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Aus: BGHM-Aktuell 4/2013

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gHM-aktuell 4 | <strong>2013</strong> > LeiStung und recHt<br />

Die große Kraftprobe<br />

„nicht aufgeben, das Leben ist lebenswert!“<br />

Der seit einem Motorradunfall querschnittsgelähmte Lars Hoffmann aus Sachsen<br />

hat seinen Weg zurück ins Leben über den Sport gefunden – und sich dabei den<br />

Blick für seine Mitmenschen erhalten.<br />

28<br />

Mittsommer 2011 in Norwegen: Wo die einen die<br />

nicht untergehende Sonne fasziniert, suchen andere<br />

die Herausforderung. Es ist die Zeit der großen<br />

Kraftprobe, jedes Jahr aufs Neue: Styrkeproven,<br />

eines der härtesten Radrennen der Welt. 540<br />

Kilometer, von Trondheim nach Oslo in möglichst<br />

kurzer Zeit über 3.500 Höhenmeter. Von über<br />

9.000 Fahrern packen nur etwa 2.000 die ganze<br />

Strecke.<br />

„Nach hinten raus wird’s richtig hart, da geht es<br />

immer wieder rauf und runter“, weiß der Sach-<br />

Lars Hoffmann und seine<br />

Lebensgefährtin Barbara<br />

Quaas auf der Terasse<br />

ihres Hauses in Weinböhla.<br />

se Lars Hoffmann. Er hat’s geschafft, nach genau<br />

28 Stunden und 48 Minuten rollt er über die Ziellinie.<br />

Damit hat sich der Profisportler einmal mehr<br />

selbst überboten, seinen Leistungshorizont erneut<br />

erweitert. „Man wundert sich, was alles geht, wenn<br />

man nur will“, stellt er fest. Hoffmann fährt allerdings<br />

nicht Fahrrad, das könnte er gar nicht. Er ist<br />

querschnittsgelähmt, vom sechsten Brustwirbel<br />

abwärts, die Beine versagen ihm den Dienst. Er betreibt<br />

seinen Sport mit einem Spezialgerät. Knapp<br />

zehn Zentimeter über dem Asphalt liegend, kurbelt<br />

er sich mit den Händen vorwärts.<br />

Foto: Klaus Taubitz/<strong>BGHM</strong>


Hoffmanns persönliche Kraftprobe beginnt ziemlich<br />

genau sieben Jahre vor dem Rennen zur Mittsommernacht.<br />

Er verkauft Motorräder in Meißen,<br />

„mit Leidenschaft“ wie er sagt: Der Job macht ihm<br />

Spaß. In der Nacht vom 5. auf den 6. August 2004<br />

rutscht er auf dem Weg von einem Kunden mit seinem<br />

Vorführer in einer langgezogenen Linkskurve<br />

von der Strecke, schleift an einer Mauer entlang bis<br />

ein Vorsprung seinen Schwung brutal stoppt. „Da<br />

hat es nur noch knack gemacht.“ Mehr weiß Hoffmann<br />

darüber kaum. Den Unfall erklären kann er<br />

nicht, genauso wenig wie die später hinzugezogenen<br />

Gutachter. Zu schnell ist er jedenfalls nicht gewesen.<br />

Ein Rettungswagen bringt den 35-Jährigen<br />

ins nächste Krankenhaus, von dort geht es ganz<br />

schnell mit dem Hubschrauber in die Uniklinik nach<br />

Dresden. Hoffmann liegt im künstlichen Koma.<br />

Barbara Quaas, Hoffmanns Lebensgefährtin, hat<br />

kein gutes Gefühl, als sie in dieser Nacht aufwacht:<br />

„Er hätte längst zu Hause sein müssen“. Auch sie<br />

erinnert sich nur ungern an diese Zeit. Sie ist es,<br />

die im Krankenhaus anruft. Ein Freund fährt sie<br />

nach Dresden. „Ich stand unter Schock, habe nur<br />

noch funktioniert“, sagt sie. Derweil kämpft ihr<br />

Partner um sein Leben. Zehn Tage soll er im Koma<br />

bleiben, aber schon nach drei Tagen holen ihn die<br />

Mediziner aus diesem Zustand. Als Hoffmann aufwacht,<br />

eröffnet ihm ein Arzt ziemlich schonungslos,<br />

dass er von nun an gelähmt bleibe. „Das war<br />

die Holzhammermethode“, bemerkt der Kfz-Meister<br />

trocken. Nur begreifen konnte er die Realität da<br />

noch nicht. „Es hat drei Jahre gedauert, bis ich das<br />

akzeptieren konnte.“ Man spürt den Schmerz, den<br />

Der Handbiker beim<br />

Training: Auch bei<br />

der Anschaffung des<br />

Sportgeräts konnte<br />

ihn die <strong>BGHM</strong> unterstützen.<br />

Leistung und Recht < BghM-<strong>Aktuell</strong> 4 | <strong>2013</strong><br />

