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Sex in der verbotenen Zone - Arbor Verlag

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Peter Rutter<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong><br />

Wie Männer mit Macht<br />

das Vertrauen<br />

von Frauen mißbrauchen<br />

Aus dem Englischen übersetzt<br />

von Veronika Akerberg<br />

<strong>Arbor</strong> <strong>Verlag</strong><br />

Freiamt im Schwarzwald


Lassen Sie uns immer daran denken: Was Opfer am meisten<br />

schmerzt, ist nicht die Grausamkeit des Unterdrückers, son<strong>der</strong>n<br />

das Schweigen <strong>der</strong> Zuschauer.<br />

Elie Wiesel<br />

In welches Haus immer ich e<strong>in</strong>trete, e<strong>in</strong>treten werde ich zum<br />

Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und<br />

je<strong>der</strong> Schädigung und den Werken <strong>der</strong> Lust an den Leibern von<br />

Frauen und Männern, Freien und Sklaven.<br />

Aus dem hippokratischen Eid


Copyright © <strong>der</strong> deutschen Ausgabe:<br />

2002 by <strong>Arbor</strong> <strong>Verlag</strong>, Freiamt<br />

Copyright © 1989 by Peter Rutter<br />

Titel <strong>der</strong> amerikanischen Orig<strong>in</strong>alausgabe:<br />

„<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> the Forbidden <strong>Zone</strong>“<br />

1 2 3 4 5 Auflage<br />

02 03 04 05 06 Ersche<strong>in</strong>ungsjahr<br />

Korrektorat: Eva Bachmann<br />

Druck und Verarbeitung: Fuldaer <strong>Verlag</strong>sagentur<br />

Dieses Buch wurde auf holz-, chlor- und säurefreiem Papier<br />

gedruckt und ist alterungsbeständig.<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

www.arbor-verlag.de<br />

ISBN 3-924195-81-1


Inhalt<br />

Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

E<strong>in</strong>e persönliche Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

Darstellung des Themas:<br />

Term<strong>in</strong>ologie, Statistiken und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>: Die Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

1. Kapitel<br />

Beziehungen von unschätzbarem Wert:<br />

Der psychologische Kern <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> . . . . . . . . . . 51<br />

Unschätzbarer Wert für Frauen:<br />

Neue und unbegrenzte Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />

Unschätzbarer Wert für Männer:<br />

Die Suche nach sexueller Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

Männlicher Neid auf <strong>verbotenen</strong> <strong>Sex</strong>:<br />

E<strong>in</strong>e Erklärung für ihre Verschwiegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />

Der männliche Mythos vom weiblichen Geschlecht:<br />

Unterwerfung, <strong>Sex</strong>ualität und Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />

7


2. Kapitel<br />

Wunden <strong>der</strong> Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Physische und psychologische Überwältigung:<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach etwas an<strong>der</strong>em . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />

Tiefgreifende E<strong>in</strong>samkeit: Das unerkannte <strong>in</strong>nere Ich . . . . . . . . . 78<br />

Ausgebeutetes Mitleid: Die sexuelle Heilung von Männern . . . . . 82<br />

Verm<strong>in</strong><strong>der</strong>tes äußeres Wirkungsvermögen:<br />

Weiblichkeit, die sich gegen sich selbst richtet . . . . . . . . . . . . . . 84<br />

Die Schädigung durch sexuellen Betrug:<br />

Parallelen zu Vergewaltigung und Inzest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

3. Kapitel<br />

Wunden <strong>der</strong> Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

Wunden durch die Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />

Wunden durch den Vater:<br />

Mangel an Intimität im Vater-Sohn-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . 102<br />

Wunden durch die Mutter:<br />

Zu enge emotionale B<strong>in</strong>dung, Gefühlskälte, die Opferrolle . . . . . 106<br />

4. Kapitel<br />

Frauen im <strong>verbotenen</strong> Bereich:<br />

Stationen getäuschter Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

Hoffnungsphantasien: Innere Vorstellungen von Männern . . . . . 114<br />

Kontaktsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />

Das Bedürfnis, sich als etwas Beson<strong>der</strong>es zu empf<strong>in</strong>den . . . . . . . 120<br />

Enthüllung des weiblichen Kerns:<br />

Verwirrung zwischen erotischer und unerotischer Beziehung . . . . 123<br />

Aufhebung <strong>der</strong> Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />

8


Wi<strong>der</strong>sprüchliche Gefühle zwischen Anziehung und Abscheu . . . 129<br />

Der Moment <strong>der</strong> sexuellen Berührung: Ohnmacht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr 130<br />

»Ich muß ihn heilen«:<br />

Versuche, sich <strong>der</strong> Destruktivität anzupassen . . . . . . . . . . . . . . . 132<br />

5. Kapitel<br />

Männer im <strong>verbotenen</strong> Bereich: Momentaufnahmen<br />

e<strong>in</strong>es Mannes, <strong>der</strong> die Grenze überschreitet . . . . . . . . . . . . 135<br />

Entwurf e<strong>in</strong>es Porträts: Psychologische<br />

Momentaufnahmen vom Verhalten e<strong>in</strong>es Mannes . . . . . . . . . . . 135<br />

Die positive Seite <strong>der</strong> männlichen Psyche:<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchliche Gefühle und Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . 151<br />

6. Kapitel<br />

E<strong>in</strong>e Anleitung für Frauen:<br />

Beachtung <strong>der</strong> sexuellen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157<br />

Erkennen <strong>der</strong> Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />

Überwachung <strong>der</strong> Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159<br />

Gestaltung <strong>der</strong> Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161<br />

Verteidigung <strong>der</strong> Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164<br />

Weshalb kann ich mich nicht wehren?<br />

E<strong>in</strong>e Zusammenfassung <strong>der</strong> psychologischen Fallen . . . . . . . . . . 170<br />

In Wut geraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171<br />

E<strong>in</strong>e Anleitung für Frauen als Mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174<br />

9


7. Kapitel<br />

E<strong>in</strong>e Anleitung für Männer:<br />

Frauen auf neue Art begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />

Wenn Sie im Begriff s<strong>in</strong>d, die Grenze zu überschreiten:<br />

Halten Sie an, und lassen Sie sich helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179<br />

Wenn Sie die Grenze übertreten haben:<br />

Wie können Sie Schadenersatz leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184<br />

Wenn Sie die Grenze nicht übertreten haben:<br />

Seien Sie ehrlich zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186<br />

E<strong>in</strong>e Anleitung für Männer als Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188<br />

Der heilende Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197<br />

Epilog von Kathar<strong>in</strong>a Mart<strong>in</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205<br />

Nachwort von Sylvia Wetzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207<br />

10


Danksagungen<br />

Immerwährenden Dank an Donald San<strong>der</strong>, John Bebe, Spiro<br />

Kostof, Jean Bolen, Jonathan Harris, Joel Braziller, Robert Caserio,<br />

Lynn Franco, Margaret Sk<strong>in</strong>ner, John Ste<strong>in</strong>er, Richard Hutson,<br />

Dennis Turner und William McGuire, weil sie mich zu Beg<strong>in</strong>n<br />

dieses Projekts ermutigt und während <strong>der</strong> Arbeit daran immer mit<br />

wertvollen Ratschlägen unterstützt haben.<br />

An Gamille LeGrand, Loren Pe<strong>der</strong>sen, Teresa Bernardez, Jeffrey<br />

Kottler, Jane V<strong>in</strong>son, Nad<strong>in</strong>e Taub, Cani Lenahan und Gary Schoener,<br />

die mir durch ihre eigenen Arbeiten Mut gemacht haben.<br />

An Jean Nagger, me<strong>in</strong>en Literaturagenten, dafür, daß er stets für<br />

mich da war. An me<strong>in</strong>en Herausgeber, Connie Zweig, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e alchimistische<br />

»sonor mystica« wurde, und an me<strong>in</strong>en Verleger, Jeremy<br />

Tarcher, den als symbolischer Vater e<strong>in</strong>e verläßliche Quelle <strong>der</strong> Hilfe<br />

und Hoffnung war.<br />

Aber am meisten Dank an me<strong>in</strong>e Frau, Virg<strong>in</strong>ia Beane Rutter, und<br />

an unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong> für ihre Geduld und ihre Liebe.<br />

11


E<strong>in</strong>e persönliche<br />

Anmerkung<br />

Vor zwanzig Jahren begann ich me<strong>in</strong>e psychiatrische Praxis mit<br />

<strong>der</strong> festen Überzeugung, daß <strong>Sex</strong> mit Patienten überhaupt<br />

ke<strong>in</strong> Thema wäre. Ich vertraute <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Naivität darauf,<br />

daß unüberw<strong>in</strong>dbare sexuelle Barrieren, wie es sie seit Hippokrates<br />

seit fast 2500 Jahren gibt, die Grundvoraussetzung für die Beziehung<br />

zwischen Arzt und Patienten bestimmen.<br />

Ich g<strong>in</strong>g davon aus, daß je<strong>der</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Berufsgruppe diese<br />

unsichtbaren Grenzen e<strong>in</strong>hält. Die wenigen Ärzte und Therapeuten,<br />

von denen ich wußte, daß sie sexuelle Beziehungen zu Patienten<br />

hatten, gehörten für mich <strong>in</strong> den Randbezirk <strong>der</strong> Krim<strong>in</strong>ellen o<strong>der</strong><br />

Geistesgestörten. So <strong>der</strong> Chirurg, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Patient<strong>in</strong>nen sexuell mißbrauchte,<br />

nachdem er sie anästhesiert hatte, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Therapeut, <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e Selbsthilfegruppe gründete – für Frauen, die bereit waren, se<strong>in</strong>e<br />

<strong>Sex</strong>ualpartner zu se<strong>in</strong>.<br />

Es dauerte fast zehn Jahre, bis ich aufhörte, an den Mythos vom<br />

guten Onkel Doktor zu glauben. Statt dessen fand ich heraus, daß<br />

sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Männer, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Behandlung<br />

sie waren o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong>en Leitung sie arbeiteten, nicht ungewöhnlich,<br />

son<strong>der</strong>n tatsächlich eher normal war. Darüber h<strong>in</strong>aus stellte ich<br />

e<strong>in</strong> bemerkenswert ähnliches Verhaltensmuster auch bei Geistlichen,<br />

Anwälten, Lehrern und Ausbil<strong>der</strong>n fest. Jede Position, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frauen<br />

sich physisch o<strong>der</strong> psychisch Männern anvertrauen, birgt die Gefahr,<br />

daß sich das Abhängigkeitsverhältnis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Bereich ausweitet, <strong>der</strong><br />

unüberschaubar und unkontrollierbar ist.<br />

Ich fand heraus, daß Männer, die sexuelle Beziehungen zu ihren<br />

Patient<strong>in</strong>nen, Mandant<strong>in</strong>nen, Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n, Student<strong>in</strong>nen<br />

o<strong>der</strong> Schützl<strong>in</strong>gen haben, nicht zu <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit gehören, die gele-<br />

13


gentlich Schlagzeilen macht; vielmehr handelt es sich um fähige<br />

Professoren, bewun<strong>der</strong>te Führer <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de und respektierte<br />

Fami-ienväter, die wir normalerweise selbstverständlich für <strong>in</strong>teger<br />

halten. Heute weiß ich, daß sexueller Mißbrauch von Vertrauen e<strong>in</strong>e<br />

Epidemie ist, e<strong>in</strong> bedeutendes Problem, das e<strong>in</strong> weiteres Mißverhältnis<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Chancengleichheit zwischen Mann und Frau darstellt.<br />

Daß sich me<strong>in</strong>e Ansicht so radikal verän<strong>der</strong>te, ist auf zwei Episoden<br />

zurückzuführen.<br />

Die erste ist e<strong>in</strong>e Liaison, <strong>in</strong> die ich fast mit e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten<br />

wäre. Dieses Erlebnis zwang mich dazu, me<strong>in</strong>e eigene verborgene<br />

Sehnsucht nach e<strong>in</strong>er solchen <strong>verbotenen</strong> Affäre zu erkennen.<br />

Es machte mir deutlich, wie es dazu kommen kann, daß selbst<br />

moralisch <strong>in</strong>tegere Männer die sexuellen Fehltritte weniger lauterer<br />

Kollegen heimlich entschuldigen.<br />

Den zweiten Anstoß zum Umdenken gab mir e<strong>in</strong> Psychiater, <strong>der</strong><br />

me<strong>in</strong> Mentor und Vorbild gewesen war und <strong>der</strong>, wie ich herausfand,<br />

mehrere Jahre h<strong>in</strong>durch sexuelle Beziehungen zu vielen se<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong>nen<br />

unterhalten hatte. Diese Erkenntnis erschütterte mich so sehr,<br />

daß ich mich dazu gezwungen sah, me<strong>in</strong> Verständnis <strong>der</strong> Realität zu<br />

überprüfen, <strong>in</strong>dem ich das Problem so gründlich wie möglich durchleuchtete.<br />

Aus dieser Untersuchung resultieren Antworten, die Aufschluß<br />

darüber geben, warum so viele Männer und Frauen <strong>in</strong> diese<br />

komplizierten sexuellen Beziehungen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten.<br />

Me<strong>in</strong>e Begegnung mit Mia<br />

Me<strong>in</strong>e »Be<strong>in</strong>ahe-Affäre« begann plötzlich und völlig unerwartet <strong>in</strong><br />

dem geschlossenen Zimmer me<strong>in</strong>er psychiatrischen Praxis. Ich fühlte,<br />

wie die psychologischen Barrieren, die mich vor verbotenem <strong>Sex</strong><br />

geschützt hatten, zusammenbrachen. Das geschah an e<strong>in</strong>em dunklen,<br />

regnerischen Abend Anfang Dezember, als e<strong>in</strong>e Patient<strong>in</strong>, die ich Mia<br />

nennen werde, zu unserem Term<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> unausgesprochenen, ungeplanten,<br />

aber äußerst überwältigenden Absicht erschien, sich mir<br />

sexuell anzubieten.<br />

Mia war e<strong>in</strong>e hochgewachsene, dunkelhaarige, fünfundzwanzig<br />

Jahre alte Frau, <strong>der</strong>en leuchtendfarbige Kleidung und zur Schau<br />

gestellte Dynamik e<strong>in</strong>e schwere, chronische Depression maskierten.<br />

14


Obwohl ihr bisheriges Leben ihr nur Entbehrungen und Verluste<br />

gebracht hatte, hatte sie die Hoffnung auf Glück noch nicht aufgegeben.<br />

Ihre Eltern waren nach wie<strong>der</strong>holten Anfällen von Depressionen<br />

und Alkoholismus kurz vorher verstorben; und sie hatte e<strong>in</strong>en älteren<br />

Bru<strong>der</strong>, mit dem sie verschwommene Er<strong>in</strong>nerungen an sexuelle Belästigungen<br />

verband. Nachdem sie als Teenager auf die Straße gegangen<br />

und <strong>in</strong> die Drogenszene abgerutscht war, versuchte Mia nun, ihr<br />

Leben <strong>in</strong> den Griff zu bekommen. Sie war nicht mehr süchtig, arbeitete<br />

als Empfangsdame bei e<strong>in</strong>em Schönheitschirurgen und begann,<br />

Interesse für Psychologie zu entwickeln. Während <strong>der</strong> fünf Monate<br />

Therapie hatten Mia und ich ihr Verhaltensmuster herausgefunden,<br />

nach dem sie dazu neigte, mit Männern schnell sexuell <strong>in</strong>tim zu werden,<br />

weil sie befürchtete, daß diese sonst das Interesse an ihr verlieren<br />

würden. Trotzdem hatte sie sich mir gegenüber nie verführerisch verhalten.<br />

An diesem Abend jedoch spürte ich, daß sich ihre <strong>Sex</strong>ualität<br />

auf mich richtete, und dies mit e<strong>in</strong>er Intensität, wie ich sie <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

siebenjährigen Praxis als Psychiater niemals auch nur annähernd so<br />

stark erlebt hatte.<br />

Mia g<strong>in</strong>g zum Patientenstuhl, aber da blieb sie nicht. Während sie<br />

mir we<strong>in</strong>end von e<strong>in</strong>er demütigenden Abfuhr durch e<strong>in</strong>en Mann<br />

erzählte, mit dem sie am Abend zuvor verabredet gewesen war, ließ sie<br />

sich langsam vom Stuhl auf den Fußboden gleiten und setzte sich mit<br />

überkreuzten Be<strong>in</strong>en vor mich h<strong>in</strong>. Die erotisch herausfor<strong>der</strong>nde Art<br />

ihres Benehmens steigerte sich, als sie mich flehentlich ansah. Unter<br />

Tränen wollte sie wissen, ob Männer sie immer nur benutzen und<br />

dann wegwerfen würden. In dem verzweifelten Bedürfnis nach Trost<br />

begann Mia, sich mir allmählich zu nähern. Sie streifte me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e<br />

mit ihren Brüsten und vergrub ihren Kopf <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Schoß.<br />

Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, daß ich <strong>in</strong> dieser sexuellen Szenerie mitwirken<br />

würde, war um so größer, als ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Privatleben Verluste<br />

gehabt hatte und den W<strong>in</strong>ter h<strong>in</strong>durch ziemlich deprimiert<br />

gewesen war. An diesem Abend erwartete mich nichts außer e<strong>in</strong>em<br />

leeren Haus, <strong>in</strong> dem ich alle<strong>in</strong>e lebte. Mia war die letzte Patient<strong>in</strong> auf<br />

me<strong>in</strong>em Term<strong>in</strong>kalen<strong>der</strong>. Draußen war es schon lange dunkel geworden,<br />

während wir <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er warmen Praxis saßen und den kalten<br />

Regen prasseln hörten. Ich wußte, daß wir die letzten waren, die sich<br />

noch <strong>in</strong> diesem Bürogebäude aufhielten.<br />

15


Durch me<strong>in</strong>e berufliche Erfahrung war ich <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise auf<br />

diesen Moment vorbereitet. Als Mia sich mir weiter näherte, saß ich<br />

wie erstarrt da; ich ermutigte sie nicht, aber ich wies sie auch nicht ab.<br />

E<strong>in</strong>e berauschende Mischung von Gefühlen zeitloser Freiheit und<br />

erregen<strong>der</strong> Gefahr befiel mich, wie sie Männer bei <strong>verbotenen</strong> sexuellen<br />

Spielen empf<strong>in</strong>den. Die Freiheit beruht auf <strong>der</strong> Illusion <strong>in</strong> solchen<br />

Momenten, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> Mann sich e<strong>in</strong>reden kann, daß nichts mehr<br />

zählt – nur die sexuelle Verschmelzung mit dem weiblichen Körper<br />

und Geist. Er verschließt sich gegenüber Vergangenheit und Zukunft<br />

und denkt we<strong>der</strong> über se<strong>in</strong>e Motivation noch die Konsequenzen se<strong>in</strong>es<br />

Handelns nach.<br />

In diesem Moment, als ich mich entscheiden mußte, die Grenze<br />

zu überschreiten o<strong>der</strong> nicht, fühlte ich mich außerordentlich stark<br />

und gleichzeitig sehr, sehr verwundbar.<br />

E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Seite von mir blieb völlig unberührt von dieser Szene.<br />

E<strong>in</strong> Teil von mir versuchte zu verstehen, was <strong>in</strong> Mia vorg<strong>in</strong>g, und<br />

bemühte sich, e<strong>in</strong>en Weg zu f<strong>in</strong>den, ihr zu helfen. Dieser Teil von mir<br />

selbst wußte, daß e<strong>in</strong>e sexuelle Verb<strong>in</strong>dung absolut verboten und<br />

unmöglich war.<br />

Ich wußte, wenn ich gar nichts täte, würde ich Mia e<strong>in</strong>fach erlauben,<br />

mich auf e<strong>in</strong>e Art und Weise zu berühren, die sicher sexuell se<strong>in</strong><br />

würde. Ich hätte passiv auf ihre Absicht e<strong>in</strong>gehen, hätte me<strong>in</strong>e eigene<br />

Depression ihre wi<strong>der</strong>spiegeln lassen und uns damit erlauben können,<br />

geme<strong>in</strong>sam verwundete Patienten zu se<strong>in</strong>. Als gut tra<strong>in</strong>iertes Opfer<br />

würde Mia es wahrsche<strong>in</strong>lich ablehnen, me<strong>in</strong> sexuelles Verhalten als<br />

Mißhandlung anzusehen; falls ich ihr erklären würde, daß sexueller<br />

Kontakt e<strong>in</strong> legitimer Bestandteil <strong>der</strong> Therapie sei, würde sie das<br />

glauben, o<strong>der</strong> sie würde mit mir zusammenwirken und h<strong>in</strong>terher vorgeben,<br />

daß nie etwas vorgefallen sei. In jedem Fall war es äußerst<br />

unwahrsche<strong>in</strong>lich, daß ich mich jemals an<strong>der</strong>en gegenüber rechtfertigen<br />

müßte.<br />

In diesem Moment faßte ich e<strong>in</strong>en Entschluß; ich sagte Mia, sie<br />

solle zu ihrem Stuhl zurückkehren. Sie tat es, ohne zu zögern. Von<br />

unseren eigenen Stühlen aus konnten wir nun die therapeutische<br />

Untersuchung durchführen, warum sie sich bei ihrer verzweifelten<br />

Suche nach Wärme und Trost immer wie<strong>der</strong> Männern anbietet. Da<br />

ich mich von ihr nicht hatte verführen lassen, konnten wir darüber<br />

16


sprechen. Schließlich hatte Mia nichts an<strong>der</strong>es getan, als mir ihr<br />

selbstzerstörerisches Verhalten erklärt – auf die e<strong>in</strong>zige Art, die sie<br />

kannte: Indem sie es mir <strong>in</strong> diesem Zimmer vorführte.<br />

Während dieser Episode wurde mir klar, daß ich sie – wie an<strong>der</strong>e<br />

es getan hatten – zum Opfer machen o<strong>der</strong> ihr helfen konnte, e<strong>in</strong>en<br />

neuen Weg zu f<strong>in</strong>den.<br />

In diesem kritischen Moment lag es ganz alle<strong>in</strong> an mir, den richtigen<br />

Weg zu weisen. Ich mußte die typisch männlichen Komponenten<br />

me<strong>in</strong>er <strong>Sex</strong>ualität unterdrücken, die nur zu bereit waren, Mias<br />

selbstzerstörerisches Angebot zu akzeptieren. Ich erschau<strong>der</strong>e noch,<br />

wenn ich daran denke, wie nahe ich daran gewesen war, uns beiden<br />

zu schaden.<br />

Diese Erfahrung zeigte mir unmittelbar, wie leidenschaftlich und<br />

zersetzend die erotische Atmosphäre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beziehung werden kann,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mann E<strong>in</strong>fluß auf die Frau hat, die ihm Vertrauen und<br />

Hoffnung entgegenbr<strong>in</strong>gt. Jegliche Illusion, daß ich gegen diese verführerische<br />

Intensität immun sei, war vorbei. Mir wurde plötzlich<br />

klar, daß <strong>Sex</strong> mit Patienten durchaus nicht unmöglich war. Vielmehr<br />

war die Vorstellung nicht nur möglich, son<strong>der</strong>n sehr viel verlocken<strong>der</strong>,<br />

als ich mir bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gestanden hatte.<br />

Die Verlockung des Verbotenen ist nicht nur e<strong>in</strong> zentrales Thema<br />

dieses Buches, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Psychologie männlicher <strong>Sex</strong>ualität.<br />

Sie ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis des Therapeuten und je<strong>der</strong> Vertrauensbeziehung<br />

vorhanden, <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mann E<strong>in</strong>fluß auf die <strong>in</strong>timen Sehnsüchte e<strong>in</strong>er<br />

Frau hat.<br />

Tag für Tag sitzen wir Männer unter vier Augen mit Frauen<br />

zusammen, die uns vertrauen, uns bewun<strong>der</strong>n und sich auf uns verlassen;<br />

dadurch entsteht <strong>der</strong> zunehmende Drang nach größerer Intimität.<br />

Geschäftsleute reisen mit ihren weiblichen Untergebenen, verbr<strong>in</strong>gen<br />

viele Stunden zusammen <strong>in</strong> Flugzeugen und nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>liegenden<br />

Hotelzimmern <strong>in</strong> weit entfernten Städten. Frauen, die ihre<br />

Anwälte aufsuchen, offenbaren ihnen – beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> Scheidungs- und<br />

Sorgerechtsfällen – meistens die <strong>in</strong>timsten Details ihres Lebens. Lehrer<br />

an Oberschulen, Colleges o<strong>der</strong> an Universitäten können das Vertrauen<br />

von Frauen durch ihre Fähigkeit erwerben, diese Frauen <strong>in</strong><br />

ihrer <strong>in</strong>tellektuellen, beruflichen o<strong>der</strong> geistigen Entwicklung zu för<strong>der</strong>n.<br />

E<strong>in</strong> Arzt hat sofortigen Zugang zu dem unbekleideten Körper<br />

17


e<strong>in</strong>er Frau. Wenn e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>en Arzt aufsucht, überläßt sie ihm ihr<br />

physisches Se<strong>in</strong> mit dem, was sie psychisch durch ihren Körper empf<strong>in</strong>det.<br />

