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DER BAU - LAG-TheaterPädagogik

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<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong><br />

Heiner Müller<br />

Hintergrundmaterial für den Unterricht<br />

Premiere > 25. September 2010<br />

Spielzeit 2010/2011


Liebe Lehrerinnen und Lehrer,<br />

am 3. Oktober 2010 jährt sich der Jahrestag der deutsch-deutschen Wiedervereinigung<br />

bereits zum 20. Mal. Angestoßen wurde dieser Prozess bereits 1989 durch den friedlichen<br />

Protest der DDR-Bürger, der seinen Höhepunkt in der Öffnung der Berliner Mauer am<br />

9. November 1989 fand. Sie beendete den als Folge des Zweiten Weltkrieges in der Ära des<br />

Kalten Krieges vier Jahrzehnte währenden Zustand der Deutschen Teilung.<br />

Der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am<br />

3. Oktober 1990 und die damit vollzogene Deutsche Einheit, wird seither an jedem<br />

3. Oktober als Nationalfeiertag zelebriert. Notwendige äußere Voraussetzung der deutschen<br />

Wiedervereinigung war das Einverständnis der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges,<br />

die bis dahin völkerrechtlich noch immer die Verantwortung für Deutschland als Ganzes<br />

innehatten beziehungsweise beanspruchten. Durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag wurde der<br />

Einheit der beiden deutschen Staaten zugestimmt und dem vereinten Deutschland die volle<br />

Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten zuerkannt.<br />

Für alle nach 1989 Geborenen sind diese historischen Momente mittlerweile Archivdokumente,<br />

aufbereitet in Geschichtsbüchern und manchmal mehr lästiger Lernstoff denn<br />

spannende eigene Geschichte. Es fehlen die sinnlichen Bezüge, die menschlichen<br />

Hintergründe zu den Entwicklungen, die einen so jungen Staat wie die DDR sukzessive in<br />

die Knie zwingen und schließlich zum Zusammenbruch eines ganzen Systems führen.<br />

Tatsächlich scheint die Entwicklung der DDR von ihrer Gründung an voller Kontroversen.<br />

Die Kluften zwischen effizienter Industriegesellschaft und sozialistischer Vorzeigegesellschaft,<br />

zwischen ehrgeizigen Aufbauplänen und versagender Planwirtschaft, zwischen<br />

dem proklamierten „Arbeiter- und Bauern-Staat“ und dem zentralorganisierten Alltag,<br />

zwischen Ideal und Wirklichkeit, werden im Laufe der Jahre unverkennbar.<br />

Heiner Müller ist einer der bekanntesten deutsch-deutschen Dramatiker und hat<br />

Gesellschaftskonflikte wie diese in seinen Werken immer wieder thematisiert. Grundlage für<br />

„<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong>“ war der Roman „Spur der Steine“ von Erik Neutsch und handelt äußerlich vom<br />

industriellen Aufbau in der DDR. Jedoch weicht er in seiner Bearbeitung irgendwann von<br />

der realistischen Darstellung der Figuren ab und verdichtet das Geschehen in poetischen<br />

Selbstaussagen, die aus den unmittelbaren Situationen Fragen und Zweifel aufwerfen.<br />

Aus der historischen Distanz entdeckt man in „<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong>“ aber auch Zusammenhänge, die<br />

über die DDR und die deutsche Geschichte hinausweisen. Der Fortschrittsglaube und die<br />

Machbarkeitsfantasien, die im Stück verhandelt werden, sind Teil des Gesamtprozesses der<br />

Moderne und längst nicht verschwunden. Genauso wenig ist es die Zerrissenheit der<br />

Handelnden, die sich aufreiben für die neue, effizientere Gesellschaft.<br />

Wir wünschen viel Spaß mit diesem Material und ein anregendes Theatererlebnis!<br />

Daniela Urban Silke Klose<br />

Theaterpädagogik Schul- und Gruppenreferat<br />

SCHAUSPIELSTUTTGART SCHAUSPIELSTUTTGART<br />

daniela.urban@staatstheater-stuttgart.de silke.klose@staatstheater-stuttgart.de<br />

FON > 0711.2032-234 FON > 0711.2032-526<br />

FAX > 0711.2032-595 FAX > 0711.2032-595<br />

2


INHALTSVERZEICHNIS<br />

<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > ZUR INSZENIERUNG 4<br />

HEINER MÜLLER > BIOGRAFIE 5<br />

DIE DDR > ALLGEMEINE INFORMATIONEN 8<br />

<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > UMSTÄNDE <strong>DER</strong> ENTSTEHUNG 9<br />

HEINER MÜLLER > REDE VOM 4. NOVEMBER 1989 11<br />

HEINER MÜLLER > ZYNISMUS 12<br />

DDR > SED UND SCHRIFTSTELLER 13<br />

DDR > UTOPIE UND UTOPIEVERLUST –<br />

DIE SCHRIFTSTELLER UND DAS VEREINIGTE DEUTSCHLAND 17<br />

<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > TEXTAUSZÜGE (Fassung Hasko Weber | Jörg Bochow) 20<br />

<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > GLOSSAR ZUM STÜCK 22<br />

3


<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > ZUR INSZENIERUNG<br />

Heiner Müllers <strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> spielt im Jahr 1961, die Tage des Mauerbaus markieren eine der<br />

Konfliktlinien, die Müller aus dem Roman von Erik Neutschs „Spur der Steine“<br />

herauskristallisiert.<br />

Helden des Stücks sind Barka, ein anarchistischer Zimmermann, der mit seiner Brigade die<br />

Baustelle aufmischt und sich Material notfalls mit Gewalt besorgt, wenn die Planwirtschaft<br />

versagt. Mit Donat, dem neuen Parteisekretär, tritt ihm ein Widersacher gegenüber. Donat<br />

will Ordnung schaffen auf der Baustelle, gleichzeitig aber auch Barka für das neue,<br />

industrielle Bauen gewinnen. Der Zweikampf zwischen den beiden dreht sich nicht zuletzt<br />

um eine Frau – die Ingenieurin Schlee. Geradewegs von der Universität gekommen, trifft<br />

sie auf eine ernüchternde Wirklichkeit, die ihr der Ingenieur Hasselbein, der sich selbst als<br />

„zweiten Clown im kommunistischen Frühling“ sieht, vor Augen führt. Schlee verliebt sich<br />

in den verheirateten Donat, die Liebesbeziehung der beiden muss verborgen bleiben,<br />

damit Donat seine Reformpläne auf dem Bau durchführen kann.<br />

Barka, Schlee und Donat stehen für alle jene, die sich, im Glauben, das Richtige zu tun,<br />

aufreiben bis zur Selbstauslöschung. Die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit ist für<br />

Müllers Helden am Ende unüberbrückbar.<br />

Besetzung:<br />

Barka Jonas Fürstenau<br />

Bastian Matthias Kelle<br />

Bolbig Anna Windmüller<br />

Klamann Bernhard Baier<br />

Dreier Jan Krauter<br />

Donat Markus Lerch<br />

Belfert Sebastian Kowski<br />

Schlee Minna Wündrich<br />

Hasselbein Christian Schmidt<br />

Kommunismus Anja Brünglinghaus<br />

Junger, musikalischer<br />

Genosse Murat Parlak<br />

Regie Hasko Weber<br />

Bühne Hannes Hartmann<br />

Kostüme Ute Noak<br />

Dramaturgie Jörg Bochow<br />

Premiere 25. September 2009 | Arena > Niederlassung Türlenstraße<br />

Regie > Hasko Weber<br />

Hasko Weber, 1963 in Dresden geboren, hat nach seinem Abitur eine Ausbildung zum Maschinen- und<br />

Anlagenmonteur gemacht und anschließend eine Schauspielausbildung an der Theaterhochschule Leipzig und<br />

am Studio der städtischen Bühnen in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Dort erhielt er auch sein erstes<br />

Engagement als Schauspieler und Regisseur und gründete die Theatergruppe „Dramatische Brigade“, die er<br />

nicht zuletzt auch als politische Gruppe sah. Nach seinem Studium ging er ans Staatsschauspiel Dresden, wo er<br />

ein Gastengagement hatte. Dort blieb er bis 2001 als Schauspieler und Regisseur und ab 1993 als<br />

Schauspieldirektor. Von 1998 bis 2002 war er an verschiedenen deutschen Theatern tätig. Ab 2002 war er<br />

Hausregisseur am Schauspiel Stuttgart, wo er seit 2005 Intendant ist.<br />

Weber, in der DDR aufgewachsen und durch seine öffentliche Kritik am herrschenden System mit der SED<br />

in Konflikt geraten, ist ein Zeitzeuge der Themen, die sich in „<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong>“ wiederfinden lassen. Durch<br />

Ankündigung einer Lesung mit oppositionellem Inhalt im Zuge der allgemeinen Proteste 1989 wurde er von der<br />

SED vorgeladen. Die Stasi, wie später herauskam, hatte bereits einen Haftbefehl gegen ihn vorliegen, dessen<br />

in Kraft treten glücklicherweise vom Fall der Mauer verhindert wurde.<br />

4


HEINER MÜLLER > BIOGRAFIE<br />

Heiner Müller wird am 9. Januar 1929 als Sohn des Verwaltungsangestellten Kurt Müller<br />

und seiner Frau Ella, geb. Ruhland, in Eppendorf/Sachsen geboren. Sein Vater ist<br />

Sozialdemokrat aus Überzeugung und wird deshalb im Januar 1933 verhaftet und in einem<br />

Konzentrationslager interniert. Nach seiner Entlassung ist er lange Zeit arbeitslos, findet<br />

aber schließlich eine Stelle als Angestellter in Mecklenburg. Auch die Mutter verdient nun<br />

als Textilarbeiterin dazu »Die Armut war Gast im Hause der Eltern.« Müller fühlt sich als<br />

Sachse und Sohn eines »Kommunisten« fremd in Mecklenburg: »Man war Ausländer.«<br />

Müller besucht die Grundschule und geht danach aufs Gymnasium. Schon als Kind kommt<br />

