Katholisches Wort in die Zeit 41. Jahr Dezember 2010 - Der Fels
Katholisches Wort in die Zeit 41. Jahr Dezember 2010 - Der Fels
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Jörg Splett:<br />
3.<br />
H<strong>in</strong>sichtlich nun der Größe<br />
des Menschen wie se<strong>in</strong>es<br />
Elends ist es <strong>die</strong> Kirche, <strong>die</strong> – jenseits<br />
ideologischer E<strong>in</strong>seitigkeiten –<br />
den Menschen kennt.<br />
Sie traut und mutet ihm zu, auf<br />
se<strong>in</strong> Mensch und Menschlichse<strong>in</strong><br />
angesprochen zu werden, weil er sich<br />
<strong>die</strong>sem AnSpruch Gottes verdankt.<br />
Das heißt grundsätzlich: sie er<strong>in</strong>nert<br />
ihn daran, dass nicht das Leben „der<br />
Güter höchstes“ ist. So hat es – „idealistisch“<br />
– Friedrich Schiller mit den<br />
Schlussworten se<strong>in</strong>es Dramas Die<br />
Braut von Mess<strong>in</strong>a ausgedrückt:<br />
Das Leben ist der Güter höchstes<br />
nicht,<br />
<strong>Der</strong> Übel größtes aber ist <strong>die</strong><br />
Schuld.<br />
Worauf – „realistisch“ – damals<br />
He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e erwidert: Das Leben<br />
ist der Güter höchstes, und das<br />
schlimmste Übel ist der Tod. <strong>Zeit</strong>genossen<br />
sprächen heute wohl von Gesundheit<br />
und Krankheit: 19<br />
In der Tat ist Leben das Grundgeschenk,<br />
und ich widerspreche<br />
He<strong>in</strong>e nicht (ebd.): „Alle kräftigen<br />
Menschen lieben das Leben“ – nicht<br />
bloß „Goethes Egmont scheidet<br />
nicht gern“, sondern auch der „Urheber<br />
und Vollender des Glaubens“<br />
im R<strong>in</strong>gen bis zum Blutschweiß.<br />
Aber wäre es deshalb das Höchste?<br />
Wie könnte dann e<strong>in</strong> Mensch sich<br />
fragen, wozu er lebe? Eben <strong>die</strong>s unterscheidet<br />
das spezifisch Humane<br />
von der Se<strong>in</strong>sSphäre des Animalischen<br />
– und gibt dem Menschen<br />
se<strong>in</strong>en Rang gegenüber Göttern und<br />
Engeln: dass er für etwas oder jemand<br />
zu sterben vermag.<br />
Das Höchste ist nicht das Leben,<br />
sondern dessen Wozu, se<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n. Und<br />
der Mensch ist jenes seltsame Wesen,<br />
dem se<strong>in</strong> Leben nichts mehr wert ist,<br />
wenn ihm nichts mehr wert ist als<br />
se<strong>in</strong> Leben. So werfen Menschen ihr<br />
Leben fort, wenn sie ke<strong>in</strong> Wozu, ke<strong>in</strong>en<br />
S<strong>in</strong>n für es sehen. – S<strong>in</strong>n (Wozu)<br />
Die Kirche kennt den Menschen.<br />
Sie verkündet ke<strong>in</strong>e Utopien<br />
Schluss<br />
ist mehr als Zweck, und das Leben<br />
fraglos mehr als e<strong>in</strong> Mittel. S<strong>in</strong>n ist<br />
jene Wirklichkeit, woraus man lebt,<br />
<strong>in</strong>dem man dafür lebt. Wofür jemand<br />
aber wirklich lebt, dafür ist er dann<br />
auch bereit zu sterben. Nicht alle<strong>in</strong> im<br />
Christentum ist das ideale Wahrheitszeugnis<br />
das Martyrium (worunter ich<br />
allerd<strong>in</strong>gs nicht Selbstmordattentate<br />
auf Frauen und K<strong>in</strong>der verstehe).<br />
Darum traut und mutet <strong>die</strong> Kirche<br />
dem Menschen Identität <strong>in</strong> der <strong>Zeit</strong><br />
