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Ulrich Steinmüller<br />
«Lernstatt im Wohnbezirk»<br />
In: Deutsch lernen 3, 1979, S. 45-59<br />
Förderung der sozialen Handlungsfähigkeit als Ziel der Arbeit mit Ausländern<br />
Die Motivation für das, was dann später zum Kommunikationsprojekt «Lernstatt im<br />
Wohnbezirk» wurde, entstand aus zuerst ganz subjektiven Beobachtungen und aus<br />
Einblicken in das Leben ausländischer Arbeiter und ihrer Familien in unserer<br />
Gesellschaft.<br />
Ich will hier nicht noch einmal die ökonomischen Ursachen und Zwänge für die sog.<br />
«Arbeitermigration» aufzählen, und ich verzichte auch auf eine Darstellung der<br />
Existenzprobleme der Ausländer in der BRD, die als Arbeitskräfte gerufen wurden und<br />
dann als Menschen kamen. (1)<br />
Daß die Lebensbedingungen und Existenzmöglichkeiten der ausländischen Arbeiter und<br />
ihrer Familien in unserer Gesellschaft alles andere als optimal sind, gehört inzwischen<br />
zum Alltagswissen: Isolierung, Ghettobildung, problematische Wohnverhältnisse,<br />
Sprachschwierigkeiten, Schulprobleme ausländischer Kinder, Schwierigkeiten im<br />
Umgang mit Behörden, rechtliche Unsicherheit sind nur einige Elemente eines ganzen<br />
Spektrums von Problembereichen. Zu diesen sozioökonomischen und<br />
gesellschaftspolitischen Problemfeldern gesellen sich noch psychische und<br />
sozialpsychologische, die allerdings noch nicht im gleichen Maße ins gesellschaftliche<br />
Bewußtsein gedrungen sind. Alle diese Probleme resultieren für die große Mehrheit der<br />
Ausländer in Unsicherheit und einer gewissen Hilflosigkeit bei der Gestaltung ihres<br />
Lebens unter den ihnen in unserer Gesellschaft aufgenötigten Bedingungen.<br />
Um diese Menschen aus ihrer Situation der Unsicherheit und Hilfsbedürftigkeit<br />
herauszuführen, die sie jeder Art von Ausbeutung und Manipulation - sowohl ökonomisch<br />
als auch politisch-ideologisch - aussetzt, ist es erforderlich, ihre soziale<br />
Handlungsfähigkeit so zu fördern, daß sie in die Lage versetzt werden, ihr Leben in<br />
unserer Gesellschaft und ihre Probleme eigenverantwortlich und selbständig zu<br />
bewältigen. Von deutscher Seite wurde in letzter Zeit Einiges versucht, um den<br />
Ausländern sog. «Integrationshilfen» zu leisten. Es gibt aber seitens der Ausländer einen<br />
sehr bewußten Widerstand dagegen, sich sozial- und bildungspolitisch zum Objekt<br />
machen zu lassen. Viele Äußerungen ausländischer Arbeiter zeigen, daß<br />
Eingliederungsversuche von deutscher Seite nur dann erfolgreich und im Interesse der<br />
Ausländer sein können, wenn sie selbst an ihnen aktiv beteiligt sind. Maßnahmen, die<br />
über ihre Köpfe hinweg konzipiert, beschlossen und durchgeführt werden, führen eher<br />
dazu, die Unselbständigkeit und Abhängigkeitsgefühle weiter zu verstärken, als sie<br />
abzubauen. Ihre Ablehnung wird dann häufig als Verweigerung und Desinteresse der<br />
Ausländer gewertet und dient als Begründung für die Zurücknahme von vielleicht<br />
sinnvollen Initiativen.<br />
Mißverständnisse und Vorurteile tragen dazu bei, daß die schwierige Situation der<br />
Ausländer nicht verbessert wird, stärker wohl noch als böser Wille und direkte Absicht.<br />
Aber auch wenn es gelingt, die Ausländer aus ihrer Situation der Unsicherheit und<br />
Hilflosigkeit zu befreien, muß das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern nicht<br />
unbedingt konfliktfrei und harmonisch werden. Die eigenverantwortliche<br />
Handlungsfähigkeit der Ausländer, die Entwicklung eines individuellen und nationalkulturellen<br />
Selbstbewußtseins kann im Gegenteil zu verstärkten Reibungspunkten und<br />
Konflikten mit der deut-<br />
[Ende Seite 45]<br />
schen Bevölkerung führen, die mehr oder weniger ausdrücklich und mehr oder weniger<br />
bewußt eine Integration der Ausländer im Sinne von Anpassung, von Aufgehen in der<br />
deutschen Bevölkerung oder sogar von Germanisierung erwartet. Ansatzpunkt für die<br />
Arbeit zur Verbesserung der Situation ausländischer Arbeiter und ihrer Familien können<br />
daher nicht nur die Ausländer selbst sein, die deutsche Bevölkerung muß in diese Arbeit<br />
miteinbezogen werden.
Lernstatt im Industriebetrieb und im Wohnbezirk<br />
Diese Erkenntnisse standen am Anfang der «Lernstatt im Wohnbezirk». «Lernstatt» ist<br />
eine künstliche Wortschöpfung, die sich aus «Lernen» und aus «Werkstatt»<br />
zusammensetzt und die in der ersten Realisation dieses Konzepts in der Industrie<br />
entstand. Nach ersten Anfängen seit 1972 in der Kraftwerk Union wurde das Konzept<br />
1973 bei BMW und 1975 bei der Hoechst AG eingeführt. (2) Ausgangspunkt waren die<br />
Beobachtungen der Industriebetriebe, daß die Produktivität der Arbeit durch die<br />
mangelnde soziale Integration und die mangelhafte Kommunikationsfähigkeit der<br />
dringend benötigten ausländischen Arbeiter behindert wurde. (3) Sprachkurse, die von<br />
den Betrieben eingerichtet wurden, brachten hier keine Abhilfe; eine Lehrerin sagte dazu:<br />
Ich komme selten dazu, mehr als 50 % der für den Sprachunterricht vorgesehenen Zeit<br />
meiner Funktion als Lehrerin nachzukommen, weil besonders die Türken mich ständig<br />
mit ihren betrieblichen und privaten Problemen bedrängen ... (CAD/IFZ 1976, S. 2).<br />
Und die ausländischen Arbeiter bemängelten, daß sie nicht Deutsch sprechen lernten,<br />
sondern Grammatik, Abzählreime und Gedichte.'<br />
Als Konsequenz hieraus wurde in der Lernstatt auf formellen Sprachunterricht mit Lehrer<br />
und Lehrbüchern in einer Klassenraumatmosphäre verzichtet. Deutsche Kollegen<br />
wurden als «Sprachmeister» ausgewählt, im Betrieb wurden improvisierte Lernecken<br />
eingerichtet, in denen während der Arbeitszeit in vertrauter Umgebung mit deutschen<br />
und ausländischen Kollegen im Gespräch über gemeinsame Themen Sprache vermittelt,<br />
Kommunikationsfähigkeit entwickelt und sozialer Kontakt gepflegt wurde. Im Mittelpunkt<br />
stand dabei nicht die «korrekte», normgerechte Sprache, sondern das gemeinsame<br />
Thema.<br />
Die Erfahrungen, die mit diesem Ansatz und den dabei entwickelten Methoden und<br />
Verfahrensweisen gemacht wurden, sollten dann in einem von Auftraggebern<br />
unabhängigen Projekt mit Deutschen und Ausländern als praktische Stadtteilarbeit<br />
verwertet werden.<br />
Gefördert durch die Stiftung Volkswagenwerk führte die Gruppe Cooperative<br />
Arbeitsdidaktik (CAD) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum <strong>Berlin</strong> für Zukunftsforschung<br />
(jetzt Institut für Zukunftsforschung, IFZ) in der Zeit von Juni 1976 bis einschließlich Mai<br />
1978 das Handlungsforschungsprojekt «Lernstatt im Wohnbezirk.<br />
Kommunikationsprojekt mit Ausländern in <strong>Berlin</strong>-Wedding» durch. (5)<br />
Vor dem Bericht über die Erfahrungen bei der Anwendung der Theorie der<br />
kommunikativen Tätigkeit als Fundierung des didaktischen Konzepts der konkreten<br />
Projektarbeit (6) sind<br />
[Ende Seite 46]<br />
noch einige Bemerkungen zum organisatorischen Aufbau und der inhaltlichen<br />
Konzeption der «Lernstatt» erforderlich.<br />
Soziale Handlungsfähigkeit und konkurrierende soziale Normen<br />
Zielsetzung ist die Vermittlung sozialer Kompetenz, d. h. die Fähigkeit zur Erfassung und<br />
Lösung von sowie die Verbesserung der Kommunikation zwischen<br />
Ausländern und Deutschen mit Hilfe teilnehmer- und themenzentrierter<br />
Gruppenarbeitsmethoden (EFZ/CAD 1978, S. 9).<br />
Hinter dieser Zielsetzung steht die Einsicht, daß die Probleme der Ausländer in unserer<br />
Gesellschaft nicht durch das Angebot von Kursen zum Erwerb der deutschen Sprache<br />
bewältigt werden können. Es wäre falsch, wollte man die Schwierigkeiten ausländischer<br />
Arbeiter und ihrer Familien bei der Verwirklichung ihrer Interessen und der<br />
eigenverantwortlichen Gestaltung ihres eigenen Lebens auf<br />
Verständigungsschwierigkeiten mit der deutschen Bevölkerung im sprachlichen Bereich<br />
reduzieren - mit der Implikation, daß mit den Sprachschwierigkeiten auch alle anderen<br />
Probleme beseitigt würden.