er durchlitten haben muss, auch wenn er ihn kaum<br />

in Worte fasst. Sein Schicksalstag ist Freitag, der<br />

13. August 2004. Eine erneute OP, die Ärzte stabilisieren<br />

Hals und Rücken. „Die Nacht war brutal“, gesteht<br />

der heute 45-Jährige. „Ich wusste, wenn ich<br />

das überlebe, geht es nur noch aufwärts.“ Er meint<br />

es so, wie er das sagt.<br />

neues familiendomizil<br />

Es ist Ende April <strong>2013</strong>, als Barbara Quaas und Lars<br />

Hoffmann die harte Zeit des Unfalls auf diese Weise<br />

Revue passieren lassen. Sie sitzen auf der Terrasse<br />

hinter ihrem Haus und genießen einen der<br />

seltenen warmen Sonnentage in diesem Frühjahr.<br />

Mit von der Partie ist <strong>BGHM</strong>-Berufshelfer Thomas<br />

Köhler, der Hoffmann seit dessen Unfall betreut.<br />

Hoffmann spricht bedächtig mit etwas rauer Stimme,<br />

wählt seine Worte genau. Er ist aufmerksam<br />

und humorvoll. Seit 2006 wohnt die Familie hier in<br />

Weinböhla, zwei Kinder gehören dazu. Hell und geräumig<br />

ist das Haus, nahezu alles ebenerdig. Nach<br />

seinem Unfall hat Hoffmann viel Energie darauf<br />

verwendet, das neue Familiendomizil zu planen.<br />

Lange Stunden am PC. „Das sollte passen, immer<br />

wieder habe ich überlegt, wo man noch einen Griff<br />

einbauen kann“, betont er. Der Aufwand war hoch,<br />

der Zeitplan für Bau und Umzug eng. „Die Nerven<br />

lagen blank“, gestehen die beiden unisono. Es hat<br />

sich gelohnt. Heute ist Hoffmann froh, diesen Weg<br />

gegangen zu sein. „Vieles ist hier sehr viel leichter<br />

als früher.“ Früher, das war die Wohnung in Meißen,<br />

mit einer engen Treppe ins Obergeschoss,<br />

ziemlich ungeeignet für einen Rollstuhlfahrer.<br />

„Man hätte sehr viel Geld in die Hand nehmen<br />

Foto: Privat<br />

29


<strong>BGHM</strong>-<strong>Aktuell</strong> 4 | <strong>2013</strong> > LeistunG und RecHt<br />