zu, also Treue, Stehen zum eigenen<br />
<strong>Wort</strong>. Bei Friedrich Nietzsche liest es<br />
sich so: 20<br />
E<strong>in</strong> Tier heranzüchten, das versprechen<br />
darf – ist das nicht gerade<br />
jene paradoxe Aufgabe selbst, welche<br />
sich <strong>die</strong> Natur <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf<br />
den Menschen gestellt hat? ist es<br />
nicht das eigentliche Problem vom<br />
Menschen?<br />
Versprechen begründet e<strong>in</strong>e Erwartung,<br />
ja e<strong>in</strong>en Anspruch. 21 Setzt<br />
der ersten <strong>die</strong><br />
Erfahrung („realistisch“)Grenzen,<br />
so besitzt<br />
(„idealistisch“?)<br />
<strong>die</strong>ser „e<strong>in</strong>e eigentümlicheUnb<br />
e d i n g t h e i t “ .<br />
Nicht aufgrund<br />
e<strong>in</strong>er zusätzlichenSelbstverpflichtung<br />
(man<br />
muss/kann nicht<br />
noch eigens versprechen,<br />
se<strong>in</strong><br />
Versprechen zu<br />
halten) oder dank<br />
e<strong>in</strong>er erreichten<br />
„Letztbegründung“, vielmehr – im<br />
Verzicht darauf, sich aus der Situation<br />
h<strong>in</strong>auszureflektieren – aus<br />
dem Vollzug von Personse<strong>in</strong> als<br />
solchem; denn (237) „Person ist e<strong>in</strong><br />
Versprechen ... Die Autonomie der<br />
Person ist selbst nicht autonomen<br />
Ursprungs.“<br />
„Das Versprechen entzieht den<br />
Entschluss, der <strong>in</strong> ihm ausgedrückt<br />
wird, der Veränderung“ (240), und<br />
zwar so (241), „dass wir den Inhalt<br />
des Versprechens [das wir geben] unmittelbar<br />
mit jenem Versprechen verknüpfen,<br />
das wir als Person s<strong>in</strong>d. Um<br />
jenes Versprechen zu brechen, muss<br />
ich <strong>die</strong>ses brechen. Ich br<strong>in</strong>ge mich<br />
als Person zum Verschw<strong>in</strong>den.“ 22<br />
So verlangt <strong>die</strong> Treue zum Versprochenen<br />
„Charakter“: Eheversprechen<br />
wie religiöse Gelübde setzen (243)<br />
<strong>die</strong> „Fähigkeit voraus, unabhängig<br />
von allen unvorhersehbaren Widerfahrnissen<br />
dem eigenen Leben e<strong>in</strong>e<br />
Struktur zu geben, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> Weise<br />
des Umgangs mit <strong>die</strong>sen Widerfahrnissen<br />
e<strong>in</strong> für allemal vorentscheidet<br />
und sich dar<strong>in</strong> vom Zufall unabhängig<br />
macht.“<br />
Anderseits gibt im Versprechen das<br />
Ich sich gerade auch aus der Hand:<br />
es vertraut und anvertraut sich: der<br />
eigenen Freiheit<br />
wie der Freiheit<br />
des Gegenüber,<br />
und zugleich<br />
den natürlichen<br />
Voraussetzungen<br />
ihrer beider.<br />
Dies e<strong>in</strong>gegangene<br />
Risiko kann<br />
zur Zerreißprobe<br />
werden. Mit Paul<br />
Ricoeur kann<br />
man Charakter<br />
bestimmen als<br />
<strong>die</strong> „Gesamtheit<br />
der Unterscheidungsmerkmale“,<br />
woran man<br />
jemand als denselben (idem) erkennt<br />
(sozusagen das Was e<strong>in</strong>es Wer). 23<br />
Die Freiheit ordnet er dem Selbst zu<br />
(ipse, Wer).<br />
Für <strong>die</strong> moderne Literatur beobachtet<br />
Ricoeur nun e<strong>in</strong>e „Entblößung<br />
der Selbstheit durch den Verlust<br />
der sie unterstützenden Selbigkeit“<br />
350 DER FELS 12/<strong>2010</strong>