Widerstand, Wahrheit und Gewaltlosigkeit - Katholische ...
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Österreichische Sektion<br />
Mengerstraße 23, 4040 Linz<br />
<strong>Widerstand</strong>, <strong>Wahrheit</strong> <strong>und</strong> <strong>Gewaltlosigkeit</strong><br />
Zu einer fiktiven Begegnung Dietrich Bonhoeffers mit Mahatma Gandhi<br />
Vortrag von Severin Renoldner<br />
am Symposium „Glauben lernen in einer mündigen Welt“<br />
zum 100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer am 4.2.2006<br />
im Evangelischen Studentenheim Dietrich Bonhoeffer in Linz<br />
Es ist bezeugt, dass Dietrich Bonhoeffer 1934 brieflich 1 mit Mahatma (eigentlich:<br />
Mohandas Karamchand) Gandhi in Kontakt trat um von ihm zu lernen <strong>und</strong> 1935 nach<br />
Indien zu reisen. Da es zu dieser Reise nie gekommen ist, beziehen sich alle<br />
Konstruktionen über einen Dialog Bonhoeffers mit Gandhi auf eine fiktive, nicht<br />
stattgef<strong>und</strong>ene Auseinandersetzung. Wir lassen deshalb Aussagen, Gedanken <strong>und</strong><br />
Textpassagen beider Personen miteinander korrespondieren. Wahrscheinlich war<br />
Gandhi die Bedeutung Bonhoeffers nicht bewusst, der ihn – für einen<br />
selbstbewussten evangelischen Spitzentheologen überraschend – demütig als<br />
Schüler angesprochen haben <strong>und</strong> um einen Besuch gebeten haben dürfte, um von<br />
ihm – dem Hindu – etwas zu lernen.<br />
1. Vorbemerkung zu den Personen <strong>und</strong> ihrer Situation<br />
Mohandas Karamchand Gandhi (1869-1948) war um 36 Jahre älter als Bonhoeffer<br />
<strong>und</strong> seit Ende des Ersten Weltkrieges, besonders aber seit seinem legendären<br />
Salzmarsch von 1930, der die Macht des britischen Empire erfolgreich<br />
herausgefordert hatte, auch außerhalb Englands ein Begriff. Er gehörte zur<br />
Spitzenpolitik der damaligen Welt, <strong>und</strong> schrieb z.B. zwei Briefe an Hitler, um ihn vom<br />
Krieg abzubringen. Gleichwohl war er kein genuiner Politiker, sondern doch eher eine<br />
ethisch-religiöse prominente Persönlichkeit, die sich eben in das politische Leben<br />
eingebracht hatte, aber auch immer wieder politische Ämter vermied <strong>und</strong> ausschlug,<br />
wo sie ihm angetragen wurden. Zeitweise war er Vorsitzender der im<br />
Unabhängigkeitskampf (<strong>und</strong> auch in der späteren indischen Politik) bedeutenden<br />
1 Erhalten ist ein Brief Gandhis an Bonhoeffer vom 1. November 1934, als Antwort auf einen Brief<br />
Bonhoeffers, der nicht erhalten ist. Ferner gibt es einen Empfehlungsbrief des ökumenisch<br />
engagierten Bischof George Bell von Chichester an Gandhi, in dem er diesen bittet, Bonhoeffer<br />
Anfang 1935 als Gast <strong>und</strong> wichtigen theologischen Gesprächspartner zu empfangen. Bonhoeffer<br />
wolle einige Zeit in der Gemeinschaft Gandhis mitleben. Bonhoeffer <strong>und</strong> Bischof Bell waren<br />
befre<strong>und</strong>et. Die Briefe sind englisch geschrieben <strong>und</strong> in der neuen Bonhoeffer-Werkausgabe<br />
veröffentlicht: Dietrich Bonhoeffer, Werke Bd. 13, Teil 1 (Briefe <strong>und</strong> Dokumente), Nr. 154, 155 u. 158,<br />
S. 210-214 (Dt. Übers. S. 497-500). Bonhoeffer hat während seines London-Aufenthaltes 1933/34 den<br />
in England äußerst populären Gandhi <strong>und</strong> seine Ideen studiert. Gandhi war bei seinem London-<br />
Aufenthalt 1931 wochenlang als Sensation in der britischen Presse dargestellt worden.<br />
1
Kongress-Partei gewesen, zog sich aber dann auf die Rolle einer moralischen<br />
Autorität im Führungskreis der Bewegung zurück. Umgekehrt besaß er keine formale<br />
religiöse Autorität im Sinn eines Priesters, sondern lebte von der Ausstrahlung einer<br />
persönlichen religiös-ethischen Botschaft, die er verallgemeinerte <strong>und</strong> als eigentlich<br />
in allen großen Weltreligionen implizit angelegt betrachtete. Gerade das mochte ihn<br />
faszinierend erscheinen lassen. In den 20er <strong>und</strong> 30er Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
reisten viele europäische Bew<strong>und</strong>erer zu Gandhi nach Indien.<br />
Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), wollte mit knapp 30 Jahren seinen Horizont in<br />
Indien erweitern. Wenn es schon beeindruckend ist, dass Bonhoeffer im Sommer<br />
1939 – in voller Ahnung um die sich abzeichnenden Katastrophen – aus den USA ins<br />
Deutsche Reich zurück kehrte, so ist es umso überraschender, dass er einige Jahre<br />
zuvor nach Indien reisen wollte. Bonhoeffer, der ein Interesse für die katholische<br />
Kirche gezeigt hatte, den Islam als Dialogpartner ernst nahm – was in dieser Zeit<br />
selten war – wollte wohl nicht in erster Linie Religionswissenschaft treiben, wenn er<br />
sich bei einem tiefgläubigen Hindu als Gast anmeldete. Er überschritt damit eine<br />
weitere Grenze: Reisen in die USA (1930 <strong>und</strong> 1939) hatte ihn zu den Feinden<br />
Hitlerdeutschlands geführt, ihm die Freiheit der anglo-amerikanischen Welt eröffnet.<br />
In Indien hätte er wieder den Boden der Feinde Englands <strong>und</strong> der USA betreten. Die<br />
indische Unabhängigkeitsbewegung stand in offener Opposition gegen das Empire,<br />
<strong>und</strong> war damit am Vorabend des 2. Weltkrieges zumindest indirekt verbündeter der<br />
Mächte Japans <strong>und</strong> Deutschlands (auch wenn die Spitze der Kongress-Partei, allen<br />
voran Gandhi, ein solches Bündnis kategorisch ablehnten!).<br />
In der westlichen Öffentlichkeit wird oft behauptet, Gandhi habe mit den Briten als<br />
„gentlemen“ verhandeln können, <strong>und</strong> daher sei seine Art von <strong>Widerstand</strong> etwas<br />
Leichteres <strong>und</strong> Unvergleichbares mit dem <strong>Widerstand</strong> in Deutschland gewesen.<br />
Diese Relativierung hat offenbar zum Ziel, das moralische Unrecht der anderen<br />
europäischen Kolonialmächte abzuschwächen oder zu rechtfertigen. Demgegenüber<br />
war sich Bonhoeffer – der in den USA von den schwarzen Christengemeinden<br />
besonders beeindruckt war – sicherlich bewusst, mit welchen Verbrechen man es bei<br />
der Kolonialgeschichte zu tun hatte.<br />
Bonhoeffers „zweite“ Grenzüberschreitung bestand also nicht nur im Dialog der<br />
Religionen, sondern in einer gewissen Relativierung der moralischen Überlegenheit<br />
der Engländer (<strong>und</strong> Amerikaner). Die Begegnung mit Gandhi erinnerte schmerzlich<br />
an das koloniale Unrecht, an die Ermordung h<strong>und</strong>erttausender Inder <strong>und</strong> Afrikaner,<br />
an Deportation <strong>und</strong> Sklaverei. Bonhoeffer war sich zweifellos im Klaren darüber, was<br />
die europäischen Mächte in den Kolonien der „3. Welt“ angerichtet hatten <strong>und</strong> er<br />
betrachtete die Briten in Indien wohl nicht als gentlemen.<br />
Noch am 12.4.1919 hatten britische Soldaten im „Blutbad von Amritsar“ ein<br />
öffentliches Massaker an 1600 friedlichen DemonstrantInnen verübt – eine mutwillige<br />
Abschreckung gegen Gandhis Unabhängigkeitskampagnen. Am Jallianwala Bagh,<br />
einem öffentlichen Platz, hatte sich die harmlose Menge versammelt, als der Platz<br />