Die Schwierigkeiten bestehen vielmehr zu einem überwiegenden Teil darin, daß die<br />
deutsche Gesellschaft den erwachsenen Ausländern eine Art Zweitsozialisation abnötigt,<br />
obwohl sie eine für ihr Herkunftsland angemessene soziale und sprachlichkommunikative<br />
Handlungsfähigkeit erworben und bereits für Jahre praktiziert haben. Ihre<br />
soziale und sprachlich-kommunikative Handlungsfähigkeit in unserer Gesellschaft hängt<br />
davon ab, daß die Ausländer einen Prozeß durchlaufen, der der Phase der primären<br />
Sozialisation vergleichbar ist und an dessen Ende die kompetente Verfügung über<br />
gesellschaftlich akzeptierte soziale und sprachlich-kommunikative Handlungs- und<br />
Deutungsmuster stehen soll.<br />
Der Erwerb dieser Handlungs- und Deutungsmuster wird erschwert durch die bereits im<br />
Herkunftsland erworbenen und angewendeten Muster, Werte und Normen, die von den<br />
unseren z. T. erheblich abweichen. Hinzu kommt die wenig hilfreiche, oft sogar offen<br />
ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung, die diesen Sozialisationsprozeß eher<br />
behindert als fördert. Darüber hinaus ist es den Ausländern gar nicht ohne weiteres<br />
einsichtig, daß sie ihre bisherigen Vorstellungen vom Zusammenleben in der<br />
Gesellschaft, von Ehre, Moral, von Kindererziehung und dem Umgang mit dem<br />
Ehepartner ändern sollen. Und wenn ihnen diese Erwartungshaltung der Deutschen<br />
bewusst gemacht wird - häufig nicht in sehr höflicher Form - ist aus verständlichen<br />
Gründen ihre Bereitschaft dazu nicht einfach vorauszusetzen.<br />
Das Ziel der «Lernstatt im Wohnbezirk» ist es daher, die Handlungsfähigkeit der<br />
Ausländer in unserer Gesellschaft zu entwickeln, zu fördern und ihnen gleichzeitig die<br />
Entfaltung ihrer eigenen persönlichen und national-kulturellen Identität in der für sie<br />
fremden Umgebung zu ermöglichen. Das bedeutet die Befähigung der Ausländer, sich in<br />
dem bei uns gültigen System gesellschaftlicher Regeln, Normen und Werte zu<br />
behaupten, ohne durch eine platte Anpassung die eigene Identität und Authentizität zu<br />
verlieren, Dazu ist ein Vermittlungsprozeß zwischen den Verhaltensnormen und<br />
Wertvorstellungen des Herkunftslandes mit den in unserer Gesellschaft gültigen<br />
erforderlich, der das Bewußtsein von der eigenen Besonderheit mit der<br />
eigenverantwortlichen Gestaltung der eigenen Lebenssituation in unserer Gesellschaft<br />
verbindet - und es ist die Einbeziehung der deutschen Bevölkerung in diesen Prozeß<br />
erforderlich.<br />
Kommunikative Tätigkeit und soziale Handlungsfähigkeit<br />
So verstandene gesellschaftliche Handlungsfähigkeit beinhaltet als wesentliches Element<br />
die Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen, seinen Interessen und Bedürfnissen Gehör zu<br />
verschaffen, aber auch, zu verstehen, Bedeutungen und Absichten zu erkennen. Der<br />
Zwang<br />
[Ende Seite 47]<br />
zur gesellschaftlichen Organisation und Kooperation, der in den Bedingungen und<br />
Voraussetzungen der menschlichen Existenz seine Ursachen hat, macht die<br />
kommunikative Tätigkeit notwendig. Die kommunikative Tätigkeit der gesellschaftlich<br />
lebenden und arbeitenden Menschen schafft aber erst die Möglichkeit für Koordination<br />
und Kooperation des gesellschaftlichen Lebens und Handelns. Zwischen kommunikativer<br />
Tätigkeit und gesellschaftlichern Handeln besteht daher eine dialektische Beziehung.<br />
Auf die Situation der Ausländer bezogen bedeutet dies, daß konsequenterweise ihre<br />
Handlungsfähigkeit in unserer Gesellschaft nur entwickelt werden kann, wenn ihre<br />
Fähigkeiten zu kommunikativer Tätigkeit entwickelt werden; und umgekehrt können ihre<br />
kommunikativen Fähigkeiten nur entwickelt werden, wenn gleichzeitig ihre<br />
gesellschaftliche Handlungsfähigkeit entwickelt und entfaltet wird. D.h.: gesellschaftliche<br />
Handlungsfähigkeit beinhaltet die Fähigkeit zu kommunikativer Tätigkeit.<br />
Ich spreche in diesem Zusammenhang bewußt von Kommunikation und nicht nur von<br />
Sprachverwendung, da in Alltagssituationen, im mündlichen Gespräch eine ganze Reihe<br />
von Ausdrucks- und Verständigungsmitteln und -möglichkeiten gegeben sind, die über<br />
das Nur-Sprachliche hinausgehen. Sie gilt es ebenfalls zu aktivieren und bewußt<br />
einzusetzen - unbewußt verwenden wir sie ohnehin. Die Kommunikationsfähigkeit der<br />
Ausländer zu entwickeln bedeutet daher mehr als ihnen Sprachkenntnisse zu vermitteln.
Kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten sind gleichermaßen Voraussetzung wie<br />
Ergebnis kommunikativer Tätigkeit: ohne sie ist zwischenmenschliche Kommunikation in<br />
gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht möglich, aber erst in der kommunikativen<br />
Tätigkeit, in der konkreten, aktiven Verwendung werden sie angeeignet und entfaltet.<br />
Die Kommunikation zwischen Menschen geschieht nicht losgelöst von ihren sonstigen<br />
Aktivitäten, sie vollzieht sich vielmehr im Rahmen ihrer verschiedenen Tätigkeiten, sie ist<br />
Bestandteil ihres Handelns. Anlaß und Inhalt der zwischenmenschlichen Kommunikation<br />
bestimmen sich aus ihrem Handeln, aus den Gegebenheiten der jeweiligen Situation, in<br />
der sie miteinander zu tun haben. (7)<br />
Für die Arbeit in der Lernstatt bedeutet dieser Ansatz, daß es den Ausländern möglich<br />
werden soll, zur Bewältigung ihres täglichen Lebens themenorientiert und<br />
situationsbezogen mit Deutschen und anderen Ausländern zu kommunizieren. Dazu ist<br />
ganz wesentlich die Beherrschung von Gesprächsritualen, die Kenntnis von Regeln und<br />
Normen zur Gestaltung von Gesprächssituationen. Für jede Form der Verständigung, vor<br />
allem aber auch für die Verständigung zwischen Ausländern und Deutschen ist ihre<br />
Beherrschung mindestens ebenso wichtig wie die Sprachbeherrschung. In der Arbeit der<br />
Lernstatt hat die Vermittlung dieser Kommunikationsstrategien daher den Vorrang vor<br />
der Sprachvermittlung.<br />
In letzter Zeit sind in immer stärkerem Maße Zweifel geäußert worden, ob die<br />
hergebrachten Sprachkurse für die Zielgruppe erwachsener und heranwachsender<br />
Ausländer geeignet sind. Das liegt zum einen an der Unterrichtsorganisation und den<br />
Unterrichtsformen, die die besondere Situation ausländischer Arbeiter nicht<br />
berücksichtigen (z. B. Schichtarbeit, die regelmäßige Teilnahme behindert, physische<br />
Ermüdung nach dem Arbeitstag, Lehrer-Schüler-Verhältnis), zum anderen aber auch an<br />
den fehlenden Voraussetzungen der meisten Ausländer: üblicherweise bilden<br />
