong>s Staatshaushalts darstellt. So wen<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>nn die Aufklärung<br />
mit Vehemenz gegen die Existenz <strong>de</strong>r adligen Müßiggänger am königlichen Hof, <strong>de</strong>r<br />
Hun<strong>de</strong>rte von Zünften, <strong>de</strong>r monopolistischen Han<strong>de</strong>lskompanien, die ihr alle samt und<br />
son<strong>de</strong>rs als unproduktiv gelten, als Einrichtungen, die keinen wirklichen Reichtum hervorbringen.<br />
So tritt sie für die Dominanz <strong>de</strong>r Privatproduzenten ein, <strong>de</strong>nn nur sie können<br />
unter <strong>de</strong>n gegebenen geschichtlichen Umstän<strong>de</strong>n vermittels <strong>de</strong>r Wissenschaft effektiv<br />
das produit net steigern; und so tritt sie für <strong>de</strong>n Freihan<strong>de</strong>l ein, d. h. für die Realisierung<br />
<strong>de</strong>r freien Konkurrenz, welche ihr theoretisch die Garantie zu bieten scheint, daß<br />
an <strong>de</strong>r Stelle <strong>de</strong>r Monopolpreise die „natürlichen Preise“ <strong>de</strong>n Warenaustausch vermitteln.<br />
„Laissez faire, laissez passer“ ist die Maxime <strong>de</strong>r Physiokratie – und zwar nicht<br />
etwa nur bezogen auf die französischen Privatproduzenten, son<strong>de</strong>rn als für alle geltend<br />
gesetzt.<br />
31 Vgl.: J. Locke: Bürgerliche Gesellschaft und Staatsgewalt. Hrsg. von H. Klenner. Leipzig 1980. Hier heißt es auf<br />
S. 116: „Obgleich die Er<strong>de</strong> und alle nie<strong>de</strong>ren Geschöpfe <strong>de</strong>r Menschheit insgesamt gehören, hat doch je<strong>de</strong>r<br />
Mensch ein Eigentum an seiner Person ... Die Arbeit seines Leibes und das Werk seiner Hän<strong>de</strong> sind ... im eigentlichen<br />
Sinne sein eigen. Was immer er also aus <strong>de</strong>m Zustand entfernt, in <strong>de</strong>m die Natur es geschaffen und belassen<br />
hat wird dadurch, daß er es mit seiner Arbeit vermischt und ihm etwas ihm Eigenes zugesellt hat, zu seinem Eigentum.“<br />
Man sieht, daß Locke die Fiktion <strong>de</strong>s Eigentums <strong>de</strong>r Person an sich selbst bemühen muß, um das Privateigentum<br />
an <strong>de</strong>n Produktionsmitteln zu begrün<strong>de</strong>n.<br />
11
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
Wir können an dieser Stelle die sozialökonomische Grundlage <strong>de</strong>r Aufklärung nur<br />
an<strong>de</strong>uten, um sichtbar zu machen, worauf die vielen Untersuchungen über <strong>de</strong>n mensch-<br />
lichen Verstand real bezogen sind. Wenn nämlich die wirkliche Frage <strong>de</strong>r Zeit im Problem<br />
<strong>de</strong>r Sanierung <strong>de</strong>s französischen Staatshaushalts besteht und solche Sanierung nur<br />
über die Steigerung <strong>de</strong>r Arbeitsproduktivität möglich ist, dann ist das Problem <strong>de</strong>r Bestimmung<br />
<strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s objektiv das Problem <strong>de</strong>r Verbindung <strong>de</strong>r Wissenschaft mit<br />
<strong>de</strong>r Produktion. Und in<strong>de</strong>m die Physiokratie die dominieren<strong>de</strong> Produktion in <strong>de</strong>r Agrikultur<br />
sieht, diese aber eben die wirkliche Einheit <strong>de</strong>r Menschen mit <strong>de</strong>r Natur ist, stellt<br />
sich für die Philosophie in <strong>de</strong>r theoretischen Reflexion die Frage: Wie hängt das Wissen,<br />
<strong>de</strong>r Verstand mit eben dieser Natur zusammen? Es versteht sich, daß diese Frage<br />
überhaupt nicht an<strong>de</strong>rs beantwortet wer<strong>de</strong>n kann als durch das Studium <strong>de</strong>r Sinnlichkeit.<br />
In <strong>de</strong>r Vergleichung von Geldmengen ist die Sensibilität tatsächlich auf ein Minimum<br />