vom Militär hermetisch abgeriegelt <strong>und</strong> die Menschenmenge – in der sich auch<br />
Kinder befanden – ohne Vorwarnung mit scharfer Munition bis zur letzten Person<br />
niedergeschossen wurde. 2 Gandhi selbst hatte 10 Jahre in Gefängnissen verbracht.<br />
Vor seinen Augen waren Tausende verhaftet, verletzt <strong>und</strong> zu Tode geprügelt worden.<br />
2 Vgl. Grabner, 148-150. Einige H<strong>und</strong>ert Personen haben das Massaker schwer verletzt überlebt.<br />
2
Dennoch wird ihm bis heute – im geschützten Westen – entgegen gehalten, er habe<br />
nur mit „britischen gentlemen“ zu tun gehabt. Eine diesbezüglich enttäuschende,<br />
verständnislose Bemerkung findet sich auch in dem von Ernst Feil herausgegebenen<br />
Bonhoeffer-Band „Zivilcourage <strong>und</strong> demokratische Kultur“. Auch Feil übernimmt hier<br />
das von westlichen, v.a. anglo-amerikanischen Quellen gespeiste Vorurteil, Gandhi<br />
habe es vergleichsweise leicht gehabt, da seine Gegner ja nicht brutale Diktatoren<br />
wie Hitler, sondern „britische gentlemen“ gewesen seien. 3<br />
Ich gehe davon aus, dass Bonhoeffer die europäische Wirklichkeit – gerade im<br />
Wissen um das Schicksal der Schwarzen in den USA <strong>und</strong> sein Interesse für Islam<br />
<strong>und</strong> Kolonialländer – kritischer einschätzte, <strong>und</strong> von daher überhaupt zu einem<br />
Dialog mit Gandhi motiviert <strong>und</strong> befähigt war. Bonhoeffer könnte erkannt haben, dass<br />
Gandhis enorme politische Wirkung – mit gewaltfreien Mitteln – nicht auf der noblen<br />
Art der Engländer <strong>und</strong> ihrer Soldaten in Indien beruhte, sondern auf seiner<br />
gewinnenden Fähigkeit, Millionen von InderInnen ihr Schicksal bewusst zu machen –<br />
<strong>und</strong> ihnen Handlungsmöglichkeiten zu zeigen. Millionen analphabetischer Inderinnen<br />
<strong>und</strong> Inder verstanden Gandhis gut gewählte Zeichensprache – z.B. die Aufforderung,<br />
eigenhändig Salz zu schöpfen <strong>und</strong> zu rösten, was die Kolonialmacht monopolisiert<br />
<strong>und</strong> verteuert hatte, wo doch an Indiens Küsten Salz ganz leicht gewonnen werden<br />
konnte, <strong>und</strong> in jedem, auch dem ärmsten Haushalt notwendig gebraucht wurde.<br />
Sie verstanden seine zeichenhafte Erzeugung von eigenen, indisch gewebten<br />
Textilien, nachdem das Empire Millionen Menschen um die Textilversorgung<br />
gebracht hatten, den Spinnern zu Zehntausenden die Arme zerquetscht, <strong>und</strong> die<br />
Rohstoffe unverarbeitet nach England exportiert hatten. Gandhi hat mehr Zeit dafür<br />
aufgewendet, im ganzen Land Spinnerei- <strong>und</strong> Webereivereinigungen zu gründen, als<br />
auf politischen Versammlungen über die Unabhängigkeit Indiens zu diskutieren. Er<br />
war der Ansicht, dass diese ökonomische Selbstbefähigung das Wesen der<br />
Unabhängigkeit Indiens ausmachte.<br />
Während Bonhoeffers politisches Thema 1933 plötzlich <strong>und</strong> unvorbereitet der<br />
<strong>Widerstand</strong> gegen das totalitäre, rassistische Hitlerdeutschland wurde, hatte Gandhi<br />
ein politisches Befreiungsthema, das ihn schon jahrzehntelang begleitete. Allerdings<br />
war Gandhi überzeugt, dass die indische Nation (einschließlich des heutigen<br />
Pakistan <strong>und</strong> Bangladesh) geeint werden müsste. Nur so könne Indien unabhängig<br />
im Vollsinn werden. Seit seiner südafrikanischen Periode (1894-1914) rang er um die<br />
Integration der vielen Volksgruppen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften Indiens, wofür er<br />
eine Art eigene Theologie der Multikulturalität entwickelte: "Die <strong>Wahrheit</strong> ist nicht das<br />
ausschließliche Eigentum einer einzelnen heiligen Schrift. Die Forderung der Zeit ist<br />
nicht eine einzige Religion, sondern die gegenseitige Achtung <strong>und</strong> Duldsamkeit der<br />
Anhänger aller Religionen. Wir wollen keine Gleichschaltung, sondern die Einheit in<br />
der Vielheit. … Und sind wir selbst unvollkommen, so muss Religion, wie wir sie<br />
auffassen, notwendig ebenfalls unvollkommen sein. Wir haben die vollkommene<br />
Religion noch nicht erfasst, ebenso wenig, wie wir Gott erfasst haben.“ 4<br />
Bonhoeffer, der seinerseits in Italien Interesse für den Katholizismus, in den USA für<br />
die Kirchen der Schwarzen <strong>und</strong> die Problematik der Sklaverei <strong>und</strong> Kolonialpolitik<br />
entwickelt hatte, sprach sich für einen Dialog mit dem Islam aus. Konsens zwischen<br />
ihm <strong>und</strong> Gandhi hätte darin bestehen können, dass die gegenseitige Achtung der<br />
3 Vgl. Zivilcourage <strong>und</strong> demokratische Kultur, 27.<br />
4 Gandhi, Gedanken von Mahatma Gandhi, 7-9.<br />
3
Weltreligionen Voraussetzung für Weltfrieden – analog zum Projekt „Weltethos“ nach<br />
Hans Küng – sein könnte. Gandhi betonte zudem, dass niemand seine anerzogene<br />
Konfession wechseln oder verlassen sollte. Neben der gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Gleichwertigkeit sei eben auch die eigene Identität als ProtestantIn, KatholikIn,<br />
Hindu, Moslem oder Sikh wichtig für einen guten Dialog. Z.B. musste Gandhi seine<br />
europäischen SchülerInnen <strong>und</strong> „fans“ immer wieder davon abhalten, aus<br />
Begeisterung Hindus zu werden, indem er konsequent forderte, den Weg der<br />
gewaltfreien Liebe in der eigenen, angestammten Konfession zu gehen.<br />
2. Religion <strong>und</strong> Ethik<br />
Im Zusammenhang mit den „Mandaten Gottes“ 5 spricht Bonhoeffer davon, dass<br />
keine heilige Schrift oder Ethik, kein Moralhandbuch oder eine religiöse Autorität<br />
unmittelbar zu uns spricht, wenn wir uns ethisch im Sinn des Glaubens verhalten.<br />
Notwendig sei vielmehr die persönliche verantwortete Entscheidung, also das<br />
Gewissen – von Gandhi als die „innere Stimme“ 6 bezeichnet. „Es musste sich<br />
herausstellen, dass eine entscheidende Gr<strong>und</strong>erkenntnis dem Deutschen noch<br />
fehlte: die von der Notwendigkeit der freien verantwortlichen Tat auch gegen Beruf<br />
<strong>und</strong> Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit,<br />
andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte. Zivilcourage<br />
aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Menschen erwachsen. Die<br />
Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie<br />
beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert <strong>und</strong><br />
der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung <strong>und</strong> Trost zuspricht.“ 7<br />
Franz Jägerstätter, ein schulisch wenig gebildeter oberösterreichischer Bauer <strong>und</strong><br />
Kriegsdienstverweigerer wurde am 9.8.1943 von den Nazis ermordet. In seiner<br />
Biographie findet sich ein Gespräch mit dem damaligen Linzer Diözesanbischof<br />
Joseph C. Fließer: der Bischof will Jägerstätter überzeugen, sein Leben zu retten <strong>und</strong><br />
dem Einberufungsbefehl zu folgen. Dabei spricht er Jägerstätter als einfachem<br />
Staatsbürger die Kompetenz ab, über die komplizierten Entscheidungen der<br />