grammatisches Verständnis und sprachsystematische Kenntnisse die Grundlage, von<br />
der Sprachkurse und Unterrichtsmaterialien ausgehen; diese Grundlagen sind aber<br />
wegen mangelnder Vorkenntnisse schon in der Muttersprache der ausländischen<br />
Arbeiter in aller Regel nicht gegeben. Dem Unterricht fehlt damit die Basis.<br />
[Ende Seite 48]<br />
Für die Lernstatt geht es daher darum, im Rahmen der sozialen Handlungsfähigkeit die<br />
kommunikativen Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln, die erforderlich sind, um in einer<br />
bestimmten Situation ein bestimmtes Thema behandeln oder ein bestimmtes Problem<br />
lösen zu können. Dabei wird bewußt das sog. «Ausländerdeutsch» zum Ausgangspunkt<br />
genommen, um Kommunikationsstrategien zu entwickeln, die dazu benötigt werden. D.<br />
h., daß nicht eine bestimmte sprachliche Form erworben und verwendet werden soll,<br />
sondern ausgehend von situationsabhängigen Sprechhandlungstypen wie z. B. «einen<br />
Wunsch äußern», «eine Bedingung stellen», «etwas ablehnen», «um Aufmerksamkeit<br />
bitten» ein Spektrum von sprachlichen und nichtsprachlichen Mitteln zu entwickeln, durch<br />
die diese kommunikativen Absichten verwirklicht werden können. (8) Den Ausländern<br />
wird zwar dadurch nicht das System der deutschen Hochsprache vermittelt, sie erhalten<br />
aber eine Reihe von Sprechhandlungsalternativen, die es ihnen ermöglichen, in<br />
konkreten Alltagssituationen (und nicht nur in einem theoretischen Unterricht) flexibel<br />
und der jeweiligen Situation angemessen zu handeln. Selbstverständlich kann die<br />
Lernstatt hier nur exemplarisch verfahren, ein vollständiger Kanon von Situationen,<br />
Themen und Sprechhandlungstypen ist unmöglich. Aber die so erworbene<br />
Handlungsfähigkeit auch im sprachlichen Bereich führt dazu, daß auch andere als die<br />
erprobten Situationen bewältigt werden können: die Situation wird zum Lehrmeister.<br />
Das Konzept der «Lernstatt im Wohnbezirk» läßt sich daher in einer Formel<br />
zusammenfassen: Vermittlung situations- und themenbezogener kommunikativer<br />
Fähigkeiten als Bestandteil sozialer Handlungsfähigkeit ohne einen an normativen<br />
Vorstellungen orientierten Sprachunterricht.<br />
Inhaltlich-organisatorische und didaktische Konzeption der Lernstatt im<br />
Wohnbezirk<br />
Im Zentrum der Lernstatt-Arbeit steht die gemeinsame Beschäftigung von Bewohnern<br />
verschiedener Nationalitäten eines Wohnviertels in ihrer Freizeit mit dem Ziel, in
gemeinsamen Aktivitäten Formen des Verstehens, der Verständigung und des<br />
Zusammenlebens zu entwickeln, die von der Erkenntnis weitreichender<br />
Überschneidungen von Interessen, Bedürfnissen und Problemen ausgehen. War in der<br />
Lernstatt im Betrieb die gemeinsame Arbeit mit ihren Problemen der Ausgangspunkt, so<br />
ist es bei der Lernstatt im Wohnbezirk das gemeinsame Leben unter gleichen oder<br />
ähnlichen Bedingungen. In diesem Ausgangspunkt ist aber ein Problem enthalten, durch<br />
das sich die Lernstatt im Wohnbezirk deutlich von der Lernstatt im Betrieb unterscheidet:<br />
die Entsprechung der Interessen, Bedürfnisse und Probleme von Deutschen und<br />
Ausländern ist am Arbeitsplatz deutlicher und eindeutiger als im Wohnbereich, der<br />
Kontakt ist enger und die Einbettung von Lernstatt-Gruppen in den Arbeitstag verlangt<br />
geringeren Aufwand als im Freizeitbereich. Aus diesen Gründen erscheint es<br />
verständlich, daß die Lernstatt in Wedding Schwierigkeiten hatte, die deutsche<br />
Bevölkerung für eine Mitarbeit zu gewinnen, vor allem aus der Gruppe der Älteren,<br />
während die ausländische Bevölkerung das Angebot der Lernstatt mit Interesse annahm.<br />
Die didaktische Besonderheit des Lernstatt-Ansatzes besteht in dem bewußten Verzicht<br />
auf Lernsituationen und Lernprozesse, die von außen geplant, gesteuert und überwacht<br />
werden, wobei «von außen» bedeutet «außerhalb der angesprochenen Gruppen der<br />
deutschen und ausländischen Wohnbevölkerung». Ein gewisser Widerspruch besteht bei<br />
diesem Ansatz allerdings insofern, als die Initiative, die Vorbereitung und in gewissem<br />
Maße auch - wenigstens phasenweise - die Steuerung und Organisation der Lernstatt-<br />
Aktivitäten von einer Projektgruppe vorgenommen wurden, die außerhalb der<br />
Bezugsgruppe steht. Erklärtes Ziel der Organisatoren war daher auch, durch die Arbeit in<br />
der Lernstatt<br />
[Ende Seite 49]<br />
sich selbst überflüssig zu machen. Der Erfolg dieser Arbeit läßt sich dann daran ablesen,<br />
wie weit Organisation und Durchführung der Lernstatt-Aktivitäten von der Projektgruppe<br />
auf die Lernstatt-Teilnehmer übergegangen ist.<br />
Die zweite didaktische Besonderheit des Lernstatt-Ansatzes besteht darin, daß es weder<br />
einen «Lehrer» noch einen «Lehrplan» für die Teilnehmer gibt. Da die Bezugsgruppe<br />
Erwachsene sind, deren Eigenständigkeit und selbstverantwortliche Handlungsfähigkeit<br />
gefördert und entwickelt werden soll, soll ihnen auch die Entscheidung darüber<br />
überlassen bleiben, welche Aktivitäten sie gemeinsam unternehmen und welche<br />
Probleme sie angehen wollen; die Projektgruppe prägte hierzu das Schlagwort der<br />
. (IFZ/CAD 1978, S. 9).<br />
Moderatoren der Lernstatt-Gruppen<br />
Moderatoren solcher Gruppenarbeit können daher keine Lehrer oder Experten sein,<br />
sondern - wie bei der Lernstatt im Betrieb - solche Leute, die in der gleichen Situation<br />
stehen wie die anderen Teilnehmer, die von den gleichen Interessen und den gleichen<br />
Problemen ausgehen, Die Funktion der Gruppenmoderatoren ist daher auch nicht, ein<br />
bestimmtes Pensum von Lernstoff zu absolvieren, sondern die didaktische<br />
- Vorbereitung,<br />
- Durchführung (Moderation),<br />
- Nachbereitung<br />
der Gruppensitzungen, die in der Regel nachmittags in wöchentlich zwei Doppelstunden<br />
stattfinden. Im konkreten Fall bedeutet dies jeweils, Arbeitsschritte, Methoden, Hilfsmittel<br />
usw. auszuwählen und vorzubereiten, um das von den Teilnehmern gewünschte Thema<br />
in der Gruppe bearbeiten zu können.<br />
Für diese Arbeit fanden sich Interessenten nur unter der jüngeren deutschen<br />
Bevölkerung, Jugendliche und jüngere Erwachsene.<br />
Ihre Qualifikation für die Gruppenmoderation erhielten die Moderatoren in einer<br />
einführenden Intensivübung, in der sie mit Methoden und Hilfsmitteln für die<br />
Gruppenarbeit vertraut gemacht wurden; in vierzehntägig stattfindenden<br />
Gesprächsrunden mit der Projektgruppe erhalten sie darüber hinaus inhaltliche und<br />
methodische Hilfestellung.