Heiner Müller durch seinen Vater in Kontakt mit Literatur. »Ich habe den ganzen Schiller<br />

gelesen [...]. Und von da an wollte ich schreiben.«<br />

Heiner Müller<br />

Ende 1944 wird Heiner Müller im<br />

»Volkssturm« zum Reichsarbeitsdienst<br />

eingezogen. Nach Kriegsende entkommt<br />

er der amerikanischen Gefangenschaft.<br />

Er kehrt in das von russischen Soldaten<br />

besetzte Mecklenburg zurück. Nach<br />

Kriegsende, zunächst mit der Entnazifizierung<br />

von Bibliotheken beschäftigt, wird er Beamter<br />

im Landratsamt in Waren: er berät Landwirte,<br />

die von der Bodenreform durch die Sowjets<br />

betroffen sind. Seine Erfahrungen liefern<br />

Material für seine späteren Stücke. Müller<br />

recherchiert immer wieder im Milieu der<br />

Arbeiter und Bauern für seine Arbeiten.<br />

1947 kehrt er mit seiner Familie nach Sachsen zurück, wo er die Oberschule beendet und<br />

Abitur macht. Er besucht einen Schriftstellerlehrgang und wird Mitglied des<br />

"Kulturbundes". Müller arbeitet in der Stadtbücherei in Frankenberg und wird in der SED<br />

Literaturobmann.<br />

Seine Eltern fliehen 1951 in den Westen, er hingegen geht nach Ostberlin. Dort schreibt er<br />

als Redakteur beim »Sonntag« Rezensionen. Müller lernt Brecht kennen, wird aber nicht<br />

am Berliner Ensemble aufgenommen.<br />

Seit 1950 entstehen erste literarische Texte. Müller arbeitet beim Literaturverband, später<br />

als Redakteur der Monatszeitschrift »Junge Kunst« und kommt in Kontakt mit jungen<br />

DDR-Autoren. Sein erstes Drama, »Die Schlacht«, beginnt er 1951.<br />

»Der Lohndrücker« wird kurz nach seiner Entstehung veröffentlicht und führt zu<br />

Diskussionen, da das Stück den Anforderungen des sozialistischen Realismus der SED-<br />

Kulturabteilung nicht genügt. »Die Korrektur« wird zunächst verboten. Doch 1959 verleiht<br />

die Akademie der Künste ihm und seiner Frau, die für ihn recherchiert und selber<br />

Kinderbuchautorin ist, den Heinrich-Mann-Preis für die beiden Stücke.<br />

Beide Werke begleiteten problem- und nicht lösungsorientiert, den Aufbau der<br />

sozialistischen Produktionsgesellschaft in den ersten Nachkriegsjahren. Arbeiter und Leiter,<br />

Brigadiere und Ingenieure, Klein- und Neubauern, Flüchtlinge und Überläufer macht<br />

Müller zu Trägern der Handlung. Er entwirft immer wieder Bilder einer Gesellschaft, in der<br />

die Revolution ausbleibt. Unterdrücker und Unterdrückte sind gleichermaßen ausgeliefert<br />

an ein Perpetuum mobile der Zerstörung, die Welt war Schlachthaus und Totentanz, ein Ort<br />

vergeblicher, sich ständig fortsetzender Gewalt. Müller zeigte Furcht und Schrecken, um zu<br />

schockieren, und wollte über diesen Schock zum Lernen anregen. Ein Prinzip, dass sich<br />

durch seine gesamte dramatische Arbeit hindurchzieht.<br />

5


Müller, der zunächst Auftragsarbeiten verfasst, wird Dramaturg am Berliner Maxim-Gorki-<br />

Theater. Er schreibt das Drama »Die Umsiedlerin«, das von Studenten als Auftakt zu einer<br />

internationalen Theaterwoche aufgeführt wird. Die Aufführung des kritischen Stücks wird<br />

als »konterrevolutionärer« Angriff auf den Staat verstanden. Müller wird gezwungen,<br />

eine erniedrigende Selbstkritik zu verfassen. Trotzdem folgt 1961 sein Ausschluß aus dem<br />

Schriftstellerverband. Im gleichen Jahr stellt er »Philoktet« fertig. Sein Stück »Der Bau«<br />

(1964) wird verboten. Unter dem Pseudonym »Max Messer« schreibt er Honorararbeiten.<br />

Seine Frau Inge wird in den folgenden Jahren zunehmend depressiv. Nach mehreren<br />

gescheiterten Suizidversuchen begeht sie 1966 Selbstmord. Im gleichen Jahr entsteht<br />

»Ödipus Tyrann«. Müller heiratet die Bulgarin Ginka Tscholakowa. Er reist mehrmals nach<br />

Bulgarien und verfaßt dort »Der Horatier«.<br />

1970 wird Müller von der neuen Intendantin des Berliner Ensembles, Ruth Berghaus, für<br />

sechs Jahre als dramaturgischer Mitarbeiter engagiert. Müller schreibt »Mauser« - das sich<br />

an Bertolt Brechts „Maßnahme“ anlehnt, und nach der Rechtfertigung der Grausamkeit der<br />

politischen Mittel für eine Revolution fragt, erhält ein Aufführungsverbot und bleibt bis zum<br />

Ende der DDR verboten. Es wird jedoch 1975 in den USA aufgeführt.<br />

1975 reist Müller für neun Monate in die USA: »Meine Grunderfahrung in den USA war die<br />

Landschaft, zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Gefühl für Landschaft, für den<br />

Raum.« Er lehrt an der Universität in Austin, Texas.<br />

1976 wechselt Müller zur Berliner Volksbühne.<br />

1976/77 entsteht in Bulgarien »Leben Gundlings<br />

Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum<br />

Schrei« sowie »Die Hamletmaschine«. Durch die<br />

Unterzeichnung der Petition gegen die<br />

Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR,<br />

macht er sich nicht beliebter, bleibt aber weiter<br />

unbehelligt. Er ist einer der wenigen DDR-Bürger<br />

die regelmäßig ins Ausland reisen dürfen und später<br />

fast ungehindert zwischen den beiden deutschen<br />

Staaten hin- und herreisen können, was auf seine<br />

Erfolge als Dramatiker und die internationale<br />

Aufmerksamkeit zurückzuführen ist.<br />

Heiner Müller mit Kollegen<br />

1978 ist Müller das zweite Mail in den USA. Das »Fatzer-Material« entsteht aus einer<br />

Brecht-Vorlage. Außerdem hat „Germania Tod in Berlin“ seine Uraufführung an den<br />

Münchner Kammerspielen. Er erhält dafür den Münchner Preis für Drama. Es folgen in den<br />

nächsten Jahren eine Reihe von Deutschen Erstaufführungen und Aufführungen im Westen.<br />

1984 wird Müller in der Akademie der Künste der DDR aufgenommen, erhält ein Jahr<br />

später den Georg-Büchner-Preis und 1986 auch die Mitgliedschaft in der Akademie der<br />

Künste in West-Berlin und den DDR-Nationalpreis 1. Klasse. 1988 schließlich kommt es zu<br />

seiner Wiederaufnahme in den DDR-Schriftstellerverband.<br />

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wendet sich Müller der Arbeit als Regisseur und<br />

Intendant zu. 1992 erscheint seine Autobiographie »Krieg ohne Schlacht«. In Interviewform<br />

diktiert, führt sie zu Kontroversen. Die poetische Dimension des Textes wird nur<br />

unzureichend reflektiert oder gänzlich missachtet. Daraus ergibt sich die Fehlrezeption des<br />

Textes als Protokoll eines Lebens. Einer solchen Sichtweise muss die grundsätzliche<br />

poetische wie poetologische (Müllers Texte sind immer beides zugleich) Neuausrichtung<br />

der Selbstreflexion, respektive Selbstästhetisierung im Spätwerk Heiner Müllers entgehen,<br />

zumal die Selbstanalyse bei Müller nie unabhängig von den historisch-gesellschaftlichen<br />

Prädispositionen des Individuums stattfindet.<br />

6


Die Schlagzeilen beherrschte Müller zu Beginn 1993, nachdem offiziell bestätigt feststand,<br />

dass die Stasi der DDR den Dramatiker unter dem Decknamen „Heiner“ als „inoffiziellen<br />

Mitarbeiter“ geführt hatte. Müller gab seine regelmäßigen Kontakte in einem TV-Interview<br />

mit dem Magazin „Spiegel-TV“ zu und begründetet sein Tun mit den Worten, er habe<br />

„versucht zu beraten und Einfluss zu nehmen“, da es ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht<br />

mehr möglich gewesen sei, „mit Parteifunktionären vernünftig zu reden“. Weitergehende<br />

Verdächtigungen einer tatsächlichen konspirativen Zusammenarbeit Müllers mit der Stasi<br />

zum Schaden Dritter bestätigten sich nicht.<br />

Heiner Müller erlag im Dezember 1995 einer schweren Krebserkrankung. Sein Tod wurde<br />

von Politikern und Künstlern als ein großer Verlust für die Theaterwelt bezeichnet. Auch die<br />

internationale Presse würdigte Heiner Müller, der wie kein anderer zeitgenössischer<br />

Künstler die Entwicklungen in beiden deutschen Staaten verkörperte, übereinstimmend als<br />

einen der größten Gegenwartsautoren.<br />

Quellen:<br />

BI Universal-Lexikon in 5 Bd. Leipzig: Bibliographisches Institut, 1990<br />

Online-Quellen:<br />

Reitter, David: Heiner Müller im Spiegel der Nachrufe. 2005, In: http://www.davids-welt.de/hm/ (17.09.2010)<br />

Suhrkamp, Autoren Biographien, Biographie Heiner Müller, In: http://www.suhrkamp.de/autoren/heiner_mueller_3389.html<br />

Wikipedia; „Krieg ohne Schlacht“ Heiner Müller; http://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_ohne_Schlacht<br />

7


DIE DDR > ALLGEMEINE INFORMATIONEN<br />

Politische Gleichschaltung: Parteidiktatur und Blockpolitik<br />

In der DDR herrschte wie schon in der Sowjetischen Besatzungszone eine Parteidiktatur<br />

("führende Rolle der Partei"). Die kommunistische SED (Sozialistische Einheitspartei<br />