Obrigkeit, d.h. auch über die Rechtmäßigkeit eines „gerechten Krieges“ nach der<br />
katholischen Morallehre urteilen zu können. 8 Jägerstätters Einwand, die Bischöfe <strong>und</strong><br />
Priester könnten im NS-Staat nicht frei sprechen, <strong>und</strong> es gäbe sachliche Gründe für<br />
die Unrechtmäßigkeit des Krieges, führt damit sinngemäß an die staatlichen<br />
Behörden weiter: letztlich könnten – so der Bischof – nur sie über die Legitimität von<br />
Krieg entscheiden, da nur sie als Experten das wirklich notwendige (z.B.<br />
geheimdienstliche <strong>und</strong> militärische) Wissen besäßen. M. a. W. wäre Adolf Hitler der<br />
einzige gewesen, der sinngemäß Jägerstätters Frage nach der Rechtmäßigkeit<br />
beurteilen hätte dürfen. Es ist deutlich, dass eine solche Moral nach 1945 nicht mehr<br />
praktizierbar war <strong>und</strong> daher vom 2. Vatikanischen Konzil ausdrücklich revidiert<br />
wurde. 9 Man hatte die christliche Obrigkeitsgläubigkeit entschieden zu weit getrieben.<br />
Jägerstätter, wie auch Bonhoeffer, stehen in diesem Sinn als Zeugen für die<br />
Gewissensverantwortung des / der einzelnen Christen/in. Auf der Suche nach<br />
religiösem Pluralismus versucht Gandhi, den Namen Gottes in eine allgemeingültige<br />
5 Vgl. dazu die Ausführungen von Ulrich Körtner am heutigen Vormittag.<br />
6 Vgl. Renoldner, <strong>Widerstand</strong> aus Liebe, 41-44.<br />
7 Zivilcourage <strong>und</strong> demokratische Kultur, 17.<br />
8 Vgl. Putz, Franz Jägerstätter, 147-170.<br />
9 Vgl. Gaudium et Spes Nr. 79. Der Fall Jägerstätter wurde ausdrücklich erörtert.<br />
4
Form zu übersetzen. Diese soll nicht nur Hindus <strong>und</strong> Moslems, sondern auch<br />
Atheisten <strong>und</strong> Christen zugänglich sein. 1931 schreibt er: "Wenn es je für den<br />
Menschen möglich ist, die vollständigste Beschreibung Gottes zu geben, dann ist es<br />
die: 'Gott ist die <strong>Wahrheit</strong>'. Vor zwei Jahren ging ich noch einen Schritt weiter <strong>und</strong><br />
sagte: 'Die <strong>Wahrheit</strong> ist Gott'.“ 10 Gandhi meint, auch Atheisten würden anerkennen,<br />
dass man sich um <strong>Wahrheit</strong> bemühen müsse. Das sei eine gemeinsame religiöse<br />
Gr<strong>und</strong>lage. Die <strong>Wahrheit</strong>, in Sanskrit <strong>und</strong> Hindi „sat“ oder „satya“, ist Gott.<br />
Wie aber kann der Mensch zu Gott (= zur <strong>Wahrheit</strong>) finden? Nur auf dem Weg der<br />
aktiven Liebe <strong>und</strong> Nicht-Gewalt, die auf Hindi als „ahimsa“ bezeichnet wird.<br />
Christliche Liebe nach der Bergpredigt <strong>und</strong> die Botschaft der Bhagavatgita von der<br />
allumfassenden Liebe ahimsa, seien dasselbe. Auf jeden Fall könne sich Religion<br />
nur artikulieren, wenn sie aktiv als persönlich verantwortete Liebe gelebt wird.<br />
"Religion, die praktischen Problemen nicht Rechnung trägt <strong>und</strong> nicht dazu beiträgt,<br />
sie zu lösen, ist keine Religion. Und deshalb lege ich Ihnen eine religiöse<br />
Angelegenheit in einer praktischen Form vor." 11<br />
Gandhi <strong>und</strong> Bonhoeffer zeigen sich an diesem Punkt als Verantwortungsethiker nach<br />
der Definition Max Webers, obwohl sie oberflächlich gesehen gesinnungsethisch sein<br />
könnten: nur auf dem eigenen Gewissen aufbauend, nach höheren Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
handelnd. In Wirklichkeit sind sowohl Bonhoeffer als auch Gandhi nach klugen<br />
Strategien vorgegangen. Sie haben sich zweifellos davon leiten lassen, welchen Sinn<br />
<strong>und</strong> Zweck ihr jeweiliges politisches Tun verfolgt. „Es ist zwar nicht wahr, dass der<br />
Erfolg auch die böse Tat <strong>und</strong> die verwerflichen Mittel rechtfertigt, aber ebenso wenig<br />
ist es möglich, den Erfolg als etwas ethisch völlig Neutrales zu betrachten. Es ist<br />
eben doch so, dass der geschichtliche Erfolg den Boden schafft, auf dem weiterhin<br />
allein gelebt werden kann; <strong>und</strong> es bleibt sehr fraglich, ob es ethisch verantwortlicher<br />
ist, als ein Don Quijote gegen eine neue Zeit zu Felde zu ziehen oder im<br />
Eingeständnis der eigenen Niederlage <strong>und</strong> schließlich in freier Einwilligung in sie<br />
einer neuen Zeit zu dienen. … Solange das Gute Erfolg hat, können wir uns den<br />
Luxus leisten, den Erfolg für ethisch irrelevant zu halten. Wenn aber einmal böse<br />
Mittel zum Erfolg führen, dann entsteht das Problem. Angesichts solcher Lage<br />
erfahren wir, dass weder theoretisch zuschauendes Kritisieren <strong>und</strong><br />
Rechthabenwollen, also die Weigerung, sich auf den Boden der Tatsachen zu<br />
stellen, noch Opportunismus, also die Selbstpreisgabe <strong>und</strong> Kapitulation angesichts<br />
des Erfolges, unserer Aufgabe gerecht werden. Weder beleidigte Kritiker noch<br />
Opportunisten wollen <strong>und</strong> dürfen wir sein, sondern an der geschichtlichen Gestaltung<br />
– von Fall zu Fall <strong>und</strong> in jedem Augenblick, als Sieger oder als Unterlegene –<br />
Mitverantwortliche.“ 12 Bonhoeffer ist sich – wie Gandhi – bewusst, dass er – nach<br />
Max Weber – für die Folgen seines Handelns aufkommen muss, seine Hände also<br />
nicht sauber bewahren kann, z.B. bei der Überlegung einer Ausschaltung Hitlers.<br />
In seinen Betrachtungen zur Bergpredigt – von Gandhi als das Herzstück des<br />
Christentums betrachtet – befasst sich Bonhoeffer eingehend mit der Frage der<br />
Feindesliebe. „Hier fällt zum ersten Male in der Bergpredigt das Wort, in dem alles<br />
Gesagte zusammengefasst ist: Liebe, <strong>und</strong> sogleich in der eindeutigen Bestimmung<br />
10 Gandhi, Freiheit ohne Gewalt, 93f. Gandhi geht davon aus, dass auch Atheisten Gott verehren,<br />
wenn sie an die <strong>Wahrheit</strong> glauben. Sie verwenden nur einen anderen Gottesnamen.<br />
11 Sharp, 289.<br />
12 Bonhoeffer, <strong>Widerstand</strong> <strong>und</strong> Ergebung, 13f.<br />
5
der Feindesliebe. 13 Liebe zum Bruder wäre ein missverständliches Gebot, Liebe zum<br />
Feind macht unmissverständlich deutlich, was Jesus will.<br />
Der Feind war den Jüngern kein leerer Begriff. Sie kannten ihn wohl. Sie begegneten<br />
ihm täglich. Da waren die, die ihnen fluchten als Zerstörern des Glaubens <strong>und</strong><br />
Gesetzesübertretern; da waren die, die sie hassten, weil sie alles verlassen hatten<br />
um Jesus willen, alles gering achteten um seiner Gemeinschaft willen; da warten die,<br />
von denen sie beleidigt <strong>und</strong> verhöhnt wurden um ihrer Schwäche <strong>und</strong> Demut willen;<br />
da waren die Verfolger, die in der Jüngerschar eine aufziehende revolutionäre<br />
Gefahr witterten <strong>und</strong> auf ihre Vernichtung ausgingen. Der eine Feind stand also bei<br />
den Vertretern der Volksfrömmigkeit, die den alleinigen Anspruch Jesu nicht ertragen<br />
konnten. Er war mit Macht <strong>und</strong> Ansehen gerüstet. Der andere Feind, an den jeder<br />
Jude denken musste, war der politische Feind in Rom. Auch ihn spürte man kräftig<br />
als Bedrückung. Neben diesen beiden feindseligen Gruppen stand all die persönliche<br />