Das didaktische Repertoire der Lernstatt umfaßt verschiedene Formen sowohl der<br />
verbalen als auch der nonverbalen Kommunikation:<br />
- Wir zeichnen - und stellen auch abstrakte Diskussionsinhalte visuell dar.<br />
- Wir berühren Gegenstände, Menschen, Tiere, Pflanzen - wir modellieren, basteln usw.<br />
- Wir bewegen uns und Gegenstände - wir stellen Diskussionsinhalte und -prozesse in<br />
körperlicher und gegenständlicher Bewegung [ ... ] dar. (IFZ/CAD 1978, S. 108).<br />
Die Aufgabe der Moderatoren, die sich selbst, in Anlehnung an den Namen der<br />
Projektgruppe (CooperativeArbeitsdidaktik, CAD), «cadsen» nennen, besteht im<br />
Eigentlichen darin, ein Angebot an Mitteln und Methoden für die Gruppenteilnehmer<br />
bereit zu halten; jede inhaltliche wie methodische Dominanz der «cadsen» soll<br />
vermieden werden, die Gruppen sollen lernen, sich selbst zu moderieren und die<br />
«cadsen» in immer stärkerem Maße wieder in die Gruppe zu integrieren. Wesentliche<br />
Elemente dabei sind nondirektive Gesprächsführung sowie themenzentrierte<br />
interaktionelle Methoden. (9) Der Verlauf der Projektarbeit zeigte, daß die «cadsen» sich<br />
in immer stärkerem Maße selbst als «Lernende» erfuhren, ein Effekt, den sie zu Beginn<br />
der Lernstatt nicht erwartet hatten, wie die Mehrzahl von ihnen unumwunden zugab.<br />
Durch diese Erfahrung gelang es tatsächlich, eine sich doch immer<br />
[Ende Seite 50]<br />
wieder anbahnende Dominanz der Gruppenmoderatoren abzubauen und die<br />
Eigeninitiative der übrigen Gruppenteilnehmer zu verstärken. Darüber hinaus bewirkte<br />
dieser Effekt, den natürlich auch die übrigen Gruppenteilnehmer bemerkten, daß durch<br />
die nicht festgelegte Verteilung der Funktionen von Informierten und Nichtinformierten,<br />
von «Lehrer» und «Lerner» sowohl die Gewichtung der behandelten Themen und<br />
Gegenstände als auch die Richtung des Informationsflusses die Handlungs- und<br />
Informationsdefizite nicht nur bei den Ausländern zeigte.<br />
Das methodische Instrumentarium der Lernstatt<br />
Die wesentlichsten methodischen Elemente - das «Lernzeug» der Lernstatt – sind<br />
- Einsatz audiovisueller Medien (Diaprojektor, Filmprojektor, Fotoapparat, Video-<br />
Recorder, Plattenspieler, Tonbandgeräte);<br />
- eigene Visualisierungen (z. B. Unterstreichen, Einrahmen, Schraffieren, Farbwechsel;<br />
Netze, Matrix, Flußdiagramm, Profil; Darstellung von Abhängigkeiten, Zugehörigkeiten,<br />
Strukturen; Kartogramm, Darstellung durch Symbole, geometrische Körper ...; hierzu<br />
verwendete Hilfsmittel und Materialien sind Steckwände, Packpapier, Karten<br />
verschiedener Formate, Filzschreiber, Klebepunkte, Materialien für Collagen usw.);<br />
- Spiele (Rollenspiele, Visualisierungsspiele, Spiele zur extraverbalen Kommunikation);<br />
- Musik und Tanz;<br />
- manuelle Tätigkeiten (handarbeiten, handwerkliche Tätigkeiten, Werken, Basteln);<br />
- Verbalisierung.<br />
Diese methodischen Elemente, mit deren Einsatz die «cadsen» vertraut gemacht<br />
wurden, werden in der praktischen Gruppenarbeit in den verschiedensten Kombinationen<br />
verwendet; gerade in ihrer Kombination liegt die Chance, eine Kommunikationsfähigkeit<br />
zu entwickeln, die nicht durch die Beschränkung auf das eine oder das andere Medium<br />
eingeengt wird. Die Auswahl der Medien ist immer abhängig von der Ausdrucksintention<br />
und der Ausdrucksfähigkeit der Teilnehmer und von den Erfordernissen des jeweiligen<br />
Themas. Die Verbindung kommunikativer Tätigkeit mit den anderen Aktivitäten und<br />
Formen sozialen Handelns wird dabei ständig gewahrt: die Themen- und<br />
Handlungsorientiertheit der Gruppenaktivitäten und das Verständnis von kommunikativer<br />
Tätigkeit als einer Form gesellschaftlicher Tätigkeit lassen eine Trennung von z. B.<br />
Einüben sprachlicher Fertigkeiten und gemeinsamem Handeln der Teilnehmer gar nicht<br />
zu.<br />
Zur Frage der Sprachvermittlung in der Lernstatt - Sprachbeherrschung und<br />
Diskriminierung<br />
Im Folgenden möchte ich vor allem zu zwei Bereichen Stellung nehmen:
- zur Frage der Sprachvermittlung in der Lernstatt und<br />
- zur Funktion kultureller Aktivitäten, wie Musik, Tanz und Spiel in der Arbeit der<br />
Lernstatt.<br />
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß eine Sprachvermittlung, die sich an<br />
Organisationsformen schulischen Unterrichts orientiert, der besonderen Situation der<br />
ausländischen Arbeiter hier nicht angemessen ist und daher im Konzept der Lernstatt<br />
auch keinen Platz hat. (10) Von Kritikern dieses Konzepts wurde und wird die<br />
Behauptung aufgestellt, daß die Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten ohne<br />
systematischen Sprachunterricht zu einer Verfestigung des sog, «Gastarbeiterdeutsch»<br />
führen müsse und daß dadurch<br />
[Ende Seite 51]<br />
die Ausländer auch weiterhin ständiger Diskriminierung durch die deutsche<br />
Wohnbevölkerung ausgesetzt seien.<br />
Dieser Kritik sind zwei Einwände entgegenzuhalten:<br />
1. Ein linguistischer Einwand: Untersuchungen der Spracherwerbsforschung haben<br />
ergeben, daß die Möglichkeit, eine neue Sprache zu erwerben, mit zunehmendem Alter<br />
erschwert wird. Die verschiedenen Bereiche der Sprache werden von dieser<br />
Erschwerung unterschiedlich betroffen - so sind z. B. die Bereiche von Syntax und<br />
Lexikon. einer Sprache weniger berührt als etwa der korrekte Erwerb der phonetischen<br />
Komponente. (11) Ausländer, die im Erwachsenenalter eine fremde Sprache erlernen,<br />
sind daher selbst dann als Ausländer an ihrer Sprache kenntlich, wenn sie über einen<br />
ausgeprägten Wortschatz und korrekte Verwendung der Grammatik verfügen. Und mit<br />
dieser Erkennbarkeit als Ausländer bleiben sie auch als Ausländer diskriminierbar. Hinzu<br />
kommt, daß den ausländischen Arbeitern aufgrund ihrer gesamten sozioökonomischen<br />
Situation, ihrer Arbeits-, Familien- und Wohnsituation ein so intensiver Sprachunterricht<br />
gar nicht möglich wäre, wie er für den perfekten Erwerb des Deutschen erforderlich wäre,<br />
2. Ein sozialpsychologischer Einwand: Korrekte Sprachbeherrschung ist kein Schutz<br />
gegen Vorurteil und Diskriminierung, wie auch fehlerhafte Sprachverwendung nicht ihre<br />
Ursache ist. Hier spielen die Sozialstruktur und das ideologisch bestimmte Sozialprestige<br />
bestimmter Bevölkerungsgruppen eine viel bedeutendere Rolle. Die Behauptung, die<br />
Verwendung von «Gastarbeiterdeutsch» setze die ausländischen Arbeiter dem Vorurteil<br />
und der Diskriminierung aus, verkennt, daß Vorurteile, die sich auf bestimmte Gruppen<br />
und gesellschaftliche Minoritäten richten, Ausdruck politischer und sozialer Konflikte sind.<br />
(12) Nicht alle Ausländer sind in unserer Gesellschaft Opfer von Diskriminierung,<br />
sondern nur bestimmte Gruppen von ihnen, und ein fremder Akzent kann durchaus als<br />
«chic» (wie etwa beim Französischen) oder als kommerziell verwertbar (wie beim<br />
Englischen im Show-Geschäft) gelten. Die Vorurteile ausländischen Arbeitern gegenüber<br />
gehen vielmehr auf ihre Funktion in der sozialen Hierarchie unserer Gesellschaft zurück:<br />
Einwanderungen ausländischer Arbeiter in den bei uns zu beobachtenden<br />
Größenordnungen bewirken eine massive Veränderung in der Sozialstruktur der<br />
aufnehmenden Länder, da sie unter der bestehenden Klassen- und Schichtenpyramide<br />
als eine neue Schicht mit politisch und juristisch weitgehend rechtlosem Status eingefügt<br />
werden. Dieser sog. «Unterschichtungseffekt» bewirkt für Teile der deutschen<br />
Bevölkerung eine scheinbare Statusverbesserung, da sie nicht mehr am unteren Ende<br />
der Pyramide rangieren. Für andere Teile aber bewirkt er eine Verschlechterung des<br />
Sozialprestiges, da sie sich mit den Ankömmlingen auf eine Stufe gestellt sehen, die sie<br />