Therapeuten und Geistliche veranlassen Frauen, die von ihnen<br />

betreut werden, sexuelle und an<strong>der</strong>e Geheimnisse mit ihnen zu teilen;<br />

Geheimnisse, die sie sonst niemandem verraten würden.<br />

Diese Frauen gehen auf unsere E<strong>in</strong>ladungen zur Intimität e<strong>in</strong> und<br />

lassen uns an ihren lange verborgenen Gefühlen und Träumen teilhaben<br />

– und wecken dadurch unsere eigenen une<strong>in</strong>gestandenen, verborgenen<br />

Sehnsüchte und Phantasien. So, wie sich die Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

vertrauensvollen Beziehung von dem e<strong>in</strong>flußreichen Mann Hilfe verspricht,<br />

so beg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> Mann, die Frau als e<strong>in</strong>e Quelle für se<strong>in</strong>e eigene<br />

Heilung zu betrachten.<br />

Für mich und alle Männer mit E<strong>in</strong>fluß kann sie leicht die sympathische,<br />

verwundete, verletzliche Frau werden, die uns <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s<br />

fem<strong>in</strong><strong>in</strong>er Weise bewun<strong>der</strong>t und benötigt. Wenn wir e<strong>in</strong>e Zeitlang<br />

zusammengearbeitet haben, entwickeln sich Verbundenheit und Vertrauen<br />

zwischen uns, die die Barrieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> sche<strong>in</strong>bar unpersönlichen<br />

beruflichen Beziehung aufweichen. Ob sie es offen zum Ausdruck<br />

br<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> nicht, vermitteln uns diese Frauen oft das Gefühl,<br />

daß wir sie viel besser behandeln, als sie sich das jemals von e<strong>in</strong>em<br />

Mann erträumt hätten.<br />

Unter diesen Umständen durchfluten uns sexuelle Vorstellungen.<br />

Die Vorschrift, die sexuelle Kontakte mit diesen Frauen verbietet, verliert<br />

ihre Wirkung. Wir sehnen uns danach, unsere Gefühle zu befreien.<br />

Nichts sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> solchen Momenten verlocken<strong>der</strong>, als die<br />

unsichtbaren Grenzen zu überschreiten und mit <strong>der</strong> Frau <strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer<br />

Leidenschaft zu verschmelzen.<br />

Aber jedesmal, wenn ich mich mit sexuellen Phantasien um e<strong>in</strong>e<br />

Patient<strong>in</strong> beschäftigt fand, entdeckte ich – wie an dem Abend mit<br />

Mia –, daß mich etwas zurückhielt, nicht nur die Vorschrift, son<strong>der</strong>n<br />

auch das Gefühl, daß etwas Wertvolles zerstört werden würde, wenn<br />

ich die Grenze überträte.<br />

Trotzdem habe ich immer noch zwiespältige Empf<strong>in</strong>dungen, wie<br />

sie fast alle me<strong>in</strong>e Kollegen haben. Egal, wie gut ich gelernt habe,<br />

sexuelle Spannungen zu erkennen und auf therapeutische, unphysische<br />

Art mit ihnen umzugehen, manchmal übermannt mich die verführerische<br />

Intensität me<strong>in</strong>er Arbeit. Und obwohl ich jetzt weiß, was<br />

18


ich gegen die Anfechtung tun muß, muß ich mir jedesmal bewußt <strong>in</strong><br />

Er<strong>in</strong>nerung rufen, warum ich <strong>der</strong> Versuchung wi<strong>der</strong>stehen muß,<br />

mich e<strong>in</strong>fach von me<strong>in</strong>em Stuhl zu erheben, die kurze Entfernung zu<br />

me<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> zurückzulegen und die Frau zu umarmen.<br />

Verrat durch me<strong>in</strong>en Mentor<br />

Die zweite Episode, die mich dazu veranlaßt hat, dieses Buch zu<br />

schreiben, war die schmerzhafte Entdeckung, daß <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> die<br />

besten Qualitäten e<strong>in</strong>es Lehrers und Therapeuten <strong>in</strong> sich zu vere<strong>in</strong>igen<br />

schien, wie<strong>der</strong>holt sexuelle Beziehungen zu se<strong>in</strong>en Patient<strong>in</strong>nen<br />

unterhalten hat. Dr. Edward Reynolds (wie ich ihn nennen werde)<br />

schien die Verkörperung des altruistischen, engagierten Psychotherapeuten<br />

zu se<strong>in</strong>. Dieser dist<strong>in</strong>guierte, dunkelhaarige Mann von Ende<br />

Vierzig hatte e<strong>in</strong>e vornehm zurückhaltende und ruhige, aufgeschlossene<br />

Art, die ihn weise und zugänglich für Psychotherapeuten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Ausbildung ersche<strong>in</strong>en ließ; man konnte sich vorstellen, daß er auf<br />

Patienten ähnlich wirkte. Er schien e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s selbstloser Mann zu<br />

se<strong>in</strong>, da er bereit war, Patienten zu behandeln, die ke<strong>in</strong> Geld hatten<br />

o<strong>der</strong> die von an<strong>der</strong>en als unheilbar angesehen wurden.<br />

Ich war e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> vielen jungen Therapeuten, die <strong>in</strong> ihm das<br />

beson<strong>der</strong>s wertvolle Vorbild sahen, die Art <strong>der</strong> seltenen Lehrer, die die<br />

äußere und <strong>in</strong>nere Entwicklung ihrer Schüler för<strong>der</strong>n. Auf <strong>der</strong> äußeren,<br />

praktischen Ebene lehrte er uns beson<strong>der</strong>e Fachkenntnisse <strong>der</strong><br />

Psychotherapie, auf <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Ebene half er uns, unseren persönlichen<br />

S<strong>in</strong>n für ethisches und kreatives Engagement bei unserer Tätigkeit<br />

zu entwickeln.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung hörte ich das erstemal<br />

das Gerücht, daß Dr. Reynolds sexuelle Beziehungen zu Patient<strong>in</strong>nen<br />

gehabt hätte. Ich er<strong>in</strong>nere mich genau, wie absurd mir <strong>der</strong> Gedanke<br />

schien, Dr. Reynolds habe Geschlechtsverkehr mit Patient<strong>in</strong>nen. Er<br />

war e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> uns gegenüber die höchsten humanen Werte unseres<br />

Berufes artikulierte. Niemand wußte besser als er, daß sexueller<br />

Kontakt mit Patient<strong>in</strong>nen überhaupt nicht <strong>in</strong> Frage kam, weil es e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>deutiger Mißbrauch des E<strong>in</strong>flusses wäre und großen Schaden verursachen<br />

würde. Er würde niemals se<strong>in</strong>e Wertbegriffe und all das, was<br />

er uns über die Kunst des Heilens gelehrt hatte, verraten.<br />

19


Aber ich war überrascht, neben me<strong>in</strong>em Unglauben gleichzeitig<br />

die Gewißheit zu entdecken, daß das, was ich gehört hatte, wahr<br />

se<strong>in</strong> müsse. Jedenfalls war es schließlich soweit, daß ich mir sagen<br />

mußte: »Natürlich schläft er mit se<strong>in</strong>en Patient<strong>in</strong>nen. Ich habe<br />

absolut ke<strong>in</strong>en Zweifel. Das ist klar und folgerichtig. Das erklärt<br />

se<strong>in</strong> Verhalten und das Empf<strong>in</strong>den, das ich manchmal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Gegenwart hatte.«<br />

Wenn wir auf den Teil von uns selbst hören, <strong>der</strong> es nicht nötig hat,<br />

die Wahrheit zu verdrängen, können wir manche Zusammenhänge<br />

klar erkennen. Aber es gibt enorme Zwänge von außen, die unsere<br />

Intuition abwerten.<br />

Als ich <strong>in</strong> diesem Fall me<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Stimme vernahm, weigerte ich<br />

mich h<strong>in</strong>zuhören; es war e<strong>in</strong>fach zu bedrohend. Ohne mir darüber klar<br />

zu se<strong>in</strong>, mußte ich das Bild des »guten Vaters« aufrechterhalten. Es<br />

dauerte fünf Jahre, bis ich und die meisten me<strong>in</strong>er Kollegen die Wahrheit<br />

akzeptiert hatten. In <strong>der</strong> Zwischenzeit – stillschweigend geschützt<br />

durch unsere Inaktivität – fuhr Dr. Reynolds fort, sexuelle Beziehungen<br />

zu Patient<strong>in</strong>nen zu unterhalten und Schaden anzurichten.<br />

Nachdem e<strong>in</strong>ige Patient<strong>in</strong>nen Beschwerden über sexuellen Missbrauch<br />

e<strong>in</strong>gelegt hatten, konnten wir uns <strong>der</strong> Tatsache nicht länger<br />

verschließen: Wir entschlossen uns, Dr. Reynolds aus unserem Berufsverband<br />

auszuschließen.<br />

Ich verstand nicht, warum ke<strong>in</strong>er von uns den Mann zur Rechenschaft<br />

gezogen hat, warum wir so lange gewartet hatten, und mir wurde<br />

klar, daß es viel schwieriger ist zu erklären, warum Opfer und Mitwisser<br />

so oft schweigen, als zu verstehen, daß es immer Männer geben<br />

wird, die das Vertrauen e<strong>in</strong>er Frau ausnutzen.<br />

Nach dieser Erkenntnis stellte ich mir selbst die Aufgabe, die Rolle<br />

zu untersuchen, die je<strong>der</strong> von uns <strong>in</strong> dieser schweigenden Verschwörung<br />

spielt. Zunächst suchte ich <strong>in</strong> mir selbst nach Antworten.<br />

Ich wußte bereits, daß ich starke Phantasien über sexuelle Kontakte<br />

mit Patient<strong>in</strong>nen haben konnte. Ich wußte auch, daß ich Dr. Reynolds<br />

noch idealisiert hatte, als ich das schon lange nicht mehr hätte tun<br />

dürfen. Als ich erneut versuchte, mir zu erklären, weshalb ich se<strong>in</strong>e<br />

sexuellen Ausschweifungen vor mir selbst verleugnet hatte, stieß ich<br />

auf e<strong>in</strong>e dunklere Seite <strong>der</strong> männlichen Psyche. Ich erkannte, daß sich<br />

immer, wenn ich über se<strong>in</strong>e <strong>verbotenen</strong> Beziehungen nachdachte, h<strong>in</strong>-<br />

20


ter me<strong>in</strong>er Empörung heimlich Eifersucht verbarg. Ich wünschte, ich<br />

könnte tun, was er getan hatte.<br />

Ich fühlte mich ziemlich alle<strong>in</strong>, als ich diese geheimen Gedanken<br />

aus me<strong>in</strong>em Unterbewußtse<strong>in</strong> grub, die so sehr im Kontrast zur<br />

Ethik me<strong>in</strong>es Berufes standen. Aber nachdem ich mich dazu gezwungen<br />

hatte, dieses Thema mit me<strong>in</strong>en männlichen Freunden und Kollegen<br />

zu besprechen, stellte ich fest, daß auch die an<strong>der</strong>en ähnliche<br />

Gefühle und Gedanken hatten. Im Laufe <strong>der</strong> Jahre gab je<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

mehreren hun<strong>der</strong>t Männer, mit denen ich über das Thema gesprochen<br />

hatte, zu, daß er manchmal die sexuellen Ausschweifungen<br />

an<strong>der</strong>er beneidete. Der belastende Umstand, daß so viele Männer<br />

ähnliche sexuelle Phantasien hatten, sollte sich als das Hauptmotiv<br />

für die Erklärung erweisen, weshalb selbst ethisch empf<strong>in</strong>dende<br />

Männer schweigen, wenn sie von dem sexuell ausbeuterischen Verhalten<br />

e<strong>in</strong>es Kollegen hören.<br />

Der verbotene Bereich: Überall und nirgends<br />

Die Frage, weshalb angesehene Männer mit E<strong>in</strong>fluß Frauen wie<strong>der</strong>holt<br />

so leicht ausnutzen können, ohne je entdeckt zu werden, verstörte<br />

und fasz<strong>in</strong>ierte mich zugleich. Ich fühlte, ich müsse soviel wie<br />

irgend möglich darüber <strong>in</strong> Erfahrung br<strong>in</strong>gen, wie und warum so<br />

etwas geschieht und wie Frauen empf<strong>in</strong>den, wenn sie sexuelle Beziehungen<br />

mit ihren Ärzten, Lehrern o<strong>der</strong> Therapeuten haben, und was<br />

die sozialen und kulturellen Beweggründe für dieses Problem s<strong>in</strong>d.<br />

Ich lenkte me<strong>in</strong>e Untersuchungen über dieses Thema nicht mehr auf<br />

me<strong>in</strong>e eigenen Gefühle, son<strong>der</strong>n auf die allgeme<strong>in</strong>en Umstände.<br />

In diesem Stadium prägte ich den Begriff <strong>der</strong> »<strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>«,<br />

um sexuelle Kontakte, die sich <strong>in</strong> professionellen Vertrauensbeziehungen<br />

abspielen, zu beschreiben. Ich entdeckte, daß <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen S<strong>in</strong>ne gleichzeitig überall und<br />

nirgends vorkommt. Das Thema wird von <strong>der</strong> Fachliteratur ausgeklammert<br />

(e<strong>in</strong> Sachverhalt, auf den ich im nächsten Abschnitt näher<br />

e<strong>in</strong>gehen werde, als Symptom dafür, wie sehr unsere Gesellschaft<br />

bemüht ist, das Problem sexuellen Fehlverhaltens von e<strong>in</strong>flußreichen<br />

Männern zu leugnen). Als ich jedoch begann, mit an<strong>der</strong>en darüber zu<br />

sprechen – mit Freunden, Bekannten, Kollegen und Patienten –, fand<br />

21


ich heraus, daß <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong> Bereich überall zu f<strong>in</strong>den ist, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung von Frauen.<br />

Bemerkenswerterweise zögerten die Frauen ke<strong>in</strong>esfalls, wenn sie<br />

gebeten wurden, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Fast achtzig Prozent<br />

<strong>der</strong> Frauen, mit denen ich sprach, hatten erlebt, daß e<strong>in</strong> Mann,<br />

<strong>der</strong> ihr Arzt, Therapeut, Pastor, Anwalt o<strong>der</strong> Lehrer war, sich ihnen<br />

sexuell genähert hatte. In etwa <strong>der</strong> Hälfte <strong>der</strong> Fälle war es zu e<strong>in</strong>er<br />

wirklichen sexuellen Beziehung mit verheerenden Folgen gekommen.<br />

Diejenigen, von denen nicht die Initiative ausgegangen war, berichteten,<br />

wie empört, verwirrt o<strong>der</strong> angewi<strong>der</strong>t sie von den erotischen<br />

Anzüglichkeiten <strong>der</strong> Männer gewesen waren. Die zwanzig Prozent <strong>der</strong><br />

Frauen, denen so etwas noch nie passiert war, hatten Freund<strong>in</strong>nen,<br />

die solche Erfahrungen gemacht hatten.<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> ist nicht etwa e<strong>in</strong> Problem, dem nur<br />

beson<strong>der</strong>s empfängliche Frauen ausgeliefert s<strong>in</strong>d. Die Opfer lassen<br />

sich nicht e<strong>in</strong>grenzen und auf e<strong>in</strong>e bestimmte Gruppe festlegen. Bei<br />

Gesprächen mit Rechtsanwält<strong>in</strong>nen und Therapeut<strong>in</strong>nen wurde mir<br />

klar, daß die Frauen, die mißbraucht werden, aus allen Berufen und<br />

Ständen kommen. Genausowenig, wie es nur die Männer mit ger<strong>in</strong>gen<br />

Pr<strong>in</strong>zipien s<strong>in</strong>d, die sich h<strong>in</strong>reißen lassen, s<strong>in</strong>d es auch nicht nur<br />

die psychisch labilen Frauen, die darauf e<strong>in</strong>gehen.<br />

Obwohl ich e<strong>in</strong>ige Untersuchungen ansprechen werde, <strong>in</strong> denen<br />

versucht wurde, das Problem <strong>in</strong> Statistiken zu erfassen, ist dies e<strong>in</strong> Thema,<br />

dessen Ausmaß sich bisher e<strong>in</strong>er statistischen Analyse entzieht.<br />

Frauen, die an verbotenem <strong>Sex</strong> teilgenommen haben, neigen dazu,<br />

sich zu sehr zu schämen o<strong>der</strong> zu ängstlich zu se<strong>in</strong>, um es öffentlich<br />

zuzugeben, und <strong>der</strong> Prozentsatz von Männern, die bereit s<strong>in</strong>d, ihr eigenes<br />

sexuelles Fehlverhalten e<strong>in</strong>zugestehen, ist verschw<strong>in</strong>dend ger<strong>in</strong>g.<br />

Glücklicherweise gibt es e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en, viel e<strong>in</strong>facheren Weg, die<br />

Realität e<strong>in</strong>zuschätzen – nämlich »herumfragen«. Probieren Sie es aus<br />

– Sie werden e<strong>in</strong>e Geschichte nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu hören bekommen,<br />

und Sie werden erkennen, daß sexuelle Ausbeutung <strong>in</strong> professionellen<br />

Verb<strong>in</strong>dungen e<strong>in</strong>e Epidemie <strong>in</strong> unserer Gesellschaft ist. Ich entdeckte<br />

bei me<strong>in</strong>en Gesprächen mit Betroffenen nicht nur, wie sehr das<br />

Problem verbreitet ist, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressantes Verhaltensmuster.<br />

Zunächst untersuchte ich nur sexuelle Beziehungen zwischen<br />

Therapeuten und Patient<strong>in</strong>nen. In diesem Bereich kannte ich mich am<br />

22


esten aus, <strong>in</strong> ihm hatte ich die eigene Erfahrung mit me<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong><br />

Mia gemacht und die Enttäuschung durch me<strong>in</strong>en Mentor erlebt.<br />

Ich wollte von den Frauen die psychologischen Motive erfahren, die zu<br />

Verb<strong>in</strong>dungen geführt hatten, und daraufh<strong>in</strong> erzählten mir viele von<br />

ihnen von weiteren Beziehungen zu Geistlichen, Rechtsanwälten o<strong>der</strong><br />

Lehrern; Beziehungen, <strong>in</strong> denen sie auch gefühlt hatten, daß ihr Vertrauen<br />

auf e<strong>in</strong>e Weise mißbraucht worden war, die <strong>der</strong> zwischen Therapeuten<br />

und Patient<strong>in</strong>nen sehr ähnlich schien.<br />

Das Muster sexuellen Mißbrauchs von Vertrauen wurde immer<br />

deutlicher, als e<strong>in</strong>ige Frauen mir sagten, daß sie sich dieser Art von<br />

sexuellem Druck auch im Berufsleben ausgesetzt fühlten. In <strong>der</strong><br />

Arbeitswelt hatte ich dieses Verhaltensmuster nicht erwartet. <strong>Sex</strong>uelle<br />

Belästigung ist etwas an<strong>der</strong>es als <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong> Bereich, weil nicht<br />

notwendigerweise e<strong>in</strong> spezielles Vertrauensverhältnis existiert.<br />

Mittelpunkt me<strong>in</strong>er Untersuchung war jedoch die vertrauensvolle<br />

Beziehung, die durch sexuelles Fehlverhalten gestört wird. In den<br />

Gesprächen mit den betroffenen Frauen wurde mir dann allerd<strong>in</strong>gs<br />

bewußt, daß es durchaus e<strong>in</strong> spezielles Verhältnis zwischen Vorgesetzten<br />

und Angestellten geben kann, e<strong>in</strong> Verhältnis, <strong>in</strong> dem sich die Frau<br />

dem Mann anvertraut – und dadurch praktisch ausliefert, beson<strong>der</strong>s<br />

wenn ihre weitere berufliche Entwicklung von ihm abhängig ist.<br />

Je mehr Frauen anspruchsvolle Positionen im Berufsleben e<strong>in</strong>nehmen,<br />

desto akuter wird das Problem. Es muß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ihm zugrundeliegenden<br />

Psychologie erkannt und verstanden werden.<br />

Ich begann zu sehen, daß das, was ich <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong><br />

nannte, unter verschiedenen Bezeichnungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

immer schon großes Interesse gefunden hatte, zum Beispiel sexuelles<br />

Fehlverhalten von Geistlichen und Politikern – berühmte und unbekannte.<br />

Ob es sich um e<strong>in</strong>en örtlichen Geistlichen handelte, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Verweis erhielt o<strong>der</strong> entlassen wurde, weil er mit e<strong>in</strong>em Mitglied<br />

se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de sexuelle Beziehungen gehabt hatte, o<strong>der</strong> um spektakuläre<br />

sexuelle Ausbeutung durch große geistige o<strong>der</strong> religiöse Führer<br />

– <strong>in</strong> all diesen Fällen klang die zugrundeliegende Triebkraft für den<br />

Mißbrauch bemerkenswert ähnlich.<br />

Das Ereignis mit <strong>der</strong> stärksten Wirkung <strong>in</strong> unserer politischen<br />

Geschichte war die Offenlegung <strong>der</strong> Beziehung Gary Hart/Donna<br />

Rice, weil sie die Kandidatur e<strong>in</strong>es Mannes beendete, <strong>der</strong> gute<br />

23


Aussichten hatte, Präsident zu werden. Wir wissen nicht, ob Gary<br />

Hart Donna Rices Vertrauen mißbraucht hat, da wir ke<strong>in</strong>e Informationen<br />

über die psychologischen Umstände ihres Zusammentreffens<br />

haben. Wir wissen jedoch, daß Senator Hart als charismatische nationale<br />

Ersche<strong>in</strong>ung gegenüber Donna Rice über enorme persönliche<br />

Macht verfügte und daß er die Affäre beendete, als sie bekannt wurde.<br />

Auch wenn Donna Rice sich nicht als Opfer betrachten sollte, ist<br />

sie e<strong>in</strong> Symbol für die Frau, die von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>flußreichen Mann sexuell<br />

benutzt wird, bis sie nicht mehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Programm paßt und aus<br />

se<strong>in</strong>em Leben verschw<strong>in</strong>den muß.<br />

Ob er ihr Vertrauen mißbraucht hat o<strong>der</strong> nicht, wir wissen, daß<br />

Senator Hart unseres verraten hat. Sosehr wir uns an die Vorstellung<br />

gewöhnen mögen, daß e<strong>in</strong>flußreiche Männer e<strong>in</strong> geheimes <strong>Sex</strong>ualleben<br />

haben, so erwarten wir doch Besseres von ihnen, und wir fühlen<br />

uns verraten, weil unsere Erwartungen enttäuscht wurden. Obwohl<br />

Präsident John F. Kennedy se<strong>in</strong> sexuelles Doppelleben erfolgreich vor<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit verbarg, als er im Amt war, haben viele Leute ihre<br />

Me<strong>in</strong>ung über ihn geän<strong>der</strong>t, nachdem se<strong>in</strong> Privatleben gründlicher<br />

untersucht worden ist.<br />

Durch die Massenmedien und durch me<strong>in</strong>e umfangreichen<br />

Untersuchungen erhielt ich mehr und mehr Beweismaterial über<br />

sexuelle Ausbeutung durch e<strong>in</strong>flußreiche Männer; e<strong>in</strong>iges durch<br />

das Phänomen <strong>der</strong> Das-weiß-doch-je<strong>der</strong>-Geschichten. Wenn die<br />

Leute e<strong>in</strong>e gewisse Schwelle zu e<strong>in</strong>em Thema überwunden haben,<br />

das bisher tabu war, kann e<strong>in</strong>e dramatische Verän<strong>der</strong>ung zur Offenheit<br />

e<strong>in</strong>treten. Ganz plötzlich begann ich, D<strong>in</strong>ge zu hören wie:<br />

»Je<strong>der</strong> weiß, daß Rechtsanwälte, die sich mit Scheidungen befassen,<br />

dafür bekannt s<strong>in</strong>d, daß sie sexuelle Verb<strong>in</strong>dungen mit ihren Mandant<strong>in</strong>nen<br />

e<strong>in</strong>gehen.« Und: »Als ich Psychologie studierte, wußte<br />

je<strong>der</strong>, daß die Student<strong>in</strong>nen mit ihren Doktorvätern schliefen.«<br />

Das Das-weiß-doch-je<strong>der</strong>-Phänomen machte manchmal auf jemanden<br />

aufmerksam, von dem »je<strong>der</strong> wußte«, daß er mit se<strong>in</strong>en<br />

Patient<strong>in</strong>nen (Mandant<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> Student<strong>in</strong>nen) Geschlechtsverkehr<br />

hatte.<br />

Diese Phase me<strong>in</strong>er Studien war e<strong>in</strong> willkommener und konstruktiver<br />

Ausgleich zu <strong>der</strong> gepflegten Verschwiegenheit, <strong>der</strong> ich bis dah<strong>in</strong><br />

begegnet war. Diese plötzliche Flut von Informationen enthüllte, daß<br />

24


sich h<strong>in</strong>ter unserer Verleugnung e<strong>in</strong>e ganze Menge Wissen über<br />