Feindschaft, die den trifft, der nicht den Weg der Mehrzahl mitgeht, tägliche<br />
Verleumdung, Schmähung <strong>und</strong> Bedrohung.“ 14<br />
Beide Persönlichkeiten waren sich als <strong>Widerstand</strong>skämpfer darüber klar, dass es<br />
Feinde gibt. Feindesliebe bedeutet nicht, diese Tatsache naiv zu übersehen, oder<br />
romantisch zu verschleiern. Verleugnung der Tatsachen macht handlungsunfähig.<br />
Die ethische Frage, die sich für Bonhoeffer wie Gandhi stellt, ist der liebevoll<br />
konstruktive Umgang mit den Feinden. <strong>Widerstand</strong> gegen die Sache, aber nicht<br />
Zerstörung der Person, ist bei Gandhi eindrucksvoll im Sinn der Bergpredigt<br />
entschieden. Bei Bonhoeffer liegt der Schwerpunkt noch mehr auf dem letztlich<br />
effizienten – vielleicht kurzfristiger gedachten – Ergebnis. Während es Gandhi darum<br />
zu tun ist, Unabhängigkeit von innen her in Indien reifen zu lassen, sie sich selbst zu<br />
erarbeiten, will Bonhoeffer im <strong>Widerstand</strong> eine rasche Wendung der Geschichte<br />
herbeiführen. Gandhi hätte die formelle Unabhängigkeit u.U. auch sehr langfristig<br />
erwartet, da es ihm um einen erzieherischen Prozess an den Indern zu tun war.<br />
Bei beiden aber überwiegt das Moment der entschlossenen Tat. Das Tun, nicht das<br />
Beten, Denken oder Hoffen, entscheidet im Glauben. Das fordere die Bergpredigt,<br />
wo sie davon redet, dass man nicht „Herr, Herr!“ sagen, sondern „den Willen des<br />
Vaters tun“ solle. „Gott wird uns einmal nicht fragen, ob wir evangelisch gewesen<br />
sind, sondern ob wir seinen Willen getan haben. Alle wird er danach fragen <strong>und</strong> uns<br />
ebenso. Die Grenzen der Kirche sind nicht die Grenzen eines Privilegs, sondern die<br />
der gnädigen Wahl <strong>und</strong> Berufung Gottes. … ‚sagen’ <strong>und</strong> ‚tun’ – das ist hier nicht<br />
ohne weiteres als das Verhältnis von Wort <strong>und</strong> Tat gemeint. Vielmehr ist hier von<br />
zweierlei verschiedenen Verhalten des Menschen vor Gott gesprochen. … der ‚Herr-<br />
Herr-Sager’ – das ist hier der Mensch, der auf Gr<strong>und</strong> seines Jasagens einen<br />
Anspruch erhebt, … ‚der Täter’ – das ist hier der im gehorsamen Tun Demütige.<br />
Jener ist der sich selbst durch sein Bekenntnis rechtfertigende, dieser, der Täter, der<br />
auf Gottes Gnade bauende, gehorsame Mensch.“ 15<br />
Die Frage des „Tatchristentums“ scheint hier zu einer Art Generalthema Bonhoeffers<br />
zu werden. Wir befinden uns im Zentrum des Glaubens. Genauso Gandhi: nur über<br />
praktizierte Ahimsa können wir den Weg zu Satya beschreiten. Christus in der<br />
Bergpredigt sage, so Bonhoeffer, genau das. „Es gibt aber kein Tunwollen <strong>und</strong> doch<br />
nicht tun. Wer mit Jesu Wort irgendanders umgeht als durchs Tun, gibt Jesus<br />
13 Mt 5,43-48.<br />
14 Bonhoeffer, Nachfolge, 140f.<br />
15 Ebd., 188. Die Betrachtungen beziehen sich auf Mt 7,15-23.<br />
6
unrecht, sagt Nein zur Bergpredigt, tut sein Wort nicht. Alles Fragen,<br />
Problematisieren <strong>und</strong> Deuten ist Nichttun. Der reiche Jüngling, der Schriftgelehrte<br />
aus Lk. 10 kommen in Sicht. Und wenn ich meinen Glauben, meine gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
Anerkennung diesem Wort gegenüber noch so sehr beteuerte, Jesus nennt das<br />
Nichttun.“ 16<br />
Die Unmittelbarkeit der „inneren Stimme“ tritt bei Gandhi mit derselben ethischen<br />
Botschaft an uns heran. Es gibt keine ethischen Gebote allgemeiner Natur, sondern<br />
die Liebe konkretisiere sich in der jeweiligen Situation. Der katholische Theologe<br />
Gotthard Fuchs zeichnet dieses Gr<strong>und</strong>konzept bei Bonhoeffer so nach: „… der<br />
Glaube ist konkret oder gar nicht. Die Kirche darf keine Prinzipien verkündigen, die<br />
immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind. Denn, was ‚immer’ wahr<br />
ist, ist gerade ‚heute’ nicht wahr: Gott ist uns ‚immer’ gerade ‚heute’ Gott. So hatte er<br />
(Bonhoeffer, Anm.) 1932 geschrieben.“ 17 Es ist zumindest gut denkbar, dass es eine<br />
Verständigung mit Gandhi hierüber geben hätte können.<br />
Ein gewisser Unterschied mag in der hektischen, unvorbereiteten<br />
<strong>Widerstand</strong>ssituation Bonhoeffers nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten<br />
zu sehen sein. Nach Gandhi müssen gewaltfreie Handlungen <strong>und</strong> <strong>Widerstand</strong> lang<br />
vorbereitet <strong>und</strong> „erlitten“ werden. Das Eintreten in das aktive Handeln bei Bonhoeffer<br />
steht unter dem spontanen <strong>und</strong> dringenden Anspruch der Opfer der Diktatur. „Die<br />
Zeit ist kurz. Die Ewigkeit ist lang. Es ist Entscheidungszeit. Wer hier am Wort <strong>und</strong><br />
am Bekenntnis bleibt, bei dem wird in der St<strong>und</strong>e des Gerichts Jesus Christus<br />
stehen. Er wird ihn kennen <strong>und</strong> sich zu ihm stellen, wenn der Verkläger sein Recht<br />
fordern wird. Alle Welt wird Zeuge sein, wenn Jesus unseren Namen nennen wird vor<br />
seinem himmlischen Vater. Wer sich im Leben zu Jesus gehalten hat, zu dem wird<br />
sich Jesus in der Ewigkeit halten. Wer sich aber dieses Herrn <strong>und</strong> dieses Namens<br />
schämt, wer ihn verleugnet, dessen wird sich auch Jesus in der Ewigkeit schämen,<br />
den wird er verleugnen.“ 18<br />
3. Religion <strong>und</strong> Politik – zur Frage von Pazifismus <strong>und</strong> Gewaltfreiheit<br />
Während seiner Studienzeit am Union Theological Seminary in New York 1930/31<br />
begann Bonhoeffer eine Fre<strong>und</strong>schaft mit Jean Lasserre, einem gleichaltrigen<br />
Franzosen. Lasserre beeindruckte Bonhoeffer, gerade weil er aus dem „feindlichen“<br />
Frankreich stammte, <strong>und</strong> in entschiedenem Gehorsam gegen das Friedensgebot<br />
Jesu engagiert war. Rückblickend hat Bonhoeffer in einem Brief diese Begegnung<br />
als seine Bekehrung dargestellt: „Damals war ich furchtbar allein <strong>und</strong> mir selbst<br />
überlassen. Das war sehr schlimm. Dann kam etwas anderes, etwas, was mein<br />
Leben bis heute verändert <strong>und</strong> herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur<br />
Bibel. Das ist auch wieder sehr schlimm zu sagen. Ich hatte schon oft gepredigt, ich<br />
hatte schon viel von der Kirche gesehen, darüber geredet <strong>und</strong> geschrieben – <strong>und</strong> ich<br />
war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild <strong>und</strong> ungebändigt mein eigener<br />
Herr … Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die<br />
Bibel befreit <strong>und</strong> insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles anders geworden.<br />
…<br />
Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher … leidenschaftlich bekämpft<br />
hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf. Und so ging es weiter,<br />
16 Ebd., 191.<br />
17 Fuchs, 23.<br />
18 Bonhoeffer, Nachfolge, 209.<br />
7
Schritt für Schritt. Ich sah <strong>und</strong> dachte gar nicht anderes mehr.“ 19 Die Bergpredigt,<br />
nach Mahatma Gandhi der Höhepunkt <strong>und</strong> Inbegriff des christlichen Glaubens 20 , war<br />