Deutschlands) bestimmte alles, die Blockparteien in der "Nationalen Front" (vor Gründung<br />

der DDR "Volkskongress") hatten sich an der SED zu orientieren, die Anzahl der Sitze auf<br />

der Liste der Nationalen Front (einzige zu Wahlen zugelassene Liste) wurde durch die SED<br />

und ihre "Bündnispartner" (Blockparteien und Massenorganisationen) festgelegt.<br />

Feierlichkeiten der Volkskammer der DDR<br />

In der sogenannten Volkskammer der DDR<br />

(dem "Parlament") saßen neben den<br />

Blockparteien die "Massenorganisationen",<br />

als da waren: FDGB (Freier Deutscher<br />

Gewerkschaftsbund), DFB (Deutscher Frauenbund),<br />

FDJ (Freie Deutsche Jugend)<br />

und DK (Deutscher Kulturbund). Offiziell besaß<br />

die SED in der Volkskammer weniger als<br />

die Hälfte der Sitze, aber über die SED-<br />

Mitglieder in den "Massenorganisationen"<br />

und durch die Anpassung der Blockparteien<br />

gab es immer sichere SED-Mehrheiten.<br />

Die SED wurde zwischen den Parteitagen vom allmächtigen Politbüro sowie dem<br />

Zentralkomitee geleitet. An der Spitze der Partei stand bis 1971 Walter Ulbricht, danach<br />

bis zum Untergang der DDR Erich Honecker. Eine Trennung zwischen Staat und Partei<br />

bestand faktisch nicht. Die SED wurde Anfang der 50er Jahre zu einer "Partei Neuen Typs"<br />

nach Leninschem Vorbild, also zu einer undemokratischen, zentral gelenkten, einheitlichen<br />

Kaderpartei ("Demokratischer Zentralismus").<br />

1950 wurde das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit (MfS, kurz Stasi =<br />

Staatssicherheit) gegründet. Dessen Chef war von 1957 bis 1989 Erich Mielke. Die SED<br />

stützte sich auf die Volkspolizei (VoPo), Kasernierte Volkspolizei, Betriebskampfgruppen<br />

und Nationale Volksarmee. Oppositionelle wurden mit Unterdrückungsmaßnahmen<br />

überzogen und verhaftet.<br />

1952 wurde die DDR neu gegliedert: Die Länder entfielen, der Staat wurde in Bezirke und<br />

Kreise gegliedert (Zentralstaat).<br />

Die DDR wurde zu einer sogenannten "Volksrepublik", orientiert am sowjetischen Vorbild.<br />

1955 wurde die DDR Mitglied des Warschauer Pakts. Ihre zur Bundesrepublik<br />

(Westintegration) spiegelbildliche Ostintegration war damit vollständig.<br />

13. August 1961 > Der Mauerbau<br />

1958 hatte Chruschtschow, der sowjetische Staatschef, erfolglos gefordert, Westberlin als<br />

selbstständige politische Einheit in eine "Freie Stadt" umzuwandeln, um dessen Bindungen<br />

an die Bundesrepublik zu kappen. Um das Ausbluten der DDR durch Abwanderung ihrer<br />

Bürger nach Westberlin und Westdeutschland zu verhindern, ließ Walter Ulbricht dann am<br />

13. August mitten durch Berlin eine Mauer bauen, die Ostberlin von Westberlin trennte.<br />

Sie wurde nach und nach immer weiter ausgebaut und kostete viele Todesopfer. Die Grenze<br />

zwischen der DDR und der Bundesrepublik wurde durch Grenzsicherungsanlagen<br />

mit Zaun, Patrouillen, verminten Geländestreifen und Selbstschussanlagen gesichert.<br />

Currlin, Wolfgang: Basiswissen DDR. In: http://www.wcurrlin.de/links/basiswissen/basiswissen_ddr.htm (23.09.2010)<br />

8


<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > UMSTÄNDE <strong>DER</strong> ENTSTEHUNG<br />

Der Auftrag kommt im Spätsommer 1963 vom Deutschen Theater, wo seit kurzem (...)<br />

Wolfgang Heinz als Oberspielleiter und Hans Rainer John als Chefdramaturg das Sagen<br />

haben. Letzterer hat vorgeschlagen, bekanntere Autoren mit der Dramatisierung nützlicher,<br />

aktueller Prosawerke zu betrauen, um so dem Mangel an Gegenwartsstücken abzuhelfen.<br />

Müller soll sich an dem (…) 900-Seiten-Roman „Spur der Steine“ von Erik Neutsch<br />

bewähren, für den er 1964 den Nationalpreis erhält. Der Stoff hat Müller zwar von Anfang<br />

an nicht interessiert, aber es ist der einzige Stoff, an dem er arbeiten darf.<br />

Bild aus dem DEFA-Film „Spur der Steine“<br />

Neutsch hat die Zeichen der Zeit, die neue<br />

kulturpolitische Orientierung der SED nach dem<br />

VI. Parteitag 1963, erkannt und die gutgemeinte<br />

Kritik an Fehlentscheidungen der Planwirtschaft,<br />

am Dogmatismus leitender Parteimitglieder und<br />

an falschen Arbeitsnormen in den Mittelpunkt<br />

seiner Geschichte gerückt. (…)<br />

Müller beginnt seine Arbeit parallel zur<br />

Verfilmung durch Beyer. Der Roman war noch<br />

nicht gedruckt. Das Theater hatte das<br />

Manuskript von der DEFA (Deutsche Film AG).<br />

Obgleich Film und Stück fast gleichzeitig<br />

verboten werden, stehen sie in keinem<br />

Zusammenhang. (…)<br />

Das erste überlieferte und mit Abstand umfangreichste Manuskript trägt den Titel „Spur der<br />

Steine“. Nach dem Roman von Erik Neutsch“. Sämtliche Figurennamen entsprechen der<br />

Vorlage. Mit einer zweiten, auf den 1. September 1964 datierten Fassung gelingt Müller<br />

nach Frank Hörnigks Befund eine „poetisch-dramatische“ Zuspitzung des gesamten<br />

Vorgangs. Gegenüber der ersten Version, habe der Text an „größerer Konzentration“<br />

gewonnen; (…)<br />

Müller berichtet, dass es ein langes Hin und Her im Ministerium und die üblichen<br />

Diskussionen gegeben hat. Der Vorwurf lautet, dass das Verhältnis von Ideal und<br />

gegenwärtiger Wirklichkeit konzeptionell und gestalterisch nicht bewältigt worden sei,<br />

infolgedessen müssten die Protagonisten des sozialistischen Aufbaus klein und<br />

unbefriedigend erscheinen. Auch sei die Rolle der Partei vernachlässigt worden.<br />

Das Manuskript habe im Ministerium, in der Bezirksleitung der Partei, im Zentralkomitee<br />

gelegen, sei von zahlreichen Abteilungen, Apparaten und Personen geprüft und mit<br />

Randbemerkungen versehen worden. Ministerium und Partei schrieben immer nur:<br />

„Falsche Sicht der Partei“.<br />

Anschließend kommt es zu einem Gespräch im Deutschen Theater, in dessen Vorlauf<br />

Neutsch kalte Füße bekommt und darauf besteht, Titel und Figurennamen zu verändern.<br />

Die Differenz zu seiner eigenen Arbeit scheint ihm unüberbrückbar. Der Vollzug<br />

dieser Forderung dokumentiert sich in der dritten Fassung vom März 1965 mit dem<br />

neuen Untertitel Nach Motiven aus Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“. Die<br />

Auseinandersetzung mit Neutsch bestärkt Müller, sich noch weiter von seiner Vorlage zu<br />

entfernen; den Forderungen des Ministeriums, die von Chefdramaturg John bei einer<br />

Krisensitzung im Theater protokolliert werden, kommt er nur teilweise nach.<br />

Gegenläufig zur Doktrin des „Bitterfelder Wegs“, der die künstlerische Überhöhung der<br />

Arbeit propagiert, stellt Müller stärker als zuvor Konflikte und Widersprüche in den<br />

Mittelpunkt seiner Szenenfolge. In rasch wechselnden Einstellungen verweist er auf<br />

Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zeigt das Fortbestehen der<br />

Entfremdung und damit auch die Wiederentstehung beseitigt geglaubter Strukturen.<br />

9


Für Barka, dem Brigadeleiter, bleibt der Kommunismus Vision, die er nicht mehr erleben<br />

wird: „Ich bin der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune“ – ein Verweis auf den<br />

Übergangscharakter der DDR-Gesellschaft. (…) Mittlerweile aber ist das Stichwort von der<br />

DDR als einer Übergangsgesellschaft zum Reizwort avanciert, denn es widerspricht der<br />

Behauptung der Parteiführung, dass es sich bei dem real existierenden Sozialismus um<br />

eine entwickelte, eigenständige historische Gesellschaftsstufe handle.<br />

Ein Vorabdruck des Stücks, der Müller seitens des Theater als unüberlegte Provokation<br />

übelgenommen wird (…), erscheint im April 1965 in „Sinn und Form“. Die Durchsetzung<br />

gelingt, weil Hans Bunge (…) den Text dem Chefredakteur Wilhelm Girnus (…) erst<br />

unmittelbar vor Redaktionsschluss übergibt. Der las das schnell und war davon begeistert,<br />

wie er sagte, ein Metaphernrausch. (…)<br />

Als Premierentermin wird inzwischen der Sommer 1966<br />

in Erwägung gezogen. Doch dann veröffentlicht die FDJ-<br />

Zeitschrift „Junge Welt“ am 18./19. September 1965 einen<br />

Beitrag des Germanisten Hermann Kähler, der erklärt, das ihm<br />

aus „Sinn und Form“ bekannte Stück sei zur Aufführung nicht<br />

geeignet, da es das Negative so allgemein formuliere, dass es<br />

als „mehr als nur eine Schwäche oder Hemmnis“ erscheine,<br />

(…). „Der Bau“ stehe „außerhalb von dem, was zwischen Ideal<br />

und Wirklichkeit ist und was man Praxis nennt“.<br />

(…) Damit sind die Stichworte für das spätere<br />

Aufführungsverbot geliefert, das nun nicht mehr lange auf sich<br />

warten lässt: Ein Jahr nach Chruschtschows Sturz findet das<br />

berüchtigte 11. Plenum des ZK der SED vom 15. bis 18.<br />

Dezember statt, Höhepunkt der gewaltsamen Disziplinierung<br />

der Künstler und Intellektuellen durch die Partei.<br />

Auf dieser regelmäßig stattfindenden Vollversammlung des Zentralkomitees, bei der das<br />