<strong>verbotenen</strong> <strong>Sex</strong> verbirgt und daß es befreiend ist, zu erfahren, daß<br />

an<strong>der</strong>e begonnen haben, darüber zu sprechen. Obwohl diese »allgeme<strong>in</strong><br />

bekannten« Informationen auch irreführende Gerüchte se<strong>in</strong><br />

können, s<strong>in</strong>d sie doch viel öfter noch Untertreibungen.<br />

Schließlich begann ich während me<strong>in</strong>er Untersuchungen, die<br />

Männer und Frauen gründlich und detailliert zu befragen; ihre<br />

persönlichen Berichte über <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong> Bereich bilden e<strong>in</strong>e<br />

wichtige Informationsgrundlage für dieses Buch. Während ich ihnen<br />

zuhörte, zweifelte ich ke<strong>in</strong>en Moment an dem Wahrheitsgehalt dieser<br />

persönlichen Geschichten. Ich führte ke<strong>in</strong>e strukturierten Interviews<br />

mit vorbereiteten Fragen und Informationskategorien. Ich<br />

redete e<strong>in</strong>fach mit diesen Männern und Frauen, oft viele Stunden<br />

lang. E<strong>in</strong>ige Interviews erfolgten per Ferngespräch, und ich habe<br />

e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Leute, die von ihren leidvollen Erfahrungen berichteten,<br />

nie persönlich kennengelernt.<br />

Für viele me<strong>in</strong>er Gesprächspartner war es e<strong>in</strong>e neue Erfahrung,<br />

über ihre sexuellen Beziehungen im <strong>verbotenen</strong> Bereich zu reden.<br />

Und viele hatten ihre Erlebnisse auch noch gar nicht verarbeitet.<br />

Traurigerweise waren die meisten dieser Frauen erstaunt zu entdecken,<br />

wie tiefgreifend destruktiv diese Erfahrungen für sie gewesen<br />

waren, egal, ob sie sie vor e<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> vor zwanzig Jahren erlebt hatten.<br />

Sie haben mich alle tief berührt.<br />

Ich lernte mehr über sexuelle Ausbeutung, als ich erwartet hatte,<br />

und entdeckte sie <strong>in</strong> Bereichen, an die ich gar nicht gedacht hatte.<br />

Das Schlüsselelement, wie e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>flußreicher Mann das Vertrauen<br />

e<strong>in</strong>er Frau sexuell mißbraucht, schien dagegen identisch zu se<strong>in</strong>, ganz<br />

gleich, um wen es sich handelte, e<strong>in</strong>en Arzt, e<strong>in</strong>en Psychiater, e<strong>in</strong>en<br />

Psychologen, e<strong>in</strong>en Therapeuten, Professor, Mentor, Pastor, Pfarrer,<br />

Rabbi o<strong>der</strong> Guru. Die Schwierigkeit, die e<strong>in</strong>e Frau hat, sexuellen<br />

Kontakt <strong>in</strong> all diesen Beziehungen abzulehnen, schien mir sehr artverwandt.<br />

Alle <strong>verbotenen</strong> Liebschaften spielten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Atmosphäre<br />

<strong>der</strong> erzwungenen Verschwiegenheit ab, die nicht nur von den<br />

direkt beteiligten Männern und Frauen, son<strong>der</strong>n auch von Zeugen<br />

stillschweigend gebilligt wurde. Ich wußte das, denn ich war auch so<br />

e<strong>in</strong> stummer Zeuge gewesen.<br />

25


Vorwort<br />

Darstellung des Themas:<br />

Term<strong>in</strong>ologie, Statistiken und Quellen<br />

Dieses Buch handelt davon, warum Männer und Frauen große<br />

Schwierigkeiten haben, <strong>Sex</strong>ualität aus Beziehungen herauszuhalten,<br />

<strong>in</strong> die sie nicht gehört, und darüber, weshalb Phantasien<br />

über sexuellen Kontakt mit <strong>verbotenen</strong> Partnern so reizvoll s<strong>in</strong>d.<br />

Es basiert auf me<strong>in</strong>er Erfahrung als Psychiater mit <strong>der</strong> gefährlichen<br />

Mischung von <strong>Sex</strong>ualität und E<strong>in</strong>fluß, die entsteht, wenn sich Frauen<br />

h<strong>in</strong>ter geschlossenen Türen ihrem Arzt, Psychotherapeuten, Geistlichen,<br />

Anwalt, Lehrer o<strong>der</strong> Mentor anvertrauen.<br />

Obwohl solche Beziehungen an<strong>der</strong>en Zielen dienen sollen, werden<br />

sie oft äußerst erotisch, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>flußreichen Mann<br />

berauschende Phantasien über sexuelle Vere<strong>in</strong>igung mit <strong>der</strong> Frau hervorrufen,<br />

<strong>der</strong>en Vertrauen er hat; o<strong>der</strong> <strong>in</strong> beiden. Trotz <strong>der</strong> Tatsache,<br />

daß diese Männer moralische, rechtliche und ethische Verantwortung<br />

tragen, gibt es e<strong>in</strong>e weitgehend verdeckte Epidemie sexueller Ausbeutung.<br />

Männliche und weibliche Leser werden erkennen, daß die<br />

Lektionen über die verbotene <strong>Zone</strong> sich über den professionellen<br />

Bereich e<strong>in</strong>es Praxiszimmers h<strong>in</strong>aus auf die verschiedensten Bereiche<br />

des täglichen Lebens, wo Frauen mit Männern umgehen, anwenden<br />

lassen. Darüber h<strong>in</strong>aus sollte diese Beschreibung über <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong><br />

Bereich neue E<strong>in</strong>sichten über verwandte Probleme för<strong>der</strong>n,<br />

solche wie Vergewaltigung, Inzest, K<strong>in</strong>desverführung, sexuelle Belästigung,<br />

Ehebruch und sexuelle Süchtigkeit.<br />

Diesem Buch liegen psychologische und gesellschaftliche Perspektiven<br />

über <strong>Sex</strong>ualität zugrunde, um das große Ausmaß <strong>der</strong> sozialen<br />

27


Kräfte zu zeigen, die Männer und Frauen veranlassen, Mißbrauch zu<br />

betreiben. Obwohl Frauen die offensichtlichen Opfer <strong>der</strong> Ausbeutung<br />

im <strong>verbotenen</strong> Bereich s<strong>in</strong>d, können auch e<strong>in</strong>flußreiche Männer sich<br />

durch den destruktiven Ausdruck ihrer <strong>Sex</strong>ualität selbst zum Opfer<br />

machen, <strong>in</strong>dem sie die verborgenen Wunden, die ihrem unangebrachten<br />

sexuellen Verhalten zugrunde liegen, nicht beachten. Der<br />

Schaden, <strong>der</strong> durch den Vertrauensbruch <strong>in</strong> und außerhalb <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> verursacht wird, ist gravierend.<br />

Der verbotene Bereich, <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Buch def<strong>in</strong>iert ist, ist <strong>der</strong>jenige<br />

von e<strong>in</strong>flußreichen Männern, die Frauen ausbeuten. Obwohl<br />

auch e<strong>in</strong>flußreiche Frauen Männer ausbeuten können und obwohl<br />

Männer und Frauen homosexuelle Ausbeutung betreiben, machen<br />

<strong>der</strong>artige Situationen nur e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Prozentsatz professionellen<br />

Mißbrauchs aus.<br />

In gewisser Weise berührt und verletzt <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong> Bereich<br />

uns alle. Frauen s<strong>in</strong>d daran gewöhnt, die Opfer zu se<strong>in</strong>; sie stellen immer<br />

wie<strong>der</strong> fest, daß wenige Beziehungen zu Männern frei von sexuellen<br />

Ansprüchen s<strong>in</strong>d. Selbst wenn es nicht zu e<strong>in</strong>er sexuellen Beziehung<br />

kommt, ist die Frau unterschwellig fast immer dem Druck ausgesetzt.<br />

Wenn dieser Mann ihr wichtig ist, wird sie versuchen, das sexuelle<br />

Element zu übersehen, o<strong>der</strong> sie wird darauf e<strong>in</strong>gehen, aus Furcht,<br />

e<strong>in</strong>e wertvolle Beziehung durch ihre Ablehnung zu zerstören. Ich<br />

habe jedoch festgestellt, daß e<strong>in</strong>e Frau, die auf irgendwelche Kompromisse<br />

e<strong>in</strong>geht, die Kontrolle über ihre eigenen <strong>in</strong>timen Barrieren<br />

verliert und e<strong>in</strong> gefährliches Zusammenspiel zuläßt, das sie zum Opfer<br />

machen kann.<br />

Denn sie wird zum Opfer, weil die Männer so oft den Schlüssel<br />

für die Karriere e<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong> den Händen halten und zu ihrem physischen,<br />

psychischen, geistigen, wirtschaftlichen o<strong>der</strong> <strong>in</strong>tellektuellen<br />

Wohl. Je stärker die sexuellen Anzüglichkeiten e<strong>in</strong>es Mannes s<strong>in</strong>d,<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>fluß auf sie hat, desto mehr können sie e<strong>in</strong> H<strong>in</strong><strong>der</strong>nis für die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Frau werden. Den größten Schaden richten jedoch<br />

das Ignorieren <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Stimme und die Verletzung <strong>der</strong> eigenen<br />

Würde an. Auf diesen Seiten werden die Erfahrungen von Frauen<br />

mit <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong> Bereich wie<strong>der</strong>gegeben. Es werden auch die<br />

unterschwelligen Phantasien und Beweggründe <strong>der</strong> weiblichen Psyche<br />

erklärt, die Frauen zu solchen Verb<strong>in</strong>dungen veranlassen.<br />

28


Me<strong>in</strong>e Ansicht ist, daß jegliches sexuelles Verhalten e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>flußreichen<br />

Mannes <strong>in</strong> dem, was ich als den <strong>verbotenen</strong> Bereich<br />

bezeichne, naturgemäß Mißbrauch des Vertrauens <strong>der</strong> Frau bedeutet.<br />

Da ihm das Vertrauen entgegengebracht wird, ist er – egal, wie<br />

provozierend o<strong>der</strong> offensichtlich aufgeschlossen die Frau sich verhalten<br />

mag – dafür verantwortlich, daß ke<strong>in</strong>e sexuelle Verb<strong>in</strong>dung<br />

stattf<strong>in</strong>det.<br />

Da für viele Männer <strong>Sex</strong>ualität am reizvollsten ist, wenn sie verboten<br />

ist, schützt sie die Tatsache, daß sie e<strong>in</strong>e Vertrauensposition<br />

<strong>in</strong>nehaben, nicht vor dem heimlichen Wunsch, doch sexuellen Kontakt<br />

zu erstreben. Der »normale« Mann mit <strong>der</strong> Neigung, die sexuellen<br />

Barrieren zu überschreiten, taucht dann h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> professionellen<br />

Rolle auf.<br />

Der Schaden, den e<strong>in</strong> Mann sich selbst zufügt, wenn er diese<br />

Grenzen verletzt, ist oft schwer bestimmbar, da er sich im Moment<br />

des <strong>verbotenen</strong> <strong>Sex</strong> selbst vormacht, die Befriedigung e<strong>in</strong>es starken<br />

Bedürfnisses zu empf<strong>in</strong>den. Dieses Buch erklärt die Gründe, weshalb<br />

verbotene <strong>Sex</strong>ualität für Männer so verlockend ist. Es zeigt, wie Frauen<br />

dazu beitragen, <strong>in</strong>dem sie sich sexuell ausbeuten lassen, und es<br />

beschreibt die gesellschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen,<br />

die zu destruktiven sexuellen Verb<strong>in</strong>dungen führen. Ich werde<br />

Maßnahmen vorschlagen, wie man ausbeuterischen <strong>Sex</strong> vermeiden<br />

kann und wie man sich, wenn es denn passiert ist, von den Wunden<br />

erholen kann.<br />

Das unbenennbare Benennen<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>: sexuelles Verhalten zwischen Mann und<br />

Frau, die e<strong>in</strong>e auf Vertrauen basierende berufliche Beziehung haben,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn <strong>der</strong> Mann <strong>der</strong> Arzt, Psychotherapeut, Pastor,<br />

Anwalt, Lehrer o<strong>der</strong> Mentor <strong>der</strong> Frau ist.<br />

Um den gesellschaftlichen Vorhang des Schweigens zu lüften, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>flußreiche<br />

Männer schützt, die das Vertrauen von Frauen mißbrauchen,<br />

mußte dieses Syndrom im weitesten Zusammenhang benannt werden.<br />

Unsere Versuche, die dunkleren Seiten des menschlichen Verhaltens<br />

zu verstehen, werden erschwert, wenn uns die Wörter fehlen, um die<br />

29


Vorgänge zu beschreiben. Im Laufe <strong>der</strong> Geschichte waren viele Verhaltensformen,<br />

die wir heute als schwerwiegende moralische Vergehen<br />

ansehen, solche wie Vergewaltigung, Sklaverei und Völkermord,<br />

zu bestimmten Zeiten und <strong>in</strong> bestimmten Kulturen völlig akzeptiert.<br />

Obwohl diese Vergehen sehr verbreitet waren, blieben sie unerwähnt,<br />

was bezeugt, wie sehr sie Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens<br />

waren. Wenn e<strong>in</strong>e Verhaltensform e<strong>in</strong>e Bezeichnung erhält, die e<strong>in</strong>en<br />

negativen Beiklang hat, ist das e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> ersten Zeichen, daß e<strong>in</strong>ige<br />

Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft beg<strong>in</strong>nen, die Selbstverständlichkeit e<strong>in</strong>es<br />

solchen Verhaltens <strong>in</strong> Frage zu stellen. Wörter wie Rassismus, <strong>Sex</strong>ismus<br />

und Diskrim<strong>in</strong>ierung s<strong>in</strong>d Wortprägungen des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />

die entstanden s<strong>in</strong>d, als die Gesellschaft fähig wurde, diese<br />

Praktiken als unrechte Elemente im Standardverhalten unseres Kulturkreises<br />

zu erkennen. Man kann ke<strong>in</strong> Gesetz gegen etwas erlassen,<br />

das ke<strong>in</strong>e Bezeichnung hat.<br />

Selbst <strong>der</strong> Begriff »sexuelle Belästigung«, <strong>der</strong> heute zur Umgangssprache<br />

gehört, wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er jetzigen Bedeutung erst seit 1976<br />

benutzt. Man kann sich vorstellen, wie Frauen früher versuchten zu<br />

beschreiben, wie sie am Arbeitsplatz behandelt wurden, und zum<br />

Ausdruck br<strong>in</strong>gen wollten, daß sie nicht mehr bereit waren, diese<br />

Behandlung als »normal« h<strong>in</strong>zunehmen. Bis vor kurzem wurde sexuelle<br />

Ausbeutung von Frauen durch Therapeuten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Kreisen als<br />

weitgehend erfunden angesehen. Wenn e<strong>in</strong>e Frau so etwas behauptete,<br />

wurde ihr entwe<strong>der</strong> vorgeworfen, ihre Phantasie g<strong>in</strong>ge mit ihr<br />

durch o<strong>der</strong> sie sei die Verführer<strong>in</strong> gewesen. Dr. Alan A. Stone, e<strong>in</strong><br />

Experte <strong>der</strong> Psychiatrie und des Rechts, hat diese Haltung 1984 <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Buch »Law, Psychiatry, and Morality« zusammengefaßt:<br />

30<br />

»Vor zwanzig Jahren waren Patient<strong>in</strong>nen, die behaupteten, von ihren<br />

Psychotherapeuten sexuell ausgebeutet worden zu se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> Gefahr<br />

ausgesetzt, zu hören, daß sie unter psychotischen Umstellungen litten.<br />

Diese Vermutung beruhte auf den psychologischen Theorien,<br />

daß diese Berichte hysterischem Wunschdenken entsprängen. Selbst<br />

<strong>in</strong> Fällen von Vergewaltigung o<strong>der</strong> Inzest wurde so geurteilt. Heute<br />

ersche<strong>in</strong>en uns unsere früheren Ansichten schockierend und unentschuldbar.«


Die Bezeichnung »<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>«, wie sie <strong>in</strong> diesem<br />

Buch def<strong>in</strong>iert ist, faßt aus psychologischer Sicht ausbeuterisches Verhalten<br />

zusammen, das bisher mit verschiedenen Begriffen bezeichnet<br />

wurde, wie sexuelles Fehlverhalten, sexuelle Ausbeutung, sexuelle<br />

Kontakte, Verletzung sexueller Barrieren und unpassende Anzüglichkeit.<br />

Das s<strong>in</strong>d die zur Zeit üblichsten Bezeichnungen für sexuelle<br />

Beziehungen von e<strong>in</strong>flußreichen Männern mit Frauen <strong>in</strong> ihrer<br />

Obhut.<br />

Die Unterscheidung zwischen <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> sexuellen <strong>Zone</strong> und<br />

annehmbarem sexuellen Verhalten muß jedoch <strong>in</strong> vielen Bereichen<br />

unserer Gesellschaft noch klargestellt werden. Zum Beispiel wußte<br />

mehr als die Hälfte <strong>der</strong> Frauen, die für dieses Buch <strong>in</strong>terviewt wurden,<br />

zum Zeitpunkt ihrer sexuellen Beziehung mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>flußreichen<br />

Mann nicht, daß es ethische Vorschriften und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen<br />

Gesetze gibt, die <strong>der</strong>artige Verb<strong>in</strong>dungen verbieten.<br />

Es ist üblich, daß Männer, die die verbotene <strong>Zone</strong> verletzen, ihren<br />

weiblichen Opfern erklären, daß es gegen sexuelle Intimität nichts<br />

e<strong>in</strong>zuwenden gibt. Die meisten Männer wissen, daß das nicht<br />

stimmt, und <strong>in</strong>dem sie so etwas behaupten, manipulieren sie gewissenlos.<br />

Aber wenn Männer wirklich glauben, daß Geschlechtsverkehr<br />

unter solchen Bed<strong>in</strong>gungen erlaubt sei, ist e<strong>in</strong>e klarere Def<strong>in</strong>ition<br />

<strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dungen nötig, <strong>in</strong> denen sexuelle Beziehungen<br />

grundsätzlich schädlich s<strong>in</strong>d.<br />

Die verbotene <strong>Zone</strong> ist e<strong>in</strong>e Beziehung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Sex</strong>ualität unerlaubt<br />

ist, weil e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>em Mann freiwillig Zugang zu ihren<br />

<strong>in</strong>timsten Seiten gewährt, weil sie sich dadurch Hilfe erhofft. Das<br />

Vertrauen entsteht durch die professionelle Rolle des Mannes als<br />

Arzt, Therapeut, Rechtsanwalt, Geistlicher, Lehrer o<strong>der</strong> Mentor; <strong>in</strong><br />

dieser Vertrauensbeziehung soll das, was immer die Frau dem Mann<br />

anvertrauen mag (ihren Besitz, ihren Körper, ihre Gedanken o<strong>der</strong><br />

ihre Seele), ausschließlich zur För<strong>der</strong>ung ihrer Interessen und nicht<br />

zu se<strong>in</strong>em Vorteil benutzt werden, we<strong>der</strong> sexuell noch auf an<strong>der</strong>e<br />

Weise.<br />

Innerhalb solcher Verhältnisse ist sexuelles Verhalten immer schädlich<br />

und falsch, egal, von wem es ausgeht, egal, wie sehr die Beteiligten<br />

daran <strong>in</strong>teressiert s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> nehmen<br />

die Faktoren E<strong>in</strong>fluß, Vertrauen und Abhängigkeit e<strong>in</strong>er Frau die<br />

31


Möglichkeit, frei über sexuellen Kontakt zu entscheiden. Die unterschwelligen<br />

Beweggründe <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> können es e<strong>in</strong>er<br />

Frau unmöglich machen, ihre Zustimmung zu verweigern. Da <strong>der</strong><br />

Mann den größeren E<strong>in</strong>fluß hat, trägt er die Verantwortung dafür,<br />

daß ke<strong>in</strong> sexueller Kontakt stattf<strong>in</strong>det, gleichgültig, wie provozierend<br />

die Frau sich verhalten mag.<br />

Die verbotene <strong>Zone</strong> existiert immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beziehung zwischen<br />

Arzt und Patient<strong>in</strong>, Therapeuten und Patient<strong>in</strong>, Geistlichem und<br />

Geme<strong>in</strong>demitglied, Rechtsanwalt und Mandant<strong>in</strong>, Lehrer und Schüler<strong>in</strong>.<br />

All diese Berufe br<strong>in</strong>gen die Verantwortung mit sich, die<br />

Abhängigkeiten, die sich unweigerlich entwickeln, nicht zu mißbrauchen.<br />

Während Therapeuten und Geistliche sich mit psychologischen<br />

und geistigen Verwundungen befassen, haben Rechtsanwälte, Lehrer<br />

und Mentoren oft mit den gleichen Verwundungen zu tun, die als<br />

äußere statt als <strong>in</strong>nere Notlage ausgedrückt werden. Da die Art <strong>der</strong><br />

Beziehung von <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Qualität <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung genauso abhängig<br />

ist wie von <strong>der</strong> äußeren, kann sich die verbotene <strong>Zone</strong> auch <strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>en Bereichen entwickeln, wie etwa am Arbeitsplatz, und zwar<br />

immer dann, wenn ke<strong>in</strong>e Gleichberechtigung besteht.<br />

Im weitesten S<strong>in</strong>ne kann die verbotene <strong>Zone</strong> <strong>in</strong> je<strong>der</strong> menschlichen<br />

Beziehung bestehen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Person <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en übergeordnet ist.<br />

E<strong>in</strong> Vorteil <strong>der</strong> Abgrenzung des <strong>verbotenen</strong> <strong>Sex</strong>ualbereichs ist, daß<br />

sie uns ermöglicht, Beziehungen zu erkennen, <strong>in</strong> denen Übertretungen<br />

des Grenzbereichs vorkommen können, bevor es passiert.<br />

Lassen Sie uns e<strong>in</strong>en Moment das empf<strong>in</strong>dliche Gleichgewicht<br />

zwischen E<strong>in</strong>fluß und Vertrauen betrachten. Durch die Ungleichheit<br />

<strong>der</strong> Kräfteverhältnisse <strong>in</strong> unserer Gesellschaft besitzt e<strong>in</strong> Mann oft<br />

den Schlüssel zu Karriere, Gesundheit o<strong>der</strong> Zukunft e<strong>in</strong>er Frau.<br />

Es kann für e<strong>in</strong> Mädchen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Frau folgenschwer se<strong>in</strong>, wenn<br />

diese Verantwortung von e<strong>in</strong>em Mann mit Autorität als sexuelle<br />

Gelegenheit benutzt wird. Er b<strong>in</strong>det sie an sich, und wenn er sie aufgibt,<br />

ist sie oft zu verletzt, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Beziehung glücklich<br />

zu werden. Sie wird sich wahrsche<strong>in</strong>lich mit <strong>der</strong> Opferrolle identifizieren,<br />

sie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Beziehungen wie<strong>der</strong>holen und jedesmal e<strong>in</strong><br />

Stück mehr Selbstachtung und Lebensfreude verlieren.<br />

E<strong>in</strong>e Frau erleidet auch Verletzungen, wenn sie dem Mann wi<strong>der</strong>steht.<br />

Er macht es ihr unmöglich, die Beziehung fortzusetzen; damit<br />

32


verliert sie e<strong>in</strong>en Lehrer, e<strong>in</strong>en Therapeuten, e<strong>in</strong> Vorbild o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Mentor. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong>artige Verlust kann fatal se<strong>in</strong>; er kann die E<strong>in</strong>stellung<br />

e<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong> beruflicher und privater H<strong>in</strong>sicht von Grund auf<br />

än<strong>der</strong>n.<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>: Die Beteiligten<br />

Daß die verbotene <strong>Zone</strong> <strong>Sex</strong> zwischen Arzten o<strong>der</strong> Therapeuten und<br />

ihren Patient<strong>in</strong>nen ausschließt, ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung deutlich gesagt<br />

worden. Dieser Teil beschreibt die Gründe, weshalb die gleichen<br />

Verbote für Beziehungen zwischen Pfarrer und Geme<strong>in</strong>demitglied,<br />

Rechtsanwalt und Mandant<strong>in</strong>, Lehrer und Schüler<strong>in</strong> und am Arbeitsplatz<br />

zwischen Mentor und Schützl<strong>in</strong>g gelten.<br />

Pfarrer-Pfarrk<strong>in</strong>d- o<strong>der</strong><br />

Geistlicher-Geme<strong>in</strong>demitglied-Beziehungen<br />

Ich gebrauche die Bezeichnung »Geistlicher« o<strong>der</strong> »Pfarrer« generell<br />

für männliche religiöse Führer aller Glaubensrichtungen, selbst wenn<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> jeweiligen Glaubensgeme<strong>in</strong>schaft an<strong>der</strong>e Bezeichnungen, wie<br />

Priester, Rabbi, Vater o<strong>der</strong> Patriarch üblich s<strong>in</strong>d. Die Voraussetzung,<br />

die zu e<strong>in</strong>em Abgleiten <strong>in</strong> die verbotene <strong>Zone</strong> führen kann, ist <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er religiösen Umgebung das wie<strong>der</strong>holte Treffen zu zweit zwischen<br />

e<strong>in</strong>em Geistlichen und e<strong>in</strong>er Frau se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de, egal, ob diese<br />