30<br />

müssen, um die Wohnung den Bedürfnissen anzupassen“,<br />

bestätigt Köhler. Also hat die Berufsgenossenschaft<br />

den Neubau unterstützt. „Dafür gibt<br />

es eindeutige Vorgaben“, unterstreicht der Berufshelfer.<br />

Und Hoffmann handelt clever: Er lässt sich<br />

einen Teil seiner Unfallrente abfinden, um die ganze<br />

Sache zu finanzieren.<br />

An den Sport kommt der ehemalige Kfz-Meister<br />

schließlich durch sein Sanitätshaus. „Da habe ich<br />

mich mal in so ein Teil reingesetzt.“ Er meint das<br />

Handbike. Und auch beim Kauf des Sportgeräts<br />

kann ihn die BG unterstützen, von einem kleinen<br />

Eigenanteil einmal abgesehen. Dennoch habe das<br />

dann noch lange in der Garage gestanden, verrät<br />

Hoffmann schmunzelnd. Bis zum ersten Halbmarathon<br />

2009 in Dresden, den er ziemlich untrainiert<br />

angegangen ist. „Ich musste wirklich kämpfen,<br />

und hinterher tat mir jeder Muskel weh“, erinnert<br />

er sich. „Aber die Atmosphäre war toll, es hat Spaß<br />

gemacht, all diese Menschen, die uns angefeuert<br />

haben“. Jetzt ist Hoffmann in seinem Element. Er<br />

trainiert regelmäßig, dreht nahezu täglich seine<br />

Runden auf dem Radweg, entlang der Elbe. Es folgen<br />

Rennen über die ganze Marathonstrecke, in<br />

Heidelberg, in Hamburg, in Leipzig. Seine persönlichen<br />

Zeiten werden besser.<br />

2010 fliegt er zusammen mit seiner Gefährtin nach<br />

Lanzarote, ins Trainingslager für Handbiker. „Was<br />

Lars Hoffmann mit<br />

Karina, der er mit<br />

seinem 1000-km-<br />

Weltrekordversuch<br />

einen Großteil der<br />

Delfintherapie-Kosten<br />

„einfahren“ konnte.<br />

Mallorca für Radfahrer, ist Lanzarote für Handbiker“,<br />

freut sich Hoffmann. „Dort gibt’s wunderbare<br />

Trainingsmöglichkeiten“. Und es ist sein erster<br />

Flug nach dem Unfall. Die BG stellt den Nachschub<br />

seiner medizinischen Hilfsmittel sicher und unterstützt<br />

das Paar über die ihm zustehenden Pauschalen<br />

für Erholungsreisen. Außerdem hat Hoffmann<br />

längst erkannt, welche Bedeutung der Sport<br />

für sein zweites Leben hat: „Jeder Transfer aus dem<br />

Rollstuhl fällt leichter, weil ich kräftiger bin. Ich<br />

fühle mich besser, habe weniger Schmerzen“. Auf<br />

Lanzarote lernt er Paralympicsieger Errol Marklein<br />

„den Vater der Handbikeszene“ kennen – wie Hoffmann<br />

querschnittsgelähmt und willensstark. Von<br />

da an ist es bis zur großen Kraftprobe in Norwegen<br />

nur noch ein kurzer Weg. Zusammen nehmen sie<br />

die Herausforderung an.<br />

Inzwischen betreibt Hoffmann seinen Sport professionell.<br />

Er gewinnt Sponsoren und nimmt neue<br />

Projekte in Angriff. Unter anderem den Weltrekordversuch<br />

im ununterbrochenen Handbikefahren,<br />

der zu diesem Zeitpunkt noch bei 649 Kilometern<br />

liegt. Dabei hat der Sportler stets auch einen Blick<br />

für seine Umwelt und das, was um ihn herum passiert.<br />

„Der Sport hat mir so viel gegeben, jetzt wollte<br />

ich etwas zurückgeben“, betont er. Über seine<br />

Mitgliedschaft im Vorarlberger Verein „Stunde des<br />

Herzens“ wird er auf Karina aufmerksam, ein Mädchen<br />

mit Down-Syndrom. Sie kam im August 2004<br />

Foto: Privat


zur Welt, „ist also genauso alt wie ich, jetzt, in meinem<br />

zweiten Leben“, sagt Hoffmann. Karina hat<br />

Sprachschwierigkeiten, die Ärzte hoffen, dass ihr<br />

eine Delfintherapie in der Türkei helfen kann. Die<br />

aber ist teuer. <strong>Aus</strong> dem Weltrekordversuch werden<br />

die „1.000 Momente“, 1.000 Kilometer ununterbrochenes<br />

Handbikefahren für Karina. Hoffmann<br />

rührt die Werbetrommel, via Internet und Presse<br />

macht er auf sein Projekt aufmerksam. Und geht<br />

am 17. August 2012 in Hamburg an den Start. Sein<br />

Ziel: Am Eröffnungstag der Paralympics in London<br />

will er in München sein. Über Berlin, Leipzig, Gera<br />

und Bamberg soll die Fahrt gehen. Und auch wenn<br />

Hoffmann sein sportliches Ziel in diesem Fall nicht<br />

ganz erreicht, fährt er doch den Großteil der Kosten<br />

für die Delfintherapie ein. Den Versuch selbst<br />

muss er in Bamberg bei großer Hitze abbrechen.<br />

„Das war fast schon gesundheitsgefährdend“, gesteht<br />

er, „bei 30 Grad im Schatten, knapp überm<br />

heißen Asphalt“. Den Weltrekord holt er dennoch<br />

nach Weinböhla: 700 Kilometer waren es auf seiner<br />

Route von Hamburg bis Bamberg.<br />

„Nicht aufgeben, das Leben ist lebenswert!“ Das<br />

ist die Botschaft des Weltrekordlers Lars Hoffmann,<br />

an alle – nicht nur an die, die sich ähnlichen<br />

Herausforderungen wie er gegenüber sehen.<br />

Der ehemalige Kfz-Meister hat seinen Weg zurück<br />

ins Leben über den Sport gefunden. „Was danach<br />

kommt, wird man sehen“, sagt er nachdenklich.<br />

„Und natürlich gibt es auch heute noch Tage, an<br />

denen du denkst, verdammt, warum kann ich jetzt<br />

nicht einfach aufstehen“. Aber er kämpft weiter,<br />

mit seiner Gefährtin und der BG an der Seite. „Die<br />

Betreuung war klasse“, lobt seine Partnerin „man<br />

weiß doch gar nicht, was man tun soll, wenn sich<br />

das Leben gerade in Luft auflöst.“<br />

Klaus Taubitz, <strong>BGHM</strong><br />

Weitere Informationen zu den Projekten<br />

von Lars Hoffmann unter<br />

www.hoffmannlars.de und<br />

www.1000-momente.de<br />

Lars Hoffmann (links)<br />

mit dem <strong>BGHM</strong>-Berufshelfer<br />

Thomas Köhler,<br />

der ihn seit dem Unfall<br />

betreut.<br />

Foto: Klaus Taubitz/<strong>BGHM</strong><br />

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