Politbüro seinen Rechenschaftsbericht vorlegt, wird die Front gegen „Liberalismus und<br />

Skeptizismus“, mithin gegen alle Kulturschaffenden gemacht, die es an sozialistischer<br />

Moral und Humanität oder auch nur, (…), am nötigen Aufbau-Enthusiasmus mangeln<br />

lassen und statt dessen zu westlicher Enthemmung und Brutalität (…) tendieren. (…)<br />

Es ist ein Rundumschlag gegen die Künstler, seien es Autoren von literarischen Werken,<br />

Filmen, Rundfunksendungen oder Interpreten neuer Unterhaltungsmusik. Neben Müller<br />

müssen sich unter anderem auch die „Schwarzmaler“ und „Zweifelsüchtigen“ Peter Hacks,<br />

Wolf Biermann, Stefan Heym, Manfred Bieler und Robert Havemann die Leviten lesen<br />

lassen.<br />

[Die Uraufführung findet nach weiteren Auseinandersetzungen mit dem Ministerium und<br />

einer überarbeiteten Fassung erst am 3. September 1980 statt]<br />

aus: Hauschild, Jan-Christoph. Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel. Aufbau-Verlag, Berlin 2001<br />

FDJ-Zeitschrift „Junge Welt“<br />

10


HEINER MÜLLER > REDE VOM 4. NOVEMBER 1989<br />

„Ein Ergebnis bisheriger DDR-Politik ist die Trennung der Künstler von der Bevölkerung<br />

durch Privilegien. Wir brauchen Solidarität statt Privilegien. Ich lese einen Aufruf der<br />

Initiative für unabhängige Gewerkschaften:<br />

4. 11. 1989 | Berlin Alexanderplatz<br />

Kolleginnen und Kollegen, was hat der FDGB in<br />

40 Jahren für uns getan? Hat er die Frage der<br />

Arbeitszeitverkürzung als ständige Forderung an die<br />

Betriebsleitungen gerichtet? Warum hat er nicht die<br />

40-Stunden-Woche mit uns erkämpft? Hat er dafür<br />

gesorgt, daß unsere Löhne der schleichenden Inflation<br />

angepaßt werden? Warum sind nicht ständige<br />

Tarifverhandlungen über Lohnerhöhungen geführt<br />

worden? Wo stehen die Funktionäre des FDGB, wenn<br />

in unserem Betrieb neue Normen eingeführt werden?<br />

Auf unserer Seite? Verhindern sie die Normen, bevor<br />

nicht klar ist, daß wir auch entsprechend bezahlt<br />

werden? Wie kann der FDGB als unser angeblicher<br />

lnteressenvertreter es zulassen, daß wir im Durchschnitt<br />

10 Tage weniger Urlaub haben als unsere<br />

Kollegen im Westen? Hat der FDGB sich für die<br />

Herabsetzung des Rentenalters stark gemacht? Hatten<br />

wir schon erlebt, daß die Betriebsgewerkschaftsleitung<br />

den staatlichen Plan in unserem Interesse nicht<br />

akzeptiert? Haben wir überhaupt schon mal erlebt, daß<br />

die Gewerkschaft etwas gegen den Staat und die Partei<br />

für uns durchsetzt?<br />

40 Jahre ohne eigene Interessenvertretung sind genug. Wir dürfen uns nicht mehr organisieren<br />

lassen, auch nicht von neuen Männern und Frauen. Wir müssen uns selbst organisieren. Die<br />

nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen<br />

werden. Die Preise werden steigen und die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft<br />

das vor allem uns. Der Staat fordert Leistung. Bald wird er mit Entlassung drohen. Wir sollen<br />

die Karre aus dem Dreck ziehen. Wenn der Lebensstandard für die meisten von uns nicht<br />

erheblich sinken soll, brauchen wir eigene Interessenvertretungen. Gründet unabhängige<br />

Gewerkschaften.<br />

Darf ich noch einen persönlichen Satz sagen: Wenn in der nächsten Woche die Regierung<br />

zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden.“<br />

In: http://www.dhm.de/ausstellungen/4november1989/htmrede.html<br />

11


HEINER MÜLLER > ZYNISMUS<br />

Heiner Müller - „Mit ihm war kein Staat zu machen“<br />

»Der Mensch ist etwas,<br />

in das man hineinschießt,<br />

bis der Mensch aufsteht<br />

aus den Trümmern des Menschen.«<br />

So kompromisslos formuliert Heiner Müller<br />

eine Erkenntnis, die sein Werk prägt. Sie<br />

ist wie sein Gesamtwerk apokalyptisch<br />

geprägt, doch entbehrt sie nicht immer der<br />

Hoffnung. Müllers Einstellung wandelt sich:<br />

Während er bis in die siebziger Jahre auf<br />

eine bessere, sozialistische Welt hoffte,<br />

stellt sich danach Resignation und<br />

Zynismus ein.<br />

Müller strebt nicht mehr danach, Lösungen zu finden. Er will Probleme zur Diskussion<br />

stellen. Warum geht Müller den Weg der Desillusion, den Weg in die Hoffnungslosigkeit?<br />

Kaum ein Autor hört auf zu hoffen. Die Hoffnung als Antrieb des Schreibenden - das gilt<br />

nicht für Müller. Sein Antrieb liegt in Vergangenheit und Gegenwart.<br />

Die Autoren der Nachrufe finden verschiedene Gründe. Durch seinen Zynismus schafft er<br />

Distanz zu Brecht, dessen Lehrstücke zu einfach […] erscheinen. »Müllers sogenannter<br />

Zynismus war wohl zuerst (und bis zuletzt) eine Abwehrwaffe gegen Brechts ominöse<br />

'Freundlichkeit' - die einen ohnehin, weil sie ein Kopf- und Kunstprodukt ist, immer ein<br />

bißchen frösteln läßt.« Müllers Zynismus ist eine Abwehrwaffe gegen den positivistischen<br />

sozialistischen Realismus; er ist eine Absage an die Welt, gegen die menschliche<br />

Grundeinstellung des Optimismus. [...]<br />

Der Zynismus ist eine der Masken des Autors: »Ruhelos versteckte er den marginalisierten<br />

Intellektuellen im Kostüm des Untergehers, der im 'Casino der Weltgeschichte' nicht das<br />

Heil, sondern die Diagnose bringt.« Diese Maske ist eine logische Folge seines Lebens.<br />

»Der sogenannte Weltschmerz entsprang dem Leiden an einer verachteten Wirklichkeit.<br />

Dies war tiefer gesellschaftlicher Ekel.«<br />

Der Untertitel der Autobiographie Müllers lautet »Leben in zwei Diktaturen«. Er sieht<br />

Menschen, die beherrscht sind von Staat und Ideologie. Er beschäftigt sich mit<br />

Revolutionen, die über ihre Gründer hinauswuchsen. Müller erlebt den Untergang zweier<br />

Staaten. Für ihn ist »das Wort 'Freiheit', unter dem Zement des Grundgesetzes begraben,<br />

der größte Treppenwitz der Weltgeschichte« . Er schreibt von der Machtlosigkeit des<br />

Einzelnen gegenüber dem selbsterschaffenen Staatssystem. Die Erkenntnis der<br />

Perspektivenlosigkeit bewegt ihn dazu, die wirklichkeitsbezogenen Schlußfolgerungen, die<br />

sich aus seinen Werken ergeben, den Rezipienten zu überlassen. Er gibt keinen Weg vor,<br />

da der Einzelne (der Autor) machtlos bleibt. Deshalb verdeutlicht er Probleme, anstatt<br />

Lösungen zu zeigen<br />

Heiner Müller schreibt dem »20. Jahrhundert, das so hoffnungs-, kampf- und<br />

veränderungswillig war, [...] den Abgesang«. In Müllers Theater vermischen sich Zeiten:<br />

»Quartett« spielt in einem »Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem<br />

dritten Weltkrieg«. Die Stücke lösen sich von jedem Zeitrahmen. Die positiv gesehene<br />

Zukunft gehört nicht dazu. Dies ist Heiner Müllers Zynismus, »jeder [...] eine lebendig<br />

begrabene Hoffnung.«<br />

Reitter, David: Heiner Müller im Spiegel der Nachrufe. 2005, In: http://www.davids-welt.de/hm/ (17.09.2010)<br />

12


DDR > SED UND SCHRIFTSTELLER<br />

Die SED und die Schriftsteller 1946 bis 1956<br />

1. Einleitung<br />

"Vorbei ist es auch mit der ,repräsentativen' Rolle, die Autoren in der alten DDR teilweise<br />

zukam: Ersatzöffentlichkeit, stellvertretend Redende, Beichtväter und -mütter, Stimmen der<br />

Stimmlosen, usf." (Heinrich Mohr). Dieser "übersteigerte Anspruch und das große<br />

öffentliche Prestige der Schriftsteller und Künstler" wurden mit "den im Verhältnis zum<br />

Westen ungleichzeitigen Systembedingungen einer vormodernen, geschlossenen<br />

Gesellschaft" sowie mit den Traditionen der Arbeiterbewegung erklärt, die dem<br />

geschriebenen Wort eine sehr große Bedeutung beimesse. Ostdeutsche Schriftsteller<br />

mussten seit der Wende die Erfahrung machen, zwar alles sagen und schreiben zu dürfen,<br />

in der ungewohnten Vielstimmigkeit einer pluralistischen Öffentlichkeit aber nur schwer<br />

Gehör zu finden. Auch bedurfte die bundesdeutsche Gesellschaft keiner durch Schriftsteller<br />

geschaffenen oder vermittelten Ersatzöffentlichkeit, da 1989 "die Codes der indirekten Rede<br />

zu großen Teilen ausgedient" hatten.<br />

Doch in den vierzig Jahren DDR hatten die Schriftsteller einen besonderen Stellenwert<br />

eingenommen. Sie sollten mehr als nur Künstler sein und im Rahmen des Politikkonzepts<br />

der SED aktiv an der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft mitwirken. Es wäre aber<br />

verfehlt, die starke Loyalität vieler Schriftsteller zu ihrem Staat nur als Folge des auf sie<br />

ausgeübten Drucks zu erklären, denn es "muss in der Sache selbst eine wirkliche<br />