reduziert: Ein Taler liefert dieselbe Vorstellung – Perzeption o<strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>e“, wie die<br />
Aufklärer sagen wür<strong>de</strong>n –, die auch alle an<strong>de</strong>ren Taler liefern. In <strong>de</strong>r Vergleichung von<br />
Gebrauchswerten (Gütern) allerdings sieht die Sache ganz an<strong>de</strong>rs aus: Die Sensibilität<br />
muß sich differenzieren, wird zur Quelle einer Mannigfaltigkeit, einer Totalität von<br />
Vorstellungen. Und da die Gebrauchswerte, ehe sie zirkulieren, zunächst produziert<br />
wer<strong>de</strong>n müssen, ist die entfaltete Sinnlichkeit da, ehe <strong>de</strong>r abstrakte Verstand für sich<br />
zum Zuge kommt. Wenn also die Aufklärung <strong>de</strong>n Sensualismus zum dominieren<strong>de</strong>n<br />
Moment <strong>de</strong>s Erkennens macht, so reflektiert sie damit <strong>de</strong>n bürgerlichen Grundstandpunkt<br />
<strong>de</strong>r Epoche, die Dominanz <strong>de</strong>s Industriekapitals über das Han<strong>de</strong>lskapital wirklich<br />
durchzusetzen. Der erkenntnistheoretische Sensualismus ist – so verstan<strong>de</strong>n – die i<strong>de</strong>ologische<br />
Wi<strong>de</strong>rspiegelung <strong>de</strong>s geschichtlichen Übergangs <strong>de</strong>s Kapitalverhältnisses in<br />
<strong>de</strong>n Zustand, das industrielle Kapital als wesentliche Erscheinungsform <strong>de</strong>s Kapitals<br />
überhaupt zu haben. Daß die Physiokratie dieses Kapital noch in agrikultureller Hülle<br />
<strong>de</strong>nkt, sich darin auf die wirklichen französischen Voraussetzungen beziehend, ist nichts<br />
als ein objektiv unvermeidlicher Schein, <strong>de</strong>ssen Wesen zur selben Zeit in <strong>de</strong>r industriellen<br />
Revolution in England erkennbar ist.<br />
<strong>Condillac</strong> steht wie alle an<strong>de</strong>ren Aufklärer in <strong>de</strong>m genannten Zusammenhang. 1776<br />
publiziert er seine Darstellung „Le commerce et le gouvernement consi<strong>de</strong>res relativement<br />
l’un à l’autre“ (von <strong>de</strong>r keine <strong>de</strong>utsche Übersetzung vorliegt), womit er sogar theoretisch<br />
eigenständig in <strong>de</strong>n Gang <strong>de</strong>r Physiokratie eingreift. In dieser Betrachtung <strong>de</strong>s<br />
wechselseitigen Zusammenhangs <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls und <strong>de</strong>s Staates wen<strong>de</strong>t sich <strong>Condillac</strong><br />
unmißverständlich gegen die Innungen und Gil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Handwerker und Kaufleute, weil<br />
diese Korporationen im Interesse <strong>de</strong>r Erneuerung ihrer Gemeinschaftsfonds unweigerlich<br />
alle Waren verteuern müßten. Verschwän<strong>de</strong>n also mit <strong>de</strong>n Zünften und Han<strong>de</strong>lskompanien<br />
auch <strong>de</strong>ren Gemeinschaftsfonds, so müßte sich mit <strong>de</strong>r Konkurrenz, <strong>de</strong>m<br />
„freien Wettbewerb“ <strong>de</strong>r privatisierten Produzenten, auch <strong>de</strong>r natürliche Preis einstellen,<br />
12
Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
<strong>de</strong>r niedriger ist als <strong>de</strong>r Monopolpreis. So wür<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nn alle ein größeres Einkommen<br />
realisieren.<br />
In diesem Zusammenhang hat <strong>de</strong>r erkenntnistheoretische Sensualismus <strong>Condillac</strong>s<br />
eine höchst bemerkenswerte Auswirkung, <strong>de</strong>ren theoretische Be<strong>de</strong>utung auch in <strong>de</strong>r<br />
Gegenwart durchaus ungeklärt ist. Bekanntlich hat ja die Radikalisierung <strong>de</strong>s Lockeschen<br />