Treffen seelsorgerischen Charakter haben o<strong>der</strong> nicht. Obwohl religiöse<br />

und geistliche Themen die ursprünglichen Beweggründe für diese<br />

Zusammenkünfte gewesen se<strong>in</strong> mögen, werden doch <strong>in</strong>timere, persönliche<br />

Angelegenheiten bald berührt.<br />

Der E<strong>in</strong>fluß des Pfarrers auf se<strong>in</strong> Pfarrk<strong>in</strong>d ist dadurch garantiert,<br />

daß er <strong>der</strong>jenige ist, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Frau den Weg zu Gott weisen kann. E<strong>in</strong><br />

Geistlicher, <strong>der</strong> zu sexueller Ausbeutung neigt, kann se<strong>in</strong>e Autorität<br />

leicht dazu mißbrauchen, e<strong>in</strong>er Frau zu erklären, daß e<strong>in</strong>e sexuelle<br />

Beziehung von Gott gewollt ist. Selbst erfahrene Frauen können<br />

Schwierigkeiten haben, dem Argument zu wi<strong>der</strong>stehen, wenn sie <strong>der</strong><br />

religiösen Überzeugung anhängen, die <strong>der</strong> Geistliche vertritt.<br />

33


Religiöse Kulte, <strong>in</strong> denen <strong>der</strong> Guru o<strong>der</strong> geistliche Führer sexuelle<br />

Beziehungen mit vielen se<strong>in</strong>er weiblichen Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong> unterhält,<br />

s<strong>in</strong>d deutliche Beispiele für dieses Phänomen. Der Anführer beutet<br />

das Vertrauen und den Wert <strong>der</strong> geistlichen Beziehung <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichen<br />

Weise aus, wie es Therapeuten, Rechtsanwälte, Lehrer o<strong>der</strong><br />

Mentoren <strong>in</strong> <strong>der</strong> privaten Atmosphäre ihrer Büros tun.<br />

Rechtsanwalt-Mandant<strong>in</strong>-Beziehungen<br />

Auf den ersten Blick hat die Rechtsanwalt-Mandant<strong>in</strong>-Beziehung<br />

nicht unbed<strong>in</strong>gt den gleichen Grad von Vertrautheit und Intimität,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> den mediz<strong>in</strong>ischen, psychotherapeutischen und religiösen<br />

Verb<strong>in</strong>dungen so wesentlich ist. Rechtliche Themen kreisen um äußere,<br />

materielle Erwägungen statt um den Bereich <strong>der</strong> Gefühle o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Seele. Trotzdem gibt es verschiedene Gründe, weshalb e<strong>in</strong>e Rechtsanwalt-Mandant<strong>in</strong>-Beziehung<br />

auch den sexuellen Geboten <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> unterworfen ist.<br />

Erstens müssen wir die emotionale Wirkung berücksichtigen, die<br />

die Art <strong>der</strong> Lösung äußerer Probleme hat, um zu beurteilen, von welch<br />

zentraler Bedeutung die Rechtsanwalt-Mandant<strong>in</strong>-Beziehung se<strong>in</strong><br />

kann. Das Ergebnis juristischer Maßnahmen kann die Seele <strong>in</strong> gleicher<br />

Weise verletzen o<strong>der</strong> heilen wie <strong>in</strong> Beziehungen, die sich direkter mit<br />

dem Gemüt befassen. Zweitens s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>flußbeweggründe die gleichen<br />

wie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Beziehungen im <strong>verbotenen</strong> Bereich, und sie<br />

bewirken <strong>in</strong> Frauen die gleiche psychologische Verletzbarkeit.<br />

Drittens spielen sich viele sexuelle Affären dieser Kategorie mit<br />

Anwälten ab, die auf das Familienrecht spezialisiert s<strong>in</strong>d und Scheidungs-<br />

und Sorgerechtsfälle übernehmen. Familienrechtsprozesse<br />

schließen die Möglichkeit e<strong>in</strong>, daß e<strong>in</strong>e Frau ihr Heim, ihre wirtschaftliche<br />

Basis o<strong>der</strong> sogar das Sorgerecht für ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> verliert.<br />

Der Rechtsanwalt hat enormen E<strong>in</strong>fluß auf die zukünftige Situation<br />

<strong>der</strong> Frau. Der Umstand, daß Rechtsanwälte auf dem Gebiet menschlicher<br />

Emotionen weniger Erfahrung als Therapeuten haben, kann<br />

die sexuelle Ausbeutungsmöglichkeit noch erhöhen.<br />

34


Professor-Student<strong>in</strong>-Beziehungen<br />

Me<strong>in</strong> Gebrauch <strong>der</strong> Bezeichnung »Lehrer« beg<strong>in</strong>nt mit <strong>der</strong> traditionellen<br />

Rolle e<strong>in</strong>es Schullehrers <strong>in</strong> unserem Erziehungssystem. Von<br />

dem Zeitpunkt an, wenn Mädchen zur Schule kommen und dann die<br />

Oberschule, das College und die Universität durchlaufen, s<strong>in</strong>d Lehrer<br />

normalerweie e<strong>in</strong>flußreiche Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> ihrem Leben. Mädchen<br />

und Frauen entwickeln durch Beziehungen zu diesen Lehrern oft ihr<br />

Verständnis zu zentralen Themen, wie ihre Berufswahl, ihre romantischen,<br />

ethischen und geistigen Erwartungen.<br />

Die Vorstellung e<strong>in</strong>er Frau über ihren Platz <strong>in</strong> <strong>der</strong> männlichen<br />

Welt ist stark von dem Grad bee<strong>in</strong>flußt, <strong>in</strong> dem ihr Talent und ihre<br />

Leistungsfähigkeit Anerkennung durch e<strong>in</strong>en Lehrer gefunden haben.<br />

Viele Frauen berichten über den ihr Leben verän<strong>der</strong>nden E<strong>in</strong>fluß<br />

e<strong>in</strong>es bestimmten Lehrers. E<strong>in</strong> solcher E<strong>in</strong>fluß kann e<strong>in</strong>deutig gut<br />

o<strong>der</strong> schlecht se<strong>in</strong>, das hängt davon ab, wie er ausgeübt wird.<br />

Die Lehrer-Schüler<strong>in</strong>-Beziehung kann sich aus dem Klassenzimmer<br />

heraus leicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e höchst <strong>in</strong>dividuelle entwickeln, die Aspekte<br />

von Elternersatz annehmen kann. Dieser Umstand unterstreicht, wie<br />

wichtig es ist, die verbotene sexuelle <strong>Zone</strong> e<strong>in</strong>zuhalten.<br />

Das Problem sexueller Beziehungen zwischen Professoren und Student<strong>in</strong>nen<br />

verlangt beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit wegen se<strong>in</strong>er Häufigkeit,<br />

die zum Teil auf den traditionellen Mangel an e<strong>in</strong>er klar umrissenen<br />

<strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> an den Universitäten zurückzuführen ist. Leute,<br />

die gegen solche Verbote argumentieren, behaupten, daß die beteiligten<br />

Frauen zustimmende Erwachsene s<strong>in</strong>d und daß es ke<strong>in</strong>e Verpflichtung<br />

gibt, sie – wie <strong>in</strong> Beziehungen mit Therapeuten, Geistlichen o<strong>der</strong><br />

Rechtsanwälten – zu beschützen. An den Universitäten wird vorwiegend<br />

dem Opfer die Schuld zugeschoben, da behauptet wird, daß die<br />

Student<strong>in</strong>nen ihre Professoren zu sexuellen Annäherungsversuchen<br />

ermutigen, um ihre akademische Karriere dadurch zu för<strong>der</strong>n. All diese<br />

Argumente lassen wichtige soziale und psychologische Realitäten<br />

außer acht. Das gesellschaftliche Gefüge läßt den Lehrer o<strong>der</strong> Professor<br />

noch immer über viel E<strong>in</strong>fluß verfügen. E<strong>in</strong> Lehrer hat für e<strong>in</strong><br />

Mädchen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Frau e<strong>in</strong>e ganz beson<strong>der</strong>e Art von Bedeutung,<br />

wenn sie ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er religiösen Institution kennenlernt. In diesen Fällen,<br />

egal, ob es sich um e<strong>in</strong>en Laien o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Geistlichen handelt,<br />

35


hat <strong>der</strong> Lehrer den zusätzlichen E<strong>in</strong>fluß durch das religiöse Umfeld<br />

und den Glauben <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>der</strong> Lehrer-Schüler<strong>in</strong>-<br />

Beziehung. Wenn e<strong>in</strong> Mann E<strong>in</strong>fluß auf beide, die äußeren und<br />

<strong>in</strong>neren, Identitätsvorstellungen e<strong>in</strong>er Frau hat, kann die B<strong>in</strong>dung<br />

vollständig se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> unerhörtesten Fälle von Ausbeutung<br />

geschehen, wenn geistliche, erzieherische und gesellschaftliche<br />

Bedürfnisse e<strong>in</strong>er Frau durch e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen e<strong>in</strong>flußreichen Mann<br />

erfüllt werden.<br />

Mentor-Protégé-Beziehungen<br />

Der Begriff Protégé bezeichnet jemanden, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>en Älteren<br />

o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>flußreicheren beschützt wird. Das umreißt genau die Bed<strong>in</strong>gung,<br />

die für die verbotene <strong>Zone</strong> zutrifft. Weil Protégé das französische<br />

Wort für e<strong>in</strong>e »beschützte Frau ist, dient er als allgeme<strong>in</strong>er<br />

Begriff für Frauen <strong>in</strong> Beziehungen <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>. Wir sollten<br />

uns durch die dem Wort zugrundeliegende Bedeutung daran er<strong>in</strong>nern,<br />

daß e<strong>in</strong> Mann immer die Pflicht hat, se<strong>in</strong>en Protege zu beschützen,<br />

und ihn nicht <strong>in</strong> Besitz nehmen darf.<br />

In e<strong>in</strong>er Ausbildungssituation kann die Mentor-Protégé-Beziehung<br />

e<strong>in</strong>e höchst <strong>in</strong>dividuelle Version <strong>der</strong> Lehrer-Schüler<strong>in</strong>-B<strong>in</strong>dung<br />

werden. Sie br<strong>in</strong>gt die Voraussetzung mit sich, daß <strong>der</strong> Lehrer e<strong>in</strong>e<br />

beson<strong>der</strong>e Verantwortung für die Schüler<strong>in</strong> übernimmt.<br />

Am Arbeitsplatz kann e<strong>in</strong>e Frau bemerken, daß sie e<strong>in</strong>e wichtige,<br />

persönliche Beziehung zu e<strong>in</strong>em Mann entwickelt, <strong>der</strong> ihr Vorgesetzter<br />

o<strong>der</strong> Chef ist. Die Beziehung bekommt oft für den e<strong>in</strong>flußreichen<br />

Mann und auch für die Frau e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Bedeutung.<br />

Er ist zum Teil Lehrer, zum Teil Beichtvater, zum Teil Vorbild. Sie<br />

können viele Stunden zusammen verbr<strong>in</strong>gen und sogar zusammen<br />

reisen. Obwohl die Beziehung e<strong>in</strong>e unsexuelle Zielsetzung hat, können<br />

sich Phantasien über sexuellen Kontakt bei dem Mentor o<strong>der</strong><br />

dem Protégé entwickeln – <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichen Weise wie <strong>in</strong> psychotherapeutischen<br />

Beziehungen.<br />

Die erhöhte Intimität und Wichtigkeit, die <strong>der</strong> Mentorbeziehung<br />

beigemessen wird, macht sie e<strong>in</strong>deutig zur <strong>verbotenen</strong> sexuellen<br />

<strong>Zone</strong>. Obwohl am Arbeitsplatz selten klar def<strong>in</strong>ierte Grundsätze die<br />

Entwicklung sexueller Intimität zwischen Mentor und Protégé ver-<br />

36


ieten, kann je<strong>der</strong> Versuch, die Grenze zu überschreiten, den gleichen<br />

Schaden verursachen, <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>stellt, wenn e<strong>in</strong> Therapeut<br />

und e<strong>in</strong>e Patient<strong>in</strong> sexuell <strong>in</strong>tim werden.<br />

Recherchen über die verbotene <strong>Zone</strong><br />

Der Mangel an Literatur o<strong>der</strong> Artikeln über sexuelle Ausbeutung <strong>in</strong><br />

den Berufen war 1984, als ich mit me<strong>in</strong>en Recherchen begann,<br />

schockierend. Ich fragte mich, ob denn niemand die Vorkommnisse<br />

sexueller Beziehungen zwischen Frauen und ihren Ärzten, Therapeuten,<br />

Geistlichen, Rechtsanwälten, Lehrern o<strong>der</strong> Mentoren untersucht<br />

o<strong>der</strong> die unterschwelligen Beweggründe für diese Beziehungen analysiert<br />

hätte. Tatsächlich hatten sehr wenige über die Parallelen zwischen<br />

dieser Art des Mißbrauchs von E<strong>in</strong>fluß und an<strong>der</strong>en Mustern sexuellen<br />

Mißbrauchs außerhalb dieser beson<strong>der</strong>en Beziehungen geschrieben.<br />

Ich fand nur zwei Bücher. E<strong>in</strong>es war <strong>der</strong> persönliche Bericht e<strong>in</strong>er<br />

Frau, die durch ihren Psychiater sexuell ausgebeutet worden war<br />

(»Betrayal« von Lucy Freeman und Julie Roy). Das an<strong>der</strong>e war,<br />

unglaublicherweise, von e<strong>in</strong>em Psychiater, <strong>der</strong> die Vorteile sexueller<br />

Beziehungen zwischen Frauen und ihren Therapeuten darstellte<br />

(»The Love Treatment« von Mart<strong>in</strong> Shepard). Das Durchforsten von<br />

Fachliteratur brachte nur e<strong>in</strong>e Handvoll von Artikeln über <strong>Sex</strong> zwischen<br />

Patient<strong>in</strong>nen und ihren Ärzten o<strong>der</strong> Therapeuten zutage und<br />

faktisch nichts über sexuellen Kontakt zwischen Frauen und Männern<br />

<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Berufen.<br />

Obwohl das wenige Material, das ich fand, wertvoll war und seitdem<br />

viel mehr Artikel und e<strong>in</strong>ige Bücher über das Thema erschienen<br />

s<strong>in</strong>d, war ich damals nicht über das erstaunt, was ich vorfand, son<strong>der</strong>n<br />

darüber, was ich nicht vorfand. In <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Bibliothek <strong>der</strong><br />

hiesigen Universität, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> größten <strong>der</strong> Welt, fehlten viele <strong>der</strong><br />

wichtigsten Fachartikel. Als ich die zuständige Bibliothekar<strong>in</strong> bat, mir<br />

bei <strong>der</strong> Suche nach Fachliteratur über Artikel zum Thema <strong>Sex</strong> zwischen<br />

Therapeuten und Patient<strong>in</strong>nen zu helfen, war sie so überrascht<br />

wie ich festzustellen, daß das umfangreiche, sehr ausgeklügelte Computer-Suchsystem<br />

nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e entsprechende Kategorie auswies.<br />

Ich schloß daraus, daß die Fachleute den sexuellen Mißbrauch <strong>in</strong><br />

ihren Reihen lieber ignorierten.<br />

37


E<strong>in</strong>e Botschaft wurde klar, die Männer und Frauen vernommen<br />

hatten, die vorher versucht hatten, die dunkle Seite ihrer Berufe zu<br />

untersuchen: »Lassen Sie uns das geheimhalten. Sprechen Sie nicht<br />

darüber, lesen Sie nichts darüber, versuchen Sie, nicht daran zu denken.<br />

Was immer Sie tun, schreiben Sie nirgendwo darüber, wo zu viele<br />

Leute es f<strong>in</strong>den könnten. Selbst wenn wir es unter uns besprechen<br />

müssen, halten Sie das auf alle Fälle von <strong>der</strong> Öffentlichkeit fern.«<br />

1970 veröffentlichte Dr. Charles Dahlberg <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

»Contemporary Psychoanalysis« e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten Untersuchungen <strong>der</strong><br />

Fachliteratur über <strong>Sex</strong> zwischen Therapeuten und Patient<strong>in</strong>nen. Er<br />

beschreibt Versuche, die Publikation se<strong>in</strong>es Artikels zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

und ihn an e<strong>in</strong>e Zeitschrift mit ger<strong>in</strong>ger Auflage abzuschieben:<br />

»Es ist erstaunlich, daß nicht mehr darüber [<strong>Sex</strong> zwischen Therapeuten<br />

und Patient<strong>in</strong>nen] geschrieben worden ist. Ich sollte hier anmerken,<br />

daß ich Probleme hatte, diesen Artikel bei größeren Organisationen,<br />

bei denen ich weniger, aber immerh<strong>in</strong> nicht unbedeutenden<br />

E<strong>in</strong>fluß hatte, unterzubr<strong>in</strong>gen. Mir wurde gesagt, er sei zu kontrovers.<br />

Welch e<strong>in</strong>e Bezeichnung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Beruf, <strong>in</strong> dem man <strong>in</strong> viktorianischen<br />

Zeiten bereits über k<strong>in</strong>dliche <strong>Sex</strong>ualität und Inzest sprach.<br />

›E<strong>in</strong> zu heißes Eisen‹ – das war wohl damit geme<strong>in</strong>t.«<br />

Dr. Nanette Gartrell, e<strong>in</strong>e Psychiater<strong>in</strong> <strong>in</strong> San Francisco, und ihre Kollegen<br />

haben die zuverlässigste und mo<strong>der</strong>nste Untersuchung über<br />

sexuelle Kontakte zwischen Psychiatern und Patient<strong>in</strong>nen durchgeführt.<br />

Dr. Gartrell erzählt die H<strong>in</strong>tergrundgeschichte zu e<strong>in</strong>er Schil<strong>der</strong>ung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kapitel mit dem Titel »Weigerung des Instituts gegen<br />

Selbstuntersuchung: E<strong>in</strong> Fallbericht« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> neuen Bücher zu<br />

diesem Thema »<strong>Sex</strong>ual Exploitation of Patients by Health Professionals«,<br />

herausgegeben von A. Burgess und C. Hart-man. Als Dr. Gartrell<br />

Vorsitzende <strong>der</strong> Untersuchungskommission <strong>der</strong> amerikanischen<br />

psychiatrischen Gesellschaft war, die sich mit dem Thema sexueller<br />

Kontakte zwischen Psychiatern und Patienten befaßte, schlug sie e<strong>in</strong>en<br />

Bericht über das Vorkommen sexueller Ausbeutung durch Psychiater<br />

vor, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> erster bescheidener Schritt zu dem Bemühen se<strong>in</strong> sollte,<br />

auf das Problem aufmerksam zu machen. Aber die Gesellschaft, e<strong>in</strong>e<br />

Organisation, <strong>in</strong> <strong>der</strong> fast alle amerikanischen Psychiater Mitglie<strong>der</strong><br />

38


s<strong>in</strong>d, weigerte sich, <strong>der</strong> eigenen Untersuchungskommission Mittel zur<br />

Verfügung zu stellen und zu erlauben, das Projekt unter ihrer Schirmherrschaft<br />

durchführen zu lassen, <strong>in</strong>dem sie auf die Gefahr negativer<br />

Publizität h<strong>in</strong>wies. Dr. Gartrell und ihr Team waren gezwungen, die<br />

Untersuchung außerhalb des Fachverbandes mit Hilfe privater Spenden<br />

durchzuführen.<br />

Ich erkannte, daß diese Art von Unterdrückung die Heimlichkeit<br />

spiegelt, zu <strong>der</strong> alle sexuellen Opfer gedrängt werden. Im Gegensatz<br />

dazu ist das Brechen des Schweigens, <strong>der</strong> kühne Wi<strong>der</strong>stand gegen den<br />

Heimlichkeitskodex, e<strong>in</strong> Hilferuf <strong>der</strong> Frauen und Männer geworden,<br />

die versuchen, sexuelle Ausbeutung zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, <strong>in</strong>dem sie auf die<br />

Umstände h<strong>in</strong>weisen, unter denen sie gedeiht. Jede Rede, die darüber<br />

gehalten wird, je<strong>der</strong> Artikel und jedes Buch, das über die zugrundeliegenden<br />

Beweggründe sexueller Ausbeutung geschrieben wird,<br />

machen den Deckmantel durchsichtiger.<br />

Statistische Untersuchungen auf diesem Gebiet können jedoch<br />

immer noch nur unbefriedigend se<strong>in</strong>. Den meisten statistischen Untersuchungen<br />

liegen die Aussagen <strong>der</strong> wenigen Männer zugrunde, die<br />

bereit s<strong>in</strong>d, Ausbeutung zuzugeben. Da nur e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit sich dazu<br />

bekennt, können die meisten Überschreitungen gar nicht erfaßt werden.<br />

Obwohl statistische Daten im mediz<strong>in</strong>ischen, psychotherapeutischen<br />

und im Lehrbereich an den Universitäten gesammelt werden,<br />

gibt es noch ke<strong>in</strong>e Untersuchungen, die das Ausmaß sexueller Ausbeutung<br />

durch Rechtsanwälte, Geistliche und Vorgesetzte erfassen.<br />

Dank e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe von Rechercheuren ist jedoch schon<br />

etwas Licht <strong>in</strong> die <strong>Zone</strong> gefallen, die bisher völlig im dunkeln lag.<br />

Während <strong>der</strong> letzten zehn Jahre haben diese Fachleute, von denen die<br />

meisten Frauen s<strong>in</strong>d, sich den blockierenden Bemühungen ihrer<br />

männlichen Kollegen mutig wi<strong>der</strong>setzt, um etwas Grundmaterial von<br />

Studien und Statistiken über <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> zu sammeln.<br />

Aber selbst sie wissen, daß es wichtiger ist, das Problem zu benennen,<br />

als es zu beziffern.<br />

Studien über sexuellen Kontakt an den Universitäten zeigen mit<br />

großer Übere<strong>in</strong>stimmung, daß zwanzig bis dreißig Prozent <strong>der</strong> Student<strong>in</strong>nen<br />

sexuelle Annäherungsversuche durch ihre Professoren<br />

erfahren haben. In e<strong>in</strong>em neueren Bericht steht, daß siebzehn Prozent<br />

<strong>der</strong> Student<strong>in</strong>nen <strong>der</strong> Psychologie während ihrer Ausbildung mit<br />

39


ihren Professoren sexuell <strong>in</strong>tim wurden und daß weitere dreißig Prozent<br />

unerwünschte Annäherungsversuche zurückgewiesen haben. E<strong>in</strong><br />

Kollege sagte mir, daß es an se<strong>in</strong>er psychologischen Fakultät e<strong>in</strong> offenes<br />

Geheimnis und völlig akzeptiert war, daß fast jede Student<strong>in</strong>, die<br />

promovieren wollte, mit ihrem Doktorvater schlief. Trotzdem hat<br />

niemand davon berichtet. Fand das etwa niemand bemerkenswert?<br />

O<strong>der</strong> entsprach dieses Verhalten zu sehr <strong>der</strong> Rout<strong>in</strong>e, um darüber zu<br />

sprechen?<br />

Dr. Jacquel<strong>in</strong>e Bouhoutsos, e<strong>in</strong>e Psycholog<strong>in</strong> <strong>in</strong> Los Angeles, hat<br />

erstmalig Studien über sexuelle Ausbeutung durch Psychotherapeuten<br />

aller Fachrichtungen durchgeführt (<strong>in</strong>klusive Psychologen an Kl<strong>in</strong>iken,<br />

Psychiatern, Sozialarbeitern und Eheberatern). Um die Abhängigkeit<br />

von Berichten <strong>der</strong> Männer zu umgehen, die selbst über ihre<br />

Ausbeutung erzählen, befragten sie und ihre Kollegen praktizierende<br />

Therapeuten, ob sie schon Patient<strong>in</strong>nen behandelt hätten, die sexuelle<br />

Beziehungen mit früheren Therapeuten gehabt hatten. Ihre Ergebnisse<br />

zeigen, daß siebzig Prozent <strong>der</strong> Therapeuten über m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />

Patient<strong>in</strong> berichteten, die e<strong>in</strong>e solche Beziehung gehabt hatte; 96 Prozent<br />

dieser früheren Therapeuten waren Männer. Dr. Bouhoutsos sammelte<br />

diese Informationen mit Dr. Kenneth Pope 1986 <strong>in</strong> <strong>der</strong> wertvollen<br />

Studie »<strong>Sex</strong>ual Intimacy Between Therapists and Patients«.<br />

Die Autor<strong>in</strong> Dr. Judith Herman hat sich mit Dr. Gartrell und<br />

an<strong>der</strong>en Kollegen zusammengetan, um die bisher gründlichste Studie<br />

über <strong>Sex</strong> zwischen Psychiatern und ihren Patient<strong>in</strong>nen durchzuführen.<br />

In ihrer Untersuchung gaben von 1057 Psychiatern, die ihren<br />

Fragebogen ausfüllten, 7,1 Prozent zu, sexuellen Kontakt mit e<strong>in</strong>er<br />

Patient<strong>in</strong> gehabt zu haben. Sie fassen das Hauptthema <strong>in</strong> ihrem im<br />