für beide eine theologische Gr<strong>und</strong>lage, ihre politische Übersetzung in die Situation<br />
von Gewaltherrschaft, Unterdrückung <strong>und</strong> <strong>Widerstand</strong>, ein verbindendes Motiv.<br />
Es ist nicht zu übersehen, dass auch Bonhoeffer die Lehre der Bergpredigt auf das<br />
unmittelbar politische Handeln anwenden wollte: „Wie wird Friede? Durch ein System<br />
von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den<br />
verschiedenen Ländern?, d.h. durch die Großbanken, durch das Geld? oder gar<br />
durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des<br />
Friedens? Nein, durch dieses alles aus dem einen Gr<strong>und</strong>e nicht, weil hier überall<br />
Friede <strong>und</strong> Sicherheit verwechselt wird. Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem<br />
Weg zur Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis,<br />
<strong>und</strong> lässt sich nie <strong>und</strong> nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung.<br />
Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, <strong>und</strong> dieses Misstrauen gebiert<br />
wiederum Krieg.“ 21<br />
<strong>Wahrheit</strong> <strong>und</strong> Liebe, Satya <strong>und</strong> Ahimsa, Gott <strong>und</strong> der Weg der Gewaltfreiheit, beides<br />
muss sich nach Gandhi entsprechen; das eine ist der Weg zum anderen. Wege <strong>und</strong><br />
Ziele, Mittel <strong>und</strong> Zwecke müssen übereinstimmen. "Wenn wir uns um das Mittel<br />
kümmern, werden wir das Ziel früher oder später bestimmt erreichen." 22 Es besteht<br />
dabei sogar eine Art Siegesgewissheit, ein Optimismus, der an den langen Atem<br />
appelliert: wenn wir konsequent bei den Mitteln bleiben, werden wir – irgendwann –<br />
sicher Erfolg haben.<br />
Mit dieser Entsprechung von Satya (als Ziel) <strong>und</strong> Ahimsa (als Weg) verbindet Gandhi<br />
seinen Zugang zu Religion immer in einer praktischen, d.h. z.B. sozialen Form: „Es<br />
ist leicht genug, von Gott zu reden, während wir hier sitzen <strong>und</strong> ein gutes Frühstück<br />
hinter uns, ein noch besseres Mittagessen vor uns haben; aber wie soll ich über Gott<br />
zu Millionen reden, die ohne zwei Mahlzeiten am Tag auskommen müssen? Ihnen<br />
kann Gott nur in Form von Brot <strong>und</strong> Butter erscheinen.“ 23<br />
Parallel sagt Bonhoeffer: „Der Hungrige braucht Brot, der Obdachlose Wohnung, der<br />
Entrechtete Recht, der Vereinsamte Gemeinschaft, der Zuchtlose Ordnung, der<br />
Sklave Freiheit. Es wäre eine Lästerung Gottes <strong>und</strong> des Nächsten, den Hungernden<br />
hungrig zu lassen, weil gerade des Nächsten Not Gott am nächsten sei. Um der<br />
Liebe Christi willen, die dem Hungernden gehört wie mir, brechen wir das Brot mit<br />
ihm, teilen wir die Wohnung. Wenn der Hungernde nicht zum Glauben kommt, so fällt<br />
die Schuld auf die, die ihm das Brot verweigerten. Dem Hungernden Brot verschaffen<br />
ist Wegbereitung für das Kommen der Gnade.“ 24<br />
Gandhi hat diesen Ansatz auch als „praktische Religion“ oder als „ethische Religion“<br />
bezeichnet. In seinem Buch „Ethical Religion“ findet sich der Satz: „Religion ist<br />
Moral“ 25 . An anderer Stelle sagt er: "Meine stets gleichbleibende Erfahrung hat mich<br />
19 Ebd., 308-310.<br />
20 Vgl. Renoldner, <strong>Widerstand</strong> aus Liebe, 69-72.75-79.<br />
21 Bonhoeffer, Herausforderung eines Lebens <strong>und</strong> Denkens, 116f.<br />
22 Gandhi, The Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 44, 59 (Übers. v. mir).<br />
23 Gandhi, Vom Geist des Mahatma, 248.<br />
24 Bonhoeffer, Herausforderung eines Lebens <strong>und</strong> Denkens, 117f.<br />
25 Gandhi, The Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 6, 312f (Übers. u. Hervorhebung v. mir). Vgl.<br />
Renoldner, <strong>Widerstand</strong> aus Liebe, 46-48.<br />
8
überzeugt, dass es keinen anderen Gott als die <strong>Wahrheit</strong> gibt. Und wenn nicht jede<br />
Seite dieser Kapitel dem Leser verkündet, Ahimsa sei das einzige Mittel zur<br />
Verkündung dieser <strong>Wahrheit</strong>, so halte ich all meine Mühe beim Schreiben dieser<br />
Kapitel für vergeudet. Und selbst wenn meine Anstrengungen in dieser Richtung sich<br />
als fruchtlos erweisen sollten, müssen die Leser wissen, dass das Mittel, nicht das<br />
Gr<strong>und</strong>prinzip falsch ist. Denn wie aufrichtig auch mein Streben nach Ahimsa<br />
gewesen sein mag, es ist doch noch unvollkommen <strong>und</strong> inadäquat gewesen. Daher<br />
können die wenigen flüchtigen Schimmer, die ich von der <strong>Wahrheit</strong> erhaschen<br />
konnte, schwerlich eine Vorstellung von dem unbeschreiblichen Glanz der <strong>Wahrheit</strong><br />
geben, die eine Million mal stärker ist als der Glanz der Sonne, die wir täglich mit<br />
unseren Augen sehen. Tatsächlich ist, was ich auffangen konnte, nur ein ganz<br />
blasser Abglanz dieses mächtigen Leuchtens. Doch so viel wenigstens kann ich mit<br />
Sicherheit als Ergebnis all meiner Experimente sagen, dass eine vollkommene<br />
Schau der <strong>Wahrheit</strong> nur die Folge völliger Verwirklichung von Ahimsa sein kann. Um<br />
den allgemeinen <strong>und</strong> alles durchdringenden Geist der <strong>Wahrheit</strong> von Angesicht zu<br />
Angesicht zu schauen, muss man fähig sein, das geringste Geschöpf zu lieben wie<br />
sich selbst. Und jemand, der danach strebt, kann es sich nicht leisten, sich aus allen<br />
Bereichen weltlichen Lebens herauszuhalten. Deshalb hat meine Hingabe an die<br />
<strong>Wahrheit</strong> mich ins Feld der Politik getrieben. Ich kann ohne das mindeste Zögern<br />
sagen, dass wer behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was<br />
Religion bedeutet.“ 26<br />
Beide hier untersuchten Persönlichkeiten haben in ihrem Leben damit Ernst<br />
gemacht, diese Gr<strong>und</strong>sätze in ihrer persönlichen Verantwortung auch politisch zu<br />
praktizieren. Dietrich Bonhoeffer analysierte im April 1933 in einem Vortrag vor<br />
Berliner Pfarrern, dass es drei Möglichkeiten gäbe, wie sich die Kirche angesichts der<br />
beginnenden Judenverfolgung verhalten könne. „Das bedeutet eine dreifache<br />
Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber: erstens (wie gesagt) die an<br />
den Staat gerichtete Frage nach dem legitimen staatlichen Charakter seines<br />
Handelns, d.h. die Verantwortlichmachung des Staates. Zweitens der Dienst an den<br />
Opfern des Staatshandelns. Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in<br />
unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde<br />
zugehören. ‚Tut Gutes an jedermann’. In beiden Verhaltungsweisen dient die Kirche<br />
dem freien Staat in ihrer freien Weise, <strong>und</strong> in Zeiten der Rechtswandlung darf die<br />
Kirche sich diesen beiden Aufgaben keinesfalls entziehen. Die dritte Möglichkeit<br />
besteht darin, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad<br />
selbst in die Speichen zu fallen. Solches Handeln wäre mittelbar politisches Handeln<br />
der Kirche <strong>und</strong> nur dann möglich <strong>und</strong> gefordert, wenn die Kirche den Staat in seiner<br />