Ansatzes durch <strong>Condillac</strong> die theoretische Folge, das Urteilen genetisch aus <strong>de</strong>r<br />
sinnlichen Empfindung zu erklären: „Es ist ganz eigentlich die Rolle <strong>de</strong>r Reflexion zu<br />
unterschei<strong>de</strong>n, zu vergleichen, zusammenzusetzen, zu zerlegen und zu analysieren; dies<br />
sind nämlich nur verschie<strong>de</strong>ne Formen, die Aufmerksamkeit auszuüben. Daraus bil<strong>de</strong>n<br />
sich in natürlicher Folgerichtigkeit das Urteil, die Schlußfolgerung, das Begreifen und<br />
schließlich <strong>de</strong>r Verstand.“ 32 Dieser Übergang von <strong>de</strong>r Sinnlichkeit zum Verstand hat<br />
nach <strong>Condillac</strong> <strong>de</strong>n Grund, daß die Aufmerksamkeit – wie bereits gezeigt – durch das<br />
Bedürfnis und seine Befriedigung gelenkt bzw. geregelt wird. Auf diese Weise kommen<br />
wir zu guten und schlechten, zu schönen und häßlichen Vorstellungen – mit einem<br />
Wort: zu bewerteten Abbil<strong>de</strong>rn. Diese Bewertungslehre tritt nun in <strong>de</strong>r Ökonomie für<br />
<strong>Condillac</strong> als Grund seiner Preistheorie auf, und zwar so, daß das Bedürfnis (und damit<br />
<strong>de</strong>r es gegenständlich repräsentieren<strong>de</strong> Gebrauchswert) die unabhängige Größe ist, <strong>de</strong>ren<br />
Determination <strong>de</strong>n Preis als abhängige Größe festlegt. Der Preis als Funktion <strong>de</strong>s<br />
Gebrauchswertes – das ist <strong>Condillac</strong>s ökonomische Entgegensetzung zu Quesnays<br />
Standpunkt <strong>de</strong>s äquivalenten Austausches.<br />
Wenn wir richtig sehen, so ist Quesnays Feststellung, „daß <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>l weiter nichts<br />
ist als Austausch von Wert für gleichen Wert“ 33 , die Determination <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls für sich,<br />
die Bestimmung also <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls auf <strong>de</strong>m Standpunkt <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls, gegen die <strong>Condillac</strong><br />
die Bestimmung <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ls auf <strong>de</strong>m Standpunkt <strong>de</strong>r Privatproduktion setzt. Und eben<br />
<strong>de</strong>m Privatproduzenten als solchem muß die Preisentscheidung als Konsequenz <strong>de</strong>r subjektiven<br />
Bewertung seines Bedürfnisses nach <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Gut erscheinen. Es ist diese<br />
Erscheinungsform, die <strong>Condillac</strong> festhält und die <strong>de</strong>mgemäß auch als Ausdruck <strong>de</strong>r inneren<br />
Konsistenz seiner theoretischen Position verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n muß. 34 33 Weit entfernt,<br />
eine positivistische Erstform <strong>de</strong>r subjektiven Wertlehre zu sein, ist dies Auffassung<br />
<strong>Condillac</strong>s vielmehr <strong>de</strong>r historisch erste Versach, die Preisbildung aus <strong>de</strong>r Voraussetzung<br />
<strong>de</strong>r Produktion zu verstehen. Daß dieser Versuch fehlschlägt, ist <strong>de</strong>m Wesen<br />
<strong>de</strong>r kapitalistischen Produktionsverhältnisse geschul<strong>de</strong>t, nicht <strong>de</strong>r subjektiven Unfähig-<br />
32<br />
E. B. <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong>: Essai über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnisse. S. 115<br />
33<br />
F. Quesnay: ökonomische Schriften. Bd. II. Hrsg. von M. Kuczynski. Berlin 1976. S. 250<br />
34<br />
In diesem Sinne kritisiert Marx, <strong>de</strong>r <strong>Condillac</strong>s Schrift „Han<strong>de</strong>l und Regierung“ im „Kapital“ anführt,<br />