September 1986 im »American Journal of Psychiatry« erschienenen<br />

Artikel zusammen:<br />

40<br />

»Der hippokratische Eid und <strong>der</strong> ethische Kodex <strong>der</strong> amerikanischen<br />

psychiatrischen Gesellschaft verbieten sexuellen Kontakt zwischen<br />

Psychiatern und Patienten. Trotzdem verb<strong>in</strong>den sich e<strong>in</strong>ige Psychiater<br />

sexuell mit ihren Patient<strong>in</strong>nen. Obwohl Unterlagen über das Ausmaß<br />

des Problems nur begrenzt zur Verfügung stehen, zeigt das beste<br />

zur Verfügung stehende Material, daß sechs bis zehn Prozent <strong>der</strong> Psychiater<br />

sexuellen Kontakt mit ihren Patient<strong>in</strong>nen gehabt haben und


daß die Mehrzahl <strong>der</strong> Psychiater von solchen Fällen wußte, aber<br />

nichts dagegen unternommen hat. Obwohl sich die Anzahl von Meldungen<br />

und Beschwerden über sexuellen Mißbrauch bei ethischen<br />

Ausschüssen und Fachverbänden <strong>in</strong> den letzten Jahren erhöht hat,<br />

wird allgeme<strong>in</strong> zugegeben, daß nur e<strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>er Teil dieser Fälle<br />

öffentlich zur Notiz genommen wird. «<br />

Aus e<strong>in</strong>er Studie im »American Journal of Psychiatry« g<strong>in</strong>g hervor,<br />

daß im mediz<strong>in</strong>ischen Bereich, <strong>in</strong> dem die Ungleichheit des E<strong>in</strong>flusses<br />

beson<strong>der</strong>s offenkundig und sexueller Kontakt durch den hippokratischen<br />

Eid ausdrücklich verboten ist, dreizehn Prozent <strong>der</strong> Ärzte<br />

über sexuelle Verb<strong>in</strong>dungen mit Patient<strong>in</strong>nen berichteten. Von diesen<br />

gaben achtzig Prozent an, mit durchschnittlich sechs Patient<strong>in</strong>nen<br />

<strong>in</strong>timen Kontakt gehabt zu haben. Das unterstützt die These,<br />

daß die meisten Männer, die die verbotene <strong>Zone</strong> übertreten, sogenannte<br />

Wie<strong>der</strong>holungstäter s<strong>in</strong>d, die serienmäßig e<strong>in</strong>e Frau nach <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en ausbeuten.<br />

Ich konnte ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige veröffentlichte statistische Studie über<br />

sexuelles Fehlverhalten bei Geistlichen f<strong>in</strong>den. Trotzdem glauben Kollegen,<br />

die Erfahrung <strong>in</strong> diesem Bereich haben, daß das Vorkommen<br />

bei Geistlichen noch die geschätzten zehn Prozent bei Psychotherapeuten<br />

übersteigt.<br />

Selbst wenn wir die zur Verfügung stehenden Statistiken vorsichtig<br />

benutzen, ist die Anzahl <strong>der</strong> Frauen, die durch <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> betroffen s<strong>in</strong>d, erschütternd. Ohne Vorgesetzte am Arbeitsplatz<br />

s<strong>in</strong>d, laut e<strong>in</strong>em 1986 erschienenen Bericht des Arbeitsamtes, ungefähr<br />

vier Millionen Männer <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Berufen<br />

tätig, auf die die <strong>in</strong> diesem Buch def<strong>in</strong>ierte verbotene <strong>Zone</strong> zutrifft:<br />

Ärzte, Psychotherapeuten, Rechtsanwälte, Geistliche und Lehrer.<br />

Wenn wir von e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>destzahl von zehn Prozent dieser Männer<br />

ausgehen, die Frauen <strong>in</strong> ihrer Obhut ausbeuten, und wenn wir annehmen,<br />

daß je<strong>der</strong> dieser Männer mit nur e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Protégé sexuelle<br />

Beziehungen hatte, kommen wir auf die Anzahl von 400 000<br />

Opfern. Aber da die Untersuchungen ausweisen, daß die meisten<br />

aus-beuterischen Männer Wie<strong>der</strong>holungstäter s<strong>in</strong>d, die viele Frauen<br />

mißbrauchen, können wir diese Zahl (wie<strong>der</strong>um vorsichtig) verdreifachen,<br />

um auf die ke<strong>in</strong>eswegs unwahrsche<strong>in</strong>liche Zahl von über e<strong>in</strong>er<br />

41


Million Frauen zu kommen, die <strong>in</strong> den USA <strong>in</strong> Vertrauensbeziehungen<br />

sexuell zu Opfern geworden s<strong>in</strong>d.<br />

Wenn wir die unzähligen Vorgesetzter-Protégé-Beziehungen am<br />

Arbeitsplatz dazurechnen, <strong>in</strong> denen <strong>Sex</strong> stattf<strong>in</strong>det, s<strong>in</strong>d wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

mehrere Millionen Frauen betroffen.<br />

Weil das Thema nicht mit Statistiken unterlegt werden kann, werden<br />

<strong>in</strong> diesem Buch Schlußfolgerungen aus vielen Fallstudien gezogen.<br />

Me<strong>in</strong>e Beobachtungen entstammen e<strong>in</strong>er Datenbank von mehr als<br />

tausend Fallberichten über männliche Fachleute, die sexuelle Beziehungen<br />

mit Patient<strong>in</strong>nen, Mandant<strong>in</strong>nen, Geme<strong>in</strong>demitglie<strong>der</strong>n und<br />

Student<strong>in</strong>nen hatten. Diese Berichte stammen aus mehreren Quellen:<br />

(1) Männer und Frauen, die ich während <strong>der</strong> letzten fünfzehn Jahre <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er psychiatrischen Praxis getroffen habe, (2) Männer und Frauen,<br />

die nicht me<strong>in</strong>e Patienten waren, aber bereit waren, mir speziell für<br />

dieses Buch von ihren Erfahrungen zu berichten, (3) Fälle, mit denen<br />

an<strong>der</strong>e Fachleute – Psychiater, Psychologen, Geistliche, Rechtsanwälte,<br />

Lehrer – mich aus ihrer Praxis vertraut machten, und (4) Fallstudien<br />

aus Vorträgen bei Kongressen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachliteratur veröffentlicht<br />

o<strong>der</strong> bei Gerichten o<strong>der</strong> den Berufsverbänden registriert wurden.<br />

Obwohl es äußerst wichtig ist, den Vorhang <strong>der</strong> Heimlichkeit von<br />

<strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> zu lüften, müssen wir das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise tun, die<br />

die private Vertrauenssphäre <strong>der</strong> Opfer nicht weiter verletzt, <strong>in</strong>dem wir<br />

ihnen das Recht absprechen zu entscheiden, wann und wem sie ihre<br />

Geschichte mitteilen wollen.<br />

Ich fühlte, daß die Frage <strong>der</strong> Ausbeutung sich stellen könnte, wenn<br />

ich me<strong>in</strong>e Patienten bitten würde, ihre Fälle <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Buch zu verarbeiten,<br />

und daß sie e<strong>in</strong>e verborgene Verpflichtung, ihrem Therapeuten<br />

zu helfen, zur Zustimmung veranlassen könnte. Deshalb<br />

betrifft – mit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Ausnahme – ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Fälle, die ich<br />

beschreibe, Patienten me<strong>in</strong>er eigenen Praxis o<strong>der</strong> verrät vertrauliche<br />

Berichte, die ich von Kollegen erhalten habe. Bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Ausnahme<br />

handelt es sich um e<strong>in</strong>e Frau, <strong>der</strong>en Behandlung ich vor vielen<br />

Jahren beendete und bei <strong>der</strong> ich es unangebracht fand, sie um ihre<br />

Erlaubnis zu bitten. Obwohl ich mich mit <strong>der</strong> Frage herumgeschlagen<br />

habe, ob es richtig sei, das Material <strong>in</strong> diesem Buch zu benutzen,<br />

entschied ich mich schließlich, es zu tun, wobei ich die Identität sorgfältig<br />

verhüllt habe.<br />

42


Die an<strong>der</strong>en Fälle, die ich detailliert beschreibe, entstammen den<br />

Interviews, die ich speziell für dieses Buch durchgeführt habe. E<strong>in</strong>ige<br />

Personen wurden durch Rechtsanwälte o<strong>der</strong> Therapeuten auf mich<br />

h<strong>in</strong>gewiesen, an<strong>der</strong>e, darunter e<strong>in</strong>e erstaunliche Anzahl von Frauen,<br />

die jetzt selbst helfende Berufe ausüben, nahmen mit mir Kontakt<br />

auf, als sie von me<strong>in</strong>en Recherchen hörten, und boten mir ihre Erfahrungen<br />

an. Ich habe diese Fälle mit unterschiedlichen Graden von<br />

Entfremdung präsentiert, und e<strong>in</strong>ige s<strong>in</strong>d Zusammensetzungen. Alle<br />

Namen und identifizierenden Details, die auf die eigentlichen Personen<br />

und die männlichen und weiblichen Fachleute h<strong>in</strong>weisen könnten,<br />

mit denen Beziehungen unterhalten wurden, habe ich zum<br />

Schutz <strong>der</strong> privaten Sphäre geän<strong>der</strong>t.<br />

Letztlich s<strong>in</strong>d die Erfahrungen <strong>der</strong> Frauen und Männer, die hier<br />

erwähnt s<strong>in</strong>d, repräsentativ für e<strong>in</strong>e zahllose Gesamtheit. Jede Person,<br />

<strong>der</strong>en Bericht ich präsentiere, und all diejenigen, <strong>der</strong>en Geschichten<br />

verborgen s<strong>in</strong>d, bilden das Zentrum von Wellenbewegungen, die<br />

immer größere Kreise ziehen könnten: Ist diese Frau das e<strong>in</strong>zige<br />

Opfer dieses sexuell ausbeuterischen Psychiaters? Wie wirkte sich die<br />

Depression <strong>der</strong> Frau auf ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus? Wie hat sich die Affäre des<br />

Psychiaters mit e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> auf die an<strong>der</strong>en Frauen ausgewirkt, die<br />

er zur gleichen Zeit behandelte? Wie hat sich das auf se<strong>in</strong>e Frau und<br />

se<strong>in</strong>e Familie ausgewirkt?<br />

Wenn sich herausstellt, daß e<strong>in</strong> Pfarrer viele Jahre h<strong>in</strong>durch wie<strong>der</strong>holt<br />

die Regeln gegen sexuellen Mißbrauch verletzt hat, die er<br />

selbst propagiert hat und wegen <strong>der</strong>en Verletzung er an<strong>der</strong>e bestraft<br />

hat, wie wirkt sich das auf den religiösen Glauben und die Praktiken<br />

se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de aus? Was besagt das für se<strong>in</strong>e spezielle religiöse Institution<br />

und für se<strong>in</strong> Pfarramt?<br />

Und wie steht es mit Männern, die von an<strong>der</strong>en Männern, die<br />

Frauen sexuell ausbeuten, behandelt und unterrichtet werden? Welche<br />

Haltung gegenüber Frauen wird unterstützt? Ich kenne Männer,<br />

die ihre e<strong>in</strong>stigen Vorbil<strong>der</strong> verachteten, als sie herausfanden, daß<br />

diese Therapeuten, Pfarrer o<strong>der</strong> Lehrer systematisch Protégés ausgebeutet<br />

hatten. Über solchen Verrat entrüstet, konnten sie nicht vermeiden,<br />

sich selbst für das zu verachten, was sie als ihre bl<strong>in</strong>de Ergebenheit<br />

betrachteten. An<strong>der</strong>e Männer f<strong>in</strong>den es moralisch bequem,<br />

den Fußstapfen <strong>der</strong> ausbeuterischen Vorbil<strong>der</strong> zu folgen. So nützlich<br />

43


die entstehenden Statistiken s<strong>in</strong>d, so können doch unmöglich Zahlen<br />

den vollen Umfang menschlichen Nachteils durch <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> vermitteln.<br />

E<strong>in</strong>e Anmerkung zur Term<strong>in</strong>ologie<br />

Psychologie ist e<strong>in</strong>zigartig dazu geeignet, Personen tieferes Verständnis<br />

für ihre eigenen Erfahrungen zu vermitteln. Die reichste psychologische<br />

Sprache ist die Umgangssprache, Fachausdrücke lenken von<br />

<strong>der</strong>en Reichtum ab. Aus diesem Grund habe ich versucht, den psychologischen<br />

Fachjargon soweit wie möglich zu vermeiden. Statt<br />

Fachausdrücke zu benutzen und zu versuchen, sie den Laien zu def<strong>in</strong>ieren,<br />

habe ich mich bemüht, alltägliche Ausdrücke anzuwenden<br />

und sie mit <strong>der</strong> psychologischen Bedeutung zu erfüllen, die sie <strong>in</strong> diesem<br />

Buch haben. Trotzdem werde ich hier e<strong>in</strong>ige psychologische<br />

Begriffe def<strong>in</strong>ieren, die für e<strong>in</strong>e Diskussion über <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> unerläßlich sche<strong>in</strong>en:<br />

Grenzbereiche<br />

Grenzbereiche def<strong>in</strong>ieren, wer wir s<strong>in</strong>d, wo wir aufhören und <strong>der</strong> Rest<br />

<strong>der</strong> Welt beg<strong>in</strong>nt, was uns gehört und was uns nicht gehört, was <strong>in</strong>tim<br />

und was öffentlich ist. Manchmal können Grenzbereiche physisch<br />

wahrgenommen werden. Mit Sicherheit gehören unsere Körper und<br />

unsere Kleidung uns, und jemand, <strong>der</strong> sie berührt o<strong>der</strong> uns näher als<br />

e<strong>in</strong>en knappen Meter kommt, tritt <strong>in</strong> den <strong>in</strong>timen Raum unseres<br />

Grenzbereiches e<strong>in</strong>. Aber wir haben auch e<strong>in</strong>en psychologischen Grenzbereich.<br />

Wenn wir nicht gelernt haben, diese weniger faßbaren Grenzbereiche<br />

zu erkennen und zu kontrollieren, können uns an<strong>der</strong>e Leute<br />

psychologisch überrennen. Solches Überrennen kann an sich schädlich<br />

se<strong>in</strong>, und es kann den Weg für späteres sexuelles Ausbeuten ebnen. Botschaften,<br />

die wir als K<strong>in</strong><strong>der</strong> durch die Familie und durch die Gesellschaft<br />

empfangen, entscheiden über den Grad von Kraft, den wir haben, um<br />

unsere physischen und psychologischen Grenzbereiche zu verteidigen.<br />

Generell werden Männer <strong>in</strong> unserer Gesellschaft dazu erzogen, sexuelle<br />

Grenzbereiche herauszufor<strong>der</strong>n, und Frauen werden dazu erzogen,<br />

männliche Herausfor<strong>der</strong>ung als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren.<br />

44


<strong>Sex</strong>uelles Verhalten, Invasion, Phantasie<br />

Je<strong>der</strong> physische Kontakt o<strong>der</strong> jede Körperbewegung, die ausgeübt<br />

wird, um erotisches Interesse zu wecken, ist sexuelles Verhalten. Unterscheidungen,<br />

wie wer wen berührt hat, <strong>in</strong> welcher Weise o<strong>der</strong> an<br />

welchem Teil des Körpers, s<strong>in</strong>d unwichtig, wenn es sich um <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> handelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> jede Berührung mit erotischem Interesse,<br />

<strong>in</strong>klusive <strong>der</strong> eigenen Berührung, e<strong>in</strong>e Verletzung des Grenzbereiches<br />

darstellt. Selbst e<strong>in</strong> angeblich versehentliches Streifen des Körpers<br />

e<strong>in</strong>er Frau muß als sexuelle Belästigung betrachtet werden, wenn<br />

e<strong>in</strong> Mann mit erotischem Interesse es e<strong>in</strong>gerichtet hat, nahe genug zu<br />

se<strong>in</strong>, damit e<strong>in</strong> solcher »Zufall« sich ereignen konnte.<br />

<strong>Sex</strong>uelle Invasion kann auch dann vorkommen, wenn die an<strong>der</strong>e<br />

Person nicht berührt wird. Masturbierende und an<strong>der</strong>e provozierende<br />

Körperbewegungen s<strong>in</strong>d realen Geschlechtsakten gleichzusetzen, selbst<br />

wenn ke<strong>in</strong> Körperkontakt zu <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Person stattf<strong>in</strong>det, und s<strong>in</strong>d<br />

genauso e<strong>in</strong>e Verletzung <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>, wie es die tatsächliche<br />

Berührung ist.<br />

Anzügliche Sprache sollte ebenfalls als sexuelles Verhalten angesehen<br />

werden. Die Art, <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mann mit e<strong>in</strong>er Frau spricht, kann e<strong>in</strong> Akt<br />

sexueller Invasion werden. Selbst übliche Bemerkungen, die Männer<br />

Frauen gegenüber machen, wie »Sie haben e<strong>in</strong>en wun<strong>der</strong>vollen Körper«,<br />

s<strong>in</strong>d beides, anzüglich und degradierend. Unter Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> psychologischen Atmosphäre <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> muß <strong>der</strong> überwältigende<br />

E<strong>in</strong>fluß <strong>der</strong> Sprache als konkreter Akt angesehen werden.<br />

<strong>Sex</strong>ualität kann auch auf nichtbelästigende Weise empfunden werden,<br />

als e<strong>in</strong> Gefühl, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em selbst begründet ist und von e<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en Person o<strong>der</strong> <strong>der</strong> »Atmosphäre« ausgeht. <strong>Sex</strong>ualität ist – ob wir<br />

das wollen o<strong>der</strong> nicht – <strong>in</strong> vielen Situationen vorherrschend. Sie zu<br />

bemerken ist von äußerster Wichtigkeit, um sexuelle Überschreitung<br />

zu vermeiden.<br />

<strong>Sex</strong>uelle Phantasie ist e<strong>in</strong>e spezielle Art geschlechtlichen Empf<strong>in</strong>dens<br />

mit Vorstellungen sexuellen Verhaltens zur Erreichung erotischer<br />

Ziele. Solange e<strong>in</strong>e klare Abgrenzung zwischen Vorstellung und Realisierung<br />

e<strong>in</strong>gehalten wird, ist sexuelle Phantasie nicht aufdr<strong>in</strong>glich<br />

und kann möglicherweise von <strong>der</strong> Person, die Wunschvorstellungen<br />

hat, konstruktiv umgesetzt werden. Trotzdem besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> verbote-<br />

45


nen <strong>Zone</strong> die Gefahr, daß <strong>der</strong> Mann den Grenzbereich vernebelt, um<br />

die Frau zu <strong>in</strong>volvieren, obwohl es se<strong>in</strong>e Pflicht ist, ihre Interessen zu<br />

schützen.<br />

Es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen verbotenem Geschlechtsverkehr<br />

und sexuellen Empf<strong>in</strong>dungen klarzumachen. Es ist<br />

völlig natürlich, <strong>in</strong> wichtigen Beziehungen sexuelle Empf<strong>in</strong>dungen<br />

und Phantasien zu haben. Die Fähigkeit, <strong>der</strong> Auflebung dieser Gefühle<br />

zu wi<strong>der</strong>stehen, ist die entscheidende Voraussetzung, um den<br />

sexuellen Grenzbereich respektieren zu können.<br />

Mißbrauch, E<strong>in</strong>fluß und Vertrauen<br />

Mißbrauch sche<strong>in</strong>t mir <strong>der</strong> passendste Ausdruck für <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> zu se<strong>in</strong>; denn das Opfer braucht Hilfe, wird aber<br />

mißbraucht.<br />

E<strong>in</strong>fluß bezieht sich auf den Unterschied <strong>der</strong> sozialen Stellung<br />

und <strong>der</strong> persönlichen Freiheit zwischen zwei Personen, <strong>der</strong> dazu<br />

führt, daß e<strong>in</strong>er dem an<strong>der</strong>en se<strong>in</strong>en Willen aufzw<strong>in</strong>gt. Dieser Wille<br />

wird gewöhnlich psychologisch aufgezwungen, kann sich aber<br />

auch psychisch auswirken, so wie bei <strong>der</strong> Entwicklung sexueller<br />

Intimität. Der E<strong>in</strong>fluß des Unterschieds beg<strong>in</strong>nt, wenn e<strong>in</strong>e Person<br />

mit speziellen Bedürfnissen sich auf <strong>der</strong> Suche nach Hilfe an e<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e wendet, die über mehr Kenntnisse, Erfahrungen o<strong>der</strong><br />

Fähigkeiten verfügt. Sobald die Beziehung beg<strong>in</strong>nt, wächst die E<strong>in</strong>flußmöglichkeit,<br />

den Willen aufzuzw<strong>in</strong>gen, erheblich, da die e<strong>in</strong>flußreichere<br />

Person damit drohen kann, die Beziehung aufzugeben.<br />

Vertrauen bezieht sich auf die Annahme e<strong>in</strong>er Person mit ger<strong>in</strong>gerem<br />

E<strong>in</strong>fluß, daß die e<strong>in</strong>flußreichere Person im Interesse <strong>der</strong><br />

hilfesuchenden handeln wird. Diese Annahme ist auf die Quelle <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong>d-Eltern-Beziehung zurückzuführen. Die Neigung zum Vertrauen<br />

wird durch die Fachleute selbst bestärkt und hervorgerufen, denn<br />

sie s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>en ethischen Kodex verpflichtet, wonach sie das<br />

Interesse <strong>der</strong> Patient<strong>in</strong>, Mandant<strong>in</strong>, Student<strong>in</strong>, des Geme<strong>in</strong>demitgliedes<br />

o<strong>der</strong> des Protégés unbed<strong>in</strong>gt zu berücksichtigen haben und<br />

wonach sexueller Kontakt nicht erlaubt ist. Tatsächlich haben viele<br />

Frauen <strong>in</strong> Beziehungen <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit,<br />

ihr Leben <strong>in</strong> den Griff zu bekommen o<strong>der</strong> sich weiterzuent-<br />

46


wickeln, als sich darauf zu verlassen, daß e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>flußreicher Mann<br />

se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß dazu benutzen wird, ihnen zu helfen, statt sie zu<br />

mißbrauchen.<br />

Psyche, Wunden, Übertragung und Ego<br />

Psyche ist <strong>der</strong> umfassende Begriff für die Gesamtheit unserer psychologischen<br />

Kapazitäten und Funktionen. Gemüt, Gefühle, Intellekt,<br />

Träume, Empf<strong>in</strong>dung, Persönlichkeit, Selbstwertgefühl, <strong>in</strong>nere Stimme,<br />

Vorstellungskraft, Leistungsfähigkeit, Verzweiflung und Leidenschaft<br />

gehören zum Bereich <strong>der</strong> Psyche.<br />

Dieses Buch geht davon aus, daß wir alle psychologische Wunden<br />

haben, die wir mehr o<strong>der</strong> weniger durch unser Verhalten im täglichen<br />

Leben zu heilen o<strong>der</strong> zu mil<strong>der</strong>n versuchen. Bei e<strong>in</strong>igen Leuten s<strong>in</strong>d<br />

die Wunden durch ihr depressives, selbstzerstörerisches o<strong>der</strong> ausbeuterisches<br />

Verhalten offensichtlich. An<strong>der</strong>e verbergen ihre Wunden so<br />

gut, daß nichts auf die Schwere ihres Leidens h<strong>in</strong>weist. Me<strong>in</strong>e Arbeit<br />

als Therapeut hat mich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Optimismus bestärkt, daß es<br />

unzählige Möglichkeiten gibt, selbst die schlimmsten Auswirkungen<br />

zu heilen, wenn die Wunden <strong>der</strong> Betroffenen und ihre Ursachen erst<br />

e<strong>in</strong>mal erkannt werden. Im folgenden Kapitel werde ich die verschiedensten<br />

Wunden und die Möglichkeiten, sie zu heilen, ausführlicher<br />

beschreiben.<br />

Übertragung wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychotherapie die Entwicklung von starken<br />

Gefühlen <strong>der</strong> Patienten für ihre Therapeuten genannt. Ubertragungsgefühle<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> mancher H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>erfahrung früherer<br />

unterschwelliger Emotionen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie, aber <strong>in</strong> an<strong>der</strong>er H<strong>in</strong>sicht<br />

weisen sie auf zukünftige Möglichkeiten <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es neuen,<br />

gesun<strong>der</strong>en Gefühlslebens h<strong>in</strong>. Zum Beispiel kann e<strong>in</strong>e Patient<strong>in</strong>, die<br />

versucht, ihren Therapeuten zu verführen, damit alte Verhaltensmuster<br />

wie<strong>der</strong>holen, aber sie wird dabei höchstwahrsche<strong>in</strong>lich auf e<strong>in</strong>e Reaktion<br />

hoffen, die sie von weiteren Wie<strong>der</strong>holungen abhält. Es liegt dann<br />

an dem Therapeuten, se<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> die Problematik vor Augen zu<br />

führen und ihr zu neuen heilenden Erkenntnissen zu verhelfen.<br />

Wie <strong>der</strong> Therapeut auf die Übertragung reagiert, kann über das<br />

weitere Schicksal <strong>der</strong> Patient<strong>in</strong> entscheiden. Er trägt e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e<br />

Verantwortung, die ihm bewußt se<strong>in</strong> sollte.<br />

47


Ähnliche Übertragungsgefühle gibt es auch <strong>in</strong> den Arzt-Patient<strong>in</strong>,<br />