Identifikation gegeben haben".<br />

Dieses enge Verhältnis zwischen Staat und Literatur reichte weit zurück. In der ersten<br />

Dekade nach 1945 warben SED und Sowjetische Militäradministration (SMAD) um die<br />

Rückkehr möglichst vieler hochkarätiger Emigranten. Kennzeichen jener Jahre war die<br />

Überzeugung von der Erziehungsfunktion der Literatur, die erst in den sechziger Jahren<br />

vom "Utopieverlust der Nachgeborenen" abgelöst wurde.<br />

„Herbstkrise“ – Volksaufstand 1956 in Ungarn<br />

2. Schriftsteller zwischen Werbung und Vereinnahmung<br />

Die kulturelle Vielfalt der Anfangszeit wich<br />

rasch einer Stalinisierung auch der<br />

Kulturpolitik. In zwei Krisen zeigt sich die<br />

ganze Komplexität der Bemühungen um die<br />

Schriftsteller: Am 17. Juni 1953<br />

(Arbeiteraufstände in der DDR) hielten die<br />

Schriftsteller sich mehrheitlich abseits,<br />

während sie sich in der Herbstkrise 1956<br />

(Ungarn) erstmals zu Wort meldeten. 1956/57<br />

wurde daraufhin mit den "intellektuellen<br />

Rebellen" abgerechnet. Hier lagen zugleich<br />

die Wurzeln jener Entwicklung, die auf<br />

der einen Seite zum "Bitterfelder Weg"<br />

(Weg zur eigenständigen, sozialistischen<br />

Nationalkultur), auf der anderen Seite zu den<br />

regimekritischen Schriftstellern führen sollte.<br />

SED und SMAD waren bei ihrem Versuch, Schriftsteller von einem fortschrittlichem Leben<br />

in Ostdeutschland zu überzeugen, insgesamt erfolgreich. Eduard Claudius hat anschaulich<br />

beschrieben, wie ihn der sowjetische Kulturoffizier Alexander Dymschitz für die<br />

SBZ gewann. Neben persönlichen Gesprächen und Propagandaschriften spielten auch<br />

13


der als "überparteilich" ausgegebene "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung<br />

Deutschlands" sowie ein ausdifferenziertes Privilegiensystem eine große Rolle. Wer zur<br />

Übersiedlung bereit war, sollte dies auch materiell nicht bereuen. Ein Übriges tat die<br />

Erfahrung vieler Exilautoren, dass Westdeutschland sich für sie offensichtlich nicht<br />

interessierte, während Ostdeutschland um sie warb. Ein kulturpolitischer "Neuanfang"<br />

wurde angestrebt unter bewusster Anknüpfung "an die Ideenwelt und die Formen des<br />

bildungsbürgerlichen Kulturlebens" sowie an "nationale Traditionen, mit maßvoll linkem<br />

Akzent". Auf diese Weise sollten breite Bevölkerungskreise "kulturell angesprochen und<br />

somit die aufklärerischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung fortgesetzt<br />

werden".<br />

Der rege Zustrom bedeutender Schriftsteller war nicht zuletzt der "liberalen und<br />

großzügigen Kunstförderung" durch Johannes R. Becher und des von ihm geleiteten<br />

Kulturbunds zu verdanken. Daher konnte sich die DDR, wenigstens im ersten<br />

Nachkriegsjahrzehnt, nach außen als "Staat der Schriftsteller" gerieren.<br />

Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges<br />

und der sich vertiefenden deutschen<br />

Teilung kam es jedoch schon 1947/48 zu<br />

einer Stalinisierung auch der Kulturpolitik,<br />

in der allerdings "zwei Linien" zu<br />

verzeichnen waren: Die Verschärfung der<br />

internationalen Lage verhalf der - im Kern<br />

bereits von Anfang an angelegten -<br />

dogmatischen gegenüber der liberalen<br />

Linie zum Durchbruch; "die auf ein breites<br />

Bündnis mit der bürgerlichen Intelligenz<br />

abzielende Kulturpolitik kam zum<br />

Erliegen", was für die Schriftsteller die<br />

Festlegung auf den "sozialistischen<br />

Realismus" zur Folge hatte.<br />

Tagung des 1945 gegründeten Kulturbunds der DDR<br />

Drei Schlüsselbegriffe waren hier von besonderer Bedeutung: die Künstler waren zur<br />

Anerkennung der führenden Rolle der SED in Kunst und Literatur verpflichtet, ihre Werke<br />

hatten "volksverbunden" beziehungsweise "volkstümlich" zu sein und mussten einen<br />

"sozialistischen Ideengehalt" aufweisen. Interne Dokumente zeigen allerdings, dass auch<br />

manche Schriftsteller den "sozialistischen Realismus" nicht ganz verstanden. Dies zeigt<br />

zugleich ein weiteres Charakteristikum: Die Forderung nach dem "sozialistischen<br />

Realismus" wurde zwar bis zum Ende der DDR nicht aufgegeben, er wurde in der Substanz<br />

aber nie eindeutig definiert, sondern unterlag großen Bedeutungsschwankungen.<br />

Die Schriftsteller mussten ohnehin innerhalb eines kulturpolitischen Koordinatensystems<br />

agieren, das permanent zwischen den beiden Polen der Privilegierung und der<br />

Disziplinierung schwankte und so eine Orientierung fast unmöglich machte. Seit 1948<br />

wurde ihnen explizit die Aufgabe gestellt, die SED bei der Erfüllung des Wirtschaftsplans<br />

massiv zu unterstützen. So wurde "nicht nur die Symbiose von Geist und Macht, Literatur<br />

und Politik, sondern auch von Kultur und Ökonomie" gefordert.<br />

Die Folgen dieser Politik für die Schriftsteller zeigten sich exemplarisch auf den beiden<br />

Herbstkonferenzen 1948. Anton Ackermann und Walter Ulbricht betonten hier mehrmals<br />

die Notwendigkeit, einen "neuen Menschen" zu schaffen. Ohne die Erziehung zu größerer<br />

Arbeitsmoral werde der Plan nicht erfüllt werden können. Der "neue Mensch" galt als<br />

idealtypisch vom "Aktivisten" verkörpert. Er sollte sich durch Klassenbewusstsein,<br />

Altruismus, eine neue Einstellung zur Arbeit sowie durch Tugenden wie Fleiß, Disziplin und<br />

Anstand auszeichnen. Schriftsteller sollten sich in die "Kampffront" einreihen und mit ihren<br />

Werken die Umerziehung zu klassenbewussten "Werktätigen" fördern.<br />

14


Nach einem Stalin zugeschriebenen Zitat, an dem auch nach dem Tod des Diktators<br />

festgehalten wurde, hatten Schriftsteller als "Ingenieure der menschlichen Seele" zu<br />

agieren. Sie sollten aber nicht nur erziehend wirken, sondern waren zugleich selbst Objekte<br />

der Umerziehung. Der Befund von Brigitte Hohlfeld für die Neulehrer galt auch für die<br />

Schriftsteller: Sie waren zugleich "Hammer" und "Amboss" in den Händen der<br />

Herrschenden.<br />

Die erste Bitterfelder Konferenz am<br />

24. April 1959 – Erwin Strittmatter<br />

4. Tauwetter 1953<br />

Die Künstler und Schriftsteller wurden nicht nur formal<br />

auf den "sozialistischen Realismus", sondern auch<br />

inhaltlich auf die Gestaltung von Gegenwartsthemen<br />

festgelegt. Walter Ulbricht erregte sich mehrmals über<br />

die Rückwärtsgewandtheit der Schriftsteller, die drei<br />

Jahre nach dem Krieg immer noch "Emigrationsromane"<br />

oder "KZ-Literatur" verfassten, "verkrüppelte Frauen"<br />

darstellten, anstatt sich positiven, neuen Themen wie<br />

etwa der Bodenreform zuzuwenden. Gebraucht werde<br />

vor allem der "große Aufbauroman". Seine Klage,<br />

wonach aus dem Kulturbund "niemand in den Betrieb"<br />

gehe, war bereits ein Vorgeschmack auf den erst 1959<br />

eingeschlagenen "Bitterfelder Weg", der die<br />

engstmögliche Verbindung zwischen Literatur und<br />

Produktionsprozess sowie eine verstärkte Kontrolle der<br />

Schriftsteller sichern sollte. [...]<br />

Die extreme kulturpolitische Verengung erfuhr durch den Tod Stalins sowie den Aufstand<br />

vom 17. Juni 1953 eine Abschwächung. Auch gegenüber den Schriftstellern wurde -<br />

wenigstens kurzfristig - ein "neuer Kurs" eingeschlagen. Darüber, dass die Schriftsteller<br />

sich im Juni-Konflikt mehrheitlich staatstreu verhielten, besteht Konsens. Für ihr loyales<br />

Verhalten wurden sie sowohl von Walter Ulbricht als auch vom Ministerpräsidenten Otto<br />

Grotewohl gelobt. Auch über die Gründe ihrer Loyalität gibt es nur wenig Dissens,<br />

wenngleich unterschiedlich gewichtet wird. Hier wird sehr häufig die durch die Privilegien<br />

hervorgerufene Entfremdung der Schriftsteller von der "normalen" Bevölkerung genannt,<br />

ebenso die Tatsache, dass die Intellektuellen dem "Druck von unten" misstrauten:<br />

"Die kleinen Leute, die jetzt nach Freiheit riefen, hatten einst die Nazis an die Macht<br />

gewählt, aktiv unterstützt oder zumindest geduldet." [...]<br />

5. Die Entstalinisierungskrise<br />

Während die Schriftsteller sich in der Junikrise 1953 überwiegend abwartend verhalten<br />

hatten, war die Situation im Anschluss an den XX. Parteitag der KPdSU anders: Die meisten<br />

Schriftsteller - und dies traf zeitweise auch auf ausgesprochen systemloyale Autoren wie<br />

Kurt Barthel oder Willi Bredel zu - waren von den Enthüllungen des sowjetischen Generalsekretärs<br />

Nikita S. Chruschtschow niedergeschmettert. Eine besondere Rolle spielte der<br />