daß dieser „nicht nur Gebrauchswert und Tauschwert durcheinan<strong>de</strong>rwirft, son<strong>de</strong>rn wahrhaft kindlich<br />
einer Gesellschaft mit entwickelter Warenproduktion einen Zustand unterschiebt, worin <strong>de</strong>r Produzent<br />
seine Subsistenzmittel selbst produziert und nur <strong>de</strong>n Überschuß über <strong>de</strong>n eignen Bedarf, <strong>de</strong>n Überfluß,<br />
in die Zirkulation wirft.“ (K. Marx: Das Kapital. 1. Bd. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 23. Berlin<br />
1962. S. 174) Es ist aber an<strong>de</strong>rerseits tatsächlich nicht verwun<strong>de</strong>rlich, daß <strong>Condillac</strong> »nicht die geringste<br />
Ahnung von <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Tauschwerts besitzt' (ebd. Anmerkg.) – ebenso wie alle an<strong>de</strong>ren<br />
Aufklärer im dominant landwirtschaftlich produzieren<strong>de</strong>n Frankreich.<br />
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Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
keit <strong>Condillac</strong>s. Erst im Sozialismus, im mo<strong>de</strong>rnen industriellen Gemeineigentum, kann<br />
die Frage nach <strong>de</strong>r Erklärung <strong>de</strong>s Wertes aus <strong>de</strong>r Produktion überhaupt sinnvoll gestellt<br />
wer<strong>de</strong>n, weil erst hier empirisch wahrnehmbar ist, daß <strong>de</strong>r Wert gesellschaftlichen Charakter<br />
hat, daß mithin die Einzel-produkte eigentlich nicht Werte, son<strong>de</strong>rn Wertanteile<br />
haben, <strong>de</strong>ren Reproduktion durch die Preise gesteuert wird. <strong>Condillac</strong>, <strong>de</strong>r nicht das<br />
Gemeineigentum, son<strong>de</strong>rn das durch Arbeit begrün<strong>de</strong>te Privateigentum <strong>de</strong>nkt, kann<br />
daher <strong>de</strong>n Wert gar nicht <strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>m Worte „Wert“ immer nur <strong>de</strong>n Preis<br />
meinen und gegen <strong>de</strong>n Monopolpreis <strong>de</strong>n Konkurrenzpreis (Industriepreis) wollen.<br />
Akzeptiert man, daß <strong>de</strong>r aufklärerische Sensualismus die erkenntnistheoretische Reflexion<br />
<strong>de</strong>r theoretischen Setzung <strong>de</strong>r Menschen als Privatproduzenten ist, und be<strong>de</strong>nkt<br />
man weiter, daß diese Setzung an sich erst dadurch wirkliche Setzung, Setzung für sich<br />
ist, daß sie <strong>de</strong>m überkommenen Zunft- und Gil<strong>de</strong>nwesen entgegengestellt wird, so ist<br />
einsichtig, daß dieser Sensualismus <strong>de</strong>n Rationalismus <strong>de</strong>r Metaphysik <strong>de</strong>s 17. Jahrhun<strong>de</strong>rts<br />
selbst enthalten muß. Das be<strong>de</strong>utet, daß die genetische Erklärung <strong>de</strong>s Sensualismus<br />
in <strong>de</strong>m Fall <strong>de</strong>r Begründung <strong>de</strong>r philosophischen Kategorien (nicht im Fall empirischer<br />
Begriffe!) wegen ihrer Natur, nichts weiter als die Abstraktion zu sein, eben die<br />
Kategorien, die sie zu „erklären“ meint, schon immer voraussetzt. Sie faßt diese nur –<br />
im Unterschied zum Rationalismus, <strong>de</strong>r sie per <strong>de</strong>finitionem, also in <strong>de</strong>r reinen Allgemeinheit<br />
fixiert – in <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>r Beson<strong>de</strong>rheit. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: In<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
aufklärerische Sensualismus Abstrakta für Be<strong>de</strong>utungen von Konventionen, nicht etwa<br />
realer Bestimmtheiten, hält er nun die Inhalte dieser Abstrakta in <strong>de</strong>n Äquivalenzen, in<br />
<strong>de</strong>n Gleichheitsbeziehungen <strong>de</strong>r sinnlich gegenständlichen Objekte, wo sie wie<strong>de</strong>r die<br />