Pfarrer-Pfarrk<strong>in</strong>d-, Rechtsanwalt-Mandant<strong>in</strong>-, Lehrer-Schüler<strong>in</strong>- und<br />

Mentor-Protégé-Beziehungen, egal, ob sie erkannt werden o<strong>der</strong> nicht.<br />

Deshalb muß sexuelles Verhalten <strong>in</strong> all diesen Beziehungen im <strong>verbotenen</strong><br />

Bereich zunächst e<strong>in</strong>mal auf die Übertragung <strong>der</strong> Frau zurückgeführt<br />

werden.<br />

Der Begriff Ego, wie ich ihn hier benutze, bezieht sich auf e<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>neren Kern von Wertvorstellung, Wissen, Energie, Bedeutung<br />

und Lebendigkeit, <strong>der</strong> dem des äußeren, gesellschaftlichen Begriffs<br />

von sich selbst vorausgeht. Wir s<strong>in</strong>d manchmal schockiert, wenn<br />

wir das persönliche Leiden e<strong>in</strong>es Menschen erkennen, <strong>der</strong> sonst –<br />

auf <strong>der</strong> äußeren, materiellen Ebene – sehr erfolgreich ist. Das kann<br />

vorkommen, wenn aufgrund von familiärer o<strong>der</strong> gesellschaftlicher<br />

Erwartungshaltung äußere o<strong>der</strong> materielle Ziele verfolgt werden,<br />

die <strong>in</strong> falscher Relation zu den eigenen Wertbegriffen stehen. Letztlich<br />

zählt <strong>der</strong> eigene Wertbegriff, wenn es um die Entscheidung<br />

geht, ob e<strong>in</strong> Leben als s<strong>in</strong>nvoll empfunden wird. Das Ego kann tief<br />

verletzt se<strong>in</strong>, aber es ist auch e<strong>in</strong>e Quelle <strong>der</strong> Hoffnung, Heilung<br />

und Erholung. Für beide, den e<strong>in</strong>flußreichen Mann und se<strong>in</strong>en<br />

Protégé, spielt das Thema Ego e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle. Die Neigung<br />

e<strong>in</strong>es Mannes, sexuelle Phantasien im <strong>verbotenen</strong> Bereich zu<br />

entwickeln, ist e<strong>in</strong> Ausdruck se<strong>in</strong>er Suche nach Lebendigkeit <strong>in</strong> sich<br />

selbst. In <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> werden heilende Momente erfahren,<br />

wenn <strong>der</strong> Mann und die Frau auf eigene Qualitäten zurückgreifen,<br />

um zerstörerischen Verletzungen des Grenzbereiches zu wi<strong>der</strong>stehen.<br />

Die meisten Frauen, die ausbeuterische sexuelle Beziehungen<br />

erfahren haben, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrem <strong>in</strong>nersten Ego tief verletzt. Diese psychologische<br />

Verwundung, die oft als das Ende <strong>der</strong> Hoffnung selbst<br />

empfunden wird, bleibt <strong>der</strong> größte Schaden durch <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong>.<br />

E<strong>in</strong> letzter Punkt zur Orientierung: E<strong>in</strong>es me<strong>in</strong>er Spezialgebiete als<br />

Psychiater ist die Psychoanalyse nach <strong>der</strong> Methode von C. G. Jung, für<br />

die ich an <strong>der</strong> Universität Son<strong>der</strong>kurse belegte. C.G. Jung, e<strong>in</strong> Schweizer<br />

Psychiater, vertrat die Ansicht, daß Ereignisse, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

menschlichen Psyche abspielen, so real, benennbar und verständlich<br />

s<strong>in</strong>d wie die, die wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Außenwelt wahrnehmen. Viele dieser<br />

<strong>in</strong>neren Ereignisse spielen sich im Unterbewußtse<strong>in</strong> ab, das e<strong>in</strong>e<br />

48


Quelle <strong>in</strong>nerer Kraft und Heilung se<strong>in</strong> kann und das durch Träume<br />

und Psychotherapie zugänglich gemacht werden kann. C. G. Jung war<br />

davon überzeugt, daß die Verän<strong>der</strong>ung bedrücken<strong>der</strong> sozialer Bed<strong>in</strong>gungen<br />

von <strong>der</strong> Fähigkeit e<strong>in</strong>es jeden als Individuum abhängt, die<br />

dunkle Seite se<strong>in</strong>er Psyche (die »Schattenseite«) zu erkennen.<br />

C.G. Jung war e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> vielen e<strong>in</strong>flußreichen Männer, die Probleme<br />

mit ihrer eigenen sexuellen Schattenseite hatten, und es gibt Beweise<br />

dafür, daß Jung mit zwei Patient<strong>in</strong>nen sexuelle Beziehungen hatte. In<br />

Anbetracht dieser ethischen Übertretungen ist es nicht ohne Ironie, daß<br />

Jungs Arbeit e<strong>in</strong>en bedeutenden psychologischen Rahmen für konstruktive<br />

Aussöhnung gegensätzlicher Standpunkte bietet, so-wohl auf<br />

dem Gebiet <strong>der</strong> Politik als auch auf dem <strong>der</strong> Kultur und<br />

zwischen den Geschlechtern. Zum Beispiel ist es e<strong>in</strong> Kernpunkt<br />

se<strong>in</strong>er Psychologie, daß Männer lernen können, sich <strong>in</strong> Frauen e<strong>in</strong>zufühlen,<br />

<strong>in</strong>dem sie die angeborenen fem<strong>in</strong><strong>in</strong>en Neigungen <strong>in</strong> sich selbst<br />

entdecken (»Anima«). Ebenso können Frauen Fähigkeiten<br />

verstehen und entwickeln, die sie Männern zuschreiben, <strong>in</strong>dem sie maskul<strong>in</strong>e<br />

Seiten <strong>in</strong> sich selbst erkennen (»Animus«). Obwohl Jungs Term<strong>in</strong>ologie<br />

<strong>in</strong> diesem Buch nicht angewandt wird, s<strong>in</strong>d Konzepte und<br />

Betrachtungsweisen, die ich präsentiere, e<strong>in</strong>deutig an Jung orientiert.<br />

Jungs Verletzung <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> ist für uns alle e<strong>in</strong> mahnendes<br />

Beispiel. Ich kann nur hoffen, daß dieses Buch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

gewissen Maß zur Wie<strong>der</strong>gutmachung <strong>der</strong> von ihm und vielen unserer<br />

kulturellen Väter begangenen Fehler beitragen wird.<br />

Me<strong>in</strong>e Hoffnung ist, daß diese Untersuchung über <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> Männern und Frauen helfen kann, die Unterschiede<br />

zwischen belebenden und zerstörerischen Ausdrucksformen <strong>der</strong><br />

<strong>Sex</strong>ualität bei sich selbst und den Mitmenschen viel bewußter zu<br />

sehen. Aus diesem Bewußtse<strong>in</strong> entsteht die Kraft zu wissen, wann und<br />

wie man an gesundem <strong>Sex</strong> teilhaben und wie man ungesunden <strong>Sex</strong><br />

zurückweisen sollte; denn letztlich wird die verbotene <strong>Zone</strong> <strong>in</strong> ihrer<br />

weitesten Bedeutung nicht durch Vorschriften, son<strong>der</strong>n durch Verständnis<br />

und Respekt abgegrenzt. Es ist e<strong>in</strong>e Aufgabe für uns alle, uns<br />

darüber klarzuwerden, auf welch üble Art wir e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> behandeln.<br />

Indem wir das erkennen, erhalten wir die Chance, das Beste <strong>in</strong> uns<br />

selbst zu entdecken und, wenn es zur Intimität kommt, dem an<strong>der</strong>en<br />

nicht weniger als das Beste von uns zu bieten.<br />

49


1. Kapitel<br />

Beziehungen von<br />

unschätzbarem Wert:<br />

Der psychologische Kern<br />

<strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong><br />

»Könnte ich noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e sexuelle Beziehung mit e<strong>in</strong>em Mitglied<br />

me<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de haben? Sicher, wenn ich ehrlich b<strong>in</strong>. Ich möchte<br />

nicht aufhören, von dem Verbotenen angezogen zu werden. Das abzulehnen<br />

würde bedeuten, e<strong>in</strong>en Teil me<strong>in</strong>er Männlichkeit abzulehnen.<br />

Ich verstehe die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Grenze, aber die Vorstellung, sie<br />

zu überschreiten, ist unvergleichlich erregend. Ich weiß nicht, warum<br />

das so wichtig ist, aber es ist so. Das aufzugeben wäre wie sterben.«<br />

Reverend Grant Bennett<br />

»In unserer Beziehung war e<strong>in</strong> Hochgefühl, das ich als göttlich empfand.<br />

Bei Dr. Yount konnte ich me<strong>in</strong>e tiefsten verwundeten Schichten<br />

bloßlegen und auf Liebe und Verständnis hoffen. Ich hoffte, daß<br />

er mich berühren würde, daß er den Teil von mir berühren würde,<br />

<strong>der</strong> immer verletzt und zurückgewiesen worden war, und daß er ihn,<br />

und damit mich, durch Berührung wie<strong>der</strong> zum Leben erwecken<br />

würde.«<br />

Helen Kifner<br />

In diesen leidenschaftlichen Worten beg<strong>in</strong>nen wir die enormen<br />

psychologischen Kräfte zu erahnen, die beide, Männer und Frauen,<br />

<strong>in</strong> Beziehungen <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> empf<strong>in</strong>den. Diese <strong>in</strong>nere<br />

Dimension <strong>der</strong> Kraft ist <strong>der</strong> Schlüssel zu dem Rätsel, warum selbst<br />

redliche, hochqualifizierte Männer und Frauen die Grenze zu e<strong>in</strong>er<br />

zerstörerischen sexuellen Beziehung überschreiten können.<br />

51


Die Gefühle, die Helen Kifner zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt, weisen uns<br />

auf die ursprünglichen, unerotischen Gründe h<strong>in</strong>, die Frauen so leicht<br />

dazu bewegen, Beziehungen im <strong>verbotenen</strong> Bereich e<strong>in</strong>zugehen und,<br />

über den Zeitpunkt des Mißbrauchs h<strong>in</strong>aus, dar<strong>in</strong> zu verharren.<br />

Reverend Bennetts Offenheit über die Verlockung des Verbotenen<br />

weist auf die Ursachen h<strong>in</strong>, warum Männer so unerbittlich zur sexuellen<br />

Verschmelzung mit Frauen neigen, die sie beschützen sollten,<br />

daß sie für e<strong>in</strong> paar gestohlene Momente ihr Leben, ihr Vermögen<br />

und ihre Würde riskieren.<br />

Es ist klar, daß für beide, Männer und Frauen, die beson<strong>der</strong>en<br />

Umstände <strong>der</strong> Intimität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> Zugang zu Beziehungen<br />

bieten, die als unschätzbar wertvoll empfunden werden.<br />

Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen bietet das plötzliche Zusammenkommen<br />

e<strong>in</strong>es Mannes und e<strong>in</strong>er Frau die Möglichkeit, Wunden <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

zu heilen, und Hoffnung auf e<strong>in</strong> mit Selbstwertgefühl erfülltes<br />

Leben.<br />

Während das Vorwort zu diesem Buch die äußeren, sichtbaren<br />

Dimensionen über <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> zusammenfaßt,<br />

beschäftigt sich dieses Kapitel mit dem psychologischen Kern. Denn<br />

egal, wieviel wir über die politische und gesellschaftliche Ungleichheit<br />

des E<strong>in</strong>flusses zwischen Männern und Frauen erfahren, wir werden<br />

unfähig se<strong>in</strong>, das Verhaltensmuster sexueller Ausbeutung zu än<strong>der</strong>n,<br />

wenn wir nicht die <strong>in</strong> uns allen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psyche verborgenen Gefühle<br />

berücksichtigen, die <strong>verbotenen</strong> <strong>Sex</strong> so reizvoll wirken lassen.<br />

Als Psychiater mit speziellem Interesse daran, soviel wie möglich<br />

über die <strong>in</strong>nere psychologische Welt <strong>der</strong> Menschen und über das<br />

äußere soziale Umfeld zu wissen, b<strong>in</strong> ich beson<strong>der</strong>s damit beschäftigt<br />

herauszuf<strong>in</strong>den, wie diese beiden Dimensionen, die äußere und die<br />

<strong>in</strong>nere, zusammenwirken.<br />

Dem Gedanken von C. G. Jung folgend, betrachte ich die <strong>in</strong>nere<br />

Welt, die Welt unserer Gedanken, Er<strong>in</strong>nerungen, Gefühle, Träume,<br />

Hoffnungen und Phantasien, als gleichwertig mit <strong>der</strong> äußeren, die wir<br />

sehen, berühren und fühlen können. Auch die <strong>in</strong>nere Welt kann gesehen,<br />

erforscht, erkundet und dargestellt werden, aber mit an<strong>der</strong>en<br />

S<strong>in</strong>nen. Die S<strong>in</strong>ne, die uns unmittelbar über die <strong>in</strong>nere Welt <strong>in</strong>formieren,<br />

s<strong>in</strong>d Intuition, körperliche Erregung, Gefühle und Vorstellungen<br />

<strong>in</strong> Träumen und Wachträumen.<br />

52


Die Kompliziertheit <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Welt kann logisch geglie<strong>der</strong>t, erklärt<br />

und verstanden werden. Innere Erlebnisse haben e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Muster und<br />

e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Logik als äußere, aber wenn wir beg<strong>in</strong>nen, die <strong>in</strong>nere Welt<br />

<strong>in</strong> ihrer eigenen »Sprache« zu erkunden, können unabhängige und<br />

sche<strong>in</strong>bar unzusammenhängende Erlebnisse genauso e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong> Beziehung<br />

zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen wie <strong>der</strong> Regen mit sprießenden Pflanzen.<br />

Die <strong>in</strong>nere Welt hat ihr eigenes Ökosystem. Um zu wachsen und<br />

zu gedeihen, braucht jede <strong>in</strong>dividuelle Psyche e<strong>in</strong>e Ausgewogenheit<br />

von Liebe, Geborgenheit, Respekt, Verb<strong>in</strong>dung zu an<strong>der</strong>en Menschen,<br />

Abgeschiedenheit von an<strong>der</strong>en, die Sicherheit des Vertrauten<br />

und die Anregung durch das Unbekannte. Um unser Gleichgewicht<br />

zu erhalten, muß je<strong>der</strong> von uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage se<strong>in</strong>, die unvermeidlichen<br />

Wunden, Schmerz, Verlust und Entzug, die das Leben mit sich<br />

br<strong>in</strong>gt, zu erfahren – und sich davon zu erholen.<br />

Der Prozeß <strong>der</strong> Verwundung und Heilung, des Verlierens und <strong>der</strong><br />

Erneuerung setzt sich unser Leben h<strong>in</strong>durch fort, während wir wachsen<br />

und uns biologisch und psychologisch entwickeln: Das Vorbild,<br />

das wir <strong>in</strong> unserer K<strong>in</strong>dheit durch Eltern o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wichtige<br />

Erwachsene hatten, ist entscheidend für die Art, <strong>in</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> von uns<br />

auf Schmerz und Verlust reagiert.<br />

Wenn unsere Eltern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage waren, auf relativ gesunde Weise<br />

mit ihren e<strong>in</strong>schneidenden Verlusten, solchen wie <strong>der</strong> Verlust e<strong>in</strong>es -<br />

geliebten Menschen durch Tod o<strong>der</strong> Trennung, e<strong>in</strong> Rückschlag im<br />

Berufsleben, e<strong>in</strong>e Periode wirtschaftlicher Not, fertig zu werden, werden<br />

wir über e<strong>in</strong> Erbgut von Hoffnung und Glauben verfügen, wenn<br />

wir unsere eigene ernste Verwundung erleiden. Wir werden fähig se<strong>in</strong><br />

durchzuhalten, Hilfe von an<strong>der</strong>en zu suchen, wenn das dienlich ist,<br />

mit unserem Leben nach bestem Vermögen fortfahren und uns<br />

schließlich erholen.<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite werden Menschen, die <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit<br />

negative Vorbil<strong>der</strong> hatten, mit dem Gefühl relativer Hoffnungslosigkeit<br />

und <strong>der</strong> Neigung zum vorschnellen Verzweifeln heranwachsen.<br />

Wenn sie e<strong>in</strong>en Verlust h<strong>in</strong>nehmen müssen, können sie die Lage<br />

verschlimmern, <strong>in</strong>dem sie sich selbst Vorwürfe machen o<strong>der</strong> den<br />

Schmerz durch Drogen betäuben o<strong>der</strong> ihre Mitmenschen durch psychologische<br />

und physische Destruktivität verletzen. Sogenannte funktionsgestörte<br />

Familien geben die Botschaft von Hoffnungslosigkeit<br />

53


durch Muster von Isolation, Tablettensucht und verletzendem Verhalten<br />

untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er Generation an die nächste weiter.<br />

Trotzdem ist <strong>in</strong> jedem Menschen die Hoffnung auf Heilung von<br />

Wunden lebendig – mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong>tensiv. Und deswegen haben<br />

Beziehungen zu Fachleuten, die Vertrauen genießen, diesen außerordentlichen<br />

E<strong>in</strong>fluß auf das Leben von Menschen, eben weil sie soviel<br />

Hoffnung bieten. Im günstigsten Fall werden Therapeuten, Geistliche,<br />

Rechtsanwälte, Mentoren und Lehrer Wunden aus <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

heilen, dem Leben wie<strong>der</strong> S<strong>in</strong>n geben, Zugang zu tieferen<br />

Quellen des Selbst verschaffen – und sogar Leben retten.<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>e solche Vertrauensbeziehung e<strong>in</strong>gehen, sehen wir<br />

e<strong>in</strong>e neue Möglichkeit, mit den Problemen des Lebens fertig zu werden,<br />

e<strong>in</strong>e Möglichkeit, die verspricht, uns die Beschränkungen unseres<br />

Lebens, die wir vielleicht <strong>in</strong> unseren Familien kennengelernt haben,<br />

überw<strong>in</strong>den zu lassen. Wir schöpfen wie<strong>der</strong> Hoffnung, daß unsere verwundeten<br />

Seiten, die nicht verheilt s<strong>in</strong>d, »zum Leben erweckt« werden.<br />

Obwohl Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> die schwächere Position<br />

haben, neigen Männer unter <strong>der</strong> Decke ihres sozialen Niveaus, das sie<br />

mit E<strong>in</strong>fluß ausstattet, genauso stark zu <strong>der</strong> Erwartung, durch diese<br />

Beziehungen Wunden aus <strong>der</strong> Vergangenheit zu heilen.<br />

Unschätzbarer Wert für Frauen:<br />

Neue und unbegrenzte Möglichkeiten<br />

Jede <strong>der</strong> von mir <strong>in</strong>terviewten Frauen, die <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong><br />

erlebt hatte, beschrieb den unschätzbaren unsexuellen Wert, den die<br />

Beziehung für sie hatte, bevor es zum Geschlechtsverkehr kam. Alle<br />

erzählten, daß sie sich auf den <strong>Sex</strong> e<strong>in</strong>gelassen hatten, um e<strong>in</strong>e Beziehung<br />

aufrechtzuerhalten, die für ihr Leben bedeutsam geworden war<br />

und die ihnen neue Möglichkeiten für die Zukunft zu bieten schien.<br />

Die meisten dieser Frauen me<strong>in</strong>ten, daß <strong>der</strong> starke E<strong>in</strong>fluß sozialer<br />

Faktoren während ihres Heranwachsens dazu beigetragen hätte,<br />

auf die Wünsche dieser e<strong>in</strong>flußreichen Männer e<strong>in</strong>zugehen. Sie empfanden<br />

ihr <strong>in</strong>neres Bedürfnis <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit den Möglichkeiten,<br />

die diese Beziehung versprach, als e<strong>in</strong>e psychologische Falle, die sie<br />

unfähig machte zu wi<strong>der</strong>stehen.<br />

54


Patricia Elmont, e<strong>in</strong>e Psycholog<strong>in</strong> aus dem Mittleren Westen, jetzt<br />

über fünfzig, beschreibt dieses Empf<strong>in</strong>den:<br />

»Ich war zweiundzwanzig, verheiratet und hatte zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>, als ich<br />

das erstemal wegen me<strong>in</strong>er Depression zu Dr. Stuben g<strong>in</strong>g. Ich war als<br />

Schönheit des Südens erzogen worden, Männern sexuell zu gefallen.<br />

Aber ich machte mir auch Gedanken um viele D<strong>in</strong>ge. Dr. Stuben war<br />

<strong>der</strong> erste Mann <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben, <strong>der</strong> bereit war, mit mir über me<strong>in</strong>e<br />

Gedanken zu sprechen. Es wurde für mich enorm aufregend, zu ihm<br />

zu gehen. Er hatte gewaltigen E<strong>in</strong>fluß auf mich, aber aufgrund me<strong>in</strong>er<br />

Erziehung wußte ich nicht, wie ich mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>flußreichen Mann<br />

verbunden se<strong>in</strong> könne, ohne ihn zu verführen. Als er sagte, daß er gern<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis mit mir hätte, konnte ich nicht ne<strong>in</strong> sagen. Es wäre<br />

mir niemals e<strong>in</strong>gefallen, ne<strong>in</strong> zu sagen. Ich war schrecklich e<strong>in</strong>sam<br />

und depressiv, und wegen des Teils von mir, den er zum Leben erweckte,<br />

brauchte ich diesen Mann mehr als alles an<strong>der</strong>e.«<br />

Suzanne Carter, jetzt Universitätsprofessor<strong>in</strong>, beschreibt auch diese<br />

Art von E<strong>in</strong>fluß, als sie die Gefühle offenbarte, die sie zu e<strong>in</strong>er geheimen,<br />

sexuellen Beziehung mit Dr. Decatur bewegten, ihrem Mentor<br />

an e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Fachhochschule. Sie war neunundzwanzig, verheiratet<br />

und Mutter zweier K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Er war fünfundvierzig, verheiratet und<br />

hatte e<strong>in</strong>en Sohn.<br />

»Als ich ihm begegnete, steckte me<strong>in</strong>e Ehe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise. Ich war reif<br />

dafür aufzuwachen. Dr. Decatur repräsentierte alles, was <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em<br />

Leben fehlte. Er verkörperte mehr Fähigkeiten, als ich sie je <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person<br />

erlebt hatte. Ich war etwas <strong>in</strong> ihn verliebt, aber das war nicht beson<strong>der</strong>s<br />

erotisch zu nennen. Ich bekam Anerkennung und Bestätigung<br />

durch ihn, ganz im Gegensatz zu dem Gefühl <strong>der</strong> Ausweglosigkeit <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er Ehe. Der Unterschied zwischen diesem Gefühl <strong>der</strong> Gefangenschaft<br />

und dem, was ich durch Dr. Decatur empf<strong>in</strong>g, war verblüffend.«<br />

Helen Kifner, e<strong>in</strong>e erfolgreiche, extravertierte Frau von Ende Vierzig,<br />

ist Rechtsanwält<strong>in</strong> geworden, die sich auf Prozesse im Frauenrecht spezialisiert<br />

hat. Aber sie war e<strong>in</strong>e zerbrechliche und isolierte junge Frau<br />

von zweiundzwanzig, als sie ihre Therapie bei Dr. Harold Yount<br />

55


egann, <strong>der</strong> nach e<strong>in</strong>igen Monaten vorschlug, daß sie <strong>in</strong> ihren Mittagssitzungen<br />

e<strong>in</strong>e sexuelle Beziehung haben sollten. Im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Information, die zu Beg<strong>in</strong>n dieses Kapitels aufgeführt ist,<br />

sagte Helen mir:<br />

»Dr. Yount war damals so wichtig für mich, das Ausmaß se<strong>in</strong>er Wichtigkeit<br />

war wirklich unbeschreiblich. Ich fühlte, als sei die Beziehung<br />

zu ihm das e<strong>in</strong>zige, was mich zu <strong>der</strong> Zeit am Leben erhielt. Wie hätte<br />

ich ne<strong>in</strong> sagen können, als er sich mir sexuell näherte?«<br />

Ruth Smythl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e frühere Theologiestudent<strong>in</strong>, ist jetzt, zehn Jahre<br />

nach e<strong>in</strong>er Affäre mit ihrem Mentor, noch immer tief darüber deprimiert.<br />

Das Ereignis zerstörte ihre Karriere als Geistliche und brachte<br />

sie <strong>in</strong> die Nähe des Selbstmords.<br />

»Bis zu dem Moment, als er begann, sich sexuell mit mir zu verb<strong>in</strong>den,<br />

war Pfarrer Stan<strong>der</strong> Clifton für mich <strong>der</strong> wichtigste Mann, den<br />

ich jemals kennengelernt hatte, e<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>barer Heiler, Lehrer und<br />