selbst aufgrund etwa des Entwicklungsstandes des Herkunftslandes, der kulturellen<br />
Andersartigkeit usw. nicht akzeptieren. Dies gilt vor allem für sozial und ökonomisch<br />
Unterprivilegierte, wie z. B. ungelernte Arbeiter, Arbeitslose, aber auch für andere<br />
Gruppen, die an der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft nur teilweise beteiligt<br />
sind (wie z. B. Rentner)` oder die durch die gesellschaftliche Entwicklung ihren Status<br />
bedroht sehen, wie z. B. Teile des Kleinbürgertums. (14)<br />
Gegen solcher Art ökonomisch und sozialpsychologisch begründete Vorurteile und<br />
Diskriminierung kann Sprachunterricht nichts ausrichten. Es erscheint daher<br />
gerechtfertigt, für die erwachsenen Ausländer (15) alle Formen der kommunikativen<br />
Tätigkeit zu akzeptie-
[Ende Seite 52]<br />
ren und zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen, aktiv am gesellschaftlichen Prozeß<br />
mitzuwirken. Dies gilt umso mehr, als die Sprachform, mit der sie im Wohnbereich und<br />
am Arbeitsplatz konfrontiert werden, nicht unbedingt die ist, die im formalen Unterricht<br />
üblicherweise vermittelt wird.<br />
Das Konzept der kommunikativen Tätigkeit in der konkreten Lernstatt-Arbeit - zwei<br />
Beispiele<br />
Aus der Themenzentriertheit der Lernstatt-Gruppen ergibt sich eine Unzahl von Anlässen<br />
für kommunikative Tätigkeit, bei der alle den Ausländern zur Verfügung stehenden<br />
Medien und Hilfsmittel eingesetzt werden. Aufgabe der Gruppenmoderatoren ist es<br />
dabei, dieses Spektrum von Medien und Hilfsmitteln möglichst breit zu gestalten. Im<br />
Vordergrund steht aber immer das Thema, das gemeinsam interessierende Problem. In<br />
der Auseinandersetzung mit ihm, mit den Meinungen und Ansichten der anderen<br />
Gruppenteilnehmer, der Deutschen wie der Ausländer, muß jeder der Beteiligten<br />
versuchen, sich verständlich zu machen wie auch, den anderen zu verstehen. Durch die<br />
Planung und Durchführung von Projekten, wie z. B. der Gründung einer<br />
Fußballmannschaft der Jugendlichen, der Gestaltung eines Straßenfestes, dem<br />
Herstellen einer Zeitung oder dem Drehen eines Video-Films werden Anforderungen an<br />
die Handlungsfähigkeit, an die Kooperation und das Austragen von<br />
Meinungsverschiedenheiten und Konflikten gestellt, die eine natürliche Verbindung von<br />
sozialem Handeln und kommunikativer Tätigkeit darstellen. Der Unterschied zu<br />
Alltagssituationen außerhalb der Lernstatt besteht vor allem darin, daß eine solidarische<br />
Grundhaltung besteht, durch die die Scheu vor «Fehlern», vor Holprigkeiten im sozialen<br />
wie im kommunikativen Handeln abgebaut werden und ein Spektrum von<br />
Handlungsalternativen - auch im kommunikativen Bereich - erprobt und angeeignet<br />
werden kann.<br />
Zwei Beispiele sollen das konkrete Vorgehen verdeutlichen:<br />
1. Im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Autoreparatur auf der Straße vor der<br />
Lernstatt tauchten verschiedentlich die Verben «kaufen», «schalten», «wechseln» in<br />
Verbindung mit verschiedenen Vorsilben auf. Hierbei zeigte sich, daß viele ausländische<br />
Teilnehmer die Bedeutung des Kompositums häufig im Sinne des Verbstammes<br />
interpretieren, z. B. «abschalten» als «schalten» usw. Nach entsprechender Vorbereitung<br />
der «cadsen» wurden in der darauffolgenden Gruppensitzung Wortkarten in zwei Reihen<br />
an der Steckwand befestigt:<br />
ab<br />
an kaufen<br />
aus wechseln<br />
um schalten<br />
ver<br />
Eine «cadse» ergriff je eine Karte mit einer Vorsilbe und einem Verbstamm, heftete das<br />
Kompositum, z. B. «auswechseln», an eine zweite Steckwand und fragte die Teilnehmer<br />
nach dessen Bedeutung, bzw. demonstrierte zeichnerisch, im Spiel und/oder verbal die<br />
mit diesem Verb verbundene Tätigkeit. Die Teilnehmer wurden animiert, ebensolche<br />
zusammengesetzten Verben zu bilden und deren Bedeutung zu erklären. (16)<br />
2. Zum thematischen Bezug: «Ich will Arbeitslosengeld. Was muß ich tun?» Die<br />
Teilnehmer werden nach den für einen Antrag erforderlichen Papieren (letzte<br />
Lohnabrechung, Antragsformular usw.) gefragt. Die Bezeichnungen der einzelnen<br />
Papiere werden auf Karten notiert. Die Karten werden gemischt, und jeder Teilnehmer<br />
zieht eine davon und ver-<br />
[Ende Seite 53]<br />
sucht dann, das entsprechende Papier kurz an der Steckwand zu skizzieren<br />
(Arbeitserlaubnis, Aufenthaltsbescheinigung, Versicherungsnachweisheft usw.). Dann<br />
versucht die Gruppe, in Form eines Flußdiagramms die einzelnen Schritte von der<br />
Kündigung bis zum Erhalt des ersten Arbeitslosengeldes zu visualisieren und zu
diskutieren. Hieran ergeben sich Anknüpfungspunkte für zahlreiche weitere Themen. Bei<br />
diesem Beispiel wird die Verbindung von sozialer Handlungsfähigkeit in unserer<br />
Gesellschaft, Durchsetzen der eigenen Interessen und Kooperation mit anderen sowie<br />
die Verbindung von gesellschaftlicher und kommunikativer Tätigkeit besonders deutlich.<br />
(17)<br />
Der Erfolg einer solchermaßen betriebenen Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit<br />
ausländischer Arbeiter kann nicht im Erwerb und der Beherrschung des<br />
hochsprachlichen Standards der deutschen Sprache bestehen. Er zeigt sich aber in der<br />
Befähigung der Lernstatt-Teilnehmer, ihre Interessen durchzusetzen, ihre Rechte<br />
wahrzunehmen und in Kooperation mit anderen ihr eigenes Leben selbstverantwortlich<br />
zu gestalten. Als Indiz für den Erfolg der Lernstatt kann ein Zitat aus dem Bericht der<br />
Frauengruppe dienen:<br />
Die Frauen haben gelernt, sich besser zu artikulieren, sie haben ein größeres<br />
Selbstvertrauen gewonnen, sie kommen heute nicht mehr und sagen: «Mach' das für<br />
mich!», sondern sie kommen und fordern: «Zeig' mir, wie man das macht!» (IFZ/CAD<br />
1978, S, 213).<br />
Probleme der Sprachvermittlung<br />
Ein Indiz für die Stabilisierung der Identität und die Entwicklung der Handlungsfähigkeit<br />
kann es dann sein, wenn Lernstatt-Teilnehrner in eigener Initiative den Wunsch äußern,<br />
ihre bis dahin erworbene Kommunikationsfähigkeit zu systematisieren, etwa durch den<br />
Besuch von Volkshochschulkursen - eine Aktivität, die zu Beginn der Lernstatt-Arbeit<br />
deutlich abgelehnt worden war - oder durch einige eigens angesetzte Gruppensitzungen<br />
mit systematischem Sprachunterricht. (18) Dieses Stadium ist seit einiger Zeit bei einigen<br />
Lernstatt-Besuchern erreicht.<br />
Als Probleme zeigen sich in diesem Zusammenhang aber zum einen, daß die<br />
Volkshochschulen mit ihren Unterrichtsmaterialien und didaktischen und<br />
lernorganisatorischen Konzepten oft den Bedürfnissen der ausländischen Arbeiter und<br />
ihrer konkreten Situation nicht entsprechen können, so daß nicht selten eine<br />
Demotivation stattfindet. (19) In der Lernstatt sind dagegen die «cadsen» oft überfordert,<br />
die ja gerade nicht Spezialisten für Sprachunterricht sind, sondern als Nachbarn und<br />
Kollegen «native speakers» des Deutschen, die ihre eigene Sprache eher unbewußt als<br />
reflektiert verwenden und daher häufig Schwierigkeiten bei der Vermittlung komplexer<br />
sprachlicher Erscheinungen haben. Abhilfe könnte hier die - im Konzept vorgesehene -<br />
Hinzuziehung eines Spezialisten zu Gruppensitzungen schaffen, der eine an den<br />
Interessen und Bedürfnissen der Teilnehmer orientierte Vermittlung sprachlicher<br />
Kenntnisse leistet, in dem Rahmen, den ihm «cadsen» und Teilnehmer setzen. Die<br />
Initiative hierzu kann aber nur von den Teilnehmern der Lernstatt-Gruppen ausgehen,<br />
von außen herangetragen würde sie gegen das didaktische Prinzip der<br />
Eigenverantwortlichkeit und der Selbstregulation in der Lernstatt verstoßen und die<br />
Entwicklung der sozialen Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Bisher ist eine solche<br />
[Ende Seite 54]<br />