Recht <strong>und</strong> Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht.“ 27<br />
Dietrich Bonhoeffer hat seine Handlungen gegen den Nationalsozialismus wohl<br />
erwogen; seine Arbeit für Stabsstellen der Wehrmacht diente zur Konspiration im<br />
<strong>Widerstand</strong>. Das führt zur Frage, wie konsequent die gewaltfreie bzw. pazifistische<br />
Option hier im Einzelnen verpflichtet. Eine Wehrdienstverweigerung, wie sie Franz<br />
Jägerstätter als individuelle Entscheidung einging, liegt auf einer anderen Linie.<br />
26 Gandhi, „Autobiografie“, 421f. Das hier als Autobiografie zitierte Werk stammt aus Gandhis Feder<br />
als Antwort auf die Bitte, eine Autobiografie zu verfassen. Es trägt eigentlich den Titel „Die Geschichte<br />
meiner Experimente mit der <strong>Wahrheit</strong>“. Gandhi lehnte Autobiografien ab, da er es nicht für wertvoll<br />
hielt, sein Leben zu erzählen, sondern nur, was darin als Experiment mit der <strong>Wahrheit</strong>, d.h. als<br />
religiöse Anstrengung, um die <strong>Wahrheit</strong> (= Gott) zu finden, gelebt worden sei.<br />
27 Bonhoeffer, Herausforderung eines Lebens <strong>und</strong> Denkens, 58.<br />
9
Bonhoeffer ging es darum, etwas politisch zu bewirken. Ist dafür die Mitarbeit in einer<br />
Armee, die Ermordung eines Diktators, etc. erlaubt? Zweifellos war Bonhoeffer –<br />
verantwortungsethisch – auch bereit, sich seine Hände „schmutzig“ zu machen, um<br />
den Preis, dann selbst als ethisches Vorbild untauglich geworden zu sein.<br />
Versuchen wir uns vorzustellen, er hätte Gandhi dazu befragt, so hätte ihn eine<br />
relativ kritische Sicht Gandhis zur Wehrdienstverweigerung vielleicht überrascht:<br />
„Wenn zwei Nationen kämpfen, besteht die Pflicht des Ahimsa-Bekenners darin, dem<br />
Krieg ein Ende zu machen. Wer dieser Pflicht nicht gewachsen ist, wer nicht die<br />
Macht besitzt, dem Krieg <strong>Widerstand</strong> zu leisten, wer nicht dazu qualifiziert ist, dem<br />
Kriege zu widerstehen, mag am Krieg teilnehmen <strong>und</strong> dennoch aufrichtig versuchen,<br />
sich selbst, sein Volk <strong>und</strong> die Welt vom Kriege zu befreien." 28 Gandhi qualifizierte es<br />
demnach als persönliche Schwäche, wenn man einem Übel nicht gewaltfrei<br />
begegnen könne. Besser sei es dann immer noch, aktiv <strong>und</strong> gewaltsam zu<br />
widerstehen, als gar nicht zu widerstehen, passiv zu bleiben <strong>und</strong> diese (feige) Option<br />
als lügenhafte „Gewaltfreiheit“ auszugeben. "Bloß den Militärdienst zu verweigern,<br />
genügt nicht. Sich weigern, zur gegebenen Zeit Militärdienst zu leisten, heißt etwas<br />
tun, nachdem praktisch die ganze Zeit vergeudet ist, in der das Übel hätte bekämpft<br />
werden können. Militärdienst ist nur ein Symptom für ein tiefersitzendes Übel. Ich<br />
behaupte, dass jene, die nicht in der Militär-Stammrolle stehen, sich gleichermaßen<br />
am Übel beteiligen, wenn sie den Staat auf andere Weise unterstützen. ...<br />
Jedermann, alt oder jung, nimmt teil an der Sünde, wenn er zum Unterhalte des<br />
Staates die Steuern zahlt. ... Militärdienstverweigerung ist weit oberflächlicher als die<br />
Nicht-Zusammenarbeit mit dem ganzen System, das den Staat trägt." 29 Das<br />
bedeutet: „Ich machte vom Standpunkt der Ahimsa aus keinen Unterschied zwischen<br />
Kämpfern <strong>und</strong> Nichtkämpfern. Wer sich freiwillig in den Dienst einer Bande von<br />
Räubern stellt, indem er als deren Fahrer fungiert oder Schmiere steht, während sie<br />
am Werk sind, oder sie pflegt, wenn sie verw<strong>und</strong>et sind, ist ebenso der Räuberei<br />
schuldig wie die Räuber selbst. Gleichermaßen können jene, die sich darauf<br />
beschränken, die Verw<strong>und</strong>eten in einer Schlacht zu pflegen, von der Kriegsschuld<br />
nicht freigesprochen werden." 30<br />
Gandhis Konsequenz daraus ist aber nicht, dass Militärdienst, gewaltsame Befreiung<br />
willkürlich eingegangen werden soll, sondern die moralische Pflicht, ein<br />
Unrechtssystem – wenn man es einmal als solches erkannt hat – auf der ganzen<br />
Linie, mit aller Kraft <strong>und</strong> der gesamten Person vollständig zu bekämpfen. Dieser<br />
<strong>Widerstand</strong> gegen „das ganze System“ ist anders als bei Bonhoeffer, korrespondiert<br />
aber mit ihm. Er steht auch nicht im Gegensatz zu Jägerstätter, sondern ist im<br />
Einklang mit ihm zu verstehen. Jägerstätter sah keine Handlungsmöglichkeiten in der<br />
Politik, versuchte jedoch die Kirche – namentlich viele Pfarrer <strong>und</strong> seinen Bischof –<br />
zu überzeugen. Zuletzt blieb er seiner Option treu, das Unrecht nicht zu unterstützen.<br />
4. Religion <strong>und</strong> <strong>Widerstand</strong><br />
Wäre es realistisch möglich gewesen, Satyagraha – gewaltfreien <strong>Widerstand</strong> –<br />
erfolgreich gegen Hitler <strong>und</strong> das NS-Regime zu leisten? Ich nehme an, dass Dietrich<br />
Bonhoeffer gerade das in Indien studieren wollte. Vielleicht beeindruckte ihn an<br />
Gandhi <strong>und</strong> den InderInnen, dass sie genau das getan hatten, was die deutschen<br />
28 Gandhi, Autobiographie, 295.<br />
29 Gandhi, Vom Geist des Mahatma, 291f.<br />
30 Gandhi, Autobiografie, 296.<br />
10
ChristInnen mehrheitlich unterlassen haben, <strong>und</strong> was Bonhoeffer von ihnen ethisch<br />
verlangt hätte. So wird Bonhoeffers Klage über die Kirche verständlich: „Sie war<br />
stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel<br />
schrie … Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das<br />
leibliche <strong>und</strong> seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Hass <strong>und</strong><br />
Mord gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gef<strong>und</strong>en<br />
zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der<br />
Schwächsten <strong>und</strong> Wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“ 31 Ähnlich sein als Motto vieler<br />
Bonhoeffer-Begegnungen verwendeter Predigt-Ausspruch: „Nur wer für die Juden<br />
schreit, darf gregorianisch singen“ 32 .<br />
Gandhi hat sehr oft zur Frage Stellung genommen, ob es möglich wäre, Hitler bzw.<br />
dem NS-Staat gewaltfrei zu widerstehen. Richten wir in Bonhoeffers Sinn diese<br />
Frage an Gandhi – was in den 30er Jahren viele Menschen, auch Journalisten taten<br />
– so müssen wir zunächst Gandhi verstehen <strong>und</strong> folgendes unterscheiden: Gandhi<br />
leistete dem britischen Empire einen f<strong>und</strong>amentalen <strong>Widerstand</strong>. Er betrachtete die<br />
britische Herrschaft über Indien mit damals mehr als 300 Millionen Menschen als<br />
einen Fluch <strong>und</strong> ein gigantisches Unrecht, das es restlos zu überwinden galt.<br />
Andererseits war Gandhi in seiner frühen Phase durchaus stolz auf britische<br />
Errungenschaften, <strong>und</strong> berief sich z.B. in Südafrika auf die britische Verfassung, mit<br />
dem Hinweis, dass die Inder (als Minderheit in Südafrika) von den Behörden besser<br />
behandelt werden müssten, da sie doch britische Bürger seien. Gandhi hatte 1888-<br />
1891 in London Jus studiert <strong>und</strong> war als barrister at law (Rechtsanwalt) zugelassen<br />