Mentor, e<strong>in</strong> Mann von re<strong>in</strong>em Geist. Er brachte me<strong>in</strong> tiefstes,<br />

ursprünglichstes Selbst zutage. Er berührte es und merkte das. Ich<br />

war noch nie <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben so <strong>in</strong>tim mit e<strong>in</strong>er Person gewesen,<br />

und ich empfand ungeheure Verehrung, Leidenschaft und Liebe für<br />

ihn, obwohl nichts davon sexuell war. Aber me<strong>in</strong>e Arbeit mit ihm ist<br />

jetzt zerstört, weil er darauf bestanden hat, e<strong>in</strong>e sexuelle Beziehung zu<br />

haben. Er wußte, daß mich das verletzte, aber er ließ nicht nach.«<br />

Für Frauen entspr<strong>in</strong>gen die unterschwelligen Kräfte <strong>der</strong> <strong>Sex</strong>ualität <strong>der</strong><br />

<strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> e<strong>in</strong>deutig aus den Gefühlen von Hoffnung – Hoffnung,<br />

daß ihre tiefsten Wunden geheilt werden können und daß ihr<br />

wahres Ich erweckt, erkannt und aus dem Verborgenen <strong>in</strong> die Lebendigkeit<br />

des täglichen Lebens geholt werden kann.<br />

56


Eltern-K<strong>in</strong>d-Themen: Verwundung aus<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit und Hoffnung auf die Zukunft<br />

Warum bieten Beziehungen im <strong>verbotenen</strong> Bereich soviel <strong>in</strong>nere Kraft<br />

und Hoffnung? E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Antwort liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zigartigkeit, mit<br />

<strong>der</strong> sie uns die Beziehung zu unseren Eltern wie<strong>der</strong>holen lassen und uns<br />

gleichzeitig die Hoffnung geben, daß wir uns daraus befreien können.<br />

Die Beziehung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> bietet <strong>der</strong> Frau e<strong>in</strong>e Art von<br />

Vertrauensverhältnis wie zum Vater. Diese Art des Vertrauens bewegt<br />

Frauen dazu, mit den Männern, die vorher Fremde waren, die Intimitäten<br />

und Verwundungen von Körper, Geist und Gefühl zu teilen.<br />

Durch dieses Vertrauen ermutigen e<strong>in</strong>flußreiche Männer Frauen dazu<br />

zu glauben, daß sie ihnen helfen werden, e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvolles, produktives<br />

Leben zu führen. Die Eltern-K<strong>in</strong>d-Thematik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong><br />

wird durch den Umstand unterstrichen, daß Frauen beson<strong>der</strong>s verletzlich<br />

s<strong>in</strong>d, wenn sie Hilfe von ihren Ärzten, Therapeuten, Geistlichen<br />

und Rechtsanwälten suchen. Verletzt und hilfsbedürftig, f<strong>in</strong>den sie e<strong>in</strong>e<br />

Beziehung zu e<strong>in</strong>em Fachmann, die es ihnen ermöglicht, sich umsorgt<br />

und behütet wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit zu fühlen.<br />

Durch das Verständnis über das Zusammenwirken von früheren<br />

Verwundungen und Hoffnung für die Zukunft wird uns <strong>der</strong> sexuelle<br />

Aspekt <strong>in</strong> diesen Beziehungen deutlich. Aus dem Erbe <strong>der</strong> Eltern-<br />

K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dungen stammt das Verbot von <strong>Sex</strong>ualität. Der Mann aber<br />

hat die Pflicht, <strong>der</strong> Frau unter allen Umständen zu helfen, neue Hoffnung<br />

und e<strong>in</strong> stärkeres Selbstwertgefühl zu f<strong>in</strong>den. Wenn die Verantwortung<br />

durch sexuelle Verb<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> vergessen<br />

wird, kann auch das letzte Fünkchen Hoffnung <strong>in</strong> <strong>der</strong> hilfesuchenden<br />

Frau vernichtet werden.<br />

Wie <strong>Sex</strong>ualität <strong>in</strong> Beziehungen<br />

von unschätzbarem Wert kommt<br />

Weshalb mischen sich sexuelle Phantasien und Begierden so leicht <strong>in</strong><br />

diese beson<strong>der</strong>en Formen von <strong>in</strong>timen Beziehungen, <strong>der</strong>en wahrer<br />

S<strong>in</strong>n es ist, <strong>der</strong> Frau <strong>in</strong> ihrer Entwicklung auf unsexuelle Art weiterzu-<br />

57


helfen? Die Antwort ist, daß Geschlechtsverkehr das Symbol für die<br />

<strong>in</strong>timste Form zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt. Der Akt<br />

<strong>der</strong> Verschmelzung kann auf die <strong>in</strong>tensivste Art unsere tiefsten biologischen,<br />

emotionalen und geistigen Sehnsüchte erfüllen und erlaubt<br />

uns zugleich, diese Empf<strong>in</strong>dungen mit e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Person zu teilen.<br />

Aber das Symbol für diese sexuelle Verschmelzung lebt <strong>in</strong> unserer Psyche<br />

unabhängig vom Akt, nämlich als die Vorstellung, mit e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en<br />

Person leidenschaftlich und s<strong>in</strong>nvoll verbunden zu se<strong>in</strong>, unabhängig<br />

von <strong>der</strong> <strong>Sex</strong>ualität an sich, physisch und psychisch. <strong>Sex</strong> kann e<strong>in</strong><br />

Akt se<strong>in</strong>, aber auch e<strong>in</strong>e äußerst bedeutungsvolle Metapher.<br />

Deshalb kann jede Beziehung, die uns tief bewegt, auch wenn sie<br />

e<strong>in</strong>deutig unsexuell ist, sexuelle Phantasien hervorrufen. Die erotische<br />

Energie unserer Phantasien kann e<strong>in</strong> Ausdrucksmittel unserer tiefsten<br />

unerotischen Sehnsüchte se<strong>in</strong>. <strong>Sex</strong>uelle Phantasien können <strong>der</strong><br />

Schlüssel dafür se<strong>in</strong>, was wir benötigen, um uns am lebendigsten zu<br />

fühlen. Vorstellungen über sexuellen Kontakt mit <strong>verbotenen</strong> Partnern<br />

s<strong>in</strong>d oft e<strong>in</strong> Ausdruck unseres Bedürfnisses, den <strong>in</strong>neren Kontakt<br />

zu e<strong>in</strong>em Teil von uns selbst herzustellen, den <strong>der</strong> verbotene Partner<br />

für uns unbewußt vertritt.<br />

Wenn e<strong>in</strong>e Frau zum Beispiel Phantasien über e<strong>in</strong>en Liebhaber<br />

hat, kann ihre Vorstellung von ihm ihr Bedürfnis wi<strong>der</strong>spiegeln, Qualitäten<br />

wie Stärke, Kompetenz und Selbstwertgefühl zu entwickeln,<br />

die sie als maskul<strong>in</strong> ansehen mag. Ebenso kann e<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> den sexuellen<br />

Phantasien e<strong>in</strong>es Mannes se<strong>in</strong>en Versuch darstellen, mit weniger<br />

entwickelten Qualitäten se<strong>in</strong>er eigenen Persönlichkeit Kontakt aufzunehmen,<br />

die er als fem<strong>in</strong><strong>in</strong> betrachtet, solche wie die Fähigkeiten zu<br />

nähren, zu trösten und Nähe zu vermitteln.<br />

Alle<strong>in</strong> aufgrund <strong>der</strong> psychologischen Basis, selbst ohne Beteiligung<br />

äußerer E<strong>in</strong>flüsse, gibt es die starke Neigung, sich <strong>in</strong> ausbeuterische<br />

sexuelle Beziehungen zu verwickeln, weil Verwirrung zwischen <strong>Sex</strong>ualität<br />

als Akt und als Symbol besteht. Das ist nicht nur <strong>in</strong> Beziehungen<br />

im <strong>verbotenen</strong> Bereich e<strong>in</strong> gefährlicher Hang, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Situation,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> sexuelle Begierde sich <strong>in</strong> verbotene Richtungen bewegt.<br />

Das Verständnis dafür, daß sexuelle Wünsche und Vorstellungen e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>nere Bedeutung haben können, wenn es nicht zum Akt kommt,<br />

eröffnet uns e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Richtung, <strong>in</strong> die wir unsere <strong>Sex</strong>ualität lenken<br />

können, wenn die Ausübung schädlich für uns selbst o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e ist.<br />

58


Gerade weil Beziehungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> uns so tief<br />

berühren, fließen sexuelle Phantasien <strong>in</strong> sie e<strong>in</strong>. Es kommt jedoch<br />

nicht darauf an, ke<strong>in</strong>e sexuellen Gedanken zu hegen, son<strong>der</strong>n die<br />

Abgrenzung zum sexuellen Kontakt zu beachten.<br />

Die weibliche Fähigkeit zur<br />

<strong>in</strong>neren Beherrschung von <strong>Sex</strong>ualität<br />

E<strong>in</strong>flußreiche Männer, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> Heilung durch<br />

ihre Protégés suchen, werden durch gesellschaftliche E<strong>in</strong>flüsse dazu<br />

ermutigt, diese Frauen glauben zu lassen, daß Heilung von Verwundungen<br />

mit ausgeübter <strong>Sex</strong>ualität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beziehung verbunden ist.<br />

Das steht <strong>in</strong> deutlichem Gegensatz zu <strong>der</strong> Fähigkeit von Frauen,<br />

<strong>in</strong>tensive, leidenschaftliche Gefühle zu entwickeln, die nicht <strong>in</strong> <strong>Sex</strong>ualität<br />

übergehen. Obwohl Frauen manchmal physische <strong>Sex</strong>ualität<br />

genausosehr wie Männer benötigen, können sie ihre <strong>Sex</strong>ualität leichter<br />

als <strong>in</strong>nere Erfahrung beherrschen und Leidenschaft als Träger<strong>in</strong><br />

unsexueller Intimität empf<strong>in</strong>den.<br />

Als Ruth Smythl<strong>in</strong> zum Beispiel »ungeheure Bewun<strong>der</strong>ung und<br />

Leidenschaft« für ihren Mentor empfand, übertrugen sich diese erotischen<br />

Gefühle nicht <strong>in</strong> sexuelle Begierde. Die ausdrückliche Unterscheidung,<br />

die Ruth zwischen dem Verlangen nach e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>timen<br />

Beziehung mit e<strong>in</strong>em Mann und sexuellem Kontakt zu ihm macht,<br />

fällt Frauen offenbar leichter als Männern.<br />

Wenn wir uns mit <strong>der</strong> sexuellen Psychologie des Mannes befassen,<br />

werden wir sehen, wie die Frau, die e<strong>in</strong>e Beziehung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> zu e<strong>in</strong>em Mann, <strong>der</strong> für sie wichtig geworden ist, aufrechterhalten<br />

möchte, beson<strong>der</strong>s verletzlich wird, wenn er darauf besteht,<br />

se<strong>in</strong>e sexuellen Phantasien auszuleben.<br />

Unschätzbarer Wert für Männer:<br />

Die Suche nach sexueller Heilung<br />

Die Kraft <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> hat genausoviel E<strong>in</strong>fluß auf die Psyche<br />

e<strong>in</strong>es Mannes wie auf die e<strong>in</strong>er Frau. H<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>er Position von Autorität<br />

59


und sche<strong>in</strong>barer Stärke ist <strong>der</strong> Mann ebenso dazu geneigt, Verwundungen<br />

aus <strong>der</strong> Vergangenheit zu heilen und e<strong>in</strong>e lebendigere Zukunft zu<br />

wünschen. Die zugrundeliegende Realität, die e<strong>in</strong>en Mann mit E<strong>in</strong>fluß<br />

zu sexueller Ausbeutung treibt, ist, daß er wahrsche<strong>in</strong>lich se<strong>in</strong>e eigenen<br />

<strong>in</strong>neren Verwundungen genauso pflegt wie die <strong>der</strong> Frau, <strong>der</strong> er dient.<br />

Reverend Grant Bennett, dessen Aussage über den Reiz von verbotenem<br />

<strong>Sex</strong> dieses Kapitel eröffnete, ist <strong>der</strong> Seelsorger <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />

e<strong>in</strong>er Stadt im Mittleren Westen. Er begann e<strong>in</strong>e Affäre mit Julia<br />

Noonan, e<strong>in</strong>er Frau, die er geistlich beraten hatte. Reverend Bennett<br />

war so ehrlich zuzugeben, daß er diese Beziehung begonnen hatte,<br />

weil er dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Lösung zur Heilung se<strong>in</strong>er Depression sah, <strong>in</strong> die er<br />

durch se<strong>in</strong>e Scheidung geraten war.<br />

»<strong>Sex</strong> ist für mich immer sehr wichtig gewesen, auch heute noch.<br />

Julia kam <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Leben, als ich ziemlich depressiv war. Auf <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>en Seite trauerte ich me<strong>in</strong>er Ehe nach, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en war ich<br />

frei; ich fühlte die totale Freiheit zu tun, was ich wollte. Julia war<br />

sehr sexuell ausgerichtet, während me<strong>in</strong>e Frau <strong>Sex</strong> gegenüber sehr<br />

verschlossen gewesen war. Hier entdeckte ich, daß <strong>Sex</strong> voller Vergnügen<br />

und Freude se<strong>in</strong> konnte. Ich hatte das noch nie empfunden<br />

und brauchte es.<br />

Wegen me<strong>in</strong>er Bedürfnisse war es so, als sei Julia damals me<strong>in</strong>e<br />

Seelsorger<strong>in</strong>. Die Rollen waren e<strong>in</strong>deutig vertauscht. Sie heilte mich,<br />

obwohl ich wußte, daß ich sie nicht als Lebenspartner<strong>in</strong> haben wollte.<br />

Aber es war, als sei die Schule vorbei, als sei e<strong>in</strong> schweres Gewicht<br />

von Verantwortung von me<strong>in</strong>en Schultern genommen.«<br />

Offenbar haben Männer, die <strong>in</strong> Beziehungen <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> die<br />

Heilenden s<strong>in</strong>d, oft genausoviel Bedürfnis, geheilt zu werden, wie ihre<br />

Protégés. Wenn e<strong>in</strong> Mann se<strong>in</strong>e Verwundung empf<strong>in</strong>det und die<br />

<strong>Sex</strong>ualität e<strong>in</strong>er Frau sich ihm durch die geschützten, heimlichen<br />

Umstände <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> eröffnet, kann die Versuchung, diese<br />

Gelegenheit auszunutzen, unwi<strong>der</strong>stehlich werden.<br />

Dr. Jim Francis, e<strong>in</strong> geachteter, erfolgreicher Psychiatrie-Kollege,<br />

den ich während <strong>der</strong> Voruntersuchungen für dieses Buch konsultierte,<br />

eröffnete mir, daß er e<strong>in</strong>e Affäre mit e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> gehabt hatte,<br />

da es ihm unmöglich erschienen war, <strong>der</strong> magischen Heilungsmög-<br />

60


lichkeit zu wi<strong>der</strong>stehen, die er durch sexuellen Kontakt mit ihr zu f<strong>in</strong>den<br />

glaubte. Obwohl ich schon erkannt hatte, daß die meisten Fachleute<br />

gegen sexuelle Begierde nach Frauen, denen sie dienen,<br />

anzukämpfen haben, war ich verblüfft, Jims Geständnis zu hören,<br />

weil er den Ansche<strong>in</strong> erweckte, sich völlig unter Kontrolle zu haben.<br />

Die tiefen, persönlichen Erfahrungen, die er gemacht hatte, schokkierten<br />

und rührten mich gleichzeitig:<br />

»Als ich schließlich die Grenze überschritt, hatte ich sehr dagegen<br />

angekämpft, um das niemals passieren zu lassen. Aber alle paar Jahre<br />

bekam me<strong>in</strong>e Arbeit mit e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e so starke erotische<br />

Spannung, daß ich von me<strong>in</strong>er Begierde nach <strong>Sex</strong> mit ihr überwältigt<br />

wurde. Ich kämpfte, um die Kontrolle zu behalten, da ich um die<br />

großen Gefahren wußte. Ich habe e<strong>in</strong>e Karriere und e<strong>in</strong>en Ruf <strong>in</strong> diesem<br />

Stadtteil aufgebaut. Ich wußte, daß ich mit e<strong>in</strong>em Fehltritt viele<br />

Leute verraten würde, die mir wichtig waren: me<strong>in</strong>e Patienten, me<strong>in</strong>e<br />

Studenten und me<strong>in</strong>e Kollegen, ganz zu schweigen von me<strong>in</strong>er<br />

Frau und me<strong>in</strong>er Familie.<br />

Wann immer ich fühlte, daß ich die Kontrolle verlieren könnte,<br />

betete ich, daß diese Aufwallungen abflauen würden, bevor ich<br />

völlig überwältigt werden würde. Es gelang mir e<strong>in</strong>ige Male, diese<br />

Krisen durchzustehen, ohne e<strong>in</strong>e Katastrophe anzurichten. Jedesmal<br />

dachte ich: ›Nie wie<strong>der</strong>. Ich werde niemals wie<strong>der</strong> so nahe an<br />

den Verlust <strong>der</strong> Kontrolle geraten.‹ Aber ich habe mich nie e<strong>in</strong>er<br />

Therapie unterzogen, um damit fertig zu werden. Jetzt kann ich<br />

mir e<strong>in</strong>gestehen, weshalb nicht: Ich wollte nicht wirklich vermeiden,<br />

die Magie e<strong>in</strong>er sexuellen Beziehung mit e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> zu<br />

erfahren.<br />

Und dann kam die Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ich fühlte, daß sich trotzdem wie<strong>der</strong><br />

geschlechtliche Erregung <strong>in</strong> mir aufbaute, und ich wußte irgendwie,<br />

daß ich nicht wi<strong>der</strong>stehen würde. Leah war Anfang Dreißig, und<br />

ihre Ehe steckte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise. Sie sagte, daß sie ihren Mann liebte,<br />

aber sie fürchtete, er könne ihr nicht die Intimität geben, nach <strong>der</strong> sie<br />

sich sehnte. Die Krise war verstärkt, weil sie sich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d wünschte<br />

und er nicht. Ich wurde von sexuellen Phantasien über Leah und von<br />

dem Wunsch, e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mit ihr zu haben, überflutet. Dann, e<strong>in</strong>es<br />

Tages, als sie im Begriff war, me<strong>in</strong>e Praxis nach e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>s<br />

61


schmerzlichen Sitzung zu verlassen, bat sie mich, sie zu umarmen.<br />

Selbstverständlich hätte ich nicht darauf reagieren sollen, aber ich tat<br />

es. Anfänglich war nichts <strong>Sex</strong>uelles <strong>in</strong> unserer Umarmung, aber ke<strong>in</strong>er<br />

von uns machte Anstalten, damit aufzuhören. Während wir e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

umarmten, begann ich e<strong>in</strong>e leichte Erektion zu fühlen. Das<br />

ließ mich nicht empf<strong>in</strong>den, die Grenze überschritten zu haben, weil<br />

ich wußte, daß Männer manchmal im Zusammenhang mit starken<br />

und warmen Gefühlen, die sie erleben, e<strong>in</strong>e Erektion haben können,<br />

ohne daß das irgend jemand bemerkt und ohne daß damit unbed<strong>in</strong>gt<br />

sexuelle Begierde nach e<strong>in</strong>er Person verbunden ist.<br />

Dann aber wurde mir plötzlich klar, daß auch sie me<strong>in</strong>e Erektion<br />

spüren konnte und daß sie nichts unternahm, um sich von mir zu<br />

lösen. Es ist schwer zu beschreiben, wie bedeutend es für mich war,<br />

daß sie me<strong>in</strong>e <strong>Sex</strong>ualität <strong>in</strong> diesem Augenblick akzeptierte. In dieser<br />

Akzeptanz lag etwas, was die Schleusen zwischen uns öffnete. Ich<br />

begann, <strong>der</strong> wachsenden Intensität unserer Verb<strong>in</strong>dung nachzugeben,<br />

und wußte, daß sie auch so empfand. Unsere Sensibilität füre<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

steigerte sich. Me<strong>in</strong> Gesicht berührte ihren Hals, und ich begann, sie<br />

dort zu küssen, und me<strong>in</strong>e Hände begannen, ohne sich auch nur zu<br />

bewegen, ihren Körper zu spüren. Sie küßte mich auch. Je sexueller<br />

ich wurde, desto mehr akzeptierte und reagierte sie. Aber da e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er<br />

Patient auf mich wartete, mußten wir aufhören.<br />

An dem Abend rief ich Leah an. Wir waren durch das Geschehene<br />

völlig überwältigt und vere<strong>in</strong>barten für den nächsten Tag e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Praxis. Wir hatten dann Geschlechtsverkehr und e<strong>in</strong>ige Male<br />

darauf <strong>in</strong> den nächsten Wochen. Aber nichts glich dem magischen<br />

Moment unserer ersten Umarmung. Wir begannen beide zu fühlen,<br />

wie falsch es war, e<strong>in</strong>e sexuelle Beziehung e<strong>in</strong>gegangen zu se<strong>in</strong>, aber wir<br />

konnten nicht wie<strong>der</strong> Arzt und Patient<strong>in</strong> werden. Ich habe sie an e<strong>in</strong>e<br />

Therapeut<strong>in</strong> weiterempfohlen und mich endlich selbst e<strong>in</strong>er Therapie<br />

unterzogen. Es ist fast zehn Jahre her, daß das passiert ist, und ich weiß<br />

nicht, was aus Leah geworden ist und wie sie unsere Affäre verkraftet<br />

hat. Ich b<strong>in</strong> immer noch unangenehm berührt, wenn ich daran denke,<br />

und ich glaube, das wird sich niemals än<strong>der</strong>n.«<br />

Als ich ihn zehn Jahre danach fragte, was er me<strong>in</strong>te, daraus gelernt zu<br />

haben, sagte er mir:<br />

62


»Ich denke an den ersten Moment, als unsere Umarmung sexuell wurde.<br />

Die Wichtigkeit für Männer, ihren erigierten Penis durch e<strong>in</strong>e Frau<br />

akzeptiert zu fühlen, sollte nicht unterschätzt werden. Das hat mit<br />

soviel mehr als <strong>der</strong> simplen Demonstration <strong>der</strong> Kraft des Phallus auf<br />

re<strong>in</strong> <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiver Basis zu tun. Zu gewissen Zeiten bedeutet die Akzeptanz<br />

unseres sexuellen Se<strong>in</strong>s die Akzeptanz unserer ganzen Person und<br />

birgt das Versprechen auf vollständige Heilung und Re<strong>in</strong>waschung.<br />

In dem Moment mit Leah fühlte ich, daß alles, was <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Vergangenheit geschehen war, all die Schmerzen, die ich an<strong>der</strong>en<br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e mir zugefügt hatten, verstanden und vergeben werden<br />

könnten. Ich empfand, daß ich re<strong>in</strong>en Tisch machen könne und daß<br />

mir e<strong>in</strong> größeres Gefühl von Ganzheit und Selbstwert gewährt werden<br />

könne, als ich es jemals vorher erfahren hatte. Ich weiß, daß dieses<br />

›Re<strong>in</strong>en-Tisch-Machen‹ etwas zu übertrieben kl<strong>in</strong>gen muß, wie<br />

Beichte o<strong>der</strong> Sühne. Vielleicht enthält dieses Empf<strong>in</strong>den soviel, aber<br />

ich glaube, wir suchen es auch auf re<strong>in</strong> psychologischer und emotionaler<br />

Basis. E<strong>in</strong> großer Teil dessen, worum wir Männer mit unserem<br />

sexuellen Verhalten kämpfen, ist tatsächlich <strong>der</strong> Versuch, uns selbst<br />

zu heilen und S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> dieser Welt zu f<strong>in</strong>den.<br />

Aber ich weiß immer noch nicht, warum wir me<strong>in</strong>en, diese<br />

Bestätigung durch sexuellen Kontakt mit e<strong>in</strong>er Frau erfahren zu können.<br />

Ich nehme an, daß die meisten von uns mit <strong>der</strong> Vorstellung<br />

erzogen wurden, daß Frauen weitgehend dazu da s<strong>in</strong>d, uns gefühlsmäßig<br />

zu umsorgen. Dieses beson<strong>der</strong>e Erlebnis mit Leah ließ mich<br />

nur e<strong>in</strong>ige Tage lang empf<strong>in</strong>den, als sei ›re<strong>in</strong>er Tisch‹ gemacht, dann<br />

verflog das Gefühl. Wenn wir versuchen, es durch e<strong>in</strong>e Frau zu<br />

bekommen, haben wir es nicht wirklich verdient, und die Quelle<br />

unseres Empf<strong>in</strong>dens von Ganzheit liegt dann <strong>in</strong> jemand an<strong>der</strong>em,<br />

nicht <strong>in</strong> uns selbst, was uns weiter abhängig von Frauen macht.«<br />

Durch Gespräche mit Männern über diese Themen stellte ich fest,<br />

daß die Anschauung über <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong> Bereich, die Jim Francis<br />

schil<strong>der</strong>t, von den meisten e<strong>in</strong>flußreichen Männern geteilt wird. Tiefe<br />

Bedürfnisse nach Heilung und Selbstbestätigung durchdr<strong>in</strong>gen die<br />

männliche sexuelle Phantasie; obwohl viele Männer, die Frauen ausbeuten,<br />

absolut ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Motivation als e<strong>in</strong>fache sexuelle Begier-<br />

63


de und Opportunismus empf<strong>in</strong>den, glaube ich, daß die Suche nach<br />

Heilung des verwundeten Selbstwertgefühls dem destruktiven sexuellen<br />

Verhalten zugrunde liegt.<br />

Männlicher Neid auf <strong>verbotenen</strong> <strong>Sex</strong>:<br />

E<strong>in</strong>e Erklärung für ihre Verschwiegenheit<br />

Ich habe bereits beschrieben, wie schwierig es für mich war, mir me<strong>in</strong>e<br />

zwiespältige Reaktion auf die sexuellen Entgleisungen me<strong>in</strong>es<br />

Mentors e<strong>in</strong>zugestehen. Me<strong>in</strong>e Gefühle von Verrat und Verurteilung<br />

wurden von <strong>der</strong> klaren Erkenntnis begleitet, daß ich im Innersten<br />

wünschte, ich könnte mich selbst so weit gehenlassen, die Phantasie<br />

über <strong>Sex</strong> mit e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> auszuleben. Gespräche mit Männern <strong>in</strong><br />

verschiedenen Berufen ergaben, daß die Vorstellung von <strong>Sex</strong> im <strong>verbotenen</strong><br />

Bereich allgeme<strong>in</strong> fasz<strong>in</strong>ierend ist.<br />

Dieser <strong>in</strong>nere Wunsch bestimmt das private Verhalten <strong>der</strong> Männer<br />

genauso wie die Art, wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> umgehen.<br />

Wie ich bei me<strong>in</strong>en eigenen Erfahrungen mit me<strong>in</strong>em früheren<br />

Mentor entdeckte, wird fortgesetzter sexueller Mißbrauch durch Fachleute<br />

fast immer begleitet von dem öffentlichen Schweigen ihrer Kollegen,<br />

Schweigen, das laut Elie Wiesel »das Opfer am meisten verletzt«.<br />

Me<strong>in</strong>e Recherchen über den Zusammenhang zwischen psychologischen<br />

und gesellschaftlichen Beweggründen bei diesem Fehlverhalten<br />

ließen mich zu dem Schluß kommen, daß (1) öffentliches Schweigen<br />

von Männern über sexuellen Mißbrauch auf stillschweigende Zustimmung<br />

h<strong>in</strong>ausläuft und daß (2) dieses Schweigen auf weitverbreitetem<br />

Neid beruht, den Männer empf<strong>in</strong>den, wenn sie von sexuellen Ausbeutungen<br />

durch ihre Kollegen hören.<br />

Dieser Neid läßt uns erkennen, daß die Verb<strong>in</strong>dungen zwischen<br />

männlicher Phantasie und gesellschaftlichen Beweggründen bei <strong>Sex</strong><br />

im <strong>verbotenen</strong> Bereich gewöhnlich stark aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> e<strong>in</strong>wirken.<br />

64<br />

• Obwohl die Mehrzahl <strong>der</strong> Männer <strong>in</strong> Vertrauenspositionen sich<br />

ethisch <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne verhalten, daß sie niemals sexuellen Kontakt<br />

mit e<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong> ihrer Obhut haben werden, haben sie trotzdem<br />

die Hoffnung, daß es e<strong>in</strong>es Tages geschieht.