Initiative noch nicht entwickelt worden, und «cadsen» und Teilnehmer bemühen sich<br />
immer wieder gemeinsam, um auftauchendes Interesse zu befriedigen.<br />
Prinzipiell ist aber sowohl eine größere Bereitschaft der Lernstatt-Teilnehmer zur<br />
Verwendung der deutschen Sprache als auch eine größere Sicherheit im Umgang mit ihr<br />
festzustellen. Die Furcht vor inkorrektem Gebrauch ist durch die Erfahrung der eigenen<br />
Kommunikations- und Handlungsfähigkeit im Rahmen der Lernstatt stark<br />
zurückgegangen.<br />
Spiele als Formen kommunikativer Tätigkeit in der Lernstatt<br />
Wesentliche Elemente in der Lernstatt-Arbeit stellen auch Musik und Spiele dar, und<br />
zwar in einem Umfang, der für bürgerlich sozialisierte Mitteleuropäer überraschend ist.<br />
Ohne hier eine genaue Definition des vieldeutigen Begriffs «Spiel» versuchen zu wollen,<br />
(20) sind Definitionsversuche etwa in Richtung einer Abgrenzung zwischen arbeiten und
spielen, Ernsthaftigkeit und Unverbindlichkeit für Spiele in der Lernstatt - und nicht nur<br />
dort - ungeeignet. Spiele können durchaus produktiv auf die Erreichung bestimmter<br />
Ergebnisse und Ziele angelegt sein oder der Bewußtwerdung und Realitätsbewältigung<br />
dienen. Insofern sind sie Tätigkeitsformen, die zur Entwicklung und Ausgestaltung<br />
sozialer Handlungsfähigkeit und kommunikativer Tätigkeit beitragen und in diesem Sinne<br />
auch in der Lernstatt eingesetzt werden.<br />
Wenn auch auf Wunsch der Teilnehmer übliche Karten- und Brettspiele, wie z. B. Tavla<br />
und Schach, in der Lernstatt bereitgestellt wurden, (21) sind die für die Lernstatt-Arbeit<br />
bedeutsamen Spiele durch ihre kommunikative Orientierung charakterisiert.<br />
Die wesentlichen Formen, in denen die Verbindung von gesellschaftlicher und<br />
kommunikativer Tätigkeit besonders zutage tritt und die sich der besonderen<br />
Zustimmung der Ausländer erfreuen, sind<br />
- Rollenspiele,<br />
- Visualisierungsspiele,<br />
- Spiele zur extraverbalen Kommunikation.<br />
Rollenspiele, in denen das gesamte Spektrum kommunikativer Tätigkeit angesprochen<br />
und eingesetzt werden kann, gestatten eine realitätsnahe Simulation und Bearbeitung<br />
von Problemen und Erfahrungen. Sie ermöglichen gerade bei der Ausgestaltung von<br />
eigenen Erfahrungen eine Spontaneität und Impulsivität, die den sozialen<br />
Handlungsnormen der mediterranen Ausländer sehr entsprechen, die aber unterdrückt<br />
werden, wenn ihre kommunikative Tätigkeit auf den Einsatz des Mediums deutsche<br />
Sprache reduziert wird.<br />
Ein «warming-up», eine Motivations- und Erwärmungsphase, wie sie vor allem bei<br />
erwachsenen Mitteleuropäern in der Regel erforderlich ist, ist bei den Lernstatt-Gruppen<br />
nicht erforderlich. Die Beschränkung der kommunikativen Möglichkeiten im sprachlichen<br />
Bereich führte dazu, daß auch ohne Animation durch die «cadsen» bereits zu Beginn der<br />
Lernstatt-Arbeit immer wieder Rollenspielansätze - zum Teil bewußt, zum Teil unbewußt<br />
- als extraverbales Medium kommunikativer Tätigkeit eingesetzt wurden, besonders etwa<br />
bei der Schilderung affektiv besetzter Vorgänge oder Erlebnisse, bei der die<br />
sprachlichkommunikative Behinderung als störend empfunden wird. So sind Erzählungen<br />
wie z. B. «Gestern war ich bei der Ausländerpolizei, da ... » oder der Bericht über einen<br />
Streit mit<br />
[Ende Seite 55]<br />
dem Vorarbeiter oder dem Hausbesitzer sehr häufig von kleineren Spielhandlungen<br />
begleitet, die über eine lebhafte Gestik deutlich hinausgehen.<br />
Das Aufgreifen und Ausgestalten dieser Form kommunikativer Tätigkeit in den Lernstatt-<br />
Gruppen erschloß nahezu das gesamte Spektrum von Problembereichen ausländischer<br />
Familien in unserer Gesellschaft der gemeinsamen Diskussion und Bearbeitung in den<br />
Lernstatt-Gruppen, Themenbereiche also, die bei einer Beschränkung auf verbale<br />
Kommunikationsformen nur sehr unbefriedigend hätten behandelt werden können. So<br />
thematisierten die Rollenspiele<br />
- in der Männergruppe vorwiegend die Bereiche des Alltagslebens wie<br />
Arbeitsplatzsituation, Ämter und Behörden, Kontakt zu Deutschen,<br />
- in der Frauengruppe Familienprobleme, wie z. B. Mitarbeit des Mannes im Haushalt,<br />
Autoritätsprobleme, Geburt und Empfängnisverhütung,<br />
- bei den Jugendlichen das Verhältnis der Geschlechter, Arbeitslosigkeit und<br />
Zukunftsperspektiven, Auseinandersetzungen mit den Eltern.<br />
Diese Themenbereiche zeigen, daß der Spielcharakter ihrer Behandlung nicht<br />
gleichzusetzen ist mit «spielerisch» im landläufigen Sinn oder mit Unernsthaftigkeit; es<br />
handelt sich vielmehr um die brennendsten Probleme der sozialen Existenz dieser<br />
Menschen, die sie bei einem Verweis auf die nur-sprachliche Form der Kommunikation<br />
wohl in absehbarer Zeit niemals mit ihren deutschen Nachbarn zur Sprache bringen<br />
könnten. Auch aus diesem Grund erscheint mir die Akzeptierung des sog.<br />
«Ausländerdeutsch» in Verbindung mit anderen Kommunikationsformen sinnvoll, wenn
mit der Kommunikationsfähigkeit auch die soziale Handlungsfähigkeit gestärkt und<br />
entfaltet wird. (22)<br />
Visualisierungsspiele wurden in der Regel eingebettet in Gesprächs- und<br />
Handlungszusammenhänge eingebracht. Der kreative Umgang mit Materialien wie<br />
Packpapier, Filzschreibern, Schere und Klebstoff schafft eine - im Vergleich zum<br />
Rollenspiel - eher distanzierte Haltung zu den Gegenständen und Themen, da ein<br />
Medium zwischengeschaltet ist, das Reflexion und Abstraktion in stärkerem Maße<br />
verlangt als die spontane Darstellung mit Hilfe der ganzen Person. Kommunikative<br />
Inhalte müssen auf den wesentlichen Kern reduziert und der kommunikativen Intention<br />
entsprechend materiell-gegenständlich dargestellt werden. In diesem Sinn stellen<br />
Visualisierungsspiele hohe Anforderungen an die kommunikative Kompetenz, befreien<br />
sie aber gleichzeitig vom Zwang der Verbalisierung. Für die Kooperation zwischen<br />
Deutschen und Ausländern sind solche Spiele vor allem auch deshalb von Bedeutung,<br />
weil in ihnen sozio-kulturelle Besonderheiten etwa der Symbolik, der Metaphorik, der<br />
Anspielung und des Zitats deutlich werden. Darüber hinaus sind Collagen, Montagen,<br />
selbst gefertigte Memories und Bildgeschichten über ihren Erklärungs- und<br />
Mitteilungswert hinaus auch geeignet, die Teilnehmer zum Erklären, Begründen und<br />
Diskutieren zu motivieren und damit zur Umsetzung der kommunikativen Tätigkeit aus<br />
dem einen Medium in ein anderes.<br />
In den Jugendlichen- und Frauengruppen konnten Visualisierungsspiele meist ohne<br />
Schwierigkeiten eingebracht werden, bei den Frauen stießen sie sogar auf ein ganz<br />
ausgeprägtes Interesse, während es in den Männergruppen oft einer expliziten Klärung<br />
von Sinn und Ziel der Visualisierung im gegebenen Kontext bedurfte, um sie dazu zu<br />
motivieren. Prinzipielle Ablehnung tauchte aber auch hier nicht auf.<br />
Die Spiele zur extraverbalen Kommunikation umfaßten sowohl Wahrnehmungsübungen<br />
mit Hilfe des Video-Recorders als auch Spiele zur Interpretation von Mimik und Gestik<br />
bis hin zur Pantomime, die sich bei den türkischen Lernstatt-Besuchern besonders<br />
großer Beliebtheit erfreut. Das Ziel dieser Spiele besteht sowohl darin, den Bereich der<br />
extraverbalen<br />
[Ende Seite 56]<br />
Kommunikation als Medium kommunikativer Tätigkeit zu aktivieren und bewußt zu<br />
machen, als auch die Problematik der Uneindeutigkeit dieser Form der<br />
zwischenmenschlichen Kommunikation zu verdeutlichen. Für die Ausländer spielt die<br />
extraverbale Kommunikation als Ergänzung der anderen Möglichkeiten, die ihnen zur<br />
Verfügung stehen, eine wesentliche Rolle bei der Realisierung der jeweiligen<br />
kommunikativen Intention. Da aber die extraverbalen Zeichen nicht in dem Sinne<br />