worden; den Beruf übte er v.a. in Südafrika, aber anfangs auch in Indien aus. Er war<br />
eigentlich ein Fre<strong>und</strong> der britischen Rechtsordnung, wollte durchaus Elemente davon<br />
in eine unabhängige indische Verfassung übernehmen. Er war aber überzeigt, dass<br />
die Kolonialpolitik schwer gegen den Geist der britischen Verfassung verstieß.<br />
Deshalb war er der Ansicht, <strong>Widerstand</strong> gegen das System sei eigentlich ein Dienst<br />
an der Verfassung <strong>und</strong> im letzten Sinn ein Akt der Loyalität, weil die Rechtsordnung<br />
durch die barbarischen Gewaltakte der Briten <strong>und</strong> die Fremdherrschaft von den<br />
Staatsorgane selbst missachtet worden sei. Daher sei totaler <strong>Widerstand</strong><br />
angemessen für einen loyalen Bürger. „Nun aber glaube ich noch an die<br />
Überlegenheit der britischen Konstitution. Und gerade deshalb rate ich zum<br />
Ungehorsam.“ 33 Es war für ihn logisch, dass sich ein Deutscher dem NS-Regime<br />
gegenüber moralisch auf die Weimarer Verfassung stützen konnte.<br />
Gandhis Methode – in Hitlerdeutschland angewendet – hätte nicht eine naive<br />
Unterschätzung des Nationalsozialismus <strong>und</strong> seiner Bösartigkeit bedeutet, sondern<br />
ein langfristiges konsequentes Training des Widerstehens. Wer sich dazu nicht<br />
imstande sah, konnte – durchaus in Übereinstimmung mit Gandhi – zu gewaltvollen<br />
Mitteln des <strong>Widerstand</strong>es greifen, was immer noch moralisch vertretbarer sei als<br />
nichts zu tun oder aus dem Weg zu gehen. Gandhi hat sich aber nicht gescheut,<br />
tschechischen <strong>und</strong> polnischen Gästen 1938/39 Anregungen zu gewaltfreien<br />
<strong>Widerstand</strong>shandlungen gegen eine nationalsozialistische Besetzung zu geben.<br />
31 Bonhoeffer, Herausforderung eines Lebens <strong>und</strong> Denkens, 59.<br />
32 Dieses Zitat ist 2006 ebenfalls anlässlich des 100. Geburtstages Motto einer Bonhoeffer-Tagung der<br />
Evangelischen Akademie Baden (Postfach 2269, D-76010 Karlsruhe).<br />
33 Rolland, 55.<br />
11
Der Friedensforscher Johan Galtung hat 1987 einen Hinweis darauf gegeben, dass<br />
gewaltfreier <strong>Widerstand</strong> im Dritten Reich punktuell auch erfolgreich praktiziert wurde.<br />
Am 27.2.1943 – am Höhepunkt des Krieges – <strong>und</strong> mitten in der Reichshauptstadt<br />
Berlin (!) – widersetzten sich 700 „arische“ EhepartnerInnen, die mit Juden / Jüdinnen<br />
verheiratet waren, gegen deren Deportation. Die Zusammentreibung der 700<br />
jüdischen Personen in einem Gestapoquartier in der Rosenstraße hatte einen<br />
lautstarken Protest der „Frauen von der Rosenstraße“ zur Folge, die das Quartier<br />
regelrecht belagerten <strong>und</strong> den SS-Männern die Forderung entgegen hielten: „Gebt<br />
uns unsere Männer frei“. Sie würden nicht eher weg gehen, als dies geschehen sei. 34<br />
Nach einer mehrtägigen Belagerung des Polizeiquartiers wurden die jüdischen<br />
Ehepartner frei gelassen – freilich in der Absicht, sie später zu deportieren. Es<br />
gelang, die überwiegende Mehrzahl dieser Juden – mitten in Berlin – bis zum<br />
Kriegsende zu verstecken <strong>und</strong> ihr Leben zu retten.<br />
Die hier beschriebene Einzelaktion war nicht perfekt; sie bedurfte gewisser<br />
glücklicher Umstände <strong>und</strong> bot keine Lösung für 6 Millionen jüdische Opfer. Sie<br />
beweist aber dennoch, dass auch das NS-Regime auf konstanten öffentlichen<br />
<strong>Widerstand</strong> reagieren musste <strong>und</strong> dass mit ihm effizient Menschenleben gerettet<br />
werden konnten. Bonhoeffer könnte (lange vor 1943) die Vermutung gehabt haben,<br />
dass es Gandhi gelungen war, derartige „W<strong>und</strong>er“ mit Millionen von Indern<br />
gemeinsam zu bewirken, <strong>und</strong> er könnte gehofft haben, die „Technik“ von Gandhi zu<br />
lernen <strong>und</strong> selbst vergleichbare Akte in Deutschland in die Wege zu leiten, zumindest<br />
es im Kleinen zu versuchen.<br />
Wenn – das ist Spekulation – Bonhoeffer so etwas gedacht haben könnte: war er<br />
dann hoffnungslos naiv? Oder wäre es doch denkbar gewesen, Hitler erfolgreich zu<br />
widerstehen, wenn mit den 6 Millionen Juden 12 Millionen „arische“ Deutsche (oder<br />
andere EuropäerInnen) entschieden aufgestanden wären <strong>und</strong> nicht von den<br />
Bahnhöfen, den Sammellagern <strong>und</strong> KZ-Toren gewichen wären – selbst um den Preis<br />
ihres Lebens (wie es die Satyagraha-KämpferInnen Gandhis taten), um ihre<br />
jüdischen Mitmenschen zu retten? Gesicherte Tatsache ist lediglich, dass dies nicht<br />
im großen Maßstab geschehen ist, <strong>und</strong> dass niemand es organisiert hat. Dass es<br />
nicht funktioniert hätte, lässt sich nicht beweisen, jedoch darf man annehmen, dass<br />
die gewaltfreien Kämpfer gegen den NS-Staat einen hohen Blutzoll auf sich nehmen<br />
hätten müssen – wozu übrigens auch die Satyagrahis in Gandhis Umgebung bereit<br />
waren. Der Gedanke daran könnte Bonhoeffer durchaus fasziniert haben.<br />
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Gandhi der Überzeugung war, mit<br />
konsequent liebevollem politischen Handeln das Wesen der Religion in der Welt<br />
deutlich machen <strong>und</strong> somit etwas zur religiösen Besinnung der Menschheit leisten zu<br />
können. Gandhi geht allerdings an keiner Stelle von einem Ende der Religion oder<br />
dem Bestehen einer religionslosen Gesellschaft aus. Im Gegenteil vertraut er darauf,<br />
dass letztlich alle Menschen in ihrem religiösen Kern ansprechbar, gewinnbar <strong>und</strong><br />
„bekehrbar“ seien, gleichgültig welche religiöse „Sprache“ sie sprechen, d.h. ob es<br />
Christen, Moslems, Hindus oder z.B. Atheisten seien.<br />
Bei Bonhoeffer klingt diesbezüglich ein gewisser europäischer Pessimismus durch:<br />
„Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder wer Christus<br />
heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte –<br />
34 Vgl. Galtung, 72-77.<br />
12
seinen es theologische oder fromme Wort – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die<br />
Zeit der Innerlichkeit <strong>und</strong> des Gewissens, <strong>und</strong> das heißt eben die Zeit der Religion<br />
überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen<br />
können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein.“ 35 Der<br />
Pessimismus angesichts der NS-Herrschaft ist mehr als begreiflich, ja<br />
selbstverständlich für einen so bewussten Menschen wie Bonhoeffer, der früh die<br />
Tendenzen <strong>und</strong> Abgründe erkannte. In seiner Aussage schwingt aber ein darüber<br />
hinaus gehender Pessimismus durch, der den europäischen Menschen seiner Zeit<br />
„so wie sie nun einmal sind“ eine religionslose Zukunft vorhersagt. Diese wird<br />
allerdings nicht durch einen allgemeinen moralischen Verfall, einen<br />
Kulturpessimismus oder die unabänderliche Schlechtigkeit der Menschen erklärt,<br />
sondern durch den enormen wissenschaftlichen Fortschritt der Menschheit, der es<br />
notwendig mache, die alten Glaubenswahrheiten neu zu formulieren – oder zu<br />