Rolle von Voraussetzungen spielen.<br />
Der gesun<strong>de</strong> Menschenverstand, <strong>de</strong>r etwa mit <strong>de</strong>m Satz »Die Richtung ist das I<strong>de</strong>ntische<br />
gleichgerichteter Gera<strong>de</strong>n“ konfrontiert wird, kann gut nachempfin<strong>de</strong>n, wieso Hegel<br />
die genetische Erklärung <strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>ologie“ <strong>de</strong>r Franzosen für eine Oberflächlichkeit<br />
gehalten hat. 35 In <strong>de</strong>r Tat, wenn die Erklärung <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung eines Substantivs dadurch<br />
erfolgt, daß auf die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s entsprechen<strong>de</strong>n Adjektivs zurückgegangen wird, also<br />
die Länge aus <strong>de</strong>r Längengleichheit, die Zeit aus <strong>de</strong>r Zeitgleichheit, <strong>de</strong>r Wert aus <strong>de</strong>r<br />
Wertgleichheit etc. gefolgert wird, so wird <strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong> Menschenverstand sagen: Nun<br />
weiß ich genau was Länge, Zeit, Wert etc. sind! Und eben in dieser Lage muß sich Hegel<br />
befun<strong>de</strong>n haben, als er die I<strong>de</strong>e konzipierte, daß die wahre genetische Erklärung<br />
nicht die sensualistisch angelegten „Elemente <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ologie“, son<strong>de</strong>rn seine dialektisch<br />
vorgehen<strong>de</strong> „Phänomenologie <strong>de</strong>s Geistes“ liefert.<br />
Wir kommen damit zu <strong>de</strong>m Ergebnis: <strong>Condillac</strong>s französische Übersetzung Lockes<br />
ist keine analytische Transformation, so daß Locke und <strong>Condillac</strong> Repräsentanten <strong>de</strong>rselben<br />
erkenntnistheoretischen Invariante wären; sie ist vielmehr die Negation <strong>de</strong>s von<br />
35 Vgl.: G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte <strong>de</strong>r Philosophie. 3. Bd. S. 357 ff.<br />
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Rauh /<strong>Ruben</strong>: <strong>Étienne</strong> <strong>Bonnot</strong> <strong>de</strong> <strong>Condillac</strong><br />
Locke noch dualistisch gefaßten Erkenntnisvermögens auf <strong>de</strong>m Standpunkt <strong>de</strong>r Univer-<br />
salität <strong>de</strong>s Daseins <strong>de</strong>r Menschen als Privatproduzenten mit <strong>de</strong>r Antizipation einer (bür-<br />
gerlich) verständigen Organisation <strong>de</strong>r Totalität <strong>de</strong>r Privaterzeuger. Sie ist damit die<br />
gesetzte Aufhebung <strong>de</strong>r Aufklärung. Und dies wird empirisch erkennbar, sobald die<br />
politische Gewalt <strong>de</strong>r siegreichen Revolution nach außen als Mittel <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rhaltung<br />
<strong>de</strong>r Konkurrenten aus an<strong>de</strong>ren Nationen o<strong>de</strong>r Völkern effektiv gebraucht wird. Darin<br />
zeigt sich, daß <strong>de</strong>r Standpunkt <strong>de</strong>r Menschheit eine pure Illusion ist und die lokale Ver-<br />
fassung einer Klasse von Bourgeoisie als „große Nation“ auf <strong>de</strong>r Ausbeutung <strong>de</strong>r Eigen-<br />
tumslosen basiert. So muß die Aufklärung als Apologet <strong>de</strong>s liberalen Industriesystems<br />
erscheinen, <strong>de</strong>ssen wirkliche Apologeten unverdrossen „Aufklärung“ sagen, ohne die<br />
Dialektik <strong>de</strong>r wirklichen Aufklärung zu erfassen. In diesem Sinne ist es, wenn wir Con-<br />
dillac gegen seine positivistischen Interpreten verteidigen und <strong>de</strong>n dialektischen Gehalt<br />
seines Denkens herausstellen.<br />
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