• Wenn Männer erfahren, daß Kollegen sexuelle Beziehungen im<br />

<strong>verbotenen</strong> Bereich mit e<strong>in</strong>er Frau gehabt haben, steigert das diese<br />

Hoffnung.<br />

• Männer, die die verbotene <strong>Zone</strong> verletzen, s<strong>in</strong>d praktisch die ausersehenen<br />

Stellvertreter, die diese Phantasien für den Rest <strong>der</strong><br />

Männer ausleben.<br />

• Weil diese Männer die Stellvertreter für den Rest von uns s<strong>in</strong>d,<br />

wünschen wir <strong>in</strong>sgeheim, sie nicht an sexuellen Beziehungen mit<br />

Frauen <strong>in</strong> ihrer Obhut zu h<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />

• Weil viele Männer schon kaum <strong>der</strong> Versuchung wi<strong>der</strong>stehen können,<br />

<strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> zu erleben, verursacht jede Episode<br />

von sexuellem Kontakt e<strong>in</strong>e ansteckende Atmosphäre wie e<strong>in</strong><br />

Virus, <strong>der</strong> die Wi<strong>der</strong>standskraft von Männern verm<strong>in</strong><strong>der</strong>t, die gegen<br />

den Wunsch kämpfen, ihre Phantasien auszuleben.<br />

• Weil e<strong>in</strong>e tiefe, gesunde und legitime Suche nach Heilung dem<br />

männlichen Wunsch nach verbotener <strong>Sex</strong>ualität zugrunde liegt, werden<br />

Männer nicht aufhören, die sexuellen Grenzen herauszufor<strong>der</strong>n,<br />

bis sie lernen, an<strong>der</strong>e Wege zu dem, was sie suchen, zu f<strong>in</strong>den.<br />

Dieses psychologische Bild, das darstellt, daß sich selbst ethisch empf<strong>in</strong>dende<br />

Fachleute die Möglichkeit offenlassen, e<strong>in</strong>es Tages e<strong>in</strong>e sexuelle<br />

Beziehung mit e<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong> ihrer Obhut zu haben, weist auf die<br />

tiefverwurzelte Neigung zum Verschweigen, zur Inaktivität und zur<br />

Unterdrückung von Informationen h<strong>in</strong>, wenn es darum geht, Verletzungen<br />

<strong>der</strong> sexuellen Grenze durch an<strong>der</strong>e Männer aufzudecken.<br />

Von e<strong>in</strong>flußreichen Männern zu verlangen, daß sie ihre Kollegen<br />

von sexueller Ausbeutung abhalten, erfor<strong>der</strong>t <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht,<br />

daß sie ihr eigenes Phantasieleben unterm<strong>in</strong>ieren. Solange das Bewußtse<strong>in</strong><br />

über die psychologischen Beweggründe im Kern <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> nicht weiterentwickelt wird, werden Männer psychisch<br />

unfähig bleiben, sich wirkungsvoll vor <strong>der</strong> Verletzung <strong>der</strong> sexuellen<br />

Grenze zu schützen. Die mediz<strong>in</strong>ischen, psychotherapeutischen,<br />

geistlichen und juristischen Berufsorganisationen haben schon lange<br />

darauf bestanden, sich selbst <strong>in</strong> ethischen Fragen zu überwachen. Im<br />

jetzigen Stadium benötigen Männer <strong>in</strong> diesen Berufen jedoch Hilfe,<br />

die öffentliche Überprüfung se<strong>in</strong> und wachsendes Verständnis für dieses<br />

Problem br<strong>in</strong>gen kann.<br />

65


Aber für uns alle, Männer und Frauen, Fachleute und Laien, ist<br />

<strong>der</strong> Umgang mit <strong>der</strong> dunklen Seite des <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> gleicher Weise e<strong>in</strong>e<br />

schwierige Herausfor<strong>der</strong>ung. <strong>Sex</strong>ualität verursacht höchst <strong>in</strong>time und<br />

persönliche Reaktionen, von denen wir e<strong>in</strong>ige lieber nicht wahrhaben<br />

wollen. Me<strong>in</strong>e eigene Zwiespältigkeit zwischen dem Beneiden und<br />

dem Verurteilen me<strong>in</strong>es Mentors ist typisch für die Schwierigkeit, die<br />

wir alle im Umgang mit Erotik haben.<br />

Unser rationales Empf<strong>in</strong>den mag <strong>in</strong> die richtige Richtung weisen;<br />

aber unsere weniger rationalen Seiten haben höchst durchlässige Barrieren<br />

zur <strong>Sex</strong>ualität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong>. Träume, Phantasien und<br />

Gefühle entspr<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>er zeitlosen, <strong>in</strong>neren Welt mit ihren eigenen<br />

Regeln, die uns tiefer <strong>in</strong> zerstörerische Erotik verstricken. Wenn wir<br />

unsere <strong>in</strong>nere Stimme ignorieren, können wir genauso bl<strong>in</strong>d für das<br />

se<strong>in</strong>, was um uns herum geschieht. Wenn wir die Quellen <strong>in</strong> uns selbst<br />

entdecken, kann uns das zu e<strong>in</strong>em sexuellen Opfer o<strong>der</strong> zum Ausbeuter<br />

machen. Wir können dann beg<strong>in</strong>nen, uns mit sexuellen Problemen<br />

wie Vergewaltigung, Inzest und K<strong>in</strong>desmißhandlung ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen,<br />

Probleme, die früher unaussprechlich waren. <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong> ist <strong>in</strong> vieler H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e gleichermaßen gefährliche Parallele.<br />

Der männliche Mythos vom<br />

weiblichen Geschlecht: Unterwerfung,<br />

<strong>Sex</strong>ualität und Vernichtung<br />

Ideale s<strong>in</strong>d tief verankerte Vorstellungen, die auf unseren <strong>in</strong>neren<br />

Gefühlen und Überzeugungen basieren. Indem sie die unbewußten<br />

Anschauungen e<strong>in</strong>es Kulturkreises, e<strong>in</strong>er Familie o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Individuums<br />

zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, bestimmen sie die Art und Weise, wie<br />

wir die Welt um uns herum beurteilen.<br />

Jede Familie hat ihre eigenen Ideale. E<strong>in</strong>ige werden von dem Kulturkreis<br />

mitgetragen, an<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d ganz persönlich. Wir s<strong>in</strong>d seit dem<br />

Tag unserer Geburt den E<strong>in</strong>flüssen <strong>der</strong> Familie ausgesetzt, die e<strong>in</strong>e<br />

überragende Rolle bei <strong>der</strong> Formung unserer Begriffswelt spielen. Die<br />

Familie formt für jedes K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Idealidentität, die die För<strong>der</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>es gesunden Selbstwertgefühls unterstützen o<strong>der</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n kann.<br />

66


Zum Beispiel kann e<strong>in</strong>e Familie, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konfliktsituation lebt,<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten K<strong>in</strong>d unbewußt die Rolle übertragen, <strong>der</strong> »Heiler«<br />

<strong>der</strong> Familie zu se<strong>in</strong>. Das K<strong>in</strong>d entwickelt se<strong>in</strong>e Fähigkeiten, sich <strong>in</strong><br />

den Schmerz an<strong>der</strong>er Leute e<strong>in</strong>zufühlen, oft auf Kosten <strong>der</strong> eigenen<br />

emotionalen Verwundungen. Als Erwachsener kann jemand mit dieser<br />

aufgezwungenen Identität die Gabe beibehalten, an<strong>der</strong>e zu heilen,<br />

aber er selbst wird emotional verhungern.<br />

Zu den Idealen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Familie können Vorurteile gehören, die<br />

auf das K<strong>in</strong>d übertragen werden und die dessen Anschauung über das<br />

Leben dom<strong>in</strong>ieren können. Wenn die Familie ihrem K<strong>in</strong>d vermittelt,<br />

daß Individualität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Außenwelt nicht erwünscht ist, wird das<br />

K<strong>in</strong>d sehr wahrsche<strong>in</strong>lich zur Unterordnung se<strong>in</strong>er eigenen Wünsche<br />

gegenüber äußerer Autorität neigen. E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Familie, die Individualität<br />

für positiv hält, wird wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d haben, das <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Lage ist, se<strong>in</strong> Leben selbst zu prägen.<br />

Ideale des Kulturkreises reichen über die <strong>der</strong> Familie h<strong>in</strong>aus und<br />

verweisen auf verbreitete und tief verwurzelte Anschauungen, die<br />

jedes Mitglied <strong>der</strong> Gesellschaft bee<strong>in</strong>flussen können. Von zentraler<br />

Wichtigkeit für das Problem von <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> ist e<strong>in</strong>e<br />

Vorstellung des Kulturkreises, die ich hier als »den männlichen<br />

Mythos vom weiblichen Geschlecht« bezeichne. Er erklärt die <strong>in</strong>nere<br />

Haltung, die die Art formt, wie Frauen von Männern begriffen werden<br />

und wie Frauen sich selbst sehen. Familiäre und gesellschaftliche<br />

Botschaften be<strong>in</strong>flussen beide, Männer und Frauen, die zerstörerischen<br />

Rollen zu spielen, die durch diese Betrachtung <strong>der</strong> Frauen verursacht<br />

ist, die beide Geschlechter zu Opfern macht.<br />

Der Mythos des Weiblichen veranlaßt Männer und Frauen dazu,<br />

an ausbeuterischem <strong>Sex</strong> teilzuhaben. Es besteht aus drei Schlüsselelementen,<br />

von denen jedes zu unserem Verständnis dafür beiträgt, weshalb<br />

professionelle Beziehungen, <strong>in</strong> denen Männer E<strong>in</strong>fluß auf Frauen<br />

haben, so anfällig für sexuellen Mißbrauch s<strong>in</strong>d:<br />

Unterwerfung <strong>der</strong> Frau<br />

Nach <strong>der</strong> männlichen Vorstellung sollte sich e<strong>in</strong>e Frau vor allem dem<br />

Mann unterwerfen. Die ideale Frau steht dem Mann als <strong>Sex</strong>ualpartner<strong>in</strong><br />

zur Verfügung, als Quelle emotionalen Wohlbef<strong>in</strong>dens und als<br />

67


helfende Gefährt<strong>in</strong> bei <strong>der</strong> Führung des Haushalts und dem Aufziehen<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Während jede dieser Funktionen e<strong>in</strong>en Teil des gegenseitigen<br />

Respekts und e<strong>in</strong>er befriedigenden Beziehung zwischen e<strong>in</strong>em<br />

Mann und e<strong>in</strong>er Frau ausmachen können, ist <strong>der</strong> Makel die Erwartung<br />

<strong>der</strong> Unterordnung, die den meisten sozialen Arrangements zwischen<br />

Männern und Frauen zugrunde liegt. Wenn es zu irgende<strong>in</strong>em Konflikt<br />

kommt, ist die vorherrschende Erwartungshaltung <strong>in</strong> unserer<br />

Gesellschaft, daß sich die Frau dem Mann unterordnet, ob das nun<br />

praktische Themen betrifft wie solche, wo und wie gelebt wird, o<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>time Fragen – wie etwa, wann man Geschlechtsverkehr hat.<br />

Obwohl bei e<strong>in</strong>em Mann <strong>der</strong> Anspruch auf Unterordnung mit<br />

Liebe und Respekt für e<strong>in</strong>e Frau verbunden se<strong>in</strong> kann, be<strong>in</strong>haltet<br />

diese Haltung die Möglichkeit sexueller Ausbeutung. Alle Frauen,<br />

die ich für dieses Buch <strong>in</strong>terviewte, selbst diejenigen, die berufliche<br />

und gesellschaftliche Gleichstellung mit Männern erreicht haben,<br />

waren ursprünglich dazu geneigt, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> sexuell<br />

zu verb<strong>in</strong>den, um dem Wunsch <strong>der</strong> Männer nach Unterordnung<br />

zu entsprechen.<br />

Beson<strong>der</strong>e Stärken <strong>der</strong> Frauen<br />

E<strong>in</strong>e zweite Komponente des männlichen Mythos vom Weiblichen<br />

betrifft die heilenden, nährenden und sexuellen Kräfte, die Männer<br />

Frauen zuschreiben. Männer haben die feste Überzeugung, daß Frauen<br />

über diese Kräfte verfügen, um sie Männern zuteil werden zu lassen.<br />

Fast alle Männer haben die Anlage, die magische Kraft des Weiblichen<br />

zu idealisieren und sogar zu vergöttern; deshalb kann die Frau<br />

als das e<strong>in</strong>zig Wertvolle ersche<strong>in</strong>en, für dessen Eroberung sich das<br />

Leben lohnt, egal, welches die Konsequenzen s<strong>in</strong>d.<br />

Die sexuellen und verführerischen Komponenten <strong>der</strong> den Frauen<br />

zugeschriebenen Kraft können Männer trunken machen, wenn sie<br />

beg<strong>in</strong>nen, über sexuellen Kontakt mit e<strong>in</strong>er Frau zu phantasieren.<br />

Wenn diese Trunkenheit e<strong>in</strong>tritt, kann e<strong>in</strong>e Frau plötzlich als Quelle<br />

großer sexueller Kräfte betrachtet werden, die dazu dienen können,<br />

se<strong>in</strong>e eigene <strong>Sex</strong>ualität zu bestätigen. Beson<strong>der</strong>s für Männer, die auf<br />

diesem Gebiet Probleme haben, wird diese weibliche Kraft unwi<strong>der</strong>stehlich<br />

und überwältigend.<br />

68


Destruktive Frauen<br />

Es gibt e<strong>in</strong>e Kehrseite zu den Idealvorstellungen von <strong>der</strong> heilenden<br />

Kraft, die Männer den Frauen zuschreiben. Wenn er enttäuscht ist, kann<br />

sich die Ansicht des Mannes über die heilende Kraft leicht <strong>in</strong> das Gegenteil<br />

verwandeln. Frauen werden dann für ihn haßerfüllte, rachedurstige,<br />

unterm<strong>in</strong>ierende und destruktive Kreaturen. Männer können dann als<br />

sicher empf<strong>in</strong>den, daß, was immer ihnen an Unglück und Schmerz<br />

wi<strong>der</strong>fährt, auf die dunklen Kräfte <strong>der</strong> Frau zurückzuführen ist.<br />

Diese Vorstellung ist <strong>in</strong> unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Im<br />

alten Testament führt Eva die Wünsche des Teufels aus, <strong>in</strong>dem sie<br />

Adam überredet, vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis zu essen, was zu ihrer<br />

Vertreibung aus dem Paradies führt. Diese negative Betrachtung<br />

des weiblichen E<strong>in</strong>flusses spiegelt sich <strong>in</strong> Hexenverfolgungen und<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur <strong>in</strong> Beschreibungen mör<strong>der</strong>ischer Verführer<strong>in</strong>nen<br />

wi<strong>der</strong>.<br />

Als Prototyp des Mythos, <strong>der</strong> die Sehnsucht nach <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

Frucht zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt, kann die Vertreibung aus dem Paradies<br />

so ausgelegt werden, daß Frauen mitschuldig an dem Problem<br />

s<strong>in</strong>d, das Männer mit ihrem <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Verlangen haben. (Ich neige<br />

dazu, das Essen vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis als evolutionäres<br />

Ereignis zu deuten, das unsere Fähigkeit, uns selbst zu erkennen,<br />

symbolisiert, was jedem von uns die Verantwortung überläßt,<br />

ethisch mit unserem <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven – e<strong>in</strong>schließlich des sexuellen –<br />

Verlangen umzugehen.)<br />

Männer, die Frauen ausbeuten, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, je nach den<br />

Umständen ihre Ideale schnell zu wechseln. Es gibt Zeiten, <strong>in</strong> denen<br />

es e<strong>in</strong>em Mann paßt, e<strong>in</strong>e Frau daran zu er<strong>in</strong>nern, wie schwach und<br />

rücksichtsvoll sie se<strong>in</strong> sollte, Zeiten, <strong>in</strong> denen sie ihr Schweigen über<br />

e<strong>in</strong>e ausbeuterische Beziehung brechen könnte. Männer beziehen<br />

sich oft auf die positive Seite <strong>der</strong> sexuellen Kraft e<strong>in</strong>er Frau, als<br />

Rechtfertigung dafür, an <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> teilzuhaben.<br />

Sie behaupten dann, sie hätten aus Liebesgefühlen gehandelt, die<br />

durch die Frau erregt wurden. Aber wenn Männer verletzt worden<br />

s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> ihre Position durch e<strong>in</strong>e Frau bedroht wird, die sich weigert,<br />

rücksichtsvoll zu bleiben, kann die Frau plötzlich schlecht und<br />

destruktiv ersche<strong>in</strong>en.<br />

69


E<strong>in</strong> großer Teil des Problems, das Männer damit haben, sexuellen<br />

Mißbrauch zuzugeben, liegt an ihrer Unfähigkeit zu erkennen, wie<br />

bequem sie die verschiedenen Vorstellungen über das Weibliche wechseln.<br />

Zwischen ihrem Wunsch, daß Frauen <strong>der</strong> maskul<strong>in</strong>en Kraft<br />

gegenüber rücksichtsvoll bleiben, <strong>der</strong> gelegentlichen Wut auf Frauen,<br />

die ihnen nicht zur Verfügung stehen wollen, und <strong>der</strong> Furcht vor <strong>der</strong><br />

weiblichen Kraft bleibt wenig Raum für ehrliche Selbstanalyse.<br />

Obwohl Frauen, die die Gleichstellung mit Männern erreicht<br />

haben, die gleiche Verantwortung wie Männer haben, wenn sie sich<br />

für e<strong>in</strong>e sexuelle Beziehung entscheiden, s<strong>in</strong>d so viele Beziehungen<br />

zwischen Männern und Frauen, <strong>in</strong> und außerhalb <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong><br />

<strong>Zone</strong>, dadurch gekennzeichnet, daß die Ungleichheit des E<strong>in</strong>flusses<br />

Männer bevorteilt. Aus diesem Grund spielen Frauen, die sich <strong>in</strong><br />

Beziehungen im <strong>verbotenen</strong> Bereich verführerisch verhalten, bl<strong>in</strong>d die<br />

Rolle, die den männlichen Idealvorstellungen entspricht. Zum Beispiel<br />

hat sich Mia mir angeboten, weil sie <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung war, daß sie<br />

Männern nichts von Wert anbieten könne außer ihrer <strong>Sex</strong>ualität. Wie<br />

es für viele Frauen <strong>in</strong> unserer Gesellschaft zutrifft, wollte sie <strong>der</strong><br />

männlichen Phantasievorstellung entsprechen. Sie hatte ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />

Wahl, als das zu akzeptieren, weil man ihr ke<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Weg gewiesen<br />

hatte. Da sie als K<strong>in</strong>d durch die Herabsetzung ihres weiblichen<br />

Selbstwertgefühls zum psychologischen Opfer geworden war, spielte<br />

sie auch <strong>in</strong> ihrem Leben als Erwachsene die Opferrolle, <strong>in</strong>dem sie<br />

sexueller Ausbeutung zustimmte und sie sogar herausfor<strong>der</strong>te.<br />

Frauen können diese Phantasievorstellung von Weiblichkeit entwe<strong>der</strong><br />

direkt von Männern lernen o<strong>der</strong> durch weibliche Vorbil<strong>der</strong>. In<br />

beiden Fällen ist das Resultat das gleiche, ihre Selbstachtung ist<br />

abhängig von <strong>der</strong> Bestätigung durch e<strong>in</strong>en Mann, und <strong>der</strong> Weg zu<br />

dieser Anerkennung schließt oft sexuelle Bereitschaft e<strong>in</strong>.<br />

Die männliche Vorstellung vom Weiblichen wirft zusätzliches Licht<br />

auf die Gründe, weshalb Männer nicht wachsamer die Verhütung und<br />

Bestrafung sexueller Ausbeutung betreiben, denn die selbstverständliche<br />

Folgerung aus <strong>der</strong> Phantasievorstellung über weibliche <strong>Sex</strong>ualität<br />

ist, daß die sexuell zum Opfer gewordene Frau <strong>in</strong> Wirklichkeit nichts<br />

an<strong>der</strong>es wollte. Diese E<strong>in</strong>stellung erlaubt beides, e<strong>in</strong>e »Straßenversion«<br />

(die Männer <strong>in</strong> Fällen von Vergewaltigung anwenden) und e<strong>in</strong>e verfe<strong>in</strong>erte<br />

psychologische Version (die auf Theorien aufbaut, wonach<br />

70


Frauen e<strong>in</strong>flußreichen Männern gegenüber e<strong>in</strong>e natürliche verführerische<br />

Haltung haben, die auf dem Wunsch basiert, die phallische Kraft<br />

ihrer Väter zu erobern). In jedem Fall unterstützen Männer e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,<br />

<strong>in</strong>dem sie dem Opfer se<strong>in</strong>e eigene Misere zum Vorwurf machen.<br />

In den meisten Fällen ist die Annahme, daß Frauen verführerisch<br />

s<strong>in</strong>d, wenn sie vergewaltigt o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>e Art ausgebeutet werden,<br />

re<strong>in</strong>e männliche Phantasie. Wenn Frauen tatsächlich verführerisch<br />

gewesen s<strong>in</strong>d, müßten Männer verstehen, daß diese Verführung<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich das Ergebnis jahrelanger Anpassung an die männliche<br />

Phantasievorstellung ist, <strong>der</strong>en Fortbestehen auch auf die verbreitete<br />

Akzeptanz <strong>in</strong> <strong>der</strong> weiblichen Psyche zurückzuführen ist. Für Frauen<br />

ist es – unabhängig davon, wie Männer sich verhalten – ihrerseits e<strong>in</strong>e<br />

Aufgabe, sich ernsthaft dagegen zu wehren, durch re<strong>in</strong> weibliches Verhalten<br />

e<strong>in</strong> Selbstwertgefühl zu erwarten, damit sie nicht an ihrer eigenen<br />

Ausbeutung mitwirken.<br />

Der unschätzbare Wert von Beziehungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong><br />

kann nur dann erlebt werden, wenn Männer und Frauen sich ihren<br />

eigenen Verwundungen zuwenden und aufhören, unrealistische<br />

Ansprüche ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu stellen. In den nächsten beiden Kapiteln<br />

werden die Verwundungen von Frauen und Männern behandelt, die<br />

zu <strong>Sex</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>verbotenen</strong> <strong>Zone</strong> führen.<br />

71

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