praktizieren. In diesem Sinn macht auch Bonhoeffer „Experimente mit der <strong>Wahrheit</strong>“.<br />
5. Schlussbemerkung<br />
Es soll abschließend festgehalten werden, dass der Optimismus Gandhis in Bezug<br />
auf die Veränderbarkeit von Mensch <strong>und</strong> Gesellschaft einen gewissen Widerspruch<br />
zu Bonhoeffers Einstellung aufweist. Gleichwohl drückt aber Bonhoeffer einen tiefen<br />
Optimismus „durch die Dunkelheiten dieser Zeit hindurch“ aus; ja es könnte gerade<br />
Gandhis Optimismus Bonhoeffer fasziniert haben, wie er ja auch in den<br />
Aufzeichnungen aus dem Gefängnis (oder in dem Liedtext „Von guten Mächten<br />
w<strong>und</strong>erbar geborgen ...“) zum Ausdruck kommt. Gandhi war der Meinung, dass<br />
gewaltfreie Bewegungen <strong>und</strong> Aktionen notwendiger Weise am Anfang geringfügig,<br />
schwach, aussichtslos wirken, dann aber eine progressive Entwicklung erfahren,<br />
wenn sie nur konsequent durchgehalten werden: "Jede gute Bewegung durchläuft<br />
fünf Stadien: Gleichgültigkeit, Lächerlichkeit, Beschimpfung, Unterdrückung,<br />
Respekt." 36 Am Schluss führen sie zwangsläufig zum Sieg der guten Sache <strong>und</strong><br />
lassen so etwas von der <strong>Wahrheit</strong> (Gott) in der Welt aufleuchten.<br />
Totalen <strong>Widerstand</strong> zu leisten, ist nach Gandhis Ansicht eine Ausnahmesituation,<br />
zulässig nur um den Preis einer konstruktiven Gr<strong>und</strong>haltung. Es soll niemals nur<br />
etwas abgelehnt <strong>und</strong> bekämpft werden, sondern eigentlich der konstruktive Aufbau<br />
einer neuen Ordnung im Plan sein. "Nur derjenige, der den Gesetzen zu gehorchen<br />
vermag, besitzt die Fähigkeit, ihnen nicht zu gehorchen. Nur wer aufbauen kann, darf<br />
zerstören." 37 In all diesen Betrachtungen werden erstaunliche Parallelen in Ethik <strong>und</strong><br />
Praxis Gandhis <strong>und</strong> Bonhoeffers deutlich, die dennoch auf sehr unterschiedlichen<br />
religiös-intellektuellen Zugängen beruhen. Ein fiktives Gespräch Gandhis mit<br />
Bonhoeffer wäre somit als konstruktiver Dialog – analog einem Dialog verschiedener<br />
Weltreligionen – bereichernd gewesen. Auf der Basis ihrer hohen Bildung, ihres<br />
politischen Verstandes <strong>und</strong> v.a. ihres tiefen Glaubens hätten sich die beiden sehr<br />
gegensätzlichen Charaktere – im Ernst der Lage – vermutlich gut verstanden.<br />
6. Literatur:<br />
35 Bonhoeffer, Herausforderung eines Lebens <strong>und</strong> Denkens, 119f.<br />
36 Mühlmann, 192.<br />
37 Scherrer, 61.<br />
13
Bonhoeffer. Herausforderung eines Lebens <strong>und</strong> Denkens. Hg. v. Johann Berger,<br />
Franz Eichinger <strong>und</strong> Rudolf Kropf. Wien: Evangelischer Presseverband in Österreich<br />
2002.<br />
Dietrich Bonhoeffer, Ethik. Hg. v. Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil u.a. Gütersloh:<br />
Gütersloher Verlagshaus (Kaiser) 2 1998.<br />
Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge. Hg. v. Martin Kuske <strong>und</strong> Ilse Tödt. Gütersloh:<br />
Gütersloher Verlagshaus (Kaiser) 2 2005.<br />
Dietrich Bonhoeffer, Werke (DBW) Hg. v. Eberhard Bethge, Ernst Feil u.a. 17 Bde.<br />
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (Kaiser) 1994 (mit Übersetzung im Anhang).<br />
Dietrich Bonhoeffer, <strong>Widerstand</strong> <strong>und</strong> Ergebung. Briefe <strong>und</strong> Aufzeichnungen aus der<br />
Haft. Hg. v. Eberhard Bethge. München: Kaiser 14 1990.<br />
Gotthard Fuchs, Gottes- <strong>und</strong> V-Mann. In: Die Furche Nr. 5/2.2.2006, S. 23.<br />
Johan Galtung, Der Weg ist das Ziel. Gandhi <strong>und</strong> die Alternativbewegung.<br />
Wuppertal: Peter Hammer 1987.<br />
Mohandas Karamchand Gandhi, Eine Autobiographie oder Die Geschichte meiner<br />
Experimente mit der <strong>Wahrheit</strong>. Hg. v. R. Hinder. Gladenbach: Hinder + Deelmann<br />
3 1983.<br />
Mohandas Karamchand Gandhi, The Collected Works of Mahatma Gandhi. Hg. The<br />
Publications Division, Ministry of Information and Broadcasting, Government of India.<br />
90 Bde. Ahmedabad, New Delhi 1961-1985.<br />
Mohandas Karamchand Gandhi, Freiheit ohne Gewalt. Hg. v. Klaus Klostermeier.<br />
Köln: Jakob Hegner 1968.<br />
Mohandas Karamchand Gandhi, Gedanken von Mahatma Gandhi. Hg. v. Mira Behn<br />
(Madeleine Slade). Wien: Sensen-Verlag 3 1981.<br />
Mohandas Karamchand Gandhi, Vom Geist des Mahatma. Ein Gandhi-Brevier. Hg.<br />
V. Fritz Kraus. Baden-Baden: Holle-Verlag 1958.<br />
Sigrid Grabner, Schwert der <strong>Gewaltlosigkeit</strong>. Mahatma Gandhi – Leben <strong>und</strong> Werk.<br />
Köln: Pahl-Rugenstein 1984.<br />
Gaudium et Spes. Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils. In: Kleines<br />
Konzilskompendium. Hg. v. Karl Rahner <strong>und</strong> Herbert Vorgrimler. Sämtliche Texte des<br />
Zweiten Vatikanums. Herderbücherei Bd. 270. Freiburg: Herder 27 1998, 423-552.<br />
Wolfang Huber, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Recht. Gr<strong>und</strong>linien christlicher Rechtsethik. Chr.<br />
Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2 1999.<br />
Franz Jägerstätter. Zur Erinnerung seines Zeugnisses. Eine Handreichung. Hg. v.<br />
Pax Christi Oberösterreich. Schriftenreihe der Abteilung Gerechtigkeit – Friede –<br />
Schöpfung im Pastoralamt der Diözese Linz, Band 1. Edition Kirchen – Zeit –<br />
Geschichte. Linz: Verlagsatelier Wagner 2000.<br />
Wilhelm E. Mühlmann, Mahatma Gandhi. Der Mann, sein Werk <strong>und</strong> seine Wirkung.<br />
Eine Untersuchung zur Religionssoziologie <strong>und</strong> politischen Ethik. Tübingen: Mohr<br />
1950.<br />
Erna Putz, Franz Jägerstätter. … besser die Hände als der Wille gefesselt … . Linz:<br />
Veritas 1985.<br />
Severin Renoldner, <strong>Widerstand</strong> aus Liebe. Mahatma Gandhi, die Gewaltfreiheit <strong>und</strong><br />
die Neuen Sozialen Bewegungen. Oberursel: Publik-Forum 1990.<br />
Severin Renoldner, Demokratie braucht <strong>Widerstand</strong>. Linz: Edition Sandkorn 1991.<br />
Severin Renoldner, Europa – unser Staat? Glaube, Moral <strong>und</strong> Politik der Europaidee.<br />
Hg. v. Hans Übleis. Mit einem Geleitwort von Bischof Maximilian Aichern.<br />
Schriftenreihe der Abteilung Gerechtigkeit – Friede – Schöpfung im Pastoralamt der<br />
Diözese Linz, Band 2. Linz: Verlagsatelier Wagner 2 2001.<br />
Romain Rolland, Mahatma Gandhi. Mit einem Nachwort: Gandhi seit seiner<br />
Freilassung. Übers. v. Emil Roniger. Erlenbach, Zürich: Rotapfel-Verlag 3 1923.<br />
14
Wennemar Scherrer, Den Frieden leben lernen. Der Sarvodaya-Weg Mahatma<br />
Gandhis. Ein Beitrag zur Friedensarbeit <strong>und</strong> Friedenserziehung.. München:<br />
Reinhardt 1984.<br />
Gene Sharp, Gandhi as a Political Strategist. With Essays on Ethics and Politics.<br />
Boston: Porter Sargent Publishers, Inc. 1979.<br />
Zivilcourage <strong>und</strong> demokratische Kultur. 6. Dietrich Bonhoeffer-Vorlesung Juli 2001 in<br />
München. Studien zur systematischen Theologie <strong>und</strong> Ethik Bd. 32. Hg. v. Ernst Feil.<br />
Münster – Hamburg – London: LIT-Verlag 2002.<br />
15