"Verlust des Glaubens" an Stalin offenbar bei den Jüngeren. Diese hatten mit den<br />

Enthüllungen über den verbrecherischen Charakter Stalins zum zweiten Mal ihre Ideale<br />

eingebüßt. Walther Victor sprach im Mai 1956 davon, dass er viele solcher Menschen<br />

kenne. "Sie sind noch durch die Hitlerzeit gegangen und dann in einer furchtbaren Krise<br />

gewesen. Mit einem Male stürzt diese neue Sache wieder über ihrem Haupt zusammen. Ich<br />

glaube, man muss verstehen, daß hier eine Krise da ist." [...]<br />

Neben tiefer Desillusionierung brachte die Entstalinisierung aber auch ein freieres Klima:<br />

Erstarrungen lösten sich, intellektuelle Diskussionen brachen auf. Erich Loest hat das<br />

Lebensgefühl der nachwachsenden Generation lebendig skizziert: "Wir waren unter dreißig,<br />

boxten uns gegenseitig vorwärts, waren gesund, lau, gute Kumpel miteinander, besessen<br />

15


von unserem Beruf, überzeugt von unserer strahlenden Zukunft, wir waren frische<br />

Ehemänner und junge Väter, Skatspieler und Fußballnarren, fast alle Genossen, und die<br />

Sonne des Sozialismus, so sahen wir es, schien hell und wärmend auf uns herab. Diese<br />

Diskussionen! Wir ereiferten uns über Lukacz, Bloch, ... ich saß im Hörsaal zu Hans Mayers<br />

Füßen."<br />

Die Krise im Zusammenhang des Ungarn-Aufstandes 1956 führte zu einer kulturpolitischen<br />

Eiszeit. Es ging der Ulbricht-Führung vor allem darum, die Diskussionen unter den<br />

Intellektuellen einzudämmen. Auch dieses Mal war die Kulturpolitik im Wesentlichen<br />

taktisch bedingt: "Der Defensive folgte die Offensive."<br />

Dabei fand Christoph Kleßmann es<br />

"sehr fraglich", ob sich "unter der<br />

Intelligenz auch eine organisierte<br />

Opposition entwickelt hat, wie die<br />

Parteiführung später" behauptete.<br />

"Mit Sicherheit" habe sich "aus der<br />

Perspektive Ulbrichts die Situation<br />

viel dramatischer" dargestellt, "als sie<br />

wirklich war". Ungeachtet der tatsächlichen<br />

Gefahren ergriff Ulbricht die<br />

Chance, im Windschatten der Niederschlagung<br />

des Ungarn-Aufstands seinen<br />

innenpolitischen Kurs zu verschärfen.<br />

Fortan gerieten "Kulturschaffende" und<br />

"Intelligenz" in das Visier des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit.<br />

6. Ausblick<br />

Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit<br />

beim Abhören verdächtiger Subjekte.<br />

In kurzer Zeit büßte die DDR in den späten fünfziger Jahren ihren Ruf als "Staat der<br />

Schriftsteller" ein. Die Abrechnung mit den "intellektuellen Rebellen" seit 1956 markierte<br />

den Höhepunkt der Repression. Das Wechselspiel von Liberalisierung und Zwang, von<br />

Furcht und Belohnungen sollte sich wenige Jahre später erneut zeigen und in das<br />

"Kahlschlagplenum" vom Dezember 1965 münden. Die dritte Welle der repressiven SED-<br />

Literaturpolitik mit ihrer durchaus widersprüchlichen Doppelstrategie führte dann zum<br />

Massenexodus der Schriftsteller in die Bundesrepublik in der Folge der Biermann-<br />

Ausbürgerung von 1976.<br />

Die Hoffnung der SED-Führung, "Romane und Gedichte, Filme und Theaterstücke" ebenso<br />

lenken zu können wie "Produktionspläne der Chemie oder Investitionen der LPGs", sollte<br />

sich nicht erfüllen. Die SED musste bald von ihren ideologisch-utopischen Zielen und<br />

schließlich, wenn auch nur stillschweigend, von der Doktrin des "sozialistischen Realismus"<br />

abrücken. Die nachwachsenden Schriftsteller konnten zwar noch weitgehend integriert<br />

werden, aber nicht mehr so bedingungslos, wie dies mit der um 1900 geborenen<br />

"Weimarer Generation" in den fünfziger Jahren gelungen war.<br />

Ihmel-Tuchel, Beate: Die SED und die Schriftsteller 1946 bis 1956. In:<br />

http://www.bpb.de/publikationen/CAETVS,0,0,Die_SED_und_die_Schriftsteller_1946_bis_1956.html#art0 (19.09.2010)<br />

16


DDR > UTOPIE UND UTOPIEVERLUST –<br />

DIE SCHRIFTSTELLER UND DAS VEREINIGTE DEUTSCHLAND<br />

Stefan Heym betont in seiner Rede vom 4. November 1989, dass die Bürger endlich ihre<br />

Sprachlosigkeit überwunden hätten, dass sie nun - wenige Wochen nach der 40-Jahr-Feier<br />

der DDR - frei sprechen und aufrecht gehen könnten:<br />

Stefan Heym am 4. 11. 1989<br />

I. Utopieverlust<br />

„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen<br />

nach all den Jahren der Stagnation,<br />

der geistigen, wirtschaftlichen, politischen,<br />

den Jahren von Dumpfheit und Mief,<br />

von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür,<br />

von amtlicher Blindheit und Taubheit.<br />

Welche Wandlung!<br />

Vor noch nicht vier Wochen,<br />

die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke,<br />

mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten,<br />

vor den Erhabenen!<br />

Und heute! Heute ihr,<br />

die ihr euch aus eigenem Willen versammelt habt,<br />

für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus,<br />

der des Namens wert ist.“<br />

Die Rede Stefan Heyms enthält ein besonders charakteristisches Element: den Glauben<br />

an die Reformierbarkeit des Sozialismus. Damit wird ein Thema intoniert, das bei den<br />

ostdeutschen Autoren in der Folgezeit immer wiederkehren wird: die Frage nach dem<br />

richtigen Gesellschaftsmodell und nach dem "wahren" Sozialismus. In dieser Fragestellung<br />

kommt der Konflikt vieler Schriftsteller zum Ausdruck, die zugleich für und gegen den DDR-<br />

Staat waren. Sie waren für einen humanen und demokratischen Sozialismus, aber nicht für<br />

den real existierenden Sozialismus in der DDR. Das Festhalten an der Utopie des "echten"<br />

Sozialismus und einer gerechten und menschlichen Gesellschaft war für viele Schriftsteller<br />

ein Teil ihrer eigenen Identität geworden. Bei aller Kritik am System war die Hoffnung auf<br />

den Sozialismus mit humanem Gesicht gerade ein Grund für ihre Systembindung gewesen.<br />

Wolfgang Emmerich spricht von der "affirmative(n) Systembindung als Selbstfesselung",<br />

die gerade für die zweite Generation von DDR-Schriftstellern (wie Christa Wolf, Franz<br />

Fühmann, Volker Braun oder Christoph Hein) charakteristisch gewesen sei. Das eigene<br />

Schreiben sollte Kritik am Bestehenden üben und zugleich die Hoffnung auf eine humane<br />

Gesellschaft wachhalten - eine Haltung, die von manchen Kritikern als "Gesinnungsästhetik"<br />

verworfen wurde.<br />

Wie war die Situation nach der Vereinigung der<br />

beiden deutschen Staaten? War nun endgültig klar<br />

geworden, dass der real existierende Sozialismus<br />

den wahren Sozialismus nicht vorbereitet, sondern<br />

verraten hatte? Dass der DDR-Staat keine<br />

Vorstufe, sondern ein Irrweg war? Oder hatte sich<br />

die Idee des Sozialismus überhaupt als Irrweg<br />

erwiesen? Dieses Dilemma spiegelt sich in vielen<br />

Gedichten wider, die unmittelbar nach der Wende<br />

entstanden sind. Durch diese Gedichte ziehen sich<br />

Verunsicherung und Trauer: Trauer über den<br />

Utopieverlust, der die Wende begleitet.<br />

Proteste am 4. 11. 1989 | Berlin Alexanderplatz<br />

17


Das wichtigste und repräsentativste Gedicht in diesem Zusammenhang stammt von Volker<br />

Braun. Es trägt den Titel Das Eigentum:<br />

Das Eigentum (1992)<br />

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.<br />

KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN<br />

Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.<br />

Es wirft sich weg und seine magre Zierde.<br />

Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.<br />

Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.<br />

Und unverständlich wird mein ganzer Text.<br />

Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.<br />

Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.<br />

Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.<br />

Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.<br />

Wann sag ich wieder mein und meine alle.<br />

Dieses Gedicht wurde zu einem großen literarischen Ereignis in Ost und West. Es wurde<br />

immer wieder gedruckt. Es wurde abgeschrieben, kopiert, von Hand zu Hand<br />

weitergereicht, wie früher die Samisdat-Texte in der DDR. Volker Braun hat Hunderte von<br />

Briefen dazu erhalten. Offensichtlich traf er mit dem Gedicht genau die Stimmungslage<br />

vieler ostdeutscher Bürger.<br />

Das Gedicht formuliert den schmerzlichen Utopieverlust, der den Untergang der<br />

DDR begleitet. Mit dem Zusammenbruch der DDR ist auch die Utopie zerstört worden,<br />

die niemals Realität geworden war:<br />

Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.<br />

Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.<br />

Volker Brauns literarische Kritik an der DDR stand nicht zuletzt im Dienst dieser Utopie: mit<br />

dem schlechten Staat DDR ist auch die gute Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft<br />

zerstört worden - die Kritik ist sozusagen über ihr Ziel hinausgeschossen und hat auch ihr<br />

Ziel zerstört: "Ich selber habe ihm [meinem Land] den Tritt versetzt."<br />

Die entscheidende Zeile des Gedichts ist die drittletzte, wo es heißt:<br />

Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.<br />

Worin besteht diese Falle? War die Verknüpfung der Hoffnung mit dem DDR-Staat die<br />