konventionalisiert und eindeutig sind wie die sprachlichen, besteht immer die Gefahr,<br />
daß die kommunikative Interaktion scheitert, wenn sie zu stark auf dem extraverbalen<br />
Bereich basiert. Die Uneindeutigkeit wird in der interkulturellen Kommunikation noch<br />
dadurch verstärkt, daß auch die extraverbalen Zeichen gesellschaftlich bedingt und nicht<br />
in ihrer Bedeutung naturhaft vorgegeben sind. (23) So bedeutet für einen Türken z. B.<br />
das An-die-Stirn-Tippen eine Anerkennung der intellektuellen Leistung seines<br />
Gegenübers und nicht, wie im Deutschen, seine Diskriminierung. In diesem Bereich ist<br />
eine Sensibilisierung und Bewußtmachung sowohl der Deutschen als auch der<br />
Ausländer für Einsatz und Wirkung der extraverbalen Kommunikationsmittel erforderlich<br />
und Ziel der Lernstatt-Arbeit.<br />
Zum Stellenwert von Musik in der Lernstatt-Arbeit<br />
Musik taucht in der Lernstatt in verschiedenen Funktionen auf, wobei der reine Konsum<br />
nicht die wichtigste ist. Es sollte allerdings unterschieden werden zwischen den<br />
Funktionen von Musik, wie sie die «cadsen» einsetzen und denjenigen, die sie spontan<br />
für die Ausländer hat.<br />
Für die Ausländer steht dabei die affektive Funktion im Vordergrund und eine solche, die<br />
ich «kommunikativ» und «sozial aktiv» nennen möchte. Das gemeinsame Hören<br />
heimatlicher Musik hat für die Ausländer einen starken gruppenbildenden Effekt; das<br />
Gefühl der Zusammengehörigkeit wie das der Andersartigkeit in der nach wie vor<br />
fremden Umgebung finden in der eigenen Musik ihren Ausdruck: Erinnerungen und
Heimwehgefühle werden wachgerufen, können aber auch in der Gruppe aufgefangen<br />
und verarbeitet werden. In diesem Sinn spielt die Musik eine wesentliche Rolle bei der<br />
Stabilisierung der eigenen Identität, die durch das ständige Anstürmen fremder Einflüsse<br />
gefährdet ist, Vor allem bei Jugendlichen zeigt sich der Zwiespalt zwischen Anpassung<br />
an die westliche Einheitsorientierung und der idealisierenden Überhöhung der eigenen<br />
nationalen Folklore. Andererseits vermittelt das Nebeneinander von türkischer und<br />
europäisch-amerikanischer Musik in den Hörgewohnheiten vieler türkischer Jugendlicher<br />
einen Eindruck von der Verschiedenheit der bikulturellen Sozialisationseinflüsse, denen<br />
sie ausgesetzt sind. (24)<br />
Das Interesse der deutschen Lernstatt-Teilnehmer an der fremden Musik versetzt die<br />
Ausländer in die Lage, einen Informationsvorsprung zu empfinden. Sie können «ihre»<br />
Musik vorstellen, sie erklären und das Interesse an ihr in ein aktives<br />
Kommunikationsangebot an die Deutschen umsetzen. Ein Beispiel zeigt einmal mehr,<br />
daß es die Deutschen sind, die hier etwas zu lernen haben: Während eines erneuten<br />
Versuchs, eine Frauengruppe zu gründen, (25) wurden Dias aus der Türkei gezeigt und<br />
durch gemeinsame Erzählungen der türkischen Frauen erläutert. Die Türkinnen waren<br />
sehr motiviert, und einige von ihnen begannen, mit kleinen Handtrommeln, die sie<br />
schnell von zu Hause geholt hatten, Musik zu machen und zu singen. Andere von ihnen<br />
tanzten zu dieser Musik, aber weniger in konventionellen, standardisierten Schrittfolgen,<br />
sondern eher in Form von Ausdruckstanz und Selbstdarstellung. Nach einiger Zeit<br />
brachen sie ab und forderten die anwesenden deutschen Frauen auf, nun ihrerseits sich<br />
tänzerisch darzustellen. Die Reaktionen der deutschen Frauen auf dieses Ansinnen<br />
reichten von peinlicher Berührtheit bis zum Vertrö-<br />
[Ende Seite 57]<br />
sten auf die nächste Gruppensitzung. Musik und Tanz gehören für die türkischen Frauen<br />
zum selbstverständlichen Repertoire der Selbstdarstellung und -verwirklichung in<br />
gesellschaftlichen Zusammenhängen, Musizieren und Tanzen sind für sie Formen<br />
kommunikativer Tätigkeit. In der Erwartung einer «Erwiderung» der deutschen Frauen<br />
liegt ein Kommunikationsangebot, das sowohl Information über die eigene Person, über<br />
die eigenen kulturellen Besonderheiten beinhaltet wie ein Interesse an Informationen<br />
über die Entsprechungen in der deutschen Gesellschaft. Wenn die deutschen Frauen bei<br />
der nächsten Gelegenheit auf dieses Kommunikationsangebot nicht eingehen, ist<br />
sicherlich eine Demotivation der Türkinnen zu erwarten.<br />
Für die moderierten Gruppensitzungen spielt aktives Musizieren ebenfalls eine Rolle:<br />
Musikinstrumente werden innerhalb der Gruppenarbeit als Hilfsmittel verwendet, um<br />
nicht verbalisierte oder noch nicht verbalisierte Inhalte zu vermitteln. (IFZ/CAD 1978, S.<br />
137).<br />
Ähnlich wie bei den Visualisierungsspielen wird hier versucht, abstrakte Begrifflichkeiten,<br />
Gefühle oder Zusammenhänge musikalisch zu realisieren. So spielt z. B. ein Teilnehmer<br />
auf einem Xylophon, und die Gruppe soll beschreiben, wie sie sein Spiel empfindet; oder<br />
ein Teilnehmer erhält den Auftrag, eine Situation, ein Gespräch, eine Diskussion<br />
musikalisch zu beschreiben.<br />
Problematisch ist hierbei allerdings die zugrundeliegende Erwartung, daß in<br />
verschiedenen Kulturen musikalische Elemente gleiche oder ähnliche Assoziationen und<br />
Wirkungen haben. Aber auch wenn diese Erwartungen nicht zutreffen sollten, so wird<br />
doch auf diese Weise durch gemeinsames Handeln ein Kommunikations- und<br />
Verstehensprozeß ermöglicht, der zur Erleichterung des Zusammenlebens der<br />
verschiedenen nationalen Gruppen beitragen kann.<br />
Zusammenfassung<br />
Die «Lernstatt im Wohnbezirk» versteht sich als ein Versuch, Ausländer und Deutsche<br />
auf der Basis gleicher Interessen, Probleme und Konflikte zusammenzuführen, mit dem<br />
Ziel, aus der Erkenntnis dieser Gemeinsamkeit zu gemeinsamem Handeln zu kommen.<br />
Für die Deutschen sollen so Möglichkeiten geschaffen werden, durch persönlichen<br />
Kontakt und im gemeinschaftlichen Handeln mit Ausländern Vorurteile und Ablehnung<br />
abzubauen, die Ausländer sollen in Kooperation mit Deutschen gesellschaftliche
Handlungsfähigkeit erlangen, die es ihnen ermöglicht, ihr Leben eigenverantwortlich und<br />
unter Beibehaltung ihrer national-kulturellen Besonderheiten im Rahmen unserer<br />
Gesellschaft zu gestalten.<br />
Das didaktische Konzept dieser Bemühungen basiert auf der Theorie der<br />
kommunikativen Tätigkeit, die zwischen gesellschaftlichem Handeln und<br />
zwischenmenschlicher Kommunikation eine dialektische Beziehung sieht:<br />
gesellschaftliche Kooperation wird durch kommunikative Tätigkeit ermöglicht,<br />
kommunikative Tätigkeit ergibt sich aber erst aus dem Zwang zu gesellschaftlicher<br />
Kooperation. Für die Ausländer bedeutet das, daß die Entwicklung ihrer<br />
gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit und die Entwicklung ihrer Fähigkeit zu<br />
kommunikativer Tätigkeit sich gegenseitig bedingen, daß die eine Fähigkeit nur in<br />
Verbindung mit der anderen erworben und entwickelt werden kann.<br />
Die «Lernstatt» ist daher nicht in erster Linie ein Modell für veränderten Sprachunterricht;<br />
Vermittlung und Einüben der deutschen Sprache geschieht eher nebenbei, als eine -<br />
wenn auch notwendige - Begleiterscheinung des gemeinsamen Handelns. Die<br />
Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit der Ausländer wird auf diese Weise nie zum<br />
Selbstzweck, sondern sie bleibt funktional auf ihre gesellschaftliche Handlungsfähigkeit<br />
bezogen.<br />
Daß eine solche Arbeit nicht ohne Probleme und Rückschläge bleibt, ergibt sich schon<br />
aus dem nicht unproblematischen Zusammenleben von Deutschen und Ausländern.<br />
Wenn es<br />
[Ende Seite 58]<br />
aber gelingt, eine Identifikation der Zielgruppen mit der «Lernstatt» zu erreichen, sind<br />
gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit gegeben. Die «Lernstatt» in <strong>Berlin</strong>-<br />