Falle? Oder war die Hoffnung selbst eine Falle? Diese Frage führt ins Zentrum einer<br />

aktuellen Diskussion, die sich in der letzten Zeit immer wieder an postmodernen Positionen<br />

entzündet hat. Für das sog. "postmoderne" Denken sind wir ja am Ende der Geschichte<br />

angelangt, jedenfalls am Ende einer Geschichte, die irgendwie noch teleologisch<br />

bestimmbar oder lenkbar wäre. Die Konsequenz eines solchen Denkens ist ein radikales<br />

Utopieverbot und damit auch ein Verbot jeder zielgerichteten Hoffnung.<br />

18


Für ein solches Utopieverbot plädierte z.B. Joachim Fest, der 1991 ein Buch mit dem Titel<br />

veröffentlichte: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters. Darin heißt es:<br />

„Mit dem Sozialismus ist, nach dem Nationalsozialismus, der andere<br />

machtvolle Utopieversuch des Jahrhunderts gescheitert. Was damit endet, ist<br />

der mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, daß sich die Welt nach einem<br />

ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse.“<br />

Die utopischen Träume, so Joachim Fest, sind "Luftgeister aus Imagination und Wahn",<br />

die sich immer in die Zwangsvorstellung einer "totalen Gesellschaft" hinein verlängert<br />

hätten. Am Ende des utopischen Denkens stehe der Totalitarismus. Die Welt aber lasse sich<br />

im Prinzip nicht ändern. Deshalb sei es zu begrüßen, dass die Menschen sich nun mit einer<br />

Praxis abfänden, die "nicht mehr Sinnfragen zu beantworten sucht, sondern vor allem<br />

Praxis ist, mehr Handwerk und Ingenieurswesen als metapolitische Fürsorge. Es wäre das<br />

Beste, was sich erwarten ließe." Das Leben ohne Utopien, so resümiert Fest, gehöre "zum<br />

Preis der Modernität".<br />

Aber, so könnte man dagegen fragen, war nicht gerade das Utopische schon immer<br />

ureigenes Thema der Dichtung? Thema der Dichtung ist ja weniger das, was ist, sondern<br />

das, was sein sollte und könnte. Schon Aristoteles schrieb in seiner Poetik:<br />

"Der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass der<br />

eine Verse schreibt und der andere nicht [...]; sie unterscheiden sich vielmehr darin, dass<br />

der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die<br />

Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung." [...]<br />

Pfeiffer, Joachim: Utopie und Utopieverlust. Die Schriftsteller und das vereinigte Deutschland.<br />

In: http://home.ph-freiburg.de/pfeifferfr/utopie.htm (19.09.2010)<br />

19


<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > TEXTAUSZÜGE (Fassung Hasko Weber | Jörg Bochow)<br />

Der Zimmermannstanz, 1. Szene (Ausschnitt)<br />

Dreier Ich zeig dir, wer das Fundament zertrümmert.<br />

Das ist der Embryo von einem Kraftwerk<br />

Vom Neuesten das Neuste, nämlich es soll<br />

Salzkohle fressen, was kein Kraftwerk vor ihm<br />

Geschluckt hat. Salzkohle ist billig, wir stehn drauf<br />

Aber sie will verdaut sein, schlackt, frißt Kessel.<br />

Besondre Mahlzeit braucht besondre Därme.<br />

Ein Brocken für die Projektierer, sie kaun dran<br />

Und malen einen Grundriß nach dem andern<br />

Und ein Gemälde löscht das andre aus.<br />

Das geht in Ordnung, wenns auf dem Papier bleibt<br />

Neu will probiert sein und Papier ist geduldig.<br />

Auf dem Papier bleibts nicht: der Bau ist Schwerpunkt<br />

Beschluß der Vereinigten Volkeseigenen Betriebe, warum weiß Stalin.<br />

Die Politik geht vor der Ökonomie<br />

Ein Schwerpunkt ist ein Schwerpunkt, ein Beschluß<br />

Ist ein Beschluß auf Biegen oder Brechen.<br />

Ausbaden muß es der Beton, und der<br />

Ist nicht geduldig und wir badens aus.<br />

Jetzt weißt du, wer das Fundament zertrümmert.<br />

Wir reißen ein, baun neu. Der Projektant<br />

Ändert die Zeichnung: ein Dreh mit dem Reißzeug<br />

Wir reißen wieder ein, baun wieder neu.<br />

So fällt ein Bein über das andre, dreht<br />

Ein Arm den andern aus, der Kopf bleibt hinten:<br />

Jetzt kannst du sagen: das ist Kapitalismus<br />

Der Arbeiter wird mit dem Arbeiter gefüttert.<br />

Da sag ich dir: das kann ich auch sagen, mach was.<br />

So steh ich da: mein eigner Saboteur<br />

Und in der höchsten Gesellschaft, jeder ist<br />

Im zweiten Beruf sein eigener Saboteur hier<br />

Vom Minister abwärts, und nicht nur sein eigner.<br />

Schreib das in deine Zeitung. Dreier heiß ich.<br />

Und geh zum Wasserwerk, dort hörst du mehr.<br />

Das steht auf dem Papier bis zum letzten Strich<br />

Die könnten baun daß der Beton schäumt, könnten<br />

Aber der Schwerpunkt Kraftwerk spielt die erste Geige<br />

Das Wasserwerk bleibt liegen<br />

Die Vögel scheißen auf die halben Wände<br />

Der Regen wäscht sie, danach Schnee. Willst du mehr wissen?<br />

Und was ich dir gesagt hab, unterschreib ich.<br />

Der Zimermannstanz, 3. Szene (Ausschnitt)<br />

Barka Die Welt ist ein Boxring und die Faust hat recht.<br />

Ein Schritt aus der Deckung und du gehst zu Boden.<br />

Ein Schlag zuviel und du wirst ausgezählt.<br />

Der Kommunismus ist was für die Zeitung.<br />

Was wird aus dem Beton, wenn wir ihn nicht klaun?<br />

Sind Sie am Kraftwerk gewesen?<br />

Machen Sie Ihre schönen blauen Augen auf,<br />

eh Sie den Mund aufmachen gegen uns, Fräulein.<br />

20


Bakelit, 1. Szene (Ausschnitt)<br />

Donat Ich bin was man glücklich verheiratet nennt, wir haben ein Kind von sechs.<br />

Mit der Partei verheiratet war ich schon vorher. Meine Frau hatte es nicht leicht: Hochzeit<br />

beim Talsperrenbau, Flitterwochen im Hochwasser, unser Kind ein Foto in meiner<br />

Brusttasche, unsre Gespräche kein Referat lang, zwischen zwei Sitzungen eine Umarmung.<br />

Ist das Bigamie?<br />

Kann ich verlangen, daß sie mich mit einer Frau teilt auch noch? Meine vierte Großbaustelle,<br />

Wismut, Schwarze Pumpe, Rostock vorher, in der Bauleitung am Schreibtisch sitzt mein Feind,<br />

es ist eine Berufskrankheit, ich komme dazu wie der Blitz zum Donner, Feinde in der Betriebsleitung<br />

auch und im Ministerium, weil mir der Plan nicht heilig war, fünfzig schulterklopfende<br />

Feinde grasen mit hundert Augen meine Biografie ab und meine Kaderakte nach einem faulen<br />

Punkt, ich lebe unterm Mikroskop, sie graben mir das Wasser ab mit ihrem volkseigenen<br />

Schanzzeug. Ich hör sie jubeln über meine Unmoral, wir stolpern schneller über die Hügel<br />

einer Brust als über den Kühlturm der zusammenbricht am Morgen nach der Prämie,<br />

nimm dein Gesicht weg, eh ich einen Fehler mache, ich bin ein Mann. Ich bin Parteifunktionär.<br />

Wärst du häßlich, wenigstens für mich. Ich bin der letzte, der es sich leisten kann,<br />

ich habe keine Augen für den Himmel, außer er ist schwarz vom Rauch aus unsern Fabriken,<br />

gelb von unsrer Chemie: Ich liebe dich.<br />

Schnee, Szene 1b<br />

Schlee Wer braucht die Sterne? Ich werde also lügen für dich und das ist die Wahrheit: dein Kind<br />

wird keinen Vater haben, wir werden uns mit Genosse anreden wie vorher, ich werde den<br />

Vogel nicht einscharren, der im Frühjahr singt, du wirst die Sonne nicht aus dem Himmel<br />

reißen, der Schnee wird nicht liegen bleiben bis zum nächsten Winter.<br />

21


<strong>DER</strong> <strong>BAU</strong> > GLOSSAR ZUM STÜCK<br />

17. Juni 1953:<br />

In den Tagen um den 17. Juni 1953 kam es in der DDR zu einer Welle von Streiks,<br />

Demonstrationen und Protesten, die verbunden mit politischen und wirtschaftlichen<br />

Forderungen als Aufstand des 17. Juni (auch Volksaufstand oder Arbeiteraufstand)<br />

bezeichnet werden. Dieser erste antistalinistische Aufstand hatte seine Ursachen einerseits<br />

in der Ignoranz der DDR-Führung gegenüber den Bedürfnissen der Arbeiterklasse,<br />

andererseits in Fehlern der SED (z.B. ihre konsequente Ablehnung einer<br />

Wiedervereinigung Deutschlands, oder die einseitige Förderung der Schwerindustrie<br />

[Stahl-, Eisen- und Bergbau] zum „schnellen“ Aufbau des Sozialismus, die eine<br />

Vernachlässigung anderer Bereiche, wie zum Beispiel der Leichtindustrie [z.B.<br />

Konsumgüter], nach sich zog)<br />

Die sowjetischen Behörden reagierten mit dem Ausruf des Ausnahmezustands für weite<br />

Teile der DDR, so auch für den Sektor Ost-Berlin, der erst 24 Tage später wieder<br />

aufgehoben wurde. Mit diesem Ausruf übernahm die Sowjetunion offiziell die<br />

Regierungsgewalt über die DDR. Die in Berlin in den Bezirken einrückenden sowjetischen<br />

Truppen demonstrierten vor allem Präsenz, denn mit dem Eintreffen der Panzer verlor der<br />

Aufstand schnell an Schwung; zu größeren Angriffen auf das Militär kam es nicht.<br />

Insgesamt waren 16 sowjetische Divisionen mit etwa 20.000 Soldaten im Einsatz, sowie<br />

rund 8000 Angehörige der Kasernierten Volkspolizei (KVP) [Vorläufer der Nationalen<br />