Wedding funktioniert weiter, auch nach Beendigung der wissenschaftlichen Begleitung.<br />
Die Erfahrungen, die hier gemacht wurden, im negativen wie im positiven Sinne,<br />
erscheinen mir überall dort anwendbar, wo im Zusammenleben von Deutschen und<br />
Ausländern Probleme und Konflikte, aber auch Berührungspunkte und Interesse<br />
aneinander bestehen.<br />
Die «Lernstatt im Wohnbezirk» ist ein praktikables Modell praktischer Stadtteilarbeit, bei<br />
dem es gelungen ist, die funktionale Beziehung zwischen gesellschaftlichem Handeln<br />
und kommunikativer Tätigkeit didaktisch sinnvoll umzusetzen.<br />
Literatur<br />
Bendit, R. (1979): «Kommunikations- und Sprachproblematik bei ausländischen Kindern,<br />
jugendlichen und Erwachsenen», in: Langenohl-Weyer/ Wennekes / Bendit/<br />
López-Blasco/ Akpinar/Vink: Zur Integration der Ausländer im Bildungsbereich, München<br />
Bendit, R. / Heimbucher, A. (1977): Von Paulo Freire lernen, München<br />
Cloyd, H. / Schnelle, E. / Schrader-Klebert, K. (1973): Moderne Gesprächstechnik,<br />
Metaplan - Reihe 2, Quickborn<br />
Cohn, R. (1970): «Das Thema im Mittelpunkt interaktioneller Gruppen», in:<br />
Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 2/1970<br />
Cooperative Arbeitsdidaktik/ Institut für Zukunftsforschung (CAD/IFZ) (1976): Lernstatt im<br />
Wohnbezirk, <strong>Berlin</strong><br />
Flitner, A. (1972): Spielen - Lernen, München<br />
Geiselberger, E. (Hg.) (1972): Schwarzbuch: Ausländische Arbeiter, Frankfurt / Main<br />
Hoffmann - Nowotny, H.--J. (1976): «Gastarbeiterwanderungen und soziale<br />
Spannungen», in: Gastarbeiter, hg. v. H. u. H. Reimann, München<br />
Institutfür Zukunftsforschung/Cooperative Arbeitsdidaktik (IFZ/CAD) (1978): Lernstatt im<br />
Wohnbezirk. Kommunikationsprojekt mit Ausländern in <strong>Berlin</strong>-Wedding, Frankfurt/Main<br />
Jung, H. (1971): «Zur Diskussion um den Begriff und zu<br />
Strukturveränderungen in der westdeutschen Arbeiterklasse», in: Das Argument 61, 2.<br />
Aufl.<br />
Kasprzik, W. (1974): Lernstatt. Erfahrungen und Folgerungen aus einem Modellversuch<br />
in der Automobilindustrie, <strong>Berlin</strong>
Keim, 1. (1974): «Sozial- und Bildungsprobleme der Gastarbeiter in der<br />
Bundesrepublik», in: Deutsch in der Begegnung mit anderen Sprachen<br />
(IdS-Forschungsbericht Nr. 20), bearb. v. H. Kloss, Tübingen<br />
Kochan, B. (1976): «Funktion und Verwendung des Rollenspiels im Sprachunterricht»,<br />
in: Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernens, hg. v. B. Kochan,<br />
Kronberg / Ts.<br />
Meyer-Ingwersen, J. / Neumann, R. /Kummer, M. (1977): Zur Sprachentwicklung<br />
türkischer Schüler in der Bundesrepublik, 2 Bde., Kronberg / Ts.<br />
Quasthoff, U. (1973): Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine<br />
sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps, Frankfurt/Main<br />
Reimann, H. / Reimann, H. (Hg.) (1976): Gastarbeiter, München<br />
Steinmüller, U. (1977): Kommunikationstheorie. Eine Einführung für Literatur- und<br />
Sprachwissenschaftler, Stuttgart<br />
- (1979): «Sprachunterricht für ausländische Arbeiter? – Überlegungen zu<br />
Kommunikationsfähigkeit und Sprachvermittlung», in: Linguistische Berichte - Papier 56<br />
Uçar, A. (1975): Die soziale Situation der türkischen Arbeitnehmer in Westberlin, (FU<br />
Diss. 1974), <strong>Berlin</strong><br />
Wienold, G. (1973): Die Erlernbarkeit der Sprachen, München<br />
Zabrocki, L. (1968): «Lodematische Grundlagen der Theorie des<br />
Fremdsprachenunterrichts», in: Glottodidactica 1/1968<br />
[Ende Seite 59]<br />
Anmerkungen<br />
(1) An anderer Stelle ist dies bereits mehrfach dargestellt, vgl. z. B.: Geiselberger (1972),<br />
Keim (1974), Reimann/Reimann (1976), Uçar (1975).<br />
2) Vgl. Kasprzik (1974) und CAD/IFZ (1976).<br />
3) Ich bin mir der Problematik dieses Ausgangspunkts durchaus bewußt, bei dem die<br />
Sorge für ausländische Arbeiter vom Profitinteresse diktiert wurde. Die Korrektheit<br />
verlangt aber, daß dieser Ausgangspunkt erwähnt wird, auch wenn die Arbeit der<br />
«Lernstatt im Wohnbezirk» sich weit davon entfernt hat, nicht, was das Methodisch-<br />
Didaktische, sondern was Intention und Zielstellung betrifft (Orientierung an den<br />
Bedürfnissen und Interessen der ausländischen und deutschen arbeitenden<br />
Bevölkerung).<br />
4) Über den Sinn und den Erfolg eines formellen Sprachunterrichts für ausländische<br />
Arbeiter unter den vorliegenden Bedingungen habe ich mich bereits an anderer Stelle<br />
geäußert; vgl. Steinmüller (1979).<br />
5) Das Projekt wurde von einem Team wissenschaftlicher Berater begleitet, zu dem<br />
neben dem türkischen Erziehungswissenschaftler Ünal Akpinar und dem deutschen<br />
Politologen Niels Diederich der Verfasser des vorliegenden Beitrags als<br />
kommunikationstheoretischer und sprachdidaktischer Berater gehörte.<br />
6) Vgl. Steinmüller (1977).<br />
7) Vgl. hierzu ausführlicher Steinmüller (1977).<br />
8) Vgl. hierzu ausführlicher IFZ/CAD (1978), S. 97 ff.<br />
9) Vgl. Cohn (1970) und Cloyd /Schnelle/ Schrader-Klebert (1973),<br />
10) Unter bestimmten Bedingungen kann und muß diese Aussage allerdings modifiziert<br />
werden. Die konkrete Erfahrung in der Lernstatt-Arbeit hat nämlich gezeigt, daß unter<br />
bestimmten Voraussetzungen explizite Sprachvermittlung eine Ergänzung der<br />
Gruppenarbeit sein kann,<br />
11) Vgl. z. B. Wienold (1973) und Zabrocki (1968).<br />
12) Vgl. Quasthoff (1973), S. 100.<br />
13) Vgl. Hoffmann-Nowotny (1976), S. 46 f.<br />
14) Vgl. Jung (1971), S. 692 f.<br />
15) Für die Kinder, die sog. zweite und dritte Generation, für die Deutsch z. T. schon als<br />
Sozialisationssprache und in Ansätzen als Medium der Kognition fungieren muß, stellt<br />
sich das Problem anders.<br />
16) Vgl. zum Problem der zusammengesetzten Verben für Türken Meyer-<br />
Ingwersen/Neumann/Kummer (1977), S. 226 ff.<br />
17) In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß die Kritik, in der<br />
Lernstatt würden die hinter der alltäglichen Realität stehenden kausalen<br />
Zusammenhänge nicht kritisch untersucht (Bendit/Heimbucher 1977, S. 156), bzw. daß<br />
Diskussionen, die durch die behandelten Themen und Gegenstände ausgelöst werden<br />
könnten, nicht stattfänden (Bendit 1979, S. 62), an der Realität der Lernstatt-Arbeit
vorbeigeht; denn gerade die kritische Auseinandersetzung mit den Strukturen und<br />
Verhältnissen, die die Ausländer hier vorfinden, das Durchschauen von<br />
Zusammenhängen und das Entwickeln von Alternativen sind als wesentliche, sogar<br />
grundlegende Elemente gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit Inhalt und Ziel der<br />
Lernstatt-Arbeit.<br />
18) Vgl. das oben angeführte Beispiel der Verb-Komposita.<br />
19) Als Stichworte lassen sich hier z. B. nennen: Schichtarbeit und starke physische<br />
Belastung, die eine regelmäßige Teilnahme erschweren oder gar unmöglich machen und<br />
die oft recht hohen Anforderungen an schulische und sogar grammatiktheoretische<br />
Voraussetzungen.<br />
20) Vgl. z. B. die Definitionsversuche bei Flitner (1972).<br />
21) Die Lernstatt hat für viele der ausländischen Besucher die Funktion des Caffé-<br />
Hauses als Treffpunkt und Kristallisationspunkt der Freizeit übernommen, so daß auch<br />
außerhalb der regelmäßigen Gruppenstunden Zusammenkünfte und Aktivitäten<br />
stattfinden; die Möglichkeit, Kaffee und Tee zu kochen und zu trinken, spielt dabei<br />
ebenso eine Rolle wie ausgelegte deutsche und türkische Zeitungen und Magazine<br />
sowie die konventionellen Spiele.<br />
22) Zum Rollenspiel im Rahmen der Lernstatt vgl. IFZ/CAD (1978), S. 124 ff.; vgl. auch<br />
Kochan (1976).<br />
23) Vgl. u.a. Steinmüller (1977), S. 62ff.<br />
24) Vgl. IFZ/CAD (1978), S. 136f.<br />
25) Zur Problematik der Aktivierung ausländischer Frauen vgl. IFZ/CAD (1978), S. 211ff.