Volksarmee].<br />

Bakelit:<br />

Bakelit ist ein Kunststoff auf der Basis von Phenolharz, der 1905 von dem belgischen<br />

Chemiker Leo Hendrik Baekeland entwickelt und nach ihm benannt wurde. Der hitzestabile<br />

Phenoplast-Werkstoff Bakelit war der erste industriell produzierte Kunststoff. Bakelit-<br />

Formteile werden durch Formpressen und Aushärten eines Phenolharz-Füllstoff-Gemisches<br />

in einer beheizten Form hergestellt. Nach Abkühlung und Aushärtung des Kunststoffes ist<br />

dieser widerstandsfähig gegen mechanische Einwirkungen, Hitze und Säuren und wird als<br />

Isolationsmaterial eingesetzt.<br />

Bezirkssekretär:<br />

Der Bezirkssekretär war der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung.<br />

Ein Bezirk war eine Verwaltungseinheit in der DDR und bildete 1952 bis 1990 die mittlere<br />

Ebene der staatlichen Verwaltung. Durch die Verwaltungsreform von 1952 wurden 14<br />

Bezirke errichtet, die die Aufgaben der Landesregierungen übernahmen. Sie gliederten sich<br />

weiter in Land- und Stadtkreise. Der Staatsrat der DDR stellte Ost-Berlin im Jahr 1961 den<br />

Bezirken gleich.<br />

Die Bezirke waren nach Bevölkerungszahl, Fläche und Status mit den bundesdeutschen<br />

Regierungsbezirken vergleichbar. Die Bezirke hatten keine politische Autonomie wie ein<br />

Bundesland der Bundesrepublik Deutschland inne. Es handelte sich um die mittlere<br />

staatliche Verwaltungsebene zwischen Zentralstaat und Kreis.<br />

Chruschtschow:<br />

Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894-1971), war ein sowjetischer Politiker (von 1953<br />

bis 1964 Parteichef der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion), von 1958-1964<br />

Regierungschef). Im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten vertrat er das Prinzip der<br />

„friedlichen Koexistenz“ (Entscheidung des friedlichen Wettbewerb zwischen Kapitalismus<br />

und Sozialismus) der Systeme und verkündete das Ziel, den Kapitalismus vor allem auf<br />

wirtschaftlicher Ebene zu besiegen.<br />

22


Unter Chruschtschows und Kennedys Führung kam es 1962 zur Kubakrise mit den USA, die<br />

zu einem Dritten Weltkrieg hätte führen können. Die beiden Staatsführer konnten sich im<br />

letzten Moment einigen, die Krise friedlich beizulegen;<br />

Kubakrise:<br />

Als Kubakrise ist eine politische Krise zwischen den beiden Weltmächten USA und der<br />

UdSSR gemeint, die 13 Tage im Jahr 1962 andauerte. Zuvor hatten die USA 1959 in Italien<br />

und der Türkei ein Raketenschild installiert, von dem aus Atomwaffen auf Russland<br />

abgefeuert werden konnten. 1960 begannen sie mit Aufklärungsflügen über Kuba, wo die<br />

UdSSR ab 1962 Truppen stationierte. Während dieser Krise stand die Welt vor einem<br />

atomaren Krieg, der den 3.Weltkrieg hätte bedeuten können.<br />

Dumper:<br />

Fahrzeug zum Abtransport von losem Bauschutt, etc.<br />

Fließfertigung:<br />

Fließfertigung (Fließbandproduktion) ist eine Sonderform der Reihenfertigung.<br />

Fließbandproduktion liegt vor, wenn die einzelnen Arbeitsverrichtungen ohne Pause in<br />

zeitlich genau abgestimmter Reihenfolge die einzelnen Produktionsstufen vom Rohmaterial<br />

bis zum Fertigprodukt durchlaufen.<br />

Gagarin:<br />

Juri Alexejewitsch Gagarin (1934-1968) war ein sowjetischer Kosmonaut und der erste<br />

Mensch im Weltraum. Somit hatte damals die Sowjetunion den „Weltraumwettlauf“ gegen<br />

die USA gewonnen. Sie schickten den ersten Satelliten ins All (Sputnik 1), das erste<br />

Lebewesen (die Hündin Leika) und den ersten Menschen (s.o.). Die USA holten die<br />

Sowjetunion wiederum ein, als sie eine bemannte Mission zum Mond erfolgreich<br />

absolvierten. Dieser Wettlauf war nicht nur wissenschaftlicher Art, sondern auch ein<br />

politisches Kräftemessen und ein Ringen um die Weltmacht.<br />

Kader:<br />

Im Sprachgebrauch in der DDR bezeichnete der Begriff allgemein Führungskräfte (oder<br />

allgemein Personal)<br />

Parteisekretär:<br />

Parteisekretäre waren in der SED im Parteistatut benannte Funktionäre, die von folgenden<br />

Organen der Partei gewählt wurden und deren Parteileitungen sie vorstanden:<br />

Das Zentralkomitee der SED (ZK) wählte seinen leitenden Generalsekretär. Von 1953 bis<br />

1976 wurde an seiner Stelle der Erste Sekretär des ZK gewählt.<br />

Das Zentralkomitee wählte die Sekretäre, die das Sekretariat bildeten. Es hatte vornehmlich<br />

die Aufgabe, die laufende Arbeit, die Kontrolle der Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse<br />

und die Auswahl der Kader abzusichern.<br />

Auch die Bezirks-, Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksleitungen wählten Sekretäre.<br />

Die Bestätigung der Sekretäre erfolgte entsprechend der Nomenklatur (Zuständigkeit für<br />

die Besetzung bestimmter Positionen).<br />

Kompetenzen der Parteisekretäre<br />

Die von der SED beanspruchte Führungsrolle in der Gesellschaft wirkte bis an die Basis.<br />

Die Parteisekretäre in den Betrieben waren den staatlichen und genossenschaftlichen<br />

Leitungen (z.B. Direktoren, Abteilungs-, Bereichsleitern, Vorsitzenden der<br />

Genossenschaften) zur Seite gestellt. In der ideologisch definierten Gesellschaft hatten sie<br />

unter anderem die Sicherung des politisch-ideologischen und organisatorischen Einflusses<br />

der Partei zur Verwirklichung ihrer führenden Rolle in allen gewerkschaftlichen Bereichen<br />

zur Aufgabe. Das war durch folgende Gegebenheiten real umgesetzt:<br />

Der Parteisekretär hatte das Recht, an den Produktionsberatungen und Leitungssitzungen<br />

teilzunehmen. In volkseigenen Betrieben fiel keine wesentliche Entscheidung ohne die SED.<br />

23


Ponton:<br />

hier: Synonym für Brücke (eig.: ein Schwimmkörper)<br />

sozialistische Moral:<br />

Walter Ulbricht (zu der Zeit Generalsekretär der SED) verkündete auf dem 5. Parteitag der<br />

SED (10. – 16. Juli 1958) folgende Gebote der sozialistischen Moral und Ethik (auch zehn<br />

Gebote der sozialistischen Menschen genannt). Sie fassten die politischen Pflichten jedes<br />

DDR-Bürgers zusammen, wurden vom sechsten SED-Parteitag 1963 in das Parteiprogramm<br />

der SED aufgenommen und standen 1976 darin:<br />

1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen<br />

sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.<br />

2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die<br />

Verteidigung der Arbeiter- und Bauernmacht einzusetzen.<br />

3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.<br />

4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem<br />

besseren Leben für alle Werktätigen.<br />

5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der<br />

kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.<br />

6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.<br />

7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische<br />

Arbeitsdisziplin festigen.<br />

8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten,<br />

charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.<br />

9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.<br />

10. Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale<br />

Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.<br />

VEB:<br />

Der Volkseigene Betrieb (VEB) war eine Rechtsform der Industrie- und<br />

Dienstleistungsbetreibe in der Sowjetischen Besatzungszone und in der späteren DDR. Ihre<br />

Gründung, nach Vorbild ähnlicher Betriebe in der Sowjetunion, war Ergebnis des unter<br />

sowjetischer Besatzung nach Ende des Zweiten Weltkrieges durchgeführten Prozesses der<br />

Enteignung und Verstaatlichung von Privatunternehmen. Ab 1948 waren sie die<br />

ökonomischen Basiseinheiten der Zentralverwaltungswirtschaft. Sie befanden sich somit<br />

in Volkseigentum und unterlagen der DDR Staats- und Parteiführung. Ihr Verkauf an<br />

Privatpersonen war verboten. Dem eigentlichen Betriebsnamen wurde häufig noch ein<br />

Ehrenname hinzugefügt, bspw. VEB Kombinat Chemische Werke „Walter Ulbricht“ Leuna.<br />

VVB:<br />

Die VVB (Vereinigung Volkseigener Betriebe) war ein Konstrukt der sozialistischen<br />

Planwirtschaft der Sowjetischen Besatzungszone. Die ersten landes- und<br />

branchenbezogenen VVB wurden am 23. April 1948 gegründet.<br />

Das Ziel war, kleinere Betriebe mit großen Volkseigenen Betrieben zur Erzielung von<br />

Rationalisierungseffekten zu „vereinigen“, wenn die Erzeugnisstrukturen ähnlich war.<br />

Damit erhielt man einerseits Leitungsstrukturen, die politisch wichtige Entschlüsse von<br />

oben nach unten konsequent durchsetzten und andererseits konnten unwirtschaftliche<br />

parallele Entwicklungen ähnlicher Erzeugnisse zur Einsparung von Rohstoffen und<br />

Reduzierung von Zulieferungen aus dem nicht-sozialistischen Ausland vermieden werden.<br />

1948 entstanden insgesamt 75 Vereinigungen Volkseigener Betriebe.<br />

Zyklogramm:<br />

Graphische Darstellung eines geschlossenen, sich periodisch wiederholenden<br />

Arbeitsprozesses. Die Arbeit wird so strukturiert, dass in sich abgestimmt Arbeitsgänge<br />

einen geschlossenen Kreislauf ergeben. Die einzelnen Phasen und der Gesamtprozess<br />

werden im Zyklogramm festgehalten.<br />

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